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Typologien und Muster der Partnerschaftsgewalt

Ksenia Meshkova und Barbara Kavemann

Lerneinheit 2: Gewaltverhältnisse & Gewaltdynamiken

Ksenia Meshkova
Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen FIVE Freiburg
(SoFFI F.)

Ksenia Meshkova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen Forschungs-


institut zu Geschlechterfragen SoFFI F./FIVE Freiburg. Außerdem promoviert sie im Fach Gender
Studies an der Humboldt Universität zu Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind häusliche Gewalt
und Gewalt in Paarbeziehungen, Femizid, Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sowie Weiblich-
keits- und Männlichkeitskonstruktionen.

Prof. Dr. Barbara Kavemann


Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen SoFFI F/
Five, Freiburg & Berlin

Barbara Kavemann ist als Soziologin in der praxisbegleitenden Forschung tätig. Sie arbeitet seit
1976 zum Thema Gewalt in Paarbeziehungen / häusliche Gewalt und seit 1983 zum Thema
sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend. Darüber hinaus hat sie zu Sexarbeit und Menschenhan-
del geforscht. Sie ist u.a. Vorsitzende des Beirats des Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen und
Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch.

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Inhalt
1. Eine Typologie von Gewalt in Paarbeziehungen .................................................................. 3

2. Gewalt in der Paarbeziehung als Delikt gegen die Freiheit ..................................................5

3. Gewalt in nicht heterosexuellen Beziehungen ..................................................................... 7

4. Muster von Gewaltverhältnissen mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf .................. 7

5. Bedeutung der Muster für die Fachpraxis ........................................................................... 9

6. Literaturverzeichnis ........................................................................................................... 11

Typologien und Muster der Partnerschaftsgewalt 1


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Was als Gewalt erlebt wird und was als normal oder akzeptabel in einer Paarbeziehung verstan-
den wird, ist individuell sehr unterschiedlich. Studien, die die Häufigkeit und Verbreitung von
häuslicher Gewalt untersuchen, fragen deshalb nicht abstrakt nach Gewaltvorkommen, son-
dern nach konkreten Handlungen: wie häufig und durch wen wurden diese Handlungen in ei-
nem festgelegten Zeitraum erlebt. Um die Bedeutung der Gewaltvorfälle für die Beteiligten
und ihre Gefährlichkeit erkennen zu können, ist es wichtig, auch Kontext, Schweregrad und
(Verletzungs-) Folgen zu erfassen. Einige dieser Fragen beantworten breit angelegte quantita-
tive Erhebungen (für Deutschland Schröttle 2004; FRA 2014), die auch erste Angaben zur Ge-
fährlichkeit anhand von Gewalthandlungen wie Würgen oder Schlägen mit Gegenständen, Ein-
satz von Waffen usw. machen können. Genauere Informationen werden aus qualitativen Inter-
viewstudien gewonnen, die auch Aussagen über die Deutung erlebter Gewalt und dem daraus
resultierenden Unterstützungsbedarf machen können (GIG-net 2008, S. 190).

Bei Gewalt in einer Paarbeziehung muss von einem (andauernden) Gewaltverhältnis ausgegan-
gen werden, das aus unterschiedlichen Formen, Intensitäten und Kontexten der Gewalt gebil-
det wird. Dabei spielen die Geschlechtlichkeit der Beteiligten, gesellschaftliche Machtverhält-
nisse und Konzepte der Lebensplanung eine Rolle. Die Beschaffenheit von Gewaltverhältnissen
zu kennen ist Voraussetzung dafür, das Verhalten von Betroffenen verstehen und eine bedarfs-
gerechte Unterstützung anbieten zu können. „Ein vertieftes Verständnis häuslicher Gewalt
muss also im Blick behalten, dass konkrete körperliche und andersartig gestaltete Gewalthand-
lungen durchzogen sein können von Geschlechtervorstellungen damit verbundenen Machtan-
sprüchen, die das Handeln und Deuten der Beteiligten in den Gewaltsituationen selbst und dar-
über hinaus formen und begrenzen“ (Kersten 2020, S. 82). Forschung konnte Muster von Ge-
waltverhältnissen herausarbeiten, die sich unterschieden hinsichtlich des Beginns und der Ent-
wicklung über die Zeit (Helfferich & Kavemann 2004; Piispa 2002) bzw. der Wechselseitigkeit,
der Geschlechtsspezifik und der Gefährlichkeit (Johnson 1995 und 2005; Kelly & Johnson 2008;
Gloor & Meier 2012 ) und hinsichtlich des geäußerten Bedarfs an Unterstützung sowie des Zu-
gangs zu Unterstützungsangeboten (Helfferich & Kavemann 2004).

