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Walter Krämer / Denis Krämer/ Götz Trenkler

Das digitale Lexikon


der populären Irrtümer

Über 1.000 Mißverständnisse, Vorurteile


und Denkfehler von Abendrot bis Zyniker

Directmedia • Berlin 2003

Digitale Bibliothek Sonderband

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


Einführung

Einführung

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 3

»Die Erlösung von der eigenen Irrtumsschwerkraft


wird am mühelosesten mit dem Gelächter erreicht,
durch das man vom fremden Irrtum behaglich Abstand
nimmt.«
Carl Haensel, Über den Irrtum

Vorwort

Die Idee zu diesem Lexikon entstand, als einer von


uns (W. Krämer) mit einer ebenso offensichtlichen
wie gern verdrängten Wahrheit auf großes Unver-
ständnis stieß, nämlich daß das Rauchen und die Rau-
cher unsere Gesundheitskosten nicht erhöhen, wie fast
alle glauben, sondern eher reduzieren. Von den reinen
Kosten her sind Raucher eher Beitragsminimierer
(weil sie früher sterben), ohne Raucher und Raucher-
innen würde unser Sozialsystem pro Jahr um mehrere
Milliarden DM teurer.
Diese Wahrheit, die weiter unten unter »R« noch
näher ausgebreitet werden wird, liegt so klar zutage
wie das Matterhorn. Trotzdem wird sie immer wieder
gern verdrängt, und so haben wir gedacht: »Wenn
hier schon ein klarer Irrtum offenbar nicht auszurotten
ist, vielleicht gibt es noch andere? Laßt uns doch mal
sehen!«
Das Ergebnis ist dieses Lexikon. Es enthält 500
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 3

Irrtümer aus Politik, Geschichte, Technik, Wirtschaft,


Medizin, populäre Mythen, die sich hartnäckig wei-
gern zu verschwinden, logische Kurzschlüsse, Zei-
tungsenten, gern geglaubte Wunschbilder, ohne An-
sicht der Bedeutung, allein nach dem Gesichtspunkt
ausgesucht: »Ist die betreffende Aussage falsch, und
wird sie heute immer noch geglaubt?«
Bei der Auswahl der Irrtümer haben wir uns nicht
gefragt, ob eine Behauptung wichtig, sondern ob sie
richtig ist; deshalb enthält unsere Sammlung neben
vielen kapitalen Böcken, um einmal diesen
Jägerausdruck zu gebrauchen, auch manche Triviali-
täten, neben historischen Falschmeldungen mit welt-
geschichtlichen Konsequenzen auch viele kleine All-
tagsfehler, die uns nur am Rande interessieren. Neben
teuren Irrtümern zu AIDS, Gesundheit und Sozialpro-
dukt, die uns Milliarden kosten oder kosten können,
beleuchten wir auch billige Mißverständnisse zur
Herkunft von Wörtern oder zur Echtheit von Zitaten,
neben lebensgefährlichen Illusionen zu Strahlenbela-
stung und Umweltschäden listen wir auch harmlose
Pannen bei Glücksspielen und Wahrscheinlichkeiten
auf, so daß wir uns durchaus nicht ohne gewisse
Skrupel entschlossen haben, alle diese Irrtümer zwi-
schen den Einbanddeckeln ein und desselben Buches
auszubreiten.
Letztendlich haben wir es aber doch getan. Denn
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 4

Wahrheiten, auch wenn sie folgenschwer und wichtig


sind, müssen durchaus nicht immer ernst und schwarz
dahergeschritten kommen, sie vertragen auch leichtere
Gesellschaft, werden dadurch sogar aufgewertet, so
daß unsere Mischung aus Lappalien und dicken Brok-
ken die Verdaulichkeit der dicken Brocken, die von
Carl Haensel beschworene »Erlösung von der eigenen
Irrtumsschwerkraft«, vielleicht sogar noch fördert,
statt sie zu behindern.
Dabei sind wir uns durchaus bewußt, daß manche
unserer »Irrtümer« die jeweiligen Experten nur ein
müdes Lächeln kosten. Kein Ökonom z.B. würde
denken, daß die auf einem Markt verkauften und ge-
kauften Mengen eines Gutes differieren könnten (jeder
Verkauf ist zugleich auch ein Kauf und umgekehrt),
kein Jurist behaupten, daß ein rechtsgültiger Vertrag
immer Schriftform haben müsse, kein Biologe lehren,
daß Bakterien grundsätzlich schädlich seien. Aber auf
der anderen Seite haben wir schon zu oft in den Ab-
endnachrichten als Erklärung eines schlechten Tages
an der Börse hören müssen: »Die Aktien sind gefal-
len, es wurden mehr Aktien verkauft als gekauft«, um
Irrtümer von dieser Sorte ganz zu unterschlagen –
auch was Experten lange schon als Fehler kennen,
wird von Nicht-Experten häufig noch geglaubt.
Und außerdem können auch Experten selber irren.
Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts etwa haben Phy-
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LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 4

siker bezweifelt, daß Moleküle und Atome existieren,


haben Nobelpreisträger Stein und Bein geschworen,
daß Atome, wenn sie schon existieren, so doch nie-
mals spaltbar wären, haben Biologen, Zoologen, Psy-
chologen, Astrologen, haben Wissenschaftler aller
Sparten einen Unfug nach dem anderen verkündet.
Aristoteles, einer der größten Gelehrten seiner Zeit
und aller Zeiten, lehrte, daß Insekten spontan aus
Schlamm heraus entstehen oder daß die Welt aus nur
vier Elementen – Feuer, Wasser, Luft und Erde – be-
stehe, plus dem sogenannten »Äther«, der den Him-
mel füllt. Schwere Gegenstände fallen nach seiner Na-
turlehre schneller als leichte, Wein in einem großen
Faß mit Wasser wird selbst zu Wasser, ein Rebhuhn-
weibchen wird befruchtet, wenn der Wind vom Männ-
chen her weht, und Leute mit großen Köpfen schlafen
viel, um nur einige der Wahrheiten aufzuführen, an
die man früher Hunderte von Jahren glaubte. Der
Astronom Edmond Halley – nach dem auch der Hal-
leysche Komet benannt ist – hielt die Erde für eine
hohle Kugel, in die wie in einer russischen
Matrjoschka weitere Welten eingeschachtelt sind, und
der große Immanuel Kant glaubte entdeckt zu haben,
daß die Wanzen, die ihm seine Ruhe störten, durch
Sonnenlicht entstehen. Worauf er bis zu seinem Tod –
dieser Theorie die Treue haltend – sein Schlafzimmer
verdunkelte. »Ich ließ ihn bei seiner Meinung«, be-
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LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 5

richtet sein Schüler und Faktotum Wasianski, »sorgte


für die Reinigung seines Schlafzimmers und Bettes,
wodurch die Wanzen sich verminderten, obgleich die
Läden und Fenster, um frische Luft zu schaffen, fast
täglich – freilich ohne sein Mitwissen – geöffnet wur-
den.«
Unsere Anfälligkeit für Irrtümer hängt also nicht
vom Intelligenzquotienten ab, falls das den einen oder
anderen Leser trösten sollte. Der einzige Schutz gegen
das Irren besteht darin, überhaupt nicht nachzuden-
ken, und deshalb ist auch nicht die Existenz von Irr-
tümern das eigentlich verblüffende, sondern daß sie
häufig wie Falschgeld so erstaunlich lang im Umlauf
bleiben; manche scheinen niemals auszusterben. Eini-
ge überleben, weil sie nützlich sind – zum Durchset-
zen oder Kaschieren von Interessen, oder weil es be-
quem ist, oder weil der Pfarrer oder die Gewerkschaft
es so sagt, oder weil man seine Ruhe haben will. An-
dere, wie die bekannte Großstadtsage von der Ratte in
der Pizza, dienen dem unbewußten Ausleben von
Ängsten und Aggressionen, die sich in solchen My-
then ungestraft entladen dürfen, wieder andere, wie
das Märchen von der grundsätzlichen Gefährlichkeit
des Alkohols, werden von wohlmeinenden Paternali-
sten vor allem zum Schutz des dummen Volkes aus-
gebreitet, das ja bekanntlich die Wahrheit nicht ver-
trägt, und wieder andere schließlich sind glatte Lügen
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LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 5

oder simple Denkfehler, die nur noch nicht entschlei-


ert worden sind.
Am leichtesten sind dabei diejenigen Irrtümer zu
entlarven, die reine Fakten betreffen. Hier reicht ein
Blick in den Brockhaus oder in das Statistische Jahr-
buch, und der Irrtum ist erkannt. Schwieriger war bei
der Vorbereitung dieses Lexikons die Entscheidung
bei Irrtümern der Definition und Interpretation, wie
etwa bei der Frage, ob Armut, Krebsgefahr und Woh-
nungsnot in Deutschland zunehmen; hier hängt die
Wahrheit oft entscheidend davon ab, was man mit
Armut, Krebsgefahr und Wohnungsknappheit meint.
Und am schwersten zu entlarven sind falsche Theo-
rien, zum einen, weil auch die beste Theorie die Wirk-
lichkeit immer nur annäherungsweise beschreiben
kann und deshalb angreifbar bleibt, zum anderen,
weil viele Theorien sich gegen Widersprüche quasi
imprägnieren, so wie die folgende Kurzfassung der
marxistischen Verelendungstheorie: Definition: »Der
Kapitalismus ist ein System, das den Arbeiter ausbeu-
tet.« Satz: »Arbeiter werden im Kapitalismus ausge-
beutet.« Einer solchen Theorie ist offensichtlich
weder mit Logik noch mit Fakten beizukommen.
In dieser letzten Irrtums-Klasse haben wir uns
daher sehr zurückgehalten und nur solche gern ge-
glaubten Theorien aufgenommen, die entgegen der
Folklore von den meisten Fachleuten als irrig angese-
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LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 6

hen werden (wie etwa der populäre Irrglaube, daß


man durch Handelsschranken Arbeitsplätze retten
könnte, oder daß Exporte unseren Wohlstand si-
chern), und erheben nicht den Anspruch, der Weisheit
letzten Schluß zu kennen.
Glaubensfragen und verwandte irrtumsschwangere
Gebiete – Ist der Papst unfehlbar? Gibt es Gott? Lebt
Elvis Presley? – haben wir dagegen vollständig ge-
mieden, obwohl auch hier viele unserer Leser und Le-
serinnen einem Irrtum unterliegen (entweder die eine
Hälfte, die daran glaubt, oder die andere Hälfte, die
nicht daran glaubt), genauso wie Irrtümer der Art: die
Titanic kann nicht sinken, das Dritte Reich wird 1000
Jahre dauern, ein Computer wird niemals einen
Schachgroßmeister schlagen, die sich regelmäßig
selbst enttarnen, auch wenn viele davon heute noch
als Wahrheit gelten.
Manche der weiter unten aufgeführten Irrtümer sind
auch in der großen Grauzone zwischen wahr und
falsch zuhause, wie »Ehemänner leben länger« oder
»Elefanten haben Angst vor Mäusen«. Solche Aussa-
gen haben wir immer dann als Irrtum in die Samm-
lung aufgenommen, wenn auch noch andere, von der
Folklore abweichende Erklärungen für die jeweiligen
Phänomene existieren (wie für die Häufung von
gleichlautenden Anfangsbuchstaben in den Sonetten
Shakespeares, die anders, als viele glauben, auch
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LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 6

durch Zufall zu erklären sind).


Bei Themen außerhalb unserer eigenen beruflichen
Kompetenz haben wir uns in der Regel auf die eta-
blierte Wissenschaft verlassen, wohl wissend, daß
auch diese durchaus irren kann. Aber vor die Wahl
gestellt, entweder einer Zeitgeistmode oder der Mehr-
heit aller Universitätsgelehrten zu vertrauen, haben
wir uns für das kleinere Risiko, d.h. für die Universi-
tät entschieden. Denn auch wenn die meisten wissen-
schaftlichen Durchbrüche von den Universitätsgelehr-
ten zunächst belächelt worden sind, der populäre Um-
kehrschluß, jeder Spinner wäre allein schon deshalb
ein Genie, ist genauso falsch. Wie etwa Martin Gard-
ner in Frauds and fallacies in the name of science so
überzeugend wie unterhaltsam vorführt, tragen die al-
lermeisten von der Schulwissenschaft als Quacksalber
ignorierten Zeitgenossen diesen Titel durchaus zu
recht, von Ufo-Jägern über Parapsychologen bis hin
zum großen Heer der modernen Diät- und Ernäh-
rungsgurus, die uns als die großen Rattenfänger des
ausgehenden 20. Jahrhunderts in zahlreichen Stich-
wörtern noch oft in diesem Buch begegnen werden.
(Nicht umsonst halten aufmerksame Beobachter unser
Verhältnis zu Essen und Ernährung für die letzte
große Bastion von Dummheit und Aberglauben auf
der Welt, und gibt es zwischen den aufgeklärten »Du-
bist-was-du-ißt« Klienten moderner Bioläden und den
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LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 7

Kannibalen Neu-Guineas, die ihre Nachbarn essen,


um deren Verstand zu erben, nur graduelle Unter-
schiede.)
Zu den meisten Stichwörtern dieser Sammlung
geben wir Hinweise auf weiterführende Literatur, wo
Zweifler, wenn sie wollen, tiefer graben können
(immer nur als erster Einstieg zu verstehen; in aller
Regel haben wir mehr Quellen konsultiert als explizit
zitiert). Als Faustregel für das Zuweisen von Verant-
wortung kann dabei gelten, daß wir für Irrtümer, die
durch eigene, in dieser Literaturliste dokumentierte
Recherchen abgesichert sind, auch persönlich wissen-
schaftlich haften; für die übrigen Irrtümer stehen wir
nur insofern gerade, als sie nach unserer persönlichen
Interpretation der einschlägigen wissenschaftlichen
Mehrheitsmeinung bzw. nach dem aktuellen Stand
von Lexika wie Brockhaus oder Meyer als Irrtümer
betrachtet werden müssen; hier geben wir vor allem
Schulbuchweisheit, so wie wir sie sehen, nach bestem
Wissen und Gewissen wieder.
Als Testleser und Schiedsrichter in Zweifelsfragen,
ob ein Irrtum wirklich noch Anhänger bei potentiellen
Lesern und Leserinnen haben könnte, haben Dennis
und Doris Krämer, Birgit Trenkler, Uwe Gruhle und
Matthias Bischoff an dieser Sammlung mitgewirkt.
Bei unseren Exkursen in fachfremde Regionen, spe-
ziell in Medizin, Geschichte und Ernährung, haben
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uns geholfen (nicht immer wissend, wobei sie uns ge-


holfen haben), in alphabetischer Reihenfolge: Bene-
dikt Burkard, William Farebrother, Ekkehard Frauen-
dorf, Konrad Fuchs, Karl Grammer, Ulrike Guba,
Carsten Heuer, Axel Klein-Klute, Günter Krämer,
Rolf von Lüde, Antje Martin, Gert von Paczensky,
Michael Schmidt, Tamara Schröter, Natalie und
Achim Strutz, Jens Sylvester und Rainold Tute. Wir
danken allen diesen Helfern herzlich und weisen deut-
lich darauf hin, daß sie für weltanschaulich anstößige
Schlußfolgerungen aus den Materialien, die sie uns
zugetragen haben, keiner Haftung unterliegen; ver-
mutlich stimmen nicht wenige unserer Freunde ver-
schiedenen Passagen weiter unten überhaupt nicht zu.
Diesen und anderen vielleicht mißgestimmten Les-
ern zum Trost sei deshalb gleich zu Anfang darauf
hingewiesen, daß unsere Irrtümer keine ideologischen
Grenzen kennen und daß wir vermutlich vielen Par-
teien, Professionen, Religionen gleichermaßen auf die
Füße treten werden: Die einen werden uns die Bemer-
kung verübeln, daß unser deutscher Mieterschutz den
Mietern netto eher schadet, die anderen werden uns
die unter Experten altbekannte Wahrheit ankreiden,
daß weiche Drogen wie Marihuana oder Haschisch
nicht gefährlicher als Rotwein sind; die einen werden
uns Reaktionäre schimpfen, weil wir glauben, daß die
westlichen Kolonialmächte durch ihre Kolonien nicht
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LexPI Bd. 1 Vorwort zum »Lexikon der populären Irrtümer« 7

reicher, sondern ärmer wurden, die anderen uns für


linke Spinner halten, weil wir die unter Ökonomen
altbekannte These wiederholen, daß eine hohe Staats-
verschuldung keinesfalls per se von Übel ist, oder daß
der sogenannte Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversiche-
rung, den die deutsche Wirtschaft gern als ihren Bei-
trag zum sozialen Frieden feiert, in Wahrheit aus der
Tasche der Arbeitnehmer fließt und genauso zum
Bruttogehalt der Arbeitnehmer zählt wie die Lohn-
steuer und andere Abzüge von unserem Einkommen
auch. Und so weiter durch das ganze Spektrum der
modernen Meinungen hindurch. Wir nehmen es nie-
mandem übel, wenn er oder sie seine oder ihre Lieb-
lingsillusion nicht ohne Kampf begraben will, und
sind im übrigen gerne bereit, getreu der Devise des
großen Georg Christoph Lichtenberg, daß »es fast un-
möglich ist, die Fackel der Wahrheit durch ein Ge-
dränge zu tragen, ohne jemand den Bart zu sengen«,
den Zorn der Andersgläubigen mit Würde zu ertragen.
Dortmund
Walter Krämer und Götz Trenkler

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Vorwort zu »Das neue Lexikon der populären Irrtümer« 5

»Irrtum verläßt uns nie; doch ziehet ein höher Bedürfnis


immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.«
Goethe

Vorwort

Bekanntlich gibt es weit mehr Möglichkeiten, sich zu


irren, als im Recht zu bleiben. Und kaum war die
Druckerschwärze unseres »Lexikons der Populären
Irrtümer« getrocknet, begannen schon die ersten Brie-
fe einzutreffen: »He, da haben Sie was übersehen ...«
Hier sind also all die Irrtümer, denen wir selber bis
vor kurzem angehangen oder die wir für den ersten
Band zu spät gefunden haben, oder über die wir bis-
her, d.h. bis uns unsere Leser mit der Nase draufge-
stoßen haben, nie gezwungen waren nachzudenken –
wie gehabt querbeet aus Politik und Wirtschaft,
Mode, Kunst, Geschichte, Medizin und Technik, ohne
Ansicht der Bedeutung, allein nach dem Kriterium ge-
wertet, ob Schein und Sein zu einem Sachverhalt zu-
sammenpassen, ob man sich zu einem Thema hinrei-
chend häufig irrt oder nicht. Auch diesmal sind die
einzelnen Stichwörter strikt alphabetisch aufgelistet,
mit oft brutalen Konsequenzen (Denk ich an Deutsch-
land vor Deodorant, Guernica vor Gulaschsuppe).
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LexPI Bd. 2 Vorwort zu »Das neue Lexikon der populären Irrtümer« 5

Wie im ersten Band finden sich Trivialitäten (haben


die alten Gallier Wildschweine gegessen?) neben
»dicken Brocken« wie etwa dem Irrtum, daß unsere
»kostenlose« Hochschulbildung eine soziale Aus-
gleichswirkung hätte (sie ist im Gegenteil ein Instru-
ment der Ausbeutung der Unterklasse durch die Ober-
klasse), es finden sich Lügen und Legenden zu Attila
und Aschenputtel, zu Glühbirne und Global War-
ming, zu Karies und Kaspar Hauser, Nationalhymnen
und Nasenbluten, Schweinefleisch und Schwarzarbei-
tern, zu Walnuß, Waldsterben und Weihnachtsbäu-
men nur Zentimeter auseinander, wie das Alphabet es
eben will.
Viele dieser Irrtümer sind weniger wegen eines
möglichen Aha-Effektes von Interesse – Chinesen tra-
gen keine Zöpfe, Eskimos haben gar nicht so viele
Wörter für Schnee, Delphine sind keine Fische, Fred-
dy Quinn kommt nicht aus Hamburg; das muß man
nicht in jedem Fall zum Glücklichwerden wissen –,
sie beleuchten vielmehr dadurch, daß sie allen Gegen-
argumenten trotzend scheinbar ewig weiterleben,
quasi indirekt ganz andere Defekte der Gesellschaft
(warum z.B. erscheint es uns aufgeklärten Mitteleuro-
päern überhaupt bemerkenswert, daß auch Eskimos
sich auszudrücken wissen?). Sie sind Ventile für un-
eingestandene Vorurteile, verborgene Leidenschaften
und politisch inkorrekte Glaubenssätze, sie stützen
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LexPI Bd. 2 Vorwort zu »Das neue Lexikon der populären Irrtümer« 6

liebgewonnene, aber falsche Theorien, sie helfen uns


in vielfacher Hinsicht besser durch das Leben, so daß
unsere Irrtumsbücher über den Gebrauch als Klo- und
Bettlektüre hinaus dem einen oder anderen Leser
einen Anstoß geben könnten, einmal über die Geburt
und Resistenz von Irrtümern als solchen nachzuden-
ken.
Wie schon im ersten Band vertrauen wir bei der
Unterscheidung von Irrtum und Wahrheit den eta-
blierten Wissenschaften, auch wenn diese die Wahr-
heit anerkanntermaßen nicht gepachtet haben. Weitere
Hilfe verdanken wir verwandten Irrtums-Büchern,
von denen wir größtenteils bisher nicht wußten, daß
sie existieren; in einer kleinen kommentierten Biblio-
graphie am Ende stellen wir diese Quellen für unsere
geneigte Leserschaft nochmals kompakt zusammen.
Offenbar hat sich hier ein Zeitgeist in Druckerschwär-
ze ergossen, dem vielleicht auch unser erster Band
seinen Anklang beim Publikum verdankt, der grund-
sätzlich dem Zweifel den Vorrang vor dem Glauben
gibt, anders können wir uns das unabhängige Sprieß-
en solcher Bücher in Amerika und England, Australi-
en und den Niederlanden, Italien und Frankreich nicht
erklären.
Weiteren Dank schulden wir Frank Scherer, Lars
Tschiersch und Osman Sankoh für monatelange uner-
müdliche Recherchen sowie vielen Freunden und Kol-
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LexPI Bd. 2 Vorwort zu »Das neue Lexikon der populären Irrtümer« 6

legen, die zu zahlreich sind, sie hier alle aufzuzählen,


für ihre Hilfe bei der Quellensuche, nicht zu verges-
sen all den Lesern unseres ersten Bandes, die uns so
eifrig mit weiteren Stichwörtern bereichert haben.
Stellvertretend für alle nennen wir hier nur Alfredo
Grünberg, er hält wohl den Rekord (alle anderen wer-
den, sofern wir noch die Namen wissen, bei den
Stichwörtern selbst genannt, die sie für uns beigetra-
gen haben; wer sich zu Unrecht dort nicht wiederfin-
det, bitte melden; wir werden den Mangel in der
nächsten Auflage beheben).
Für die Korrektheit unserer Thesen haften wir na-
türlich selber; wir haben alle Stichwörter nochmals
überprüft bzw. überprüfen lassen, durch eigene Re-
cherchen (Drehen sich Sonnenblumen nach der
Sonne? Nein, wie wir selber sehen konnten, blicken
sie morgens, mittags und abends in die gleiche Rich-
tung) oder durch Appelle an etablierte Fachbücher
und Lexika, so daß wir hoffen, daß uns Zuschriften
wie die von Hans Riedwyl zum Stichwort »Lloyd's«
im ersten Band nicht allzuoft erreichen: Wir hatten,
auf die Encyclopaedia Britannica vertrauend, behaup-
tet, Lloyd's biete keine Versicherungen für das Leben
an, und in der Post war folgende Police:

¤ Debit Note
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Ansonsten nehmen wir nicht in Anspruch, der


Wahrheit letzten Grund zu kennen, sind aber guten
Mutes, mit diesem Lexikon nicht mehr neue Irrtümer
in die Welt zu setzen, als alte aufzuklären.
Dortmund und Göttingen
Walter Krämer, Denis Krämer und Götz Trenkler

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 383

Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur

Isaac Asimov: Wenn die Wissenschaft irrt ..., Ber-


gisch Gladbach 1990. Tatsachen und Spekulation-
en zu kosmischen Phänomenen.
Paul Bairoch: Economics and world history: Myths
and paradoxes, New York 1993.
Irrtümer und Mythen aus der Wirtschaftsgeschich-
te, erläutert von einem der führenden Wirtschaftshi-
storiker unseres Planeten. Bairochs Forschungen
zur europäischen Kolonialgeschichte haben wir
ausführlich für den ersten Band verwendet.
Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique,
Paris 1697.
Ein Klassiker und ein »Monument kritischer
Durchdringung der Tradition« (K. Stierle), war An-
regung und Ausgangspunkt für die Enzyklopädi-
sten wie für den kritischen Voltaire. Ursprünglich
geplant als ein »Dictionnaire des fautes«, eine En-
zyklopädie der Irrtümer, dann aber zu einer Ge-
samtschau (aus der Warte des späten 17. Jahrhun-
derts) des überlieferten Wissens inklusive seiner
Fehler ausgebaut.
Arnold E. Bender: Health or hoax? The truth about
health food and diets, Goringon-Thames 1985.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 383

Räumt mit den Vorurteilen der modernen Müsli-


Esser auf; vor allem in Band 1 haben wir oft auf
diese Quelle zurückgegriffen.
Wolfgang Benz (Hrsg.): Legenden, Lügen, Vorurtei-
le, München 1990 (inzwischen in einer überarbei-
teten Fassung auch als Taschenbuch erschienen).
Legenden, Lügen und Vorurteile aus der Nazizeit.
Jean-François Bouvet (Hrsg.): Du fer dans les épi-
nards, Paris 1997.
40 Irrtümer aus Biologie, Ernährungswissenschaft
und Medizin, angefangen mit dem berühmten Klas-
siker vom vielen Eisen im Spinat (siehe auch Band
1 unseres eigenen Lexikons; auch die meisten ande-
ren Irrtümer finden sich schon in unserem eigenen
Band 1, einige sind hier in Band 2 zu finden).
Tom Burnam: The dictionary of misinformation,
New York 1975.
Irrtümer aus allen Bereichen von Wissenschaft und
Alltag, mit Schwerpunkt Literaturwissenschaften.
Keine Belege oder Quellen, vor allem für ein ame-
rikanisches Publikum geschrieben.
Graeme Donald: Things you thought you thought
you knew, London 1986.
Alphabetisch sortierte, journalistisch flott erzählte
Mythen aus allen Bereichen unseres Lebens, leider
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 383

nur wenig durch Quellen untermauert und deshalb


sehr schwer nachzuprüfen.
Graeme Donald: Things you didn't know you didn't
know, London 1993.
Neuauflage des Buches von 1986, diesmal nach
Sachgebieten geordnet (Krieg und Frieden, See-
fahrt, Religion, Law and Order usw.).
Stephen Jay Gould: Illusion Fortschritt, Frankfurt
a.M. 1998.
Räumt mit diversen Mythen betreffend Darwinis-
mus und Fortentwicklung unserer Spezies auf.
Hanswilhelm Haefs: Handbuch des nutzlosen Wis-
sens, München 1989.
Stopft neben weniger gefährlichen Wissenslük-
ken – »Eine Stunde mit dem Kopf gegen die Wand
schlagen verbraucht 150 Kalorien« – auch manches
dicke Loch in unserem Weltverständnis. Inzwi-
schen durch ein zweites und drittes »Handbuch des
nutzlosen Wissens« ergänzt.
Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel und Brigitte
Kronauer: Kulturgeschichte der Mißverständnis-
se, Stuttgart 1997.
Ein Irrtumslexikon mit belletristischem Anspruch.
Schwerpunkt Geisteswissenschaften.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 384

William Lewis Hertslet: Der Treppenwitz der Welt-


geschichte, 11. Auflage, Berlin 1965.
Ein Klassiker, und heute noch genauso frisch wie
bei der Erstauflage vor über 100 Jahren; Irrtümer,
Legenden, Mythen der Geschichte.
Walter Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus der Welt
des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt a.M. 1995
(1998 als Taschenbuch erschienen).
Streifzug durch mentale Eigentore beim Umgang
mit Zahlen und Wahrscheinlichkeiten.
Peter Kuhlemann: Ethnologische und zoologische
Irrtümer in der Archäologie, Köln 1979.
Deckt diverse Fehlinterpretationen steinzeitlicher
Höhlenmalereien auf.
Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt?, 3.
Auflage, Gütersloh 1989.
Übersetzungsfehler in der Bibel (»Kamel durch
Nadelöhr«, »Nimm Dein Bett und wandle« usw.);
wir selbst zitieren es an vielen Stellen.
H. van Maanen, J.J.E. van Everdingen und H.E.
Fokke: Uit het oog, uit het hart, Amsterdam 1983
(französische Übersetzung: Le cœur se situe à gau-
che – mille et une idées reçues en matière de méde-
cine, Amsterdam 1995).
Irrtümer aus der Medizin, enthält neben manchen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 384

