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Dante Alighieri
Das Gastmahl
Erstes Buch
Italienisch–Deutsch
Philosophische Werke 4/I
Meiner
DANTE ALIGHIERI
Philosophische Werke
Band 4/I
Das Gastmahl
Erstes Buch
übersetzt von
Thomas Ricklin
Italienisch - Deutsch
DANTE ALIGHIERI
Convivio I Das Gastmahl
*
Jedem der vier Traktate des Gastmahls ist ein eigener Band
gewidmet. Der ausführliche Kommentar der einzelnen Teile
bemüht sich, wie in den bereits erschienen Bänden, in erster
Linie um die Rekonstruktion der argumentativen Struktur der
Bücher und Kapitel, um die Erschliessung der philosophie-
und theologiegeschichtlichen Bedeutung sowie der entspre-
chenden Quellen der Teile und des Ganzen. Im Gegensatz zu
den bereits existierenden Kommentaren zu dieser Schrift Dan-
tes stand in erster Linie das Verständnis und weniger die aus-
gebreitete Gelehrsamkeit im Vordergrund. Wir hoffen, daß
die Originalität dieses Kommentars für sich selbst spricht.Der
Übersetzung und dem Kommentar zugrunde liegt der Text der
Societa Dantesca ltaliana (1921; siehe Bibliographie).
Vorrede IX
*
„Enwaere niht niuwes, sö enwürde niht altes", dieses Wort
Eckharts am Ende seines Buches des göttlichen Tröstung kann
sowohl auf Dantes Convivio wie auch auf diese kommentierte
Übersetzung angewendet werden. Wir versuchen mit diesen
Bänden der innovatorischen Leistung Dantes gerecht zu wer-
den; gleichzeitig hoffen wir, daß wir auf diese Weise einen
Beitrag leisten zu einer veränderten und neuen Historiographie
des mittelalterlichen Denkens.
dans !es ecoles et !es universites. Les classifications et !es hierarchies du savoir
XII Francis Cheneval
• Aufschlußreich für die genaue Datierung von Buch 1 ist nebst den klaren
Hinweisen seiner Entstehung einiger Zeit nach dem Exil (I, iii, 4) der Hin-
weis auf ein Buch über die n volgare eloquenza", das Dante zu schreiben
gedenkt (1, v, 10). In De vulgari eloquentia 1, xii, 5 wird der anfangs Februar
1305 verstorbene Giovanni di Monferrato als lebend erwähnt, Convivio 1
entstand also sicher vor Februar 1305, und da der Autor angibt, bereits weit
umhergeirrt zu sein, einige Zeit nach 1302. Buch II schließt sich durch die
einleitenden Worte in II, i, l unmittelbar an Buch I an und Buch III beginnt
mit einer kurzen Rückblende auf Buch II, so daß die Reihenfolge der Re-
XIV Francis Cheneval
daktion der Numerierung der Bücher entspricht. Buch IV läßt sich durch
zwei Hinweise Dantes zeitlich situieren. Die Erwähnung Friedrichs II. als
letzter Kaiser der Römer (IV, iii, 6) legt den Schluß nahe, dieses Buch sei
vor dem 27. November 1308, das heißt vor der Wahl Heinrichs VII. begon-
nen worden. In IV, xiv, 12 wird der im März 1306 verstorbene Gherhardo
da Camino als tot bezeichnet, was anzeigt, daß das Buch IV mindestens ab
Kapitel xiv nach dem März 1306 entstanden ist. Der engültige terminus ad
quem ist laut Barbi der Beginn der Commedia im Jahr 1307-08, der Dante
dazu veranlaßt haben mag, die Arbeit am Convivio einzustellen.
Einleitung XV
bin ich durch beinahe alle Regionen, in die sich diese Sprache erstreckt, als
Herumirrender, einem Bettler gleich, gegangen und ich habe hierbei gegen
meinen Willen, die Wunde des Schicksals, die dem Verwundeten in vielen
Fällen ungerechterweise zugefügt zu sein pflegt, vorgezeigt. Tatsächlich
war ich ein Floß ohne Segel und ohne Steuer, vom trockenen Wind, der die
schmerzhafte Armut ausdörrt, in verschiedene Häfen, an Flußmündungen
und Strände getragen; ich bin unter den Augen vieler, die sich mich viel-
leicht irgendeines Rufes wegen in anderer Form vorgestellt haben, erschie-
nen. In ihrem Blickfeld wurde nicht nur meine Person herabgewürdigt, son-
dern auch jedes Werk.• (Conv., 1, iii, 4-5).
6 "I'ho si gran paura di fallare I verso la dolce gentil donna mia, ch'i' non
l'ardisco la gioi' domandare, ehe'! mi' coraggio contanto disia; ma 'l cor mi
dice pur d'assicurare, per ehe 'n lei sento tanta cortesia, ch'eo non potrei
quel dicer ne fare, ch'i' adirasse Ja sua segnoria. Ma se la mia ventura mi
consente I ch'ella mi degni di farmi quel dono, sovr'ogn'amante viverö gau-
dente. Or va, sonetto; e chielle perdono, s'io dico cosa ehe Je sia spiacente:
ehe s'io non l'ho, gia mai lieto non sono. •Ed. M. Marti, Poeti giocosi nel
tempo di Dante, 136. Vgl. die von M. Vitale, Rimatori comico-realistici, I,
379-384, herausgegebenen Gedichte des Cecco Angiolieri gegen Dante.
7 "Zahlreiche wenig bekannte Historiker haben sich als Kuppler betätigt,
doch auch berühmte haben dieses Geschäft betrieben, von den Modemen
XVIII Francis Cheneval
z.B. Aeneas Sylvius, Dante ... ". (Agrippa von Nettesheim, Über die Frag-
würdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften, LXIV; 144).
8 Zu dem Thema vgl. G. Peron (ed.), L'autocommento. Atti de! XVIII
tragoedia Ecerinide.
12 Dino del Garbo, Scriptum super cantilena Guidonis Cavalcantibus.
Einleitung XIX
bendum, sed eorum loco insurrexerunt studentes non ut sint sed ut appareant
XX Francis Cheneval
valentes potius videri quam esse, et non ut mentem ornent sed ut copulent
aurum auro et ut scientiam vendant." (Documenti d'amore, Pars prima, ed.
F. Egidi, l, 86). Vgl. Conv., 1, ix, 3.
17 .Rimas autem vulgares ad nobilium utilitatem de patria mea qui latinum
abus non vocatis videtur innuere, quod mulieres licet virtuose, ad scientias
non vocantur, quia crudelitas idest demon, facilius illas induceret, ad sub-
vertendum scripturas et ab eis si licterae forent contingeret sepe, quod de
calfurnia contigebat, unde ab omnibus civilibus officiis sunt remote, ac pub-
licis nec magistratum gerere nec postulare nec pro alio intervenire nec pro-
curatores existere possunt." (Documenti d'amore, prohemium, 33).
20 .in comitatu Provincie ac comitatu Venesis, pro arduissimis negotiis
22 Conv., I, v-vii.
23 Conv., I, ix, 5. Vgl. auch Kommentar zur Stelle.
24 Conv., I, ix, 2.
25 Conv., I, ix, 8.
Barberino hauptsächlich auf die für die Frührezeption und Datierung der
Commedia aufschlußreiche Passage Documenti, II, 375f. beschränkt. Vgl.
A. Quaglio, "Sulla cronologia eil testo della D.C", 241-253. V. Mengaldo
interessiert sich in seinem Kommentar zu De vulgari eloquentia (Opere mi-
nori, II) zwar stark für Francesco, hat aber die Beziehungen zum Convivio
nicht thematisiert. G. Melodia ("Dante e Francesco da Barberino") zeigte
bereits im letzten Jahrhundert verschiedene Parallelen zwischen dem Reggi-
mento und Dantes Inferno auf, die ihn zu der These brachten, Francesco
hätte Dantes Commedia imitiert. A. Thomas (Francesco da Barberino et Ja
litterature proven~ale, 59) meinte in der Form der Eigenkommentierung der
Documenti eine Imitation der Vita Nuova zu erkennen. Die oben angefügten
XXII Francis Cheneval
137-140.
29 Vgl. auch Documenti d'amore, III, 93f. In II, 73 wird Heinrich VII. als
tensehicksal vgl. ibidem, 3. Für die Formulierung bei Dante vgl. Opere
minori, II, 528, 532, 550, 562.
34 Ed. A. Fiammazzo, II eommento danteseo di Graziolo dei Bambagliuoli.
peeeasti, fiorentin poeta, ponendo ehe 1i ben della fortuna I necessitati sien
eo* llor meta. Non e fortuna ehe ragion non vinea. Or pensa, Dante, se
pruova nessuna / se puo piu fare ehe questa si vinea. Fortuna non e altro ehe
disposto / eel ehe dispone eosa animata, qua! disponendo, se truova l'oposto,
non vien neeessitato '! ben filiee. Essendo in liberta l'alma creata, fortuna in
lei non puo, se contradice. Substanza sanza corpo non riceve I da questi celi,
pero lo 'ntelletto / mai a fortuna subiaeer non deve. S'io fui disposto e fui
filiee nato, e conseguir dovea i1 grand'effetto, i'posso non voler: star da!
lato, ehe 'n suo balia ha l'alma el suo volere, l'arbitrio aquista lo suo merto;
non puo necissita in lui cadere."
36 Vgl. H. Pflaum, .L'Acerba di Cecco d'Ascoli." Die These Pflaums
haben.
38 .Qui dicie ehe oltre aI primo cielo, zoe el nono, Ja nostra Iuce, cioe il
nostro intelletto, non po intendere per via di natura.• (Zitiert nach C. Ciocio-
la, „L'autoesegesi di Cecco d' Ascoli", 34).
39 Vgl. F. Brugnolo, II canzoniere di Nico!O de' Rossi, I, 66, 122.
40 Vgl. F. Brugnolo, II canzoniere di Nico!O de' Rossi, I, 128-135. Ohne
Zweifel stellt die Kanzone Color di Perla eine Imitation von Guido Caval-
cantis Donna me prega dar, was die Forschung bisher dazu bewogen hat, im
Kommentar eine Annäherung an Dino de! Garbos Kommentar zu sehen.
Vgl. F. Brugnolo, .I toscani nel Veneto e Je cerchie toscaneggianti", 419f.
Ohne diese Auslegung auszuschließen legt doch das Faktum des Eigenkorn-
XXVI Francis Cheneval
dazu triebe, verborgenen und versteckten Sinn zu suchen ... Deshalb könnte
jeder leicht davon überzeugt sein, daß meiner grundsätzlichen und ersten
Absicht von einer gewöhnlichen Liebe die Richtung gewiesen und die ent-
sprechenden Begriffe diktiert worden seien. Diese Liebe habe aus Verach-
tung Flügel ergriffen und sei heroisch geworden. So ist es ja möglich, jede
beliebige Geschichte, jeden Roman, Traum und Prophetenspruch zu ver-
wandeln und als Metapher und Allegorie umzudeuten, sodaß es alles bedeu-
tet, was dem gefällt, der nur recht geschickt die Interpretation an den Haaren
Einleitung XXVII
herbeizuziehen versteht ... Aber mag jeder denken, wie es ihm scheint und
gefällt, da schließlich doch jeder, ob er will oder nicht, diese Dichtung ge-
rechterweise so verstehen und zuordnen muß, wie ich sie verstehe und zu-
ordne, nicht ich, wie er sie versteht und zuordnet: denn wie die Leidenschaf-
ten jenes weisen Juden ihre eigenen Weisen, Ordnungen und Titel haben, die
niemand besser verstehen konnte und erklären könnte als er, wenn er zuge-
gen wäre, so haben auch diese Gesänge ihren eigenen Titel, Ordnung und
Weise, die niemand besser erklären und verstehen kann als ich selbst."
(Giordano Bruno, Von den heroischen Leidenschaften, Vorwort; 9).
43 Vgl. M. P. Ellero, "Appunti sull Esposizione alla Scelta d'alcune poesie
49 "sola enunciativa est in qua invenitur verum vel falsum, quia ipsa sola
absolute significat mentis conceptum, in quo est verum vel falsum. Set, quia
intellectus seu ratio non solum concipit in se ipso veritatem rei, set etiam ad
eius officium pertinet secundum suum conceptum alia dirigere et ordinare,
ideo necesse fuit ut, sicut per enunciativam orationem significatur ipse ment-
is conceptus, ita etiam essent alique orationes significantes ordinem rationis
secundum quem alia dirigit. Dirigitur autem ex ratione unius hominis alius
homo ad tria: primo quidem ad attendendum mente, et ad hoc pertinet vocat-
iva oratio; secundo ad respondendum voce, et ad hoc pertinet oratio interro-
gativa; tercio ad exequendum in opere, et ad hoc pertinet quantum ad inferio-
res oratio inperativa, quantum autem ad superiores oratio deprecativa ( ... )
Quia igitur iste quatuor orationis species non significant ipsum conceptum
intellectus in quo est verum vel falsum, set quendam ordinem ad hoc conse-
quent-em, inde est quod in nulla earum invenitur verum vel falsum set solum
in enuntiativa ... Et dicit quod alie quatuor orationis species sunt relinquen-
de, ( ... ) quia earum consideratio convenientior est rhetorice vel poetice sci-
encie." (Thomas von Aquino, Expositio libri Peryerm., l, 7; 36f.).
Einleitung XXXI
nahm50 , hat keine Mühe, durch eine klare Konzeption des inte-
gumentum in dem in zahlreichen dichterischen Verarbeitungen
vorliegenden Mythos des Orpheus einen philosophischen Ge-
halt zu entdecken51 • Auch von Vergil kann Bernardus Sil vestris
deshalb in seinem Aeneis-Kommentar in fast selbstverständli-
cher Weise sagen, daß er sich in jenem Werk als Dichter und
als Philosoph erweist5 2 • Besonders bei der Kommentierung der
im sechsten Buch der Aeneis dargestellten Unterweltsfahrt des
Aeneas legt Bernardus Wert auf die tiefgründigen philosophi-
schen Wahrheiten, die Vergil injenem Teil seines Werkes zur
Sprache bringt53 •
Die Figur der Allegorie oder des integumentum diente im
Mittelalter nicht nur der Rezeption und Rekontextualisierung
antiker Texte der Poesie, sondern sie wurde auch aktiv ange-
wandt. Alain von Lille ( + 1230) hat für seinenAnticlaudianus
bewußt die poetische Form gewählt, mit der Begründung, daß
die Subtilitäten der Allegorie eine gedrängtere Darstellung er-
lauben und den Intellekt schärfen54 • Auch dies bezeugt, daß
1980, 13f.
si .Integumentum vero est oratio sub fabulosa narratione verum claudens
intellectum, ut de Orpheo . „ integumentum vero philosophice competit."
(Ed. H. J. Westra, 45). Vgl. auch Wilhelm von Conches einführende Worte
zur Deutung des Orpheusmythos in seinem Kommentar zur Philosophiae
consolatio: .Sed nostri garrulitati intenti et nichil philosophie cognoscentes,
et ideo significationes ignorantes integumentorum, erubescentes dicere 'ne-
scio', querentes solacium sue imperitie, aiunt hoc exponere trutannicum esse.
Tarnen, ne eis consentiendo similes simus, quod nobis videbitur inde expon-
emus integumentum." (Zitiert nach E. Jeauneau, .Integumentum", 137f.).
sz .et veritatem philosophie docuit et ficmentum poeticum non pretermisit
(.„) in hoc opere et poeta et philosophus perhibetur." (Ed. J. Jones, 1).
s3 .profundius philosophicam veritatem in hoc volumine declarat Vergil-
ius." (Ed. J. Jones, 28).
s• .In hoc etenim opere litteralis sensus suavitas puerilem demulcebit audi-
tum, moralis instructio perficientem imbuet sensum, acutior allegorie subti-
litas proficientem acuet intellectum." (Ed. R. Bossuat, 56). Auch für seine
Schrift De planctu naturae wählte Alain von Lille die integumentale Dich-
tung in prosimetrischer Form. Im 12. Jahrhundert steht er damit nicht alleine
XXXII Francis Cheneval
' 8 "Vel intencio sua est nos ab amore temporalium immoderato revocare et
adhortari ad unicum cultum nostri creatoris, ostendendo stablilitatem celest-
ium et varietatem temporalium. Ethice supponitur quia docet nos ista temp-
oralia, que transitoria et mutabilia, contempnere, quod pertinet ad morali-
tatem." (Zitiert nach F. Ghilsalberti, Amolfo d'Orleans, 181).
' 9 Vgl. z.B. auch Johannes von Jandun, Quaestiones in Metaph., IV, xiii,
fol. 54raB: "ista ratio peccat primo in proprietate, quia poeticum est et pec-
cat secundum figuram aequivocationis ... Dicendum quod est poeticum, quia
improprie et metaphorice est poeticum."
60 "La verite dedenz reposte seroit bele, s'ele ert esposte: Bien entendras
se tu repetes !es integumenz aus poetes. La verras une grant partie des secrez
de philosophie." (Jean de Meun, Roman de la Rose, vss. 7167-7172, Ed.
A. Strubel, 438).
XXXIV Francis Cheneval
tibi. Fabula voce tenus tibi palliat integumentum, clausa doctrine res tibi
vera latet." Johannes de Garlandia, Integumenta, ed. F. Ghisalbeni, 40.
62 • Nodos secreti denodat, clausa revelat/ Rarificat nebulas, integumenta
morali phylosophie, nam omnes poete tendunt in mores." (Giovanni de! Vir-
gilio, Allegorie librorum Ovidii Metamorphoseos, 19).
„. Tria genera theologie distingui a Varrone narrat Augustinus, libro VI
de civitate Dei, quorum nomina sie latine exprimuntur ut primum dicatur
fabulosum, secundum naturale, tercium civile. Prima genere utuntur poete,
secundo philosophi, tercio sacerdotes et populi. Primum accomodatum est
theatro, secundum mundo, tercium urbi et templo. In prima genere multa
contra dignitatem et naturam monalium ficta sunt; in secundo genere ea que
nature sunt sub integumentis traduntur; tercium genus cultus deorum et sacra
Einleitung XXXV
Metaphysice non omnes recipiunt veritatem per eundem modum, turn prop-
ter diversam naturam, turn propter minorem instructionem in loycam. Unde
provenit, quod quidam recipiunt melius veritatem per modum demonstratio-
nis, quidam si proletur per auctoritatem, quidam per integumentum fabul-
arum. Unde etiam, ut Boetius talibus satisfaciat, nunc demonstrationibus,
XXXVI Francis Cheneval
7°Conv „ III, xi f.
71 Dante Alighieri, Das Schreiben an Cangrande della Scala, Ed. T. Rick-
lin, LIX.
Einleitung XXXVII
D. Perler.
74 „finis totius et partis est removere viventes in hac vita de statu miserie et
perducere ad statum felicitatis. Genus vero phylosophice sub quo hie in toto
et parte proceditur, est morale negotium, sive ethica; quia non ad speculan-
dum, sed ad opus inventum est totum et pars. • (Ep. XIII, 39-40).
" Inf., IX, 63: „0 voi ch'avete li 'ntelletti sani, mirate Ja dottrina ehe
s' asconde / sotto '1 velame de li versi strani. •
76 „in hoc opere et poeta et philosophus perhibetur. • (Bemardus Silvestris,
Commedia, cioe a ehe fine e intenzione ella fue fatta, la quale si puo eonsi-
derare in tre modi. Lo primo per manifestare polita parladura. Seeondo per
narrare molte novelle le quali tomano molto a destro ad udire per esemplo
alcuna fiata. Terzo e ultimo per rimuovere le persone ehe sono al mondo da!
vivere misero e in peeeato e produrli al virtuoso e grazioso stato. E in quanto
tratta de' modi, de' eostumi e vita mondana, sie sottoposta a filosofia morale,
la quale hae per suo subietto li atti umani. Manifestate le eose ehe proponem-
mo eh'erano da notare sie da sapere ehe universalmente la detta Commedia
puo avere quatro sensi ... ". (Jacopo della Lana, Comento alla Commedia,
proemio eomune; I, 104.
79 "Itaque quieunque tu legis istam poeticam Comediam, fae quod ita regas
88 Conv., 1, x, 11.
89 Conv., 1, xi, 14. Die für die gesellschaftliche Situierung des Conv.
wichtigen Kapitel Conv., 1, x. xi werden in den Darstellungen der Beziehung
Dantes zu den Troubadours beinahe nicht beachtet. Besonders folgenschwer
war S. Santangelos pauschaler Ausspruch: "i primi tre trattati del Convivio,
nei quali si parla mai di poeti et poesie provenzali." (Dante e i trovatori
provenzali, 137).
90 Allgemein zu den Troubadours in Italien vgl. G. Bertoni, I trovatori
d'ltalia.
91 Vgl. Conv., 1, xi, 12.
XLII Francis Cheneval
ed esaminati sopra risultano per la piii parte copiati tra Ja fine de! Due e i
primi de! Trecento, nell'etä de! „buon Gherardo" quando anche Dante opera
ai margini de! Veneto." (G. Folena, „Tradizione e cultura trobadorica nelle
corti e nelle citta venete", 466).
XLIV Francis Cheneval
(Purg., VIII, 133-139) den 20. April 1306 als terminus ad quem der Ankunft
Dantes im Gebiet der Malaspina.
110 Opere Minori, II, 536-539. Die genaue Identität des Moroello ist um-
sepe sub admiratione vidistis, fas fuit sequi libertatis officia." (Opere Mino-
ri, II, 536).
112 „Occidit ergo propositum illud laudabile quo a mulieribus suisque cant-
121 Einiges dazu bei E. Köhler, Zur Diskussion der Adelsfrage bei den
Trobadors.
122 Vgl. Met„ I, 1; 980a21.
123 Vgl. etwa Thomas von Aquino, In Met„ I, 1, 4; ScG I, c.4. Auch
131 Vgl. Einiges dazu in 0. Longo, Liberalitä, dono, gratitudine: fra me-
sed ad eum pertinet etiam incipientes erudire; ... propositum nostrae inten-
tionis in hoc opere est, ea quae ad Christianam religionem pertinent, eo
modo tradere, secundum quod congruit ad eruditionem incipientium." (Tho-
mas von Aquino, Summa theol., 1, prologus).
Einleitung LV
als die Speise der Tiere galt136 • Dante bezeichnet die Volksspra-
che, in der sein Kommentar abgefaßt ist, mit der Metapher des
als Tiernahrung verwendeten Gerstenbrotes und scheint damit
auf einen substantiellen Mangel seiner Schrift zu verweisen,
weiß diesen aber durch eine ausführliche Rechtfertigung zu be-
heben. Da seine Philosophie als Akt der Freigebigkeit für mög-
lichst viele gedacht ist, bedient sich Dante einer Sprache, die
möglichst viele verstehen 137 •
Im Zentrum des weiten Konnotationsfeldes des Titels Convi-
vio stand für das höfische Publikum sicher das Szenarium des
vom freigebigen Fürsten veranstalteten Gastmahls. Dennoch
kann aus historischer Perspektive festgestellt werden, daß die-
ser Rahmen und Titel eines philosophischen Textes auch ande-
re Reminiszenzen hervorzurufen vermochte. Mit dem zu Dan-
tes Zeiten noch nicht ins Lateinische übersetzten Platonischen
Gastmahl hat das Werk des Alighieri wegen der fehlenden
Di~logform und dem explizit nicht-elitären Rahmen nur gera-
de den Titel gemeinsam. Es ist daher eher unwahrscheinlich,
daß Dantes Gastmahl in die Traditionslinie des gleichnamigen
Platonischen Werkes gehört138 • Wahrscheinlicher und mit der
Grundintention Dantes übereinstimmend wäre eine Reminis-
zenz an das Antike epulum publicum, das öffentliche Mahl,
wie es die griechischen Stadtstaaten und Tyrannen zur Erquik-
kung des Volkes durchgeführt haben. Diese Dantes Verkösti-
gung der Massen nahekommenden Veranstaltungen waren ei-
nem mittelalterlichen Intellektuellen zur Zeit Dantes zum
Beispiel durch die Lektüre der Aristotelischen Politik oder des
Politikkommentars des Thomas von Aquino bekannt 139 •
136 Conv„ 1, v, 1; x, 1. Vgl. etwa Albert der Große, In Io, c. 6; 242: .quia
phie als Liebe zu einer Frau herstellen kann, vermag der Ali-
ghieri, mit dieser Bezeichnung der Philosophie als natürliche
Liebe eine Brücke zu schlagen zwischen seinem Publikum
philosophischer Laien und dem von ihm ganz am Anfang sei-
ner Schrift zitierten Satz atls der Aristotelischen Metaphysik,
wonach von Natur aus alle Menschen nach Wissen streben1s2 •
Auf eine gewisse Weise kann man nämlich aufgrund dieser
Überlegungen "jeden Philosoph nennen . . . der natürlichen
Liebe wegen, die in jedem den Wunsch zu wissen erzeugt" 1s3 •
Dante bringt also sein hohes Lob und seine Definition der
Philosophie in einen direkten Zusammenhang zu seiner Haupt-
absicht der Vermittlung der Philosophie an möglichst viele,
denn, so fährt er fort, die natürliche Liebe zur Weisheit ist nur
der Ausgangspunkt und noch nicht die Vollendung der Philo-
sophie. Worin diese besteht, wer ein wahrer Philosoph ist und
wie man zu diesem Status gelangt, diese Frage erörtert Dante
in der Folge für sein philosophisch unbedarftes Publikum unter
konsequenter Übertragung des Freundschaftsparadigmas auf
die Philosophie. In Übereinstimmung mit seiner Polemik ge-
gen die Gelehrten im ersten Buch1S4 beginnt er diese Ausfüh-
rungen zunächst per viam negationis und hält fest, wer kein
echter Philosoph ist. So wie die Freundschaft aus Nützlichkeit
oder Gefallen keine wahre Freundschaft, sondern nur Freund-
schaft per accidens ist, so ist auch eine um der Nützlichkeit
oder des Gefallens willen betriebene Philosophie keine echte
Philosophie und ihre Vertreter sind keine echten Philosophen.
Dantes hohe Anforderungen werfen a priori zwei Kategorien
von Leuten aus dem Wettkampf um den Preis der Philosophie.
Erstens diejenigen Poeten, die nur um ihres eigenen Pläsiers
willen Kanzonen erdichten und sich in ihren Reimen ergehen,
die Rhetoren, die nur den Wohlklang der Sprache im Auge
haben, und die Musiker, die nur aus Gefallen an der Melodie
Wissenschaft betreiben. Zweitens wirft Dante alle jene aus
seinem "Hörsaal", die nur um der Nützlichkeit willen Freunde
der Weisheit sein wollen, "so wie es die Juristen sind, die
Ärzte und beinahe alle Ordensleute, die nicht studieren um zu
wissen, sondern um Geld oder Ansehen zu erwerben; und
würde ihnen jemand das, was sie zu erlangen beabsichtigen,
geben, würden sie nicht weiter beim Studium verweilen. Und
wie man unter den Gattungen der Freundschaft jene, die aus
Nützlichkeit besteht, am wenigsten Freundschaft nennen
kann, so haben auch diese weniger am Namen des Philosophen
teil als manche andere Leute" iss. Dante versieht hier einerseits
die Schulphilosophie, die die Weisheitsliebe zum Geschäft
gemacht hat, mit herber Kritik, andererseits konstituiert und
ermutigt er durch strenge Selektion sein eigenes Publikum. Da
nicht Wissen und zyklopische Gelehrsamkeit den wahren Phi-
losophen ausmachen, sondern der innere Beweggrund, haben
plötzlich „manche andere Leute" 1s6 Zugang zu ihr. Die wahre
Philosophie kann nicht in einem buchhalterischen Umgang mit
Wissen bestehen, sondern einzig und allein in der ehrlichen,
interessenfreien Liebe zur Weisheit. Der wahre Philosoph
liebt „jeden Teil der Weisheit und die Weisheit jeden Teil des
Philosophen, insofern sie ihn ganz bindet, und keinen seiner
Gedanken zu einer anderen Sache abschweifen läßt" 1s1 • Das
hohe Ideal der wahren Philosophie schließt zwar die meisten
Berufsphilosophen der Universitäten aus und wirkt insofern
einschränkend, es weitet aber andererseits das Zielpublikum
auf alle zu wahrer Liebe der Weisheit fähigen Menschen aus.
"'Conv„ III, xi, 10. Zu dieser Thematik vgl. G. Post et al., • The Medie-
val Heritage of the Humanistic Ideal: scientia est donum Dei unde vendi non
polest"; R. Imbach, .Präsenz des mittelalterlichen Philosophieverständnis-
ses", 120.
156 lbidem.
157 Conv„ III, xi, 12.
LXII Francis Cheneval
Auch hier wird deutlich, wie Dante die Philosophie ihrer stän-
dischen Vereinnahmung entzieht.
So wie die Freundschaft ist auch die Philosophie in bezug auf
ihren ontologischen Status im Menschen eine besondere Ei-
genschaft der Seele. Vor dem Hintergrund der zu seiner Zeit
gängigen aristotelischen Schulphilosophie wird deutlich, daß
Dante in seinen Ausführungen zum Philosophiebegriff zwar
Elemente daraus aufgreift, daß er aber durch die Parallelisie-
rung von Freundschaft und Philosophie verschiedene Teile der
aristotelischen Wissenschaftslehre und Ethik miteinander ver-
schmelzt und dadurch eine Art Paradigmenwechsel vornimmt.
Obschon die Interpretation der Wissenschaftslehre in der Dan-
te bestens bekannten Nikomachischen Ethik höchst umstritten
und komplex ist und sich auch die mittelalterlichen Kommen-
tare auf keine eindeutige Lehre festlegen lassen158 , kann doch
festgehalten werden, daß das Einbeziehen der Freundschaft
und der Liebe in die Erörterung des wissenschaftlichen Status
der Philosophie eindeutig eine Akzentverschiebung von einem
intellektualistischen zu einem ethischen Grundideal bedeutet.
Wesentlich für die Definition der Philosophie und des wahren
Philosophen ist nicht das bejahende oder verneinende Errei-
chen der Wahrheit mittels der fünf Habitus Kunst, Wissen-
schaft, Klugheit, Weisheit und Einsicht, sondern ehrliche Lie-
be zur Weisheit, die den Menschen auch moralisch zur
Vollkommenheit führt. Die in der aristotelischen Philosophie
vorhandenen, aber nach theoretischer und praktischer Philoso-
phie getrennten Ideale der höchsten Vollkommenheit des Men-
schen als intellektuelle Kenntnis des Wahren und Ausübung
des Guten159 führt Dante, der in den besprochenen Passagen
158 Vgl. Nikomachische Ethik, VI, 3. Für den Streit um die Auslegung des
bonum quod est homini possibile est cognitio veri et operatio boni et delecta-
tio in utroque."
Einleitung LXIII
165 Als einer der Schlüsselstellen zur Situierung der diesbezüglichen Aus-
sagen Dantes gilt in der Forschung Dionysius, De div. nornin., VII, 2, 315-
317: "divina rnens ornnia continet, ab ornnibus segregata cognitione, secund-
urn ornniurn causarn, in seipso ornniurn scientiarn praeaccipiens. Ante- quarn
Angeli fieren!, sciens et producens Angelos et cuncta alia, intus et ab ipso, ut
ita dicarn, principio sciens et ad substantiarn agens. Et hoc arbitror tradere
eloquiurn, cum dicit: «Qui seit ornnia antequarn fiant ipsa •. Non enirn ex
existentibus existentia discens novit divina mens, sed ex seipsa et in seipsa,
secundurn causarn ornniurn scientiarn et cognitionern et substantiarn preaeha-
bet et praeaccipit, non secundurn visionern singulis se irnrnitens, sed secund-
urn unarn causarn continentiarn, ornnia sciens et continens; sicut et lurnen
Einleitung LXV
in der Terminologie. Was Dante als Philosophie bezeichnet, wird sonst mei-
stens scientia und in der Anwendung auf Gott scientia dei oder scientia divina
genannt. Vgl. Liber de causis, Pr. 88: .Et scientia quidem divina non est sicut
scientia intellectibilis neque sicut scientia animalis, immo est supra scientiam
intelligentiae et scientiam animae, quoniam est creans scientias." Thomas
zum Beispiel nennt die von Dante als vollkommene Philosophie bezeichnete
Erkenntnis Gottes nicht philosophia, sondern scientia dei: Summa theologiae,
1, 14, 1: .Respondeo dicendum quod in Deo perfectissime est scientia." Vgl.
Summa theol. 1, 14, 5: .Manifestum est enim quod seipsum [deus] perfecte
intelligit: alioquin suum esse non esset perfectum, cum suum esse sit suum
intelligere ... Unde quicumque effectus praeexistunt in Deo sicut in causa
prima, necesse est quod sint in ipso eius intelligere, et quod omnia in eo sint
secundum modum intelligibilem . . . Ad sciendum autem qualiter alia a se
cognoscat, considerandum est quod dupliciter aliquid cognoscitur: uno modo,
in seipso, alio modo in altere ... Sie igitur dicendum est quod Deus seipsum
videt in seipso, quia seipsum videt per essentiam suam. Alia autem a se videt
non in ipsis, sed in seipso inquantum essentia sua continet similitudinem
aliorum ab ipso." Vgl. dagegen Siger von Brabant, der 'scientia divina' und
'philosophia' univok verwendet (Quaestiones in Metaph., IV, 6; Dunphy,
183): • Ulterius intelligendum quod in scientia divina seu philosophia tria
considerantur ... " Die Einteilung der Wissenschaft in scientia divina und
LXVI Francis Cheneval
fängt" 167 . Diese eher deftige und in bezug auf den Neuplatonis-
mus sehr ungewohnte Veranschaulichung Dantes macht seinen
Versuch deutlich, einem die schwere Kost der Emanations-
theorie nicht gewohnten Publikum die Philosophie näher zu
bringen.