In der quantitativen Forschung konnte vorliegende internationale Prävalenzforschung in Mus-


tern von Gewaltverhältnissen systematisiert und vier Typologien von Gewalt in Paarbeziehun-
gen analysiert werden (Johnson 1995 und 2005).

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1. Eine Typologie von Gewalt in Paarbeziehungen
Die vier Typen von Gewaltverhältnisse werden unterschieden als

 Intimate Terrorism (Gewalt als systematisches Kontrollverhalten) 1


 Situational Couple Violence (situativ übergriffiges Konfliktverhalten)
 Violent Resistance (gewaltförmiger Widerstand)
 Mutual Violent Control (gegenseitige gewaltförmige Kontrolle) (Johnson 2008)

Die Unterscheidung von Mustern ist von Bedeutung, damit nicht Daten, die Misshandlung (Bat-
tering) – also eine gefährliche, verletzungsträchtige und perpetuierte Gewalt – beschreiben,
durch Daten zu anderen Typen von Gewaltverhältnissen verwässert werden (Johnson & Leone,
2005, S. 322). Die Muster unterscheiden sich in vielen Aspekten, wie z. B. den Motiven der Ge-
waltausübenden, der Bedeutung der Gewaltakte, dem Effekt der Gewalt auf die Betroffenen
sowie der Notwendigkeit der Intervention. Hervorzuheben sind zwei der Typen, da sie häufig
vorkommen und gegensätzliche Beziehungsstrukturen abbilden.

(1) Der Begriff Intimate Terrorism (systematisches Gewalt- und Kontrollverhalten (Gloor &
Meier, 2013) beschreibt die Beziehungen, in denen ein Partner nicht nur gewalttätig, sondern
auch kontrollierend ist. Dieses Muster ist ein geschlechtsspezifisches und beschreibt systema-
tisches Dominanz- und Kontrollverhalten, in dem der gewalttätige Partner (in heterosexuellen
Beziehungen überwiegend ein Mann) Macht über seine Partner*in (in heterosexuellen Bezie-
hungen meistens eine Frau) anstrebt. Ziel ist die Selbstbestimmung der Partnerin einzuschrän-
ken und sie in allen Lebensbereichen zu kontrollieren. Ausgeübt wird Intimate Terrorism durch
eine Reihe von Gewaltakten (körperlich, verbal, sexualisiert, digital usw.) sowie unterschiedli-
che Kontrolltaktiken (Johnson, 2006, S. 1010). Dieses Gewaltmuster enthält Elemente von Co-
ercive Control (siehe unten), ist aber gefährlicher (Johnson, 2008, S. 7). Frauen, die in Gewalt-
verhältnissen mit diesem Muster leben, erleiden häufiger Gewalt, werden häufiger verletzt und
zeigen öfter posttraumatische Belastungsreaktionen. Für dieses Muster ist es typisch, dass der
gewalttätige Partner eine Reihe der Taktiken über einen längeren Zeitraum nutzt – wie ökono-
mische Kontrolle, bei dem der Mann alle finanziellen Entscheidungen im Leben des Paares trifft
und seiner Partnerin entweder gar kein Zugang zum Geld oder in nur in sehr begrenztem, kon-
trollierten Rahmen, gewährt; Isolation der Betroffenen; Kontrolle über die Kinder; Verleugnung
der Gewalt; Einschüchterung und Bedrohung der Betroffenen sowie physische und sexuali-
sierte Gewalt. Die Betroffenen empfinden viel Angst und Verunsicherung und wissen, dass für

1 Die Übersetzungen ins Deutsche stammen von Gloor & Meier (2012).

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Außenstehende nicht wahrnehmbare Anmerkungen oder Blicke des Täters zur Gewaltausbrü-
chen führen können (Johnson, 2008, S. 10). Aus diesem Gewaltmuster heraus suchen Frauen
öfter Hilfe, flüchten an einen sicheren Ort und trennen sich (Johnson & Leone, 2005, S. 323).