»alten Kamellen« auch viele Dinge, die wir selbst


nicht wußten ...
J.L. McCarey: Sexual myths and fallacies, New York
1971.
Veraltet, heute nur noch als Dokument der ameri-
kanischen Prüderie der Voraufklärung von Interes-
se.
Fritz C. Müller: Wer steckt dahinter?, Düsseldorf
1964.
Alphabetisch geordnetes Herkunftslexikon von
»Abrahams Schoß« bis »Zilletypen«. Deckt quasi
nebenbei auch diverse Irrtümer zur Herkunft von
Namen und Begriffen auf.
Burkhard Müller-Ulrich: Medienmärchen – Gesin-
nungstäter im Journalismus, München 1996.
Zeichnet anhand diverser Medienkampagnen der
letzten Jahre die Genesis von Mythen zum Tier-
und Umweltschutz, zum Waldsterben und zu ande-
ren Hobbythemen progressiver Journalisten auf.
Ein absolutes Muß für jeden, der diesen Predigern
einmal auf die Schliche kommen möchte.
Sven Ortoli und Nicolas Witkowski: Die Badewanne
des Archimedes – Berühmte Legenden aus der
Wissenschaft, München 1997.
Eine Übersetzung aus dem Französischen, daher
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 385

für deutsche Leser kaum genießbar (typisches fran-


zösisches Gelehrtengeschwafel).
Udo Pollmer, Andrea Fock, Ulrike Gonder und Karin
Haug: Prost Mahlzeit! Krank durch gesunde Er-
nährung, Köln 1994.
Räumt mit diversen Mythen unserer Gesund-Ernäh-
rer auf; ähnlich wie Bender.
Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Besserwis-
ser, München 1986.
Neben Hertslets »Treppenwitz« der zweite Klassi-
ker zu Irrtümern aus der Geschichte; hat uns für
Band 1 zahlreiche Hinweise gegeben.
Gerhard Prause: Niemand hat Kolumbus ausgelacht,
Düsseldorf 1986.
Die gröbsten Irrtümer aus »Tratschkes Lexikon«
ausführlich und sehr unterhaltsam nochmals ausge-
breitet.
Carol Ann Rinzer: Feed a cold, starve a fever – A
dictionary of medical folklore, New York 1991.
Hunderte von populären Vorurteilen und Mißver-
ständnissen aus der Medizin.
Lynn Scarlett: A consumer's guide to environmental
myths and realities, Dallas 1994.
Eine Abrechnung mit grünen Alarmaposteln und
ihren falschen Umwelttheorien.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 385

George W. Simpson: Why do some shoes squeak?,


New York 1984.
Erklärt über 500 alltägliche und nicht so alltägliche
Phänomene aus Naturwissenschaft und Alltagsle-
ben. Deckt dabei auch den einen oder anderen Irr-
tum auf.
Petr Skrabanek und James McCormick: Torheiten
und Trugschlüsse in der Medizin, 4. Auflage,
Mainz 1995.
Abrechnung mit den bekannten Vorurteilen zu Pla-
cebos, Prävention und moderner Medizin im allge-
meinen.
Chris Thurman: Lügen, die wir glauben, Aßlar 1994.
Populäre Irrtümer aus der Selbsterfahrungsszene
und aus der Populärpsychologie.
Chris Thurman: Noch mehr Lügen, die wir glauben,
Aßlar 1997.
Siehe oben.
Tad Tulleja: Fabulous Fallacies, New York 1982.
300 populäre Irrtümer aus allen Bereichen unseres
Lebens, und wie sie entstanden sind.
Claude Vallette und Tom Burnam: Encyclopédie des
idées reçues, Monaco 1978.
Im wesentlichen eine französische Fassung von
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eine kleine Bibliographie der Irrtumsliteratur 386

Burnam (1975).
Philip Ward: A dictionary of common fallacies, 2
Bände, New York 1980.
Enthält neben »echten« Irrtümern auch viel ordinä-
ren Aberglauben. Gibt in der Regel Quellen an.
Der zweite Band enthält eher Ladenhüter.
H.J. Winkler: Legenden um Hitler, Berlin 1963.
Der Titel ist selbsterklärend.
Robert L. Wolke: Woher weiß die Seife, was der
Schmutz ist? Kluge Antworten auf alltägliche
Fragen, München 1998.
Ein unterhaltsamer Streifzug durch Physik, Chemie
und Alltagsleben; klärt nebenbei auch viele Irrtüm-
er zu chemischen und physikalischen Gesetzen auf.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


Zur digitalen Ausgabe 387

Zur digitalen Ausgabe

Wer glaubt nicht an die Geschichte mit dem Stück


Fleisch, das sich in Cola auflöst? – Die, die es aus-
probiert haben. Oder die, die den Artikel ›Coca-Cola‹
im »Lexikon der populären Irrtümer« kennen. Noch
schneller zur Aufklärung der Irrtümer gelangt man
nun mit der digitalen Ausgabe der beiden im Eichborn
Verlag erschienenen Buchausgaben »Lexikon der po-
pulären Irrtümer« und »Das neue Lexikon der populä-
ren Irrtümer«.
Die digitale Ausgabe gibt den vollständigen Text
unverändert wieder. Die Stichwörter der beiden Buch-
ausgaben wurden zu einer Stichwortliste zusammen-
geführt. Das Registerblatt »Register« ermöglicht mit
dem Verzeichnis der Stichwörter und dem Verzeich-
nis der Irrtümer einen schnellen Zugriff auf die ge-
wünschten Informationen. Mit der Stichwortsuche fin-
det man nicht nur die Lexikoneinträge, sondern auch
alle anderen Stellen, wo das gesuchte Thema noch ge-
streift wird. Besonders nützlich ist hier die Möglich-
keit des Kopierens und Einfügens: wenn mal wieder
Uneinigkeit über die eine oder andere Binsenweisheit
herrscht, weiß es der Besitzer der CD nicht nur bes-
ser, sondern kann auch gleich per e-mail den Beweis
erbringen!
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
Zur digitalen Ausgabe 387

Eine ausführliche Beschreibung aller zur Verfü-


gung stehenden Funktionen der »Digitalen Biblio-
thek« bieten die »Hilfe«-Funktion, die jederzeit über
die Taste »F1« aufgerufen werden kann, sowie die der
Ausgabe beiliegende gedruckte »Einführung in die
Software«.

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Sigel, Seitenkonkordanz und Copyright 387

Sigel, Seitenkonkordanz und Copyright

Wird im Funktionsregister »Diverses« die Option


»Konkordanz zu gedruckten Ausgaben« gewählt, er-
scheinen im Kolumnentitel des wiedergegebenen Tex-
tes links das Sigel und rechts die entsprechende Sei-
tenzahl der folgenden Buchausgaben:

LexPI Bd. 1
Krämer, Walter / Trenkler, Götz: Lexikon der po-
pulären Irrtümer. 500 kapitale Mißverständnisse,
Vorurteile und Denkfehler von Abendrot bis Zep-
pelin. 14. Auflage, Frankfurt am Main: Eichborn,
1997.
© 1996 Eichborn AG, Frankfurt am Main. Lizenz-
ausgabe mit freundlicher Genehmigung der Eich-
born AG, Frankfurt am Main.

LexPI Bd. 2
Krämer, Walter / Krämer, Denis/ Trenkler, Götz:
Das neue Lexikon der populären Irrtümer. 555 wei-
tere Vorurteile, Mißverständnisse und Denkfehler
von Advent bis Zyniker. Frankfurt am Main: Eich-
born, 1998.
© 1998 Eichborn AG, Frankfurt am Main. Lizenz-
ausgabe mit freundlicher Genehmigung der Eich-
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Sigel, Seitenkonkordanz und Copyright 387

born AG, Frankfurt am Main.

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Impressum der digitalen Ausgabe 387

Impressum der digitalen Ausgabe

Copyright 2003:
Directmedia Publishing GmbH

ISBN:
3-932544-83-8

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


Lexikon

Lexikon

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


A 9

»Die gemeinsten Meinungen und was jeder für


ausgemacht hält, verdient oft am meisten
untersucht zu werden.«
Georg Christoph Lichtenberg

»Man erkennt den Irrtum daran,


daß alle Welt ihn teilt.«
Jean Giraudoux

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Abendessen 9

Abendessen (s.a. ð »Frühstück«)


Das Essen abends schlägt mehr an als mittags
oder morgens
Für das Dicker-werden ist es unerheblich, wann am
Tag wir eine Mahlzeit zu uns nehmen. »Es gibt keine
Beweise dafür, daß wenn die Nahrung bei Nacht auf-
genommen wird, wesentlich mehr Kalorien als Fett
gespeichert werden, als wenn die gleichen Nahrungs-
mittel während des Tages verzehrt werden« (Gesund-
heitsreport Intern der Universität Berkeley in Kalifor-
nien). »Die Kalorien, die Sie in der Nacht zu sich
nehmen, werden einfach dann verbraucht, wenn sie
benötigt werden.«
& Lit.: Gesundheitsreport »Intern«, Band 9, Heft 12,
Dez. 1993.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Abendrot 9

Abendrot
Abendrot verheißt schönes Wetter
»Des Abends sprecht ihr: es wird ein schöner Tag
werden, denn der Himmel ist rot«, sagt Jesus in der
Bibel (Matthäus 16,2; in manchen Übersetzungen
fehlt die Stelle). Aber das stimmt nur bedingt. Richtig
ist, daß ein schwaches, pinkfarbenes Abendrot durch
eine besonders trockene Luft entsteht und daß deshalb
die Wahrscheinlichkeit für Regen sinkt. Ein knallroter
Abendhimmel dagegen entsteht oft durch feuchte
Staubpartikel in der Atmosphäre; er kündet eher
Regen an.
& Lit.: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift,
Stuttgart 1929.

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LexPI Bd. 1 Ablaß 10

Ablaß
Die Reformation ist aus Luthers Kampf gegen
den Ablaßhandel entstanden (s.a. ð »Luther«)
Es ist eine weitverbreitete, aber falsche Ansicht, Mar-
tin Luther wäre vor allem wegen seiner grundsätzli-
chen Ablehnung des Ablaßhandels zu dem großen
Reformator geworden, als den wir ihn heute kennen.
In Wahrheit hatte Luther nur eine bestimmte Form
des Ablaßhandels, den zur Finanzierung des Peters-
doms in Rom ausgeschriebenen sogenannten »Peters-
kirchen-Ablaß« angegriffen, den man anders als ande-
re auch post mortem, nach dem Tod, erwerben konnte
(d.h. auch Tote waren aus dem Fegefeuer freizukau-
fen). Außerdem mußten die Sünder ihre Taten noch
nicht einmal bereuen – schon das Geld allein sollte
den Erlaß der Sündenstrafen garantieren. Hier sah Lu-
ther einen Mißbrauch, den griff er in seinen berühm-
ten 95 Thesen an.
Daß dann aus dieser Meinungsverschiedenheit
unter Theologen die evangelische Kirche entstehen
sollte, hat er vermutlich weder geahnt noch damals so
geplant.
& Lit.: Gerhard Ritter: Luther, Frankfurt 1985; Ger-
hard Prause: Niemand hat Kolumbus ausgelacht,
Düsseldorf 1986 (besonders das Kapitel »Luthers
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ablaß 10

Thesenanschlag ist eine Legende«).

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LexPI Bd. 2 Aborigines 9

Aborigines
Aborigines gibt es nur in Australien
»Aborigine« ist das lateinische »ab origine« (= vom
Anfang an). Damit meint man seit antiken Zeiten die
Ureinwohner eines Landes, schon die alten Italiener
(außer den Römern selber) mußten sich von den Rö-
mern so bezeichnen lassen.

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LexPI Bd. 2 Advent 9

Advent
Die Adventszeit umfaßt die letzten vier Wochen
vor Weihnachten
Die von den frühen Christen als Zeit der Buße und
des Fastens und als Vorbereitung auf das Weih-
nachtsfest gesehene Adventszeit währte anders als
heute je nach Land und Leuten von zwei bis sieben
Wochen. Erst Papst Gregor der Große (590–604) be-
stimmte eine für alle Christen einheitliche Vier-Wo-
chen-Frist (plus die Tage vom letzten Advent bis Hei-
ligabend, wenn Heiligabend selbst kein Sonntag ist);
diese Frist wurde auf dem Konzil von Aachen 825
auch offiziell für Deutschland gültig.
& Lit.: Hartmut Schickert: Der kleine wissenschaft-
liche Adventsbegleiter, München 1997.

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LexPI Bd. 2 Adventskranz 9

Adventskranz
Der Adventskranz ist ein alter deutscher Weih-
nachtszeit-Begleiter (s.a. ð »Weihnachtsbaum«)
Der Adventskranz ist keine 150 Jahre alt; er wurde
erst Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Pädagogen
Johann Hinrich Wichern in das deutsche Brauchtum
eingeführt. Wichern hielt in seiner Einrichtung für ju-
gendliche Straftäter Adventsandachten ab, wegen der
frühen Dämmerung bei Kerzenlicht. Jedoch ließ er
nicht alle Kerzen auf einmal brennen, er begann mit
einer Kerze am ersten Abend, zwei Kerzen am zwei-
ten Abend und so weiter. Die Kerzen für die Sonntage
waren dabei groß und weiß, die für die Wochentage
klein und rot. Zum Aufstecken der Kerzen hing ein
Holzreifen von der Decke des Versammlungsraumes,
in den Anfangsjahren unbekränzt, seit 1860, dem offi-
ziellen Geburtsjahr des Adventskranzes, mit Tannen-
grün geschmückt.
Etwa zur gleichen Zeit und unabhängig von Wi-
chern hatte auch ein Pastor in Pommern damit begon-
nen, in seinen sonntäglichen Adventsandachten
jeweils eine weitere Kerze anzuzünden, anfangs auf
einem Weihnachtsbaum, später auf einem Kranz, und
diese Sitte wurde schnell und flächendeckend auch
von anderen übernommen. Die Symbolkraft dieses
Kranzes – der Baum und das Grün als das Symbol
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Adventskranz 10

des Lebens, der Kreis als das Zeichen der Ewigkeit,


der Auferstehung und des Lebens, die Kerzen als der
Hinweis auf das Licht, das in der Weihnachtsnacht
die Welt erleuchten wird –, einer dermaßen geballten
Ladung Tiefsinn konnte das Gemüt der Deutschen un-
möglich lange widerstehen.
& Lit.: H. Kirchhoff: Christliches Brauchtum im
Jahreskreis, München 1990; »Ein junger Brauch
ist der Adventskranz«, Westdeutsche Allgemeine
Zeitung, 27.11.1995; Stichwort vorgeschlagen
von Michael Schmidt.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Affen 10

Affen
Affen lausen sich
Anders als viele Zoobesucher glauben, suchen Affen
in den Fellen ihrer Artgenossen nicht nach Läusen.
Dieses häufige gegenseitige »Lausen« (»ich glaub',
mich laust der Affe«) dient vor allem dem Entfernen
von abgestorbenen Hautresten und Salzkrusten, die
durch den Schweiß entstehen, sowie quasi als Neben-
produkt auch dem Einüben eines solidarischen Sozial-
verhaltens – man »laust« sich, um die »Affenbande«
aneinander zu gewöhnen. Besonders die Schimpansen
haben dieses »groomen« (vom englischen »to groom«
= pflegen) zu einer großen Perfektion getrieben.
Affen sind im allgemeinen, wenn sie nicht in ex-
trem schmutzigen Käfigen leben, völlig frei von allen
Körperparasiten.
& Lit.: Deutsches Institut für Fernstudien: Evolution
des Menschen, Tübingen 1990.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Affenschande 11

Affenschande
Das Wort »Affenschande« hat mit Affen nichts zu
tun; es kommt aus dem Plattdeutschen: »Dat ist eine
apenbare (offenbare) Schande.«
& Lit.: Walter Zerlett-Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Aggression 11

Aggression
Der Aggressionstrieb ist grundsätzlich schädlich
Wenn man Nobelpreisträger Konrad Lorenz glauben
darf, ist Aggression durchaus nicht immer etwas
Schlechtes. Vielmehr kann Aggression, im Sinn eines
»auf den Artgenossen gerichteten Kampftriebs«, für
das Überleben einer Spezies geradezu notwendig sein:
Nur wenn ein Tier sein Territorium wenn nötig auch
gegen Artgenossen verteidigt, verbreitet sich die Art
wie Fettaugen auf einer Suppe so schnell wie möglich
über den verfügbaren Lebensraum; so nützt sie die
natürlichen Ressourcen optimal zum Überleben aus
(wohlgemerkt der Spezies, nicht des individuellen
Tieres).
Wäre Aggression nicht für das Überleben wichtig,
so das Argument von Zoologen, wären aggressive
Arten lange ausgestorben. Und da wir bei fast allen
Tieren Aggression gegen Artgenossen in der einen
oder anderen Form beobachten, muß Aggression per
Umkehrschluß der Arterhaltung dienen.
Wie auch immer wir daher die aktuellen Auswir-
kungen des Aggressionstriebes bei der Species Homo
sapiens bewerten, eins scheint sicher: Ohne diesen
Aggressionstrieb wären wir wahrscheinlich schon viel
früher ausgestorben.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Aggression 11

& Lit.: Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse: Zur


Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963;
Desmond Morris: The naked ape, London 1967;
Arno Plack (Hrsg.): Der Mythos vom Aggressi-
onstrieb, München 1973.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Agrarsubventionen 11

Agrarsubventionen
Die Europäische Union ist der größte Agrarsub-
ventionierer der Welt
Das stimmt nur in absoluten Zahlen – legt man die
Hilfen für die Bauern auf die Bevölkerung um, ent-
puppen sich ganz andere Länder als die größten
»Sünder«, etwa Norwegen und die Schweiz: Sie un-
terstützen ihre Bauern mit fast 900 Dollar (Schweiz)
oder sogar 1000 Dollar (Norwegen) pro Kopf und
Jahr, verglichen mit 500 Dollar in der Europäischen
Union.
& Lit.: »Guilty on all counts«, The Economist
21.8.1993; Peter Sutherland: Trade, the Uruguay
round and the consumer, Broschüre des GATT,
1993.

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LexPI Bd. 1 AIDS 12

AIDS
Ein AIDS-Test für alle wäre medizinisch sinnvoll
Ein Zwangs-Aids-Test für alle Bundesbürger, so wie
zuweilen öffentlich gefordert, wäre medizinisch wie
menschlich eine reine Katastrophe. Denn selbst bei
einem sehr zuverlässigen Test hätten dann rund 9 von
10 AIDS-Positiven in Wahrheit überhaupt kein
AIDS!
Dieses paradoxe Resultat hängt mit der Fehlerquo-
te bei medizinischen Tests zusammen. Diese ist bei
einem guten Test sehr klein: Wer AIDS hat, wird mit
großer Wahrscheinlichkeit als infiziert erkannt. Diese
Wahrscheinlichkeit, die sogenannte »Sensitivität« des
Tests, wird bei den aktuellen Verfahren auf 99,8% ge-
schätzt. Und auch wer kein AIDS hat, wird mit großer
Wahrscheinlichkeit als nicht infiziert erkannt. Diese
Wahrscheinlichkeit, die sogenannte »Spezifität« des
Tests, beträgt bei den aktuellen Verfahren rund 99%.
Aber trotzdem wären dann bei einer die ganze Bevöl-
kerung erfassenden Reihenuntersuchung noch nicht
einmal ein Zehntel der positiv getesteten auch wirk-
lich infiziert!
Angenommen, rund 1 Promille der sexuell aktiven
deutschen Bevölkerung, d.h. 50000 von rund 50 Mil-
lionen, sind tatsächlich infiziert. Das ist die heute von
Experten meistgenannte Zahl. Von diesen 50000 wür-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 AIDS 12

den dann 99,8%, = 49900, also fast alle, richtig dia-


gnostiziert; nur ganze 100 der 50000 Infizierten wür-
den, wenn wir diesen Wahrscheinlichkeiten einmal
glauben dürfen, nicht erkannt. Und genauso sicher
wäre der Test auch für die Bundesbürger ohne AIDS,
denn auch von den 49950000 nicht Infizierten würden
99% = 49450500 korrekt als nicht infiziert erfaßt.
Was dabei aber häufig übersehen wird, ist die pro-
zentual zwar kleine, absolut aber immer noch recht
große Zahl von 499500 nicht infizierten Menschen,
die dennoch und damit zu Unrecht als infiziert gemel-
det würden. Diese Zahl ist mehr als zehnmal so groß
wie die Zahl der korrekt als infiziert Erkannten, oder
anders ausgedrückt: von den als infiziert Erkannten
sind mehr als neun Zehntel überhaupt nicht infiziert.
& Lit.: Heinz Boer: »AIDS – Welche Aussagekraft
hat ein ›positives‹ Test-Ergebnis?« Stochastik in
der Schule 13, 1993, S. 2–12.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Akropolis 13

Akropolis
Nur in Athen gibt es eine Akropolis
»Akropolis« heißt auf griechisch »höchste Stadt«;
damit war eine besonders befestigte Burg innerhalb
der Stadtmauer gemeint. In den Städten des alten
Griechenland gab es davon mehrere Dutzend; die
Akropolis in Athen ist nur die bekannteste.
¤ Athen vor zwei Jahrtausenden: Die Akropolis

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LexPI Bd. 1 Aktien 1 13

Aktien 1
Aktienkurse sind vorhersagbar (s.a. ð »Börsen-
profis« und ð »Chartanalyse«)
Aktienkurse sind genauso vorherzusagen bzw. nicht
vorherzusagen wie die Lottozahlen – ob die Kurse
steigen oder fallen, kann man erst nach Schluß der
Börse wissen.
Diese Unsicherheit ist aber kein Mangel, sondern
ganz im Gegenteil ein Zeichen für Gesundheit: Je we-
niger die Auf- und Abschwünge vorhergesehen wer-
den können, desto besser für den Markt.
In einem gut funktionierenden Kapitalmarkt ist der
aktuelle Preis eines Wertpapiers immer auch der im
Licht der aktuellen Informationen gerechte Preis, alias
der »innere Wert«. Dieser innere Wert hängt davon
ab, was künftig an Erträgen für die Eigentümer an-
fällt; der innere Wert am Abend ist am Morgen nicht
bekannt, denn am Morgen wissen wir noch nicht, wel-
che der Ereignisse dieses Tages uns die Renditesuppe
versüßen oder versalzen werden, je nachdem.
Um den inneren Wert am Morgen zu bestimmen,
benützen clevere Börsianer alle Informationen, die
dafür wichtig werden könnten: Rohstoffpreise, Wech-
selkurse, Steuern, Inflation, alles was die zu bewer-
tende Aktie betreffen könnte. Wenn aber der Kurs am
Morgen schon alle wertbestimmenden Faktoren ent-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Aktien 1 13

hält – der Idealfall – wird er sich tagsüber nur durch


neue, zuvor unbekannte Daten oder Fakten ändern
(denn wären diese Daten oder Fakten vorher schon
bekannt gewesen, wären sie auch schon im Kurs vor-
weggenommen). Mit anderen Worten, nur bei nicht
vorhergesehenen Ereignissen verändern sich die
Kurse – ihre Schwankungen müssen in einem idealen
Kapitalmarkt ein Produkt des Zufalls sein.
& Lit.: C. Granger und O. Morgenstern: Predictabi-
lity of stock market prices, Lexington 1970; W.
Krämer: Stichwortartikel »Kapitalmarkteffizienz«
in: Handwörterbuch des Finanz- und Börsenwe-
sens, 2. Aufl., Stuttgart 1994.

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LexPI Bd. 1 Aktien 2 14

Aktien 2
Aktienkurse sind freitags in der Regel niedriger
als montags
Diese Theorie – immer wieder in populären Börsen-
sendungen des deutschen Fernsehens zu hören – be-
sagt, daß Börsenhändler sich gerne freitags »glattstel-
len«, also über das Wochenende lieber nicht auf gro-
ßen Wertpapierbeständen sitzen. Dadurch sollen dann
die Kurse freitags häufig sinken.
Betrachtet man aber die durchschnittlichen Tages-
Renditen deutscher Aktien genauer, kommt exakt das
Gegenteil heraus: Von Donnerstag auf Freitag ändern
sich die Kurse im langfristigen Durchschnitt positiv,
von Freitag auf Montag aber negativ. Das folgende
Schaubild zeigt für jeden Wochentag getrennt die
durchschnittlichen prozentualen Änderungen des
deutschen Aktienindex DAX verglichen mit dem Vor-
tag an. Es basiert auf mehr als 7500 täglichen Rendi-
ten vom Januar 1960 bis Dezember 1989 und zeigt
klar, daß Freitag unter allen Wochentagen im Durch-
schnitt den höchsten Kursanstieg vermelden kann.
Die eigentliche Anomalität in diesem Diagramm ist
aber nicht der Kursanstieg am Freitag, sondern der
Kursabstieg am Montag. Denn nach der üblichen Ka-
pitalmarkttheorie müßten die Kurse im Mittel immer
steigen – sonst würde niemand Aktien kaufen. Zwar
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Aktien 2 15

ist dieser mittlere Kursverfall von Freitag auf Mon-


tag – der sogenannte »Montagseffekt« – nicht sehr
dramatisch, weniger als 0,2 Prozent, verglichen mit
den sonst üblichen Schwankungen von Tag zu Tag
kaum wahrnehmbar, aber dennoch viel zu groß, um
allein durch Zufall zu entstehen. Seine Quelle ist zur
Zeit noch ungeklärt.
& Lit.: Walter Krämer und Ralf Runde: »Wochen-
tagseffekte am deutschen Aktienmarkt«, Allge-
meines Statistisches Archiv 1992; dieselben:
»Kalendereffekte auf Kapitalmärkten: eine empiri-
sche Untersuchung für deutsche Aktien und den
DAX«, Zeitschrift für betriebswirtschaftliche For-
schung, Sonderheft 31, 1993.
¤ Die durchschnittliche tägliche Rendite des deut-
schen Aktienindex DAX (in Prozent) von 1960 bis
1990, nach Wochentagen aufgeteilt: Von Freitag
auf Montag fallen deutsche Aktienkurse öfter als
daß sie steigen

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LexPI Bd. 2 Alkohol 10

Alkohol
Ein Liter Alkohol und ein Liter Wasser ergeben
zwei Liter eines alkoholischen Getränks
Wenn man einen Liter reinen Alkohol mit einem Liter
reinem Wasser mischt, erhält man nur 1,93 Liter
eines alkoholischen Getränks: Die Moleküle des
Wassers und des Alkohols rücken wegen sogenannter
»Wasserstoffbrückenbindungen« enger zusammen
und brauchen deshalb weniger Platz als in getrennter
Form.
& Lit.: Robert L. Wolke: Woher weiß die Seife, was
der Schmutz ist? Kluge Antworten auf alltägliche
Fragen, München 1998.

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LexPI Bd. 1 Alkohol 1 15

Alkohol 1
Alkohol ist ungesund
Damit wir uns nicht mißverstehen: Natürlich ist Alko-
hol in großen Mengen ungesund. Aber das gilt für
viele andere Dinge auch (man kann sich auch an Mi-
neralwasser vergiften). Oder um mit dem großen Pa-
racelsus zu sprechen:
»Was das nit gifft ist?
Alle ding sind gifft und nichts ist ohn gifft.
Allein die dosis macht das ein ding kein gifft ist.
Als ein Exempel: ein jetliche speiß und ein jetlich
getranck so es über sein dosis eingenommen wirdt,
so ist es gifft.«
Wenn wir dagegen fragen: Ist Alkohol grundsätzlich
ungesund, so heißt die Antwort: Ganz im Gegenteil.
»Ein Gläschen Wein stützt das Gedächtnis im Alter«,
können wir in einer deutschen Illustrierten lesen:
»Ein, zwei Glas Wein (oder ein Bier) täglich halten
das Gedächtnis im Alter jung«, sagt Dr. Joe C. Chri-
stian (Universität Indiana). »Bei mäßigem Alkoholge-
nuß verbessert sich das Kurzzeit-Gedächtnis um 17
Prozent. Eindrücke werden schneller gespeichert, man
denkt logischer. Grund: Alkohol in Maßen regt den
Stoffwechsel an und fördert die Durchblutung.«
Andere Forscher finden andere Effekte: »Alkohol
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Alkohol 1 15

stärkt die Substanz des Knochengewebes« (aus einer


deutschen Tageszeitung). »Mäßiger Genuß von Alko-
hol erhöht offensichtlich die Knochendichte und senkt
möglicherweise das Risiko der Osteoporose (Kno-
chenschwund). Das ergab die Auswertung einer Stu-
die in Kalifornien, bei der Trinkgewohnheiten und
Knochensubstanz untersucht worden waren.«
Die gleichen Stimmen auch in wissenschaftlichen
Journalen. Eine Studie der Harvard-Universität an
über 50000 Männern hat ergeben, daß das Risiko für
koronare Herzkrankheit für Abstinenzler höher ist als
für Männer, die regelmäßig Alkohol konsumieren,
und nicht nur das: Das Risiko einer koronaren Herz-
krankheit wird umso kleiner, je mehr Alkohol man
trinkt (und zwar auch dann, wenn man andere Fakto-
ren wie Ernährung, Blutdruck, Alter usw. ausschaltet
bzw. nur Männer vergleicht, die sich bezüglich dieser
Variablen nicht unterscheiden).
Die folgende Tabelle (aus Rimm et al., 1991, S.
466) gibt an, um wieviel das Risiko für verschiedene
koronare Herzbeschwerden mit wachsendem Genuß
von Alkohol sinkt (jeweils verglichen mit ansonsten
vergleichbaren Männern, die überhaupt nicht trinken):

Risikoreduktion beim täglichen Genuß der folgenden


Mengen Alkohol

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Alkohol 1 16

5–30 Gramm mehr als


30 Gramm
nicht-tödlicher Infarkt: 36% 45%
tödlicher Infarkt: 41% 37%
Bypass-Operation 10% 65%
alle kor. Herzkrankh. zus.: 28% 48%

Wie wir sehen, wird das Risiko einer koronaren Herz-


krankheit bei regelmäßigem Alkoholgenuß nicht grö-
ßer, sondern kleiner (die Risikoreduktion ist durch-
weg positiv). Und nicht nur das: Von tödlichen Her-
zinfarkten einmal abgesehen, nimmt das Risiko umso
mehr ab, je mehr wir trinken.
In einer anderen Studie haben allerdings Mediziner
aus Dänemark herausgefunden, daß nicht ein Promille
so gut ist wie das andere, sondern daß auch die Art
des Alkohols – Wein, Bier oder Schnaps – von Be-
deutung ist: Bei über 6000 untersuchten Männern und
über 7000 untersuchten Frauen haben sie ermittelt,
daß vor allem Wein das lange Leben fördert – Männer
und Frauen mit einem Konsum von täglich drei bis
fünf Glas Wein reduzieren ihr Todesrisiko verglichen
mit Abstinenzlern auf die Hälfte (das sogenannte »al-
tersadjustierte Risiko«; irgendwann müssen natürlich
auch Weintrinker und -trinkerinnen sterben). Bier und
Schnaps dagegen bewirken, was die reinen Sterbera-
ten angeht, keine großen Unterschiede.
Nun wäre zu diesen Ergebnissen natürlich noch ei-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Alkohol 1 16

niges zu sagen. (Wie kam die Stichprobe zustande?