Trotz des zweitrangigen Status der menschlichen Philoso-
phie im Vergleich zur göttlichen will Dante abernunjene loben
und ihr den Hauptteil seiner weiteren Gedankengänge wid-
men168. Dieses allgemeine Lob der menschlichen Philosophie
strukturiert Dante nach drei Punkten. Erstens nach einer Un-
terscheidung im menschlichen Geschlecht, aus dem nur die zur
Philosophie gelangen, die nach der Vernunft leben169 , zwei-
tens nach der andauernden170 und drittens nach der unterbro-
chenen Zeit 171 • Während die himmlischen Intelligenzen die
Frau ständig betrachten, muß der Mensch für seine Selbster-
haltung sorgen und von der intellektuellen Schau ablassen.
Diese Bemerkung ist wichtig, denn es ist nicht ein ontologi-
scher Mangel des Erkenntnisvermögens, der dem Menschen
die intellektuelle Schau verunmöglicht, sondern nur eine vor-
übergehende, wenn auch notwendige Ablenkung durch physi-
sche Bedürfnisse 172 • In der Zeit, in der sich der Mensch nicht
von dieser Schau abhält, ist bei Dante in den hier besprochenen
Passagen nicht ein grundsätzlicher und unüberwindbarer Man-
gel im Erkenntnisvermögen, sondern entweder das unvernünf-
tige Festhalten an der Sinnlichkeit oder die zeitweilige Sorge
um die physische Selbtserhaltung und die gesellschaftliche
Organisation der Menschen.
Aus historischer Perspektive kann einstweilen bemerkt wer-
den, daß Dante in den hier besprochenen Passagen unter dem
Einfluß einer Tradition steht, die sich von der thomistischen
unterscheidet und derjenigen der Aristoteliker der Artistenfa-
kultäten nahekommt. Die Freundschaft als Paradigma der Phi-
losophie läßt Dante letztere als Relation verstehen, als Vermö-
gen, das vom seinem die Freundschaft (die Philosophie) in
vollkommenem Maße besitzenden "Freund" (Gott) mit Liebe
genährt wird. Diese Betonung des Eros bringt Dante zu einem
platonisierenden Philosophieverständnis, das sich in dieser
Beziehung auch von den aristotelischen Idealen der rein intel-
lektuellen Glückseligkeit unterscheidet175 •
Nach dem allgemeinen Lob in den Kapiteln xii und xiii
kommt Dante in xiv und xv zum besonderen Lob der Philoso-
phie, die er nach ihrem formellen und materiellen Subjekt in
Liebe (Kapitel xiv) und Weisheit (Kapitel xv) unterteilt. Erst
beide Elemente zusammen ergeben die glücksbringende Schau
der Philosophie 176 • Dante bleibt auch hier seinem neuplatoni-
schen Ansatz treu und setzt in der Erörterung der Liebe als
Form der Philosophie bei Gott an, von dem sie ausströmt und
herabsteigt, um die sie assimilierenden Intelligenzen und Men-
175 Vgl. Conv., III, xiii, 9: .Ich sage also: •Ihr [Philosophie] Sein gefällt
dem, der sie gibt, sehr», von dem sie, wie aus einer ersten Quelle, hervor-
geht, •der in sie beständig seine Kraft eingießt, über das Vermögen unserer
Natur hinaus• die er schön und kräftig macht. Obschon man ein Stück weit
zu ihrem Habitus gelangt, gelangt dennoch niemand derart dazu, daß man
wirklich von einem Habitus sprechen kann; „. Und wegen dieser Unange-
messenheit sagt man, daß die Seele der Philosophie •ihn in jenem, den sie
führt» zeigt, d.h. daß Gott immer von seinem Licht in sie hineingibt."
176 Conv., III, xiv, 1.
Einleitung LXIX
177 Summa c. gent., IV, 21: "quantum ad effectus quos proprie in natura
sophen sie offen in i!Jren Handlungen, durch welche wir wissen, daß sie sich
entschieden haben, sich nicht um all die anderen Dinge außerhalb der Weis-
heit zu kümmern. Deswegen schnitt Demokrit, der sich nicht um seine Per-
son kümmerte, weder seinen Bart, noch seine Haare und Fingernägel; Pla-
ton, der sich nicht um die zeitlichen Güter kümmerte, entschloß sich, die
königliche Würde nicht zu beachten, obwohl der ein Königssohn war; Ari-
stoteles, der sich nicht um andere Freunde kümmerte, kämpfte gegen sei-
nen, neben der Wissenschaft besten Freund, nämlich gegen den besagten
Platon. Und wieso sollen wir nun von diesen sprechen, wenn wir doch auch
andere finden, die aufgrund dieser Gedanken i!Jr Leben verachten, wie etwa
Zenon, Sokrates, Seneca und viele andere? Und daraus ist offenkundig, daß
die göttliche Kraft, wie zu den Engeln, in dieser Liebe zu den Menschen
herabsteigt."
LXX Francis Cheneval
scher Gedanke herab, worin man erkennt, daß dies mehr ist als eine mensch-
liche Handlung."
18°Conv., III, xiv, 15.
Einleitung LXXI
zwischen demonstratio und persuasio und die Zuteilung der persuasio an die
Rhetorik findet sich auch bei Thomas von Aquino, Summa theol., !-II, 105,
2, ad 8: .in negotiis humanis non potest haberi probatio demonstrativa et
infallibilis, sed sufficit aliqua coniecturalis probabilitas, secundum quam rhe-
tor persuadet." An anderer Stelle erläutert Thomas, daß die beweisende
Wissenschaft die menschliche Vernunft durch die den Dingen an sich zukom-
menden Eigenschaften zum Zustimmen bringt, wogegen die Rhetorik und
Poetik die Zustimmung durch eine zusätzlich Affektion der Zuhörer errei-
chen wollen: .sola enunciativa oratio est presentis considerationis. Cuius
ratio est quia consideratio huius libri directe ordinatur ad scienciam demon-
strativam, in qua animus hominis per rationem inducitur ad assentiendum,
(„ .) set rethor et poeta inducunt ad assentiendum ei quod intendunt, non
solum per ea que sunt propria rei, set etiam per dispositiones audientis."
185 Conv., III, xv, 2.
188 Conv., III, xv, 6: „ Wo zu wissen ist, daß diese Dinge auf eine gewisse
Art den Intellekt blenden, insofern sie bestätigen, daß es bestimmte Dinge
gibt, die unser Intellekt nicht sehen kann, nämlich Gott, die Ewigkeit und die
erste Materie; die ganz sicher gesehen werden und mit allem Glauben wird
geglaubt, daß sie sind, aber was sie sind, können wir nicht begreifen." Vgl.
Thomas von Aquino, Summa theol., I, 2, 1: „Sed quia nos non scimus de
Deo quid est, non est nobis per se nota: sed indiget demonstrari per ea quae
sunt magis nota quoad nos, et minus nota quoad naturam, scilicet effectus."
Summa theol., I, 12, 12: „Sed quia sunt eius effectus a causa dependentes,
ex eis in hoc perduci possumus, ut congnoscamus de Deo an est."
189 Summa theol., I-11, 4, 8: „Respondeo dicendum quod ultima et perfecta
beatitudo non potest esse nisi in visione divinae essentiae. Ad cuius evident-
iam, duo consideranda sunt. Primo quidem, quod homo non est perfecte
beatus, quandiu restat sibi aliquid desiderandum et quaerendum. Secundum
est, quod uniuscuiusque potentiae perfectio attenditur secundum rationem sui
obiecti. Obiectum autem intellectus est quod quid est, idest essentia rei, ut
dicitur in III de Anima. Unde intantum procedit perfectio intellectus, inquan-
tum cognoscit essentiam alicuius rei. Si ergo intellectus aliquis cognoscat
essentiam alicuius effectus, per quam non possit cognosci essentia causae, ut
scilicet sciatur de causa quid est; non dicitur intellectus attingere ad causam
simpliciter, quamvis per effectum cognoscere possit de causa an sit. Et ideo
remanet naturaliter homini desiderium, cum cognoscit effectum, et seit eum
habere causam, ut etiam sciat de causa quid est. Et illud desiderium est
admirationis, et causat inquisitionem, ut dicitur in principio Metaphysicae.
( ... ) Nec ista inquisitio quiescit quousque perveniat ad cognoscendum essen-
LXXIV Francis Cheneval
sich verhalte, daß die Weisheit den Menschen glückselig machen kann, wo
sie doch dem Menschen gewisse Dinge nicht vollkommen zeigen kann; zu-
dem ist es von Natur aus der Wunsch des Menschen zu wissen und ohne die
Efrüllung dieses Wunsches kann er nicht glückselig sein. Darauf kann man
deutlich antworten, daß der natürliche Wunsch injedem Ding dem wünschen-
den Ding entsprechend bemessen ist: ansonsten würde es sich selbst zuwider-
laufen, was unmöglich ist; und die Natur hätte ihn vegeblich geschaffen, was
ebenfalls unmöglich ist."
191 C. Vasoli, Opere Minori, I, 2; 472. Die Stelle bei Thomas, Sent. Eth.,
I, 2; 8: „Sed frustra et vane aliquis desiderat id quod non polest assequi; ergo
desiderium finis esset frustra et vanum; sed hoc desiderium est naturale,
dictum enim est supra quod bonum est quod naturaliter omnia desiderant;
ergo sequetur quod naturale desiderium sit inane et vacuum; sed hoc est
impossibile, quia naturale desiderium nihil aliud est quam inclinatio inhae-
rens rebus ex ordinatione primi moventis, quae non potest esse supervacua.
( ... ) Et sie necesse est esse aliquem ultimum finem, propter quem omnia alia
desiderantur et ipse non desideratur propter alia. Et ita necesse est esse
aliquem optimum finem rerum humanarum."
Einleitung LXXV
jenem Wissen bemessen, das man hier haben kann und diesen Punkt über-
schreitet es nicht, außer es begeht einen Fehler, der außerhalb der Absicht
der Natur liegt." (Conv., III, xv, 9).
197 Vgl. Conv., III, xv, 6, zitiert in n. 187. Der These M. Cortis (Felicitä
mentale, 127), wonach Dante in Conv., III, xv und in IV, xx einander grund-
sätzlich widersprechende Positionen zur Glückseligkeit darlege, kann nicht
überzeugen. M. Corti meint, daß Dante in Buch III eine radikal aristoteli-
sche Position vertrete und in Buch IV, das sie deshalb zeitlich und inhaltlich
von Buch III absetzen will, von der Möglichkeit einer menschlichen Philoso-
phie Abstand genommen habe. Nur wenn die eindeutigen Passagen in Buch
III überlesen werden, an denen Dante ausdrücklich festhält, daß er von der
Philosophie "hier unten" (III, XV. 3) spricht, für die es wDinge gibt, die
unser Intellekt nicht sehen kann" (III, xv, 6), und "daß es unserer Natur
nicht möglich ist, Gott zu kennen" (III, xv, 10), kann eine solche Position
gerechtfertigt erscheinen. Die Stellen in Buch IV, auf die Corti hinweist,
führen zu einer ähnlichen Position wie das Kapitel xv in Buch III. Dante hält
fest, daß die theoretische Philosophie insofern sie Gott nicht schauen kann,
in diesem Leben nicht zur Vollendung kommen kann (IV, xxii, 13). Dies ist
kein Widerspruch zu Dantes Haltung in III, xv, 9, die besagt, daß die Philo-
sophie eine Kenntnis Gottes pro statu isto auch nicht erstrebt, es sei denn
gegen die Absicht der Natur. Das Mißverständnis, daß beim Vergleich der
besagten Stellen in Buch III und IV entstehen kann, ist auf eine gewisse
Unschärfe im Umgang mit dem Begriff der Glückseligkeit zurückzuführen,
die Dante erst in der Monarchia (III, xv) durch die klare Benennung von
zwei verschiedenen beatitudines aufheben wird. Dante macht jedoch diese
Unterscheidung schon in Conv., IV, xxii, 18 mit anderer Terminologie.
LXXVIII Francis Cheneval
von bestimmten anderen Dingen zu wissen, was sie sind, verlangen wir von
Natur aus nicht, dies zu wissen. Und damit ist der Zweifel ausgeräumt."
(Conv., III, xv, 10). A. Gagliardi (La tragedia intellettuale di Dante) hält
diese Position für Dantes intellektuelle Tragödie, die das lange Schweigen
zwischen dem philosophischen Versuch Convivio und der vom Glauben ge-
tragenen Gesamtschau der Commedia erkläre. Dem ist entgegenzuhalten,
daß Dante mit dem Hinweis auf die Proportionalität von natürlichem Er-
kenntniswunsch und natürlichem Erkenntnisvermögen und mit der Konzepti-
on, daß die Erkenntnis Gottes nicht Teil des desiderium naturale sei, das
entscheidende Argument zu seiner methodischen Trennung von Philosophie
und Theologie liefert. In der Monarchia kommt dieses Verständnis einer
begrenzten, in sich geschlossenen und somit unabhängigen Philosophie in
der Lehre der zweifachen Glückseligkeit und in der Unterscheidung von
weltlicher und geistlicher Macht ebenso zum Tragen, wie in der Commedia
z.B. in der Führung durch Vergil und Beatrice.
199 Mon. III, xv.
Einleitung LXXIX
206 "E io eh'al fine di tutt'i disii / appropinquava, sf eom'io dovea, l'ardor
anima III: "Cum igitur sit consuetum philosophie librum incipientibus ipsam
aliqualiter commendare, ideo ad eius laudem nolens bonam et probatam
transgredi consuetudinem assumpsi verba proposita." Ebenfalls zu einer
Quaestionensammlung zu Averroes' De substantia orbis: "Consuetum est
phylosophyam legentibus eam aliqualiter commendare." Auch in einem
Principium in logica findet sich der Satz: "Cum igitur consuetum sit logicam
legentibus eam aliqualiter commendare, ideo ad eius commendacionem as-
sumpsi verba proposita." Zitiert nach G. Fioravanti, "Sermones in lode del-
la filosofia", 169, n. 11.
209 G. Fioravanti, "Sermones in lode della filosofia."
Einleitung LXXXV
210 .Philosophiae servias oportet, ut tibi contingat vera libertas. Haec sunt
Meinung, jede Wissenschaft verleihe durch geistigen Gewinn und Wert dem
Menschen etwas Göttliches. Man dürfe also Menschen dieser Art häufig
ungeachtet ihrer menschlichen Abkunft zum Reigen der unsterblichen Götter
zählen. Daraus erklären sich zahllose Lobeshymnen auf die Wissenschaften
mit unterschiedlichen Begründungen: Jeder preist jeweils die Disziplinen
und Künste, an denen er seine Geisteskräfte übt, mit prunkvoller und um-
fangreicher Rede vor allen anderen und hebt sie geradezu in den Himmel.
Ich bin aber vom Gegenteil überzeugt: Nichts Schlimmeres, nichts Unheil-
LXXXVI Francis Cheneval
volleres kann dem Wohl der Menschheit wie auch dem Heil unserer Seelen
widerfahren als eben diese Künste, diese Wissenschaften! Deshalb bin ich
vielmehr der Meinung, man darf die Wissenschaften nicht so hoch preisen,
sondern muß sie eher kritisieren, denn es gibt keine, die nicht mit Recht zu
tadeln wäre; wenn eine wirklich etwas Lob verdienen sollte, dann dankt sie
es allein der Redlichkeit ihres Vertreters." (Agrippa von Nettesheim, Über
die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften, I; 17; lat. Text in:
Ders., Opera II, Hildesheim I New York: Olms, 1970). Vgl. auchJuan Luis
Vives, De causis corruptarum artium (Über die Gründe des Verfalls der
Künste). In gewissem Sinne kann schon Petrarcas, De sui ipsius et multorum
ignorantia aus dieser Perspektive interpretiert werden.
212 Vgl. dazu R. A. Gauthier, .Notes sur Siger de Brabant." Vgl. dazu
297-347.
218 Ms. Oxford, Corpus Christi 243, fol. 2ra-3ra. Ich beziehe mich auf
220 Die Philosophia des Henri le Breton z. B. beginnt mit diesem Zitat:
tarnen hominum, de quo dolor est, studio sapientiae vacant inordinata concu-
piscentia eos a tanto bono impediente. Videmus enim quodam pigritiam vitae
sequi, quosdam autem voluptates sensibiles detestabiles et quosdam desideri-
um bonorum fortunae. Et ita omnes homines hodie impedit inordinata concu-
piscientia a suo summo bono exceptis paucissimis honorandis viris." (Boethi-
us von Dacien, De summo bono, 373) .• Licet autem omnes homines se-
cundum Aristotelem primo Metaphysicae natura scire desiderent: tarnen pau-
ci, de quo dolor est, philosophiae vacant: quod ideo contingit, quia plures
omissis delectationibus interioribus, ad delectationes refugiunt corporales.
Non tarnen oportet delectationes corporales esse eligibiliores inferioribus:
Einleitung LXXXIX
sophie abhalten, obschon sie von Natur aus auf sie hingeordnet
sind. Im Gegensatz zu den professionellen Philosophen der
Universität läßt es aber Dante nicht bei dem Hinweis bewen-
den, daß die meisten Menschen durch Faulheit, Wollust und
gemeiner Geldgier von der Philosophie abgehalten werden,
sondern er stellt fest, daß viele wegen der Sorge um die Familie
und die öffentlichen Angelegenheiten dem Studium der Philo-
sophie fernbleiben müssen. Da Dante Aristoteles beim Wort
nimmt, macht er es zu seinem Hauptanliegen, die von der
Philosophie ausgeschlossenen zum Tisch der Weisen zu füh-
ren223. Daß er dabei den Bedürfnissen seines höfischen Laien-
publikums entgegenkam, wird deutlich, wenn berücksichtigt
wird, daß Manfred, der Sohn Friedrichs II., in einem Brief den
ehrwürdigen Magistern der Pariser Artistenfakultät mitgeteilt
hat, daß er trotz Erfüllung gesellschaftlicher Pflicht und Sorge
um familiäre Angelegenheiten die Lektüre philosophischer
Texte zu pflegen versuche224 • Obschon also der Alighieri durch
die Zitierung des Aristotelischen Satzes und die Besprechung
der Verhinderungsgründe der Philosophie ein wichtiges Ele-
ment der Einführungsliteratur aufgreift, so füllt er dieses doch
mit neuen Inhalten und gibt ihm eine neue Stoßrichtung. An-
stelle der abschätzigen Schuldzuweisungen der universitären
Elite an all jene, die nicht Philosophie betreiben, betont Dante
228 „ Und hieraus entstand dann, daß jeder Studierende der Weisheit 'Lieb-
haber der Weisheit' genannt wurde, d.h. 'Philosoph'; denn auf Griechisch
bedeutet 'philos' soviel wie 'amor' auf Lateinisch, und deshalb sager wir:
'philos' im Sinne von Liebe und 'sophos' im Sinne von Weiser. Woraus man
sehen kann, daß diese zwei Begriffe den Namen 'Philosoph' ausmachen, der
soviel bedeutet wie 'Liebhaber der Weisheit': woraus man entnehmen kann,
daß dies nicht ein Ausdruck der Überheblichkeit, sondern der Demut ist."
(Conv., III, xi, 5). Vgl. Dominicus Gundissalinus, De divisione philoso-
phiae, Prologus: .Cognitio autem quid sit philosophia, videndum est, quare
sie dicatur: 'Philosophia est amor sapiencie'. Philos enim grece amor dicitur
latine; et sophia dicitur sapiencia; inde philosophia est amor sapiencie et
philosophus amator sapiencie." Amould de Provence, Divisio scientiarum,
306: .Aparte nominis ponuntur 4 ut scribitur in libro Secundarum epistula-
rum Senece, quarum prima est hec: Philosophia est amor sapientie, dicta a
philos, quod est 'amor', et sophia, 'sapientia'." Aubry von Reims, Philoso-
phia; 38: .Diffinitiones autem eius ab Ysaac date ad quatuor capitales reduc-
untur. Quarum prima est diffinitio ponens altera nomina, que sumitur ab
expositione vocabuli, que talis est: Philosophia est amor sapiencie; loquor
non de amore quocunque, set qui ex precedenti cognitione procedit." Vgl.
auch die Texte bei R. Imbach, .Einführungen in die Philosophie", 486-487.
229 „Cum igitur sit consuetum philosophie librum incipientibus ipsam ali-
thäus von Eugubio zugeschrieben. Auf den fol. 96v-97r sind noch Fragmente
von zwei weiteren sermones überliefert.
Einleitung XCIII
des Giovanni de! Virgilio zur Grammatik. Vgl. G. C. Alessio, "I trattati
grammaticali di Giovanni de! Virgilio", 190-194.
m Wie schon erwähnt, beginnt der als commendatio philosophie konzi-
pierte Prolog des pseudothomistischen Kommentars zur Philosophiae conso-
latio mit demselben Zitat wie der senno auf fol. 98v-100v.
236 Prv 5, 15.
237 "Quantum ad primum est intelligendum, quod tune intellectus veritate
erat reverendi ad modum vultus oculis ardentibus et cet. In hoc quod dicit,
quod erat reverendi ad modum vultus, insinuit quod philosophi sint valde
honorandi, quia secundum Philosophum 4° Ethicorum honor est primum vir-
tutis. Scientia autem sive philosophia est virtus intellectualis ut dicitur 6°
Ethicorum, ergo philosophi sive sapientes sunt non modicum honorandi. Per
hoc quod dicit •oculis ardentibus• insinuit quod philosophi habent certitudi-
nem, subtilitatem et cognitionis veritatem, ad quam alii homines non atting-
unt. Dicit autem •vivido colore» ad differentiam coloris retorici, qui est
fictitius ab extrinseco adveniens. Sed color philosophicus ab intrinseco, id
est a veritate, que est in mente, provenit et ideo vividus nuncupatur. Erat
etiam inexausti vigoris, quia insolubiles sunt philosophice rationes." (Sevil-
la, Biblioteca Capitolar, 56.1.6. (81.6.6), fol. 85v).
~ 40 "Tertia describit eiam quantum ad habitum incomparabilem dicens •Ve-
stes eius usque conteste• etc. Vestes philosophie sunt conclusiones philoso-
phice, que dicuntur contexte tenuissimis filis propter preciositatem et subtili-
tatem." (Sevilla, Biblioteca Capitolar, 56.1.6. (81.6.6), fol. 85v).
241 Vgl. Conv., II, xv, 4: "Und da wo er sagt: •Wer das Heil sehen will,
sorge dafür, daß er die Augen dieser Frau erblicke» sind die Augen dieser
Einleitung XCV
Frau die Beweise, die, auf die Augen des Intellekts ausgerichtet, die von den
Widersprüchen befreite Seele verliebt machen." Conv„ III, xv, 2: "Und
hier muß man wissen, daß die Augen der Weisheit ihre Beweise sind, durch
welche man die Wahrheit am sichersten sieht; und ihr Lächeln sind ihre
Darlegungen, in welchen sich das innere Licht der Weisheit unter einem
gewissen Schleier zeigt." Vgl. auch IV, ii, 17.
242 "Species eius sive pulcritudo sol est lux, quam nunquam perdit, quod
nunquam veraciter eclipsatur, sed solum apparenter, scilicet quoad nos, qu-
ando luna interponitur, interponitur inter nos et ipsum et est in linea eclipt-
ica. Eclipsis enim grece et latine dicitur defectus. Unde linea ecliptica dicitur
linea defectuosa. Sie est philosophia et etiam grammatica, nam sicut sol
nunquam perdit suam lucem et claritatem, sie philosophia non perdit suam
claritatem, ut grammatica suam congruitatem non, solum quoad aliquos,
quando luna, id est loyca interponitur et est etiam ecliptica, id est quando
loycus sophistice querit contra philosophie veritatem vel grammatice con-
gruitatem. Similis enim sophisticus est defectuosus, quia defficit a sillogismo
vero in materia vel forma. Si autem sol nunquam eclipsatur quoad omnes,
sed solum quoad aliquos, sie philosophia vel grammatica non dicitur obscur-
ari quoad omnes, sed solum quoad illos, qui decipiuntur per sophisticas ra-
tiones. Quo autem ad illos, qui deffectum linee eclectice, id est sophistice
rationis percipiunt, percipiunt philosophiam esse tamquam mulier amicta
sole, id est claritate et veritate cognitionis. Et luna sub pedibus eius, quia
luna est infra solem < 87r> et ideo si est amicta sole, luna est sub pedibus
eius. Ratio autem quare per lunam intelligitur loyca est hec, quia ut dicit
Martinianus, quando luna distat a sole, minus illuminatur, quam quando est
cum sole coniuncta, quia tune illuminatur aparte superiori et quia propinqu-
ior est soli plus recipit de lurnine. Sie est de loica tune distat a sole quando
non est unita cum philosophia." (Sevilla, Biblioteca Capitolar, 56.1.6.
(81.6.6), fol. 86v-87r).
243 Vgl. Conv., II, xiii, 9-12.
XCVI Francis Cheneval
ipsius generalem influentiam, cum dicitur species celi. Habet enim dyalecti-
ca speciem, id est similitudinem celi, quia sicut celum generaliter influit
omnibus inferioribus, sine qua influentia non possent esse inferiora, ita dya-
lectica generaliter influit omnibus scientiis, sine qua influentia non posset
aliqua scientia humaniter adinventa. Nam cum omnis scientia humana sit
effectus demonstrationis, nihil enim aliud est scientia, quam habitus conclu-
sionis demonstrate, que procedit ex principiis per se notis, cuius medium est
diffinitio, ut habetur in primo Posteriorum." (Sevilla, Biblioteca Capitolar,
56. l.6. (81.6.6), fol. 99v).
245 Conv., II, xiii, 4: "Die zweite Ähnlichkeit ist die Erleuchtung, die vom
einen und von der anderen ausgeht; dennjeder Himmel erleuchtet die sicht-
baren Dinge und ebenso erleuchtet jede Wissenschaft die vernünftig erkenn-
baren Dinge."
Einleitung XCVII
bezeichnet wird246 • Der gleiche Text sagt aus, daß der Mensch
durch die Wissenschaften zu den Freuden der Heiligen gelan-
gen kann247 • Wie Dante haben auch die Bologneser Autoren
keine Mühe, ihr Lob der Weisheit und der Philosophie durch
Zitate aus dem Alten Testament bildhaft anzureichern. Außer-
dem fällt auf, daß in den Bologneser sermones durch die mehr-
fache Zitierung des Boethius, Alanus ab Insulis und Walter
Chätillon auf eine Tradition zurückgegriffen wird, die bei der
241 Vgl. die Beschreibung der Handschrift bei G. C. Alessio, "I trattati
grammaticali di Giovanni de! Virgilio", 190-194. Vgl. die erste Prosa aus
De planctu naturae: "Cum hec elegacia lamentabili eiulatione crebrius re-
censerem, mulier, ab impassiblis mundi penitiori delapsa palacio, ad me
maturare videbatur accessum ... " (Ed. Häring, 808).
Einleitung XCIX
reits diskutierte Quaestionenform des vierten Buches des Conv., wurde als
Beweis für die Andersartigkeit und zeitliche Distanz zu den ersten drei Bü-
chern vorgetragen. Vgl. M. Corti, La felicita mentale, 123f.
"'Vgl. Kommentar zu Conv., II, ii.
254 1,i, 17;viii, 18;ix,8;xii, 12;11,i, l.4;ii,6;vi, l;xv,3.11.12;III, i, l;
vii, 13; xii, l; xiii, 4; xv, 14.20; IV, ii, 4. 18; v, 10; ix, l; xiii, 7; xvi, 2; xx, 4;
xxiii, 15; xxvi, 5.8; xxvii, 11; xxx, 1.5; iii, l; xvi, 2.
Einleitung CI
über den Glauben als quaestio, die dem Bakkalar zur Erörterung gestellt
wird: "Si come il baccellier s'arma e non parla/ fin ehe '1 maestro la ques-
tion propone/ per approvarla, non per terminarla, cosi m'armava io d'ogne
ragione ... "
256 Für weitergehende Ausführungen und Spekulationen über die von Dan-
te nicht kommentierten Kanzonen vgl. ED II, 193f. Für eine Deutung der
Zahl 14 vgl. Kommentar zu I, i, 14.
CII Francis Cheneval
m Conv., II, v, 5. Vgl. Vita Nuova, XXIX. Der Text wird im Kommentar
zu 1, v-xiii zitiert.
260 II, ii, 6-7: "Damit es nicht nochmals nötig ist, diese Worte bei der
Deutung der anderen vorauszuschicken, sage ich, daß ich die Ordnung, die
in diesem Traktat zugrunde gelegt wird, für alle anderen beizubehalten ge-
denke. Ich sage also, das die vorgelegte Kanzone drei Hauptteile umfaßt."
261 Kapitel ii-x. Vgl. Kommentar Conv., III, i.
CIV Francis Cheneval
Unaussprechlichkeit
des Themas
(ii, 2 - iii, 15)
Entschuldigung des
Unvermögens
(iv, 4-13)
Allgemeines Lob
der Seele und des
Körpers(v, 2-vi, 13)
Besonderes Lob
des Körpers
(viii)
Thematisierung
des Widerspruchs
zum Tanzlied (ix, 4)
Belehrung der
Kanzone
(x, 5 - 10)
Einleitung cv
Trattato Primo
Erstes Buch
CONVIVIO
Trattato primo
Erstes Buch
sona e nata e nutrita, ehe tal ora sara da ogni studio non sola-
mente privato, ma da gente studiosa lontano.
(5) Le due di queste cagioni, cioe la prima da la parte [di
dentro e la prima da la parte] di fuori, non sono da vituperare,
ma da escusare e di perdono degne; le due altre, avvegna ehe
l'una piii, sono degne di biasimo e d'abominazione. (6) Ma-
nifestamente adunque puo vedere chi bene considera, ehe pochi
rimangono quelli ehe a l'abito da tutti desiderato possano per-
venire, e innumerabili quasi sono li 'mpediti ehe di questo cibo
sempre vivono affamati. (7) Oh beati quelli pochi ehe seggiono
a quella mensa dove lo pane de li angeli si manuca! e miseri
quelli ehe con le pecore hanno comune cibo! (8) Ma pero ehe
ciascuno uomo a ciascuno uomo naturalmente e amico, e cia-
scuno amico si duale del difetto di colui eh' elli ama, coloro ehe
a cosi alta mensa sono cibati non sanza misericordia sono inver
di quelli ehe in bestiale pastura veggiono erba e ghiande sen
gire mangiando. (9) E accio ehe misericordia e madre di bene-
ficio, sempre liberalmente coloro ehe sanno porgono de la loro
buona ricchezza a li veri poveri, e sono quasi fonte vivo, de la
cui acqua si refrigera la naturale sete ehe di sopra e nominata.
(10) E io adunque, ehe non seggio a la beata mensa, ma, fuggito
de la pastura del vulgo, a' piedi di coloro ehe seggiono ricolgo
di quello ehe da loro eade, e eonoseo la misera vita di quelli ehe
dietro m'ho lasciati, per la dolcezza eh'io sento in quello ehe
a poco a poeo rieolgo, miserieordievolmente mosso, non me
dimentieando, per li miseri alcuna eosa ho riservata, Ja quale
a li oeehi loro, gia e piii tempo, ho dimostrata; ein cio li ho fatti
maggiormente vogliosi. (11) Per ehe ora volendo loro apparee-
ehiare, intendo fare un generale convivio di cio ch'i' ho loro
mostrato, e di quello pane eh'e mestiere a eosi fatta vivanda,
Das Gastmahl 5
worden ist, so daß eine solche [Person] jetzt nicht nur jedes
Studiums beraubt sein dürfte, sondern auch weit entfernt von
gelehrten Leuten.
(5) Zwei dieser Ursachen, d.h. die erste der (inneren und die
erste der) äußeren Seite, sind nicht zu tadeln, sondern zu ent-
schuldigen und der Vergebung würdig; die zwei anderen - die
eine allerdings mehr - sind des Tadels und der Verabscheuung
würdig. (6) Deutlich kann, wer es recht bedenkt, also sehen,
daß wenige übrigbleiben, die zum von allen gewünschten Ha-
bitus gelangen können, und daß die Verhinderten, die bezüg-
lich dieser Speise immer hungernd leben, beinahe unzählbar
sind. (7) Ach glücklich sind jene wenigen, die an jener Tafel
sitzen, wo man das Brot der Engel ißt, und beklagenswert sind
jene, die ihre Nahrung mit den Schafen gemein haben! (8) Weil
aber jeder Mensch jedem Menschen von Natur aus ein Freund
ist und jeden Freund der Mangel bei dem, den er liebt,
schmerzt, sind jene, die an dieser erhabenen Tafel gespiesen
werden, nicht ohne Barmherzigkeit gegenüber jenen, die sie
ständig in einem tierischen Brei Gras und Eicheln essen sehen.
(9) Und weil die Barmherzigkeit Mutter der Wohltätigkeit ist,
geben jene, die wissen, immer freimütig von ihrem guten
Reichtum den wahren Armen und sie sind wie eine lebendige
Quelle, an deren Wasser sich der oben erwähnte natürliche
Durst labt. (10) Und ich also, der ich nicht an der glückseligen
Tafel sitze, sondern vom Brei der großen Menge weggelaufen,
zu Füßen jener, die sitzen, zusammenlese, was von ihnen her-
unterfällt und der ich das unglückliche Leben jener, die ich
hinter mir gelassen, kenne, habe, wegen der Süße, die ich in
dem Stück für Stück Zusammengelesenen spüre, durch Barm-
herzigkeit bewegt, mich selbst nicht vergessend, für die Un-
glückseligen gewisse Dinge aufbewahrt, die ich, einige Zeit ist
es bereits her, ihren Augen vorgeführt habe; und dadurch habe
ich veranlaßt, daß sie nach mehr verlangen. (11) Da ich ihnen
nun auftragen will, gedenke ich, ein allgemeines Gastmahl zu
veranstalten mit jenen Dingen, die ich ihnen gezeigt habe, und
6 Convivio 1 · i, 11-17
das an sich zu tadeln ist, häßlicher ist, als jenes [Ding], das per
Akzidens [zu tadeln] ist. (5) Sich selbst zu verachten, ist an sich
genommen tadelnswert, weil ein Mensch seinem Freund seinen
Mangel bündig vorrechnen muß, und niemand ist in höheren
Masse Freund als ein Mensch sich selbst; weswegen er sich
selbst in der Kammer seiner Gedanken zurechtweisen und seine
Mängel beweinen muß und nicht öffentlich. (6) Weiter: Wegen
des Unvermögens und Nichtwissens bezüglich einer guten
Selbstführung wird der Mensch in den meisten Fällen nicht
gescholten, aber wegen des Nichtwollens wird er es immer,
denn anhand unseres Wollens und unseres Nichtwollens wird
die Schlechtigkeit und die Gutheit beurteilt; so bestätigt, wer
sich selbst tadelt, die Kenntnis seines Mangels [und] bestätigt,
daß er nicht gut ist: deswegen ist es an sich zu unterlassen, von
sich selbst tadelnd zu sprechen. (7) Vom Selbstlob ist als
Schlechtem per Akzidens Abstand zu nehmen, insofern man
nicht loben kann, ohne daß jenes Lob hauptsächlich Tadel ist.