(2) Sitational Couple Violence (situativ übergriffiges Konfliktverhalten (Gloor & Meier, 2012) be-
schreibt Gewalt bei Paaren, in denen beide Partner*innen zwar gewalttätig, aber nicht kontrol-
lierend sind. Damit sind eher spontane Konfliktsituationen gemeint, in denen beide Partner zu
unterschiedlichen Formen der Gewalt (vor allen physisch und verbal) greifen und somit den Är-
ger abbauen. Dieses Gewaltmuster ist das einzige Muster der Gewalt in Paarbeziehungen, in
dem Gender Symmetrie beobachtet wird – das heißt, diese Form der Gewalt wird von Frauen
genau so oft wie von Männern ausgeübt (Johnson, 2006, S. 1010). Aber auch dieses Muster ist
nicht durchgängig gendersymmetrisch. Die Analyse zeigt, dass bei gleicher Häufigkeit der Ge-
waltsituationen Männer mehr und schwerere Formen der Gewalt ausüben (Johnson, 2006,
S. 1010). Die wichtigste Besonderheit dieses Musters ist, dass weder Mann noch Frau die Kon-
trolle über die Partner*in übernehmen will, was eine andere und deutlich weniger gefährliche
Beziehungsdynamik bedeutet, als es bei systematischem Gewalt- und Kontrollverhalten der
Fall ist. Auch in diesem Muster sind Akte schwerer Gewalt und in seltenen Fällen sogar Tötun-
gen möglich (Johnson, 2008, S. 12). Der Hauptunterschied besteht darin, dass Gewalt im Sinne
einer situativen Reaktion als Lösungsstrategie in einem Beziehungskonflikt verstanden wird
und kein Grundmuster der Beziehung ist.

(3) Violent Resistance (Gewaltsamer Widerstand). Neben den beiden hauptsächlich vorkom-
menden Mustern hat Forschung zwei weitere, eher seltenere Muster identifiziert. Violent Re-
sistance ist ein Muster, das fast ausschließlich von Frauen ausgeübt wird. Meistens wenden
diese Frauen körperliche Gewalt als Reaktion auf andauernde systematisch kontrollierende Ge-
walt an, in dem Versuch, sich zu schützen und der Aggression des Partners zu widerstehen
(Johnson, 2006, S. 1010). Manche Frauen reagieren sofort mit körperlicher Gegenwehr auf die
Gewalt, die ihnen angetan wird, bereits früh in der Beziehung und manche erst relativ spät. Hier
kommt es auch zu Tötungen der gewalttätigen Partner, um eigenes Leben und das Leben von
Kindern zu schützen und aus der Beziehung zu fliehen (Johnson, 2008, S. 10-11).

(4) Mutual Violent Control (Gegenseitige gewaltsame Kontrolle) ist ein Muster, in dem beide
Partner*innen nicht nur körperliche und / oder verbale Gewalt gegeneinander ausüben, son-
dern sich auch gegenseitig kontrollieren. Beide Partner*innen versuchen bei diesem Muster,
die Machtposition in der Beziehung zu bekommen, und nutzen dafür unterschiedliche Gewalt-
akte und Kontrolltaktiken (Johnson, 2008, S. 12). Dieses Muster ist sehr selten und bisher wenig
beforscht.