Wahrheitsliebe der Probanden? Geht die Abnahme
des Risikos mit wachsendem Alkoholgenuß immer
weiter, oder kehrt sich die Kurve irgendwann wieder
um? etc.) Aber diese Ergebnisse werden von zu vielen
anderen Untersuchungen bestätigt, um sie einfach als
Produkt des Zufalls abzutun.
& Lit.: Eric B. Rimm et al.: »Prospective study of
alcohol consumption and risk of coronary disease
in men«, The Lancet 338, Aug. 1991, 464–468;
Morten Gronbeck et al.: »Mortality associated
with moderate intakes of wine, beer, or spirits«,
British Medical Journal 310, Mai 1995,
1165–1169.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Alkohol 2 17

Alkohol 2
Alkohol wärmt
Nachdem wir einige unvermutete gute Seiten des Al-
kohols betrachtet haben, müssen wir aber auch vor
einer gern geglaubten positiven Wirkung warnen, die
er in Wahrheit gar nicht hat. Denn auch wenn wir
nach einem heißen Grog an einem kalten Winterabend
anders denken: Alkohol erwärmt den Körper nicht.
Zwar fühlen wir subjektiv eine Wärme, die sich so
schön vom Magen über den ganzen Körper ausbreitet,
aber objektiv gesehen macht Alkohol die Blutgefäße
an der Körperoberfläche weiter; das Blut strömt an
die Außenseite und wird kühler, die Temperatur des
Körpers sinkt. Auf diese Weise kann Alkohol bei gro-
ßer Kälte sogar zum Erfrieren führen.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Alkohol 3 17

Alkohol 3
Alkohol läßt sich durch Kaffeetrinken vertreiben
Es nützt nichts, nach einigen Bier noch schnell einen
Kaffee vor der Heimfahrt mit dem Auto zu bestellen –
weder senkt Kaffee den Alkoholspiegel, noch läßt er
uns schneller reagieren. Er vertreibt vielleicht die Mü-
digkeit, die sich oft nach dem Trinken einstellt, aber
das nachfolgende Gefühl der Nüchternheit ist trüge-
risch; die Reflexe sind weiter gebremst, und die Fä-
higkeit zum Autofahren wird kein bißchen besser.
& Lit.: B. Kissin: »Interactions of ethyl alcohol and
other drugs«, in B. Kissin und H. Begleiter: The
biology of alcoholism, New York 1974.

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LexPI Bd. 1 Alliterationen 17

Alliterationen
Alliterationen entstehen aus Absicht
Alliterationen alias Stabreime, also gleiche Anfangs-
klänge mehrerer Wörter hintereinander, gelten vielen
als Stilmittel, das große oder nicht so große Künstler
absichtlich benutzen: »Komm Kühle, komm küsse
den Kummer/süß säuselnd von sinnender Stirn« (Cle-
mens Brentano).
Nach Meinung des amerikanischen Statistikers und
Psychologen B.F. Skinner müssen solche Gleichklän-
ge durchaus nicht immer Absicht sein – sie können
genausogut auch zufällig entstehen. Skinner hat das
für die insgesamt 1400 Zeilen sämtlicher Sonette Sha-
kespeares einmal nachgerechnet. Hätte Shakespeare
die Anfangslaute aller Wörter zufällig aus einem Hut
gezogen, müßten sich darunter z.B. 161 Zeilen mit
zweimal S als Anfangsbuchstabe und 29 Zeilen mit
dreimal S als Anfangsbuchstaben finden (um nur zwei
der von Skinner errechneten Erwartungswerte aufzu-
führen). Und tatsächlich gibt es in Shakespeares So-
netten genau 161 Zeilen mit zweimal S und 26 Zeilen
mit dreimal S an erster Stelle – mit anderen Worten,
die für Leser und Hörer oft so verblüffende Häufung
identischer Anfangslaute kann neben der dichteri-
schen Genialität genauso auch den Zufall als Erzeuger
haben.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Alliterationen 18

Eine ähnlich gute Übereinstimmung von Theorie


und Praxis beobachtete Skinner auch bei anderen
Buchstaben des Alphabets.
& Lit.: B.F. Skinner: »The alliteration in Shakespea-
re's sonnets: A study in literary behaviour«, The
Psychological Record 1939.

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LexPI Bd. 1 Altar 18

Altar
Der Altar ist eine christliche Erfindung
Die ersten Christen kannten keine besonderen Plätze
in ihren Versammlungsorten, so wie in modernen Kir-
chen die Altäre. Sie wurden sogar, weil sie keine Al-
täre hatten, von den anderen Religionen als Barbaren
angegriffen.
Der Altar als der besondere Platz, wo man den
Göttern opfert, existierte lange vor Jesus Christus in
fast allen Religionen dieser Erde.
& Lit.: Stichwort »Altar« in Encyclopaedia Britan-
nica, 11. Auflage, Chicago 1910.

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LexPI Bd. 1 Amateure 18

Amateure
Bei den antiken olympischen Spielen waren nur
Amateure zugelassen
Antike Sportler waren keine Amateure. Neben dem
notorischen Kranz vom heiligen Ölbaum, den griechi-
sche Olympiasieger als Belohnung mit nach Hause
brachten, kannten und erwarteten diese durchaus auch
noch andere Belohnung; Amateure, die »eine Tätig-
keit aus Liebe an der Sache ausüben, ohne einen
Beruf daraus zu machen« (Meyers Enzyklopädisches
Lexikon), waren diese Sportler sicher nicht.
Der Siegespreis eines Olivenkranzes darf nicht
über die indirekten, zum Teil beträchtlichen Preisgel-
der hinwegtäuschen, die mit einem Olympiasieg ver-
bunden waren: Steuerfreiheit, lebenslange Renten,
Denkmäler, auch Bargeld (der Athener Staatsmann
Solon etwa ließ jedem Olympiasieger seiner Stadt
500 Drachmen, den Zwei-Jahres-Sold eines Soldaten
zahlen). Denn da ein Olympiasieger auch den Ruhm
der Heimatstadt des Siegers mehrte, ließen sich die
griechischen Städte ihre Sportler einiges kosten, vor
den Spielen und erst recht danach: Stadien, Masseure,
Trainer, Köche, Ärzte, und die Sportler selbst natür-
lich auch; sie wollten bezahlt und unterhalten werden,
und da es außer den olympischen Spielen auch noch
die pythischen Spiele (alle vier Jahre), die nemäischen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Amateure 19

Spiele (alle zwei Jahre) und die isthmischen Spiele


gab, von mehreren hundert Provinzsportfesten jähr-
lich völlig abgesehen, konnten die Athleten von die-
sen Preisgeldern und Spesen prächtig leben (so soll
einmal ein Olympiasieger nur für seine Teilnahme an
einem dieser kleineren Spektakel 30000 Drachmen
gefordert und bekommen haben).
Nach den Regeln, wie sie etwa bei den ersten Spie-
len der Neuzeit Ende des letzten und Anfang des aktu-
ellen Jahrhunderts üblich waren, müßten wir also den
meisten antiken Olympiasiegern ihre Palmenzweige
posthum aberkennen.
& Lit.: Stichwortartikel »Olympic Games« in Col-
liers Encyclopedia, Band 18, 1975.

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LexPI Bd. 1 Amerika 19

Amerika
Daß Amerika nicht von Kolumbus, sondern schon
Jahrhunderte vorher von den Wikingern entdeckt
wurde, ist keine große Sensation. Aber daß auch
schon die Wikinger vielleicht zu spät gekommen sind,
ist weniger bekannt.
Manche Forscher glauben, daß schon 500 v.Chr.
Seefahrer aus dem Mittelmeer bis nach Amerika ge-
kommen sind. Technisch möglich wäre es gewesen,
wenn man die zerbrechlichen Boote betrachtet, in
denen Menschen heute den Atlantik überqueren ...
Aber wenn griechische oder römische Segler tat-
sächlich Amerika erreicht haben sollten, sie haben
kein großes Aufhebens davon gemacht. Und vielleicht
hat auch nur ein Witzbold ein paar antike Münzen in
Mexiko vergraben ...
Die Vorfahren der heutigen Indianer, und damit die
ersten Amerikaner überhaupt, waren Mongolvölker,
die vor mehreren tausend Jahren von Asien über die
damals noch intakte Landbrücke nach Alaska und von
dort nach Süden eingewandert sind. Insofern ist es
also reichlich chauvinistisch, das erstmalige Sichten
des Kontinents durch Menschen aus Europa mit des-
sen Entdeckung gleichzusetzen.
& Lit.: T.P. Christensen: Discovery and rediscovery
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LexPI Bd. 1 Amerika 20

of America, Cedar Rapids 1934; Hjamar R. Ho-


land: Explorations in America before Columbus,
New York 1956; Cyrus H. Gordon: Before Co-
lumbus: Links between the old world and ancient
America, New York 1971.

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LexPI Bd. 1 Amtsschimmel 20

Amtsschimmel
Der Amtsschimmel hat etwas mit Pferden zu tun
Der bekannte Amtsschimmel wurde vermutlich aus
dem Wort »Simile« geboren; damit meinte man in den
Kanzleien des alten Österreich ein vorgedrucktes Mu-
sterformular. Deshalb nannte man einen nach vorge-
schriebenem Muster arbeitenden Kanzlisten spöttisch
»Similereiter«, und daraus wurde dann unser Schim-
melreiter.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, durchgesehen und ergänzt von Wolf-
gang Pfeifer, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 2 Anarchie 11

Anarchie
Anarchie bedeutet Unfrieden und Durcheinander
Anarchismus hatte ursprünglich mit Chaos, »Anar-
chie« und Durcheinander nichts zu tun. Die ersten
Anarchisten wollten die Menschen zu einem gewalt-
und herrschaftslosen Miteinander führen; dazu forder-
ten sie eine schrankenlose Freiheit des einzelnen, ab-
solute Vereinigungsfreiheit, unbeschränktes Privatei-
gentum usw., also Dinge, die heute dem eher liberalen
Credo zugerechnet werden. Die zahlreichen anarchi-
stischen Attentate Ende des 19. Jahrhunderts (die Er-
mordung der Kaiserin Sissi oder des russischen Zaren
Alexander) zielten daher auch weniger darauf ab, die
Herrschaft selbst zu übernehmen, als darauf, Herr-
schaft als solche aus dem Weg zu räumen.
& Lit.: Stichwort »Anarchismus« in der Brockhaus
Enzyklopädie, Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 2 Antarktis 11

Antarktis
In der Antarktis wachsen keine Blumen
Ganz so unwirtlich, wie viele glauben, ist die Antark-
tis nun auch wieder nicht; auf der Antarktisinsel Jenny
z.B. blüht die Nelke »colobanthus crassofolius«.
& Lit.: »7 Irrtümer über Blumen«, Fernsehwoche
38/1997; Stichwort vorgeschlagen von Judith Sie-
vers.

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LexPI Bd. 2 Antikommunismus 11

Antikommunismus
Thomas Mann sagte: »Antikommunismus ist die
Grundtorheit unseres Jahrhunderts«
Diese von früher von der SED und heute von der PDS
immer wieder ausgegrabene Bemerkung Thomas
Manns aus einer 1944 in Chile erschienenen Exilzei-
tung lautet im vollen Wortlaut so: »Sie sehen, daß ich
in dem Sozialismus, in dem die Idee der Gleichheit
die der Freiheit vollkommen überwiegt, nicht das
menschliche Ideal erblicke, und ich glaube, ich bin
vor dem Verdacht geschützt, ein Vorkämpfer des
Kommunismus zu sein. Trotzdem kann ich nicht
umhin, in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor
dem Wort Kommunismus, diesem Schrecken, von
dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Aber-
gläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtor-
heit unserer Epoche.« Mit anderen Worten: Thomas
Mann kritisierte nur, was die Faschisten mit dem An-
tikommunismus machten. Aber den Kommunismus
selber als erstrebenswert zu schildern, wäre ihm nie-
mals in den Sinn gekommen.
& Lit.: Josef Nyary: »Vom Umgang mit Roten und
Rothäuten«, Welt am Sonntag, 15.2.1998; Stich-
wort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Apfel 20

Apfel
Eva hat im Paradies von einem Apfelbaum ge-
pflückt
Eine verbotene Frucht namens Apfel kommt in der
Bibel nirgends vor. In der deutschen Einheitsüberset-
zung heißt es nur: »Die Frau entgegnete der Schlange:
Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir
essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der
Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft
ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst
werdet ihr sterben.«
Wie aus diesem Baum, »der in der Mitte des Gar-
tens steht«, ein Apfelbaum geworden ist, weiß nie-
mand so genau. Der Autor dieser Bibelstelle hat si-
cher kaum an einen Apfelbaum gedacht – die gab es
nämlich im Nahen Osten damals nicht. Viel wahr-
scheinlicher wäre ein Feigenbaum, denn Adam und
Eva haben sich nach dem Genuß der Frucht mit Fei-
genblättern zugedeckt.
Der Apfel geriet vermutlich über die Mythen der
Griechen und Kelten in die Bibel. Er galt bei diesen
Völkern als ein Symbol der Liebesgöttin, und da Sex
für gute Christen etwas Böses ist, kann der verbotene
Baum ja nur ein Apfelbaum gewesen sein.
¤ Lucas Cranach d. Ä.: Adam und Eva
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LexPI Bd. 2 Apfel. 12

Apfel
Jemanden »veräppeln« hat etwas mit Äpfeln zu
tun (s.a. ð »Dufte«, ð »Guter Rutsch« und ð
»Nassauer«)
»Veräppeln« hat mit Äpfeln nichts zu tun; es kommt
aus dem Jiddischen (der im Mittelalter entstandenen
Mischung aus Mittel- und Oberdeutsch mit semiti-
schen und slawischen Sprachelementen) und hat seine
Wurzel wohl in »eppel« (= nichts). Veräppeln hieße
demgemäß vernichten (auch eine alternative jiddische
Wurzel in dem Wort »ewil« = Dummkopf wird von
Sprachforschern nicht ausgeschlossen).
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960;
Bernd-Lutz Lange: Dämmerschoppen, Köln 1997
(besonders das Kapitel »Sprachdenkmäler«).

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LexPI Bd. 2 Apfelbaum 12

Apfelbaum
Luther hat gesagt: »Und wenn ich wüßte, daß
morgen die Welt unterginge, würde ich heute
noch ein Apfelbäumchen pflanzen«
Dieses Kleinod aus der Zitatenkiste des politisch kor-
rekten deutschen Bildungsspießers stammt nicht von
Martin Luther. Wer es wirklich in die Welt gesetzt
hat, weiß man zwar auch nicht so genau (prominente
Alternativkandidaten sind Eduard Mörike, Friedrich
Rückert oder verschiedene schwäbische Pietisten des
frühen 19. Jahrhunderts), aber eines steht doch fest: In
keiner einzigen schriftlich oder mündlich überlieferten
Äußerung von Martin Luther war je von diesem
Baumpflanz-Wunsch die Rede.
& Lit.: Martin Schloemann: Luthers Apfelbäum-
chen?, München 1994; Eckhard Henscheid, Ger-
hard Henschel und Brigitte Kronauer: Kulturge-
schichte der Mißverständnisse, Stuttgart 1997
(besonders der Abschnitt »Jedermanns Apfel-
bäumchen«).

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LexPI Bd. 2 Apfelsinen 13

Apfelsinen
Apfelsinen und Zitronen enthalten von allen
Früchten das meiste Vitamin C
Apfelsinen und Zitronen sind zwar fünf- bis zehnmal
Vitamin-C-haltiger als des Teutonen liebste Früchte
Äpfel oder Birnen, aber das hohe C bei Obst gebührt
den Kiwis und Johannisbeeren; pro Gewichtseinheit
enthalten sie rund doppelt bzw. dreimal soviel Vita-
min C wie Apfelsinen und Zitronen (und wenn wir
auch noch Sanddornbeeren oder Hagebutten zum Ver-
gleich erlauben, stehen selbst die Schwarzen Johan-
nisbeeren sehr bescheiden da). Die folgende Tabelle
zeigt die genauen Zahlen:
Vitamingehalt ausgewählter
Früchte (roh, in mg pro 100 g)
Birnen 5
Aprikosen 10
Pfirsiche 10
Bananen 11
Äpfel 12
Avocados 13
Ananas 20
Heidelbeeren 22
Apfelsinen 50
Zitronen 53
Erdbeeren 62
Ebereschenfrucht 98
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LexPI Bd. 2 Apfelsinen 13

Kiwis 100
Schwarze Johannisbeeren 189
Sanddornbeeren 450
Hagebutten 1250

& Lit.: I. Elmadfa u.a.: Die große GU Nährwertta-


belle, Neuausgabe 1992/93, ohne Ort und Jahr;
Stichwort vorgeschlagen von Michaela Wieben.

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LexPI Bd. 1 Aphrodisiaka 21

Aphrodisiaka
Aphrodisiaka (von griechisch »zum Liebesgenuß ge-
hörend«), d.h. Mittel zur Steigerung des Geschlechts-
triebs und der Potenz, wirken nur in unserer Phanta-
sie.
Den folgenden Substanzen wurden in verschiede-
nen Kulturen und zu verschiedene Zeiten sexuelle
Kräfte zugeschrieben: Alkohol, Austern, Bananen,
Bilsenkraut, rohe Eier, Ginsengwurzeln, Kantharidin
(enthalten in bestimmten Sorten von Käfern wie der
berühmten spanischen Fliege), Kaviar, kleingeriebene
Nashorn-Hörner, Salbei, Sellerie, Spargel, Tollkir-
schen, Trüffel, ganz normales Wasser, Yohimbin (ein
Extrakt aus der Rinde des afrikanischen Yohimbebau-
mes). Bei einigen dieser Mittel (Bananen, Ginseng-
wurzel, Nashorn-Hörner) beruht die vermutete Wir-
kung wohl auf der gleichen Illusion, wegen der man-
che Sportler gerne Fleisch und Kannibalen ihre Nach-
barn essen: weil man glaubt, die Eigenschaften des
Essens gingen auf den Esser über (s.a. ð »Du bist
was du ißt« und ð »Fleisch«); andere, wie etwa Al-
kohol, wirken enthemmend und können so vielleicht
indirekt ein sexuelles Abenteuer fördern, und wieder
andere, wie Austern, Kaviar und rohe Eier, beziehen
ihre vermeintliche Wirkung aus den sexuellen Hel-
dentaten von Personen wie dem notorischen Casano-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Aphrodisiaka 21

va, die gerne solche Dinge aßen, ohne daß hier aber
ein Zusammenhang besteht. (Genauso könnte man be-
haupten, daß, um Bundeskanzler zu werden, der häu-
fige Verzehr von Pfälzer Saumagen sehr hilfreich sei.)
Allenfalls die Extrakte des Yohimbebaumes und
der spanischen Fliege können durch örtliche Gefäßer-
weiterungen auf den Fortgang der Dinge einen gewis-
sen unmittelbaren Einfluß nehmen. Jedoch ist insbe-
sondere die spanische Fliege so giftig, schmerzhaft
und wegen der Entzündung der Harnwege auch ge-
fährlich, daß ein so erzwungener Liebesgenuß dann
doch wieder keine reine Freude, und oft auch der letz-
te auf dieser schönen Erde ist.
& Lit.: Friedrich Robert Lehmann: Rezepte der Lie-
besmittel. Eine Kulturgeschichte der Liebe, Hei-
denheim 1966.

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LexPI Bd. 1 Äquator 22

Äquator
Auf der Erde ist es an den Polen am kältesten und
am Äquator am wärmsten.
Die höchsten Temperaturen für »normale« Luft im
Schatten wurden bisher im Death Valley in Kalifor-
nien und in der Stadt Azizia in Libyen gemessen:
56,7 bzw. 58 Grad Celsius. Beide Orte sind mehrere
tausend Kilometer vom Äquator entfernt. Die tiefsten
Temperaturen wurden bisher an der russischen Ant-
arktisstation Vostok gemessen: -88 Grad Celsius.
Diese Station liegt mehr als tausend Kilometer nörd-
lich des Südpols. (Die tiefsten Temperaturen auf der
Nordhalbkugel mit -71 Grad Celsius gab es bisher im
Ort Oimakon in Ostsibirien, 320 Kilometer südlich
des Polarkreises und 3000 km vom Nordpol entfernt.)
Auch sonstwo kümmern sich die Temperaturen nur
wenig um die Breitengrade: In der isländischen
Hauptstadt Reykjavík, die fast am nördlichen Polar-
kreis liegt, ist es im Winter wärmer als in New York,
und im amerikanischen Bundesstaat Virginia fällt
mehr Schnee als in vielen Gegenden der Arktis.
& Lit.: The Guinness Book of Records; Isaac Asi-
mov: Buch der Tatsachen, Bergisch-Gladbach
1981.

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LexPI Bd. 1 Arabische Ziffern 22

Arabische Ziffern
Die arabischen Ziffern stammen von den Arabern
Die arabischen Ziffern 1, 2, 3, 4, 5 ... sind keine Er-
findung der Araber – ursprünglich stammen sie aus
Indien. Von dort kamen sie dann mit den Arabern
über Nordafrika und Spanien nach Europa.
Der eigentliche Vorteil der »arabischen« verglichen
mit den römischen Ziffern sind nicht die Symbole 1,
2 ... 9; der eigentliche Vorteil ist die geniale Überein-
kunft, daß diese Symbole je nach Standort etwas an-
deres bedeuten: die 5 in 15 steht für 5, aber die 5 in
2523 steht für 5 mal 100 (denn 2523 = 2 x 1000 + 5
x 100 + 2 x 10 + 3).
Dieser Gedanke steht auf einer Stufe mit der Zäh-
mung des Feuers und der Erfindung des Rades – ohne
ihn würden wir noch heute 27 mal 115 als XXIIIX
mal CXV berechnen müssen, ohne diese so simple
wie geniale Idee hätte es keine moderne Physik und
keine moderne Chemie, keine Raumfahrt und auch
keine Atombomben gegeben.
& Lit.: John A. Paulos: Von Algebra bis Zufall,
Frankfurt 1992.

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LexPI Bd. 1 Arbeit 23

Arbeit
»Arbeit ist köstlich«
Diese Kurzfassung einer oft zitierten Bibelstelle
kommt in Wahrheit in der Bibel nirgends vor. Zwar
heißt es in Luthers Übersetzung des 90. Psalms:
»Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn's
hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köst-
lich gewesen ist, so ist's Mühe und Arbeit gewesen«,
aber in Wahrheit meinte der Originalautor damit
genau das Gegenteil: Wir müssen uns das ganze
Leben plagen, selbst dann noch, wenn wir es für köst-
lich halten.
Neuere Bibelübersetzer sind hier weit exakter:
»Die Zahl unserer Jahre ist siebenzig Jahr, und wenn
es hochkommt, achtzig Jahr. Und ihr Gepräge ist
Mühsal und Trug.« (H.-J. Kraus, 1960); » ... und
selbst das Köstliche daran ist nur Elend und Trug«
(P. Schulz, 1978); »das Beste daran ist nur Mühsal
und Beschwer, rasch geht es vorbei, wie fliegen
dahin« (Katholische Bibelanstalt, 1980), auch die seit
1965 vorliegende korrigierte Luther-Bibel läßt an der
wahren Bedeutung dieser Bibelstelle keinen Zweifel:
»Unser Leben währet siebenzig Jahr, und wenn es
hochkommt sind es achtzig Jahre, und was daran
köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe ...«
Trotzdem ist Luthers Irrtum offenbar nicht auszu-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Arbeit 23

rotten, vermutlich aus dem gleichen Grund, warum


auch viele andere Irrtümer die Jahrhunderte so unbe-
schadet überleben: weil er so gut ins Weltbild – hier
das der protestantischen Arbeitsethik – paßt.
& Lit.: Katholische Bibelanstalt: Die Bibel – Altes
und Neues Testament – Einheitsübersetzung,
Freiburg 1980; Gerhard Prause: Tratschkes Lexi-
kon für Besserwisser, München 1986.

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LexPI Bd. 1 Arbeitgeberbeitrag 23

Arbeitgeberbeitrag
Den Arbeitgeberbeitrag zahlt der Arbeitgeber
(s.a. ð »Selbstbeteiligung«)
Keinen Pfennig des Arbeitgeberbeitrags zahlt der Ar-
beitgeber. Den Arbeitgeberbeitrag zahlt der Arbeit-
nehmer, genauso wie der Arbeitnehmer seine Steuern,
Mieten, Zinsen, Hypotheken zahlt; die nach deut-
schem Sozialrecht zur Hälfte von den Arbeitgebern zu
tragenden Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversiche-
rungsbeiträge ihrer Beschäftigten sind ein reiner
Taschenspielertrick.
Rein wirtschaftlich gesehen gehören alle Aufwen-
dungen des Arbeitgebers für einen Beschäftigten zu
dessen Bruttolohn, unabhängig davon wie sie heißen,
ob Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, ob Werkswohnung
oder Dienstwagen, ob Zuschüsse zum Mittagessen
oder Beiträge zu Versicherungen aller Art: Alle Aus-
lagen, die dem Arbeitgeber für einen Beschäftigten
entstehen, zählen zu dessen Lohn oder Gehalt. Punkt.
Diese Arbeitskosten betrugen etwa 1993 durch-
schnittlich 4900 Mark im Monat (verglichen mit
1350 Mark im Monat noch 1970).
Aber von diesen 4900 Mark im Monat kamen nur
54% oder DM 2646 bei den Arbeitnehmern und Ar-
beitnehmerinnen wirklich an. Der Rest ging an das
Finanzamt (15%) oder an die Sozialversicherung
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Arbeitgeberbeitrag 24

(31%), und damit haben wir auch schon einen der


Gründe für die Popularität des Arbeitgeberbeitrag-
Mythos gefunden: Wir merken nicht, wie man uns
schröpft. Je mehr von unseren Gehalt und Lohn als
sogenannter »Arbeitgeberanteil« nicht von uns, son-
dern von anderen getragen wird, desto unbelasteter
gehen wir scheinbar durchs Leben, desto mehr schei-
nen wir von unserem Verdienst für uns selbst zu be-
halten.
Das ist aber eine Illusion. Dem Arbeitgeber ist es
nämlich im Prinzip gleichgültig, wo die 4900 Mark
für seinen Arbeitnehmer letztlich landen; ob 10, 20
oder 30 Prozent an das Finanzamt fließen, ist für ihn
oder sie genauso unerheblich wie der Anteil für die
Sozialversicherung oder wie man diesen Anteil nennt.
Ob davon die Hälfte oder alles oder gar nichts »Ar-
beitgeberanteil« heißt, spielt für den Arbeitgeber
keine Rolle. Für ihn gilt Kosten = Bruttolohn, diese
Gleichung ist das einzige was ökonomisch zählt, wie
man diese Kosten nennt spielt keine Rolle.
Die ganze Absurdität des sogenannten »Arbeitge-
berbeitrags« wird vielleicht am besten deutlich, wenn
wir einmal unterstellen, daß alle Sozialversicherungs-
abgaben »Arbeitgeberanteil« hießen. Dann wäre –
hokus-pokus-fidibus – die Sozialversicherung um-
sonst! Denn nach herkömmlicher Sicht hätten wir
jetzt einen Arbeitnehmeranteil von Null Prozent!
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Arbeitgeberbeitrag 24

Aber in Wahrheit bleibt natürlich alles wie es vor-


her war. Alles, was von unserem Lohn oder unserem
Gehalt abfließt, ist und bleibt zu 100% unser eigener
Arbeitnehmeranteil, ganz egal wie man ihn nennt.
& Lit.: Walter Krämer: »Babylonische Sprachver-
wirrung«, Arbeit- und Sozialpolitik 42, 9/1988,
290–292; »Bald nur noch die Hälfte«, Informati-
onsdienst des Instituts der Deutschen Wirtschaft,
22.7.1993.