Lob ist es an der Oberfläche der Worte, Tadel ist es für jenen,
der in ihren Eingeweiden sucht: denn die Worte dienen dazu das
zu zeigen, was man nicht weiß, weswegen, wer sich selbst lobt,
zeigt, daß er nicht glaubt für gut gehalten zu werden; was ihm
nicht geschieht ohne schlechtes Gewissen, das er, sich selbst
lobend, aufdeckt und sich, dies aufdeckend, tadelt.
(8) Und weiter ist das Eigenlob und der Selbsttadel aus dem
gleichen Grund zu fliehen wie die Falschaussage; denn es gibt
keinen Menschen, der ein wahrer und gerechter Bewerter sei-
ner selbst ist, zu sehr täuscht ihn die Eigenliebe. (9) Daher
kommt es, daß jeder in seinem Urteil die Masse des falschen
Händlers verwendet, der mit dem einen [Maß] verkauft und
mit dem anderen kauft; und jeder sucht mit einem großen Maß
sein schlechtes Tun und mit einem kleinen das Gute; so daß
Zahl, Menge und Gewicht des Guten ihm als größer erschei-
nen, als wenn es mit dem richtigen Maß gewogen würde, und
[die Masse] des Schlechten kleiner. (10) Weswegen er, von
sich selbst mit Lob oder dem Gegenteil sprechend, entweder
12 Convivio 1 . ii, 10-15
falso per rispetto a la cosa di ehe parla; o dice falso per rispetto
a la sua sentenza, c'ha l'una e l'altra falsitate. (11) E pero, con
cio sia cosa ehe lo consentire e uno confessare, villania fa chi
loda o chi biasima dinanzi al viso alcuno, perche ne consentire
ne negare puote lo cosi estimato, sanza cadere in colpa di
lodarsi o di biasimare: salva qui la via de la debita correzione,
ehe essere non puo sanza improperio del fallo ehe correggere
s'intende; e salva la via del debito onorare e magnificare, la
quale passar non si puo sanza far menzione de l 'opere virtuo-
se, o de le dignitadi virtuosamente acquistate.
(12) Veramente, al principale intendimento tornando, dico,
come e toccato di sopra, per necessarie cagioni lo parlare di se
e conceduto: e in tra !'altre necessarie cagioni due sono piu
manifeste. (13) L'una e quando sanza ragionare di se grande
infamia o pericolo non si puo cessare; e allora si concede, per
la ragione ehe de li due sentieri prendere lo men reo e quasi
prendere un buono. E questa necessitate mosse Boezio di se
medesimo a parlare, accio ehe sotto pretesto di consolazione
escusasse Ja perpetuale infamia de! suo essilio, mostrando
quello essere ingiusto, poi ehe altro escusatore non si levava.
(14) L'altra e quando, per ragionare di se, grandissima utilita-
de ne segue altrui per via di dottrina; e questa ragione mosse
Agustino ne Je sue Confessioni a parlare di se, ehe per lo
processo de Ja sua vita, lo quale fu di [non] buono in buono,
e di buono in migliore, e di migliore in ottimo, ne diede es-
semplo e dottrina, Ja quale per si vero testimonio ricevere non
si potea. (15) Per ehe se l'una e l'altra di queste ragioni mi
scusa, sufficientemente lo pane de! mio formento e purgato de
Das Gastmahl 13
Falsches sagt in Hinsicht auf die Sache, von der er spricht, oder
er sagt Falsches in Hinsicht auf seine Aussage, die beide
Falschheit haben. (11) Und da Beipflichten gleich Bekennen
ist, begeht, wer jemanden in seinem Beisein lobt oder tadelt,
eine Frechheit, weil der derart eingeschätzte weder beipflich-
ten noch verneinen kann, ohne der Schuld des Selbstlobes oder
Tadels zu verfallen: außer im Falle der angemessenen Ermah-
nung, die nicht ohne die Schmähung des Fehlers, den richtig-
zustellen sie beabsichtigt, auskommt; und im Falle der ange-
messenen Ehrung und Verherrlichung, was aber nicht ohne
Erwähnung der tugendhaften Werke oder der tugendhaft er-
worbenen Würden geschehen kann.
(12) Zur ursprünglichen Absicht zurückkehrend erkläre ich,
wie es oben gestreift worden ist, daß das Sprechen von sich
selbst bei zwingenden Gründen tatsächlich erlaubt ist: und
unter anderen zwingenden Gründen sind zwei am offensicht-
lichsten. (13) Der eine ist [dann gegeben], wenn, ohne über
sich selbst zu verhandeln, eine große Verleumdung oder Ge-
fahr nicht beendet werden kann; und dann ist es aus dem Grund
erlaubt, daß die Wahl des weniger schlechten der zwei Wege
gleichsam die Wahl des guten ist. Und diese Notwendigkeit
bewegte Boethius dazu, von sich selbst zu sprechen, um unter
dem Vorwand der Tröstung die andauernde Schmach seines
Exils zu entschuldigen - indem er zeigte, daß dieses ungerecht
war-, zumal kein anderer Verteidiger sich erhob. (14) Der
andere [Grund] ist [dann gegeben], wenn aus dem Verhandeln
über sich selbst auf dem Weg der Lehre größter Nutzen für
andere folgt; und dieser Grund bewegte Augustinus dazu, in
seinen Bekenntnissen von sich selbst zu sprechen, damit er
durch den Gang seines Lebens, der vom (nicht) Guten zum
Guten, vom Guten zum Besseren und vom Besseren zum Be-
sten führte, Beispiel gebe und Lehre, die man von keiner wahr-
haftigeren Zeugenaussage empfangen konnte. (15) Weswe-
gen, wenn der eine und der andere dieser Gründe mich ent-
schuldigt, das Brot meines Kommentars von seinem ersten
14 Convivio 1 · ii, 15 - iii, 4
Fiorenza, di gittarmi fuori del suo dolce seno - nel quale nato
e nutrito fui in fino al colmo de Ja vita mia, e nel quale, con
buona pace di quella, desidero con tutto lo cuore di riposare
J'animo stancato e terminare Jo tempo ehe m'e dato - , per Je
parti quasi tutte a le quali questa lingua si stende, peregrino,
quasi mendicando, sono andato, mostrando contra mia voglia
Ja piaga de Ja fortuna, ehe suole ingiustamente al piagato molte
volte essere imputata. (5) Veramente io sono stato Jegno sanza
vela e sanza governo, portato a diversi porti e foci e liti dal
vento secco ehe vapora la dolorosa povertade; e sono apparito
a li occhi a molti ehe forseche per alcuna fama in altra forma
m'aveano imaginato, nel conspetto de' quali non solamente
mia persona invilio, ma di minor pregio si fece ogni opera, si
giil fatta, come quella ehe fosse a fare. (6) La ragione per ehe
cio incontra - non pur in me, ma in tutti - brievemente or qui
piace toccare: e prima, perche Ja stima oltre Ja veritade si
sciampia; e poi, perche Ja presenzia oltre Ja veritade strin-
ge. (7) La fama buona, principalmente e generata da Ja buona
operazione ne Ja mente de J'amico, e da quella e prima partori-
ta; ehe Ja mente del nemico, avvegna ehe riceva Jo seme, non
concepe. (8) Quella mente ehe prima Ja partorisce, si per far
piu omato Jo suo presente, si per Ja caritade de l 'amico ehe Jo
riceve non si tiene a li termini del vero, ma passa quelli. E
quando per ornare ciO ehe dice li passa, contra conscienza
parla; quando inganno di caritade li fa passare, non parla con-
tra essa. (9) La seconda mente ehe cio riceve, non solamente
a Ja dilatazione de Ja prima sta contenta, ma 'l suo riportamen-
to, si come qu[as]i suo effetto, procura d'adomare; e si, ehe
per questo fare e per Jo 'nganno ehe riceve de Ja caritade in Jei
Das Gastmahl 17
generata, quella piil ampia fa ehe a lei non viene, e con concor-
dia e con discordia di conscienza come la prima. E questo fa la
terza ricevitrice e la quarta, e cosi in infinito si dilata. (10) E
cosi, volgendo le cagioni sopra dette ne le contrarie, si puo
vedere la ragione de la infamia, ehe simigliantemente si fa
grande. Per ehe Virgilio dice nel quarto de lo Eneida ehe la
Fama vive per essere mobile, e acquista grandezza per andare.
(11) Apertamente adunque veder puo chi vuole ehe la imagine
per sola fama generata sempre e piü ampia, quale ehe essa sia,
ehe non e la cosa imaginata nel vero stato.
iv. Nachdem zuvor der Grund dafür, daß der Ruf das Gute
und das Schlechte über die wahren Masse hinaus ausweitet,
dargelegt worden ist, bleiben in diesem Kapitel jene Gründe
darzulegen, die aufzeigen, weshalb die Anwesenheit aufgrund
des Gegenteils einengt; dies dargelegt, wird es ein Leichtes
sein, zum hauptsächlichen Vorhaben, also zur oben festgehal-
tenen Entschuldigung, zurückzukehren.
(2) Ich sage also, daß die Anwesenheit eine Person aufgrund
von drei Ursachen weniger wertvoll macht, als sie ist: deren
eine ist die Kindheit, nicht dem Alter nach wohlverstanden,
sondern der Seele nach; die zweite ist der Neid - und diese
[beiden] sind im Urteilenden; die dritte ist die menschliche
Unvollkommenheit, und diese ist im Beurteilten. (3) Die erste
kann man kurz folgendermaßen erklären: Der größte Teil der
Menschen lebt gemäß den Sinnen und nicht gemäß der Ver-
nunft, wie die Kinder; und diese kennen die Dinge nur von
aussen und ihre Gutheit, die auf das gebührende Ziel hingeord-
net ist, sehen sie nicht, weil sie die Augen der Vemunft, die dazu
da sind, dies zu sehen, geschlossen haben. Weswegen sie alles,
was sie [sehen] können, vorschnell sehen und sie gemäß ihrem
20 Convivio I. iv, 3-10
Augenschein urteilen. (4) Und weil sie sich aufgrund des Ge-
hörten eine Meinung bilden über eines andern Ruf, womit bei
Anwesenheit das unvollkommene Urteil, das nicht gemäß der
Vernunft, sondern nur gemäß den Sinnen urteilt, nicht überein-
stimmt, halten sie das, was sie zuvor gehört haben, gleichsam
für eine Lüge und verachten sie die Person, die sie zuvor
geachtet haben. (5) Deshalb vermindert bei diesen, die - ich
ärmster - beinahe die Gesamtheit ausmachen, die Anwesenheit
sowohl die eine wie die andere Qualität. Diese sind schnell nett
und ebenso schnell überdrüssig, oft sind sie fröhlich und ebenso
oft sind sie traurig wegen kurzer Freuden und Traurigkeiten,
schnell sind sie Freunde und ebenso schnell sind sie Feinde;
alles tun sie wie die Kinder, ohne die Vernunft zu gebrauchen.
(6) Den zweiten [Grund] erkennt man durch folgende Überle-
gungen: Gleichheit ist bei Lasterhaften Ursache von Neid und
Neid ist Ursache schlechten Urteils, weil er die Vernunft bezüg-
lich der beneideten Sache nicht argumentieren läßt und die
urteilende Kraft ist dann [wie] jener Richter, der nur der einen
Partei Gehör schenkt. (7) Deswegen werden solche, wenn sie
die berühmte Person sehen, unverzüglich neidisch, weil sie
[diese Person] den Gliedern und der Kraft nach sich gleichwer-
tig sehen, und sie fürchten wegen der Vortrefflichkeit dieser
[Person] weniger geschätzt zu werden. (8) Und diese urteilen
nicht nur schlecht in ihrer Leidenschaft, sondern durch ihre
Verleumdung bewirken sie ein schlechtes Urteil anderer; des-
wegen vermindert bei diesen die Gegenwart das Gute und das
Schlechte in jedem Anwesenden: und ich spreche vom Schlech-
ten, weil viele, die sich an schlechten Handlungen erfreuen, auf
schlecht Handelnde neidisch sind. (9) Die dritte ist die mensch-
liche Unvollkommenheit, die auf die beurteilte Person, die
nicht ohne familiären Umgang und Gespräche ist, zu beziehen
ist. Zu dessen Erhellung ist zu wissen, daß der Mensch unter
verschiedenen Gesichtspunkten befleckt ist und daß, wie Augu-
stinus sagt, "keiner ohne Makel istu. (10) Manchmal ist der
Mensch von einer Leidenschaft, der er unter Umständen nicht
22 Convivio I. iv, 10 - v, 2
vor dem anderen den Vorzug zu geben: der eine entspringt der
Vorsicht bezüglich unziemender Anordnung; der andere der
Bereitschaft zur Freigebigkeit; der dritte der natürlichen Liebe
zur eigenen Sprache. (3) Und diese Dinge gedenke ich, zur
Entkräftigung dessen, was man an ihnen wegen der angeführ-
ten Überlegungen rügen könnte, gemäß ihrer Gründe der Rei-
he nach folgendermaßen zu erklären.
(4) Was die menschliche Handlung am meisten schmückt
und lobt und sie am direktesten zu einem guten Ziel führt, ist der
Habitus, dessen Veranlagungen auf das intendierte Ziel hinge-
ordnet sind; so wie die Kühnheit der Seele und die Stärke des
Körpers auf das Ziel der Ritterlichkeit hingeordnet sind.
(5) Und ebenso muß, wer auf die Bedienung eines andern hin-
geordnet ist, jene Veranlagungen haben, die auf dieses Ziel
hingeordnet sind, wie etwa Unterordnung, Kenntnis und Ge-
horsam, ohne die bezüglich des guten Bedienens jeder ungeord-
net ist; wäre er nicht injedem Fall untergeordnet, verrichtete er
seinem Dienst immer mühsam und schwerfällig und nur in
seltenen Fällen führte er diesen fort; und wenn er nicht (ken-
nend ist. ................ ; und wenn er nicht) gehorsam ist, so
dient er nur nach seinem eigenen Gutdünken und Wollen, was
mehr dem Dienst des Freundes als demjenigen des Dieners
entspricht. (6) Deswegen, um dieser Unordnung zu entgehen,
gehört es sich, daß dieser Kommentar, der für die Stelle eines
Dieners für die unten angeführten Kanzonen geschaffen ist,
diesen in jeder seiner Ausrichtungen untergeordnet ist und daß
er um die Bedürfnisse seines Herrn weiß und ihm gegenüber
gehorsam ist. (7) All diese Veranlagungen hätten ihm gefehlt,
wenn er lateinisch und nicht volkssprachlich gewesen wäre, da
ja die Kanzonen volkssprachlich sind. Denn erstens wäre er
nicht untergeordnet, sondern Herrscher gewesen, sowohl
durch (seinen) Adel, wie auch durch Tugend und Schönheit.
Durch den Adel, weil das Latein ewig und unveränderlich ist
und die Volksprache nicht fest ist, sondern veränderlich.
(8) Weswegen wir in den alten Schriften der lateinischen Ko-
26 Convivio 1 · v, 8-13
mand zweifelt daran, daß, wenn sie mit lauter Stimme befehlen
würden, dies ihr Befehl wäre. (12) Und das Latein hätte sie nur
den Gelehrten ausgelegt, denn die anderen hätten [den lateini-
schen Kommentar] nicht verstanden. Und da es mehr Unge-
lehrte als Gelehrte gibt, die diese [Kanzonen] zu verstehen
wünschen, folgt, daß [das Latein] den Befehl nicht so vollkom-
men erfüllt hätte wie die Volkssprache, die von Gelehrten und
Ungelehrten verstanden wird. (13) Weiter hätte das Latein sie
Leuten anderer Sprache ausgelegt, wie etwa Deutschen, Eng-
ländern und anderen, und darin hätte es den Befehl [der Kan-
zonen] überschritten; denn gegen ihren Willen wäre es, - ich
verstehe es im übertragenen Sinn-, wenn ihre Aussage dort
ausgelegt würde, wohin sie diese nicht mit ihrer Schönheit
tragen können. (14) Und diesbezüglich wisse jeder, daß man
kein durch musikalische Bindung harmonisiertes Werk aus
seiner Sprache in eine andere übertragen kann, ohne seine
ganze Süße und Harmonie zu zerstören. (15) Und dies ist der
Grund, weswegen Homer nicht aus dem Griechischen ins La-
teinische übersetzt wurde, wie die anderen Schriften, die wir
von ihnen haben. Und dies ist der Grund, weswegen die Verse
des Psalters keine musikalische und harmonische Süße haben;
denn sie wurden aus dem Hebräischen ins Griechische und vom
Griechischen ins Lateinische übertragen, und in der ersten
Übertragung verschwand jene ganze Süße. (16) Und so ist
erschlossen, was zu Beginn des unmittelbar vorangehenden
Kapitels versprochen worden war.
letizia non puo dare altro ehe utilitade, ehe rimane nel datore
per lo dare, e ehe viene nel ricevitore per ricevere. (8) Nel
datore adunque dee essere la providenza in far si ehe de la sua
parte rimagna l'utilitade de l'onestate, ch'e sopra ogni utilita-
de, e far siehe a lo ricevitore vada l 'utilitade de l 'uso de la cosa
donata; e cosi sara l'uno e l'altro lieto, e per consequente sara
piu pronta la liberalitade. (9) Secondamente, pero ehe la vertU
dee muovere le cose sempre al migliore. Che cosi come sarebbe
biasimevole operazione fare una zappa d'una bella spada o fare
un bel nappo d 'una bella chitarra, cosi e biasimevole muover la
cosa d 'un luogo dove sia utile e portarla in parte dove sia meno
utile. (10) E pero ehe biasimevole e invano adoperare, biasi-
mevole e non solamente a porre la cosa in parte dove sia meno
utile, ma eziandio in parte ove sia igualmente utile. (11) Onde,
acciO ehe sia laudabile lo mutare de le cose, conviene sempre
essere [al] migliore, per cio ehe dee massimamente essere
laudabile: e questo non [si] puo fare nel dono, se 'l dono per
transmutazione non viene piu caro; ne piU caro puo venire, se
esso non e piu utile ad usare al ricevitore ehe al datore. Per ehe
si conchiude ehe 'l dono conviene essere utile a chi lo riceve,
accio ehe sia in esso pronta liberalitade. (12) Terziamente,
pero ehe la operazione de la verru per se dee essere acquistatrice
d'amici; con cio sia cosa ehe la nostra vita di quello abbisogni,
e lo fine de la verru sia la nostra vita essere contenta. Onde accio
ehe 'l dono faccia lo ricevitore amico, conviene a lui essere
utile, pero ehe l 'utilitade sigilla la memoria de la imagine del
dono, l[a] quale e nutrimento de l'amistade; e tanto piU forte,
quanto essa e migliore. (13) Onde suole dire Martino: "non
cadera de la mia mente lo dono ehe mi fece Giovanni". Per ehe,
Das Gastmahl 41
accio ehe nel dono sia la sua vertit, la quale e liberalitade, e ehe
essa sia pronta, conviene essere utile a chi riceve. (14) Ultima-
mente, pero ehe la verru dee avere atto libero e non sforzato.
Atto libero e quando una persona va volentieri ad alcuna parte,
ehe si mostra nel tener volto lo viso in quella; atto sforzato e
quando contra voglia si va, ehe si mostra in non guardare ne la
parte dove si va. (15) E allora si guarda lo dono a quella parte,
quando si dirizza al bisogno de lo ricevente. E pero ehe diriz-
zarsi ad esso non si puo se non sia utile, conviene, accio ehe sia
con atto libero la verru, essere [utile] lo dono a la parte ov'elli
vae, eh' e lo ricevitore; e per eonsequente conviene essere ne lo
dono l'utilita de lo ricevitore, aeeio ehe quinci sia pronta libe-
ralitade.
(16) La terza cosa, ne la quale si puo notare la pronta libe-
ralitade, sie dare non domandato: aeeiO ehe 'l domandato e da
una parte non verru ma mercatantia, pero ehe lo ricevitore
compera, tutto ehe 'l datore non venda. Per ehe dice Seneea
ehe "nulla eosa piu eara si eompera ehe quella dove i prieghi
si spendono". (17) Onde acciO ehe nel dono sia pronta libera-
litade e ehe essa si possa in esso notare, a[nc]ora si conviene
esser netto d'ogni atto di mercatantia, conviene esser lo dono
non domandato. (18) Ferche si earo eosta quello ehe si priega,
non intendo qui ragionare, perehe sufficientemente si ragione-
ra ne l'ultimo trattato di questo libro.
Tugend sei, d.h. die Freigebigkeit, sei, und damit diese vollen-
det sei, muß sie dem Empfänger nützlich sein. (14) Als letztes
schließlich, daß die Handlung der Tugend frei und nicht er-
zwungen sein muß. Eine freie Handlung ist es, wenn eine
Person gern irgendwohin geht, was darin zum Ausdruck
kommt, daß sie den Blick dahin wendet; eine erzwungene
Handlung ist es, wenn man entgegen seinem Willen geht, was
darin zum Ausdruck kommt, daß man nicht in die Laufrichtung
blickt. (15) Und dann also blickt die Gabe in jene Richtung,
wenn sie sich nach dem Bedürfnis des Empfängers richtet. Und
weil sie sich nicht nach ihm ausrichten kann, wenn sie nicht
nützlich ist, muß die Gabe, damit die Handlung der Tugend frei
ist, der Seite zu der sie geht, nämlich dem Empfänger, [nütz-
lich] sein; und folglich muß in der Gabe der Nutzen des Emp-
fängers vorhanden sein, damit von da her die Freigebigkeit
vollendet sei.
(16) Der dritte Umstand, an dem man vollendete Freigebig-
keit erkennen kann, ist das ungefragte Geben: denn das gefrag-
te [Geben] ist von einer Seite her nicht Tugend sondern Waren-
handel, weil der Empfänger kauft, obschon der Geber nicht
verkauft. Deswegen sagt Seneca, daß "kein Ding teurer ge-
kauft wird, alsjenes, womitBittengehandeltwird". (17) Da-
mit in der Gabe vollendete Freigebigkeit ist und diese [Freige-
bigkeit] in ihr wahrgenommen werden kann, ist nicht nur not-
wendig, daß die Gabe von jeder Geste des Warenhandels frei
ist, sondern auch ungefragt. (18) Weswegen das Erbittete der-
art teuer zu stehen kommt, gedenke ich hier nicht darzulegen,
denn dies wird im letzten Traktat dieses Buches zur Genüge
erörtert werden.
teinische hätte so nicht vielen gedient: wenn wir uns das oben
Dargelegte in Erinnerung rufen, so hätten die Gelehrten außer-
halb [des Bereiches] der italienischen Sprache diesen Dienst
nicht haben können. Und bezüglich [der Gelehrten] dieser Spra-
che werden wir, wenn wir genau hinschauen, wer sie sind,
vernünftigerweise finden, daß von tausend nicht einer bedient
worden wäre: sie hätten ihn nicht empfangen, weil sie so sehr
zum Geiz neigen, daß sie von jener Erhabenheit der Seele
entfernt sind, der am meisten nach dieser Nahrung verlangt.
(3) Und als Tadel an ihre Adresse sage ich, daß man sie nicht
Gelehrte nennen soll, denn sie erwerben das Wissen nicht zu
seinem Gebrauch, sondern um dadurch Geld oder Ehre zu
erwerben; so wie man nicht Zitherspieler nennen soll, wer eine
Zither zu Hause hat, um sie gegen Geld auszuleihen und nicht
um sie zum Spielen zu gebrauchen. (4) Zum eigentlichen Vor-
haben zurückkehrend sage ich, daß man offensichtlich sehen
kann, wie das Latein seine Wohltat wenigen gegeben hätte, aber
die.Volkssprache wird wirklich vielen dienen. (5) Denn die
Güte des Geistes, der dieser Dienst verpflichtet ist, findet sich
in jenen, die, wegen des schrecklichen Missbrauchs der Welt,
die Literatur jenen andern überlassen haben, die aus ihr eine
Prostituierte gemacht haben; und diese Edlen sind Prinzen,
Grafen, Ritter und viele andere edle Menschen, nicht nur
Männer, sondern auch Frauen, die in dieser Sprache zahlreich
sind [und diese sind] volkssprachlich und nicht gebildet.
(6) Weiter wäre das Latein nicht Geber einer nützlichen
Gabe gewesen, was die Volkssprache sein wird. Denn kein
Ding ist nützlich, wenn es nicht benützt wird und wenn seine
Gutheit nur dem Vermögen nach ist, was dem Haben von
vollkommenen Sein nicht gleichkommt; so wie das Gold, die
Perlen und die anderen vergrabenen Schätze .... ; denn jene,
die der Geizige zur Hand hat, sind an einem niedrigeren Ort,
als es die Erde dort ist, wo der Schatz verborgen ist. (7) Die
eigentliche Gabe dieses Kommentars ist die Auslegung der
Kanzonen, für die er geschaffen ist. Diese [Auslegung] beab-
46 Convivio 1 . ix, 7 - x, 3
ehe !'altre. (7) La sopra detta eagione, eioe d'essere piil unito
quello eh'e solo prima in tutta la mente, mosse Ja eonsuetudine
de la gente, ehe fanno li primogeniti sueeedere solamente, si
eome piii: propinqui, e perehe piii: propinqui piu amati.
(8) Aneora, Ja bontade feee me a lei amieo. E qui e da sapere
ehe ogni bontade propria in alcuna eosa, e amabile in quella:
si eome ne la masehiezza essere ben barbuto, e nella femminez-
za essere ben pulita di barba in tutta Ja faeeia; si eome nel braeeo
beneodorare, esieomenel veltro beneorrere. (9) Equantoella
e piu propria, tanto aneora e piu amabile; onde, avvegna ehe
eiaseuna verru sia amabile ne l'uomo, quella e piil amabile in
esso ehe e piu umana, e questa e Ja giustizia, Ja quale e solamente
ne la parte razionale o vero intellettuale, eioe ne Ja volontade.
(10) Questa e tanto amabile, ehe, si eome diee lo Filosofo nel
quinto de I'Etica, li suoi nimici l'amano, si eome sono ladroni
e rubatori; e pero vedemo ehe 'l suo eontrario, cioe la ingiu-
stizia, massimamente e odiata, si eome e tradimento, ingrati-
tudine, falsitade, furto, rapina, inganno e loro simili. (11) Li
quali sono tanto inumani peeeati, ehe ad iseusare se de l' infamia
di quelli, si eoneede Ja lunga usanza ehe uomo parli di se, si
eome detto e di sopra, e possa dire se essere fädele e leale.
(12) Di questa verru innanzi dicero piii: pienamente nel quarto-
deeimo trattato; e qui lasciando, tomo al proposito. Provato e
adunque Ja bonta de Ja eosa piii: propria [piu essere amabile in
quella; per ehe, a mostrare quale in essa e piil propria,] e da
vedere quella ehe piii: in essa e amata e eommendata, e quella
e essa. (13) E noi vedemo ehe in eiaseuna eosa di sermone lo
bene manifestare del eoneetto si e piii: amato e eommendato:
dunque e questa la prima sua bontade. E eon eio sia eosa ehe
Das Gastmahl 63
näher ist als die anderen. (7) Die oben genannte Ursache, d.h.
daß man dem, was allein zuerst im ganzen Geist ist, verbunde-
ner ist, bewegte die Gewohnheit der Leute, nur die Erstgebo-
renen die Erbfolge antreten zu lassen, da [diese] näherstehend
sind und als näherstehende mehr geliebt werden.
(8) Des weiteren machte mich die Gutheit zu ihrem Freund.
Und hierzu ist zu wissen, daß die einem Ding eigene Gutheit in
jenem [Ding] liebenswert ist: so wie bei der Männlichkeit einen
guten Bartwuchs zu haben und bei der Weiblichkeit im ganzen
Gesicht wirklich von Bart sauber zu sein; so wie beim Spür-
hund ein guter Geruchsinn und beim Windhund gut zu rennen.
(9) Und je eigener diese [Gutheit] ist, desto liebenswerter ist
sie; weil jede Tugend des Menschen liebenswert ist, ist jene
seiner [Tugenden] am liebenswertesten, die in höchstem Masse
menschlich ist, und dies ist die Gerechtigkeit, die nur im ver-
nünftigen oder besser intellektuellen Teil, d.h. dem Willen ist.
(10) Sie ist so liebenswert, daß [selbst], wie der Philosoph im
fünften Buch der Ethik sagt, ihre Feinde, wie die Diebe und
Räuber, sie lieben; aber wir sehen, daß ihr Gegenteil, d. h. die
Ungerechtigkeit, wie etwa Verrat, Undank, Falschheit, Dieb-
stahl, Überfall, Betrug und dergleichen, in höchstem Masse
gehaßt wird. (11) Diese sind so unmenschliche Sünden, daß
man in alter Gewohnheit zugesteht, daß ein Mann von sich
selbst spricht, um sich von ihrer Schmach zu entschuldigen,
wie oben gesagt worden ist, und er erklären kann, er sei treu
und aufrichtig. (12) Von dieser Tugend werde ich weiterunten
im vierzehnten Buch vollständiger handeln; sie hier verlassend
kehre ich zum Gegenstand zurück. Da bewiesen ist, daß je
eigener die Gutheit eines Dinges ist, (sie desto liebenswerter in
ihm ist, muß, um zu zeigen, welche [Gutheit] ihre eigenste ist),
untersucht werden, welche in diesem [Ding] die geliebteste und
die gelobteste ist, und [diese Gutheit] ist die [gesuchte].
(13) Und wir sehen, daß in jeder Art des Sprechens die gute
Darstellung des Gedankens das am meisten geliebte und gelob-
te ist: also ist dies seine erste Gutheit. Und wird hier [bedacht],
64 Convivio 1 · xii, 13 - xiii, 5
daß dies in unserer Volkssprache der Fall ist, wie oben in einem
anderen Kapitel dargelegt wurde, so ist offensichtlich, daß
auch dies zu den Ursachen der Liebe, die ich ihr entgegenbrin-
ge, gehört; da ja, wie gesagt worden ist, die Gutheit erzeugende
Ursache der Liebe ist.
Kapitel i-xiii
Kapitel i
§§ 1-13
Die§§ 1-13 bilden den.finis-Teil des accessus (siehe Kom-
mentar Kap. i - xiii) und lassen sich folgendermaßen untertei-
len: Im Eröffnungspassus (§ 1) postuliert und erklärt Dante
unter Bezugnahme auf Aristoteles das natürliche Streben aller
Menschen nach Wissen. Die §§ 2-5 besprechen die Ursachen,
die die Menschen von diesem natürlichen Ziel abhalten. Sie
sind von Dante, der hier und in der ganzen Schrift wiederholt
die scholastische Methode der distinctio anwendet, aufgeteilt
in innere(§§ 2-3) und äußere Ursachen(§ 4), wobei die inne-
ren ihrerseits in körperliche und seelische zerfallen und die
äußeren nach dem Kriterium der Notwendigkeit und der Sorge
um Familie und Gemeinschaft oder der Faulheit durch den
Mangel des Ortes unterschieden werden. § 5 unterteilt die
erwähnten Ursachen in entschuldbare: die innere Ursache der
ungenügenden Begabung und die äußere Ursache der Sorge
um Familie und Gemeinschaft, und tadelnswerte: die innere
der Bosheit der Seele und die äußere des zum Studium unge-
nügenden Ortes. Die Schlußfolgerung dieser Ausführungen
wird in den §§ 6-7 gezogen, wo Dante mit Bedauern feststellt,
daß in Wirklichkeit die wenigsten zum Habitus des Wissens
gelangen. Dieser Zustand, der in praktischem Widerspruch
zum eingangs beschworenen metaphysischen Ideal des Wis-
sensstrebens aller Menschen steht, bildet Dantes Hauptmotiv
zur Abfassung seiner Schrift. In den §§ 8-9 begründet der
Florentiner in allgemeiner Weise, weshalb die Wissenden an
sich die Unwissenden gerne am Wissen teilhaben Jassen,
kommt aber in § 10 präzise auf die Rolle zu sprechen, die ihm
als Vermittler zwischen den Gebildeten und Ungebildeten zu-
kommt. Die §§ 11-13 schließlich kommen auf das Unterneh-
men zu sprechen, mit dem Dante der Unwissenheit unzähliger
Menschen Abhilfe schaffen will. Er drückt es mit der Meta-
pher des Gastmahles aus (§ 11), von dem nur die unbegabten
Kommentar zu Kap. i, l 77
§1
Si come dice lo Filosofo ..• sapere] Mit der Eröffnungsfor-
mel „Sicut dicit (docet, tradit) philosophus (Aristoteles)" be-
ginnen die meisten Aristoteleskommentare des Mittelalters,
zum Beispiel elf von dreizehn Aristoteleskommentare des Tho-
mas von Aquino (vgl. Cheneval / Imbach, Thomas von Aqui-
no, 2, 6, 12, 26, 36, 50, 66, 76, 82, 90, 98). Diese Tatsache
ist bemerkenswert. Einerseits stellt Dante mit dieser kaum
zufälligen Anlehnung seine Schrift in die scholastische Tradi-
tion der philosophischen Kommentare zu Aristoteles, derbe-
reits von Johannes von Salisbury „antonomastice, idest ex-
cellenter, Philosophus appelatur" (Metalogicon, II, c. 16;
79f.) und den Dante selbst als „maestro e duca de la ragione
umana" (Conv„ IV, vi, 8) und als „maestro de color ehe
sanno" (/nf, IV, 131) bezeichnet. Andererseits tritt aber durch
diesen Anfang und durch die sich anschließenden Erörterun-
gen die Originalität und die hohe Ambition des Unternehmens
Dantes klar hervor. Der Alighieri verwendet den ersten Satz
aus der Aristotelischen Metaphysik (980a21; vgl. auch Conv„
III, xi, 6; IV, xiii, 1) und die Formel aus den für Klerikernach-
wuchs und Universitätstudenten verfaßten Kommentare des
Thomas von Aquino und der Artisten, um einen Kommentar
einzuleiten, in dem nicht Aristoteles, sondern Dante kommen-
tiert wird, und in dem durch die Ausrichtung auf ein volks-
sprachliches Publikum das klerikale und universitäre Wissen-
schaftsmonopol durchbrochen und die Herrschaft der den
Philosophen vorenthaltenen, spekulativen Wissenschaft durch
den Primat der praktischen Philosophie abgelöst wird.