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2. Gewalt in der Paarbeziehung als Delikt gegen die Freiheit
Neuere Forschung hat ein Phänomen beschrieben, das Coercive Control genannt wird. Es kann
mit „Zwang und Kontrolle“ oder „erzwungener Kontrolle“ übersetzt werden. Dieser Begriff fin-
det sich zwar in der Literatur bereits in den 1970er Jahren und stammt ursprünglich aus der For-
schung über Geiselnahme und Gehirnwäsche (Jahn & Raghavan 2021, S. 82), wurde aber erst
von Evan Stark zu einer eigenständigen Theorie entwickelt (Stark, 2006; Stark, 2007; Stark,
2012; Stark & Hester, 2019). „Im Kern dieses Konzepts (…) steht eine Re-Definition von Part-
nergewalt als einem Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit einer Person hin zu ei-
nem Verbrechen gegen die Freiheit einer Person“ (Jahn & Raghavan 2021, S. 80). Definiert wird
ein Gewaltverhalten in Partnerschaften, das auf Dominanz, Unterdrückung und Kontrolle setzt
und geschlechtsspezifisch ist. Körperliche Gewalt hat in diesem Gewaltmuster nicht die zent-
rale Rolle: In manchen Beziehungen mit Coercive Control kommt es nie zu körperlicher Gewalt,
was sie jedoch für die Betroffenen trotzdem nicht leichter zu ertragen macht. (Stark, 2007,
S. 10). Das Konzept betont die politische Dimension von Coercive Control: Durch dieses Ge-
waltmuster ist die Durchsetzung patriarchaler Unterdrückung innerhalb einer Paarbeziehung
möglich. Auch wenn hier körperliche Gewalt seltener ist, muss dieses Muster als Menschen-
rechtsverletzung gesehen werden. Wenn Frauen in ihren Beziehungen dominiert und kontrol-
liert werden, können sie am gesellschaftlichen Leben nicht in voller Weise partizipieren und ihr
Potential ausschöpfen. Rechte und Möglichkeiten, die sie in der Gesellschaft haben sollten,
bleiben ihnen verwehrt.

Angriffspunkt Weiblichkeit

Frauen werden in diesem Muster vor allem in ihrem doing femininity2 – wie sie in alltäglichen
Interaktionen ihr Geschlecht inszenieren – kontrolliert. Das bedeutet, dass die Bereiche, in de-
nen Frauen kontrolliert werden, vor allem diejenigen sind, die typischerweise mit Frausein as-
soziiert werden – wie Aussehen, Hausarbeit, Erziehung der Kinder oder auch Ausleben der Se-
xualität. Ein Beispiel dafür ist die Kontrolle des Aussehens der Partnerin. Der Mann entscheidet,
wie sich seine Partnerin kleiden und frisieren soll, zwingt sie dazu, es so zu machen, wie er sich
das vorstellt und bestraft sie mit Gewalt, falls sie nicht seinen Wünschen entsprechend handelt.
Dabei es ist unwichtig, ob der kontrollierende Partner wünscht, dass seine Partnerin besonders
sexy oder „wie eine Nonne“ aussehen soll – das Wichtige ist nur, dass es seine Entscheidung ist.
Dabei kann es dazu kommen, dass der kontrollierender Partner bestimmte Kleidung kauft und

2 Doing Gender ist eine Theorie, die besagt, dass Geschlecht nicht etwas ist, was man hat (keine Fähigkeit des Indi-

viduums), sondern etwas, was man tut. Gender wird in täglicher Interaktion permanent wieder hergestellt und muss
von den anderen bestätigt werden. Doing masculinity bedeutet die permanente (Wieder-)Herstellung der Männlich-
keit und doing femininity die (Wieder-)Herstellung der Weiblichkeit (West & Zimmermann, 1987).

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die andere zerstört oder wegwirft, dass er kontrolliert, welche Unterwäsche seine Partnerin an-
zieht, sie spontan an der Arbeitsstelle aufsucht, um zu kontrollieren, ob sie immer noch so aus-
sieht, wie er das wünscht, dass er verlangt, dass sie sich z. B. während einer Party umzieht, usw.
(Stark, 2007, S. 228- 290).

Das Spektrum der Taktiken, die bei Coercive Control genutzt werden, hängt immer von einer
konkreten Beziehung und einem konkreten Opfer und dessen individuellen Besonderheiten
und Sensibilitäten ab und kann daher nicht festgeschrieben werden. Die kontrollierenden Part-
ner nutzen hier die persönlichen Informationen, die sie über ihre Opfer – und ihre Vorlieben,
Ängste, Kindheitstraumata, Krankheiten und so weiter – haben, um sie besonders effizient un-
ter Kontrolle zu halten. Da es komplizierter ist, wirksame Kontrolle mit wenig körperlicher Ge-
walt zu etablieren und aufrecht zu halten und viel Kreativität erfordert, müssen die Partner die
Versuchs- und Irrtums-Methode anwenden. Unterschiedliche Taktiken werden ausprobiert und
je nach Reaktion der Betroffenen weiter angewendet oder wieder unterlassen. Weil die Be-
troffenen sich auch an die Regelungen gewöhnen, diese internalisieren und eigenes Verhalten
ändern, werden manche der Taktiken mit der Zeit ineffektiv. Die üblichen Taktiken der Coer-
cive Control sind nicht universell und würden außerhalb des jeweiligen Beziehungskontextes
möglicherweise keine oder kaum Reaktion erzeugen (Stark, 2007, S. 195).