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LexPI Bd. 1 Arbeitslosenstatistiken, internationale 24

Arbeitslosenstatistiken, internationale
Wenn wir in der Presse lesen, die Arbeitslosenquoten
in Japan und Amerika wären kleiner als in Deutsch-
land oder Österreich, so ist das zum Teil eine statisti-
sche Illusion. Denn die Arbeitslosenquote ist in ver-
schiedenen Ländern verschieden definiert.
Im Prinzip ist diese Quote immer gleich: ein Bruch
mit den Arbeitslosen im Zähler und mit den Erwerbs-
personen im Nenner. Aber weder der Zähler noch der
Nenner werden überall auf die gleiche Weise gemes-
sen. Am augenfälligsten sind die Unterschiede beim
Zähler, also bei den Arbeitslosen selbst. Nach deut-
scher Praxis gehört in diesen Zähler, wer offiziell
beim Arbeitsamt als arbeitsuchend gemeldet ist und
außerdem (i) mehr als 18 Stunden in der Woche ar-
beiten will, (ii) nicht nur vorübergehend Arbeit sucht,
(iii) älter als 15 und jünger als 65 Jahre ist, und (iv)
dem Arbeitsmarkt sofort zur Verfügung steht. Studie-
rende auf der erfolglosen Suche nach einem Ferienjob
oder Teilnehmer von Umschulungskursen etwa sind
damit niemals arbeitslos. Ebenfalls ausgeklammert
sind die Entmutigten, die die Suche über das Arbeits-
amt aufgegeben haben (die sog. »stille Reserve«),
aber auch alle über 65-jährigen, die gerne noch einen
kleinen Nebenverdienst hätten, und alle, die weniger
als 18 Stunden in der Woche gegen Entgelt arbeiten
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Arbeitslosenstatistiken, internationale 25

wollen.
Anderswo ist man sowohl restriktiver wie auch li-
beraler. In Japan etwa muß, wer Arbeitsloser werden
will, vorher gearbeitet haben – Schulabgänger und
frischgebackene Akademiker werden in Japan niemals
arbeitslos. In den USA dagegen ist weder das Alter
noch die wöchentliche Dauer der gesuchten Arbeit
eine Grenze – wer arbeiten will und keine Arbeit fin-
det, ist unabhängig von seinem Alter automatisch ar-
beitslos.
Aber auch der Nenner der Arbeitslosenquote macht
Probleme. In Deutschland ist das die sogenannte »Er-
werbsbevölkerung«, minus Selbständige, Beamte,
Bauern und Soldaten, also die Summe aller Personen,
die dem Risiko der Arbeitslosigkeit auch wirklich un-
terliegen. Anderswo dagegen, etwa in England, steht
die komplette Erwerbsbevölkerung inklusive Selbst-
ändige, Bauern und Soldaten im Nenner der Arbeits-
losenquote, und auch so entstehen künstliche Unter-
schiede: Da ein Bruch umso größer ist, je kleiner der
Nenner, und umso kleiner ist, je größer der Nenner,
ist die deutsche Quote größer als sie bei englischer
Berechnungsweise wäre.
Keine dieser Definitionen ist von sich aus besser
oder schlechter als die anderen, und solange man nur
die Arbeitslosigkeit in einem einzigen Land betrach-
tet, kann man auch mit diesen Differenzen leben.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Arbeitslosenstatistiken, internationale 25

Denn ob die Arbeitslosenquote steigt oder fällt, also


die in aller Regel einzig wirklich interessante Infor-
mation, hängt kaum von der gewählten Begriffsbe-
stimmung ab (vorausgesetzt natürlich, diese bleibt im
Zeitverlauf konstant).
Aber für einen Vergleich der Arbeitslosigkeit über
verschiedene Volkswirtschaften hinweg sind die je-
weiligen nationalen Quoten völlig ungeeignet. Nach
einer Studie der OECD machen diese statistisch und
nicht sachlich induzierten Unterschiede zuweilen
mehrere Prozentpunkte aus. In Belgien etwa stieg die
Quote nach OECD-Definition von 12,2% auf 15,9%,
während sie in Deutschland etwas sank, und das ame-
rikanische Bureau of Labor Statistics kam sogar zu
noch drastischeren Ergebnissen: Bei gleicher, vom
Bureau of Labor Statistics neu konstruierter Meßlatte
stieg die Quote in den USA von 6,4% auf 9,3%, und
in Japan sogar um mehr als das Dreifache, von 2,9%
auf 9,6%!
& Lit.: Ulrich Cramer: »Konzeptionelle Probleme
der Arbeitsmarktstatistik aus der Sicht der Ar-
beitsmarktforschung«, Allgemeines Statistisches
Archiv 1990; Walter Krämer: So lügt man mit
Statistik, Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 2 Arche Noah 14

Arche Noah
Die Arche Noah landete auf dem Berge Ararat
Vermutlich ist das in der Bibel erwähnte »Gebirge
Ararat« nicht der heute als »Ararat« bekannte Berg in
Armenien. Erst lange nach der Entstehung der Bibel
haben westliche Europäer der höchsten Spitze des ar-
menischen Berglandes den Namen »Ararat« gegeben,
dort wollen sie auf »schiffsförmige Reste«, wenn
nicht gar auf Holzbalken der Arche selbst gestoßen
sein.
Die Bibel selbst schweigt sich zum Ort des Ge-
schehens aus: »Am siebzehnten Tage des siebten Mo-
nats setzte die Arche im Gebirge Ararat auf«, ist in
der Genesis zu lesen, aber die Lage des Gebirges wird
nirgendwo erwähnt, und andere Religionen sehen das
Gebirge denn auch woanders. Z.B. vermuten die Mus-
lime, in deren Überlieferungen ebenfalls die Arche
Noah und die Sintflut vorkommt, diesen Berg in
Saudi-Arabien.
& Lit.: Die Bibel – Einheitsübersetzung, Stuttgart
1980; Stichwort vorgeschlagen von Emanuel
Pfeil.

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LexPI Bd. 1 Archimedes 26

Archimedes
Unter den großen Taten des großen Archimedes sind
auch einige, die man ihm nur angedichtet hat. So lernt
man oft noch in der Schule, Archimedes hätte die rö-
mische Belagerungsflotte vor Syrakus mit Brennspie-
geln in Brand gesetzt.
Diese Tat ist aber nachweisbar unmöglich, wie mo-
derne Ingenieure bei dem Versuch herausgefunden
haben, sie zu wiederholen. Zwar waren Brennspiegel
im Jahr 212 v.Chr., als die Römer im Lauf des zwei-
ten punischen Krieges die Stadt Syrakus in Sizilien
belagerten, durchaus schon bekannt – die Römer
selbst etwa benutzten sie, um erloschene Tempelfeuer
wieder zu entzünden –, und man kann auch nicht aus-
schließen, daß der große Tüftler und Erfinder Archi-
medes tatsächlich daran dachte, solche Spiegel auch
auf feindliche Schiffe zu richten. Aber wenn, hat er
den Gedanken sicher bald begraben, denn ein fahren-
des Schiff aus größerer Entfernung so in Brand zu set-
zen, ging über die damaligen technischen Möglich-
keiten weit hinaus.
Der römische Historiker Plutarch, der die sonstigen
Verteidigungsmaschinen des Archimedes ausführlich
schilderte – Wurfmaschinen oder Kräne etwa, um die
römischen Galeeren auf Klippen zu ziehen –, erwähnt
die Spiegel nicht. Sie tauchen zum ersten Mal rund
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LexPI Bd. 1 Archimedes 26

700 Jahre später in einer Abhandlung über Hohl- und


Brennspiegel des Anathemios von Tralles auf, einem
der Konstrukteure der Hagia Sophia in Istanbul, und
dann nochmals weitere 600 Jahre später in der Welt-
chronik des Mönches Johannes Zonaras. Und seitdem
sind die Brennspiegel des Archimedes aus den kultur-
ellen Erbe des Abendlandes nicht mehr wegzudenken.
& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-
serwisser, München 1986; Stichwort »Archime-
des« in Brockhaus Enzyklopädie, 19. Auflage,
Mannheim 1987.

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LexPI Bd. 1 Armada 27

Armada
Der Untergang der Armada hat das Ende des
spanischen Weltreiches eingeleitet
Mit dem Untergang der spanischen Armada im Som-
mer 1588 begann der Abstieg Spaniens und der Auf-
stieg Englands, liest man immer wieder.
In Wahrheit war dieses Desaster für die Spanier ge-
nauso wichtig wie der Untergang der Bismarck für
Hitler: ziemlich unbedeutend. Genausowenig wie das
Schicksal der Nazis durch den Untergang der Bis-
marck, war das Schicksal des spanischen Weltreiches
durch den Untergang der Armada vorgezeichnet. Zwar
wurden so die Invasionspläne Philipps des Zweiten
vereitelt, aber nur 24 unter den rund 120 spanischen
Schiffen waren Kriegsgaleonen; die Seemacht Spa-
niens hatte durch die Niederlage kaum gelitten. Bin-
nen weniger Jahre hatte Spanien die verlorenen Schif-
fe ersetzt, und in den 15 Jahren nach 1588 erreichten
mehr Gold und Silber aus Amerika die spanischen
Küsten als jemals in einer Spanne von 15 Jahren
zuvor oder danach.
Der Aufstieg Englands und der Abstieg Spaniens
müssen also andere Gründe haben als den Untergang
der Armada. (Nach Meinung mancher Historiker
nahm nach 1588 die bis dahin unbestrittene Über-
macht der Engländer im Atlantik sogar eher ab.) Wie
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LexPI Bd. 1 Armada 27

oft wird hier in ein singuläres Ereignis mehr Bedeu-


tung hineingelegt als es verdient.
& Lit.: Garrett Mattingly: The Armada, Boston
1959.

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LexPI Bd. 2 Armbrust 14

Armbrust
Eine Armbrust hat etwas mit Arm oder Brust zu
tun
Das Wort »Armbrust« ist eine sogenannte »volksety-
mologische« Umdeutung und Eindeutschung fremd-
ländischer Wörter: Fremde Laute, die in ihrer Her-
kunftssprache etwas ganz anderes meinen, werden in
dieser volksetymologischen Eindeutschung zu Wör-
tern unserer eigenen Sprache (andere Beispiele sind
die schon in Band 1 erwähnte Hängematte, oder die
Osterluzei, eine Pflanze, die im Juni blüht und ihren
Namen nicht von Ostern, sondern von dem mittella-
teinischen »aristolocia« hat). Die Armbrust ist aus
dem lateinischen »arcoballista« (= Bogenschleuder)
über das altfranzösische »arbaleste« in die deutsche
Sprache gekommen, dabei ganz offenbar auf ein Be-
dürfnis stoßend, diesen seltsamen Silben irgendeinen
Sinn zu geben. Der »Arm« kam wohl deshalb herein,
weil diese Waffe anders als andere Wurf- und Schleu-
dermaschinen in der Hand zu halten war. Über die
»Brust« dagegen streiten noch immer die Gelehrten:
Vermutlich kommt sie von dem mittelhochdeutschen
»berust/berost« (= Ausrüstung, Bewaffnung).
& Lit.: Jost Trier: Wege der Etymologie, Berlin
1982; Stichwort vorgeschlagen von Hans
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LexPI Bd. 2 Armbrust 14

Schwarz.

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LexPI Bd. 1 Armut 27

Armut
Die Armut in der Bundesrepublik nimmt zu
Anders als manche Medien uns glauben machen wol-
len, werden wir Deutschen keinesfalls im Lauf der
Jahre immer ärmer. Die folgende Meldung, mit dem
Titel »Immer mehr Armut in reicher Republik«, steht
stellvertretend für diesen weit verbreiteten Irrtum über
Armut und Reichtum in unserem Land (erschienen
Anfang der 90er Jahre in mehreren deutschen Tages-
zeitungen):
»Die Armut wird in der reichen Bundesrepublik ein
immer größeres Problem. Nach einer gestern vom
Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und dem Pa-
ritätischen Wohlfahrtsverband veröffentlichten Stu-
die lebt jeder zehnte Westdeutsche an oder unter
der Armutsschwelle ... ›Noch nie lebten in der rei-
chen Bundesrepublik so viele Arme wie zur Zeit‹,
so faßte die stellvertretende DGB-Vorsitzende ...
gestern in Düsseldorf das Ergebnis einer Studie
›Armut in Wohlstand‹ zusammen.«
Diese Hiobsbotschaft kommt durch einen statistischen
Trick zustande – man setzt eine Zahl, die für sich al-
lein genommen durchaus stimmt, nämlich den Anteil
der Haushalte mit einem Einkommen unter der Hälfte
des Durchschnittseinkommens, als Maßstab für die
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LexPI Bd. 1 Armut 28

Armut ein – zu Unrecht, wie man sehr leicht sieht.


Verdoppelt man nämlich alle Einkommen, bleiben
alle Armen weiter arm. Selbst ein Verzehn- oder Ver-
hundertfachen ändert an der Armut nichts – der Anteil
der Haushalte unter der Hälfte des Durchschnittsein-
kommens rührt sich keinen Millimeter von der Stelle.
So wie der Tiefgang eines Schiffs in einer Schleuse
unabhängig vom Wasserstand der Schleusenkammer
sich nie ändern kann, bleibt nach obiger Definition
auch die »Armutsquote« bei noch so hohen Einkom-
men immer gleich.
Anders als Meldungen wie oben vermuten lassen,
werden die Deutschen in Wahrheit immer reicher (rein
materiell und im Durchschnitt, wohlgemerkt). Das
reale Einkommen aller Einkommensschichten hat in
den letzten 10, 20, 30, 40 Jahren ständig zugenom-
men. Zwar mag der eine oder andere heute schlechter
leben, aber das sind Ausnahmen. Der typische Bun-
desbürger und die typische Bundesbürgerin verfügt
heute über ein rund doppelt so hohes Realeinkommen
wie vor 30 Jahren, und selbst ein Arbeitsloser hat
heute mehr reale Mittel zur Verfügung als ein in voll-
em Lohn stehender Facharbeiter des Jahres 1960.
Von einer Verarmung unserer Republik kann also
trotz des einen oder anderen kurzfristigen Konjunktur-
einbruchs beim besten Willen keine Rede sein.
Ein Vergleich von »Armut« über Raum und Zeit
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Armut 29

hinweg ist sinnlos, wenn dabei der Wasserspiegel in


der Schleuse alias die Armutsgrenze schwankt. In der
obigen Meldung war sie bei 2000 Mark im Monat für
eine vierköpfige Familie angesetzt. Hätte man statt-
dessen die Grenze von 1970 verwendet (damals weni-
ger als 1000 DM pro Haushalt und Monat), hätte man
einen dramatischen Rückgang der Armut konstatiert.
Hätte man dagegen die heute noch unbekannte Ar-
mutsgrenze von 1999 angelegt, wären selbst viele
heute Reiche plötzlich arm.
Genau die gleichen Probleme haben wir auch bei
internationalen Vergleichen. Legen wir etwa in
Deutschland die gleiche Armutsgrenze wie in Indien
an, sind alle Deutschen reich. Legen wir dagegen in
Indien die gleiche Armutsgrenze wie in Deutschland
an, sind bis auf ein paar Maharadschas alle Inder arm
(obwohl sehr viele dieser »Armen« sich selbst als
durchaus reich bezeichnen würden).
& Lit.: W. Krämer: So lügt man mit Statistik,
Frankfurt 1995.
¤ Wie hoch auch immer das Wasser in der Schleuse
steigt, es bleibt stets der gleiche Teil des Schiffes
unterhalb der Wasserlinie

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LexPI Bd. 1 Ärzte 1 29

Ärzte 1
Es gibt zu viele Ärzte in der Bundesrepublik
Das ist ein sogenanntes Werturteil und als solches
weder zu beweisen noch zu widerlegen. Wären wir
heute mit der Ärztedichte aus Kaiser Wilhelms Zeiten
zufrieden, hätten wir mehr als 100000 Ärzte zuviel.
Würden wir dagegen wie das englische Königshaus
oder der Sultan von Brunei auf einem eigenen Arzt für
jede Familie bestehen (die Finanzierung einmal aus-
geklammert), dann hätten wir mehrere Millionen
Ärzte zuwenig. Wie viele Ärzte wir wirklich »brau-
chen«, weiß niemand auf dieser Welt – so etwas wie
einen eindeutig feststellbaren »Bedarf« an Ärzten gibt
es nicht.
Noch viel mehr Ärzte als in Deutschland gibt es im
fernen Island, wo sich, wenn wir einem Artikel in der
Stuttgarter Zeitung glauben dürfen, »viele Ärzte ...
mit nichts anderem als Daumendrehen« beschäftigen.
Rund 700 Ärzte haben auf der Insel eine Praxis auf-
gemacht, für je 350 Isländer und Isländerinnen einer.
Das ist absoluter Weltrekord. »In den meisten Praxen
wird jeder angehende Patient mit freudiger Erwartung
begrüßt. Die Ärzteschwemme und die geringe Nach-
frage nach medizinischer Heilkunst bedeutet für tat-
sächlich krankwerdende Isländer eine optimale Ver-
sorgung: Die Wartezimmer sind leer, der Doktor hat
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ärzte 1 30

viel Zeit.«
Diese leeren Wartezimmer sind wohl auch der
Grund, warum vor allem die Ärzte selber immer mei-
nen, es gäbe ihrer viel zu viele. »Die 700 praktizie-
renden Ärzte freuen sich weniger«, schreibt die Stutt-
garter Zeitung. »Zehn Prozent von ihnen können nach
amtlicher Schätzung nur mit öffentlicher Wohlfahrts-
unterstützung leben. Einige Praktiker füllen ihre Zeit
mit einem Nebenberuf aus. Einer verkauft beispiels-
weise Zeitungen, und ein anderer betreibt einen noch
zusätzlich berufsschädigenden Bio-Laden. Ein halbes
Hundert zusätzlicher Ärzte macht sich gar nicht erst
die Mühe einer Praxiseröffnung und geht vollberuf-
lich einer anderen Beschäftigung nach: sie fahren als
Fischer zur See, helfen in landwirtschaftlichen Betrie-
ben der Eltern oder verdingen sich im mittleren
Staatsdienst.«
& Lit.: H. Thorgrimson: »Zu viele Ärzte auf Is-
land«, Stuttgarter Zeitung, 13.4.1987.

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LexPI Bd. 1 Ärzte 2 30

Ärzte 2
Die Ärzteschwemme muß die Kosten im Gesund-
heitswesen in die Höhe treiben
Viele Sozialpolitiker in der Bundesrepublik befürch-
ten, unsere gesetzliche Krankenversicherung könnte
im Kielwasser der Ärzteschwemme durch die von
Ärzten induzierten Folgekosten quasi leckgeschlagen
werden. Denn im geltenden System verursachen mehr
Ärzte auch dann mehr Kosten, wenn ihr eigenes Ges-
amthonorar gedeckelt bleibt: Sie schreiben krank und
überweisen ins Krankenhaus, sie vorordnen Kuren,
Medikamente, Brillen, Hörgeräte, Rollstühle, und
diese von niedergelassenen Ärzten veranlaßte Sekun-
därwelle von Drittleistungen mitsamt den induzierten
Kosten, die inzwischen die unmittelbaren Kosten der
ambulanten Versorgung um das Drei- bis Vierfache
übersteigen, macht vielen Verantwortlichen im Ge-
sundheitswesen große Angst.
Diese Angst ist aber unbegründet. Wie die Erfah-
rungen mit dem Arzneibudget sehr deutlich zeigen,
können Ärzte durchaus beim Verordnen sparen, wenn
sie die Konsequenzen selber tragen müssen. Und wo
steht geschrieben, daß jeder niedergelassene Arzt mit
der Zulassung quasi automatisch auch einen Schlüssel
zum Tresor der gesetzlichen Krankenversicherung er-
halten muß? Genauso können wir ihm oder ihr dieses
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ärzte 2 31

Privileg auch wieder aberkennen. Nicht jeder Rechts-


anwalt ist gleichzeitig auch Notar, und so könnte man
auch im Gesundheitswesen die »Notarfunktion« des
Kassenarztes auf besonders zuverlässige Ärzte be-
schränken, die eben nicht jeden Simulanten auf
Wunsch krankschreiben oder die Ressourcen der Ka-
ssen durch wildes Verordnen von Drittleistungen
plündern. Der befürchtete »kontraproduktive Wettbe-
werb mit Gefälligkeitsleistungen« muß also durchaus
nicht ewig zu Lasten der Krankenkassen gehen.
& Lit.: W. Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.

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LexPI Bd. 1 Ärztliche Leistungen 31

Ärztliche Leistungen
Das Leistungsgeschehen in den Praxen der nie-
dergelassenen Ärzte richtet sich nach dem Befin-
den und der Anzahl der Patienten
Das ist eine der teuersten Illusionen der deutschen So-
zialpolitik. Sie beruht auf der Fiktion, daß zu jeder
Krankheit und zu jedem Symptombild eine mehr oder
weniger fest bestimmte medizinische Antwort existie-
re: 40 Grad Fieber mit periodischem Schüttelfrost und
Durchfall bedingt Therapie X, und diffuse Kopf-
schmerzen mit morgendlicher Übelkeit erzwingen
Diagnosemethode Y. Das weiß der Arzt, und genau
das tut er auch.
Die Wahrheit sieht aber ganz anders aus, wie jeder
AOK-Geschäftsführer gerne bestätigen wird, in des-
sen Bezirk ein neuer Arzt gezogen ist: Gibt es auf ein-
mal zwei Ärzte statt nur einen Arzt am Ort, sinkt der
Aufwand pro Arzt nicht etwa auf die Hälfte – der
Aufwand pro Patient steigt vielmehr auf das Doppel-
te.
Das heißt unter Ärzten »Ausweichen in die
Menge«: Je weniger Patienten, desto umfangreicher
die Behandlung pro Patient. Dieser Effekt ist in vielen
Studien empirisch nachgewiesen.
& Lit.: Walter Krämer: »Der Markt für ambulante
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ärztliche Leistungen 31

kassenärztliche Leistungen«, Zeitschrift für die


gesamte Staatswissenschaft 137,1981, S. 47–61.

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LexPI Bd. 2 Aschenputtel 15

Aschenputtel
Aschenputtel hatte einen Schuh aus Glas
Bekanntlich hatte Aschenputtel auf dem Heimweg
vom Ball des Prinzen ihren Schuh verloren, einen
Schuh aus Glas (zumindest in der angelsächsischen
Version, der auch Walt Disney in seiner Zeichentrik-
kverfilmung folgt; in der Grimmschen Fassung ist der
Schuh aus Gold). Diesen Schuh, vom Königssohn ge-
funden, müssen dann die bösen Schwestern anprobie-
ren; er paßt ihnen nicht, er hat nur Platz für Aschen-
puttels Mini-Füßchen, und so finden der Prinz und
Aschenputtel trotz aller Hindernisse schließlich den-
noch zueinander.
In Wahrheit ist der Glasschuh schließlich das Kind
eines Übertragungsfehlers: In den ersten französi-
schen Fassungen des Märchens trug Cinderella nur
Pantoffeln aus »vair« (= Pelz), das hat ein Weiterer-
zähler falsch verstanden und machte daraus »verre«
(= Glas).
& Lit.: zahlreiche Seiten zum Thema »Cinderella«
im Internet, etwa: http://indy4.fdl.cc.mn.us//isk/
stories/cinder2.html.

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LexPI Bd. 1 Asterix 1 32

Asterix 1
Asterix und Obelix haben ihre Hosen mit Gürteln
hochgehalten
Die bekannten Bilder von Asterix und Obelix in ihren
Gürtelhosen sind historisch nicht korrekt: Die alten
Gallier trugen keine Gürtel, sondern Hosenträger.
& Lit.: »Asterix trug keinen Gürtel«, Westdeutsche
Allgemeine Zeitung, 2.9.1995.

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LexPI Bd. 1 Asterix 2 32

Asterix 2
Asterix und Obelix trugen Zöpfe
Die Gallier zur Zeit der römischen Besatzung
schmierten ihr Haar »mit einer Art Naßgel aus Kalk-
wasser ein, von dem es blonder und fettiger wurde,
und kämmten es dann nach hinten.« Also keine Zöpfe.
& Lit.: »Asterix vermittelt Studenten die Historie«,
Mainzer Allgemeine Zeitung, 16.9.1995.

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LexPI Bd. 2 Asterix und Obelix 15

Asterix und Obelix


Asterix und Obelix aßen gerne Wildschweine und
handelten mit Hinkelsteinen
Nicht alle Details in der bekannten Comic-Serie sind
historisch korrekt. Daß die alten Gallier keine Gürtel,
sondern Hosenträger trugen, haben wir schon in Band
1 gesagt. Inzwischen haben Historiker darauf hinge-
wiesen, daß sie auch keine Wildschweine aßen und
keine Hinkelsteine zugehauen haben: Wildschweine
galten bei den Galliern als heilig; eines davon zu
essen, wäre dem Schlachten einer Kuh in Indien
gleichgekommen, und die zahlreichen heute in der
Bretagne herumliegenden Hinkelsteine alias Menhire
haben schon lange vor den Kelten dort gelegen.
& Lit.: R. van Royen und S. van der Vegt: Asterix –
die ganze Wahrheit, München 1997; »Wild-
schweine waren heilig«, Der Spiegel 11/1998.

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LexPI Bd. 1 Atlantis 32

Atlantis
Atlantis hat wirklich existiert
Ein Kontinent oder eine Insel namens Atlantis hat
niemals existiert. Die Sage von Atlantis ist eine reine
Erfindung des griechischen Philosophen Plato, der in
seiner Schrift Kritias von einem mächtigen Imperium
namens Atlantis berichtet, jenseits der Säulen des
Herkules (=Straße von Gibraltar), mitten im Meer
und größer als Kleinasien und Nordafrika zusammen.
Dessen Bewohner hätten dort lange glücklich und zu-
frieden gelebt, bis ein moralischer Verfall sie über-
kam und sie beschlossen hätten, die ganze Erde zu be-
herrschen. Zur Strafe, so Plato, ließ der mächtige Zeus
den Kontinent von einem Erdbeben erschüttern; das
Land versank mit Mann und Maus im Meer.
Obwohl Plato mehrfach beteuerte, dies sei eine
wahre Geschichte, die er selbst von dem großen
Staatsmann Solon und dieser von Priestern in Ägyp-
ten wüßte (siehe dazu auch den Stichwortartikel ð
»New York 3« über Alligatoren im Kanalsystem),
kann sie so wie von Plato berichtet, nämlich 9000
Jahre vor seiner Zeit, und vom Wirken des Gottes
Zeus ganz abgesehen, niemals stattgefunden haben.
Denn Plato berichtet auch von Plänen der Atlanter,
Athen und Griechenland zu unterjochen, und 9000
Jahre vor Plato war Athen noch eine unbewohnte
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Atlantis 33

Wiese. Und auch näher gegen Platos eigene Zeit gibt


es für verschwundene Riesenreiche nicht die gering-
sten Anhaltspunkte.
Natürlich gab es so wie heute große Katastrophen:
Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche,
denen blühende Gemeinwesen, wie in Kreta oder auf
der Insel Santorin, zum Opfer fielen, aber hier kann
man beim besten Willen nicht von Riesenreichen
sprechen; außerdem fanden diese Katastrophen außer-
halb des Atlantiks statt.
Die Anhänger von Plato, die ihn dennoch wörtlich
nehmen, verweisen darauf, daß Kontinente zuweilen
in der Tat im Meer verschwanden und daß an der
Stelle des heutigen Atlantik tatsächlich einstmals
Land gewesen ist. Aber das war vor 200 Millionen
Jahren, als Afrika, Europa und Amerika noch eine zu-
sammenhängende Landmasse bildeten und lange
bevor der erste Mensch auf unserem Globus aufgetre-
ten ist. Und seit rund 70 Millionen Jahren, also immer
noch 69 Millionen Jahre länger als die Zeit des Homo
sapiens, sind die Kontinente und der Atlantik in etwa
an der heutigen Stelle.
& Lit. (Auswahl): Otto Mueck: The secret of atlan-
tis, New York 1978; Edwin Ramage: Atlantis,
fact or fiction?, Bloomington 1978; Charles Ber-
litz: Atlantis, the lost continent, New York 1984;
Edgar Cayce: Das Atlantis-Geheimnis, München
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Atlantis 33

1992.

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LexPI Bd. 2 Atlas 16

Atlas
Atlas muß die Erdkugel tragen
Die bekannten Darstellungen mit Atlas als Träger der
Erdkugel, wie sie etwa Mercator (1595) auf der
Frontseite seiner Kartensammlungen benutzt, sind
mythologisch inkorrekt. Nach der griechischen Über-
lieferung muß Atlas als Strafe für seine Auflehnung
gegen Zeus nicht die Erdkugel, sondern das Himmels-
gewölbe tragen (dabei helfen ihm zwei Säulen jenseits
des Horizonts im Meer, wovon das Atlasgebirge im
Norden Afrikas seinen Namen hat).
& Lit.: Encyclopaedia Britannica, 15. Auflage, Chi-
cago 1994.
¤ Mythologisch inkorrekt: Atlas mit Erdball auf den
Schultern

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LexPI Bd. 2 Atmung 16

Atmung
Menschen atmen großteils durch die Haut
»Die Haut konnte nicht mehr atmen«, sagte James
Bond; deshalb mußte seine Kollegin sterben. Denn
Goldfinger alias Gerd Fröbe hatte Bonds Verbündete
von Kopf bis Fuß vergoldet – Exitus.
Zum Glück drohen diese Gefahren, durch Überzie-
hen mit luftundurchlässigen Substanzen umzukom-
men, nur im Kino. Anders als Würmer oder Schwäm-
me atmen Menschen fast ausschließlich durch Mund
und Nase, nur ein einziges Prozent des Sauerstoffs,
den wir für unsere Atmung brauchen, erreicht uns
durch die Haut. Damit ist zumindest atemtechnisch
das Morden per Vergolden ausgeschlossen (weitere
Gefahren drohen durch Überhitzung mangels Schwit-
zen, aber daran stirbt man nicht).
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's?«, Die Zeit,
8.8.1997.

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LexPI Bd. 2 Attila 17

Attila
Der Hunne Attila war von furchterregender Ge-
stalt (s.a. ð »Napoleon«)
Der wahre Attila war anders als der Attila der Comics
und der Kinos eher klein und schmächtig: ein häßli-
cher, rotbärtiger Zwerg mit viel zu großem Kopf,
»like the little, red-bearded characters out of the Bugs
Bunny cartoons« (G. Donald).
Seinen Ruf als Hüne hat Attila wohl dem Nibe-
lungenlied zu verdanken. »Wie vor tausend Jahren die
Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen
gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferung
und Märchen gewaltig erscheinen läßt«, rief Wilhelm
II. in seiner berüchtigten »Hunnenrede« dem deut-
schen Expeditionskorps gegen den Boxeraufstand in
China zu, »so möge der Name Deutscher in China auf
tausend Jahre durch Euch in einer Weise bestätigt
werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt,
einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.«
Eigentlich wären diese markigen Worte daher ein
Appell gewesen, in China mit schmächtigen rotbärti-
gen Zwergen aufzutreten.
& Lit.: Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund
1988.