Zur Bezeichnung 'Prima Filosofia' für die Aristotelische
Metaphysik vgl. ED III, 924f.
78 Kommentar zu Kap. i, 1
§2
Veramente ••• scienza] Die in § 2 sich anschließende Refle-
xion über die verschiedenen Ursachen der Verhinderung des
Habitus der Wissenschaft belegen erneut den Quellenbezug
zur Tradition, insbesondere zu Thomas von Aquino, und die
gleichzeitige Originalität Dantes (zu den körperlichen und
seelischen Ursachen menschlicher Erkenntnis vgl. auch
Conv., IV, xxv, 11-12). Wie Dante ließ bereits Thomas den
Überlegungen zum allgemeinen Wissensstreben der Men-
80 Kommentar zu Kap. i, 2
§8
ciaseuno uomo a ciaseuno uomo naturahnente ••• ama]
Eine ähnliche Lehre der natürlichen Freundschaft aller Men-
schen bringt Dante auch in Conv., III, xi, 7 („la naturale ami-
stade ... per la quale tutti a tutti somo amici") und In/., XI, 56
zum Ausdruck: „lo vinco d' amor ehe fa natura". Der Gedanke
geht zurück auf Aristoteles: „ Videbit autem utique aliquis et in
erroribus, ut familiare omnis homo homini et amicum" (Eth.
Nie. , VIII, 1; 298). Für den Schmerz über den Mangel des
Freundes vgl. Eth. Nie., IX, 4; 328: „Hii autem conviventem
et eadem eligentem, vel condolentem et congaudentem ami-
co".
eoloro ehe ... mangiando] Die aus der natürlichen Freund-
schaft aller Menschen sich ergebende Barmherzigkeit bietet
eine Möglichkeit, die von Dante stark betonte Polarität zwi-
schen den Gebildeten, die an der „alta mensa" das Engelsbrot
verspeisen, und den Ungebildeten, die nur Gras und Eicheln
essen, zu überbrücken.
§9
sempre liberahnente eoloro ehe sanno •.. nominata] Die-
ser Satz wirkt leicht ironisch, denn die von Dante in Anspruch
Kommentar zu Kap. i, 10 83
§ 10
E io adunque ••• vogliosi] Dieser Passus bildet den einge-
schobenen agens oder Autor-Teil des Prologs (siehe Kommen-
tar zu Kap. i - xiii) und behandelt unter Einschub einiger au-
tobiographischer Anspielungen die eigentümliche Rolle, die
Dante sich selbst als Vermittler zwischen der in Gebildete und
Ungebildete polarisierten Menschheit zugedacht hat. Dante
war weder Kleriker, noch hat er unseres Wissens regulär an
einer Universität studiert. Er war außerdem verheiratet, hatte
eine Tochter und zwei Söhne und nahm sich vor seiner Exilie-
rung öffentlicher Angelegenheiten an, gehörte also zu der
Gruppe, die wegen der "cura familiare e civile" von der höhe-
ren Wissenschaft ausgeschlossen blieben. Als Autodidakt hat
aber Dante die Menge der Unwissenden verlassen; er hat sich,
wie er selbst sagt, in den Schulen der Orden („le scuole de li
religiosi": Conv., II, xii, 7) und den "disputazioni de li filoso-
fanti" (ibidem) eine Bildung erworben, was ihm erlaubt, in der
durch klerikales und universitäres Wissensmonopol bewirkten
Polarität zwischen der Bildung weniger und der Ignoranz der
Massen eine ausgezeichnete Stellung als Vermittler von Wis-
sen zu beanspruchen (zum Themenbereich Dante als philoso-
phierender Laie und illitteratus vgl. Imbach, Laien in der
Philosophie, 66-11, 132-142). Er spielt dabei aufbereits voll-
endete Werke an und meint damit wohl die Vita Nuova, von der
sich bereits aus dem Jahre 1292 eine Rezeption in Bologna
84 Kommentar zu Kap. i, 11
nachweisen läßt (vgl. Livi, Dante suoi primi cultori, 7f.), und
die früher entstandenen Kanzonen, die er nun kommentieren
wird.
§ 11
generale convivio] Die mit dem Hunger, dem Engelsbrot
und der Nahrung der Schafe (§§ 6-7) bereits verwendeten Es-
sensmetaphern für die Erlangung oder Verhinderung von
Wissenschaft werden nun durch das Bild des Gastmahls in ein
Gesamtmotiv integriert, das einerseits eine bis in die Antike
reichende Tradition der literarischen Einkleidung philosophi-
scher Wissensinhalte aufgreift und andererseits das Thema des
christlichen Abendmahls auf die Vermittlung von Philosophie
überträgt. Mit der in der Antike von Plato und Xenophon
ausgehenden und im Mittelalter seltenen Literaturgattung des
Symposion hat Dantes Conv. nur gerade die motivische Einbet-
tung, nicht aber die literarische Form des Dialogs gemeinsam
(zu dieser Gattung vgl. J. Martin, Symposion. Einmittelalter-
liches Beispiel eines philosophischen Symposion ist das Convi-
viumM. Tulli. Vgl. dazuLMA, III, 210). Der Bezug zur Antike
betrifft also weniger die Literaturgattung des Symposion als die
von Dante durch die Bezeichnung 'generale convivio' zum
Ausdruck gebrachte Veranstaltung eines convivium publicum,
eines öffentlichen Mahles, wie es zum Beispiel in der Aristo-
telischen Politik oder im Politik-Kommentar von Thomas von
Aquino beschrieben wird: "Deinde cum dicit Non bene autem
etc., improbat predictam politiam quantum ad ea que pertinent
ad populum, scilicet quantum ad convivia publica que erant in
civitate ... < legislator > instituit huiusmodi convivia quasi
aliquid democraticum, id est in favorem populi, ut scilicet
populus aliquam recreationem haberet in huiusmodi convi-
viis". (Sent. lib. politic., II, 14, A 170). "Apud Cretenses erat
observatio magis pertinens ad commune, quia de rebus publi-
cis ... erat instituta quaedam pars ... que expendebatur in con-
vivia, ut in talibus conviviis homines et mulieres, pueri et viri,
Kommentar zu Kap. i, 11 85
aus Liebe und Tugend, ordnet das Werk in das genus der
Moralphilosophie ein. Dante gedenkt aus seinen bisher nur
ästhetisch interpretierten Kanzonen durch einen Kommentar
eine Tugendlehre zu entwickeln. Er bekundet dadurch eine
Konzeption der Beziehung zwischen Poesie und Wissen-
schaft, die sich stark von der antiästhetischen Position der
Scholastik absetzt: "Procedere autem per similitudines varias
et repraesentationes, est proprium poeticae, quae est infima
inter omnes doctrinas" (Thomas von Aquino, Sum. theol., 1,
1, 9, 1. Vgl. dazu Buck, Gli studi sulla poetica e sulla retorica
di Dante, 264; Garin, Rinascite e rivoluzioni, 51-70).
Die Aufteilung der Schrift in eine Einleitung und 14 Teile,
entsprechend den 14 Kanzonen, die verschiedene Tugenden
zur Darstellung bringen, und die damit verbundene Metapher
des Gastmahls mit 14 Gängen kann vor dem Hintergrund der
Tradition der mittelalterlichen Zahlensymbolik und Mnemo-
technik verstanden werden. Der Zahl 14 kommt im Mittelal-
ter eine große symbolische Bedeutung zu (vgl. Meyer, Lexikon
der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, 649-654). In zahl-
reichen Bibelkommentaren und Predigten wurde die in Mt 1,
17 aufgeführte Genealogie Christi hervorgehoben, die von
Abraham bis David, von David bis zur Babylonischen Gefan-
genschaft und von dieser bis zu Christus je 14 Generationen
aufweist. Eine besondere Bedeutung kam der Zahl 14 auch
wegen der darin enthaltenen Verdoppelung der Siebenzahl (7
Sakramente, 7 Planeten, 7 als Zahl der Ruhe, des Sabbats und
des Gesetzes, 7 Gaben des HI. Geistes) und als Hälfte des
numerus perfectus 28 zu. Dies läßt sich anhand einiger Quel-
lentexte erläutern. So schrieb zum Beispiel Augustinus in sei-
nem Genesis-Kommentar: „Plures ergo [numeri] reperiuntur
reperiuntur ... qui perfecti vocantur, eo quod suis simul ductis
talibus partibus conpleantur. Nam post senarium duodetrice-
simus invenitur, qui similiter suis partibus talibus constat;
habet enim eas quinque: vicesimam et octavam, quartam de-
cimam, septimam, quartam dimidiam: id est: unum et duo et
88 Kommentar zu Kap. i, 14
§ 16
Convivio nominata] In diesem Passus bestimmt Dante den
Titel seiner Schrift, auch dies ist ein traditionelles Element des
accessus (vgl. oben Einleitung Buch 1).
pill virilmente ••. conviene] Dante bezieht sich auf seine
früher entstandene Schrift Vita Nuova, in der er in der Form
des Prosimetrums und anhand eines Kommentars zu seinen
eigenen Kanzonen seine Leidenschaft für Beatrice und den
Prozeß der allmählichen Ablösung von der historischen Bea-
Kommentar zu Kap. i, 18.19 91
§ 18
allegorica esposizione .„ litterale] Vgl. Kommentar zu
Conv., II, i, 2-3. Vgl. auch Ricklin, Dante, Das Schreiben an
Cangrande, XLIX-LVIII.
§ 19
liberalitate] Die Tugend der Freigebigkeit, die Aristoteles
in Eth. Nie., IV, 1-3 (1119b21-1122a16) fast ausschließlich
auf das Geben von Geld bezieht und als Mitte zwischen Geiz
und Verschwendung bezeichnet, wird von Dante auf sein Vor-
haben der Vermittlung von Wissen übertragen. In Conv., 1,
viii, 2 beruft sich Dante zur Rechtfertigung der Abfassung des
Kommentars in der Volkssprache auf die Freigebigkeit, die
darin besteht, vielen, Nützliches, freiwillig zu geben, : „Puo-
tesi adunque la pronta liberalitate in tre cose notare ... La prima
e e e,
dare a molti; la seconda dare utili cose; la terza sanza
essere domandato lo dono, dare quello". Ein Kommentar in
92 Kommentar zu Kap. ii
Kapitel ii
§4
per se da biasmare ••. per accidente] Die Unterscheidung
'per se'- 'per accidens' ('secundum se'- 'secundum accidens')
ist eine klassische Lehre der aristotelischen Schulphilosophie
und geht zurück auf Met., V 18, 1022a14-35 und V 30, 1025a
14-30, wo Aristoteles fünf Bedeutungen von 'an sich' sowie
zwei von 'accidens' erläutert. Das, was einem Ding an sich
zukommt, ist entweder dessen Sosein (1. Bedeutung) oder ist
in dessen Wesensdefinition enthalten (2. Bedeutung). Ferner
kommt einem Ding eine Eigenschaft an sich zu, wenn sie not-
wendig dem zugrundeliegenden Subjekt inhäriert (3. Bedeu-
tung). Ferner ist etwas an sich, was keine andere Ursache als
nur sich selbst hat. Zum Beispiel ist der Mensch nur an sich
Mensch und nicht insofern er ein Lebewesen oder ein Zweifüß-
ler ist (4. Bedeutung). Schließlich nennt Aristoteles alles an
sich, was einem Ding allein und als alleiniges zukommt (5.
Bedeutung) (Vgl. dazu auch Anal. post„ 1, 4, 73a35ff. und
Met., VII 4, 1029b13ff.). Diese Darlegungen kommentierte
Thomas von Aquino in seinem Metaphysikkommentar, 1. 19,
1054-1057. 'per se' heißt danach 1.: "quando definitio signi-
ficans quid est esse uniuscuiusque, dicitur ei inesse secundum
se" ... < 2. >: "quando aliquid ostenditur esse in aliquo, sicut
in primo subiecto, cum inest ei per se. Quod quidem contingit
dupliciter: quia vel primum subiectum accidentis est ipsum
totum subiectum de quo praedicatur ... Vel etiam aliqua pars
eius, sicut homo dicitur vivens secundum se" ... < 3. >: „sec-
undum se esse dicitur illud, cuius non est aliqua alia causa" ( ... )
< 4. > : „dicuntur secundum se in esse alicui, quae ei soli
inquantum soli insunt".
Auch für das accidens unterscheidet Aristoteles mehrere Be-
deutungen (Met., V 30, 1025a14-30). Die erste Bedeutung
wird verwendet, wenn etwas weder notwendig noch in den
meisten Fällen zutrifft, zum Beispiel wenn jemand ein Loch
gräbt, um einen Baum zu pflanzen und dabei einen Schatz
findet. Die zweite Bedeutung bezieht sich auf das, was einem
Kommentar zu Kap. ii, 5 97
§5
e nullo e pfü amico ehe l'uomo a se] Der Gedanke, daß der
Tugendhafte im Verhältnis zu sich selbst das Modell der
Freundschaft abgibt, findet sich bei Aristoteles. Vgl. Eth.
Nie., IX 4, 1166al; 328: „Amicabilia autem que ad amicos et
quibus amicicie determinantur, videntur ex hiis que ad se ip-
sum venisse". Eth. Nie., IX 4, 1166a30; 329: "est enim ami-
cus alius ipse". Eth. Nie., IX 7, 1168b9-10; 335: „Maxime
98 Kommentar zu Kap. ii, 6.12
§6
nel volere ••• si giudica la malizia e la bontade] Die Lehre,
daß der freie Wille den Menschen zum moralischen Subjekt
macht und nur freiwillige Handlungen dem moralischen Urteil
unterliegen, kann auf Aristoteles (Eth. Nie., III, 1, 1109b30-
35; 179) zurückgeführt werden: "Virtute itaque et circa pas-
siones et operaciones existentes, et in voluntariis quidem
laudibus et vituperiis factis, in involuntariis autem venia, qu-
andoque autem et misericordia, voluntarium et involuntarium
necessarium forsitan determinare de virtute intendentibus".
Zum freien Willen bei Dante vgl. Purg., XVIII, 59-75; Par.
V, 19-24; Mon., 1, xii. Bereits im 12. Jahrhundert entwickelte
Petrus Abelardus die Lehre, daß die moralische Qualität der
handelnden Person einzig von der Absicht abhängt: "nec in
opere sed in intentione meritum operantis vel laus consistit"
(Petrus Abelardus, Ethica, 28).
Das Argument Dantes ist ein Scheinargument, das eigentlich
leicht zu widerlegen ist, denn die Kenntnis oder das Wollen
eines Mangels hängt nicht davon ab, ob man davon spricht; die
moralisch relevante Handlung ist das Wollen und nicht das
äußere Zugeben. Die Selbstanklage mag unklug sein, mora-
lisch relevant in bezug auf die Absicht ist sie nicht, denn auch
wer sich nicht selbst beschuldigt, kann etwas Schlechtes beab-
sichtigen. Dante vermischt hier in den rationes contra, die er
nachher in der responsio widerlegt, die moralische Intentions-
lehre mit der rhetorischen Klugheitslehre.
§ 12
per necessarie cagioni lo parlare di se econceduto] Dante
leitet durch eine distinctio, eine bestimmte Qualifizierung der
Rede von sich selbst, zur determinatio der questio über.
Kommentar zu Kap. ii, 13-17.13 99
§§ 13-17
In den§§ 13-14 kommt Dante auf die zwei Gründe zu spre-
chen, die das Sprechen von sich selbst rechtfertigen: Zur Ver-
hinderung von Verleumdung und zur Darstellung einer
allgemein nützlichen Lehre. In den§§ 15-17 legt er dar, in-
wiefern diese Gründe auf ihn zutreffen.
§ 13
e
prendere lo men reo quasi prendere un buono] Die von
Dante angesprochene Lehre des geringeren Übels geht zurück
auf Aristoteles. Vgl. e.g. Eth. Nie., V, 1, 1131b20; Gigon 160:
"Beim Übel ist es umgekehrt; da verhält sich das geringere
Übel zum größeren Übel wie ein Gut; denn das kleinere Übel
ist dem größeren vorzuziehen, und was vorgezogen wird, ist
ein Gut". Der Gedanke entwickelte sich in der mittelalterli-
chen Schulphilosophie geradezu zur Standardformel: "minus
malum videtur aliqualiter esse bonurn inquantum est eligibile"
(Thomas von Aquino, Sent. Eth., V, 1; 266); "minus malum
habet rationem boni per comparationem ad maius malum"
(Ders., Sent. Eth., V, 5; 281 ").
E questa necessitade mosse Boezio] Die Stelle bezieht sich
auf die Philosophiae consolatio, 1, 4, wo der 524 zum Tode
verurteilte und einstweilen exilierte Boethius in einer langen
Passage von sich selber spricht, um sich gegen den Inhalt und
das Vorgehen anläßlich der gegen ihn erhobenen Anklage zu
verteidigen. Das Werk des Römers, mit dem Dante das
Schicksal der Verurteilung und des Exils teilte, war laut eige-
nen Aussagen nebst den Schriften Ciceros entscheidend für
Dantes conversio zur Philosophie verantwortlich: Conv., II,
xii, 2: „e misimi a leggere quello non conosciuto da molti
Iibro di Boezio, nel quale, cattivo e discacciato, consolato
s'avea") und II, xv, 1: „Boezio e Tullio (li quali con la dol-
cezza di loro sermone inviarono me ... ne lo amore, cioe ne lo
studio, di questa donna gentilissima Filosofia)". Auch die
zwischen Poesie und Prosa alternierende Form des Prosime-
100 Kommentar zu Kap. ii, 14
§ 14
mosse Agustino ne le sue Confessioni] Die Ausführungen
beziehen sich wohl nicht auf eine präzise Stelle in den Conf.,
sondern auf das Werk als ganzes, dessen Schilderung einer
moralischen Läuterung auf einem persönlichen Lebensweg für
Dante einen allgemeinen moralphilosophischen Nutzen hat,
der das Sprechen von sich selbst rechtfertigt. Auch Augustinus
sah den Nutzen seiner Schrift wie Dante in der moralischen
Belehrung, bekundet aber ein stark egozentrisches Bewußtsein
der Exemplarität seiner eigenen Person: „sed fratemus ille, qui
cum approbat me, gaudet de me, cum autem improbat me,
contristatur pro me, quia sive approbet sive improbet me, di-
ligit me. indicabo me talibus. respirent in bonis meis, suspirent
in malis meis. bona mea instituta tua sunt et dona tua, mala mea
delicta mea sunt et iudicia tua. respirent in illis et suspirent in
bis, et hymnus et fletus ascendant in conspectum tuum de
fraternis cordibus, turibulis tuis ... Hie est fructus confessio-
num mearum" (Augustinus, Conf., X, 4, 5-6).
Mit Boethius und Augustinus führt Dante zur Illustration der
zwei Rechtfertigungsgründe des Sprechens von sich selbst,
die Abwendung einer großen Gefahr und der Nutzen für die
Lehre, zwei der größten Autoritäten des Mittelalters an und er
stellt sich mit ihnen in gewisser Weise auf dieselbe Stufe:
Kommentar zu Kap. ii, 15.17 101
§ 15
In diesem Abschnitt kommt Dante nach der einer magistra-
len responsio gleichenden Bestimmung der allgemeinen
Rechtfertigungsgründe für das Sprechen von sich selber zur
Darlegung, inwiefern diese auch für ihn gelten. Dante sieht
sich dazu ermächtigt, seine Kanzonen zu kommentieren, um
Verleumdungen seiner Person vorzubeugen und um durch
eine allegorische Auslegung der Kanzonen eine allgemein
nützliche Lehre zu vermitteln. Der Grund der Verhinderung
der Verleumdungen ist nicht nur eine rhetorische Figur, son-
dern die Anfeindungen Dantes müssen einer biographischen
Realität entsprochen haben, denn er kommt wiederholt darauf
zu sprechen. Vgl. IV, viii, 10: "io, ehe al volto di tanti avver-
sarii parlo in questo trattato, non posso lievemente parlare;
onde se le mie digressioni sono lunghe, nullo si maravigli".
Ep. XIII, 4: "Nec reor amici nomen assumens, ut nonulli
forsitan obiectarent, reatum presumptionis incurrere".
§ 17
la vera sentenza ••• nascosa sotto figura d'allegoria] Die
allegorische Deutung eines poetischen Textes legt den wahren
philosophischen Gehalt frei. Dieses Vorgehen, für das Dante
Originalität und Exemplarität beansprucht, ist der Kunstgriff,
mit dem er die für die Schulphilosophie geltende Geringschät-
zung der Poesie durchbricht und die Poesie, vor allem aber
seine Poesie, auf die Stufe der Philosophie erhebt. Das Kon-
zept der Allegorie erlaubt es Dante, eine sich unter dem Man-
tel der reinen Erzählung versteckte Wahrheit ans Licht zu
bringen (vgl. II, i, 3).
102 Kommentar zu Kap. iii-iv
Kapitel iii-iv
Die Kapitel iii und iv bilden sowohl thematisch als auch struk-
turell eine Einheit und rechtfertigen den zweiten akzidentellen
Mangel der Schrift Dantes, nämlich die „Härte" oder den
„höheren Stil". Nach den überleitenden §§ iii, 1-2 kommt
Dante in iii, 3-5 auf die biographischen Ursachen zu sprechen,
die ihn in die betrübliche Situation gebracht haben, zur Ab-
wehr von Verleumdungen über sich und seine Kanzonen in
einer bestimmten Weise sprechen zu müssen. Dante setzt in
jenen drei §§ die von Cicero empfohlene Art des Sprechens
von sich selbst als captatio benevolentie in die Praxis um (vgl.
supra zu ii, 2: „crimina inlata et aliquas minus honestas suspi-
ciones iniectas diluemus; si, quae incommoda acciderint aut
quae instent difficultates proferemus") und schildert sein per-
sönliches Leid. In§ iii, 6, der den Inhalt der folgenden Kapitel
vorausnimmt, werden zwei Gründe genannt, wie es dazu
kommt, daß jemand durch einen schlechten Ruf in seiner Per-
son herabgewürdigt wird: 1. durch eine in ihr Gegenteil ge-
wandte über die Wahrheit hinausreichende Wertschätzung
und 2. durch die negativen Folgen der Anwesenheit einer Per-
son. Diese beiden Gründe werden in den folgenden Paragra-
phen der Kapitel iii und iv näher erläutert: iii, 7-11 erklärt die
Ausbreitung des Rufs durch übermäßige Wert-oder Gering-
schätzung der betreffenden Person; iv, 1-12 die den Ruf ein-
engende Wirkung ihrer Anwesenheit. Der letztgenannte
Grund wird von Dante in drei weitere unterteilt (iv, 2): 1. die
Kindlichkeit der Menschen (iv, 3-5). 2. der Neid des Beurtei-
lenden gegenüber einer anwesenden und berühmten Person
(iv, 6-8). 3. die Unvollkommenheit des Beurteilten (iv, 9-12).
In iv, 13 bezieht Dante die allgemein erörterten Gründe des
schlechten Rufs auf seine Person um darzulegen, weshalb er
seinem Werk in einem höheren Stil verfassen mußte und been-
det damit die Entschuldigung des zweiten Makels seiner
Schrift.
Kommentar zu Kap. iii, 2 103
Kapitel iii
§2
la qual durezza] Daß Dante mit der "Härte" des Stils einen
präzisen Begriff der Schulpoetik meint, wird klar, wenn diese
Stelle auf den Schluß der Behandlung des zweiten Makels
(1, iv, 13) bezogen wird, wo die Entschuldigung des "höheren
Stils" für abgeschlossen erklärt wird: "conviemmi ehe con piii
alto stilo dea, ne la presente opera, un poco di gravezza, per la
quale paia di maggiore autoritade". Die mittelalterliche Poetik
unterschied, entsprechend des sozialen Status der behandelten
Personen und des Publikums, drei Stile: "Sunt igitur tres styli,
humilis, mediocris, grandiloquus. Et tales recipiunt appella-
tiones styli ratione personarum vel rerum de quibus fit tracta-
tus. Quando enim de generalibus personis vel rebus tractatur,
tune est stylus grandiloquus; quando de humilibus, humilis,
quando de mediocribus, mediocris. Quolibet stylo utitur Vir-
gilius: in Bucolicis humili, in Georgicis mediocri, in Eneyde
grandiloquo" (Gottfried von Vinsauf, Documentum de arte
versi.ficandi, 11, 3, n. 145; 312). Eine ähnliche Erörterung
findet sich bei Johannes von Garlandia: „Item sunt tres stili
secundum tres status hominum. Pastorali uite conuenit stilus
humilis, agricolis mediocris, grauis grauibus personis, que
presunt pastoribus et agricolis ... Secundum has tres personas
Virgilius tria composuit opera: Bucolica, Georgica, Eneyda"
(Johannes von Garlandia, Poetria, c. 5; 86). Dante, der sich in
der Ep. V (1; 540) als "humilis ytalus" bezeichnet, meint, sich
für den Stil seiner Schrift entschuldigen zu müssen, weil er,
entgegen den Gepflogenheiten der Schulpoetik, einen seinem
Gegenstand und seinem Publikum unangebrachten stilus gra-
vis gewählt hat und „troppo a fondo" (1, ii, 2) spricht. So wie
Dante durch die allegorisch-philosophische Auslegung seiner
„Liebesgedichte" die Poesie transformiert und um die Dimen-
sion der Philosophie erweitert, so ändert er auch den Stil sei-
ner Darlegung in bezug auf die philosophische Absicht seines
104 Kommentar zu Kap. iii, 3
§3
piaciuto fosse al dispensatore de l'universo] Dante stellt
sein persönliches Schicksal und das Werk, das aus ihm ent-
standen ist, in den kosmologischen Horizont der Vorsehung
des Allverwalters. Er leitet in Buch II aus seinem eigenen
Liebesgedicht ein umfassendes wissenschaftliches und kos-
mologisches Weltbild ab und betreibt somit, in starkem Kon-
trast zu der objektivistischen Scholastik, Wissenschaft durch
die Thematisierung seiner eigenen Subjektivität. Für weitere
Verwendungen von 'dispensator' vgl. Mon., III, xv, 12;
Quaestio, 76.
pena •.. d 'essilio e di povertate] Dante wurde am 27. Januar
1302, im Abwesenheitsverfahren verbannt und am 10. März
1302 zum Tode verurteilt. Damit verlor der ehemalige Prior
von Florenz nicht nur seine gesellschaftliche Stellung, sondern
es wurde ihm auch seine materielle Grundlage entzogen. Auf
diese Schmach reagierte der Alighieri auf seine eigene Weise.
Er wurde zum Dichternomaden, der sich, „quasi mendicando"
(1, iii, 4), mit Schreiben poetischer und philosophischer Texte
an verschiedenen Fürstenhöfen ein Auskommen schuf. Noch
rund zehn Jahre nach der Niederschrift der Klage über seine
Armut im Conv. wird Dante im Schreiben an Cangrande della
Scala, Herrscher von Verona, diesen um materielle Unterstüt-
zung bitten, was darauf hindeutet, daß sich die finanzielle Si-
tuation Dantes, der zeit seines Lebens nicht mehr nach Florenz
zurückkehren kann, nie wirklich gebessert hat: "urget enim me
rei familiaris angustia" (Ep. XIII, 88; 642). Höchstwahr-
Kommentar zu Kap. iii, 4 105
§4
figlia di Roma, Fiorenza] Mit der Bezeichnung von Flo-
renz als Tochter Roms verwendet der Alighieri eine zu seiner
Zeit geläufige Formel (vgl. G. Villani, Cronica 1, xli: „figli-
uola e fattura di Roma") und spielt auf die, zum Teil histori-
sche, zum Teil mythische, Gründungsgeschichte der Stadt an.
Die historischen Ursprünge von Florenz, eine von den Rö-
mern im 1. Jhd n. Chr. zur Überwachung der Furt und später
der Via-Cassia-Brücke gegründete Kolonie, wurden mit der
Zeit durch verschiedene Gründungsmythen überhöht. Anlaß
zum etruskisch-trojanischen Mythos war eine Stelle im Aen-
eis-Kommentar von Servius, wo dieser die sagenhafte Grün-
106 Kommentar zu Kap. iii, 4
§5
legno sanza velo „. povertade] Vgl. Ps.-Thomas, In Boe-
th. de consol. phil., 1.1, c.9, 247f.: „Nota: Boetius comparat
fortunam salo, idest mari. Sicut enim navis undis marinis jac-
tatur in altum nunc, et nunc in profundum; sie homo per for-
tunam nunc in adversitate dejicitur". Vgl. lbidem, l. 5, c. 2,
37: "quia unda faciet concurrere fortuito naves et truncos".
apparito a li occhi .•• in altra forma] An dieser Stelle wird
zum erstenmal die in 1, iv erörterte negative Wirkung der
Kommentar zu Kap. iii, 6.7-11 109
§6
la presenzia oltre la veritade stringe] In dem für unecht
gehaltenen Brief an Guido da Polenta (vgl. R. Migliorini Fis-
si, La lettera pseudo-dantesca) wird Vergil fälschlicherweise
das Zitat „Minuit praesentia famam" (Claudianus, De bello
gildonico, 385) zugesprochen, das in prägnanter Form den
von Dante hier und in 1, iv geäußerten Gedanken wiedergibt.
Vgl. P. Fraticelli, // Convito di Dante A. e le Epistole, 481).
Interessanterweise spielt das Verhältnis vonfama und prae-
sentia in den Bibelkommentaren eine gewisse Rolle in bezug
auf Christus, der zunächst durch den Ruf und später durch
seine physische Erscheinung bekannt wird: Vgl. Augustinus,
In Johannis evangelium tractatus, 15, 33: „non iam propter
verbum tuum credimus, sed ipsi cognovimus, et scimus quia
vere hie est salvator mundi; primo per famam, postea per
praesentiam". Vgl. Thomas von Aquino, Catena Aurea in
Joannem, 4, 9: „sie ergo primo Christum cognoverint per
famam postea per praesentiam". Ferner: „Per descendere igi-
tur ad locum, et per examinare seu inquirere de veritate cla-
moris seu famae, an ita sit sicut dicitur, an non, significat
praesentiam et efficaciam ac diligentiam divinae justitiae et
scientiae super veritate judicandorum" (Ps. -Thomas, Postilla
in librum Geneseos, c. 18).
§§7-11
Dante entwickelt in den§§ 7-11, die den ersten in § 6 ge-
nannte Grund seiner Herabwürdigung ausführen, eine Ontolo-
gie der fama als unendliche, von dem wahren Zustand einer
Sache sich immer weiter entfernende Steigerung einer reinen
Vorstellung im Geiste der Menschen. Der gute Ruf ist das
110 Kommentar zu Kap. iii, 7; iv, 3
§7
Virgilio •.• mobile] Vgl. Virgil, Aen., IV, 175: „Fama,
malum qua non aliud velocius ullum: mobilitate viget virisque
adquirit eundo, parua metu primo, mox sese attollit in auras /
ingrediturque solo et caput inter nubila condit".
Kapitel iv
§3
puerizia ... non dico d'etate ma d'animo] Vgl. IV, xvi, 5:
„e non epargolo uomo pur per etade, ma per costumi disordi-
nati e per difetto di vita, si come n'ammaestra lo Filosofo nel
primo de l' Etica". Dante bezieht sich folglich bei dieser Un-
terscheidung auf Eth. Nie., 1, 1; 143: „Differt autem nichil
iuvenis secundum etatem, vel secundum morem iuvenilis.
Non enim a tempore defeccio, set propter secundum passio-
nem vivere, et persequi singula".
Kommentar zu Kap. iv, 4 111
§4
per udita] Die Bezeichnung der Entstehung der fama „per
udita" geht einher mit einer Geringschätzung der sinnlichen
Wahrnehmung, die im Mittelalter durchaus ihre Tradition hat,
die aber ein theologisches und exegetisches Problem darstell-
te, wenn es darum ging, das Paulinische Wort "fides ex auditu
auditus" (Röm. 10, 17) zu deuten. Der von Dante verwendete
Ausdruck, der die Inadäquatheit der fama zum Ausdruck brin-
112 Kommentar zu Kap. iv, 4
lium dicit quosdam sie dixisse, sed id quod quidam sie dixerunt
nec ipse forsan vidit nec dicentes viderunt, fides enim certa non
provenit ex auditu" (Friedrich II., De arte venandi; 313).
§5
ohme, quasi tutti] Im ersten Kapitel bezeichnete Dante das
Vorhaben seines Kommentars als Vermittlung von Wissen-
schaft für die ungebildete Mehrheit der Menschen als Akt voll-
kommener Freigiebigkeit. Aus dem hier vorliegenden
Abschnitt wird erneut deutlich, daß er damit auch das persön-
liche Ziel verfolgt, seine angeschlagene fama wiederherzustel-
len und sein ungebildetes Publikum auf einen Wissenstand zu
bringen, der es diesem erlaubt, seine Texte und seine Person
zu begreifen.