Ziel ist nicht nur die Kontrolle des Verhaltens der Partnerin, sondern der Versuch, ihr Denken
zu kontrollieren. Betroffene werden in diesem Gewaltmuster auch isoliert, was ihre Abhängig-
keit von den kontrollierenden Partnern weiter verstärkt. Das bedeutet, dass Kontakte mit
Freund*innen, Verhalten auf der Arbeit und Kommunikation über soziale Netzwerke kontrol-
liert werden. Beispielweise bekommt die Betroffene zu hören, dass ihre Freund*innen dumm
sind und sie sowieso nicht verstehen, dass sie auf der Arbeit nicht zu viel mit den anderen reden
soll, dass sie nicht alleine ausgehen darf usw. (Stark, 2007, S. 15) (s. a. Fallvignette Maria & Oli-
ver). Außerdem kommen häufig unterschiedliche digitale Methoden zum Einsatz – von regel-
mäßigen Anrufen, Nachrichten bis zur versteckten Apps, die alle Nachrichten und Anrufe der
Betroffenen auf das Handy oder PC des Partners versenden (s. a. Lerneinheit Gewalt & Kon-
trolle durch digitale Medien).

Entrapment – im Käfig

Als Ergebnis von Coercive Control entsteht bei den Betroffenen ein Zustand, der in der Literatur
als Entrapment (Stark, 2007, S. 112-132) beschrieben wird, was „in einer Falle gefangen“ oder
„im Käfig sein“ bedeutet. Durch die vielfältigen und auch sich verändernden Regeln, die in un-
terschiedliche Bereiche des Lebens der Betroffenen von ihren Partnern eingeführt werden, Iso-
lierung und eventuell physische Gewaltakte ändert sich das Selbstbild der Betroffenen und sie
bekommen mit der Zeit das Gefühl, dass sie in der Beziehung mit dem Partner gefangen sind

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und sehen keinen Weg daraus. Eine Vielzahl von Regeln bildet einen unsichtbaren Käfig. Der
Versuch, aus diesem auszubrechen, gegen die Regeln des Täters zu verstoßen oder sie zu igno-
rieren, kann zusätzliche Gewalt provozieren.

Die Besonderheit der Kombination von Zwang und Kontrolle ist, dass sie nur schwer als eine
Form von Gewalt zu erkennen ist, sowohl für Betroffene selbst als auch für Fachkräfte. Da viele
Taktiken – im Gegensatz zu z. B. körperlicher Gewalt – keine körperlichen Spuren hinterlassen,
wird oft den Betroffenen selbst nicht klar, was mit ihnen passiert und ob sie überhaupt Hilfe
brauchen.

3. Gewalt in nicht heterosexuellen Beziehungen


In ihrer Forschung haben Johnson und Stark fast ausschließlich Gewalt in heterosexuellen Be-
ziehungen beschrieben. Forschung zu LSBTQ3 Beziehungen bestätigt aber, dass die gleichen
Muster auch in nicht-heterosexuellen Beziehungen zu finden sind (Donovan & Hester, 2014;
Donovan, Barnes & Nixon, 2014; Donovan & Barnes, 2019). Bei Coercive Control können dann
spezifische Taktiken genutzt werden, die nur in LGBTQ-Kontexten Sinn machen – wie z. B. die
Androhung, die Person auf der Arbeit oder bei der Familie zu outen (s. a. Fallvignette Richard
& Daniel). Spezifika der Gewalt in trans* Beziehungen sind noch wenig erforscht, es gibt Hin-
weise auf gleichermaßen hohe Gewaltbelastung (eine Übersicht in Ohms 2020).