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LexPI Bd. 2 Attila 18

¤ Der gewaltige Attila war eigentlich ein Zwerg

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LexPI Bd. 1 Aufpreis 33

Aufpreis
»Entweder wir packen auf ihren neuen Mazda
323 noch zwei Airbags drauf«, verspricht die
Werbung eines japanischen Automobilkonzerns,
»oder wir geben ihnen 1500 Mark zurück«
Die Botschaft ist: Bei uns kosten Airbags keinen
Pfennig extra. Aber wer keinen will, kriegt 1500
Mark.
Das ist aber ein Irrtum. Das Auto kostet mit Air-
bags 33000 Mark, ohne Airbags 31500. Damit ko-
sten die Airbags einen Aufpreis von 1500 Mark.
Auf solche Tricks fallen nicht nur dumme deutsche
Autokäufer herein. Wenn man Ärzte fragt: »Wollen
Sie operieren, wenn der Patient mit 10% Wahrschein-
lichkeit dabei stirbt?«, so sagen viele nein. Wenn man
aber fragt: »Wollen Sie operieren, wenn der Patient
mit 90% Wahrscheinlichkeit überlebt?«, so sagen die
gleichen Ärzte ja.
& Lit.: Daniel Kahnemann und Amos Tverski: »Ra-
tional choice and the framing of decisions«, Jour-
nal of Business 1986, 251.278.

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LexPI Bd. 2 Auftrieb 18

Auftrieb
Flugzeugflügel erzeugen den nötigen Auftrieb
durch ihre gewölbte Oberseite
So kann man in Schulbüchern oft lesen: Die Luft, die
sich an der Vorderkante des Flugzeugflügels teilt,
muß sich an der Hinterkante wieder treffen, wegen der
Wölbung des Flügels strömt die Luft an dessen Ober-
seite schneller, sie erzeugt so den Auftrieb, der das
Flugzeug daran hindert, der Einladung der Schwer-
kraft nach unten nachzukommen. »Der Auftrieb wird
vor allem durch den ›Sog‹ von oben hervorgerufen«,
wie es in einem Physiklehrbuch für deutsche Schulen
heißt.
Spätestens beim Anblick eines mit dem Rücken
nach unten fliegenden Flugzeugs muß man aber an
dieser Erklärung zweifeln – dergleichen Kunststücke
dürften dann nicht möglich sein. Und in der Tat ist
der »Sog von oben« für das Fliegen reichlich uner-
heblich; Flugzeuge halten sich durch die schräge Stel-
lung, den sogenannten »Anstellwinkel«, nicht durch
die Wölbung ihrer Flügel in der Luft. Je nach Ge-
schwindigkeit des Flugzeugs drücken diese schräg ge-
stellten Flügel die Luft mehr oder weniger stark nach
unten und damit das Flugzeug nach oben (es sei denn,
daß man den Anstellwinkel übertreibt – dann »sackt
das Flugzeug durch«).
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LexPI Bd. 2 Auftrieb 19

& Lit.: O. von Höfling (Hrsg.): Lexikon der Schul-


physik, Köln 1970.
¤ An der Oberseite eines gewölbten Flügels strömt
die Luft schneller

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LexPI Bd. 2 Auge um Auge 19

Auge um Auge
Das alte Testament fordert »Auge um Auge, Zahn
um Zahn«
Diese immer wieder zur Rechtfertigung aller mögli-
chen Rachegelüste herangezogene Bibelstelle ist
falsch übersetzt. Eine korrekte Übersetzung wäre:
»Der Schädiger muß dem Geschädigten etwas geben,
das an die Stelle des Gliedes oder Organs tritt, das
nicht mehr seine volle Funktion erfüllen kann« (Lapi-
de). Diese Entschädigung wird von einem Richter
festgesetzt, mit Rache hat das nichts zu tun. Das Wort
»um« in »Auge um Auge« heißt »an Stelle von«, und
in diesem Sinn, d.h. Wiedergutmachung entsprechend
dem zugefügten Schaden, wird und wurde diese Bi-
belstelle von den Juden stets verstanden.
& Lit.: Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig über-
setzt?, Gütersloh 1989.

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LexPI Bd. 2 August der Starke 19

August der Starke


August der Starke konnte Hufeisen verbiegen
August der Starke konnte vieles, aber keine Hufeisen
verbiegen. Zunächst einmal ist das in der Rüstkam-
mer zu Dresden ausgestellte Hufeisen, das August der
Starke laut einer Urkunde des Kunstkämmerers
Tobias Beutel » ... mit Dero Eigenen Händen am 15.
Februar 1711 im 41. Jahr Ihres Alters, voneinander
gebrochen«, eben nicht verbogen, sondern durchge-
brochen. Und zweitens war das Eisen auch noch prä-
pariert. Nach neueren Analysen durch Hans-Joachim
Eckstein von der Bergakademie Freiberg ist an der In-
nenkante der Bruchfläche eine von plastischer Defor-
mation herrührende Abplattung erkennbar, die von
einer möglichen, vor dem Kraftakt angebrachten
Kerbe stammen könnte, und auch der ungewöhnlich
hohe Phosphorgehalt des Eisens spricht für Manipu-
lation: Während Hufeisen aus historischen Stallfun-
den maximal 0,45% Phosphor enthalten, liegt der
Phosphorgehalt beim Hufeisen August des Starken
weit über 1%. Derart extreme Phosphoranteile ver-
mindern aber die ertragbare Nennspannung und füh-
ren zu einer Bildung von sogenanntem »Grobkorn«,
das das Durchbrechen erleichtert. Rechnet man dann
noch die Kälte jenes 15. Februar hinzu, an dem die
Heldentat stattfand, welche der Sprödigkeit des Ei-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 August der Starke 20

sens nochmals nachgeholfen hatte, so schrumpfen die


übermenschlichen Kräfte des starken August wieder
auf Menschenmaß zurück.
& Lit.: Die Rüstkammer zu Dresden. Führer durch
die Ausstellung im Semperbau, München 1995;
Hans-Joachim Eckstein: »Ergebnis der Untersu-
chung des Hufeisens aus dem Historischen Mu-
seum Dresden«, unveröffentlichtes Manuskript,
Freiberg 1988.

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LexPI Bd. 1 Ausbeutung 34

Ausbeutung
Der reiche Norden beutet den armen Süden die-
ser Erde aus (s.a. ð »Außenhandel«, ð »Dritte
Welt« und ð »Kolonien«)
Zwar reklamieren die reichsten anderthalb Milliarden
Menschen im Norden unseres Planeten ungefähr drei
Viertel, die restlichen viereinhalb Milliarden Men-
schen im Süden nur ein Viertel der insgesamt pro Jahr
auf der Erde erzeugten Güter und Dienstleistungen,
aber das alleine heißt noch nicht, daß der Norden den
Süden ausbeuten muß. Denn man kann doch offenbar
nur dann von Ausbeutung sprechen, wenn der Aus-
beuter mehr fordert als er gibt, und davon kann im ge-
genwärtigen Nord-Süd-Konflikt keine Rede sein.
Die Länder der ersten Welt konsumieren nämlich
nicht nur drei Viertel der Weltproduktion, sie produ-
zieren auch drei Viertel, und zwar Industrie- wie Ag-
rarprodukte gleichermaßen. Allein die EU könnte,
wenn sie wollte, heute fast die ganze Welt ernähren;
sie produziert mehr Autos und Maschinen als sie
braucht, sie fördert auch die nötigen Rohstoffe wie
Kohle, Düngemittel, Erdöl, Erz allein, und sie
könnte – rein ökonomisch – sehr gut ohne Indien,
Bangladesh und Indonesien existieren.
Die Entwicklungsländer mit drei Vierteln der Welt-
bevölkerung dagegen produzieren nur ein Viertel des
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ausbeutung 34

Welt-Sozialprodukts: Asien 12 Prozent, Südamerika


7 Prozent, Afrika 4 Prozent. Die besonders armen
Länder Südostasiens wie Indien, Pakistan oder Bang-
ladesh erzeugen mit mehr als einer Milliarde Men-
schen, fast einem Fünftel der Weltbevölkerung, sogar
nur ganze 2 Prozent des Weltprodukts. Wenn diese
Länder also vom großen Kuchen weniger abbekom-
men, dann nicht, weil man sie um ihren Beitrag be-
raubt, sondern weil sie weniger zu diesem Kuchen
beitragen als andere. Würde man heute die Entwick-
lungsländer des Südens und die Industrienationen des
Nordens jeweils mit einem großen Zaun umgeben und
jede Gruppe mit ihren Rohstoffen, ihren Menschen,
ihrem Kapital, ihrem Wissen und ihrer Kultur alleine
lassen – es wäre für den reichen Norden rein wirt-
schaftlich gesehen kein Verlust. Der arme Süden da-
gegen wäre und würde dann erst richtig arm und wäre
wirtschaftlich fast völlig ruiniert.
& Lit.: Peter F. Drucker: The new realities, London
1990; Siegfried Kohlhammer: »Leben wir auf Ko-
sten der Dritten Welt? Über moralische Erpres-
sung und edle Seelen«, Merkur 1992, S.
876–898.

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LexPI Bd. 2 Ausländer 20

Ausländer
Ausländer sind nicht mehr und nicht weniger kri-
minell als Deutsche
Das kommt darauf an. Zählt man allein die Straftaten
pro 100.000 deutsche bzw. ausländische Bewohner
unseres Landes, so sind Ausländer weit krimineller.
Jeder zehnte Tatverdächtige bei Vergewaltigung und
Mord ist heute ein Asylbewerber, und viele Auslän-
der, vor allem aus Ost- und Südosteuropa, reisen nur
für ihre kriminellen Taten überhaupt nach Deutsch-
land ein. Die folgende Tabelle des Statistischen Bun-
desamtes gibt für 1996 den Prozentsatz aller Auslän-
der an den von deutschen Gerichten insgesamt verur-
teilten Straftätern für ausgewählte Tatbestände an:
Verurteilte Ausländer In Prozent aller
insgesamt Straftäter
Vergewaltigung 335 27,1%
Mord und Totschlag 270 33,2%
Sexueller Mißbrauch
von Kindern 291 14,3%
Leichte und schwere
Körperverletzung 10.693 28,9%
Diebstahl und
Unterschlagung 48.862 29,4%
Raub und Erpressung 3.659 39,1%
Betrug 10.460 18,2%
Straftaten insgesamt 207.315 27,1%

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LexPI Bd. 2 Ausländer 21

Wenn man also berücksichtigt, daß ausländische Mit-


bürger inklusive aller Asylbewerber, Touristen und
Soldaten weniger als 10% der Gesamtbevölkerung
ausmachen, ist ihre höhere Brutto-Kriminalitätsanfäl-
ligkeit von niemandem zu bestreiten.
Dieser Vorsprung bleibt auch dann bestehen, wenn
man zwischen Tatverdächtigen und Verurteilten un-
terscheidet (die obige Tabelle zählt nur die Straftäter,
die rechtsgültig verurteilt worden sind) oder all die
Straftaten wie etwa Vergehen gegen das Asylverfah-
rensgesetz ausschließt, die nur von Ausländern began-
gen werden können, oder wenn man berücksichtigt,
daß Ausländer vermehrt in kriminalitätsanfälligen
großen Städten wohnen und sich nach Alter, Einkom-
men, Geschlecht und Ehestatus vermehrt in solchen
Bevölkerungsgruppen aufhalten, in denen auch die
Eingeborenen vermehrt zu kriminellen Taten neigen:
Wie sich durch statistische Regressionsanalysen zei-
gen läßt, liegt die Kriminellenquote bei den Auslän-
dern auch dann noch über der der Deutschen; in einer
Studie von Horst Entorf (1998) etwa steigt die Zahl
der amtlich erfaßten Straftaten unter sonst gleichen
Umständen bei einer einprozentigen Erhöhung des
Ausländeranteils um 0,21%.
& Lit.: Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminal-
statistik, Wiesbaden (verschiedene Jahre); »Streit-
fall Ausländerkriminalität«, Focus 6/1994; Horst
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Ausländer 21

Entorf: »Kriminalität und Ökonomie«, Zeitschrift


für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 116,
1996, S. 417–450; derselbe: »Socioeconomic and
demographic factors of crime in Germany«, un-
veröffentlichtes Manuskript, Mannheim 1998;
www.statistik-bund.de/basis/de/rechts05.htm.

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LexPI Bd. 2 Austern 22

Austern
Austern sind etwas für reiche Leute (s.a. ð
»Kaviar«)
Mitte des 19. Jahrhunderts waren Austern in England
so gewöhnlich, daß Charles Dickens seinen Helden
Sam Weller in den »Pickwick Papers« sagen lassen
konnte: »Armut und Austern sieht man nur zusam-
men«.
»Das verstehe ich nicht, Sam«, sagte Mr. Pickwick.
»Was ich meine«, sagte Sam, »ist: je ärmer eine
Gegend, desto größer ist die Nachfrage nach Au-
stern. Gucken Sie sich nur mal um – eine Austern-
bude für jedes halbe Dutzend Häuser, die Straße ist
voll davon. Gottverdammich, es ist doch so, wer
gar nichts mehr zu essen hat, rennt aus dem Haus
und stopft sich voll mit Austern.«
»Stimmt«, sagte Mr. Weller Senior, »und mit
Lachs ist es genau das gleiche.«
Als Dickens diese Zeilen Mitte des 19. Jahrhunderts
schrieb, aßen die Engländer 500 Millionen Austern
jährlich, genauso viel wie die Franzosen. Wegen der
zunehmenden Verschmutzung der Küstengewässer im
Verein mit einer nachlassenden Nachfrage kam die
englische Austernfischerei dann aber zum Erliegen;
als die Nachfrage wieder anstieg, fehlte das Angebot,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Austern 22

und so wurden Austern dann tatsächlich eine Speise


vor allem für die reichen Leute.
& Lit.: Charles Dickens: Pickwick Papers (obiges
Zitat ist von uns aus der bei Collins in London
1953 erschienenen Ausgabe, S. 309, übersetzt);
R. Neild: The English, the French, and the Oyster,
London 1996.

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LexPI Bd. 1 Autobahn 37

Autobahn
Die deutschen Autobahnen entstanden auf Befehl
von Hitler
Nach offizieller Nazi-Propaganda hatte Hitler wäh-
rend seiner Haft in Landsberg 1924 die Vision, ein
Netz kreuzungsfreier Straßen nur für Autos quer
durchs deutsche Land zu spannen – also Autobahnen
einzuführen.
In Wahrheit gibt es Autobahnen schon seit 1921;
damals wurde in Berlin die AVUS eingeweiht, die
erste Autobahn der Welt. In Italien gibt es Autobah-
nen seit 1923 (die Autostrada von Mailand Richtung
Schweiz), 1926 wurde die Autobahn Köln-Düsseldorf
geplant, im gleichen Jahr konstituierte sich der »Ver-
ein zur Vorbereitung der Autostraße Hansestädte-
Frankfurt-Basel« (HAFRABA), und als Hitler
Reichskanzler wurde, waren quer über die ganze Re-
publik und ohne sein Zutun zahlreiche Autobahnen
geplant oder im Bau. Daß die meisten erst unter sei-
ner Herrschaft fertig wurden, ist nicht sein Verdienst
gewesen.
& Lit.: H.-J. Winkler: Legenden um Hitler, Berlin
1963.

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LexPI Bd. 2 Autofahren 1 22

Autofahren 1
Autofahren ist die gefährlichste Art der Fortbe-
wegung
Wahr ist: die Wahrscheinlichkeit, bei einer Autoreise
umzukommen, ist weit größer als beim Fliegen oder
bei Fahrten mit Bahn oder Bus. Aber noch gefährli-
cher ist das Reisen mit der Kutsche: »Der Ausflug mit
Kutsche oder Reitpferd endet jedes Jahr für rund 2000
Menschen im Krankenhaus« (Borkener Zeitung),
mindestens 20 Menschen kommen dabei Jahr für Jahr
ums Leben. Damit ist die Kutsche weit vor Auto,
Bahn und Flugzeug das pro Passagierkilometer ge-
fährlichste Verkehrsmittel der Welt.
& Lit.: »Kutschfahrt mit Risiko«, Borkener Zeitung,
8.3.1997; Stichwort vorgeschlagen von Jens Syl-
vester.

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LexPI Bd. 2 Autofahren 2 23

Autofahren 2
Bezüglich Autofahren zeigen Frauen und Männer
keine Unterschiede
Diese Hypothese ist politisch korrekt, aber faktisch
falsch. Denn nach neueren verkehrspsychologischen
Erkenntnissen fahren Frauen anders, und nicht immer
besser, als die Männer. Sie verschätzen sich leichter
bei Entfernungen, haben deshalb im Vergleich zu
Männern größere Probleme beim Einparken, oder bie-
gen, falls erforderlich, zu früh oder zu spät in Neben-
straßen ab. Und auch ihr Zögern bei kritischen Vor-
fahrtssituationen macht diese oft noch kritischer als
sie ohnehin schon sind.
Keine Unterschiede fanden die Forscher dagegen
beim Kampf um Parkplätze (hier reagieren Frauen
wie Männer gleichermaßen rabiat auf Konkurrenten)
oder beim Lenken PS-starker Kraftfahrzeuge: Hier
drücken Frauen wie Männer gleichermaßen auf die
Gaspedale.
& Lit.: »Zaudern und Zockeln«, Der Spiegel
22/1997; Frank McKenna: Driving behaviour of
men and women, London 1998.

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LexPI Bd. 2 Autos 1 23

Autos 1
Autos haben die Umwelt seit jeher vor allem
durch Abgase und Lärm belästigt (s.a. ð »Fahr-
verbot 2«)
Der vor hundert Jahren mit Abstand häufigste Grund
zu Klagen über Autos war der Staub. »Der Arbeiter
auf dem Heimwege, das Kind auf dem Gange zur
Schule, der erholungsbedürftige Wanderer, alle leiden
darunter.« Der durch Autos aufgewirbelte Staub
wurde als dermaßen lästig empfunden, daß man Ge-
setze vorschlug, wonach Autofahrer beim Sichten von
Fußgängern zwecks Staubvermeidung das Fahren ein-
zustellen hätten ...
Die »geradezu fürchterliche Staubplage, die das
Auto geschaffen und die natürlich besonders auf den
nicht gepflasterten Straßen an den schwach genom-
men 200 trockenen Jahrestagen in die ekelhafteste Er-
scheinung tritt« (aus einem Beschwerdebrief von
1910), erregte Anfang des Jahrhunderts viele Bürger
weit stärker als heute der Lärm und der Gestank. »Es
besteht kein Zweifel, daß die Abneigung gegen das
Automobil, die sich überall geltend macht und der
Ausbreitung des Motorverkehrs entgegenwirkt, in al-
lererster Linie auf die Staubbelastung zurückzuführen
ist« (Münchner Neueste Nachrichten). »Die Schnel-
ligkeit der Motorfahrzeuge [damals maximal 20 km/h;
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LexPI Bd. 2 Autos 1 24

WK] würde weniger Zorn erregen (...) wenn nur der


Staub nicht wäre.«
& Lit.: Münchener Neueste Nachrichten, 7.3.1910;
Zeitschrift »Rauch und Staub« von 1910/11; F.-J.
Brüggemeier und M. Toyka-Seid: Industrie-
Natur: Lesebuch zur Geschichte der Umwelt im
19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995.
¤ Früher Automobilist, eine Dame und einen Dackel
einstaubend (gezeichnet 1896 von H. Toulouse-
Lautrec

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LexPI Bd. 2 Autos 2 24

Autos 2
Erst mit den Autos fing das Chaos in den Städten
an
Die größte Umweltplage in den Städten des 19. Jahr-
hunderts waren die Pferde und der Pferdemist; gegen
den Gestank und das Gedränge auf manchen Straßen
des 19. Jahrhunderts sind moderne Großstadt-Boule-
vards idyllische Parfümgeschäfte.
Eine noch größere Plage als die lebenden Pferde
waren allerdings die toten: Um die Jahrhundertwende
verendeten auf New Yorker Straßen jährlich 15.000
Pferde, in Chicago 12.000; die Kadaver blieben oft
tagelang dort liegen, wo sie hingefallen waren.
& Lit.: B. Bryson: Made in America, London 1995;
Stichwort vorgeschlagen von Dietrich Groh.

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LexPI Bd. 2 Autos 3 25

Autos 3
Man darf sein Auto auf öffentlichen Straßen nur
mit gültigen Kennzeichen bewegen
Dieser Irrtum hat viele Autofahrer schon viel Geld ge-
kostet (Taxi zum An- und Abmelden des Autos, weil
das eigene Auto mit ungültigem Nummernschild in
der Garage stand). »Fahrten zur Abstempelung der
Kennzeichen und Rückfahrten nach Entfernen des
Stempels dürfen mit ungestempeltem Kennzeichen
ausgeführt werden«, stellt § 23 der Straßenverkehrs-
zulassungsordnung lapidar fest.
Allerdings sollte man dabei möglichst keine priva-
ten Umwege fahren; auch Einkaufen oder die Kinder
an der Schule absetzen ist eigentlich verboten – die
Fahrt darf nur dem einen Zweck des Abstempelns des
Nummernschildes dienen.
& Lit.: H. Jagusch und P. Hentschel: Straßenver-
kehrsrecht, München 1997; Stichwort vorgeschla-
gen von Sascha Waßmann.

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LexPI Bd. 1 Außenhandel 1 35

Außenhandel 1
Die reichen Industrienationen schöpfen ihren
Wohlstand aus dem Handel mit der Dritten Welt
(s.a. ð »Ausbeutung«, ð »Dritte Welt« und ð
»Kolonien«)
Die reichen Industrienationen handeln vor allem un-
tereinander, und nicht mit der Dritten Welt, wie die
folgende Tabelle des Außenhandels der Bundesrepu-
blik Deutschland zeigt 1994 (nach Ursprungs- und
Bestimmungsländern aufgespalten und in Millionen
DM):
sonst. sonst. Entwik-
EU Europa Industriel. klungsländer
Einfuhr aus 331866 131834 88568 71116
Ausfuhr nach 364619 151834 70078 77228

& Lit.: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahr-


buch für das Ausland, verschiedene Jahre; Fach-
serie Außenhandel.

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LexPI Bd. 1 Außenhandel 2 35

Außenhandel 2
Eine positive Leistungsbilanz zeugt für die wirt-
schaftliche Leistung einer Volkswirtschaft (s.a. ð
»Export« und ð »Wettbewerbsfähigkeit«)
Eine positive Leistungsbilanz kann, aber muß kein
Zeuge für die Leistung einer Wirtschaft sein. Diese
Leistungsbilanz stellt alle in einem Rechnungsjahr an
das Ausland gelieferten Güter und Dienstleistungen
den aus dem Ausland importierten Gütern und Dienst-
leistungen gegenüber; ist die erste Summe größer als
die zweite, sprechen wir von einem Leistungsüber-
schuß, ist die erste Summe kleiner als die zweite,
sprechen wir von einem Leistungsdefizit.
Die Bundesrepublik Deutschland erwirtschaftet in
der Regel einen Leistungsüberschuß und ist darauf
nicht wenig stolz. Dabei vergessen wir aber gern, daß
dieser Leistungsüberschuß notwendigerweise mit
einem Nettoexport von Kapital zusammengehen muß.
Denn dieser Leistungsüberschuß bedeutet: Wir be-
kommen vom Ausland mehr Geld für Güter und
Dienstleistungen als wir diesem unsererseits für Güter
und Dienstleistungen zahlen (das muß so sein, so ist
ein Leistungsüberschuß gerade definiert). Und dieses
Geld muß irgendwo herkommen. Die Ausländer kön-
nen die DM-Bestände ihrer Zentralbanken plündern,
sie können den Deutschen ausländische Aktien, Im-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Außenhandel 2 36

mobilien oder Firmen oder auch ihnen gehörige deut-


sche Firmen oder Wertpapiere verkaufen, sie können
ihre DM-Konten in Deutschland auflösen – wo auch
immer sie die Gelder hernehmen, in jedem Fall wer-
den die deutschen Forderungen an das Ausland netto
größer.
Umgekehrt bei einem Leistungsdefizit. Bei einem
Leistungsdefizit bekommen wir vom Ausland für un-
sere Güter und Dienstleistungen weniger Geld, als wir
diesem für seine Güter und Dienstleistungen zahlen,
und diese Differenz muß durch Kapitalimporte ausge-
glichen werden: Wir können deutsche Wertpapiere,
Immobilien, Firmen, welche Kapitalgüter auch immer
an Ausländer verkaufen, ersatzweise auch unsere ei-
genen Investitionen im Ausland auflösen – in jedem
Fall werden unsere Verbindlichkeiten gegenüber dem
Ausland netto größer.
So gesehen trägt ein Leistungsdefizit also auch eine
gute Botschaft: Das Ausland investiert bei uns, wir
sind als Standort attraktiv. Je nachdem, aus welchen
Quellen diese Kapitalimporte fließen, ob aus auslän-
dischen Direktinvestitionen in inländische Wirt-
schaftsunternehmen, ob aus Käufen inländischer
Wertpapiere oder ob aus der Rückführung eigener
Auslandsinvestitionen in die Heimat, können sie ein
Zeichen ökonomischer Gesundheit sein.
Und umgekehrt kann ein Leistungsüberschuß ge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Außenhandel 2 36

nausogut auf Krankheit deuten: Das Ausland traut uns


nicht, das Kapital fließt ab. So meldete etwa Mexiko
über lange Jahre einen Leistungsüberschuß, aber nicht
wegen der Attraktivität mexikanischer Güter und
Dienstleistungen auf den Weltmärkten, sondern
wegen eines tiefen Mißtrauens gegenüber der mexika-
nischen Wirtschaftspolitik. Die Ausländer zogen ihre
Investitionen ab, das Kapital verließ das Land, und da
die Ausländer die mexikanischen Pesos nicht essen
können, blieb ihnen nur übrig, davon nolens volens
mexikanisch einzukaufen. Hier war der Leistungs-
überschuß also nur das Abfallprodukt eines gleichzei-
tigen massiven Kapitalexports.
So wie es in einer Gesellschaft immer genausoviele
Ehemänner wie Ehefrauen gibt, gibt es in einer
Volkswirtschaft immer genauso hohe Überschüsse in
der Leistungs- wie Defizite in der Kapitalbilanz (oder
auch umgekehrt). Das eine ist das Spiegelbild des an-
deren, und deshalb sollten alle, die sich über Über-
schüsse in der einen Sparte freuen, erst einmal beden-
ken, durch welche Defizite in der anderen Sparte diese
Überschüsse ausgeglichen werden.
& Lit.: Peter von der Lippe: Wirtschaftsstatistik, 4.
Aufl., Stuttgart 1990 (besonders Abschnitt X. 7:
Messung der internationalen Wettbewerbsfähig-
keit); Paul Krugmann: »Competitiveness: A dan-
gerous obsession«, Foreign Affairs, März/April
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Außenhandel 2 37

1994, 28–44.

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B 37

»Die Menschheit läßt sich keinen Irrtum


nehmen, der ihr nützt. Sie würde an
Unsterblichkeit glauben, und wenn sie das
Gegenteil wüßte.«
Christian Friedrich Hebbel, Tagebücher

»Nichts wird so fest geglaubt wie das,


was wir am wenigsten wissen.«
Montaigne

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Babyboom 26

Babyboom
Neun Monate nach dem großen New Yorker
Stromausfall gab es einen Babyboom
»Führt der Weg zu neuen Kunden für uns nur über
Stromausfälle?« fragten die VEW in großformatigen
Anzeigen im Spiegel und in der FAZ. »Die Geschich-
te ist bekannt: 1977 war das sommerliche New York
eine Nacht lang ohne Strom. Neun Monate später
dann der große Baby-Boom und damit viele potentiel-
le Neukunden.«
Antwort: Der Weg zu neuen Kunden führt weder
über Stromausfälle noch über Annoncen so wie diese.
»Offensichtlich erregt es die Phantasie so mancher
Leute, sich vorzustellen, daß ihre Zeitgenossen, wenn
durch unvorhergesehene Ereignisse von ihren norma-
len Tagesgeschäften abgehalten, zwangsläufig dem
Sexualverkehr obliegen«, schreibt ein Demograph,
der einmal den bevölkerungspolitischen Folgen sol-
cher Stromausfälle nachgegangen ist. Denn weder
nach dem Stromausfall von 1977 noch nach dem weit
dramatischeren von 1965, sind hier Besonderheiten
nachzuweisen.
Am 9. November 1965 kurz nach fünf Uhr nach-
mittags fiel im gesamten Nordosten der USA die
Stromversorgung aus: Ein Kurzschluß nahe des Nia-
gara-Kraftwerks und dadurch binnen Sekunden ausge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Babyboom 26

löste zahlreiche weitere Kurzschlüsse im Leitungsnetz


legten fast alle Kraftwerke in dieser Gegend lahm,
rund 30 Millionen elektrizitätsverwöhnte Amerikaner
in und um New York sind bis zu 13 Stunden ohne
Licht und Strom. Aber offensichtlich haben sie diese
Dunkelheit zu anderem genutzt, als was die VEW
vermuten. Denn neun Monate später, im August
1966, lagen die Geburten in Stadt und Staat New
York zwar geringfügig über denen des Juli und Sep-
tember, aber das ist in allen Jahren so, mit oder ohne
Stromausfall, und auch die absoluten Geburtenzahlen
des August 1966 weichen nicht von den »normalen«
Zahlen ab. Die folgende Tabelle zeigt, wie viele Kin-
der in der Stadt New York vom 29. Juni bis 15. Au-
gust des Jahres geboren wurden (der Zeitraum, der für
die am 9. November des Vorjahres gezeugten Kinder
in Frage kommt, und zwar für jedes Jahr von 1961
bis 1966). Wie wir sehen, hat sich von Ende Juni bis
Mitte August des Jahres 1966 nichts Besonderes er-
eignet (für diejenigen, die glauben, daß von Empfäng-
nis bis Geburt exakt neun Monate verstreichen, ist
auch noch die Geburtenzahl des 9. August mit ange-
geben):
Geburten in New York vom 29. Juni bis 16. August
Insgesamt Anteil an den Geburten Geburten am
des jeweiligen Jahres 9. August
1961 23471
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
13,9% 475
LexPI Bd. 2 Babyboom 27

1962 22883 13,9% 497


1963 23324 13,9% 431
1964 23030 13,9% 406
1965 22491 14,1% 468
1966 21364 13,9% 431

& Lit.: Martin Tolchin: »Births up nine months after


blackout«, New York Times, 10.8.1966; J. Ri-
chard Udry: »The effect of the great blackout of
1965 on births in New York City«, Demography
7, 1970, S. 325–327; »The great northeast black-
out of 1965«, über die Internet-Adresse. Stich-
wort beigetragen von H. van Maanen.