Questi cotali •.• ragione] Direkt oder indirekt zugrunde
liegt den Ausführungen Dantes über die schnell wechselnden
Launen und Leidenschaften der Jugend eine von Busnelli/
Vandelli signalisierte Stelle bei Aristoteles: „Iuvenes quidem
igitur secundum mores sunt concupiscitivi ... facile autem pe-
rmutabiles, cito saturabiles ... mori enim vivunt magis quam
ratiocinationi ... amant enim valde et odiunt valde (Rhet., II,
12; 247f.). Laut Vasoli vgl. auch Eth. Nie., VIII, 3; 301:
„Iuvenum autem amicicia propter delectationem esse videtur.
Secundum passionem enim isti vivunt, et maxime persequ-
untur delectabile ipsis, presens . . . Propter quod velociter
fiunt amici, et quiescunt".
§6
paritade ne li viziosi e cagione d'invidia] Auch hier kann
mit Busnelli/Vandelli auf Aristoteles verwiesen werden: „in-
videbunt enim tales quibus sunt aliqui similes aut videntur"
(Rhet., II, 10; 244). Dante könnte aber auch die folgende Stelle
bei Thomas im Auge gehabt haben: „Sed similitudo est causa
invidiae, dicit enim Philosophus, in II. Rhet., invidebunt tales
quibus sunt aliqui similes" (Sum. theol., 11-11, 36, 1, ad 2).
Dante schränkt in § 7 die Ähnlichkeit ein auf die Kraft der
114 Kommentar zu Kap. iv, 7
Glieder, geht also nicht davon aus, daß ihm andere in bezug auf
den Geist ähnlich sind und ihn deshalb beneiden. Es ist die
körperliche Ähnlichkeit mit den gewöhnlichen Leuten, die bei
der Anwesenheit des Berühmten hervortritt und die Diskre-
panz zur fama vergegenwärtigt.
giudice ehe ode pur l'una parte] Dante spielt hier auf die
juristische Regel des Anhörens beider Parteien an, die in der
Antike, obwohl schon bei den Griechen geläufig (vgl. Leutsch-
Schneidwin, Paroemiographi Graeci, II, 759) noch in keine
einheitliche Formel gefaßt worden war. Sie läßt sich bei Sen-
eca (Medea, 199f.) nachweisen: („Qui statuit aliquid parte
inaudita altera, aequum licet statuerit, haud aequus fuit") und
ist auch Augustinus bekannt gewesen: „Audi partem alteram!"
(De duabus animabus, 22; 78). In der juristischen Literatur
kommt folgende Stelle aus den Digesten dem hier von Dante
aufgenommenen Gedanken am nächsten: „ neque enim inau-
dita causa quemquam damnari aequitatis ratio patitur" (Dig.
48, 17, 1). Eine metaphorische Übertragung dieser Rechtsre-
gel auf die Philosophie findet sich im Mittelalter bei Thomas
von Aquino, In Met., III, 1. 1, n. 342: „injudiciis nullus potest
judicare nisi audiat rationes utriusque partis, ita necesse est
eum, qui debet audire philosophiam, melius se habere injudi-
cando si audierit omnes rationes quasi adversariorum dubitan-
tium". Dante bezichtigt seine Neider, diesen traditionsreichen
Grundsatz mißachtet zu haben.
§7
Onde ... pregiati] Thomas von Aquino, Sum. theol., 11-11,
36, 1, c: „Alio modo bonum alterius aestimatur ut malum
proprium, inquantum est diminutivum propriae gloriae vel ex-
cellentiae. Et hoc modo de bono alterius tristatur invidia".
Vgl. dazu Purg., XVIII, 118-120: „e chi podere, grazia, ono-
re e fama/ teme di perder perch'altri sormonti; / onde s'attrista
sl ehe '! contrario ama".
a s[e) Zur Textkritik vgl. Vasoli, Kommentar zur Stelle.
Kommentar zu Kap. iv, 8.9.11 115
§8
passionati mal giudicano] Für die verbreitete Lehre, daß
die Leidenschaften die Urteilkraft einschränkten vgl. Thomas
von Aquino, Sum. theol., 1-11, 7, 2: "passio trahit rationem
ad iudicandum in particulari contra scientiam quam habet in
universali" .
Zum Schluß des Paragraphen formuliert Dante noch einmal
sein nun erreichtes Beweisziel des zweiten Grundes: Die An-
wesenheit einer herausragenden Person erzeugt den Neid, der
als Frucht des Verlustes der eigenen Hochschätzung bezeich-
net wird, der Neid wiederum beeinträchtigt das Urteilsvermö-
gen der Neider, was diese dazu bewegt, die beneidete Person
zu diffamieren.
§9
umana impuritade] Dante beruft sich in diesem § auf die
Unvollkommenheit des Menschen. Daß er damit nicht nur die
Sündhaftigkeit im christlichen Sinne meint, wird im folgenden
Paragraphen deutlich, wo er auch physische Mängel und au-
ßerhalb der menschlichen Verfügbarkeit liegende Leiden-
schaften und Schicksalsschläge aufzählt. Es geht hier ganz
allgemein um den Menschen als Mängelwesen.
come dice Agustino] Dante zitiert nicht nach einer Vorlage,
denn das Zitat läßt sich nicht wörtlich nachweisen. Vgl. etwa:
„dimitte nobis debita nostra, non utique hie est sine macula aut
ruga aut aliquid eiusmodi". (Retract., 1, c. 7; 21). „sie et
agnus singulariter, solus sine macula, sine peccato". (In loh.,
tract. 7, § 5). „ornnes sub peccato nascimur" (Contra Iulia-
num opus impeifectum, l. 2, § 113.
§ 11
ciascuno profeta e meno ••• sua patria] Vgl. Lc 4, 24; Jo
4, 44; Mc 6, 4; Matth. 13, 57. Der Kommentar des Thomas
von Aquino zur Stelle im Matthäus-Evangelium: „Et quae est
ratio, quare nullus in patria sua honoratur? Una ratio est, quia
116 Kommentar zu Kap. iv, 13
§ 13
In diesem Schlußparagraphen des vierten Kapitels erklärt
Dante, warum die oben abstrakt erörterte Tatsache, daß die
Anwesenheit den Ruf schmälere, in besonderem Maße auf ihn
zutrifft. Als Folge des Exils sah er sich gezwungen, von Ort zu
Ort zu reisen, wodurch beinahe alle Italiener nicht nur mit
seinem Ruf, sondern auch mit seiner physischen Erscheinung
und mit seinen entsprechenden Mängeln bekannt wurden.
Ganz Italien wurde so zu seinem eigenen Lande, in dem er als
Prophet weniger gilt. Diese Tatsache rechtfertigt es, daß er
seinen Kommentar in einem höheren Stil verfaßt, um seinen
Aussagen und seiner Verteidigung das nötige Gewicht und zu
geben.
mi sia quasi a tutti li Italici appresentato] Für die Zeit bis
zur ungefähren Abfassung des Conv. lassen sich folgende
Etappen seines Umherwanderns rekonstruieren: Dante war im
Jahre 1302 bei einer Zusammenkunft der aus Florenz Vertrie-
benen in San Godenzo anwesend, im Jahre 1303 war er als
Sekretär bei Scarpetta Ordelaffi in Forli und als Gesandter in
Verona tätig. Danach verlieren sich die eindeutigen Spuren
seines ruhelosen Itinerariums; Aufenthalte in Treviso, Bolo-
gna und Venedig sind wahrscheinlich. Erst für 1306-1307 ist
wieder ein sicheres Zeugnis vorhanden. Dante weilte in jener
Zeit in Lunigiana im Umkreis des Markgrafen Moroello Ma-
laspina. Casentino und Lucca beherbergten danach bis späte-
Kommentar zu Kap. v-xiii 117
Kapitel v-xiii
tung nach diesem Schema und läßt damit eine Symbolik anklin-
gen, die in seiner früheren Vita Nuova die Vollkommenheit
Beatrices zum Ausdruck brachte. Die neun Himmel symboli-
sieren in Conv., II die neun Wissenschaften, die, wie aus den
ersten§§ des Conv. hervorgeht, den Menschen zur Vollkom-
meneheit führen. Die Transformation der Beatrice der Vita
Nuova in die donna gentile, in die Philosophie des Conv. geht
einher mitder Übertragung der für die Vollkommenheit stehen-
den Zahlensymbolik von Beatrice auf die Textstruktur des
Conv., die den sogenannt substantiellen Mangel des Textes
rechtfertigt (1, v-xiii) und auf die neun Wissenschaften, die
nicht mehr für die Vollkommenheit Beatrices, sondern für
diejenige aller Menschen stehen. Daß die Philosophie die
Vollkommenheit des Menschen ist, bringt Dante auch durch die
3x3- Struktur des dritten Buches zum Ausdruck, das das Lob
der Philosophie enthält (siehe Einleitung zu Buch III). Viel-
leicht sieht eine subtilere Person in der hier dargelegten Sym-
bolik noch subtilere Dinge, aber dies ist, was ich darin sehe und
was mir am meisten gefällt.
Kommentar zu Kap. v-xiü 121
Unterordnung (v)
Gehorsam
(vii)
vielen geben
(viii, 3-4; ix, 2-5)
vollkommene Liebe
(xii-xiii)
122 Kommentar zu Kap. v-vii
Kapitel v-vii
Kapitel v
§1
biado e non di frumento] Dante nimmt hier seine Brotme-
tapher wieder auf und bezeichnet die Volkssprache als Ger-
stenbrot, das im Vergleich zum Weizen eine einfachere Speise
darstellt. Von welch gesellschaftlicher Relevanz diese bildhaf-
ten Ausführungen Dantes sind, wird deutlich wenn mit R.
Imbach (La.ien, 133) diese Metapher einer Stelle aus dem Joel-
Kommentar Alberts des Großen gegenübergestellt wird:
"Frumentum est refectio spiritualis quae clericis et religiosis
proponenda est. Hordeum autem, quod grossum et aspreum
est, grossam significat doctrinam corporalibus similitudinibus
propositam, quae laicis exhibenda est sicut iumentis. Et cum
laica peteret panem delicatum respondit: non est bonum sume-
re panem filiorum et mittere canibus". (Albert der Große, In
Joel prophetam enarratio, c. 1, n. 11; 141). Der sicherlich
nicht zufällige Kontrast zwischen Alberts Verwendung der
Weizen-Gerste-Metapher zur Begründung des Bildungskleri-
kalismus und Dantes bewußter Anlehnung an dieses Bild zur
Rechtfertigung seines auf philosophische Unterweisung der
Laien ausgerichteten, volkssprachlichen Kommentars läßt die
gesellschaftspolitische Relevanz von Dantes Unternehmen
klar hervortreten. Dante bleibt zwar bei der Speisung der Lai-
Kommentar zu Kap. v, 2.4.5 125
§5
In diesem Paragraphen wird die allgemeine Lehre des Habi-
tus auf den Spezialfall des Dieners angewandt, von dem zur
angemessenen Ausübung seiner Funktion Unterordnung,
126 Kommentar zu Kap. v, 6.7
§7
Dante folgert in diesem Paragraphen, daß die in § 6 genann-
ten drei Bedingungen des Kommentars nicht erfüllt würden,
wenn der Kommentar in Latein abgefaßt wäre. Im Beweisgang
wird die oben erwähnte conclusio zur Maior eines weiteren
Syllogismus:
M: Der Kommentar muß den Kanzonen untergeordnet sein,
sie kennen und ihnen Gehorsam leisten.
m: Der lateinisch abgefaßte Kommentar wäre im Gegensatz zu
einem volkssprachlichen nicht untergeordnet, hätte keine
Kenntnis der Kanzonen und wäre auch nicht gehorsam.
C: Der Kommentar muß in der Volkssprache verfaßt sein.
Kommentar zu Kap. v, 7 127
§8
Welche Bedeutungen Dante mit 'comedie e tragedie' in Ver-
bindung brachte, ist bereits ausführlich kommentiert worden.
Vgl. dazu C. Vasoli, Kommentar zur Stelle; T. Ricklin, Das
Schreiben, 92-106. Dantes Identifikation des klassischen La-
teins mit dem Latein seiner Zeit bringt eine Meinung zum
Ausdruck, die mit zunehmenden Sprachbewußtsein und La-
teinkenntnissen im Humanismus entschieden widerlegt wer-
den wird. Als Beispiel könnte ein Text des Lorenzo Valla
beigezogen werden, der darlegt, warum sich nach einer lan-
gen Verfallsgeschichte das mittelalterliche Latein vom klassi-
schen sehr stark zuungunsten des letzteren unterscheidet:
Kommentar zu Kap. v, 9 131
§9
Der hier vorgetragene Gedankengang der Veränderlichkeit
der Volkssprache ist einer Stelle in VE sehr ähnlich: "Dicimus
ergo quod nullus effectus superat suam causam, inquantum
effectus est, quia nil potest efficere quod non est. Cum igitur
omnis nostra loquela ... sit a nostro beneplacito reparata ... et
homo sit instabilissimum atque variabilissimum animal, nec
durabilis nec continua esse potest. .. Quapropter audacter te-
stamur quod si vetustissimi Papienses nunc resurgerent, sermo-
ne vario vel diverso cum modernis Papiensibus loquerentur".
(VE, 1, ix, 6-7). Dante deutet im Conv. an, was er in VE, 1einer
breiteren Untersuchung unterziehen wird: die Geschichtlich-
keit der Sprache. In Conv., II, xiii, 10 nimmt Dante den Ge-
danken der Veränderlichkeit der Wörter bei der Beschreibung
der Grammatik wieder auf, bewertet aber die daraus folgende
unendliche Wandelbarkeit und Adaptabilität der Sprache eher
positiv und zitiert Horaz zur Erläuterung der generatio und
corruptio der Wörter. Dante betrachtet in Conv., II, xiii, 10 die
Veränderlichkeit einer Sprache, die in Conv., 1 noch als Kri-
terium der geringeren Würde der Volkssprache bemüht wird,
geradezu als Grund von deren unendlichem Umfang („la sua
infinitade"). Obschon die Grammatik (gemeint ist die Wissen-
132 Kommentar zu Kap. v, 10 .11-12
§ 10
uno libello ch'io intendo .„ Volgare Eloquenza] Der Ver-
weis auf VE wurde wiederholt für die Festsetzung des termi-
nus post quem des letzteren beigezogen. Zusammengestellt
sind die umstrittenen Positionen bei C. Vasoli, Kommentar
zur Stelle.
§§ 11-12
Dante behandelt in diesem und dem nächsten Paragraphen
die Tugend, der zweite Grund der unzulässigen Unterordnung
eines lateinischen Kommentars unter die volkssprachlichen
Kanzonen. Der Beweis hat folgende logische Struktur: Aus
den beiden Obersätzen (Ml und M2) folgen in Verbindung
mit verschiedenen Untersätzen (ml, m2, m3, m4) die ent-
sprechenden conclusiones (Cl, C2, C3, C4):
ml: Der Mensch ist von Natur aus auf ein kontempla-
tives oder aktives Leben hingeordnet (§ 11).
Ml/ml/ Cl: Der Mensch, der ein kontemplatives oder aktives
Leben lebt, ist tugendhaft.
m2: Das Pferd ist auf viel und schnelles Rennen hinge-
ordnet (§ 11).
Ml/m2/ C2: Das Pferd, das viel und schnell läuft, ist tugend-
haft.
Ml/m3/ C3: Das Schwert, das harte Dinge gut schneidet, ist
tugendhaft.
§ 11
Ciascuna cosa ••• virtuosa] Wie die spätere Anwendung
von 'virtuoso' auf Mensch, Pferd, Schwert und Sprache zeigt,
entspricht der von Dante verwendete Begriff der vertu nicht
dem im engeren Sinne ethischen oder intellektuellen, sondern
er bezeichnet im Anschluß an Aristoteles ganz allgemein eine
teleologisch konzipierte Vollkommenheit einer Sache als ope-
rationelle Realisierung ihrer finalen Bestimmung: „Denn den
Zustand, welchen jedes Einzelne erreicht, wenn seine Ent-
wicklung zum Abschluß gelangt ist, nennen wir die Natur
jedes Einzelnen, wie etwa des Menschen, des Pferdes, des
134 Kommentar zu Kap. v, 11
natura autem dicitur esse perfectum < 2 > quod attingit pro-
priam operationem et finem, < 3 > sicut dicitur 1 Politicae;
< 4 > et quanto magis potest in propriam operationem et fi-
nem < 5 > et minus est ei admixtum de potentia passiva et
privatione, < 6 > tanto dicitur esse perfectius (10, 33-37).
Sinngemäß sind die Elemente 1, 2, 4 und 6 im Text Dantes
enthalten (Dante 1: „ < 1 > Ciascuna cosa e virtuosa in sua
natura < 2 > ehe fa quello a ehe ella e ordinata; < 4 > e
quanto meglio lo fa < 6 > tanto e piU virtuosa"), sie unter-
scheiden sich aber sehr stark in der Formulierung: < 1 > Gen-
tile: „dicitur esse perfectum"; Dante: „e virtuosa". <2>
Gentile: „quod attingit propriam operationem et finem"; Dan-
te: „que fa quello a ehe ella e ordinata". <4> Gentile:
„quanto magis potest in propriam operationem, et finem";
Dante: „e quanto meglio lo fa". < 6> Gentile: „tanto dicitur
esse perfectius"; Dante: „tanto epiU virtuosa". Anschließend
an diese Stelle führt A. Longoni (La travagliata, 112) einen
Passus Gentiles an, der mit 'dicemo homo virtuoso ... attiva'
übereinstimmen soll: „Ille namque homo dicitur esse perfec-
tus, qui potest in istam operationem quae est intelligere, eo
quod intelligere est propria operatio hominis, eo quod homo
est intellectus vel est maxime operans secundum intellectum,
sicut apparet VI Ethicorum, et quanto homo potest in istam
operationem, quae est intelligere et minus est ei admixtum de
potentia passiva et privatione quae opponitur illi operationi,
tanto dicitur esse perfectior; [dicit] ille homo qui magis opera-
tur secundum intellectum ut possibile est in specie humana,
dicitur esse perfectissimus in specie humana". (Quaestiones
supra Prisciano minori, 10, 47-55). Zu dieser Stelle befindet
sich nun aber der Text Dantes in entschiedenem Widerspruch,
denn der Florentiner verweist gerade nicht auf die bei Gentile
völlig unoriginelle und in unzähligen Texten so nachzulesende
Wiedergabe der ethischen Finalisierung der aristotelischen
lntellekttheorie, sondern er beschränkt sich auf die Bemer-
kung, daß sowohl das aktive als auch das kontemplative Leben
136 Kommentar zu Kap. v, 12
§ 12
sermone ••. manifestare lo concetto umano] Die Bestim-
mung der Funktion der Sprache weist eine sehr große Nähe zu
folgender Thomasstelle auf: „Nihil est enim aliud loqui ad
alterum, quam conceptum mentis alteri manifestare" {Thomas
vonAquino, Sum. fheol., 1, 107, 1, c. a.). DieseThomasstelle
ist durch die Übereinstimmung der Wörter 'manifesfare' und
'concetto', in§ 12 verwendet Dante noch 'mente', dem Text
Dantes näher als die von A. Longoni (La fravagliafa sfruttu-
ra, 113t) angeführten Stellen der Modisten Gentile da Cingoli
(„nomina necessaria sunt ut expriamus nostros conceptus alte-
ri et conferamus cum aliis"; 4, 66-67) und Boethius von Daci-
Kommentar zu Kap. v, 12 137
§§ 13-14
Die §§ 13-14 behandeln den dritten und letzten Grund der
mangelnden Unterordnung eines möglichen lateinischen Kom-
mentars unter die volkssprachlichen Kanzonen: die Schönheit
des Lateins. Die allgemeine Definition der Schönheit eines
Dings, nämlich die gebührende Anordnung seiner Teile, expli-
ziert Dante am Beispiel des Menschen, des Gesangs und der
Sprache. Das Latein bietet das schönere Sprechen, weil sich in
ihm durch die künstlich angeordnete Ordnung die Worte in
gebührender Weise entsprechen, wogegen die Volkssprache
ein Produkt der Gewohnheit der Menschen ist. Etwas überra-
schend faßt Dante am Schluß des§ 14 seine Ausführungen als
Beweis der größeren Schönheit, Tugend und Adels des Lateins
zusammen, was eigentlich den Inhalt des ganzen Kapitels zu-
sammenfaßt. Dante hält also, etwas unvermittelt und ohne
weitere Begründung, die Tatsache, daß das Latein ein Kunst-
produkt, die Volkssprache aber aus Gewohnheit entsteht, auch
für einen Beweis der Überlegenheit des Lateins in bezug auf
Tugend und Adel.
§ 13
Quella cosa ••• piacimento] Die von Dante vorgetragene
Konzeption des schönen Dings, verstanden als wohlpropor-
tionierte Anordnung oder Harmonie der Teile, steht in einer
langen philosophiehistorischen Tradition und ist ein Stan-
140 Kommentar zu Kap. v, 14
§ 14
sermone ... e lo latino arte] Der Passus weist eine Konjek-
tur auf [le parole. „rispondono], über die in der Forschung
allgemeine Übereinstimmung herrscht. Vgl. Vasoli, Kom-
mentar zur Stelle. Unter 'Kunst' (arte) verstanden die spätmit-
telalterlichen Philosophen in Anlehnung an Aristoteles eine
nach bestimmten Regeln der Vernunft vorgehende, hervor-
bringende Tätigkeit: „Jede Kunst berifft ein Entstehen und ist
das Erproben und Betrachten, wie etwas Bestimmtes im Be-
reich dessen, was sein oder nicht sein kann, zu entstehen ver-
mag; und zwar ist der Ursprung im Hervorbringenden und
nicht im Hervorgebrachten. Denn es gibt weder eine Kunst bei
dem, was aus Notwendigkeit ist oder wird, noch bei dem, was
Kommentar zu Kap. v, 15 141
§ 15
Der § faßt das Ergebnis des Kapitels zusammen: Ein lateini-
scher Kommentar wäre den volkssprachlichen Kanzonen nicht
unter-, sondern übergeordnet gewesen. Dies hätte der gebüh-
renden Ordnung zwischen dem Ziel (Kanzonen) und dem auf
das Ziel hingeordneten (Kommentar) widersprochen. Dante
hat also seine Behauptung in einem Verfahren ad impossibile
bewiesen (Vgl. Petrus Hispanus, Traetatus, VII, 164; 173f.).
Aus der Annahme eines lateinischen Kommentars ergäbe sich
142 Kommentar zu Kap. vi, 3-4
Kapitel vi
§§ 3-4
Dante zeichnet in diesen§§ ein sehr unvorteilhaftes Bild der
unberechenbaren und kapriziösen Herren, deren unvernüfti-
ges Verhalten sie in die Nähe der Tiere bringt. Solche Herren
muß man schon sehr gut kennen, um ihnen in vollkommener
Weise dienen zu können. Dante erläutert nicht, worin die Ana-
logie zwischen diesen Herren und seinen Kanzonen besteht
und er begründet auch nicht, weshalb man einem Herrn, der
von seiner Natur her eher ein Tier ist, überhaupt dienen soll.
Man gewinnt bei der Lektüre dieses kurzen Abschnitts den
Eindruck, es gehe weniger um den Beweisgang, dieser wird in
Kommentar zu Kap. vi, 5-11.5 143
§§ 5-11
Dieser Abschnitt begründet die Notwendigkeit der Kenntnis
der Freunde des Herrn und erläutert, weshalb ein lateinischer
Kommentar diese Bedingung in bezug auf einen volkssprach-
lichen Text nicht erfüllen könnte. Dante erklärt die Kenntnis
der Volkssprache und ihrer Freunde (befreundete Volksspra-
chen) aus der Vorstellung, daß die einzelnen Volkssprachen
wie Freunde Teile eines Ganzen darstellen, und daß, um das
Ganze zu kennen, die einzelnen Teile gekannt werden müssen.
Dieser Beweis ist nur dann einsichtig, wenn man sich verge-
genwärtigt, daß Dante das Latein nicht für eine Sprache hält,
aus dem die Volkssprachen hervorgegangen sind, sondern für
eine künstlich hervorgebrachte Wissenschaftssprache (vgl.
Kommentar zu v, 7).
Der Beweis ist folgendermaßen strukturiert:
M: Wer ein Ding nur im allgemeinen kennt, kennt es nicht als
solches. (§ 6)
m: Das Latein kennt die Volkssprache im allgemeinen, nicht
aber im einzelnen (§7)
C: Das Latein kennt die Volkssprache nicht. (§ 8)
§5
li amici siano ••• volere] Mit der Einheit der Freunde spielt
Dante auf einen bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik
wiederholt angesprochenen Gedanken an. Vgl. etwaEth. Nie.,
VIII, 11: Gigon, 245: "So weit also Gemeinschaft besteht, so
weit besteht auch Freundschaft ... Darum ist das Sprichwort:
»Besitz der Freunde ist gemeinsam« richtig. Denn in der Ge-
144 Kommentar zu Kap. vi, 6.7
§8
Dante belegt hier durch Beispiele, daß die eben genannte
Bedingung, die Kenntnis des Lateins müsse auch die Kenntnis
aller einzelnen Volkssprachen implizieren, nicht erfüllt wird.
Ein des Lateins kundiger Italiener kann aufgrund seiner La-
teinkenntnisse nicht zwischen der englischen und deutschen
Volkssprache unterscheiden, ebensowenig wie ein deutscher
Lateiner Italienisch und Provenzalisch auseinanderhalten
kann. Für die Einfügung [inghilese] vgl. Vasoli, Kommentar
zur Stelle.
§9
Die nun folgende Erörterung zur Kenntnis der Freunde be-
ruht auf der erkenntnistheoretischen Überlegung aus § 6, wo-
nach die vollständige Kenntnis der Volkssprache die Kenntnis
aller einzelnen Volkssprachen impliziert, sowie auf den in § 7-
8 gelieferten Beweisen, daß dies nicht der Fall ist. Neu in
diesem Paragraphen ist die Vorstellung eines volgare princi-
pale (lo volgare), das das Latein ebenfalls nicht kennt. Es wird
nicht ganz klar, ob Dante mit dem principale eine der existie-
renden Volkssprachen meint und suggeriert, eine sei die füh-
146 Kommentar zu Kap. vi, 10-11.10
§ 11
non efamiliare di tutti] Zusätzlich zur extensiven Verbrei-
tung der Volkssprache („conversazione con tanti") führt Dante
mit dem Hinweis auf die familiäre Art und Weise des volks-
sprachlichen Umgangs noch ein qualitatives Argument zur
Begründung der unzulänglichen Kenntnis der Freunde der
Volkssprache durch das Latein an. Auch wenn viele Menschen
Latein sprechen, so bleibt doch ihr Verhältnis zu dieser Sprache
distanziert, so daß das Latein von ihnen nur eine mangelhafte
Kenntnis hat und die in § 6 begründete erkenntnistheoretische
Bedingung der vollständigen Kenntnis eines Dings nicht erfüllt
wird.
Kapitel vii
§2
Obediente ..• dismisurata] Zum gänzlich befohlenen Ge-
horsam vgl. Gregorius Magnus, Moralia in lob, XXXV, xiv,
28: „per oboedientiam vero voluntas propria mactatur. Tanto
igitur quisque Deum citius placat, quanto ante eius oculos
repressa arbitrii sui superbia, gladio praecepti se immolat".
Ibidem, XXXV, xiv, 30: „sciendum summopere est quod ob-
oedientia aliquando, si de suo aliquid habeat, nulla est".
§§ 4-5
Dante begründet in den §§ 4-5 die mangelnde Süße eines
lateinischen Kommentars, wobei er wiederum streng syllogi-
stisch vorgeht:
Ml: Jedes Ding, das aus einer verkehrten Ordnung
hervorgeht, ist bitter. ( § 4).
ml: Befehle des Dieners an den Herrn gehen aus einer
verkehrten Ordnung hervor. (§ 4).
Cl: Befehle des Dieners an den Herrn sind bitter und
nicht süß. (§ 4).
§§ 6-8
In diesen§§ erläutert Dante den zweiten Grund des mangeln-
den Gehorsams eines lateinischen Kommentars. Ein lateini-
scher Kommentar hätte manches ohne ausdrücklichen Befehl
erklärt und dem Kriterium des Gehorsams, nämlich ohne jeg-
lichen eigenen Antrieb zu handeln, nicht genügt. Dante ver-
steht den Gehorsam im strengen Sinne: nur diejenige
Handlung, die ohne Befehl weder ganz noch teilweise ausge-
führt worden wäre, wird als eine aus Gehorsam hervorgegan-
gene bezeichnet. In § 2 wurden die gänzliche Befohlenheit und
vollkommene Absenz von spontaner Ausführung einer Hand-
lung als notwendige Merkmale des wahren Gehorsams be-
zeichnet. In § 6 nimmt Dante dieses Kriterium auf und for-
muliert in Form einer propositio ypotetica conditionalis, was
unter gänzlicher Befohlenheit und Abwesenheit von Sponta-
neität zu verstehen ist:
"Wenn der Handelnde ohne Befehl weder ganz noch teil-
weise aus eigenem Willen gehandelt hätte, wäre der Gehor-
sam gänzlich befohlen und in keiner Weise spontan". (Vgl.
dazu Petrus Hispanus, Tractatus, I, 16; 8f: "Propositio ypo-
tetica est illa que habet duas propositiones cathegoricas prin-
cipales partes sui, ut 'si horrw currit, horrw rrwvetur' (... )
Conditionalis est illa, in qua coniunguntur due cathecorice per
hanc coniunctionem 'si', ut 'si horrw currit, horrw rrwvetur; et
illa cathecorica cui immendiate coniungitur hec coniunctio
'si', dicitur antecedens, alia vero consequens". Die Wahrheit
Kommentar zu Kap. vii, 6-8 151
§6
obedienza interamente comandata „. in parte] "propri-
um obiectum obedientiae est praeceptum, quod quidem ex al-
terius voluntate procedit" (Thomas von Aquino, Sum. theol.,
11-11, 104, 2, ad 3). Für textkritische Probleme zu 'quello ehe
Ja obediendo' vgl. Vasoli, Kommentar zur Stelle.
§7
Vgl. Sum. theol., 11-11, 104, 2, ad 3: „Obedientia reddit
promptam hominis voluntatem ad implendam voluntatem alte-
rius, scilicet praecipientis. Si autem id quod ei praecipitur sit
propter se ei volitum, etiam absque ratione praecepti, sicut
accidit in prosperis, iam ex propria voluntate tendit in illud, et
non videtur illud implere propter praeceptum, sed propter
voluntatem propriam". Diese Thomasstelle wird bei Busnelli/
Vandelli (Kommentar zur Stelle) treffend als Quellenhinter-
grund zitiert.
Kommentar zu Kap. vii, 8.9-15 153
§8
lo latino ... alcuna] 'lo latino' scheint mehrdeutig, denn es
kann damit das Latein allgemein als Sprache der Wissenschaft
oder aber der lateinische Kommentar gemeint sein. Diese Tat-
sache hat in der Forschung zu mehreren voneinander abwei-
chenden Interpretationen geführt, die C. Vasoli (Kommentar
zur Stelle) bespricht. Es kann die Meinung vertreten werden,
daß Dante beide Bedeutungen miteinander verbindet. Der ein-
geschobene Satz 'ed espone, chi cerca bene le scritture latina-
mente scritte' ist nur verständlich, wenn vom Latein allgemein
die Rede ist, denn die Kennntnis der in Latein verfaßten
Schriften erklärt vieles von selber, was für das volgare in
keinem Teil, das heißt in keiner der in diesem Idiom verfaßten
Schriften der Fall ist. Im Satz 'lo latino sanza lo comandamen-
to di questo signore averebbe esposite molte parti de La sua
sentenza' deutet der Irrealis der Vegangenheit von 'averebbe
esposite' darauf hin, daß der nicht in Latein geschriebene
Kommentar und nicht das Latein im allgemeinen gemeint ist.
In jedem Falle ist der Gedankengang Dantes in Analogie zu §
7 nachzuvollziehen. Das Latein, in dem die Bücher der Wis-
senschaften verfaßt sind, wie auch ein lateinischer Kommen-
tar erfüllen die Bedingung des wahren Gehorsams nicht, weil
sie vieles aus eigenem Antrieb ohne Befehl erklärt hätten.
§ 9-15
In diesem Abschnitt behandelt Dante die letzte notwendige
Bedingung des wahren Gehorsams, die Angemessenheit, die
darin besteht, einen Befehl vollständig zu erfüllen, aber nicht
darüber hinaus zu gehen (§ 9). Der lateinische Kommentar
hätte einerseits den Befehl nicht erfüllt, andererseits durch
„ Übermaß gesündigt" (§ 10), denn er hätte die Kanzonen nur
den Gelehrten ausgelegt, obschon sie für alle Menschen ge-
schrieben sind, die die Volkssprache verstehen(§ 11-12), und
er hätte sie allen ausgelegt, die Latein verstehen, also auch
Deutschen, Engländern etc., die die Schönheit der italieni-
154 Kommentar zu Kap. vii, 9
§9
l'obedienza con misura ••• oltre] Vgl. Thomas von Aqui-
no, Sum. theol., 11-11, 104, 2, ad 2: „Obedientia medium est
inter superfluum, quod attenditur ex parte eius qui subtrahit
superiori obedientiae debitum quia superabundat in implendo
propriam voluntatem, et diminutum, quod attenditur ex parte
superioris cui non obeditur".
la natura particulare ••• la mano, e non piil ne meno] Das
von Dante sehr knapp formulierte Beispiel des Gehorsams der
partikularen Natur gegenüber der universalen birgt eine kom-
plexe Lehre in sich, auf die Dante in späteren Schriften wie-
derholt zurückgegriffen hat (Vgl. dazu ED, IV, 14-17; Perler,
Kommentar zu Abhandlung über das Wasser und die Erde, §
44). Zugrunde liegt die aristotelische, auf Avicenna zurückge-
hende und u. a. von Roger Bacon (Communia naturalia, c. 7;
92-93) und Albert dem Großen dem lateinischen Mittelalter
vermittelte Einteilung der Natur in eine universale Natur, ge-
meint ist die supralunare Welt der Himmelskörper und ihre
Wirkungen, und eine partikulare Natur, worunter die genera-
tiven Wirkungen der einzelnen sublunaren Naturdinge ver-
standen werden: „Intelligo autem per naturam particularem
virtutem propriam regiminis unius individui, et intelligo per
naturam universalem virtutem infusam in substantias caelo-
rum, quasi unam rem et gubernantem universitatem gene-
rationum" (Avicenna, Liber de philosophia prima, VI, 5;
335). Vgl. Albertus von Orlamünde, Philosophia pauperum,
I, I; 446: „Unde Avicenna distinguit duplicem naturam, sci-
licet. universalem et particularem. Universalem appellam
<sie> diffusam virtutem in substantia coelorum. Particu-
larem appellat illam quae est in istis rebus singularibus, sive
individuis, ut illam quae est in hac planta et in hoc grano,
Kommentar zu Kap. vii, 9 155
secundum quod dicitur quod natura est vis insita rebus ex simi-
libus similia procreans". (Zu der Verfasserschaft vgl. Grab-
mann, Die Philosophia pauperum und ihr Verfasser). Die auch
im Werk Alberts des Großen verarbeitete Unterscheidung
zwischen natura particularis und natura universalis (vgl. e.g.