4. Muster von Gewaltverhältnissen mit unterschiedlichem


Unterstützungsbedarf
Einen gänzlich anderen Zugang wählte eine Studie zum Unterstützungsbedarf von Frauen nach
einem Polizeieinsatz wegen häuslicher Gewalt in Baden-Württemberg. In qualitativen Inter-
views wurden 30 Frauen zu ihrer Beziehungsgeschichte, der Deutung der Gewalt und dem Be-
darf an Beratung befragt (Helfferich & Kavemann 2004). Es wurden vier Muster von Gewaltver-
hältnissen herausgearbeitet. Mit jedem dieser Muster kann eine spezifische Wirksamkeit der
polizeilichen Wegweisung und ein spezifischer Beratungsbedarf auf dem Hintergrund der indi-
viduellen Handlungsfähigkeit der Frauen und ihrer Einbindung in die gewaltförmige Beziehung
verbunden werden. Wie auch bei den oben genannten Typologien handelt es sich um idealty-
pische Vereinfachungen. „Eindeutige Zuordnungen sind schon allein deshalb nicht möglich,

3 Lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, queer

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weil es sich bei den Beschreibungen nicht um Persönlichkeitsmerkmale, sondern um eine aktu-
elle Deutung der zurückliegenden Ereignisse handelt“ (ebenda, S. 41; GIG-net 2008, S. 185).

Muster „Rasche Trennung“

Interviews, die diesem Muster zugeordnet wurden, beschrieben einen klaren Entschluss zur
Trennung nach einem erstmaligen oder bestimmten Gewaltausbruch. Nach dem eingetrete-
nen Vertrauensverlust war eine Weiterführung der Beziehung nicht vorstellbar. Die Frauen er-
lebten sich als handlungsfähig – teilweise als wehrhaft – und nicht als Opfer, auch nicht als be-
ratungsbedürftig. Den Bedarf sahen sie beim Partner und seinen Problemen. Es waren junge
Frauen in kurzen Beziehungen.

Muster „Neue Chance“

In den Interviews dieses Musters wurde die Gewalt als situativ und episodisch und als Unterbre-
chung einer gewaltlosen Normalität in der Beziehung beschrieben. Diese Krisen wurden mit
Problemen des Partners wie Alkohol, Arbeitslosigkeit oder Krankheit in Verbindung gebracht.
Die Gewalt wurde als ein zu lösendes Problem gedeutet, ein gewaltfreies Leben erschien mög-
lich, wenn der Partner seine Probleme bewältigt, hier wurde Unterstützungsbedarf gesehen.
Die Frauen erlebten sich als handlungsfähig und nicht als Opfer, wenn auch mit überwiegend
ineffektiver Handlungsmacht. Sie waren im mittleren Alter und hatten Kinder.

Muster „Fortgeschrittener Trennungsprozess“

In den hier zugeordneten Interviews wurden lang andauernde, chronifizierte Gewaltbeziehun-


gen berichtet. Die Gewalt begann früh und nahm im Laufe der Zeit zu, es gab gefährliche Aus-
brüche, multiple Gewalt, Einschüchterung und Kontrolle. Mehrere Untergruppen konnten her-
ausgearbeitet werden, gemeinsam ist ihnen, dass Wendepunkte beschrieben wurden, die nach
und nach den Entschluss zur Trennung entstehen ließen. Mit der Eskalation der Gewalt wuchs
die Entschlossenheit der Frauen sich trotz der Gefährlichkeit zu trennen. Eine Fortsetzung der
Beziehung kam nicht in Frage. Es bestand großer Bedarf an Schutz und an Beratung der Frauen,
auch für die Kinder wurde dieser Bedarf formuliert. Unterstützung für den Aufbau einer neuen
Perspektive nach der Trennung war wichtig. Die Frauen waren im mittleren Alter. Langfristig
wurde Bedarf an Traumatherapie gesehen.

Muster „Ambivalente Bindung“

Frauen dieses Musters verfügten nicht über Handlungsfähigkeit, sondern sprachen von Hilflo-
sigkeit und Ohnmacht nach traumatisch erlebter Gewalt. Berichtet wurde chronifizierte Gewalt
in Form einer eskalierenden Spirale und Formen von „psychischer Gefangenschaft“ (s.0.). Angst
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vor dem Partner und Hass verbanden sich mit Mitleid und Solidarisierung. Die fehlende Hand-
lungsfähigkeit ließ keinen klaren Entschluss zur Trennung zu, es kam aber zu Trennungsversu-
chen, die sich nicht als tragfähig erwiesen, dass auch die Trennung die Angst nicht nehmen
konnte, dies war erst mit einer Inhaftierung möglich. Der Unterstützungsbedarf war groß, die
Bereitschaft Beratung in Anspruch zu nehmen war aber gering. Die Frauen waren unterschied-
lich alt und hatten Kinder, die ebenfalls als unterstützungsbedürftig zu sehen waren.