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LexPI Bd. 2 Backfisch 27

Backfisch
Backfisch kommt von Backen
Ein Backfisch ist ein Fisch, der, weil zu klein und
mager, ins Wasser zurückgeworfen wird (»back« =
zurück). Deshalb wurden vor der modernen Englisch-
Welle junge Mädchen häufig »Backfische« genannt.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 2 Badewanne 28

Badewanne
Der Dreckrand an der Badewanne kommt von
unserem Dreck
Der ärgerliche Dreckrand, der oft nach einem Wan-
nenbad die Badewanne kränzt, hat mit unserer körper-
lichen Reinlichkeit nicht unbedingt zu tun; er wäre
auch dann vorhanden, wenn wir ohne jeden Schmutz
am Körper in das Badewasser steigen würden. Vor-
aussetzung ist Seife und »hartes«, mineralstoffreiches
Badewasser. Dann verbinden sich die Seifenmoleküle
mit den Mineralien zu unlöslichen, wachsartigen wei-
ßen Klumpen, die auch dann den bekannten Ring am
Rand der Wanne bilden würden, wenn wir selber völ-
lig sauber wären.
& Lit.: Robert L. Wolke: Woher weiß die Seife, was
der Schmutz ist? Kluge Antworten auf alltägliche
Fragen, München 1998.

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LexPI Bd. 1 Bakterien 38

Bakterien
Bakterien sind ungesund
Anders als in der Waschmittelreklame sind durchaus
nicht alle Bakterien kleine Teufel. Die meisten Bakte-
rien sind harmlos, viele sogar äußerst nützlich: Bakte-
rien helfen bei der Produktion von Wein und Bier
(Hefe), von Buttermilch und Sauerkraut, von
Yoghurt, Käse, Sauerteig, sie erzeugen in unseren Ge-
därmen Vitamine (etwa die Vitamine B2 und K), in
unserem Garten Humus, sie reinigen Abwässer, die-
nen als Katalysator für komplizierte Synthesen in der
Chemie, »veredeln« Erdöl, Erdgas oder Zellulose, und
lassen aus Gras und Blättern im Magen von Kühen
Zucker werden. (Nur weil wir Menschen diese nützli-
chen Bakterien nicht in unseren Gedärmen tragen,
können wir, anders als viele Pflanzenfresser, nur von
Gras nicht überleben.) Würden heute alle Bakterien
auf der Erde ausgerottet, würde das meiste andere
Leben mit ihnen zugrunde gehen.
Nur wenige Bakterienarten, wie die bekannten Er-
reger des Typhus oder der Cholera, sind wirklich
schädlich.
& Lit.: D.G. Mackean: Einführung in die Biologie,
Reinbek 1970; Hans G. Schlegel: Allgemeine Mi-
krobiologie, 7. Aufl., Stuttgart 1992.
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LexPI Bd. 2 Banken 28

Banken
Das Bankgewerbe ist eine vom Aussterben be-
drohte Industrie
So lautet eine moderne, von Finanzwirtschaftlern hef-
tig diskutierte These: Weil immer mehr Geldgeber
ihre Mittel ohne den Umweg über die Banken direkt
den Firmen gäben, die Geld brauchten, würden Ban-
ken überflüssig. Der Weg des Geldes von den letzt-
endlichen Gläubigern zu den letztendlichen Schuld-
nern ginge immer öfter an den Banken vorbei (Firmen
geben Aktien aus oder leihen sich die benötigten Mit-
tel an der Börse), so daß die traditionelle Mittlerfunk-
tion der Banken obsolet zu werden drohe.
Sieht man sich die Finanzverflechtungen moderner
Volkswirtschaften aber näher an, kann von einem
Verschwinden der Banken keine Rede sein: Die ge-
samten Verbindlichkeiten des Nichtbankensektors ge-
genüber Banken und anderen Finanzintermediären
(Versicherungen, Bausparkassen usw.) und spiegel-
bildlich auch die gesamten Forderungen der Unterneh-
men und Haushalte gegen Banken und Versicherun-
gen sind heute mit 60 bis 70 Prozent, gemessen an
allen ausstehenden Forderungen und Verbindlichkeit-
en in der Volkswirtschaft, nicht kleiner als vor zehn
oder zwanzig Jahren. Von einigen Ausnahmeländern
wie Frankreich abgesehen, wo die Banken wegen no-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Banken 28

torischer Ineffizienz zunehmend umgangen werden,


kann von einer sog. »disintermediation«, einem Aus-
schalten des Finanzsektors bei dem Verknüpfen von
Gläubigern und Schuldnern, keine Rede sein. Die
Fäden mögen heute vielleicht anders aussehen und
heißen wie zu Zeiten des alten Rothschild (etwa
Fondsbeteiligungen statt Sparbücher und Sichteinla-
gen), aber genauso wie früher sitzen die Banken wie
die Spinne in der Mitte.
& Lit.: Reinhard H. Schmidt, Andreas Hackethal
und Marcel Tyrell: »Disintermediation and the
role of banks in Europe: an international compari-
son«, Vortrag auf dem Symposium »The design of
financial systems and markets«, Amsterdam 1998.

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LexPI Bd. 1 Barras 38

Barras
Dieser Ausdruck für das Militär wird oft, aber falsch,
von dem französischen Grafen Barras (1755–1829)
abgeleitet. Während der französischen Besetzung An-
fang des 19. Jahrhunderts, so diese Erklärung, hätten
die Truppen Napoleons mit Plakaten um Freiwillige
geworben, und diese Aufrufe wären mit dem Namen
des Chefintendanten des Heeres, Barras, unterzeichnet
gewesen. Ergo der Spruch: Ich gehe zum Barras.
In Wahrheit hatte sich der Graf von Barras schon
1799, also einige Jahre vor den fraglichen Ereignis-
sen, aus dem politischen Leben Frankreichs zurük-
kgezogen. Er war zwar zu seiner aktiven Zeit auch
mit der Aushebung von Truppen befaßt gewesen, aber
nur in Frankreich selbst, und die oben zitierten Aufru-
fe in Deutschland hat er niemals unterschrieben.
Vermutlich kommt der Ausdruck »beim Barras«
aber dennoch aus Frankreich, wenn auch anders:
durch das Wort »embaras« (Verlegenheit, mißliche
Sache). Nach dem Ersten Weltkrieg bezeichneten
viele im Rheinland stationierte französische Soldaten
das Militär als »embaras«, und dieser Ausdruck
könnte dann unter Weglassen der ersten Silbe von
dort auch in die deutsche Umgangssprache eingegan-
gen sein.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Barras 39

& Lit.: Fritz C. Müller: Wer steckt dahinter?


Namen, die Begriffe wurden, Eltville 1964.

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LexPI Bd. 2 Baseball 29

Baseball
Die »World Series« der amerikanischen Baseball-
Liga heißt so, weil sie als Weltmeisterschaft ge-
wertet wird
Viele Beobachter der USA sehen in dem Namen
»World Series« für die Endrunde der lokalen Base-
ballmeisterschaften ein weiteres Zeichen für den be-
kannten US-amerikanischen Chauvinismus und Autis-
mus. Aber diesmal tun sie den Amerikanern Un-
recht – die »World Series« hat ihren Namen von
einem der ersten Finanziers dieser Veranstaltung, der
Zeitung New York World.
& Lit.: B. Arp: »World champions«, Leserbrief im
Economist, 16.11.1996.

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LexPI Bd. 1 Bastille 39

Bastille
Die Bastille wurde von der Pariser Bevölkerung
erstürmt
Anders als wir in der Schule lernen, wurde die Bastil-
le nie erstürmt; sie wurde friedlich übergeben. Streng
genommen müßte also der französische Nationalfeier-
tag am 14. Juli nicht den Sturm auf die Bastille, son-
dern die Übergabe der Bastille feiern. Aber derart un-
spektakuläre Taten taugen schlecht für nationale Fei-
ertage, und so wird es wohl auf ewig beim Sturm auf
die Bastille bleiben ...
Die offizielle Geschichtsbuchfassung der Ereignis-
se ist so: Am 14. Juli 1789 ziehen einige tausend Pa-
riser demonstrierend zur Bastille, jene berüchtigte
Zwingburg des Königs mitten in Paris, um gegen
einen befürchteten Staatsstreich ihres Königs Ludwig
und gegen die Entlassung des beliebten Finanzmini-
sters Necker zu protestieren; aus der Festung werden
sie mit Kanonen und Musketen unter Feuer genom-
men, deshalb erstürmen sie heldenmutig dieses ver-
haßte Symbol des Feudalismus, unter großen Op-
fern – in einschlägigen Berichten ist von hundert
Toten und ebensovielen Verwundeten die Rede – und
gegen den erbitterten Widerstand der Verteidiger; sie
befreien die in den Kerkern der Bastille schmachten-
den Gefangenen und läuten so das Ende des Despotis-
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LexPI Bd. 1 Bastille 40

mus und eine bessere Zukunft für die Menschheit ein.


In Wahrheit hat sich aber alles anders zugetragen.
Erstens war die Bastille keine finstere Zwingburg,
eher ein Luxusgefängnis für noble Scheckbetrüger
und andere zwielichtige Blaublüter wie den Marquis
de Sade, die dort ihre Diener und nicht selten sogar
freien Ausgang hatten. Die wenigen Gefangenen – am
14. Juli 1789 keine zehn Personen – lebten innerhalb
ihrer Mauern vermutlich besser als die meisten Pari-
ser außerhalb; es soll sogar vorgekommen sein, wenn
wir Gerhard Prause glauben dürfen, dem wir mit die-
ser Darstellung folgen, daß Häftlinge darum baten,
noch etwas länger bleiben zu dürfen. Die »Wach-
mannschaft« bestand aus ein paar Dutzend Invaliden.
Zweitens wollte der Pariser Mob, der sich am 14.
Juli 1789 gegen die Bastille wälzte, nicht für oder
gegen irgend etwas demonstrieren, geschweige denn
diese obsolete Halbruine mit Gewalt erstürmen; man
will ein paar Kanonen konfiszieren, die in einem
Schuppen neben der Bastille lagern. Jedoch hatte Ba-
stille-Kommandant de Launey diese Kanonen einen
Tag zuvor in die Bastille selber überführen lassen,
und so sendet man eine Delegation zu de Launey, um
zu erkunden, was dieser denn zu tun gedenke.
»Nichts,« sagt de Launey in etwa sinngemäß. Er
könne den Parisern zwar keine Waffen geben, werde
aber auch nicht auf sie schießen, wenn er nicht ange-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bastille 40

griffen würde. Diese Antwort übermitteln die Dele-


gierten in das Rathaus von Paris.
Währenddessen tun ihre vor der Bastille zurük-
kgebliebenen Genossen aber genau das: Sie fangen an
zu schießen. Ob aus Langeweile oder Übermut – sie
dringen in einen Vorhof der Bastille ein und schießen
auf die Invaliden der Besatzung. Die Invaliden schie-
ßen zurück, die Angreifer weichen, überrascht ob die-
ses Widerstandes, und da sie diese Schüsse als Bruch
der Abmachung betrachten, marschieren sie voller
Zorn zum Rathaus, die Stadtregierung zum Erstürmen
aufzufordern.
Diese versucht erst einmal zu verhandeln: Eine
neue Delegation wird losgeschickt, von der Bastille-
Besatzung auch freundlich aufgenommen, die über
diesen Ausweg mehr als glücklich ist: Man werde die
Festung übergeben, vorausgesetzt, die Deputierten
seien wirklich Abgesandte der Stadtregierung von
Paris.
Diese Frage bleibt aber ohne Antwort; aus bis
heute ungeklärten Gründen bleiben die Deputierten
im Vorhof der Bastille stehen und weichen dann sogar
zurück. Sie selber sagten später, man habe auf sie ge-
schossen, aber vermutlich hatten sie nur Angst ge-
habt. Denn die Schießerei ging erst nach ihrem Rük-
kzug los, als die zahlreichen Begleiter der Delegierten
weiter vordringen und sich nicht um die Warnungen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bastille 41

der Besatzung scheren. Die Besatzung warnt noch-


mals, die Menge dringt nochmals weiter vor, die Be-
satzung schießt, die Menge, minus einige Tote und
Verwundete, weicht zum zweiten Mal zurück, dabei
die Küchen, Ställe und Wagenschuppen außerhalb der
eigentlichen Festung plündernd.
Um diese Verwüstung aufzuhalten, gibt die Besat-
zung einen ersten und einzigen Schuß mit einer Kano-
ne auf die Marodeure ab.
Dafür wird sie nun selber mit Kanonen beschossen.
Denn inzwischen hat der Wäschereibesitzer Hulin
zwei vor dem Rathaus stationierte Garde-Kompanien
überredet, mit ihm vor die Bastille zu ziehen und
diese sturmreif zu schießen. Aber dazu kommt es
nicht – vorher hißt Kommandant de Launey die weiße
Fahne, zunächst als Signal seiner Verhandlungsbe-
reitschaft, dann aber, als Hulin ihm freien Abzug zu-
sichert, zum Zeichen der endgültigen Kapitulation.
Die Invaliden erklären sich bereit, die Bastille zu
übergeben – dieses Faktum ist historisch, daran ist
nicht zu rütteln. Die Tore werden geöffnet, die Besat-
zung versammelt sich ohne Waffen zur Übergabe auf
dem Hof, die Bastille ist kampflos aufgegeben.
Das war nachmittags gegen 5 Uhr. Bis dahin hatte
es kaum ein Dutzend Tote gegeben – für die damalige
Zeit ein eher ruhiger Nachmittag. Hulin und der Kom-
mandant der Gardekompanien, die als erste die Bastil-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bastille 41

le betreten, nehmen die Kapitulation entgegen, bzw.


wollen sie entgegennehmen, denn hinter ihnen dringt
ein auf Plündern und Lynchen versessener Mob in die
Bastille ein, von den regulären Gardekompanien nur
unzulänglich aufgehalten: de Launey und mehrere In-
validen werden umgebracht, und nachdem alles nicht
Niet-und Nagelfeste demoliert bzw. weggetragen ist,
zieht die Menge triumphierend durch Paris, de Lau-
neys Kopf auf einer Stange vorneweg.
So endete der 14. Juli 1789, kein Tag, auf den man
unbedingt besonders stolz sein müßte.
& Lit.: Friedrich Kircheisen: Die Bastille, Berlin
1927; Georges Pernoud und Sabine Flaissier
(Hrsg.): Die Französische Revolution in Augen-
zeugenberichten, Düsseldorf 1962; Gerhard
Prause: Niemand hat Kolumbus ausgelacht, Düs-
seldorf 1986 (besonders das Kapitel »Der Sturm
auf die Bastille fand nicht statt«).
¤ Eigentlich war alles anders ...

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LexPI Bd. 1 Bauchredner 42

Bauchredner
Ein Bauchredner redet mit dem Bauch
Ein Bauchredner redet eigentlich ganz normal. Durch
das Zusammenziehen der Gaumenbögen, das Zurük-
kziehen der Zunge und durch das Verengen des Kehl-
kopfeinganges kann er aber so die Resonanz der
Stimme mindern, daß der Mund sich nicht bewegt und
seine Stimme aus dem Bauch zu kommen scheint.
Solche Bauchredner gab es schon im alten Griechen-
land (Engastrimanten = Bauchwahrsager).
& Lit.: Stichwortartikel »Bauchreden« in Meyers
Großes Taschenlexikon, Mannheim 1992.

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LexPI Bd. 2 Bauhaus 29

Bauhaus
Das Bauhaus war eine international einflußreiche
Architektenschule
Die als »Bauhaus« bekannte »Schule für gestaltendes
Handwerk, Architektur und bildende Künste«, 1919
von Walter Gropius in Weimar gegründet, 1925 nach
Dessau umgezogen und 1933 aufgelöst, ist vor allem
eine Medienblase; die architektonischen und erst recht
die politischen Leistungen ihrer Hauptfiguren Gropi-
us und Mies van der Rohe gelten unter Fachleuten als
weniger bedeutend.
Nach Paul Betts ist die große öffentliche Anerken-
nung für die Bauhaus-Architekten in erster Linie ein
Produkt des Kalten Krieges: Es galt, die Deutschen
fest im Westen zu verankern, es mußte auf Teufel
komm raus ein Bindeglied zwischen Deutschland und
Amerika geschaffen werden. Und dafür schien das
Bauhaus gut geeignet: Seine Gründer waren vor den
Nazis nach Amerika geflohen und damit beiderseits
des Ozeans als Botschafter des guten Willens akzep-
tabel – eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, auf
den sich beide Seiten gern verständigten. Dafür war
man gern bereit, die zahlreichen Schwachstellen der
Bauhaus-Leute – ihre »unerträgliche Phraseologie«,
ihr »Versagen im Technischen« (Schwarz), die »of-
fensichtliche Hybris ihrer herausragenden Figuren«
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LexPI Bd. 2 Bauhaus 30

(Betts) – taktvoll schweigend zu erdulden.


Anders als die Politik und die Medien haben die in-
ternationalen Architekturexperten das Bauhaus und
die Bauhaus-Ideologie schon lange vor dem Ende des
Kalten Krieges als »niederdrückend«, »unmensch-
lich« und »kalt« (Betts) empfunden.
& Lit.: R. Schwarz: »Bilde Künstler, rede nicht«,
Baukunst und Werk, Januar 1953; Tom Wolfe:
From Bauhaus to our house, New York 1981; P.
Betts: »Die Bauhaus-Legende. Amerikanisch-
Deutsches Joint Venture des Kalten Krieges«, in:
A. Lüdtke u.a. (Hrsg.): Amerikanisierung: Traum
und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhun-
derts, Stuttgart 1996, S. 270–290.

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LexPI Bd. 2 Beamte 30

Beamte
Beamte müssen nichts für ihre Renten und Pensi-
onen zahlen
Deutsche Beamte genießen viele unverdiente Privile-
gien (warum z.B. müssen Hochschullehrer Beamte
und unkündbar sein?), aber die angeblich kostenlose
Alterssicherung gehört nicht dazu.
Diese Versorgung ist nämlich alles andere als ko-
stenlos. Das wird jeder Hochschullehrer merken,
wenn er oder sie einmal ein Angebot auf eine Profes-
sur im Ausland hat; dann muß er sich von seinem
Dienstherrn nämlich sagen lassen: »Was wollen Sie
denn, das Gehalt in X ist überhaupt nicht höher als
bei uns in Deutschland, inklusive unserer Beiträge zu
Ihrer Altersversorgung verdienen Sie hier genausoviel
wie da.« Mit anderen Worten, bei dem Verhandeln
von Gehältern wird ganz selbstverständlich der
Staatsbeitrag zur Altersversorgung als Teil des Ein-
kommens des Staatsdieners betrachtet.
Daß dann der Staat als der Arbeitgeber der Beam-
ten diese Gelder, statt sie wie andere Arbeitgeber an
die Rentenversicherung zu überweisen, erst einmal
anderweitig ausgibt, sollte man nicht den Beamten in
die Schuhe schieben.

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LexPI Bd. 2 Beitragsfreie Mitversicherung 31

Beitragsfreie Mitversicherung
Die beitragsfreie Mitversicherung ist ein Instru-
ment der Familienlastenausgleichs-Politik
Die deutschen Krankenversicherungen geben pro Jahr
mehr als 50 Milliarden Mark für Patienten aus, die
keinen Pfennig Beitrag zahlen: die Kinder, Frauen
oder Männer von zahlenden Mitgliedern, die selber
kein eigenes Einkommen haben und deshalb ohne
Beitrag mitversichert sind.
Viele Kritiker unseres Sozialsystems sehen dadurch
die Gesetzliche Krankenversicherung mißbraucht:
Wenn man schon kinderreichen Familien oder Ehen
mit nur einem Geldverdiener helfen wolle, dann bitte
doch direkt und ohne die Krankenversicherung vor
den Karren dieses durchaus ehrenwerten Zieles zu
spannen. Nach einem Vorschlag des Sachverständi-
genrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheits-
wesen z.B. sollten beitragsfrei mitversicherte Ehepart-
ner von »regulären« Mitgliedern künftig einen »Son-
derbeitrag« zahlen.
In Wahrheit hat die beitragsfreie Mitversicherung
von Familienangehörigen für sich allein genommen
mit Lastenausgleich nichts zu tun. Denn diese Men-
schen würden auch ohne diese familiäre Bindung kei-
nen Beitrag zahlen; der Status des Angehörigen eines
regulären Mitglieds ist für die Beitragspflichten eines
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Beitragsfreie Mitversicherung 31

Bundesbürgers ohne eigenes Einkommen völlig uner-


heblich: Bei Arbeitslosen zahlt die Bundesanstalt für
Arbeit, bei Sozialhilfeempfängern zahlt das Sozial-
amt, zumindest für Pflichtversicherte hat der Tatbe-
stand der Ehe mit einem regulären Krankenkassenmit-
glied keine Konsequenzen für die Beitragszahlung: so
oder so wird nichts gezahlt.
& Lit.: Friedrich Breyer: »›Beitragsfreie Mitversi-
cherung‹ und ›Familienlastenausgleich‹ in der
GKV: ein populärer Irrtum«, Konjunkturpolitik
43, 1997, S. 213–223.

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LexPI Bd. 1 Beleidigen 42

Beleidigen
Man darf seine Mitmenschen nicht ungestraft be-
leidigen
Doch, man darf. Die Frage ist nur wen und wie, und
ab und zu auch wo.
Teuer und strafbar ist auf jeden Fall das Beleidigen
von Amtspersonen. Rund 200 Mark kostet eine
»dienstgeile Politesse«, rund 2000 Mark eine »blöde
Sau«, sofern die »blöde Sau« beamtet ist. Auch gegen
Gerichtsvollzieher, Richter, Staatsanwälte oder den
Bundespräsidenten sollte man sich solche
Kraftausdrücke besser nicht erlauben.
Anders dagegen im nichtamtlichen Sprachverkehr –
hier führen Klagen selten zum Erfolg. Den meisten
Klägern geht es wie der Dame aus dem Hannoveraner
Kaffeekränzchen, die aufgrund einer »vertrockneten
Zimtziege« den Staatsanwalt bemühte. »Denn bei der
Staatsanwaltschaft war man der Meinung«, so lesen
wir in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, »daß
›vertrocknete Zimtziege‹, im privaten Kreis von sich
gegeben, keine öffentliches Interesse berühre und
nicht als Beleidigung im Sinne des Gesetzes angese-
hen werden könne.«
Wenn der Staatsanwalt ein Delikt nicht von Amts
wegen verfolgt, bleibt nur noch eine Privatklage, und
die kostet Geld. Außerdem landen die Kontrahenten,
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LexPI Bd. 1 Beleidigen 43

um einen kostspieligen Prozeß zu vermeiden, erst ein-


mal vor einer Sühnestelle (je nach Bundesland ein
Schiedsgericht, eine öffentliche Rechtsauskunftstelle
oder die Gemeindeverwaltung), und kommt es wirk-
lich zu einem Prozeß, endet dieser oft in einem Ver-
gleich, bei dem der Kläger selbst noch einen Teil der
Kosten zahlen muß.
& Lit.: Michael Scheele und Reinhard Wetter: Rat-
geber Recht, München 1990.

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LexPI Bd. 2 Bergisches Land 31

Bergisches Land
Das Bergische Land ist bergig
Das Bergische Land hat seinen Namen von den Gra-
fen von Berg (Stammsitz Düsseldorf, früher Burg an
der Wupper und Altenberg im Sauerland).

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LexPI Bd. 2 Bernhardiner 32

Bernhardiner
Bernhardiner bringen Alkohol zu verschütteten
Alpinisten
Die bekannten Szenen mit den Bernhardinerhunden
und den Branntweinfäßchen sind von Witzblattzeich-
nern frei erfunden. Wahr ist, daß Bernhardinerhunde
seit 1760 den Mönchen des Hospizes auf der Paßhöhe
des Großen St. Bernhard bei der Rettung verirrter
oder verschütteter Reisender halfen (einer von ihnen,
ein Bernhardiner namens Barry, der einmal ein halb
erfrorenes Kleinkind aus einer Schneewehe zerrte und
ins Hospiz transportierte und insgesamt mehr als 40
Menschen vor dem Erfrieren rettete, hat am Eingang
des Tierfriedhofs von Asnières bei Paris ein Denkmal
erhalten; sein ausgestopfter Körper kann im Naturhi-
storischen Museum von Bern bewundert werden).
Aber am Hals haben diese Rettungshunde allenfalls
ein Sanitätspäckchen und niemals eine Flasche
Schnaps getragen.
& Lit.:
http://www-nmbe.unibe.ch/abtwt/swiss-
dogs.html.
¤ Grosser St. Bernhard, Hospiz mit dem See, Bern-
hardiner.
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LexPI Bd. 2 Besiedelung Amerikas 32

Besiedelung Amerikas
Amerika wurde vor rund 12.000 Jahren von
Norden über die Beringstraße besiedelt
Diese lange allgemein geglaubte These gilt inzwi-
schen als erschüttert: Aufgrund von Höhlenfunden in
Chile und Brasilien verdichten sich Indizien, daß
schon viel früher Menschen nach Amerika gekommen
waren.
Vermutlich waren diese Reisen nicht geplant. So
wie noch heute immer wieder von Stürmen abgetrie-
bene afrikanische Fischer an den Küsten Südamerikas
gefunden werden, haben auf See versprengte Afrika-
ner und vielleicht auch Polynesier schon vor mehr als
20.000 Jahren in Amerika eine neue Heimat gefun-
den: Die über 12.000 Jahre alten Knochenfunde und
Höhlenmalereien im chilenischen Monte Verde oder
die fast genauso alten Werkzeuge und Waffen, die in
den letzten Jahren im brasilianischen Nationalpark
Serra da Capivara aufgefunden wurden, können un-
möglich von den Großwildjägern stammen, die zur
gleichen Zeit, aber mehrere Tausend Kilometer weiter
nördlich, aus Asien durch Alaska südwärts zogen.
& Lit.: »Der erste Amerikaner«, Focus 40/1997.

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LexPI Bd. 2 Bestseller 33

Bestseller
Bestseller kommen auf die Bestsellerliste
Nicht alle Bestseller kommen auf die Bestsellerliste.
Die Spiegel-Bestsellerliste z.B., die Mutter aller sol-
cher Bücherlisten, läßt längst nicht alle Bücher auf ihr
Treppchen. Der »Neue Duden« etwa, das meistver-
kaufte Sachbuch des Jahres 1996, war niemals in der
Spiegel-Liste aufzufinden.
Die Spiegel-Liste gründet sich auf eine Stichprobe
von 280 deutschen Sortiments-Buchhändlern (von
insgesamt über 1500 in der Bundesrepublik, die einen
Umsatz von mehr als einer halben Million DM pro
Jahr erzielen); diese melden jeden Donnerstag ihre 15
in der Woche bestverkauften Titel an die Zeitschrift
Buchreport: Der bestverkaufte Titel erhält 15 Punkte,
der zweitbeste 14 Punkte usw.; diese Punkte werden
aufaddiert, wer dann die meisten Punkte hat, ist auf
der Spiegel-Liste Nr. 1.
Diese Rechnung hat aber ein paar Haken. Z.B.
werden die Umsätze des größten deutschen Buch-
händlers überhaupt, nämlich des Kaufhauses Kar-
stadt, überhaupt nicht mitgezählt (Kaufhäuser und
Großmärkte bleiben in der Spiegel-Liste außen vor),
genauso wie Bücher, die über Buchklubs wie Bertels-
mann und Büchergilde Gutenberg vertrieben werden;
auch deren Verkaufszahlen fließen nicht in die Spie-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Bestseller 33

gel-Liste ein. Und nicht gezählt werden schließlich


alle Bücher, die nicht auf der Spiegel-Vorschlagsliste
stehen. Lexika und Lehrbücher z.B., aber auch Koch-
bücher oder die Bibel, kommen niemals auf die rund
75 Titel lange Spiegel-Vorschlagsliste, aus der die
Buchhändler dann ihre 15 Besten wählen dürfen. (Ein
Grenzfall ist das »Lexikon der populären Irrtümer«;
dem Vernehmen nach hatte der erste Band, der über
mehr als 70 Wochen die Spiegel-Sachbuchliste
schmückte, vor seinem Einzug in die Vorschlagsliste
einige Debatten auszuhalten ...)
& Lit.: »Von Woche zu Woche: Bestsellerliste«,
Buchreport 40/1988.