Phys., II, i, 5) entwickelte sich zur doctrina communis, die
auch Thomas von Aquino wiedergibt: "Natura quidem parti-
cularis est propria virtus activa et conservativa uniuscuiusque
rei. Et secundum hanc omnis corruptio et defectus est contra
naturam, ut dicitur in II de Caelo: quia huiusmdo virtus inten-
dit esse et conservationem eius cuius est. Natura vero univer-
salis est virtus activa in aliquo universali principio naturae,
puta in aliquo caelestium corporum; vel alicuius superioris
substantiae, secundum quod etiam Deus a quibusdam dicitur
natura naturans" (Sum. theol., 1-II, 85, 6). Wie der Text des
Thomas exemplifiziert, wurde das Modell der zwei Naturen
dazu verwendet, einerseits die innerweltliche generatio auf die
supralunare Welt der Himmelskörper zurückzuführen und
andererseits die Defekte und Unvollkommenheiten der gene-
rativen Kraft des innerweltlichen Naturdinges und nicht den
Wirkungen der unveränderlichen Himmelskörper zuzuschrei-
ben. Auch die Questio de aqua et terra greift das Thema in
diesem Zusammenhang auf: „Propter quod sciendum est quod
Natura universalis non frustratur suo fine; unde, licet natura
particularis aliquando propter inoboedientiam materie ab in-
tento fine frustretur, Natura tarnen universalis nullo modo
potest a sua intentione deficere, cum Nature universali equali-
ter actus et potentia rerum, que possunt esse et non esse, sub-
iaceant". (Dante, Questio, 44; vgl. auch Mon., II, ii, 3). Die
in Conv. und Questio identische Verwendung der Gehorsams-
Metapher für das Verhältnis der natura particularis zur natura
universalis erachte ich als ein zusätzliches Argument zugun-
sten der Authentizität der Questio de aqua et terra. Falls die
Formen nach der Absicht der universalen Natur verwirklicht
werden, Dante gebraucht das Beispiel der fünf Finger, kann
156 Kommentar zu Kap. vii, 9
§ 11
Ein lateinischer Kommentar hätte den Befehl der Kanzonen
einerseits nicht erfüllt und andererseits überzogen. Dante for-
muliert in diesem Paragraphen, worin dieser Befehl besteht:
Die Kanzonen sind in der italienischen Volkssprache verfaßt
und deshalb für jenes Publikum bestimmt, das diese Sprache
versteht. Ihr Befehl an den auf sie hingeordneten Kommentar
lautet, daß sein Publikum mit demjenigen der Kanzonen iden-
tisch sein muß.
§ 12
Der lateinische Kommentar würde den Befehl nicht erfül-
len, denn er wäre nur für die Gelehrten geschrieben, wogegen
die meisten, die die Kanzonen verstehen wollen, Ungelehrte
sind. Dante nimmt hier mit dem Gedanken der Vermittlung
von Wissen an die vom normalen Wissenschaftsbetrieb aus
verschiedenen Gründen Ausgeschlossenen ein Leitmotiv des
Conv. wieder auf. Ein lateinischer Kommentar hätte seinem
Unternehmen in einem entscheidenden Punkt widersprochen.
Vgl. Kommentar zu 1, i.
litterati ... non litterati] In dem hier angesprochenen Kon-
text des möglichen Nichtverstehens eines lateinischen Kom-
mentars durch die non litterati bezeichnet dieser Term die der
lateinischen Bildungssprache Unkundigen (Vgl. Grundmann,
Litteratus/illiteratus, 3-14). Ein Beherrschen bzw. nicht Be-
herrschen der Bildungssprache hatte weitreichende Gründe
und Konsequenzen, so daß mit dem Begriffspaar 'litterati-non
litterati' auch bei Dante eine soziale Wirklichkeit bezeichnet
wird, die sowohl den Bildungsstand, als auch den damit ver-
bundenen sozialen Status impliziert. Eine Bildung, die über
elementare Kentnisse der lateinischen Sprache hinausging,
erwarb sich der Mann zur Zeit Dantes, mit Ausnahme dessel-
bigen, im Schoße der Kirche als Kleriker und Theologe oder
aber an der Universität als Theologe, Artist, Jurist oder Medi-
ziner, wobei ein stattliche Anzahl der Artisten und Juristen
158 Kommentar zu Kap. vii, 13
§ 13
Dante erläutert, daß ein lateinischer Kommentar die Kanzo-
nen den litterati anderer Sprachen ausgelegt hätte, diese aber
die Kanzonen selbst nicht in ihrer poetischen Schönheit erfas-
sen können. Der lateinische Kommentar wäre somit über den
Befehl hinausgegangen. Wiederum hat Dante eine präzise
Kommentar zu Kap. vii, 14 159
§ 14
musaico armonizzata ••. armonia] Vgl. II, xi, 9: "ma po-
nete mente la sua [canzone] bellezza, ch'e grande si per con-
struzione, la quale si pertiene a li gramatici, si per l'ordine sei
sermone, ehe si pertiene a li rettorici, si per lo numero de le
sue parti, ehe si pertiene a li musici". II, xiii, 23: „la Musica,
la quale e tutta relativa si come si vede ne le parole armoniz-
zate e ne li canti, de' quali tanto piu dolce armonia resulta".
Diese Zitate stützen die Vermutung, Dante meine mit 'mu-
saico' nicht einfach 'poetisch' im allgemeinen Sinne (Busnelli/
Vandelli, Komm. zur Stelle), sondern 'zur Musik gehörend'.
Dieses Verständnis scheint auch eine Stelle in VE zu belegen:
„si poesim recte consideremus: que nichil aliud est quam fictio
rethorica musicaque poita".
Zu Dantes Thematisierung der Schwierigkeit, Texte zu
übersetzen, sowie zu den Beispielen, die er dazu anführt, wird
in der Forschung auf Hieronymus (Prefatio in Eusebii Caesa-
riensis Chronicon) verwiesen: "Vetus iste disertorum mos
fuit, ut exercendi ingenii causa Graecos libros Latino sermone
absolverent, et quod plus in se difficultatis habet poemata illu-
strium virorum, addita metri necessitate, transferrent. Unde et
noster Tullius Platonis integros libros ad verbum interpretatus
est: et cum Aratumjam Romanum hexametris versibus edidis-
set, in Xenophontis Oeconomico lusit. In quo opere ita saepe
aureum illud flumen eloquentiae scabris quibusdam et turbu-
lentis obicibus retardatur, ut qui interpretata nesciunt, a Cice-
rone dicta non credant. Difficile est enim, alienas lineas
insequentem non alicubi excidere: arduum, ut quae in aliena
lingua bene dicta sunt, eumdem decorem in translatione con-
servent. Significatum est aliquid unius verbi proprietate, non
habeo meum quod id efferam; et dum quaero implere senten-
tiam, longo ambitu vix brevia spatia consumo. Accedunt hy-
160 Kommentar zu Kap. vii, 15
§ 15
Omero] Wie die oben zitierten Stellen des Hieronymus dar-
legen, muß Dantes Erwähnung Homers nicht von einer direk-
ten Kenntnis des Textes herrühren, zumal Dante kein
Griechisch konnte umd dem Mittelalter der Text der beiden
Epen Homers Ilias und Odysee nicht direkt bekannt war. (vgl.
Kommentar zu Kap. vii, 15 161
Kapitel viii-ix
Kapitel viii
§1
Dem Paragraphen kommt eine Schamierfunktion zu; er
schafft die Verbindung zwischen dem vorangehenden Teil,
der der Ordnung zwischen Kommentar und Text gewidmet ist,
Kommentar zu Kap. viii, 2 163
§2
Dante führt in diesem Paragraphen drei Punkte auf, an de-
nen man die Freigebigkeit erkennt, und die, wie er darlegen
wird, aus dem volkssprachlichen Kommentar, nicht aber aus
dem lateinischen hervorgehen. Die wahre Freigebigkeit be-
steht darin, vielen (1) nützliche Dinge (2) aus freien Stücken
(3) zu geben.
la pronta liberalitate ... dare quello] Die dreiteilige Cha-
rakterisierung der Freigebigkeit findet sich bis heute so nir-
gends in den Quellen, Dante ließ sich aber in einzelnen Ele-
menten von der Tradition beeinflussen. Den Punkt, vielen zu
geben, beziehen Busnelli/Vandelli und Vasoli (Kommentare
zur Stelle) auf Aristoteles, Eth. Nie., IV, 1120b4-6 bezie-
hungsweise Thomas von Aquino, Sent. Eth., IV, 2; 206: „Ad
liberalem pertinet ut vehementer superabundet in datatione,
non quidem sie quod superabundet a ratione recta, sed ita,
quod datio in ipso superabundet retentioni, quia minus sibi
relinquit, quam aliis det; paucis enim in se ipso contentus est,
sed, dum vult multis providere, oportet quod plurima largia-
tur". Auch eine Stelle Senecas (De benef, I, 14) wird zitiert:
"Qui beneficia sua amabilia vult esse, excogitat quomodo et
multi obligentur". Für das Geben nützlicher Dinge als zweiter
Bedingung der Freigebigkeit muß auf Eth. Nie., IV, 1:
1120a21-22 als Texthintergrund hingewiesen werden: „End-
164 Kommentar zu Kap. viii, 3-15
§§ 3-15
In den §§ 3-15 begründet Dante, warum die aus wahrer
Freigebigkeit zu gebenden Dinge notwendigerweise nützlich
sein müssen. In den §§ 3-5 führt er dazu je ein Argument an.
Mit § 6 beginnt eine längere Begründung (§§ 6-15), in der
vier Gründe dargelegt werden, weshalb die Gaben der vollen-
deten Freigebigkeit notwendigerweise nützlich sein müssen.
Die §§ 7-8 sind der notwendigen Heiterkeit der Tugend, die
den ersten Grund darstellt, gewidmet. Die zweite Bedingung
besteht in der Notwendigkeit der Tugend, die Dinge zum Bes-
seren hinzubewegen (§§ 9-11). Drittens führt Dante den
Grund an, daß die Tugend Freunde Schaffen muß, was im
Falle der Gabe nur durch ein nützliches Ding erreicht wird
(§§ 12-13). In den§§ 14-15 behandelt Dante den vierten und
Kommentar zu Kap. viii, 3.4 165
§4
E ancora, dare a molti „. componendo] Dante überträgt
die traditionelle Lehre, das Gesetz müsse sowohl den Einzel-
nen Menschen als auch dem Allgemeinwohl dienen, auf seine
Begründung des Gebrauchs der Volkssprache zur Wissens-
vermittlung. Er verwendet einen in der Scholastik allgemein
anerkannten Gedanken zur Rechtfertigung seines eigenen,
von den ausgetretenen Pfaden der Schulphilosophie sich stark
unterscheidenden Unternehmens. Vgl. Thomas von Aquino,
Sum. theol., 1-11, 90, 2: „Rursus, cum omnis pars ordinetur
ad totum sicut imperfectum ad perfectum, unus autem homo
est pars communitatis perfectae: necesse est quod lex proprie
respiciat ordinem ad felicitatem communem". Vgl. außerdem
Sum. theol., 11-11, 31, 2: „cum dilectio caritatis se extendat ad
omnes, etiam beneficentia se debet extendere ad omnes".
166 Kommentar zu Kap. viii, 5
§5
dare cose non utili ••• uno scudo] Für diese Stelle ist laut S.
Debenedetti (Dante e Senecajilosofo, 16) Seneca, De benef,
1, xi, 6 als Quelle zu betrachten: „Utique cavebimus, ne mu-
nera supervacua mittamus, ut feminae aut seni arma venatoria,
aut rustico libros, aut studiis ac litteris dedito retia. Aeque ex
contrario circumspiciemus, ne, dum grata mittere volumus,
suum cuique morbum exprobatura mittamus, sicut ebrioso
vina et valetudinario medicamenta". G. Mezzadroli (Seneca
in Dante, 56f.) hat darauf hingewiesen, daß Dante diese Stelle
indirekt über Brunetto Latini (Tresor, II, 85, 14) bekannt ge-
wesen sein könnte, der sie seinerseits den Moralium dogma
philosophorum (laut Mezzadroli PL, 171, 1018; für eine neue
Edition siehe Holmberg, 17f) entnommen hat: „Nous devons
teus dons doner ki ne soient pas oiseus; car a fernes no doit on
doner armes ac chevaliers. Senekes dist. nous donrons teus
choses ki ne reprocent a home ne a sa maladie, c'est a dire ke
l'om doit a l'yvre doner vin". Senecas 'anna venatoria' wird
in den Moralium dogma philosophorum (ibidem) zu 'anna
militaria', bei Brunetto zu 'armes as chevaliers' und schließ-
lich bei Dante zu 'uno scudo'. Ansonsten weicht Dante stark
von der angenommen Quelle ab und konstruiert eine anschau-
liche Antithese zwischen dem Ritter und dem Arzt. Für die
Möglichkeit eines unnützen Geschenkes vgl. auch De benef,
IV, xv, 4: „adeoque ad beneficia nos non inpellit utilitas, ut
inutilia tueri ac fouere perseveremus sola beneficii caritate".
li Aphorismi d'lpocras] Mit den Aphorismi des Hippocra-
tes und den Tegni des Galen nennt Dante zwei medizinische
Schulschriften des Mittelalters, deren Lektüre sich kein Medi-
zinstudent entziehen konnte. Das abendländische Mittelalter
hat im Gegensatz zum arabischen und byzantinischen niemals
über das gesamte Hippokratische und pseudo-hippokratische
Schrifttum verfügt. Die von Dante erwähnten Aphorismi, die
mit den einprägsamen Zeilen „ Vita brevis ars autem prolixa
tempus acutum vero velox experimentum autem fallens" be-
Kommentar zu Kap. viii, 5 167
§6
Dieser Paragraph dient als Überleitung zu der Begründung
der notwendigen Nützlichkeit der Freigebigkeit. Dantes Recht-
fertigung dieses Gedankens besteht aus vier in den §§ 7-15
erläuterten Argumenten.
§§ 7-8
Das erste Argument hat folgende Struktur: Aus dem Prin-
zip, daß die Tätigkeit der Tugend im Geben und Nehmen hei-
ter sein muß, folgt eine consequentia, die im Beweis die maior
M bildet:
M: Wenn die Wohltat im Geben und Nehmen nicht heiter ist,
entspringt sie nicht vollkommener Tugend.
m: Nur die Nützlichkeit kann Heiterkeit bewirken.
C: Also muß im Gebenden die Vorraussicht des Nutzens für
ihn und den Empfänger bestehen(§ 8).
§7
la vertu dee essere lieta .•• operazione] Dante dehnt eine
bei Thomas von Aquino auf den Geber bezogene Überlegung,
wonach die Gabe der Freigebigkeit aus Heiterkeit zu erfolgen
hat, auf den Empfänger aus: Die freigebige Handlung muß
beim Empfänger Heiterkeit hervorrufen, dies kann sie nur,
wenn die Gabe dem Empfänger nützlich ist. Vgl. Sent. Eth.,
II, 3; 83: „sed post habitum virtutis generatum, huiusmodi
operationes fiunt delectabiliter, quia habitus inest per modum
cuiusdam naturae, ex hoc autem est aliquid delectabile quod
convenit alicui secundum naturam". Ibidem, IV, 2; 206: „li-
beralis dat delectabiliter vel saltem sine tristitia (ita enim est in
omni virtute ... )".
letizia non puo dare altro „. pronta liberalitade] Dante
rezipiert hier die auch bei Thomas von Aquino vorgetragene
Lehre des bonum honestum des Gebers und des bonum utile
des Empfängers, wobei der Florentiner aber beide als Nutzen
bezeichnet und so den von Thomas noch explizit hervorgeho-
170 Kommentar zu Kap. viii, 9-11.9
§§ 9-11
Der hier vorgetragene Beweis stützt sich auf das in § 9 und
10 begründete Prinzip, daß die Tugend die Dinge zum Besse-
ren bewegen muß. Ein Ding muß durch die Veränderung, die
es im Gegebenwerden erfährt, besser, wertvoller oder lobens-
wert werden (§ 11). Wertvoller oder lobenswert kann es nur
sein, wenn es dem Empfänger nützlicher ist, als dem Geben-
den. Der Beweis beruht auf einer teleologisch begründeten
Identifikation von 'besser' und 'nützlicher', die sich so nicht
in den von BusnelliNandelli und Vasoli zitierten Thomas-
Texten findet. Diese enthalten nur das Prinzip, nicht aber die
von Dante vorgenommene Anwendung zum Beweis der Not-
wendigkeit nützlicher Gaben der Liberalität. (Kommentare
zur Stelle).
§9
la vertll dee muovere le cose .„ al migliore] Vgl. Aristo-
teles, Eth. Nie., II, 5; 169: „Dicendum igitur quoniam virtus
omnis cuius utique fuerit virtus, et id bene habens perficit, et
opus eius bene reddit". Vgl. Thomas von Aquino, In Plrys.,
VII, 5: „Virtus enim universaliter cuiuslibet rei est quae bo-
num facit habentem et opus eius bonum reddit". Ders., Sent.
Eth., II, 6; 94: „Et huius ratio est quia virtus alicuius rei
attenditur secundum ultimum id quod potest, puta in eo quod
potest ferre centum libras, virtus eius determinatur non ex hoc
quod fert quinquaginta, sed ex hoc quod fert centum, ut dicitur
Kommentar zu Kap. viii, 10 171
§ 10
e
biasimevole invano adoperare] Wichtige Exponenten der
mittelalterlichen Philosophie und Theologie bekunden nebst
dem naturphilosophischen "horror vacui et in.finiti" einen
"horror indifferentis". Albert der Große spricht für eine Viel-
zahl seiner Zeitgenossen, wenn er unter Bezugnahme auf Pe-
trus Lombardus das vergebliche oder indifferente Tun und
Treiben moralisch verurteilt: "Secundum Theologum nihil est
indifferens, quia etiam vanum et otiosum computatur in pra-
vum" (Ethica, VIII, 4; 606). Die Stelle, auf die sich Albert bei
Petrus Lombardus höchst wahrscheinlich bezieht, lautet:
"Omnia igitur opera hominis secundum intentionem et causam
iudicantur bona vel mala". (II Sent., d. 40). Ausführlich dis-
kutiert Albert die Frage in: In II Sent., d. 40, D„ a. 3. 4 und
in De bono, 1, ii, 7. 8. Albert unternimmt eine methodische
Trennung zwischen einer theologischen und ethischen Sicht-
weise und hält fest, dass die Unmöglichkeit moralisch indiffe-
renter Handlungen nur für die Theologie gilt: „dicimus nihil
esse indifferens in operibus voluntatis cum deliberatione factis
secundum theologum, licet secundum ethicum aliquid indiffe-
rens possit inveniri. Et hoc est ideo, quia secundum ethicum
nulla virtus ponitur, quae sit generale movens ad omnes actus
voluntarios, sed unaquaeque movet in sua materia. Secundum
theologum autem ponitur caritas generale movens omnium
operum voluntariorum, et propter hoc de operibus illis nihil
est indifferens". (Albert, De bono, 1, ii, 7; 34). Es ist die
theologische Sichtweise, gemäß der alle Handlungen zur Ehre
Gottes und zum Heil des Menschen vorgenommen werden
müssen, die laut Albert das „ vanum", „otiosum" und „ indif-
ferens" verbietet: „Motus voluntatis, qui per imperium fiunt a
ratione, de natura sui ordinabiles sunt in gloriam dei; sed ratio
172 Kommentar zu Kap. viii, 12-13
§§ 12-13
Den dritten Beweis der notwendigen Nützlichkeit der Gaben
der Freigebigkeit stützt Dante auf die Prinzipien, daß die
Handlungen der Tugend Freunde schaffen muß (Ml) und daß
Freunde nötig sind für das glückliche Leben (M2). Die not-
wendige Bedingung der Erzeugung von Freundschaft durch
eine Gabe ist deren Nützlichkeit (m), also folgt, daß die Gaben
nützlich sein müssen (C).
la vertu „. acquistatrice d'amici] Die traditionelle Lehre,
daß die Tugend Freundschaft erzeugt, wird bei Dante zu ei-
nem Imperativ umformuliert. Die tugendhaften Handlungen
müssen Freundschaft erzeugen. Vgl. Seneca, De benef., II,
xviii: „Sie est beneficiorum sacratissimum ius, ex quo oritur
Kommentar zu Kap. viii, 13.14-15 173
§ 13
Martino ... Giovanni] Namen, die zur Zeit Dantes in allge-
meinen Beispielen und Redensarten verwendet wurden. Vgl.
III, xi, 7; Par., XIII, 139.
§§ 14-15
In diesem Abschnitt trägt Dante das vierte und letzte Argu-
ment zur Begründung der notwendigen Nützlichkeit der Ga-
ben der Freigebigkeit vor. Es beruht auf der Voraussetzung,
daß tugendhafte Handlungen frei und nicht erzwungen sein
müssen. Diesen Gedanken versucht Dante durch die Verwen-
174 Kommentar zu Kap. viii, 14.16-17.16
§§ 16-17
Nach den vier Argumenten zur notwendigen Nützlichkeit,
die die zweite Bedingung der Freigebigkeit darstellt, kommt
Dante nun zurück auf deren drittes wesentliches Merkmal, das
ungefragte Geben. Der von Seneca entlehnte Hauptgedanke
dieser Argumentation besteht in der Vorstellung, daß, wo dem
Geben eine Bitte vorausgeht, ein Fall von Handel vorliegt, da
ein Käufer etwas zu kaufen versucht, das der Verkäufer nicht
verkaufen will.
§ 16
dice Seneca „. spendono] Der Verweis bezieht sich auf
Seneca, De benef., 11, i, 4: „nulla res carius constat, quam
quae precibus empta est". Die vielfältige, komplizierte und
zum Teil partielle Tradierung des De benef. Senecas im Mit-
telalter (vgl. Mezzadroli, Seneca in Dante, 47) verbietet es,
voreilig auf eine direkte Seneca-Lektüre Dantes zu schließen.
Das hier zitierte dictum konnte der Florentiner auch den Mo-
ralium dogma philosophorum („Nihil enim charius emitur,
quam quod precibus extorquetur"; PL, 171, 1016; Ed. Holm-
Kommentar zu Kap. viii, 18 175
berg, 14: „nulla enim res carius constat quam que precibus
empta est"), dem Tresor (II, 95, 2) des Brunetto Latini („Se-
nekes dit, eil n'a pas pour Dient la chose ki par priere la re-
quiert, nule chose ne couste plus chier que cele ki est achatee
par priiere") oder gar der Sum. theol., II-II, 83, 2, entneh-
men: „Praeterea, liberalius est dare aliquid non petenti quam
dare petenti: quia sicut Seneca dicit nulla res carius emitur
quam quae precibus empta est". Obschon von allen als Quelle
in Frage kommenden Stellen, diejenige des Thomas von Aqui-
no dem hier behandelten Convivio-Text am nächsten kommt
und Dante den Gedanken Senecas wohl nur indirekt kannte,
kann aufgrund anderer Seneca-Zitate bei Dante eine ander-
wärtige oder gar direkte Kenntnis Senecas nicht ausgeschlos-
sen werden (vgl. dazu Mezzadroli, Seneca in Dante, 48f.).
Den Gedanken des ungefragten Gebens wandte Dante in Par.,
XXXIII, 16-18 auch auf die Jungfrau Maria an: „La tua be-
nignita non pur soccorre a chi domanda, ma molte fiate / liber-
amente al dimandar precorre". („ Und deine Güte kommt nicht
nur zu Hilfe I Dem, der da bittet, nein, gar viele Male I Ist sie
der Bitte gern zuvorgekommen").
§ 18
Percbe si •.• ultimo trattato di questo libro] M. Barbi
(Einleitung zu Busnelli I Vandelli, XVf.) sah in dieser Stelle
einen Hinweis, daß Dante im vierzehnten Traktat des Conv.
die Kanzone Doglia mi reca kommentieren wollte, in der sich
folgende Stelle findet: „chi con tardare, e chi con vana vista.
chi con sembianza trista I volge il donare in vender tanto caro
quanto sa sol chi tal compera paga". Ein für die Inhaltsbestim-
mung des letzten geplanten Traktats nicht sehr aufschlußrei-
cher Verweis findet sich auch in Conv., III, xv, 14. Klarer ist
diesbezüglich ein Hinweis in Conv., 1, xii, 12, wo Dante vor-
wegnimmt, daß er im vierzehnten und letzten Buch des Conv.
die Tugend der Gerechtigkeit behandeln will (vgl. Kommen-
tar zur Stelle).
176 Kommentar zu Kap. ix, 2-5
Kapitel ix
§§ 2-5
In diesen §§ belegt Dante, daß der lateinische Kommentar
die Bedingung der Freigebigkeit, die darin besteht, vielen zu
geben, nicht erfüllt hätte (§§ 2-3), denn die Gelehrten außer-
halb Italiens hätten wohl den Kommentar, nicht aber den Text
verstanden. In diesem Passus setzt Dante zu einer überra-
schend bissigen Invektive gegen die geizigen italienischen Ge-
lehrten an, denen er die Nahrung, die seine Kanzonen und sein
Kommentar bieten, nicht gönnen will. Er spricht ihnen sogar
die Bezeichnung als Gelehrte ab, denn sie erwerben Wissen
nicht zum Gebrauch, sondern um Geld und Ehre zu erlangen
(Vgl. auch III, xi, 19; Par„ XI, lff.). Solche Passagen doku-
mentieren den Außenseiterstatus des Alighieri und lassen die
damit verbundenen bitteren Erfahrungen des institutionell un-
geschützten und nur auf sich selbst gestellten Intellektuellen
erahnen. Der zweite Teil des Abschnitts (§§ 4-5) bringt den
positiven Erweis, daß die Volkssprache die Bedingung der
Freigebigkeit erfüllt und wirklich vielen dient. Auch hier
kommt die bittere Verachtung Dantes für die universitäre und
Kommentar zu Kap. ix, 2-S 177
§5
la bonta del animo] Die Invektive gegen die Gelehrten und
gegen deren Mißbrauch des Wissens und das Lob der unge-
lehrten, aber im wahren Sinne adeligen Menschen, die die
Philosophie empfangen können, bringt ein im weitesten Sinne
„sokratisches" Wissensideal zum Ausdruck, in dem Wissen
und Tugend innigst und wesentlich miteinander verbunden
werden und in dem die innere moralische Haltung und der
praktische Vollzug einer auf ethische Inhalte hin finalisierten
Wissenschaft den Primat über rein theoretische Erörterungen
erhalten. Dantes Kritik an den Gelehrten bedeutet in diesem
Sinne auch eine Abkehr von der nur objektiv ethischen und
moralisch nicht engagierenden Schulphilosophie hin zu einer
Philosophie des praktischen Vollzugs ethischer Prinzipien.
Diesen Vollzug vermögen nur die der Volkssprache kundigen
Adeligen zu leisten. Daß Dante damit nicht nur die Adligen
im feudalrechtlichen Sinne meint, sondern alle Menschen von
edler Geisteshaltung, belegt der Verweis in ix, 8 auf den vier-
ten Traktat des Conv., wo die nobilitade als von gesellschaft-
licher Stellung unabhängige Vollkommenheit des Menschen
verstanden wird (vgl. Kommentar zu IV, xix). Dennoch kann
davon ausgegangen werden, daß Dante in erster Linie ein
höfisch-aristokratisches Publikum ansprechen will und muß,
da er an Fürstenhöfen sein Auskommen findet. In diesem Zu-
sammenhang ist es interessant festzustellen, daß Dantes Auf-
zählung des Publikums der Beschreibung der Troubadour- -
Zuhörerschaft des Raimon Vidal ähnlich ist, was darauf
hindeuten könnte, daß der Alighieri, der durch seine Exilie-
rung in die Kreise des höfischen Troubadour-Milieus gelangt
ist, dieses Publikum für seine Poesie und Philosophie gewin-
nen will: „emperador, princeps, rei, duc, conte, vesconte,
contor, valvasor ... paucs et granz, meton totz iorns lor enten-
Kommentar zu Kap. ix, 5 179
§7
per lo pelago del loro trattato] A. Pezard (Dans le sillage
de Dante, 1-5) kommt aufgrund textkritischer Überlegungen
zum Schluß, daß hier „per lo prologo de! secondo trattato"
(„aus dem Prolog des zweiten Traktats" gelesen werden müß-
te. Dieser Vorschlag hat eine gewisse Plausibilität, legt doch
Dante in II, i dar, wie er seine Kanzonen auszulegen gedenkt.
Andererseits kommt ausgerechnet in II, i, 1 die Metapher des
pelago wieder vor, was darauf hindeutet, daß auch hier 'pel-
184 Kommentar zu Kap. ix, 9.10
§9
si come dice il mio maestro] Eth. Nie., 1, 6, 1098a18: "Una
enim irundo ver non facit". Nach ED, III, 585 vgl. aber auch
Brunetto Latini, Tresor, II, 6, 3: "Car une seule arondele ki
viegne ne uns seus jours atempres ne donent par certaine en-
segne dou printens". Dantes Text ist näher bei Aristoteles als
bei Brunetto.
§ 10
Als letzte der drei Bedingungen der Freigebigkeit behandelt
Dante in diesem Paragraphen das ungefragte Geben und legt
dar, daß lateinische Kommentare in einer langen Tradition
stehen würden und, wie schon oftmals zuvor, Auftragswerke
darstellen, wogegen ein volkssprachlicher Kommentar etwas
ganz Neues ist und aufgrund von Eigeninitiative entsteht, ge-
wissermaßen „sich selbst gibt", wie Dante sagt.
si come ne' loro principü „. molte] Die Stelle ist interes-
sant, weil sie anzeigt, daß Dante ein aufmerksamer Leser von
Prologen war, in der ein Autor den Anlaß des Werkes, seine
Absicht und sein Zielpublikum zu erkennen gab. Schon aus
Conv., 1, i ging hervor, daß Dante eine ganz präzise Kenntnis
der Formen eines Prologs hatte (vgl. auch Kommentar dazu).
Freilich war die von Dante hier wörtlich interpretierte For-
mel, das Werk sei die Erfüllung einer Bitte, oft nicht mehr als
ein Bescheidenheitstopos (vgl. E. Curtius, Europäische Lite-
ratur, 92f.). Dennoch trifft der Alighieri in bezug auf den
Unterschied zwischen seinem Kommentar und den herkömm-
lichen lateinischen Kommentaren und anderen Schriften einen
entscheidenden Punkt, denn das Kommentieren von Texten
gehörte zu den zentralen Aufgaben der Universitätsmagister
und die Unzahl lateinischer Kommentare in der Rechtswissen-
schaft, Medizin, Theologie und Philosophie waren in diesem
Sinne nicht Gaben der Freigebigkeit, sondern Produkte der
Kommentar zu Kap. ix, 10 185
Kapitel x-xiii
Kapitel x
§§ 1-4
Wie aus der Einleitung zu Conv. I hervorgegangen ist, stellt
das gesamte erste Buch den Prolog zum Werk dar, wobei der
zweite Teil (ii-xiii) das herkömmliche Einleitungs-Schema um
eine ausführliche Rechtfertigung verschiedener Mängel des
Werks erweitert. Dadurch überspannt Dante die gewohnte
Länge eines Prologs erheblich, was, wie er sich nun bewußt
wird, seinerseits einer kurzen Rechtfertigung bedarf, die er in
den ersten vier Paragraphen dieses Kapitels liefert, wobei er
durch die wiederholte Betonung der Neuheit und Andersartig-
keit seines Unternehmens aus der Not der Länge seiner Ent-
schuldigung geschickt eine Tugend macht.
§1
Grande vuole essere .•. frumento] Dante konstruiert die
Rechtfertigung der Größe der Entschuldigung durch eine Ent-
188 Kommentar zu Kap. x, 1
§2
vuole essere manifesta la ragione •.• commisurate] Das
Neue kann sich in der Beurteilung seiner Folgen nicht durch
positive Erfahrung rechtfertigen, sondern erfordert Vernunft-
gründe zu seiner Legitimation. Eine ähnliche Unterscheidung
zwischen Erfahrung und Vernunftevidenz macht Dante später
auch in der Mon.„ wo er verschiedene als Vernunftgründe
(rationes) bezeichnete Argumente von einem auf Erfahrung
beruhenden Argument methodisch abgrenzt: "Rationibus om-
nibus supra positis experientia memorabilis attestatur" (Mon.,
I, xvi, 1).
§3
la Ragione ••• usato] 'Ragione' steht bei Dante für das ge-
schriebene Recht, in diesem Falle für das Corpus iuris civilis,
das Römische Recht. Vgl. IV, xii, 9: "l'una e l'altra Ragione,
Canonica dico e Civile". Gleiche Verwendung auch in IV,
xix, 4: "si come scritto e in Ragione e per regola di ragione si
tiene". Vgl. auch IV, xxiv, 2; xxiv, 17. Dantes Bezeichnung
des Rechts mit 'Ragione' (ratio) entspricht einem im Mittelal-
ter mindestens seit dem 12. Jahrhundert verbreiteten Usus.