5. Bedeutung der Muster für die Fachpraxis


Es gibt mehrere Gründe, warum es für die Fachpraxis wichtig ist, die Muster zu erkennen und
voneinander unterscheiden zu können.

Erstens können sie dabei helfen, Täter und Opfer zu identifizieren bzw. und zwischen Angriff
und Gegenwehr zu unterscheiden. Im Einsatz stehen Beamt*innen der Polizei nicht selten zwei
verletzten Personen gegenüber und erst zusätzliche Informationen – nicht nur Fragen nach kör-
perlicher Gewalt – können zur Klärung der Situation beitragen und Entscheidungen wie eine
Wegweisung begründen.

Zweitens trägt die Forschung zu Gewaltmustern dazu bei, dass häusliche Gewalt überhaupt als
solche erkannt wird. Da zum Beispiel Coercive Control ganz ohne oder mit nur wenigen Akten
körperlicher Gewalt verlaufen kann, wird dieses Muster, wie oben beschrieben, oft nicht als Ge-
walt wahrgenommen. Hier es wichtig zu verstehen, was Kontrolltaktiken sind und welche Form
sie annehmen können, um den Betroffenen zu helfen und Täter*innen zu Verantwortung zu
ziehen.

Drittens helfen die Muster, gefährliche Formen der häuslichen Gewalt von weniger (oder nicht)
gefährlichen Formen zu unterscheiden. Situative Partnergewalt wird z. B. in manchen Bezie-
hungen zur Lösung von Konflikten eingesetzt. Wenn sich Partner*innen durch das übergriffige
Verhalten nicht bedroht fühlen, sehen sie keine Notwendigkeit, Unterstützung zu suchen.
Diese Form der Gewalt ist allerdings Thema in der Paarberatung, wenn die Auseinandersetzun-
gen auf Dauer als belastend erlebt werden.

Qualitative Forschung konnte neben der Beschaffenheit von Gewaltverhältnissen deren Ent-
wicklung über die Zeit sowie deren Deutung durch die Betroffenen erfassen. Die ober vorge-
stellten vier Muster können eine zusätzliche Orientierung für die Unterstützungspraxis bieten.
In der Begegnung der Fachkraft mit der von Gewalt betroffenen Frau liegt die Chance, die indi-
viduelle Deutung in Erfahrung zu bringen und angemessene Angebote zu machen. Frauen des
Musters „Rasche Trennung“ reagierten irritiert auf den Vorschlag der Paarberatung oder wenn

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sie als Opfer angesprochen wurden. Frauen des Musters „Neue Chance“ sahen den Beratungs-
bedarf vor allem beim Partner, die Aufforderung sich zu trennen konnte zu Abwehr führen.
Während die zur Trennung entschlossenen Frauen des Musters „Fortgeschrittener Trennungs-
prozess“ sehr klar die polizeiliche Intervention begrüßten, konnte es sein, dass sich Frauen des
Musters „Ambivalente Bindung“ gegen die Polizei mit dem Partner verbündeten. Neben der
Art und Dauer der Gewalt muss auf die Intensität von Angst und auf das Vorhandensein von
Handlungsfähigkeit geachtet werden, wenn Unterstützung greifen soll. Ein Verhalten, dass von
Außenstehenden schnell interpretiert wird als „sie will sich nicht helfen lassen“, kann durch das
Verständnis von Gewaltformen wie andauernden Zwang und Kontrolle und durch Traumafol-
gen plausibel werden.

Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die beschriebenen Muster nicht statisch zu sehen
sind. Studien zu Gewaltverhältnissen erheben ihre Daten zu einem bestimmten Zeitpunkt, so-
mit sind die Ergebnisse zeit- und ortsgebunden. Es kann nicht gesagt werden, wie sich die Be-
ziehung und damit die Gewaltausübung weiter entwickeln wird, ob Hilfe gesucht wird, ob diese
gelingt oder scheitert usw. Auch ein wenig oder gar nicht bedrohlich erlebtes Gewaltmuster
kann in einer Trennungssituation gefährlich eskalieren.

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Typologien und Muster der Partnerschaftsgewalt 12


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