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LexPI Bd. 2 Bethlehem 34

Bethlehem
Jesus wurde in Bethlehem geboren
Jesus Christus wurde nach Meinung fast aller moder-
nen Bibelforscher in Nazareth geboren; die These der
Evangelisten Lukas und Johannes, Jesus sei in Beth-
lehem zur Welt gekommen, sei eher als Versuch zu
werten, die Geburt des Messias dorthin zu verlegen,
wo sie nach dem Willen des Alten Testamentes statt-
zufinden hatte: in die Stadt Davids, in die Stadt, wo
David geboren und zum König wurde: »Aber du,
Bethlehem-Ephratha, so klein unter den Gauen Judas,
aus dir wird hervorgehen, der über Israel herrschen
soll (...). Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der
Kraft des Herrn, im hohen Namen Jahwes, seines
Gottes.« (Micha 5,1–3).
Also schreibt Lukas: »So zog auch Josef von der
Stadt Nazareth in Galiläa hinauf nach Judäa in die
Stadt Davids, die Bethlehem heißt, denn er war aus
dem Haus und dem Geschlecht Davids. Er wollte sich
eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein
Kind erwartete.« Aber außer dieser einen einzigen Be-
gründung – »er war aus dem Haus und dem Ge-
schlecht Davids« – hat Lukas und haben andere frühe
Kirchenmänner keine weiteren Indizien für diese
Reise vorzuweisen, so daß man diese wie auch Ma-
rias Niederkunft in Bethlehem als Fiktion und als
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Bethlehem 34

Versuch bewerten sollte, das Alte und das Neue Te-


stament nachträglich besser aufeinander abzustim-
men.
& Lit.: Die Bibel – Einheitsübersetzung, Stuttgart
1980; Stichwort »Bethlehem (Jordan)« in der MS
Microsoft Enzyklopädie Encarta, 1994; Hans
Josef Miller: »Abschied von Bethlehem?«, Katho-
lisches Sonntagsblatt 50/1996, S. 20.

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LexPI Bd. 2 Beton 35

Beton
Erst seit der Neuzeit baut man mit Beton
Schon die Römer bauten mit Beton. Dieses aus Ze-
ment und Wasser und sogenannten Zuschlagstoffen
(Kies, Schotter, Split) hergestellte Kunstgestein, das
anders als normaler Mörtel auch unter Wasser abbin-
det, diente schon im alten Rom den Architekten:
Brückenpfeiler, Aquädukte, Hafenmauern, auch Ba-
dewannen wuchsen aus Beton, wobei auch schon die
Schalentechnik des 20. Jahrhunderts angewendet
wurde (im Keller der Kaiserthermen in Trier sieht
man noch heute die Abdrücke der Bretter).
»Es gibt eine Erdart, die von Natur wunderbare Er-
gebnisse hervorbringt«, schreibt der römische Militär-
techniker und Architekt Vitruv einige Jahre vor Chri-
sti Geburt. »Sie steht im Gebiet von Baiae und der
Städte, die rund um den Vesuv liegen. Mit Kalk und
Bruchstein gemischt, gibt sie nicht nur den übrigen
Bauwerken Festigkeit, sondern auch Dämme werden,
wenn sie damit im Meer gebaut werden, unter Wasser
fest ...«
Diese Vulkanerde von den Füßen des Vesuvs, mit
Kalk, Sand, Kiesel und Bruchgestein vermischt, ent-
spricht in allen wesentlichen Eigenschaften dem heu-
tigen Beton.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Beton 35

& Lit.: J. Zahn: Nichts Neues mehr seit Babylon,


Hamburg 1959; G. Prause: Tratschkes Lexikon
für Besserwisser, München 1986; Stichwort
»Beton« in der Brockhaus Enzyklopädie, Wiesba-
den 1990.

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LexPI Bd. 2 Bett 35

Bett
Jesus sagte: »Steh auf, nimm dein Bett und geh!«
Das Jesus-Wort zu einem Kranken am See Bethesda:
»Steh auf, nimm dein Bett und geh!« ist vermutlich
falsch übersetzt und muß richtig heißen: »Steh auf,
nimm deinen Stock und geh!«; das hebräische
»matte« für Stock wurde wohl mit »mitta« für Bett
verwechselt.
& Lit.: Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig über-
setzt?, Gütersloh 1989; Eckhard Henscheid, Ger-
hard Henschel und Brigitte Kronauer: Kulturge-
schichte der Mißverständnisse, Stuttgart 1997
(besonders der Abschnitt »Gott und die Bibel«).

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LexPI Bd. 1 Bevölkerungsexplosion 43

Bevölkerungsexplosion
Die Bevölkerungsexplosion ist nur durch freien
Zugang zu Verhütungsmitteln abzubremsen (s.a.
ð »Geburten«)
Es ist nicht wahr, wie viele heute glauben, daß man
nur den Menschen Pillen und Kondome geben müßte,
um das Gespenst der Übervölkerung zu bannen. Denn
die Menschen sind längst nicht so dumm und
ungeschickt, wie manche Demographen denken; sie
haben schon immer und lange vor der Pille Mittel und
Wege gefunden, die Zahl der Kinder ihren Wünschen
anzupassen.
Deshalb bremsen wir die Bevölkerungsexplosion
auch nicht mit UN-Bürokraten, die wie im Karneval
Pillen und Kondome werfend durch Entwicklungslän-
der ziehen; die beste Bremse ist eine andere Einstel-
lung in den Köpfen der Menschen, eine Abkehr von
der vor allem in der Dritten Welt noch sehr verbreite-
ten Vorstellung, daß ein sicheres und menschenwürdi-
ges Leben nur mit vielen Kindern möglich sei.
& Lit.: »Population misconceptions«, The Econo-
mist, 28.5.1994, S. 93–94.

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LexPI Bd. 2 Bibel 36

Bibel
In der Bibel sind verborgene Botschaften enthal-
ten (s.a. ð »Nostradamus«)
So behauptet Michael Drosnin in seinem Bestseller
»Der Bibel-Code«; demnach sind in der Bibel – ge-
nauer: in den fünf Büchern Mose – codierte Progno-
sen der Judenvernichtung, der Präsidentschaft Clin-
tons oder der Ermordung Itzhak Rabins sowie fast
aller anderen Großereignisse und Katastrophen des
20. Jahrhunderts aufzufinden: »Jedes große Ereignis
steht im Buch der Bücher« (Bild-Zeitung).
In Wahrheit kann man mit der Methode Drosnin in
jedem hinreichend langen Text jede beliebige Bot-
schaft finden – man muß nur geduldig suchen. Ob die
Bibel oder das Bürgerliche Gesetzbuch, ob das Nibe-
lungenlied oder ein Zufallstext auf einer Schreibma-
schine – ist der Text nur lang genug, findet man darin
jede Botschaft, die man will.
Dazu haben wir einmal unseren Computer ange-
wiesen, vierhundert Buchstaben zufällig und unab-
hängig voneinander auszudrucken, mit Wahrschein-
lichkeiten entsprechend den Häufigkeiten in der deut-
schen Sprache, und wie wir anhand des unten abge-
druckten Sprachsalates sehen, können wir in dem Er-
gebnis durchaus die eine oder andere Bedeutung wie-
derfinden, erst recht, wenn wir auch andere Sprachen
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LexPI Bd. 2 Bibel 36

als Deutsch erlauben:

Bestimmte Worte finden wir in solchen zufälligen


Buchstabenfolgen natürlich seltener – die Wahr-
scheinlichkeit, darin etwa den Namen Walter Krämer
zu finden, ist natürlich viel kleiner als die, irgendein
sinnvolles Wort oder irgendeine sinnvolle Wortkom-
bination zu finden; aber auch diese Wahrscheinlich-
keit ist größer als Null, und worauf es vor allem an-
kommt, sie wird mit zunehmender Länge des Zufall-
stextes immer größer.
Wenn wir etwa alle Buchstaben unabhängig von-
einander mit Wahrscheinlichkeit 1/26 wählen und »ä«
als »ae« schreiben, beträgt die Wahrscheinlichkeit,
daß eine zufällig ausgewählte Kette von 26 Zeichen
den Text »Walter Krämer« ergibt, genau (1/26)13
oder, in Worten ausgedrückt, fast Null (und in der Tat
beginnt ja auch der obige Test nicht mit WALTER
sondern mit EWASYC). Die Wahrscheinlichkeit
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LexPI Bd. 2 Bibel 37

aber, daß dieser Name in einem doppelt so langen


Zufallstext erscheint, ist schon größer, konkret: Sie ist
größer als
1 - (1 - (1/26)13)2,
wie man sich leicht klarmacht, wenn man zuerst über-
legt, mit welcher Wahrscheinlichkeit mein Name
nicht erscheint.
Ganz analog kann man sich überzeugen, daß die
Zeichenfolge »WALTER KRAEMER« in einem drei-
mal so langen Zufallstext mindestens mit Wahr-
scheinlichkeit
1 - ( - (1/24)13)3
und in einem zehnmal so langen Zufallstext minde-
stens mit Wahrscheinlichkeit
1 - (1 - (1/24)13)10
erscheint usw. Diese Ausdrücke werden aber immer
größer, sie nähern sich langsam, aber unaufhaltsam
einem Grenzwert Eins, d.h. in einem hinreichend lan-
gen Zufallstext wird irgendwo todsicher »Walter Krä-
mer« stehen! Aber warum mit »Walter Kraemer« auf-
hören? Nehmen wir einen längeren Text, etwa das
Vaterunser mit 290 Buchstaben. Die Wahrscheinlich-
keit, daß ein Zufallstext von 290 Buchstaben das Va-
terunser ist, beträgt
(1/24)290
also fast Null. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein dop-
pelt so langer Zufallstext das Vaterunser irgendwo als
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LexPI Bd. 2 Bibel 38

ungestörte Textsequenz enthält, ist aber schon größer


als
1 - (1 - (1/24)290)2
und die Wahrscheinlichkeit, daß ein zehnmal so lan-
ger Zufallstext das Vaterunser irgendwo enthält, ist
größer als
1 - (1 - (1/24)290)10
und auch dieser Ausdruck strebt gegen einen Grenz-
wert Eins! Auch die Wahrscheinlichkeit, daß in sehr
langen Zufallstexten das Vaterunser auftritt, wird be-
liebig groß!
Und das ist nun wirklich sehr verblüffend. Denn
was für das Vaterunser gilt, gilt auch für Schillers
»Lied von der Glocke« und für Goethes »Faust«, und
wir haben damit das durchaus beunruhigende Resul-
tat, daß ein unsterblicher Schimpanse, den wir an eine
Schreibmaschine setzen, todsicher irgendwann das
Neue Testament geschrieben haben wird.
& Lit.: Jonathan Swift: Ausgewählte Werke, Berlin
1967; Martin Gardner: Gotcha – Paradoxien für
den Homo Ludens, München 1985; D. Witzum et
al.: »Equidistant letter sequences in the book of
Genesis«, Statistical Science 9, 1994; Walter
Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus der Welt des
Zufalls und der Zahlen, Frankfurt a.M. 1995;
Michael Drosnin: Der Bibel-Code, München
1997; »Demnächst im Kino«, Der Spiegel
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Bibel 38

23/1997; Christoph Drösser: »Wer sucht, der fin-


det«, Die Zeit, 21.11.1997.

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LexPI Bd. 2 Biber 1 38

Biber 1
Biber fressen Fische
Biber sind reine Vegetarier, sie fressen weder Fleisch
noch Fisch. Ihre Hauptnahrung sind frische Baumrin-
den und weiches Holz, auch Wasserpflanzen sowie
Beeren oder Wurzeln (pro Jahr verbraucht ein er-
wachsener Biber davon rund vier Tonnen).
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 11, Stuttgart 1969.

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LexPI Bd. 2 Biber 2 39

Biber 2
Biber können planvoll Bäume fällen
Von Bibern angefressene Bäume fallen, wenn sie fal-
len, in alle Himmelsrichtungen, so wie es der Zufall
will. Daß sie, falls am Wasser stehend, meistens auch
ins Wasser fallen, liegt daran, daß am Wasser wach-
sende Bäume mehr Zweige zum Wasser hin entwik-
keln und deshalb in dieser Richtung schwerer sind.
Genauso wenig Anhaltspunkte gibt es für die
These, daß die Biber die Fallrichtung der Bäume so
bestimmen, daß deren Kronen nicht in Nachbarbäu-
men landen.
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 11, Stuttgart 1969.

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LexPI Bd. 2 Bienen 39

Bienen
Bienen sterben nach dem Stechen
Normalerweise nicht. Wenn Bienen stechen, dann ste-
chen sie in der Regel andere Insekten oder Tiere, die
wie Insekten einen Chitinpanzer besitzen, aus dem die
Biene ihren Stachel trotz des Widerhakens unverletzt
herauszieht. Nur in der Haut des Menschen bleibt der
Stachel stecken, und die beim Abreißen entstehende
Wunde ist für die Biene meistens tödlich.
& Lit.: Adolf Braun: Taschenbuch der Waldinsek-
ten, 4. Auflage, Stuttgart 1991.

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LexPI Bd. 2 Bier 1 39

Bier 1
Alkoholfreies Bier ist alkoholfrei
Alkoholfreies Bier ist nicht völlig alkoholfrei; es darf
bis zu 0,5% Alkohol enthalten; bei den meisten be-
kannten Marken liegt der Alkoholanteil zwischen
0,35% und 0,48%.

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LexPI Bd. 2 Bier 2 40

Bier 2
Bier auf Wein, das laß sein
Die Verträglichkeit von Alkohol hängt vor allem von
der Menge und der Reinheit ab (ein gegebenes Quan-
tum Alkohol hat die geringsten Nebenwirkungen,
wenn es als Klarer wie Wodka oder Doppelkorn ge-
nossen wird). Deshalb ist auch die Reihenfolge von
Wein und Bier für die Folgen des Genusses unerheb-
lich – es kommt allein auf Zeit und Mengen an; eine
Überdosis Wein und Bier am Abend erzeugt am
nächsten Morgen immer den gleichen Kater, ganz
gleich in welcher Reihenfolge wir zuviel von beidem
trinken.
Allenfalls wegen seines im Vergleich zu Wein ge-
ringeren Alkoholgehalts könnte es unter Umständen
von Nutzen sein, ein Besäufnis mit Bier zu beginnen:
Dadurch trifft der höherprozentige Wein auf einen
schon etwas trainierten Magen, und der Weinalkohol
kommt weniger schnell ins Blut, als wenn wir gleich
mit Wein begonnen hätten. Aber dieser Effekt berührt
den Kater hinterher nur ganz am Rand. Vermutlich ist
obiger Rat aus der Sitte entstanden, vor dem Essen,
als Aperitif oder gegen den Durst, noch schnell ein
Bier zu trinken, danach erst wird die gute Flasche
Wein geöffnet. Aber in manchen Ländern trinkt man
Bier auch nach dem Essen, und hier empfiehlt der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Bier 2 40

Volksmund genau das Gegenteil: »Beer after wine


and you feel fine, wine after beer and you feel queer«
(England).
Genauso ohne wissenschaftliche Grundlage ist
auch der Ratschlag der Franzosen, bei Rot- und
Weißwein eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten:
»Blanc sur rouge, rien ne bouge – rouge sur blanc,
tout fout le camp.«
& Lit.: H. van Maanen, J.J.E. van Everdingen und
H.E. Fokke: Le cœur se situe à gauche – mille et
une idées reçues en matière de médecine, Amster-
dam 1995; Christoph Drösser: »Stimmt's?«, Die
Zeit, 7.11.1997.

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LexPI Bd. 1 Big Ben 43

Big Ben
Dieses Wahrzeichen der englischen Hauptstadt Lon-
don ist weder der Turm noch die Uhr in diesem
Turm – es ist die Glocke. Sie wiegt dreizehn Tonnen
und hat ihren Namen von Sir Benjamin Hall, dem
Verantwortlichen für öffentliche Bauten zu der Zeit
ihrer Entstehung.

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LexPI Bd. 1 Bio-Nahrung 44

Bio-Nahrung
Bio-Nahrungsmittel sind gesünder als normale
Kost (s.a. ð »Du bist, was du ißt« und ð
»Fremdstoffe«)
Nach verbreiteter Meinung sind biologisch-natürlich
angebaute, hergestellte und gelagerte Nahrungsmittel
gleich zweifach besser als »normale« Kost: Erstens
enthalten sie mehr von den Dingen, die wir brauchen,
wie Vitamine oder Nährstoffe, und zweitens enthalten
sie weniger von den Dingen, die wir nicht brauchen,
wie Rückstände und Gifte aller Art.
Diese Thesen sind nach wissenschaftlicher Mehr-
heitsmeinung beide falsch. »Der Lebensmittelchemi-
ker ist bisher nicht in der Lage, Ökomehl von her-
kömmlichem und einen Bioblumenkohl von einem
vergleichbaren aus dem Supermarkt zu unterschei-
den« (Stiftung Warentest); »Die Empfehlung, vorwie-
gend Lebensmittel aus ›alternativem‹ Anbau zu be-
vorzugen, ist abzulehnen, weil Lebensmittel aus ›al-
ternativem‹ Anbau keine nachweisbaren Vorteile hin-
sichtlich des Nährstoffgehalts aufweisen« (Deutsche
Gesellschaft für Ernährung); »Die Unterschiede zwi-
schen konventionellen und alternativen Nahrungsmit-
teln sind, wenn überhaupt vorhanden, so gering, daß
es sich nicht lohnt, ihnen noch weitere Forschungen
zu widmen« (Prof. J.F. Diehl von der Bundesfor-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bio-Nahrung 44

schungsanstalt für Ernährung in Karlsruhe).


Nach W. Schuphan, ehemaliger Direktor der Bun-
desanstalt für Qualitätsforschung pflanzlicher Erzeug-
nisse in Geisenheim und viel zitierter Kronzeuge des
alternativen Landbaus (wenn es dessen Anhängern in
den Kram paßt), sind Qualitätsvergleiche zwischen
herkömmlichem und alternativem Anbau sinnlos, weil
ganz andere Faktoren den Nährwert des Produkts be-
stimmen: die Sorte, der Standort, ja sogar der Ast des
Baumes, an dem die Frucht gewachsen ist. Je nach der
Bestrahlung durch die Sonne und je nachdem, wie oft
ein Apfel naß geworden ist, ob häufig oder selten, bil-
den sich die Vitamine einmal so und einmal anders,
und gegen diese natürlichen Schwankungen sind die
durch unterschiedliche Düngung bewirkten Unter-
schiede minimal.
Aber auch die zweite These, »natürlich« produzier-
te Lebensmittel wären allein schon deshalb freier von
Schadstoffen als »unnatürlich« produzierte, ist so si-
cher falsch. Denn Schadstoffe und Gifte kommen auch
natürlich vor, und das nicht zu knapp. (Wer sich
gerne einmal gründlich selbst mit Blausäure vergiften
will, muß nur genug »natürliche« Mandeln oder die
Samen anderer Steinfrüchte essen.)
Viele künstliche Konservierungsmittel und -metho-
den sind nur dazu da, schädliche Bakterien und natür-
liche Gifte, die in vielen Pflanzen ganz ohne das
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bio-Nahrung 45

Zutun des Menschen von selber vorkommen, von un-


serem Körper fernzuhalten. Anders als das von den
Freunden der Vollwertnahrung so geliebte kaltgepreß-
te enthält z.B. raffiniertes Olivenöl keine krebserzeu-
genden Lösungsmittel wie etwa Perchlorethylen.
(Ganz allgemein werden durch das Raffinieren von
Speiseölen, besonders durch die Behandlung mit sog.
»Bleicherde«, viele Gifte wie die sogenannten Myoto-
xine fast völlig eliminiert, während sie in kaltgepreß-
ten Ölen mehrheitlich erhalten bleiben.) Durch das oft
als unnatürlich gebrandmarkte Erhitzen oder Kochen
von Nahrungsmitteln werden Tuberkelbazillen oder
Pflanzengifte ausgeschaltet oder nützliche Stoffe wie
bestimmte Vitamine überhaupt erst freigesetzt.
Rohmilch von Bio-Bauernhöfen dagegen ist ein
idealer Brutplatz für Bakterien, welche die Infektions-
krankheit Listerose übertragen, vorzugsweise auf
Kinder von Müttern, die versuchen, während der
Schwangerschaft besonders gesund zu leben. Die
Säuglinge »litten unter starken Atembeschwerden.
Die Lungen waren sehr angegriffen, das Fruchtwasser
der Mutter merkwürdig grün«, berichten Ärzte eines
schleswig-holsteinischen Krankenhauses über eine lo-
kale, durch die Biokost der Eltern ausgelöste Listero-
se-Epidemie. Rund die Hälfte aller mit Listerose ge-
borenen Säuglinge sterben, bei den übrigen muß man
mit Spätfolgen, wie etwa Hirnschäden, rechnen. In der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bio-Nahrung 45

Schweiz war deshalb der Direktverkauf von Milch


sogar verboten.
& Lit.: Werner Thumshirn: Keine Angst vor dem
Essen, Düsseldorf 1984; Arnold E. Bender:
Health or hoax? The truth about health food and
diets, Goring-on-Thames 1985; Karlheinz Gier-
schner und A. Kohler (Hrsg.): Lebensmittel – Ge-
sunde Ernährung, Weikersheim 1990; Stiftung
Warentest: Test Spezial Ernährung, 1993; »Ärzte
warnen vor Rohmilch«, Hannoversche Allgemei-
ne Zeitung, 6.6.1995.

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LexPI Bd. 2 Biorhythmus 40

Biorhythmus
Die Menschen unterliegen einem Biorhythmus
Diese These geht auf Wilhelm Fliess zurück, einen
Freund von Sigmund Freud, der mit unserer Geburt
drei jeweils 23 Tage, 28 Tage und 33 Tage lange Zy-
klen starten sah, die, sich wellenförmig überlagernd,
unser Schicksal mitbestimmen. So die Theorie von
Fliess. Insbesondere solle man sich vor Nulldurch-
gängen dieser Zyklen hüten, den sogenannten »kriti-
schen« Stunden oder Tagen, an denen eine dieser
Wellen aus den positiven in die negativen Werte
wechselt. Hier sei die Lebenstüchtigkeit gefährdet,
das Risiko von Unfällen und Mißgeschicken aller Art
nähme, nach Fliess, zu diesen Zeiten zu.
Diese noch heute kommerziell verwertete Theorie
ist aber wissenschaftlich nicht zu halten; in mehreren
Untersuchungen zu Biorhythmus und sportlicher Lei-
stung, zu Biorhythmus und Verkehrsunfällen oder zu
Biorhythmus und dem Sensenmann konnten keine Re-
gelmäßigkeiten aufgefunden werden. Das Schaubild
auf S. 41 (mit freundlicher Genehmigung entnommen
aus Riedwyl und Widmer, 1976) zeigt z.B. sämtliche
10.480 amtlichen Selbstmordfälle in der Schweiz von
1961 bis 1970, auf die Tage des Biorhythmus der
Selbstmörder aufgeteilt: Keiner dieser Tage, ob kri-
tisch oder nicht, fällt in irgendeiner Weise aus der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Biorhythmus 42

Reihe.
& Lit.: W. Dällenbach: »Zur Frage von Biorhyth-
men und deren technische Anwendung«, Schwei-
zerisches Archiv für angewandte Wissenschaft
und Technik 1948; W. Fliess: Der Ablauf des Le-
bens, Leipzig 1906; M. Gardner: »Freud's friend
Wilhelm Fliess and his theory of male and female
life cycles«, Scientific American 1967; L. Pircher:
»Biorhythmik und Unfallprophylaxe«, Zeitschrift
für Präventivmedizin 1972; H. Riedwyl und A.
Widmer: »Zur ›Lehre von den Biorhythmen‹ nach
Fliess«, Sozial- und Präventivmedizin 1976; G.
Schönholzer et al.: »Biorhythmik«, Zeitschrift für
Sportmedizin 1972; Stichwort angeregt von Hans
Riedwyl.
¤ 10.480 Selbstmorde in der Schweiz, auf die Tage
der Biorhythmen aufgeteilt

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LexPI Bd. 1 Bisam 45

Bisam
Die Bisamratte ist eine Ratte
Die aus Nordamerika stammende und dort wegen
ihres Pelzes intensiv gejagte Bisamratte ist eine soge-
nannte Wühlmaus (Microtina), keine Ratte (Rattus).
Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Böhmen ausge-
setzt, gibt es sie heute auch häufig in Europa.
& Lit.: Stichwortartikel »Bisamratte« in Meyers
Großes Taschenlexikon, Mannheim 1992.

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LexPI Bd. 2 Blaue Mauritius 42

Blaue Mauritius
Die »Blaue Mauritius« ist die teuerste, seltenste
und älteste Briefmarke der Welt
Die »Blaue Mauritius« ist weder die teuerste noch die
älteste, noch die seltenste Briefmarke der Welt. Die
älteste Briefmarke der Welt ist ein von der Pariser
Stadtpost 1653 herausgegebener Papierstreifen (»Bil-
let de poste payé«), der allerdings nicht aufgeklebt,
sondern mit Klammer oder Faden am Brief befestigt
wurde. Die älteste aufklebbare Briefmarke ist der
»Penny Black« aus England von 1840. Die teuerste
Briefmarke der Welt, gemessen an Auktionserlösen,
ist die 1852 von der AJ Dallas Co. im amerikanischen
Pittsburgh herausgegebene »Lady McGill, 2 Cent
Rot-Braun«; sie wechselte 1987 für 1,1 Millionen
Dollar den Besitzer. Die seltenste Briefmarke ist die
schwedische »3 Skilling Banco, Gelbe Fehlfarbe« von
1853, sie existiert nur noch in einem Exemplar.
& Lit.: Stichwörter »Mauritius« und »Postwertzei-
chen« in der Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden
1990; Das Neue Guinness Buch der Rekorde,
Berlin 1995.
¤ Two Pence Mauritius

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LexPI Bd. 2 Blauer Engel 43

Blauer Engel
Marlene Dietrich war der Blaue Engel
Der »Blaue Engel« in dem gleichnamigen Film von
Josef von Sternberg ist der Nachtklub, in dem Lola
Fröhlich alias Marlene Dietrich singt und tanzt.
¤ Sie ist nicht der Blaue Engel

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LexPI Bd. 2 Blei 44

Blei
Blei ist das schwerste Metall
Blei wiegt 11,34 g pro Kubikzentimeter; damit nimmt
es unter allen Metallen den Rang 24 ein. Die folgen-
den Metalle sind alle schwerer als Blei:
Gewicht (g/cm3)
Technetium 11,49
Thorium 11,72
Thallium 11,85
Palladium 12,02
Rhodium 12,41
Ruthenium 12,45
Berkelium 13,25
Hafnium 13,31
Curium 13,51
Quecksilber 13,55
Americium 13,70
Californium 14,11
Protactinium 15,37
Tantal 16,68
Uran 18,97
Wolfram 19,26
Gold 19,32
Plutonium 19,74
Neptunium 20,48
Rhenium 21,03
Osmium 22,61
Iridium 22,65
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LexPI Bd. 2 Blei 44

& Lit.: Barbara Elvers (Hrsg.): Ullman's encyclope-


dia of industrial chemistry, Weinheim 1992.

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LexPI Bd. 2 Bleifreies Benzin 44

Bleifreies Benzin
Bleifreies Benzin ist bleifrei
Nach DIN EN 228 darf bleifreies Benzin pro Liter bis
zu 0,013 g Blei enthalten.

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LexPI Bd. 1 Bleistift 46

Bleistift
Bleistifte enthalten Blei
Anders als der Name vermuten läßt, enthalten Blei-
stifte keine Spur von Blei, und haben niemals Blei
enthalten.
Der Name »Bleistift« geht vermutlich auf die run-
den Scheibchen Blei zurück, die man im Mittelalter
und in der Antike zum Zeichnen benutzte. So be-
schreibt etwa der Schweizer Conrad Gesner 1565 ein
Schreibwerkzeug, das aus einem Stück Blei in einer
Holzhülle bestand. Oder aber der »Bleistift« hat sei-
nen Namen von den im 12. Jahrhundert gerne von
Künstlern verwendeten Silberstiften, die aus einer Le-
gierung von Blei und Zinn bestanden.
Die »Bleistifte«, so wie sie etwa ab dem 17. Jahr-
hundert in Nürnberg von Friedrich Städler hergestellt
wurden (der deshalb mit der Schreinerzunft in
Schwierigkeiten kam, die das Monopol für Holzverar-
beitung beanspruchte), enthielten aber niemals Blei,
sondern von Anfang an Graphit, rund 100 Jahre frü-
her im englischen Cumberland entdeckt und schon
bald als Schreibstift in ganz Europa sehr beliebt. Im
18. Jahrhundert gelang es Caspar Faber aus Stein bei
Nürnberg, das gemahlene Graphit mit Schwefel, Anti-
mon und Harzen derart zu vermischen, daß die Stifte
weder bröckelten noch brachen, und im Jahr 1795 er-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bleistift 46

hielt der französische Mechaniker Conté ein Patent


auf einen Stift aus Graphit und Ton. Nach diesen
Prinzipien entstehen »Bleistifte« auch heute noch.
& Lit.: Roland Michel: Wie, was, warum? Augsburg
1990.

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LexPI Bd. 2 Blinddarm 45

Blinddarm
Eine Blinddarmoperation entfernt den Blind-
darm
Bei einer Blinddarmoperation wird nur der sogenann-
te Wurmfortsatz (Appendix) entfernt, nicht das als
Blinddarm bekannte blinde Ende des Dickdarms
selbst (Intestum Caecum).
& Lit.: H.-J. Lewitzka-Reitner: Großes Gesundheits-
lexikon, Niedernhausen 1987.
¤ Blinddarm und Appendix

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LexPI Bd. 2 Blinde 45

Blinde
Blinde Menschen hören besser
Blinde Menschen hören nicht besser und nicht
schlechter als andere Menschen auch, das Spektrum
der wahrgenommenen Lautstärken und Frequenzen ist
das gleiche wie bei Menschen, die noch ihr Augen-
licht besitzen. Wenn man trotzdem so oft Blinde etwa
unter Klavierstimmern findet, so liegt das einmal
daran, daß Blinde ihren Hörsinn besser üben, vor
allem aber daran, daß man für diesen Beruf das Au-
genlicht nicht braucht – die Saiten lassen sich ertasten
(aus dem gleichen Grund findet man auch viele Blin-
de in Telefonzentralen, da kann man ebenfalls den Ar-
beitsplatz ertasten).

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LexPI Bd. 1 Blindschleiche 1 46

Blindschleiche 1
Blindschleichen sind Schlangen
Blindschleichen sind Eidechsen mit verkümmerten
Füßen, keine Schlangen.