Vgl. dazu A. Guzman, Ratio scripta; H. Flasche, Die begriff-
liche Entwicklung des Wortes ratio, 178-196.
Dante zitiert Dig., I, 4, 2: "In rebus novis constituendis
evidens esse utilitas debet, ut recedatur ab eo iure, quod diu
aequum visum est". Obschon Dante das Römische Recht
höchst- wahrscheinlich auch direkt kannte, könnte er die hier
zitierte Stelle auch zahlreichen anderen Schriften entnommen
haben. Vgl. Boncompagni da Signa, Rhetorica novissima,
Prolog; 89: "Dicit enim lex, quod in rebus novis constituendis
evidens utilitas esse debet, ut recedatur ab eo iure, quod diu
equum visum est". ·
Auch Thomas vonAquino, Sum. theol., ,I-11, 97, 2: „Etideo
nunquam debet mutari lex humana, nisi ex aliqua parte tantum
recompensetur communi saluti, quantum ex ista parte deroga-
190 Kommentar zu Kap. x, 5
§6
Auch dieser Paragraph hat eine Strukturfunktion, denn er
erläutert kurz die drei Beweggründe, nach denen der Rest des
Kapitels eingeteilt ist. Erstens bewegt die Liebe den Lieben-
den zum überschwenglichen Lob des Geliebten (§§ 7-9),
zweitens zur Leidenschaftlichkeit (§ 10) und drittens drängt
die natürliche Liebe den Liebenden dazu, das Geliebte zu ver-
teidigen(§§ 11-13).
naturalmente e accidentalmente amo] Die Liebe zur eige-
nen Sprache ergibt sich aus der Natürlichkeit jeder Volksspra-
che. Vgl. dazu VE, I, i, 2-5: "quod vulgarem locutionem
appellamus eam qua infantes assuefiunt ab assistentibus cum
primitus distinguere voces incipiunt; vel, quod brevius dici
potest, vulgarem locutionem asserimus quam sine omni regula
nutricem imitantes accipimus ... nobilior est vulgaris ... turn
quia naturalis est nobis". Die schwer verständliche Bezeich-
nung seiner Liebe als akzidentell kann durch eine Stelle in Dino
del Garbos Kommentar zur Guido Cavalcantis Kanzone Donna
me prega erläutert werden. Zu dem Vers, in dem auch Caval-
canti seine Liebe als „d'uno accidente" bezeichnet, schreibt
Dino: „Dicitur autem haec passio accidens, primo quod non est
substantia per se stans, sed est alteri adherens sicut subiecto, ut
appetitus anime, simili modo sicut anime passiones, que sunt
ira, tristitia, timor et similia; secundo dicitur accidens, quod
potest aduenire et etiam recedere sicut accidentia alia; tertio
dicitur accidens, quod aduenit ab extrinseco et, licet secundum
aliquid possit quis habere dispositionem intrinsecam per quam
faciliter incurrat in hanc passionem, ut postea declarabitur,
tarnen causans ipsum principaliter est res extrinseca. Dicitur
autem hec passio accidens ferox ratione intemperantie que est
in hac passione, ut declarabitur postea; sed dicitur accidens
magnum ratione effectuum quos inducit in corpus: conuertit
enim plus et alterat quam alie passiones, ut declarabitur in
processu cantilene" (Dino del Garbo, Scriptumsuper cantilena
Guidonis de Caualcantibus; 89).
192 Kommentar zu Kap. x, 8.9
§8
nulla grandezza puote aver l'uomo „. propia bontade]
Die von Dante bereits zur Ermittlung des Verhältnisses des
Kommentars zum Text angewandte, handlungsteleologisch
konzipierte Tugendlehre (vgl. 1, v, 4) dient ihm hier zur Be-
stimmung der natürlichen Liebe, insofern diese ihr Objekt
überschwenglich lobt. Das größte Lob wird einem Ding in
bezug auf seine größte Güte, die in seiner tugendhaften Hand-
lung besteht, zuteil. Vgl. Kommentar zu 1, v, 4. Dantes Me-
thode der Übertragung traditioneller Argumentationen der
Schulphilosophie auf neue Fragestellungen wird auch aus die-
ser Passage ersichtlich. Die handlungsteleologische Tugend-
lehre entlehnt er bei den Aristotelikern des universitären Mi-
lieus, wahrscheinlich bei Thomas von Aquino, er überträgt
und funktionalisiert sie aber im Hinblick auf die Rechtferti-
gung seines Unternehmens, in dem die Konzeption, das Publi-
kum und die Sprache der Philosophie im Vergleich zu Thomas
grundsätzlich transformiert sind und eine neue Synthese bil-
den.
§9
E questa grandezza .„ sentenza] Dante macht hier eine
weitere zentrale Aussage über sein Verständnis der Eignung
der Volkssprache als Wissenschaftssprache. Mit Hilfe des ari-
stotelischen Akt-Potenz-Modells vermag er zu zeigen, daß die
wahre Größe der Volkssprache durch ihre Vernachlässigung
als Wissenschaftssprache bisher nicht aktualisiert worden ist
und daß es seine Absicht ist, durch die tugendhafte Handlung
der Volkssprache, das heißt durch ihre Aktualisierung als
Sprache eines philosophischen Kommentars, diese grandez.za
„in atto" zu zeigen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die
statische Gegenüberstellung der gegensätzlichen Aussagen
zur Überlegenheit des Lateins (1, v, 7) und zur Überlegenheit
der Volkssprache (VE, 1, i, 4) als verfehlt, denn Dantes Pro-
jekt, besteht, wie der hier zu kommentierende Passus zeigt
Kommentar zu Kap. x, 10 193
§ 10
alcuno illitterato ••• laido fatto parere] In Weiterführung
des in ix, 3 ausgesprochenen Gedankens, daß die Gelehrten
ihre Bezeichnung eigentlich nicht verdienen, betitelt Dante
hier eine Person, die die lateinische Sprache beherrscht und
übersetzt, dabei aber nur imstande ist ein häßliches volgare
hervorzubringen, als illitterato. Auch dies bedeutet eine Um-
wertung eines herkömmlichen Standesbildes (zur herkömmli-
chen Bedeutung vgl. H. Grundmann, Litteratus-Illitteratus).
In Dantes „Kulturrevolution" wird somit auch das Ideal des
Gelehrten transformiert, denn nebst der unbedingt erforderli-
chen bonta de l'animo (ix, 5) gehört auch eine einwandfreie
und stilvolle Beherrschung der Volkssprache zu deren not-
wendigen Attributen.
come fece quelli .•• Taddeo ipocratista] Mit dem Bologne-
ser Medizinprofessor Taddeo Alderotti (1223-ca. 1295) nennt
Dante einen der wichtigen Kommentatoren der in viii, 5 er-
wähnten Tegni des Galen. Allerdings bezieht sich der Alighieri
durch die Bezeichnung 'ipocratista' auf die Rolle Alderottis
als Kommentator Hippokratischer Schriften. Vgl. Ders., Ex-
positiones in arduum aphorismorum Hippocratis volumen, in
divinum Hippocratis prognosticorum volumen, in praecl. regi-
194 Kommentar zu Kap. x, 10
§ 11
molti suoi accusatori ••• veritade] Dante hat in diesen und
den folgenden polemischen Zeilen vor allem seine italieni-
schen Landsleute im Visier, die andere Volkssprachen, insbe-
sondere aber das von ihm originell als 'lingua d'oco' (vgl.
ED, IV, 111-117) bezeichnete Provenzalische dem italieni-
schen volgare vorziehen. Nähere Erläuterungen zur Genese
und Verbreitung der lingua d'oco gibt Dante in VE (1, viii, 5-
): "Totum vero quod in Europa restat ab istis, tertium tenuit
ydioma, licet nunc tripharium videatur: nam alii oc, alii oi1,
alii si affirmando locuntur ... Istorum vero proferentes oc me-
ridionalis Europe tenent partem occidentalem, a lanuensium
finibus incipientes". Wie Dante weiter in VE (1, x, 2) disku-
tiert, beanspruchen die drei miteinander verwandten Sprachen
(oc, oi1 und si) für sich eine gewisse Vorrangstellung. In be-
zug auf die hier polemisch bekämpfte Position der Überlegen-
heit des oc heißt es: "Pro se vero argumentatur alia, scilicet
oc, quod vulgares eloquentes in ea primitus poetari sunt tan-
quam in perfectiori dulciorique loquela, ut puta Petrus de Al-
vernia et alii antiquiores doctores" .
Zu den „Anklägern" des Italienischen gehörte bereits Dan-
tes Lehrer Brunetto Latini, der die Langue d'oi1 dem Italieni-
schen vorzog. (Tresor, 1, i, 7; 18): "Et se aucuns demandoit
pour quoi cis livres est ecris en roumany, selon le raison de
France, puis ke nous somes italien, je diroie que c'est pour
.ii. raisons, l'une ke nous somes en France, l'autre por yOU
que la parleure est plus delitable et plus commune a tous lan-
gages". Vgl. auch eine Passage aus dem Tesoretto, XIV:
196 Kommentar zu Kap. x, 11
"Ma chi'l vorra trovare / cerchi nel gran Tesoro, Ch'io faro
per coloro I ch'hanno lo cor piU alto. Lo faro il gran salto /
per dirle piU distese I nella lingua franzese". A. Pezard sieht
in der Verleugnung der Muttersprache die in Inf., XV, 22-99
thematisierte Sünde Brunettos gegen die Natur, und nicht in
seiner Sodomie. Vgl. Ders„ Dante sous La pLuie, 113-130.
Für den Vorzug des Französischen vor allen anderen Volks-
sprachen vgl. auch die Aussage des Venezianers Martin da
Canale, Les estoires de Venise, I: "Et porce que lengue franc-
eise cort parmi le monde et est la plus delitable a lire et a oi'r
que nul autre, me sui je entremis de translater l' anciene estri-
re des Veneciens de latin en franceis". Zum Thema vgl. P.
Meyer, De L'expansion de La Langue franraise en Jtalie pen-
dant Le moyen iige.
Dante greift in diesem Passus und dem ganzen nächsten Ka-
pitel vor allem aber die Verteidiger des Provenzalischen an,
das in Italien lange Zeit als die Dichtersprache par excellence
gegolten hat und das auch Dante noch glaubt verdrängen zu
müssen. Der polemische Ton der Passage deutet darauf hin,
daß Dante bei seinem höfischen Publikum nicht nur die italie-
nische Sprache seines Kommentars gegen das Latein, sondern
auch die italiensiche Sprache seiner Kanzonen gegen die
Langue d'oc verteidigen muß. Die Polemik der nun folgenden
Passagen und vor allem des Kaptitels xi deutet daraufhin, daß
bei dieser Auseinandersetzung für Dante die Gunst des Publi-
kums auf dem Spiel steht. Einen Hinweis zu einzelenen Perso-
nen, gegen die sich Dante wendet, könnte eine Stelle in VE
geben, wo bemerkt wird, der italienische Dichter Sordello
hätte seine eigene Sprache zugunsten der Provenzalischen
Dichtersprache verlassen: "Sordellus ... qui, tantus eloquen-
tie vir existens, non solum poetando sed quomodocunque lo-
quendo patrium vulgare deseruit" (VE, I, xv, 2; vgl. auch
Purg., VI, 58f.; VII, 3-86; VIII, 43f.; IX, 58). So wie Sordel-
lus haben sehr viele italienische Dichter die provenzalische
Sprache der italienischen vorgezogen (Zusammengestellt bei
Kommentar zu Kap. x, 11 197
§§ 12-13
Die beiden folgenden Paragraphen thematisieren die durch
den Kommentar aktualisierte Güte(§ 12) und Schönheit(§ 13)
der Volkssprache. In Conv., 1, i, 14 hatte Dante erklärt, daß,
ohne Kommentar, eher die Schönheit als die Güte der Kanzo-
nen zur Geltung gelange, so daß ihre Auslegung nötig sei, um
die Liebe und die Tugend, aus denen sie gebildet sind, ans
Licht zu bringen. Die beiden hier zu kommentierenden Para-
graphen ergänzen dieses Unternehmen und dokumentieren,
daß der Kommentar an sich auch einen eigenständigen Wert
hat, insofern er die Tugend und Schönheit der Volkssprache in
der Prosa manifestieren soll. Es geht also Dante im Conv.
nicht nur um die Auslegung seiner Kanzonen, sondern auch
um die Freilegung der wahren Werte der Volkssprache als
allgemeine Schriftsprache durch den Kommentar, der in die-
sem Sinne zu den Kanzonen als selbständiger Teil hinzu-
kommt. Damit ist auch gezeigt, daß Dante hier im Conv. aber
auch in VE nicht nur an einer Verteidigung der Volkssprache
als Sprache des Dichtens gelegen ist, sondern daß er eine Pro-
sa und Poesie umfassende, integrale Schriftsprache, die
„neueste" und „erhabenste" Gedanken „quasi" wie das Latein
artikulieren kann(§ 12), schaffen will. Eine Sprache voll von
„dolcissima e d'amabilissima bellezza" (§ 13).
Kommentar zu Kap. x, 12.13 199
§ 12
la gran bontade del volgare ••• manifestare] Die Aussage,
daß die italienische Volkssprache erhabenste und neuste Ge-
danken adäquat „quasi come per esso latino" zum Ausdruck
bringen kann, kommt, angesichts der z. B. im Kommentar zu
1, v, 12 zitierten und für die negative Einstellung zum volgare
seitens der Scholastik repräsentative Stelle von Aegidius Rom-
anus, einer Angleichung der beiden Sprachen sehr nahe. Die
bisher nur der Möglichkeit nach bestehende „bontade" der
italiensichen Volkssprache (1, x, 9) will Dante durch seinen
Kommentar aktualisieren. Es ist also nicht irgendeine Volks-
sprache, die die hier angewandten Prädikate verdient, sondern
es ist die von Dante selbst gestaltete und geschaffene.
[si veclra] Für Textkritik vgl. Vasoli, Kommentar zur Stelle.
[la quale no si ••• medesima] Dante rechtfertigt hier, wes-
halb die Güte der Volkssprache in den Kanzonen selbst noch
nicht vollumfänglich zum Ausdruck gelangen konnte und es
zur Darstellung von deren Tugend eines Kommentars bedarf.
Die Stelle mag erläutern, weshalb Dante bis ans Ende seines
Lebens nebst der Commedia, für die die Einschränkung des
Verbergens der Gedanken hinter poetischen Verzierungen
ebenfalls gilt, auch theoretische Prosatexte verfaßt hat. Die
Epistola XIII, deren lectio-Teil einen Kommentar zur Com-
media darstellt, steht in Übereinstimmung zu dem hier geäu-
ßerten Sachverhalt.
[la quale non si pote bene manifestare] Für diese Interpo-
lation vgl. Simonelli, Materiali, 59.
§ 13
Onde chi vuole ••• amabilissima bellezza] Der Vergleich
des Kommentierens des poetischen Textes mit der Entblößung
der Frau bis auf ihre natürliche Schönheit und die dadurch
insinuierte Darlegung der „nackten" Wahrheit im Kommentar
hat diskret erotische Züge, mit denen Dante sein philosophi-
sches Unternehmen noch öfters anreichern wird.
200 Kommentar zu Kap. x, 14; xi
§ 14
Dieser Paragraph leitet über zum nächsten Kapitel. Dante
greift einen Aspekt der Liebe zur Volkssprache auf, nämlich
deren Verteidigung, die er in einem speziellen Kapitel durch
das ausführliche Darstellen der Fehlerhaftigkeit und Schlech-
tigkeit der Absicht der Ankläger ergänzt und verstärkt.
Ma pero ehe virtuosissimo ..• accusatore] Eine Erwäh-
nung der Strategie der Verteidigung durch Anklage der Anklä-
ger findet sich in der Rhetorica ad Herennium, II, 9:
"Defensoris proprius locus est cum ... accusatorem calumni-
ari criminatur" .
Kapitel xi
§2
Dante führt die Haltung der Feinde der italienischen Volks-
sprache auf fünf Ursachen oder Laster zurück und verteidigt
das volgare, indem er den Anklägern böse Absicht unterstellt.
Er wirft ihnen Blindheit des geistigen Unterscheidungsvermö-
gens (cechitade di discrezione), unlautere Ausreden (maliziata
202 Kommentar zu Kap. xi, 2
caritati, per quam est vita animae spiritualis ... Utriusque enim
obiectum, et caritatis et invidiae, est bonum proximi, sed sec-
undum contrarium motum: nam caritas gaudet de bono proxi-
mi, invidia autem de eodem tristatur „. Unde manifestum est
quod invidia ex suo genere est peccatum mortale". (Sum.
theol., 11-11, 36, 3). Vor dem Hintergrund dieser Morallehre
verliert Dantes Kapitel den Charakter einer theoretischen Aus-
einandersetzung mit seinen Gegnern und muß als äußerst
scharfe Invektive und moralische Verurteilung gedeutet wer-
den. Obschon die Vorwürfe an die Feinde der Volkssprache
nicht genau mit den später in Inf., V-VIII behandelten, sieben
Lastern übereinstimmen, so zeigen doch die oben dargelegten
Beziehungen und Überschneidungen der den Anklägern der
Volkssprache vorgeworfenen Laster und der traditionellen
Hauptlaster, daß Dante in Kapitel xi „zur immerwährenden
Schmach und Erniedrigung" seiner Gegner auf den Ge-
schmack der Inszenierung eines kleinen Inferno gekommen ist.
§§ 3-10
In diesem Abschnitt erläutert Dante die Blindheit des geisti-
gen Unterscheidungsvermögens als erste Ursache der Anklage
gegen die Volkssprache (siehe Kommentar zu Kapitel xi).
§3
la parte sensitiva .„ discrezione] Dantes Erläuterung der
Blindheit des geistigen Unterscheidungsvermögen beruht auf
einer mit der Augenmetapher veranschaulichten Analogie
zwischen einer Fehlleistung des sinnlichen und des intelligi-
blen Teils der Seele. So wie die Farben die Unterscheidbarkeit
der Dinge in bezug auf ihre sinnliche Wahrnehmung kon-
stituieren, so beruht die intelligible Unterscheidung der Dinge
auf der Erkenntnis ihrer teleologischen Bestimmung. Die An-
wendung der Augenmetapher zur Erläuterung der ver-
schiedenen Vermögen der Seele geht zurück auf Aristoteles'
De anima, II, 1: „Wäre das Auge ein Lebewesen, so wäre die
Kommentar zu Kap. xi, 3 205
Sehkraft seine Seele. Denn jene ist die Wesenheit des Auges im
begrifflichen Sinne. Das Auge aber ist Materie der Sehkraft,
und wenn letztere schwindet, ist es nur noch der Bezeichnung
nach Auge, wie das steinerne oder das gemalte. Was sich am
Teil zeigt, muß man am ganzen lebenden Körper begreifen.
Denn wie sich Teil (Sehkraft) zum Teil (Auge) verhält, so
entsprechend das gesamte Wahrnehmungsvermögen zum gan-
zen wahrnehmunsfähigen Körper, insofern er ein solcher ist.
( ... ) Aber wie die Pupille und die Sehkraft zusammen das
Auge sind, so sind die Seele und der Körper zusammen das
Lebewesen" (412b16-413a4; Theiler, 25). Entsprechend wird
die sinnliche Wahrnehmung anhand des Gesichtssinnes veran-
schaulicht, der laut Aristoteles auf die Unterscheidung von
Farben ausgerichtet ist: "Worauf nun der Gesichtssinn sich
richtet, ist das Sichtbare. Sichtbar ist . . . hauptsächlich die
Farbe, d. h. der Oberbegriff für das an sich Sichtbare" (De
anima, II, 7: 418a27-b30).
Auch die von Dante angewandte Unterscheidung zwischen
dem sinnlichen und dem intelligiblen Teil der Seele ist aristo-
telisches Gedankengut und beruht auf der Unterscheidung ver-
schiedener Vermögen und Tätigkeiten der Seele. Vgl. dazu
Thomas von Aquino, Sent. De an., II, 5; 88: „Operationes
igitur que competunt viventi secundum esse materiale sunt
operationes que attribuuntur anime vegetabili, que tarnen, li-
cet ad id ordinentur ad quod etiam ordinantur actiones in rebus
inanimatis, scilicet ad consequendum esse et conservandum,
tarnen in viventibus hoc fit per altiorem et nobiliorem modum.
( ... ) Operationes autem que attribuuntur rebus viventibus sec-
undum esse penitus inmateriale pertinent ad partem anime in-
tellectiuam. Que uero attribuuntur eis secundum esse medium
pertinent ad partem anime sensitivam. Et secundum hoc tri-
plex esse distinguitur communiter triplex anima, scilicet vege-
tabilis, sensibilis et rationalis".
Auch Dantes analoge Verbindung des körperlichen Sehens
mit dem geistigen kennt eine lange Tradition (vgl. supra Korn-
206 Kommentar zu Kap. xi, 3
§4
va sempre ••• lo bene] Zur Textkritik vgl. Vasoli, Kom-
mentar zur Stelle.
ne suo giudicio ..• grido] Die Blinden sind gezwungen, sich
nach akustischen Signalen zu orientieren. Dante spricht den
Anklägern der Volkssprache das eigene Urteilsvermögen ab
und bezichtigt sie, einem allgemeinen Geschrei zu folgen.
Gemäß diesem Bild gestaltet er die §§ 5-8 und bezeichnet die
Kritik am italienischen volgare als Geschrei.
'l cieco al cieco ••• fossa] Matth., 15, 14: „caeci sunt et
duces caecorum; caecus autem si caeco ducatum praestet,
ambo in foveam cadunt". Vgl. auch Purg., XVIII, 18:
„l'error de' ciechi ehe si fanno duci". („Der Trug der Blin-
den, die uns führen wollen").
§5
ciechi ... sono quasi infiniti] Eccle., I, 15: „stultorum infi-
nitus est numerus".
§6
De l'abito .•. ad altro non intendono] Die Blindheit des
Geistes, von den fünf Lastern moralisch das harmloseste, wirft
Dante vor allem den populari persone vor, die einem Beruf
nachgehen müssen und keine Zeit haben, sich selbst intellek-
tuell zu betätigen. Dante bezieht seine Invektive folglich auf
dieselben Personen, deren Unwissenheit er in I, i, 5 für ent-
schuldbar hielt und die er in I, i, 4; 13 mit großzügiger Geste
zu seinem Gastmahl geladen hat. Der Alighieri bekundet also
ein eher zwiespältiges Verhältnis zu seinem Publikum, denn er
greift hier die Leute an, die er eigentlich belehren und aus ihrer
geistigen Not befreien will. Im nächsten Paragraphen präzi-
siert er, daß es sich bei der Tätigkeit, die von der Ausübung der
Tugend abhält, um das Handwerk handelt. Wird diese Aussage
mit jener Stelle in I, ix, 5 konfrontiert, wo Dante sein Publi-
kum explizit als „principi, baroni, cavalieri e molt 'altra nobile
208 Kommentar zu Kap. xi, 7 .8
§7
l'abito di vertude ••• acquisti] Nach Aristoteles ist Tugend
sowohl als moralische wie auch als intellektuelle Qualität der
Seele das Resultat ständiger und wiederholter Einübung und
Belehrung. Vgl. Eth. Nie., 1, 13; 1103a3-II, 1; 1103a18; Gi-
gon, 80f.: "Auch die Tugend wird nun auf Grund dieser Un-
terscheidung aufgeteilt. Denn die einen Tugenden nennen wir
verstandesmäßige, die anderen ethische: verstandesmäßige
sind etwa die Weisheit, Auffassungsgabe und Klugheit, ethi-
sche die Großzügigkeit und Besonnenheit.... Die Tugend ist
von doppelter Art, verstandesmäßig und ethisch. Die verstan-
desmäßige Tugend entsteht und wächst zum größeren Teil
durch Belehrung; darum bedarf sie der Erfahrung und der Zeit.
Die ethische dagegen ergibt sich aus der Gewohnheit". Mit
dieser im Vergleich zur platonischen Lehre der eingeborenen
Ideen oder der christlichen Lehre der Prophetie eher dieseiti-
gen Lehre des Erwerbens von Wissen begründet Dante, wes-
halb diejenigen, die durch ihre tägliche Beschäftigung von der
Wissenschaft abgehalten werden, nicht über das nötige geistige
Unterscheidungsvermögen verfügen.
§8
gridano Viva ••• loro vita] Diese Stelle zitiert N. Machia-
velli wörtlich in seinen Discorsi, gibt aber fälschlicherweise
die Mon. als Quelle an: "E Dante dice a questo proposito, nel
discorso suo ehe fa De Monarchia, ehe il popolo molte volte
grida: Viva la sua morte! e Muoia la sua vital" (Discorsi, 1, c.
53; 134).
Kommentar zu Kap. xi, 9.11-14.13 209
§9
da chiamare pecore, e non uomini] Ein von Dante auch
andernorts verwendetes Motiv. Vgl. II, vii, 4: „quelle ehe
hanno apparenza umana e spirito di pecora". Ferner Par., V,
80: „uomini siate, e non pecore matte". („Zeigt euch als Men-
schen, nicht als Kleivieh)". Mit etwas anderer Wertung ver-
wendet Dante das Motiv auch in Purg., III, 79-84: „Come le
pecorelle escon del chiuso / ... e cio ehe fa la prima, e l'altre
fanno / addossandosi a lei, s'ella s'arresta, semplici e quete, e
lo 'mpercbe non sanno". („So wie die Schafe aus der Hürde
treten, eines ums andere, und noch viele stehen, schüchtern
den Kopf zu Boden aud die Augen; ... Und was das erste tat,
tun auch die andern, zusammenrückend, wenn es stehen blei-
bet, einfältig, still, ohne den Grund zu wissen").
§§ 11-14
Die in diesem Abschnitt zur Sprache kommende verdrehte
Entschuldigung, die zweite Ursache der niederträchtigen Hal-
tung der Ankläger (vgl. Einleitung zum Kapitel), besteht in
einer unlauteren Schuldzuweisung des vermeintlichen Mei-
sters an sein Material, was Dante am Beispiel des schlechten
Schmieds, Zitherspielers und volkssprachlichen Redners dar-
legt.
§ 13
E chi voule ••• scusare] Dante äußerte bereits in 1, x, 12 die
Absicht, durch seinen Kommentar die wahre Güte und Schön-
heit der Volkssprache zu offenbaren. Wenn er nun ihre Ver-
ächter auffordert, die Werke der guten „Handwerker" zu
210 Kommentar zu Kap. xi, 14
§ 14
grida Tullio ... Beni] Dante konstruiert eine Parallele zwi-
schen der Auseinandersetzung der römischen Antike um Grie-
chisch und Latein und dem Streit um den Vorrang der
italienischen oder provenzalisch Volkssprache. Er kann sich
so bei seiner Polemik auf keinen geringeren als Cicero beru-
fen, der im ersten Buch von De finibus den Gegnern des La-
teins als Schrift-und Bildungssprache sowie der Übersetzung
der griechischen Philosophie ins Lateinische entschieden ent-
gegentritt. Vgl. De fin., 1, ii, 4-6: "Iis igitur est difficilius
satisfacere, qui se Latine scripta dicunt contemnere. In quibus
hoc primum est in quo admirer, cur in gravissimis rebus non
delectet eos sermo patrius, cum iidem fabellas Latinas ad ver-
bum e Graecis expressas non inviti legant. Quis enim tarn
inimicus paene nomini Romano est, qui Enni Medeam aut
Antiopam Pacuui spernat aut reiciat, quod se iisdem Euripidis
fabulis delectari dicat, Latinas litteras oderit? . . . A quibus
tantum dissentio, ut cum Sophocles vel optime scripserit Elec-
tram, tarnen male conversam Atili mihi legendam putem ( ... )
Rudern enim esse omnino in nostris poetis aut inertissimi seg-
nitiae est aut fastidi delicatissimi. Mihi quidem non illi satis
eruditi videntur, quibus in nostra ignota sunt ... Quodsi Graeci
leguntur a Graecis isdem de rebus alia ratione compositis,
quid est, cur nostri a nostris non legantur?".
Die Schwierigkeit des dem Griechischen unterlegenen La-
teins kommt auch in den academici libri zur Sprache, wo Ci-
cero am Anfang des ersten Buches Varro die Erläuterung des
Dilemmas in den Mund legt, daß gebildete Leute die philoso-
phischen Texte lieber auf Griechisch lesen, Ungebildete sich
aber auch nicht für die lateinischen Übertragungen interessie-
ren würden: "nam cum philosophiam viderem diligentissime
Kommentar zu Kap. xi, 14 211
§ 15
vanagloria] Zu 'vanagloria' vgl. Komm. zu§ 2.
§§ 16-17
Der in diesen beiden Paragraphen behandelte vierte Vor-
wurf der Eifersucht ist der herkömmlichen mittelalterlichen
Tugendlehre zufolge der schwerwiegendste, denn die invidia
ist eine Todsünde, die mit ewiger Verdammnis bestraft wird.
Si come e detto sopra ..• paritade] vgl. I, iv, 6. Vgl. supra
Kommentar zur Stelle. Dante bezieht den aristotelischen Ge-
dankens, daß Eifersucht zwischen Menschen relativer Gleich-
heit entsteht, auf die Menschen, die die gleiche Volkssprache
unterschiedlich gut beherrschen.
§ 17
Der Neidische verfemt nicht direkt seinen Rivalen, sondern
die Materie seines Kunstwerks. Dante führt diesen Gedanken
nicht aus, es ist jedoch offensichtlich, daß er dies auf die Ver-
ächter der Volkssprache bezieht, die den besseren Redner
durch die Geringschätzung seiner Sprache zu schmähen versu-
chen. Da sich Dante in I, iv zur Rechtfertigung des Sprechens
von sich selbst bereits ausführlich zu seinen Neidern geäußert
hat, kann auch diese Passage auf eigene Erfahrungen des Flo-
rentiners bezogen werden.
§§ 18-21
Der letzte Abschnitt des Kapitels ist der Feigheit des Gei-
stes, dem Kleinmut, gewidmet, den Dante als Gegenteil der
aristotelischen Tugend der magnanimitas darstellt.
§ 18
lo magnanimo •.. ehe non e] Für die direkte Entgegenset-
zung des magnanimo und des pusillanimo, aber nicht für eine
wörtliche Abhängigkeit, vgl. Thomas von Aquino, Sum. the-
ol., II-II, 133, 2: „sicut magnanimus ex animi magnitudine
tendit ad magna, ita pusillanimus ax animi parvitate se retrahit
a magnis".
Kommentar zu Kap. xi, 19.20 213
§ 19
magnificare e parvificare •.• maggiori] M. Corti (La.feli-
cita mentale, lOOff.) hat mit Nachdruck auf das Liber Ethi-
corum, ein von Hermann dem Deutschen aus der arabischen
Ethik-Übersetzung zusammengestelltes, lateinisches Ethik-
Compendium, als direkte Aristotelische Quelle hingewiesen.
Cortis Ausführungen überzeugen deshalb nicht, weil im Ari-
stotelischen Text die direkte Opposition zwischen magnani-
mitas und pusillanimitas nirgends so konstruiert ist wie im
Conv. Dante konzipiert die Großmut und den Kleinmut sym-
metrisch je als Übersteigerung und Untertreibung in bezug auf
eine Sache, wogegen bei Aristoteles die Großmut an sich kei-
ne Untugend ist, denn der wahrhaft Großmütige entspricht
deren Anforderungen. Für Aristoteles ist „der Großgesinnte
dem Sollen nach eine Mitte, (denn er schätzt sich richtig ein)"
(1123b13-14; Gigon, 137).
Cortis Ausführungen sollen zeigen, daß Dante das Liber
Ethicorum als Quelle benützt hat. Es handelt sich aber bei der
ganzen Thematik um viel diskutierte topoi der Tugendlehre, so
daß der Nachweis direkter literaler Abhängigkeiten mit äußer-
ster Vorsicht zu genießen ist. Dies zeigt auch die von M. Corti
selbst zitierte Passage aus Brunetto Latinis Tresor: „Et magna-
nimites est extremites en comparison de la chose, mes en com-
parison de l'oeuvre est mi". (II, 23; 194). Außerdem tritt das
von Dante verwendete seltene Verb 'parvificare' in der Gros-
seteste-Version auf (1107b20; 1122b8; 1163a14; vgl. dazuF.
Brambilla, Alcuni termini del latino medioevale nel volgare de/
Convivio, 9f.), was Cortis Angabe des Liber Ethicorum als
ausschließliche Quelle ebenfalls als fragwürdig erscheinen
läßt. Zu 'magnanimita' allgemein vgl. R.-A. Gauthier, Ma-
gnanimite; F. Porti, Magnanimitade; M. Corti, La. felicita
mentale, 44-53.
§ 20
l'uomo misura ••• parte i se medesimo] Vgl. Thomas von
Aquino, In Met., X, l. 2, N. 1959: „Sed Protagoras dixit
214 Kommentar zu Kap. xi, 21; xii-xiii
§ 21
li abominevoli cattivi ... adulteri] Zum Schluß des Kapi-
tels holt Dante noch einmal zu einer gehörigen Verfluchung
der italienischen Ankläger der eigenen Volkssprache aus und
fügt ihren bereits erläuterten Lastern noch den Vorwurf der
Prostitution und des Ehebruchs hinzu.
Kapitel xii-xiii
Kapitel xii
§§ 1-2
Dantes Liebe zur Volkssprache ist so offensichtlich wie das
innere Feuer eines brennenden Hauses und bedürfte eigentlich
keiner weiteren Begründung. Daß er seine Ausführungen den-
noch weiterführt, rechtfertigt Dante mit der zu erläuternden
Tatsache, daß nicht nur Liebe, sondern vollkommene Liebe
zur Volkssprache in ihm sei. Er will seinen Gegnern zeigen,
warum er zum Freund der Volkssprache gemacht und wie er
in seiner Freundschaft zu ihr bestärkt wurde.
§3
In diesem Paragraphen nennt Dante die zwei erzeugenden
(Nähe und Güte) und drei vermehrenden Ursachen (Wohltat,
Streben und Gewohnheit) seiner Liebe zur Volkssprache und
legt damit die Struktur der beiden letzten Kapitel seines langen
Prologs zum Conv. fest.
216 Kommentar zu Kap. xii, 3
§§ 4-7
In diesem Abschnitt erläutert Dante die erste der zwei erzeu-
genden Ursachen seiner Liebe zur Volkssprache, nämlich die
Nähe, als Verbundenheit in höherem Maße (altrui epiu uni-
ta), wobei diese Beziehung nicht näher präzisiert, sondern
anhand von vier Beispielen dargestellt wird (Vater-Sohn;
Medizin-Arzt; Musik-Musiker; Aufenthaltsort-Mensch). Auf
deren gemeinsame Logik weist Dante hin, indem er in § 5 die
Volkssprache als die erste Sprache im Geiste der Menschen
per se und in bezug auf die Relation mit anderen Menschen per
accidente bezeichnet. Ähnlich stellen das erste und das vierte
Beispiel eine akzidentelle Nähe dar, denn die Beziehung des
Vaters zum Sohn gehört als Relation zu den Akzidenzien und
der Aufenthaltsort der Menschen an einem bestimmten Ort ist
zufällig. Die Medizin und die Musik hingegen sind Künste
und als solche sind sie als Habitus in der Seele des Künstlers
und betreffen ein vernunftmäßiges Hervorbringen, das als
solches zwar Gegenstände betrifft, die so oder anders sein
können, das aber als von Prinzipien geleitetes, „wesenhaft mit
Vernunft verbundenes hervorbringendes Verhalten" (1140a6;
Gigon, 185) in der Seele des Hervorbringenden bejahend oder
verneinend die Wahrheit betrifft (1139b15; Gigon, 184), und
von dem es eine Vollkommenheit geben kann. (Für die ganze
Lehre vgl. Eth. Nie., VI, 3-5). Deshalb kann davon ausgegan-
gen werden, daß Dante durch die beiden Beispiele, die die
Kunst im Verhältnis zum Künstler betreffen, den in § 5 ge-
nannten ontologischen Status per se der Sprache in der Seele
exemplifiziert und daß durch die Beispiele der Relation des
Vaters zum Sohn und des Menschen zu seinem Aufenthaltsort
eine besondere Verbindung per accidens bezeichnet wird, die
Dante in§ 5 in der Thematisierung der Vereinigung der Per-
sonen der gleichen Familie und des gleichen Ortes durch die
gemeinsame Volkssprache als Verbindung „per accidente"
auf das Problem der Volkssprache anwendet. Dante begründet
in§ 5 die größere Verbundenheit der Volkssprache mit ihrem
220 Kommentar zu Kap. xii, 5.7
§§ 8-13
In den verbleibenden Paragraphen des Kapitels erläutert
Dante, wiederum in einem sehr klar strukturierten Gedanken-
gang, warum die Gutheit der Volkssprache seine Liebe zu ihr
erzeugt habe. Ähnlich wie bei der Argumentation zur Nähe
beginnt er in § 8 die Begründung der Gutheit mit einem Prin-
zip, das im Argument als Maior dient und das er durch vier
Beispiele erläutert. Liebenswert macht ein jedes Ding seine je
eigene Gutheit. In der Bestimmung der eigentümlichen Güte
eines jeden Dinges, die für Dante in der Erfüllung einer be-
stimmten Zweckbestimmung besteht, stützt er sich wie schon
in I, v, 11 auf einen teleologischen Gedankengang. Die§§ 9-
12, die sich diesem ersten Teil der Beweisführung anschließen,
liegen außerhalb von Dantes Argumentationsduktus (Dante
bemerkt deshalb im zweiten Teil von § 12, daß er nun wieder
zum Gegenstand der Erläuterung zurückkehre), denn sie deh-
nen die Bestimmung der eigentümlichen Gutheit exkursartig
auf den Menschen überhaupt aus, für den diese in der Gerech-
tigkeit besteht. Dante nimmt diese Abschweifung zum Anlaß,
um mit dem Hinweis auf die Ungerechtigkeit als Gegenteil der
höchsten Tugend des Menschen sein Sprechen von sich selbst
zu entschuldigen (§ 11) und um auf die noch ausstehende Er-
läuterung der Gerechtigkeit im vierzehnten Traktat des Conv.
hinzuweisen(§ 12). Seinen Beweis wieder aufnehmend, be-
stimmt Dante in § 13 als minor des Schlußes die eigentümliche
Gutheit der Sprache als gute Darstellung des Gedankens und
beansprucht unter Verweis auf ein früheres Argument diese
auch für die Volkssprache, womit er an I, x, 12 anknüpft.
Freilich zeigt dieser Zusammenhang der Stellen auch eine ge-
wisse Ambiguität auf, zwischen der Gutheit der Volkssprache,
für die Dante durch seinen Kommentar zuallererst den Tatbe-
weis erbringen will, und der bereits allgemein verbreiteten
italienischen Volkssprache, die Dantes Liebe erweckt haben
soll. Wenn Dante nämlich in I, x, 12 sagt, daß er mit seinem
Kommentar nun einmal zeigen will, wie erhabene und uner-
222 Kommentar zu Kap. xii, 8
§8
ogni bontade ... amabile in quella] Der Gedanke, daß die
eigentümliche Güte eines Dinges dieses liebenswert macht,
sowie der daraus abgeleitete Komparativ, daß die Liebens-
würdigkeit entsprechend der Gutheit zunimmt, findet sich
auch bei Thomas von Aquino, Sent. Eth., X, 11; 588: „illud
enim quod est optimum secundum naturam in unoquoque est
maxime proprium sibi; quod autem est optimum et proprium,
consequens est quod sit delectabilissimum, quia unusquisque
delectatur in boni sibi convenienti".
veltro] Der Jagdhund, der hier im Conv. als ein scheinbar
belangloses Beispiel dient, bekommt später im Werk Dantes
durch die Prophezeiung von lnf, 1, 101-111, wo der veltro die
den Geiz und die Habgier versinnbildlichende Wölfin tötet,
eine allegorische Bedeutung als Erlöser- und Reformfigur, die
in der Dante-Rezeption bereits seit den dreißiger Jahren des
14. Jahrhunderts unter dem Einfluß chiliastischen undjoachi-
mitischen Gedankenguts mit verschiedensten Personen identi-
fiziert worden ist, deren genaue Bedeutung aber unbestimmt
bleibt (vgl. ED, V, 908-912). Für eine poetisch-bildhafte Ver-
wendung von 'veltro' vgl. auch lnf„ XIII, 124-126: „Diretro
a loro era la selva piena / di nere cagne, bramose e correnti /
come vel tri eh' uscisser di catena" . ( „Und hinter ihnen war der
Wald bevölkert/ von wilden, schwarzen Hündinnen, die lie-
fen/ wie Doggen, von der Kette losgelassen). Vgl. auch Rime,
Kommentar zu Kap. xii, 9 223
§9
ciascuna vertu ••. ne l'uomo] Daß jede Tugend des Men-
schen liebenswert ist, ist eine Folge des vorangehenden Prin-
zips, daß die Gutheit ein Ding liebenswert mache, und der
Aristotelischen Tugendlehre, wonach jede Tugend zur Gutheit
des Menschen beiträgt: „hominis virtus erit utique habitus ex
quo bonus homo fit et a quo bene opus suum reddit" (Eth.
Nie., II, 5; 169).
epfü umana, e questa e la giustizia] Aristoteles bezeichnet
in Eth. Nie., V, 2 die Gerechtigkeit als die vollkommene Tu-
gend des Menschen: „Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene
Tugend, aber nicht schlechthin, sondern im Hinblick auf den
anderen Menschen. Darum gilt die Gerechtigkeit vielfach als
die vornehmste der Tugenden, und 'weder Abendstern noch
Morgenstern sind derart wunderbar', und im Sprichwort sagt
man: 'In der Gerechtigkeit ist alle Tugend zusammengefaßt.'
Sie gilt vor allem als die vollkommene Tugend, weil sie die
Anwendung der vollkommenen Tugend ist. Vollkommen ist
sie, weil der, der sie besitzt, die Tugend auch dem andern
gegenüber anwenden kann und nicht nur für sich" (Gigon,
155).
Ein Vergleich der Tugenden im Hinblick auf deren Mensch-
lichkeit und die Bezeichnung der dem rationalen Teil der Seele
zugeordneten Gerechtigkeit als "magis humana" findet sich in
der Ethiea Alberts des Großen: "iustitia est in ratione, non
secundum quod habet ordinationem ad potentias inferiores,
quia sie est in ipsa prudentia, sed secundum quod habet ordi-
nem ad exteriora, et ideo etiam iustitia est magis humana quam
224 Kommentar zu Kap. xii, 10
§ 10
si come dice lo Filosofo] Wie schon P. Toynbee (Studies
and Researches, 245f.) gezeigt hat, findet sich inEth. Nie., V
keine mit der Aussage Dantes übereinstimmende Stelle, wohl
aber im De off. (II, xi, 40) Ciceros: „Atque iis etiam qui
vendunt, emunt, conducunt, locant contrahendisque negotiis
implicantur, iustitia ad rem gerendam necessaria est, cuius
tanta vis est, ut ne illi quidem, qui maleficio et scelere pascun-
tur, possint sine ulla particula iustitiae vivere. Nam qui eorum
cuipiam, qui una latrocinantur, furantur aliquid aut eripit, is
sibi ne in latrocinio quidem relinquit locum; ille autem qui
archipirata dicitur, nisi aequaliter praedam dispertiat, aut in-
terficiatur a sociis aut relinquatur: quin etiam leges latronum
esse dicuntur quibus pareant, quam obseruent".
Es darf angenommen werden, daß Dante den irrtümlichen
Verweis auf Aristoteles aus dem Gedächtnis vorbrachte und
ein Stelle, die er wahrscheinlich von Cicero kannte, Aristote-
les zuschrieb. M. Corti (Lafelicita mentale, 104f.) brachte die
Meinung vor, Dante hätte den Passus im Tresor an einer Stelle
gefunden, die er für aristotelisch hielt, die Brunetto aber dem
Liber Ethicorum entnommen hätte. Die von M. Corti vorge-
tragenen Passagen enthalten aber den von Dante vollzogenen
und bei Cicero nachzulesenden Gedanken der Gerechtigkeit
der Diebe und Räuber nicht. Wohl aber eine ebenfalls von
Corti signalisierte Stelle im Tresor (II, 91, 2) des Brunetto
Kommentar zu Kap. xii, 11 225
§ 11
Li quali sono •.• e leale] Dante nimmt in diesem Paragra-
phen die Thematisierung der Gerechtigkeit als höchster Tu-
gend sowie ihres Gegenteil als am meisten gehaßte Schmach
zum Anlaß, um noch einmal auf seine in 1, ii-iv vorgetragene
Rechtfertigung des Sprechens von sich selbst des ungerecht
Behandelten aufmerksam zu machen. Für Angaben, auf wel-
che Tradition sich die Bemerkung 'si concede da lunga usan-
za' bezieht, vgl. Kommentar zu 1, ii, 3; 12-17.
226 Kommentar zu Kap. xii, 12
§ 12
Di questa vertu •.• proposito] In I, i, legt Dante dar, daß er
durch sein allgemeines, aus 14 Gängen bestehendes Gastmahl
diejenigen zur Wissenschaft führen will, die bisher von ihr
ausgeschlossen waren. Im Kommentar zu I, i, 14 wurde bereits
auf die zahlensymbolischen Implikationen dieses den Men-
schen in 14 Teilen zur Vollkommenheit führenden wissen-
schaftlichen Unternehmens hingewiesen. Die hier gemachte
Bemerkung Dantes, daß er im 14. und letzten Buch über die
Gerechtigkeit, die vollkommene und am meisten geliebte Tu-
gend (vgl. I, xii, 9 und Kommentar), handeln will, fügt sich
nahtlos in dieses zahlensymbolische Interpretation ein. Das in
14 Büchern den Menschen zur Vollkommenheit führende wis-
senschaftliche Itinerarium für solche Menschen, die normaler-
weise davon ausgeschlossen sind, hätte, wäre das Werk nicht
unvollendet geblieben, im 14. Buch durch die Behandlung der
vollkommenen Tugend seinen Abschluß gefunden. Erneut
wird darin Dantes den Primat des Praktischen vertretende Kon-
zeption der Philosophie deutlich. Der Mensch findet die Voll-
kommenheit in der höchsten Tugend des Verhaltens sich selber
und anderen gegenüber; zu diesem Status hätte das Conv. im
Falle seiner Vollendung die Lesenden führen sollen.
Wenn die Thematisierung der Gerechtigkeit als höchster
menschlicher Tugend und als höchster Abschluß des Conv. mit
Dantes Äußerungen zur Commedia in der Ep. XIII, 24-25
konfrontiert wird, so tritt hervor, inwiefern der Florentiner in
der Commedia ein viel ehrgeizigeres Unternehmen verfolgt. In
der wörtlichen Bedeutung zeigt die Commedia den Status der
Seelen nach dem Tode (§ 24; vgl. Ricklin, Kommentar zur
Stelle); in der allegorischen Auslegung zeigt diese Jenseits-
schau dem diesseitigen Menschen, inwiefern er der belohnen-
den und strafenden Gerechtigkeit unterworfen sein wird: „Si
vero accipiatur opus allegorice, subiectum est homo prout
merendo et demerendo per arbitrii libertatem iustitie premian-
di et puniendi obnoxius est". (§ 25). Dante stellt sich, laut Ep.
Kommentar zu Kap. xii, 13; xiii, 1 227
Kapitel xiii
§1
In diesem eine strukturierende Funktion ausübenden Para-
graphen wird kurz zusammengefaßt, was im vorangehenden
Kapitel dargelegt wurde, nämlich die zwei erzeugenden Ursa-
228 Kommentar zu Kap. xiii, 2-5.2
§§ 2-5
Die Behandlung der Wohltat als vermehrender Ursache sei-
ner Liebe zur Volkssprache beginnt Dante in § 2 mit einer
Bestimmung der besten Wohltat als Vervollkommnung eines
Dinges, die im Falle des Menschen aus seinem Sein und seinem
Gutsein besteht(§ 3). Diese Argumentation, die in den Bahnen
der aristotelischen Schulphilosophie verläuft, nimmt in § 4 ein
für Dante typische Wende durch die Übertragung auf eine
Thematik, die im traditionellen Diskurs nie berücksichtigt
worden ist. Dante wendet die der aristotelischen Teleologie
und Ontologie folgende Bestimmung der Wohltat als Vervoll-
kommnung eines Dinges auf seine Beziehung zur Volkssprache
an, indem er, unter Rückgriff auf die aristotelische Lehre der
Kausalität, das volgare als „ Vermählerin" seiner Eltern, als
Ursache seiner Existenz (§ 4), und als Wegbereiterin seiner
Wissenschaft, das heißt als Ursache seines Gutseins (§ 5) und
somit seiner Vollkommenheit ausweist.
Die ungewöhnliche Anwendung von traditionellen Elemen-
ten der Schulphilosophie auf neue Argumentationsziele ist ein
grundsätzliches Merkmal der Philosophie Dantes. Deshalb ge-
nügt es zur Charakterisierung seiner Lehre nicht, daß einzelne
Argumentationselemente isoliert auf scholastische Quellen zu-
rückgeführt und mit der Lehre des jeweiligen Autors identifi-
ziert werden. Erst eine adäquate Analyse der Funktion des
jeweiligen Zitats vermag Dantes Lehre in ihrem, meist origi-
nellen, Gehalt zu erfassen.
§2
e nulla cosa .•• vuole] Die Bestimmung des beneficium als
Gewolltes aus der Sicht des Empfängers erlaubt es Dante, den
Kommentar zu Kap. xiii, 3 229
§3
due perfezioni abbia l'uomo .•. seconda] Die Idee einer
zweistufigen Bestimmung der Vollkommenheit des Men-
schen (in bezug auf das Sein und in bezug auf das Gutsein)
könnte Dante der von Busnelli/Vandelli (Kommentar zur
Stelle) angegebenen Passage der Sum. theol. (1-11, 4, 5) des
Thomas von Aquino entnommen haben: „Sed sciendum quod
ad perfectionem alicuius rei dupliciter aliquid pertinet. Uno
modo ad constituendam essentiam rei: sicut anima requiritur
ad perfectionem hominis. Alio modo requiritur ad perfectio-
nem rei quod pertinet ad bene esse eius: sicut pulcritudo cor-
poris vel velocitas ingenii pertinet ad perfectionem hominis".
Thomas unterscheidet jedoch zwischen der essentia und dem
bene esse, was Dantes Stufen des Seins (essere) und des Gut-
seins (essere buono) nicht völlig entspricht. Die Quelle Tho-
mas von Aquino, Sent. Eth., 1, 10; 35 (Busnelli / Vandelli;
Vasoli, Kommentare zur Stelle) weist zum Text Dantes eben-
falls Unterschiede auf, weil Thomas von Aquino auch an je-
ner Stelle nicht von einer zweifachen Vollkommenheit in be-
zug auf das Sein und das Gutsein spricht, sondern von einer
Vollkommenheit der Form und der Tätigkeit ausgeht: „Cui-
uslibet enim rei habentis propriam operationem, bonum suum
et hoc quod bene est ei consistit in eius operatione, sicut tibi-
230 Kommentar zu Kap. xiii, 4
nigs nicht auf den vicarius und somit nicht auf den Papst über-
tragen werden kann. Der Papst hat also nicht das Recht, den
Kaiser einzusetzen: "Nuntius autem non potest in quantum
nuntius, sed quemadmodum malleus in sola virtute fabri ope-
ratur, sie et nuntius in solo arbitrio eius qui mictit illum".
§5
Von der Stufe des Seins, das er seinen durch die Volksspra-
che verbundenen Eltern verdankt, geht Dante in diesem Para-
graphen zur Stufe des Gutseins über, dessen Vollendung die
Wissenschaft ist (vgl. 1, i, 1 und Kommentar), in die er über
die Volkssprache, die ihm das Latein vermittelte, eingeführt
worden ist. Auch dieser Passus läßt durch eine Reflexion der
Sprachfunktion die dem Menschen von Kind auf geläufige und
für alle seine weiteren Tätigkeiten fundamentale Volkssprache
in einem neuen Licht erscheinen.
§§ 6-7
Dieser Abschnitt erörtert die zweite vermehrende Ursache
der Liebe zur Volkssprache, das Streben nach Erhaltung des
Seins, das der Volkssprache als Streben nach Beständigkeit
der Form in Vers und Reim von Natur aus innewohnt und das
Dante durch seine volkssprachliche Dichtung unterstützt und
gefördert hat. Dante erläutert hier nicht genau, was er unter
dem natürlichen Streben einer Sprache versteht, das unabhän-
gig von den Sprechenden sein soll; er problematisiert den on-
tologischen Status, den er der Sprache als vom Sprechenden
unabhängiges Ding (cosa) zuspricht nicht. Daß er sich dieser
Schwierigkeit aber bewußt war, bringt er mit den jeweils ver-
wendeten Konjunktiven zum Ausdrück, die seinem Beweis
einen hypothetischen Charakter geben („se lo volgare per se
studiare potesse etc."). Es handelt sich um das Streben des
Sprechenden, das dann ein gemeinsames Streben mit dem
volgare wäre, wenn dieses als dinghaftes Seiendes nach seiner
eigenen Erhaltung streben könnte.
Kommentar zu Kap. xiii, 6.8-9 233
§6
Ciascuna cosa studia ••. conservazione] Vgl. Boethius,
Phil. cons., III, 11; 58: „dedit enim providentia creatis a se
rebus hanc vel maximam manendi causam ut quoad possunt
naturaliter manere desiderent. Quare nihil est quod ullo modo
queas dubitare cuncta quae sunt appetere naturaliter constanti-
am permanendi, deuitare pemiciem". Vgl. auch Thomas von
Aquino, Sum. theol., 1-11, 94, 2: „quaelibet substantia appetit
conservationem sui esse secundum suam naturam".
pfü stabilitade non potrebbe ••• rime] Daß Dante die Be-
harrlichkeit der Sprache in den festgefügten Versen und Rei-
men, und nicht, wie im Falle des Lateins (vgl. 1, v, 7; VE, 1,
ix, 11), in der Grammatikalität ortet, ist verständlich, da er auf
diesem Gebiet noch keine Verdienste um die Volkssprache
vorzuweisen hat und kein gemeinsames Streben beanspruchen
könnte. Mit dem VE wird er aber seinen schon vorhandenen
Gedichten noch eine theoretische Festsetzung der Volksspra-
che folgen lassen, was andeutet, daß er sich der vorhandenen
Spannung zwischen der Konstruktion seines Arguments, mit
dem er einstweilen zeigen will, daß ihn gemeinsames Streben
mit der Volkssprache verbindet, zu Aussagen in 1, v, 7 („lo
e
volgare non stabile e corruttibile"), bewußt war. Wenn die
Dichtung in Versen und Reimen die Volkssprache beständig
machen würde, so wäre sie es angesichts der zahlreichen
volkssprachlichen Dichtungen bereits.
§§ 8-9
In diesen zwei Paragraphen erläutert Dante die dritte und
letzte vermehrende Ursache seiner Freundschaft, nämlich das
Wohlwollen, das er in langer Gewohnheit der Volkssprache
entgegengebracht hat. Er beruft sich auf seinen Umgang mit
dem volgare, dener „diliberan.do, interpetran.doequestionan-
do" gepflegt hat. Diese Verben bezeichnen nicht einen alltäg-
lichen Gebrauch der Sprache, sondern es handelt sich um in der
Scholastik präzis verwendete Termini zur Bestimmung der
234 Kommentar zu Kap. xiii, 8-9
§9
se l'amista s'accresce ••• consuetudine] Die von Vasoli
(Kommentar zur Stelle) angegebene Quelle Eth. Nie., IX, 6;
1167a3-12 scheint dem Gedankengang Dantes nicht zu ent-
sprechen, denn sie erörtert die Wohlgesinntheit, die von Ari-
stoteles wie die Zuneigung als Anfang der Freundschaft, nicht
aber schon als Freundschaft selbst bezeichnet wird. Dauer und
Gewohnheit können die Wohlgesinntheit in Freundschaft wan-
deln, dies wäre aber eine erzeugende Ursache und trifft auch
nicht auf Dantes Bezeichnung der Gewohnheit des Wohlwol-
lens als vermehrende Ursache zu: "Benivolencia autem amici-
cia quidem videtur, non tarnen est amicicia. Fit enim
benivolencia et ad ignotos et latens, amicicia autem, non. ( ... )
Et amacio quidem cum consuetudine, benivolencia autem, et
ex repentino. Quemadmodum et circa agonistas, accidit. Beni-
voli enim ipsis fiunt et complacent, cooperabuntur autem
utique nichil. Quod enim diximus repente benivoli fiunt et
superficialiter diligunt. Videtur utique principium amicicie
esse, quemadmodum eius quod est amare, ea que per visum
delectacio. ( ... ). Propter quod transferens dicet quis utique
ipsam, principium esse amicicie, diuturnam autem et in consu-
etudinem advenientem fieri amiciciam, non eam que propter
utile, neque eam que propter delectabile". (Eth. Nie., IX, 6;
331). In seinem Ethikkommentar spricht sich Thomas von
Aquino dafür aus, daß aus dem Wohlwollen durch Gewohnheit
236 Kommentar zu Kap. xiii, 10-11
§§ 10-11
In den Paragraphen 10 und 11, die in bezug auf den Text ein
ordnende Funktion ausüben, bekundet Dante noch einmal sein
strukturelles Bewußtsein. Der § 10 schließt die Beweisfüh-
rung der Kapitel xii und xiii ab, die als dritter und letzter Teil
der Rechtfertigung der Volkssprache Dantes vollkommene
Liebe zum volgare dargelegt haben. Der § 11 beendet, die
Brot-und Gastmahlsmetapher aufgreifend, den gesamten Teil
der Rechtfertigung der Makel des Kommentars (Kapitel ii-
xiii). Das gesamte erste Buch geht dem Gastmahl, mit dem
nun endlich begonnen werden kann, als ungewöhlich langer
Prolog voraus. Die Reinigung des Brotes ist abgeschlossen,
Kommentar zu Kap. xiii, 12 237
ben mit Moses und der fünf Gerstenbrote mit den fünf Büchern
Mose aufnimmt, versinnbildlicht die Gerste einen Christus
vorausgehenden, alttestamentlichen Status der Menschheit:
„sunt hordeacei: quia lex ipsa data erat ut in ea vitale alimentum
corporalibus sacramentis obtegeretur: hordei enim medulla,
tenacissima palea tegitur: vel quia populus ludaeorum nondum
expoliatus erat camali desiderio, sed tamquam palea cordi eius
inhaerebat: nam in Veteri Testamento exterius duritiam expe-
riebantur, propter caeremoniales observantias ... Et ipsi ludaei
corporalibus dediti, spiritualem sensum legis non capiebant".
Falls Dante diese doch weit verbreitete Deutung des Ger-
stenbrotes im Zusammenhang mit loh. 6, 1-15 bekannt war,
und dies kann angenommen werden, deutet seine Anspielung
an die Stelle im Johannes-Evangelium unter expliziter Erwäh-
nung des pane orzato auf ein Philosophieverständnis, das die
Grenzen der Diesseitigkeit respektiert und nicht zu sprengen in
Anspruch nimmt. Diese Interpretation würde sich auch mit den
Wissenschaftseinteilungen des zweiten Buches gut vertragen,
wo die Theologie als übermenschliches Wissen im weltentho-
benen Empyreum außerhalb der Zuständigkeit des menschli-
chen Denkens angesiedelt wird (vgl. Conv.„ II, xiv, 19-21).
Dantes metaphorische Bezeichnung seines Kommentars als
Gerstenbrot bedeutet folglich, daß er keine pia philosophia,
keinen Religionsersatz, keine Philosophie, die zur höchsten
Glückseligkeit und zum Heil führt, keine Philosophie, die die
Theologie und den Glauben ersetzt, sondern eine an die Gren-
zen der menschlichen Existenz gebundene Philosophie in prae-
senti anstrebt und vermittelt. Nur soviel Philosophie wie
möglich, aber für möglichst viele. Dennoch ist Dantes An-
spruch in bezug auf seine Person hoch, denn sein Hinweis auf
das Bibelzitat geht bis zur Stelle loh 6, 13 („qui manducaver-
unt"). Liest man an dieser Stelle weiter folgt der Vers, in dem
Jesus von der Menge als wahrer Prophet bezeichnet wird („Illi
ergo homines ... mundum!"). Dante hat sich also selber nicht
als Prophet bezeichnet, er hat sich aber in bezug auf die unmit-
242 Kommentar zu Kap. xiii, 12
I. Werke Dantes
2. Convivio
Erstausgabe
Conuiuio di Dante Alighieri Fiorentino, Florenz: Francesco Bona-
corsi 1490.
Deutsche Übersetzungen
Das Gastmahl, übersetzt und erklärt, m. e. Einführung von C. Sauter,
Freiburg i.Br.: Herder 1911.
Adelige Vornehmheit in Gesinnung und Haltung. Aus Dantes Gast-
mahl übersetzt und eingeleitet von 1. Baumer, St.Gallen: Eirene-
Verlag 1955.
Das Gastmahl, aus dem Italienischen übertragen und kommentiert von
C. Sauter (1911), mit einem Geleitwort von H. Rheinfelder, Mün-
chen: Winkler 1965.
Literatur 247
Johannes von Salibury: Metalogicon, ed. J .B. Hall (CCSL, 98), Tum-
holti: Brepols 1991.
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in: A. Gaudentius, Bibiliotheca Iuridica Medii Aevi, III, scripta
anecdota glossatorum vel glossatorum aetate composita, Bologna:
Monti 1901, 217-280.
Justinianus 1. Imperator: Corpus iuris civilis, recognit. et retract
Th. Mommsen / P. Krueger/ R. Schoell, 3 vol., Dublin/ Zürich:
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ieur de philosophie 1983.
Literatur 255
5. Zitierte Sekundärliteratur
Die Zahl bezieht sich auf das Kapitel und den Paragraphen im
italienischen und deutschen Text
Agustino Galieno
Confessiones ii, 14, Tegni: viii, 5
locus incertus: iv, 9 Ipocras
Aristotile (Filosofo) Aphorismi: viii, 5
Metaphysik: i, l, Omero vii, 15
Nikomachische Ethik: ix, 9; Salterio: vii, 15
xii, 3; xii, 10 Seneca
Boezio De Beneficiis: viii, 16
Philosophiae consolatio: ii, 13; Taddeo Alderrotti x, 10
xi, 8 Tullio
Dante De Finibus: xi, 14;
Vita Nuova: i, 16 De Amicitia: xii, 3
De Vulgari Eloquentia: v, 10 Virgilio
Aeneis: iii, 10
INDEXRERUM
Die Zahlen beziehen sich auf das Kapitel und den Paragraphen im
italienischen und deutschen Text.
abito i, 2.6; v, 4; vi, 7; xi, 6.7 avarizia ix, 2
accidentale x, 13 avversarii xii, 2
accidentali v, 1; x, 12 baroni ix, 5
accidente ii, 4.7; xii, 5 bellezza i, 14; v, 7.13; vii, 13;
acqua i, 9 X, 12.13
adulteri xi, 21 benefattore viii, 3; xiii, 5
affamati i, 6 benefici i, 9; viii, 3; ix, 1.4; xii, 3;
allegoria ii, 17 xiii, 1.2.3,
allegorica i, 18 benivolenza xiii, 1.8
amabile xii, 8.9.10.12 bestiale i, 8
amatore x, 6 bestie vi, 4
amico i, 8; ii, 5; iii, 7.8; iv, 5; v, biasimare i, 5; ii, 3.4.6-8.11; xi,
5; vi, 5.6.9-11; viii, 5.12; x, 8- 11.13.14, 17; xii, 2
10; xii, 2.8; xiii, 1 biasimevole i, 17; ii, 5; xi, 15;
amistade viii, 12; xiii, 10 viii, 9.10
amore i, 14; v, 2; x, 5.6; xii, 1- bisogno v, 6; viii, 15
3.6.13; xiii, 10 bocca ii, 3; xi, 21
angeli i, 7 bontade i, 14; ii, 6; iv, 3.11; ix, 6;
anima i, 1.3; xi, 3 X, 7.8; Xii, 3.8.13; X, 9.12
animale vi, 6 braccia xi, 10
animo iii, 4; iv, 2; v, 4; ix, 2.5; cagione i, 2.4.5; ii, 3.12.16; iii,
xi, 2.6.18 3.10; iv, 2.6.12; vii, 15; xi, l.
anni v, 9; xi, 11 9.14.21; xii, 3.6.7.13; xii,
argomentare iv, 6; xi, 17 camera ii, 5 [3 .4.10
argomento xi, 2.16 cane vi, 6
armonia v, 13; vii, 14.15 canto v, 13
arte v, 13.14; xi, 7.11; xii, 4 canzoni i, 14.18; ii, 16; iii, 2;
artefici xi, 13 v, 6.7.15; vi, 1; vii, 5.11;
asinina vi, 3 viii, 1; ix, 7; x, 10; xiii, 11
atto viii, 14.15.17; x, 9 capitolo iv, 1; vii, 16; viii, 6;
autoritade iv, 13 ix, 8; x, 14; xii, 13
268 Index rerurn
infamia ii, 13.15-16; iii, 10; iv, loquela v, 2; vii, 14; x, 5.14; xii
10; X, 1.14; Xii, 11 1.6; xiii, 1.3
inghilese vi, 8; vii, 13 luce i, 15; xi, 6; xiii, 12
ingiustizia xii, 10 luogo i, 4; ii, 1; viii, 9
ingratitudine xii, 10 lupo vi, 6
intelletto vii, 11 macula ii, 1.15; iv, 9
intellettuale xii, 9; xi, 7 maculato iv, 9 .10
intendimento v, 15; ii, 12 macule ii, l; iv, 11; v, l; xiii, 11
intenzione i, 18 madre i, 9; x, 7
invidia iv, 2.6.8; xi, 2.16.17 maestro ix, 9; xi, 11.17
ipocratista x, 10 magnanimo xi, 18-20
istoria i, 18 malizia i, 3; ii, 6; x, 14; xi, 13
italia v, 9; vi, 8; xi, 1.21 mangiare i, 11.8; xiii, 11
italico iv, 8.13; ix, 2; x, 14; xi, 14 maniere i, 14
latinamente vii, 8 mano vii, 9; ix, 6; xi, 5
latine v, 8 manuca i, 7
latino v, 1.7.12.14; vi, 1.2.6-11; maravigli x, 4
vii, l.3.7.8.10-13.15;viii, 1.2; margarite ix, 6
iX, 1.2.4.9.10; X, 1.5.10.12; martello xiii, 4
xi, 14; xiii, 5 maschi ix, 5
leggi viii, 4 maschiezza xii, 8
legno iii, 5 materia xi, 11.12.17
letizia viii, 7 medicina xii, 4
lettera ix, 3 medico viii, 5; xii, 4
Iibello v, 10 membra iv, 7; v, 13
liberalitade(-tate) i, 19; v, 2; viii, membro iv, 10
1.2.5.6.8.11.13.15-17; ix, 1. memoria viii, 12; ix, 2
11; X, 5 mendicando iii, 4
liberalmente i, 9 mensa i, 7.8.10.13
Iibero viii, 14.15; xi, 2 mente iii, 7-9; v, 12; viii, 13;
libro i, 12.17; viii, 18; xi, 14, mentitori xi, 5 [ xii, 5. 7
lingua iii, 4; v, 9; vi, 10; vii, 13; menzogna iv, 4
ix, 2.5; x, 11; xi, 15.16 meretrice ix, 5; xi, 21
litterale i, 18 mestiere i, 11; vi, 1.3; xi, 6
Iitterato vii, 12; ix, 2.3.5.9 migliaia xiii, 12
litteratura ix, 5 mille v, 9; ix, 2.9
loco ix, 6 misericordia i, 8.9
lodare ii, 4. 7 .8.10.11; xi, 15 misura ii, 9; vii, 2.9; xi, 20
lodi ii, 3 misuratore ii, 8
Index rerum 271