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LexPI Bd. 1 Blindschleiche 2 46

Blindschleiche 2
Blindschleichen sind blind
Eine Blindschleiche ist genausowenig blind wie die
anderen Eidechsen, zu deren Familie der Anguiden sie
gehört. Ihren Namen hat sie von dem althochdeut-
schen »plintslicke« = »blendende Schleiche«; so
nannten sie unsere Vorfahren wegen ihres oft blen-
dend hellen Körpers.

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LexPI Bd. 1 Blitz 1 47

Blitz 1
Der Blitz schlägt nirgends zweimal ein
Dieser verbreitete Irrglaube entspringt der gleichen
Logik, wegen der ein Mathematiker in Frankfurt ein-
mal seinen Führerschein verlor: »Verrechnet hatte
sich in der Nacht zum Donnerstag ein 44jähriger Sy-
stemanalytiker und Mathematiker, der von Beamten
einer Polizeistreife gebeten worden war, wegen star-
ken Alkoholgenusses sein Fahrzeug stehen zu la-
ssen«, lesen wir in einer deutschen Tageszeitung. Der
Wissenschaftler versicherte, er würde sich von seiner
Frau abholen lassen, schloß sein Auto ab und ging.
Als aber die Beamten kurz darauf an der gleichen
Stelle vorbeikamen, sahen sie ihren Freund am Steuer
seines Autos davonfahren. »Mit einer solchen Kon-
trolle hatte ich nicht gerechnet«, entschuldigte sich
der Delinquent. »Vorhin wurde ich zum allerersten
mal überhaupt kontrolliert, und nach der Wahrschein-
lichkeitsrechnung findet die nächste Kontrolle erst in
hundert Jahren statt ...«
In Wahrheit ist die sog. bedingte Wahrscheinlich-
keit, in der nächsten Stunde kontrolliert zu werden,
genau die gleiche wie die »normale« Wahrscheinlich-
keit: die Wahrscheinlichkeit für zwei Kontrollen in
einer einzigen Nacht ist zwar sehr klein, aber wenn
man schon einmal angehalten worden ist, steigt sie
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Blitz 1 47

ganz gewaltig an; sie ist jetzt so groß wie die Wahr-
scheinlichkeit für nur eine einzige Kontrolle.
Daher hat es auch keine Zweck, beim Fliegen eine
Bombe mitzunehmen: »Was haben Sie mit der
Bombe vor?« fragt streng die Polizei. »Ich dachte nur,
zwei Bomben in einem Flieger sind doch extrem un-
wahrscheinlich«, entgegnet der bekannte Witzbold,
»und deshalb habe ich schon mal eine mitgebracht ...«
Genauso ist auch die Wahrscheinlichkeit für zwei
Blitze am gleichen Ort zwar klein, aber die bedingte
Wahrscheinlichkeit eines weiteren Einschlages gege-
ben, der Blitz hat schon einmal eingeschlagen, ist die
gleiche wie die unbedingte, normale Wahrscheinlich-
keit. (Das Empire-State Building in New York wurde
in den ersten 10 Jahren seiner Existenz 68 mal vom
Blitz getroffen.) Wer also bei Gewitter unter einen ge-
rade vom Blitz getroffenen Baum flüchtet, wird nur
unnütz naß – die Wahrscheinlichkeit, daß der Blitz
dort nochmals einschlägt, ist die gleiche wie den
Baum zu treffen, unter dem man gerade steht.
& Lit.: Stichwort »Lightning« in Microsoft CD-
ROM Encyclopädie Encarta, 1994; W. Krämer:
Denkste! Trugschlüsse aus der Welt des Zufalls
und der Zahlen, Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 1 Blitz 2 48

Blitz 2
»Vor Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du
suchen«
Dieser Rat ist Unsinn. Die Wahrscheinlichkeit für
einen Blitzeinschlag hängt vor allem von der Höhe,
nicht von der Art des Baumes ab. Unter einer tiefen
Eiche ist man unter sonst gleichen Umständen sicher-
er als unter einer hohen Buche.
Daß Eichen dennoch als gefährlicher gelten, liegt
an ihrer zerklüfteten und durch Blitze immer augen-
fällig demolierten Rinde. An der glatten Rinde einer
Buche dagegen gleiten die Blitze ohne großen Scha-
den einfach ab. Aber für einen Menschen, der dane-
ben steht, ist die Gefahr deshalb kein bißchen kleiner.
& Lit.: W.R. Newcott: »Lightning, nature's high-
voltage spectacle«, National Geographic 7/1993,
83–103.

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LexPI Bd. 1 Blitz 3 48

Blitz 3
Zu jedem Blitz gehört ein Donner
Nicht immer, wenn es blitzt, muß es auch donnern;
rund 40% aller Blitze gehen lautlos über die Welten-
bühne.
& Lit.: Stichwort »Lightning« in Microsoft CD-
ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Blitz 4 48

Blitz 4
Blitze schlagen vom Himmel auf die Erde
Nicht alle Blitze schlagen aus den Wolken auf die
Erde; manchmal schlägt die Erde auch zurück. Rund
ein Zehntel aller Blitze gehen von der Erde aus, be-
sonders von Wolkenkratzern oder Fernsehtürmen.
& Lit.: Stichwort »Lightning« in Microsoft CD-
ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Blitz 1 45

Blitz 1
Der Blitz schlägt immer in die höchsten Stellen
Stimmt nur bedingt. Richtig ist: der Blitz sucht sich
gern den höchstgelegenen Kontaktpunkt aus – aber
nur in einer räumlich eng begrenzten Fläche. Wer also
auf einem von hohen Bäumen umsäumten freien Feld
von einem Gewitter überrascht wird, darf nicht darauf
vertrauen, daß der Blitz die Bäume wählt; der Blitz
kann ebensogut im freien Feld einschlagen, ohne
einen Baum zu treffen.
& Lit.: G.E. Schwartz: Teaching introductory phy-
sics, New York 1997; »Common myths and truths
about lightning«, über die Internet-Adresse
wvit.wvnet.edu/~djrobi/myths.html.

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LexPI Bd. 2 Blitz 2 46

Blitz 2
Der Blitz schlägt nur in elektrisch gut leitende
Gegenstände
Stimmt gleichfalls nur bedingt. Wenn zwei gleich
hohe Telefonmasten sehr dicht beieinander stehen, der
eine aus Holz, der andere aus Aluminium, schlägt der
Blitz in den Mast aus Aluminium. Aber wenn die Ma-
sten weiter als zehn Meter auseinanderstehen, ist jeder
gleich vom Blitz gefährdet.
& Lit.: »Common myths and truths about light-
ning«, über die Internet-Adresse wvit.wvnet.edu/
~djrobi/myths.html.

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LexPI Bd. 1 Blitzkrieg 1 48

Blitzkrieg 1
Der Begriff »Blitzkrieg« ist eine Wortschöpfung
Adolf Hitlers
»Ich habe noch nie das Wort Blitzkrieg verwendet,
weil es ein ganz blödsinniges Wort ist«, sagte Hitler
am 8. November 1941. Damals war die deutsche
Rußlandoffensive gerade vor Moskau
steckengeblieben, und offensichtlich waren Hitler die
Vergleiche mit den leichten Siegen gegen Polen und
Frankreich peinlich.
& Lit.: Max Domarus: Hitler: Reden und Proklama-
tionen 1932–1945, Würzburg 1962.

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LexPI Bd. 1 Blitzkrieg 2 49

Blitzkrieg 2
Der Begriff »Blitzkrieg« wurde nach den Feldzü-
gen der deutschen Wehrmacht in Polen und
Frankreich eingeführt
»This was not a war of occupation, but a war of quick
penetration and obliteration – Blitzkrieg, lightning
war«, schreibt das Time-Magazine nach dem Polen-
Feldzug am 25. September 1939.
Anders als viele glauben, ist das aber nicht die
erste Belegstelle für »Blitzkrieg«, die es gibt. Schon
1935 z.B. ist in der Militärzeitschrift »Deutsche
Wehr« von Blitzkriegen die Rede. Danach sollen roh-
stoffarme Länder danach streben, »einen Krieg
schlagartig zu beenden, indem sie gleich zu Anfang
durch den rücksichtslosen Einsatz ihrer totalen
Kampfkraft versuchen, eine Entscheidung zu erzwin-
gen.«
& Lit.: Fritz Sternberg: Germany and a lightning
war, London 1938.

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LexPI Bd. 1 Blitzkrieg 3 49

Blitzkrieg 3
Der Frankreichfeldzug der deutschen Wehr-
macht 1940 war als Blitzkrieg vorbereitet und ge-
plant
Anders als die deutsche Heeresleitung später glauben
machen wollte, war sie selbst vom schnellen Ende des
Frankreichfeldzugs 1940 am meisten überrascht. Als
die deutschen Truppen im Mai 1940 ihre Offensive
starteten, waren Hitler und seine Generäle, die alle
noch das vierjährige Massenschlachten in den Schüt-
zengräben des I. Weltkriegs in Erinnerung hatten, auf
eine lange, zähe Auseinandersetzung eingestellt; an
ein frühes Ende dieses Feldzugs glaubte niemand.
Daß es dann doch anders kam, lag an der Dumm-
heit der Franzosen, dem unbeschreiblichen Glück der
Deutschen und an der Insubordination verschiedener
deutscher Truppenführer, die die Haltebefehle ihrer
Vorgesetzten einfach ignorierten. Als die deutschen
Panzer bei Sedan durchgebrochen waren, rief Hitler:
»Es ist ein Wunder, ein ausgesprochenes Wunder«,
und auch den nachfolgenden sogenannten »Sichel-
schnitt« zur Kanalküste versuchte er aus Angst vor
einer Falle zu bremsen wo er konnte (und hat ja auch
die Engländer bei Dünkirchen entweichen lassen).
Erst nach dem Feldzug machte dann die Nazi-Pro-
paganda daraus die genial geplante Superoffensive,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Blitzkrieg 3 50

als die sie noch heute in den Köpfen vieler Menschen


weiterlebt.
& Lit.: Karl-Heinz Frieser: Die Blitzkrieg Legende:
Der Westfeldzug 1940, München 1995.

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LexPI Bd. 2 Blumen 1 46

Blumen 1
Frauen lassen sich gerne Blumen schenken
Nur 15% aller Frauen freuen sich über Blumen (falls
der Schenkende ihr Partner ist). Weit beliebter, wenn
wir einer Umfrage der Fernsehwoche glauben dürfen,
sind Liebesgedichte, romantische Abendessen oder
ein spontanes Wochenende zu zweit ...
& Lit.: »7 Irrtümer über Blumen«, Fernsehwoche
38/1997; Stichwort angeregt von Judith Sievers.

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LexPI Bd. 2 Blumen 2 46

Blumen 2
In Krankenhäusern nimmt man Blumen nachts
zum Schutz der Kranken aus den Zimmern
Weil sie der Luft den Sauerstoff entzögen oder weil
sie der Hygiene schadeten, um nur zwei der bekannte-
sten einschlägigen Mythen zu nennen.
In Wahrheit gibt es kaum medizinische Gründe
gegen Blumen auch in Krankenzimmern. Es trifft
zwar zu, daß Blumen Sauerstoff verbrauchen. Wie
alle Lebewesen müssen sie Energie erzeugen, das tun
sie wie andere Pflanzen auch durch Umwandeln von
Traubenzucker in Kohlendioxid und Wasser; dabei
verbrauchen sie auch Sauerstoff. Aber dieser Sauer-
stoffverbrauch ist viel zu gering, um kranke Men-
schen zu gefährden – selbst hundert Zimmerpflanzen
verbrauchen weniger Sauerstoff als der Patient im
Nachbarbett. Wahr ist auch, daß Topfpflanzen Unge-
ziefer anlocken könnten, so daß man sie in vielen Kli-
niken verbietet. Aber der alte Brauch, auch Schnitt-
blumen nachts in Krankenhäusern auf den Flur zu
stellen, kann allenfalls den Blumen nützen: Nachts ist
es auf den Fluren kälter als im Zimmer, und die Blu-
men halten länger.
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's?«, Die Zeit,
24.10.1997 (siehe auch die Richtigstellung am
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Blumen 2 47

7.11.1997).

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LexPI Bd. 1 Blut 50

Blut
Es ist nützlich, seine Blutgruppe zu kennen
Wenn ein Arzt die Blutgruppe eines Patienten wissen
muß, bestimmt er diese selbst (bzw. läßt sie von
einem Labor bestimmen); kein Arzt würde sich hier
auf die Auskunft des Patienten verlassen. Deshalb
lohnt es sich auch nicht, viel Mühe auf das Auswen-
diglernen seiner Blutgruppe zu verwenden; die
Schreiber dieser Zeilen haben die ihre längst verges-
sen.

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LexPI Bd. 2 Blut. 47

Blut
Blut ist rot
Wenn unser Blut durch die Venen zurück zum Herzen
fließt, ist es purpurfarben, fast blau. Tritt es allerdings
durch eine verletzte Vene aus, so wird es durch den
Kontakt mit Sauerstoff sofort wieder rot. Bei anderen
Spezies ist das Blut auch grün (Borstenwurm), weiß
(Heuschrecke) oder wie bei einigen Seeigelarten auch
orange.

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LexPI Bd. 1 Blut und Eisen 50

Blut und Eisen


Die Redensart von »Blut und Eisen« ist keine Erfin-
dung Bismarcks, wie gemeinhin angenommen. Sie
findet sich schon in den »Declamationes« des Römers
Quintilian (»caedes videtur significare sanguinem et
ferrum«), in den Gedichten »Lehre an den Menschen«
von Ernst Moritz Arndt (»Zwar der Tapfere nennt
sich Herr der Länder/durch sein Eisen, durch sein
Blut«) oder in »Das Eiserne Kreuz« von Max v.
Schenkendorf (»Denn nur Eisen kann uns retten, und
erlösen kann nur Blut«), auch in dem Aufsatz »Über
Deutschland und die europäische Kriegsfrage 1840«
von Erhard Schneckenburger.
Als daher Bismarck im preußischen Abgeordneten-
haus 1862 sagte: »Nicht durch Reden und Majoritäts-
beschlüsse werden die großen Fragen der Zeit ent-
schieden ... sondern durch Eisen und Blut«, war diese
Wendung schon recht abgegriffen.
& Lit.: Georg Büchmann: Geflügelte Worte, Ausga-
be Ex Libris, 6. Auflage, Frankfurt 1991.

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LexPI Bd. 2 Blutdruck 47

Blutdruck
Überhöhter Blutdruck entsteht u.a. auch durch
Salz im Essen
»Die Meinung, daß zuviel Salz im Essen eine Haupt-
ursache der Volkskrankheit Bluthochdruck sei, galt
den Ärzten lange Zeit als Dogma«, schreibt Bild der
Wissenschaft. »Jetzt nicht mehr. Zumindest in
Deutschland herrscht Einigkeit darüber, daß man mit
salzarmer Diät den Blutdruck bei Hochdruckpatienten
um höchstens drei Prozent senken kann – viel zu
wenig für eine wirksame Therapie.«
& Lit.: »Kontroverse um Kochsalz«, Bild der Wis-
senschaft 11/1996; »Fünf Vorurteile übers
Essen«, Bild der Wissenschaft 1/1997.

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LexPI Bd. 2 Blüten 47

Blüten
Blüten sind Falschgeld
Nicht im Amtsdeutsch unserer Polizei: Die »Richtli-
nien für den Nachrichtenaustausch bei Falschgeldde-
likten« des Hessischen Landeskriminalamtes von
1985 stellen klar: »Blüten sind Abbildungen/Nach-
ahmungen von Banknoten, die ein- oder zweiseitig
bedruckt sind, oft abweichende Druckbilder aufwei-
sen und nach dem Willen des Herstellers nicht als
Zahlungsmittel verwendet werden sollen.« Also: Blü-
ten werden bei Monopoly verwendet, falsche Hunder-
ter dagegen sind keine Blüten, sondern einfach –
Falschgeld.
& Lit.: Stichwort angeregt von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Bockbier 51

Bockbier
Bockbier hat etwas mit Ziegenbock zu tun
Auch wenn auf fast jeder Bockbierflasche und in jeder
Bockbierwerbung ein Ziegenbock zu sehen ist –
Bockbier hat mit Böcken nichts zu tun.
Der Name »Bockbier« kommt von der Stadt Ein-
beck, wo diese Sorte Bier erfunden wurde (»Ainpök-
khisch Bier«). Von Einbeck brachte es der Braumei-
ster Elias Pichler 1614 nach München (»Oabok-
kbier«), und ab da geriet die Herkunft des Namens in
Vergessenheit.
& Lit.: Roland Michael: Wie, Was, Warum? Augs-
burg 1990.

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LexPI Bd. 2 Bombenschäden 48

Bombenschäden
Die alliierten Bombenangriffe des Zweiten Welt-
kriegs haben die deutsche Industrie vernichtet
(s.a. ð »Marshallplan 2«)
Der Bombenterror der Alliierten 1943–1945 hat eine
halbe Million Frauen und Kinder umgebracht, aber
die deutsche Industrie nicht wesentlich getroffen:
Kaum 10% aller Maschinen wurden beschädigt (und
selbst von diesen nur ein Zehntel so, daß sie nicht
mehr zu reparieren waren), selbst in der strategisch
zentralen Kugellagerindustrie sind weniger als 20%
der Werkzeugmaschinen durch alliierte Bomben un-
brauchbar geworden. In der Stahlindustrie waren nur
wenige Hochöfen und ein einziges Walzwerk ausge-
fallen, fast alle Fördertürme der Kohlengruben stan-
den noch – »die deutsche Wirtschaft ging also mit
einem (...) bemerkenswert großen und modernen
Kapitalstock in die Nachkriegszeit« (Abelshauser).
Der Schwerpunkt des alliierten Bombenterrors lag
auf reinen Wohngebieten und auf Brücken oder Ei-
senbahnen: Durch diese Lähmung des Transportsy-
stems, nicht durch den Ausfall der Produktionskapazi-
täten selber, nahm die deutsche Industrieproduktion
ab Mitte 1944 dann tatsächlich drastisch ab. Aber die
Kapazitäten selber lagen 1945 kaum unter denen von
1939.
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LexPI Bd. 2 Bombenschäden 48

& Lit.: W. Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der


Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Frank-
furt a.M. 1983.

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LexPI Bd. 1 Börse 51

Börse
Börsenprofis wissen mehr (s.a. ð »Aktien« und
ð »Chartanalyse«)
»Der erfolgreiche Aktienbesitzer verläßt sich niemals
ausschließlich auf sein eigenes Urteil; er sucht den
Rat von kompetenten, unabhängigen Börsenexper-
ten«, heißt es in einer Annonce der Frankfurter Bör-
senbriefe.
Das ist in aller Regel falsch. Schon Anfang der
dreißiger Jahre hat der amerikanische Industrielle und
Hobby-Wirtschaftsforscher Alfred Cowles (der nach-
malige Begründer der unter Ökonomen wohlbekann-
ten Cowles-Kommission) herausgefunden, daß Zeit-
genossen, die mit Börsentips ihr Geld verdienen, auch
nicht mehr wissen als andere, eher weniger. Cowles
hatte die Prognosen von 16 Börsendiensten, 24 Fi-
nanzzeitschriften und des Herausgebers des Wall
Street Journal untersucht und dabei festgestellt, daß
der Kaiser keine Kleider hat: Die Börsenbriefe hatten
ihren Kunden über fünf Jahre ein jährliches Minus
von durchschnittlich 1,4% gebracht (verglichen mit
dem Aktienmarkt im allgemeinen; da dieser ebenfalls
gefallen war, war der tatsächliche Verlust der Kunden
weitaus größer). Die Finanzblätter erwirtschafteten
ein relatives Minus von jährlich 4% (absolut ein viel-
fach größeres), und selbst der Herausgeber des Wall
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Börse 51

Street Journal schaffte es, über 26 Jahre um mehrere


Punkte jährlich hinter seinem eigenen Dow-Jones
Index zurückzubleiben.
Und so ist es bis heute geblieben: Professionelle
Anlageberater und Börsenprofis gewinnen nicht mehr
als der Markt im allgemeinen, eher weniger, und der
Sparer, der sein Geld, statt es nach Gutdünken selber
anzulegen, Spezialisten in die Hände gibt, legt im all-
gemeinen dabei drauf, und das sogar zweifach (weil
nämlich von den ohnehin schon mageren Renditen
auch noch die Gebühren der Berater abzuziehen sind).
Natürlich werden einige Ratschläge und Börsendien-
ste auch Gewinne produzieren, aber in der Kategorie,
die allein langfristig zählt, nämlich im Durchschnitt,
ist außer Spesen nichts gewesen.
»Affe erfolgreicher als fünf Börsenmakler – Eine
Affenschande für fünf Börsenmakler hat jetzt die
schwedische Zeitung Expressen enthüllt. Sie hatte
dem Quintett und dem Schimpansen Ola je 10000
Schwedenkronen zur Verfügung gestellt, um damit an
der Börse den größtmöglichen Gewinn herauszuschla-
gen. Ola gewann ... Er warf Dart-Pfeile auf den Kurs-
zettel«, schreibt Associated Press.
Die gleiche Affenschande meldet die Zeitschrift Fi-
nanztest auch für Börsendienste auf dem deutschen
Aktienmarkt. »Kein einziger der zwölf getesteten
Börsendienste schaffte es, den Deutschen Aktienindex
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LexPI Bd. 1 Börse 52

(DAX) im Untersuchungszeitraum zu schlagen. Viel-


mehr waren die Anlageergebnisse der Börsengurus
etwa zwei bis elf Prozent schlechter als der Markt-
durchschnitt.«
Dito Banken. »Wer auf die Aktienempfehlungen
der deutschen Banken setzt, muß höllisch aufpassen«,
schreibt das Manager-Magazin. Die folgende Tabelle
dokumentiert das Schicksal einiger dieser Ratschläge
(gegeben zwischen Juli 1991 und Juni 1992, auf Jah-
resrenditen umgerechnet, nach Manager-Magazin
4/1993):
Bank empfohlene Aktie Kurs-
verlust
LB Schleswig-Holstein Markt &Technik 54,1%
Sal. Oppenheim BUS 54,8%
Sal. Oppenheim Villeroy &Boch 56,0%
Volks- und Raiffeisenb. AML 60,4%
Sal. Oppenheim Oberland Glas 62,5%
LB Schleswig-Holstein Hermle 64,7%
Trinkhaus &Burkart Hertel 70,1%
B. Metzler Pittler 72,5%
Sal. Oppenheim Escada 74,5%
Bethman Bank MVG 79,7%

Wie wir sehen, kann man mühelos auf Empfehlung


seiner Bank binnen eines Jahres drei Viertel seines
Vermögens verlieren.
Selbst wenn solche isolierten Betrachtungen natür-
lich unfair sind (denn Banken empfehlen nicht nur
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Börse 52

Tiefflieger; das in obiger Tabelle mehrfach negativ er-


wähnte Bankhaus Salomon Oppenheim hatte etwa
neben manchen Enttäuschungen auch die zwei besten
Tips des Jahres, die Deutsche Pfandbriefanstalt in
Wiesbaden und die Firma Kampa-Haus, deren Kurse
beide um rund 50 Prozent gestiegen waren, im Pro-
gramm gehabt): bei den Renditen der Gesamt-Portfo-
lios steht bis heute der Beweis noch aus, daß professi-
onelle Anlageberater mehr verdienen als ein Schimp-
anse, der Pfeile auf den Kurszettel des Handelsblattes
wirft.
Der Grund für diesen Mangel an systematischen
Erfolgen ist natürlich, daß das Steigen und Fallen von
Aktien sich prinzipiell jeder Vorhersage entzieht
(siehe Stichwort ð »Aktien«). Die optimale Prognose
für den Kurs eines Papiers nach einem Jahr (oder
auch nach einem Monat oder einem Tag) ist immer
der aktuelle Kurs plus ein gewisser Zuschlag, der u.a.
von der Länge des Zeitraums und dem Risiko des Pa-
piers abhängt und für dessen Erklärung mittlerweile
schon Nobelpreise vergeben worden sind. Mehr weiß
weder der freundliche Berater in der Bank um die
Ecke noch der wichtigtuende Finanzbrief-Verfasser in
der Telebörse, und deshalb ist der eine so überflüssig
wie der andere.
& Lit.: Alfred Cowles: »Can stock market foreca-
sters forecast?« Econometrica 1933, S. 309–324;
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LexPI Bd. 1 Börse 53

»Strategiedefizit«, Manager-Magazin 4/1993;


»Leere Versprechen«, Finanztest 2/1993; W. Krä-
mer: »Kapitalmarkteffizienz«, Stichwortartikel in
»Handwörterbuch des Bank- und Börsenwesens«,
2. Auflage 1994.

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LexPI Bd. 1 Boxen 53

Boxen
Boxhandschuhe sollen den Gegner vor den Schlä-
gen schützen
Boxhandschuhe schützen vor allem den Schläger,
nicht den Geschlagenen – sie verhindern, daß der
Schläger sich die Hände bricht. Die auf Kopf oder
Körper des Getroffenen aufprallende kinetische Ener-
gie und damit die Gefahr einer Verletzung wird durch
die 200 bis 400 Gramm schweren Handschuhe nicht
kleiner, sondern größer.
Bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurde
daher grundsätzlich ohne Handschuhe geboxt. Der
letzte Boxweltmeister, der seinen Titel mit bloßen
Fäusten verteidigte, war John Sullivan im Jahr 1889.
& Lit.: Stichwort »Boxing« in Microsoft CD-ROM
Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Boxring 48

Boxring
Der Boxring war ursprünglich rund
Das »Ring« im Boxring kommt vom englischen »to
ring« (= läuten, klingeln). Aber dieses Klingeln ertön-
te schon immer in einer durchaus eckigen Arena.
& Lit.: Ruhr-Nachrichten vom 20.9.1996 und
27.11.1996 in der Rubrik »Leser fragen«.

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LexPI Bd. 2 Braten 49

Braten
Der Braten kommt vom Braten
Das Essen kommt vom Essen, der Husten kommt
vom Husten, aber der Braten kommt nicht vom Bra-
ten – »Braten«, im Sinn eines gebratenen Stückes
Fleisch, hat eine andere sprachliche Wurzel als das
Zeitwort »braten«. Letzeres entspringt vermutlich der
indogermanischen Wurzel »bhret«, die auch für das
lateinische »fretala« (= Bratpfanne) und für unser
»brüten« oder »Brodem« Pate stand. Der »Braten«
dagegen entstammt einer alten germanischen Bezeich-
nung für »Fleisch«, die heute noch in »Wade« oder
»Wildbret« weiterlebt.
& Lit.: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörter-
buch der deutschen Sprache, Berlin 1957; Stich-
wort angeregt von Josef Stern.

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LexPI Bd. 1 Bratwurst 54

Bratwurst
Die Bratwurst heißt so, weil sie gebraten ist bzw.
wird
Das Wort »Bratwurst« leitet sich vom altdeutschen
Wort »brat« ab, das heißt »weiches, kleingehacktes
Fleisch«.
& Lit.: Walter Zerlett-Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 2 Brecht 1 49

Brecht 1
Bertolt Brecht starb als deutscher Dichter (s.a. ð
»Freddy Quinn«)
Bertolt Brecht, geboren in Augsburg/Deutschland
1898, starb 1956, nach kurzen Gastspielen in den
USA und in der Schweiz, als Staatsbürger unseres
Nachbarlandes Österreich.

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LexPI Bd. 2 Brecht 2 49

Brecht 2
Bertolt Brecht hatte ernsthaft vorgehabt, sich in
Österreich niederzulassen
Bertolt Brecht hatte seinen Antrag auf österreichische
Staatsbürgerschaft damit begründet, daß er die Stadt
Salzburg zum Zentrum seines Wirkens machen wolle;
in Wahrheit ging es ihm vor allem um die Vorteile der
österreichischen Staatsbürgerschaft (Österreicher wur-
den von den Alliierten aus strategischen Gründen
unter die Opfer der Nazis eingestuft, sie hatten damit
nach dem Krieg mehr Freiheiten als Deutsche). Als
eigentliche Wirkensstätte hatte Brecht von Anfang an
den Ort bestimmt, wo man den größten roten Teppich
für ihn hatte, also Ost-Berlin (wohlweislich aber ohne
die Rechte an seinen Werken und seine irdischen
Güter dorthin mitzunehmen). »Im Sommer 1949 hatte
Brecht, mit viel Lüge und Betrug, genau das was er
wollte: den Paß aus Österreich, das regierungsamtli-
che Wohlwollen aus Ostdeutschland, den Verleger
aus Westdeutschland, und das Konto in der Schweiz«
(Johnson).
& Lit.: P. Johnson: Intellectuals, London 1993 (be-
sonders Kapitel 7: »Bertolt Brecht: Heart of Ice«).

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LexPI Bd. 2 Brent Spar 50

Brent Spar
Das verhinderte Versenken der »Brent Spar« war
ein Sieg der ökologischen Vernunft
Die von (vermeintlichen) Umweltschützern erzwunge-
ne alternative Entsorgung der Ölplattform »Brent
Spar« belastet die Umwelt je nach Art und Weise weit
stärker als die ursprünglich geplante Versenkung auf
dem Meeresboden. Die Ökologie des Tiefseebodens,
der geplanten letzten Heimat der »Brent Spar«, unter-
scheidet sich beträchtlich von der Ökologie des
Festlandsockels, auf die sich die Szenarien der Brent-
Spar-Aktivisten stützen: Die auf dem Boden des At-
lantiks in 2000 m Tiefe residierenden Mikroben und
Bakterien sind nicht nur gegen die Schwermetalle und
Ölrückstände resistent, vor denen man den Meeresbo-
den zu beschützen müssen glaubte, sie leben regel-
recht von ihnen; für diese Tiere wäre die Ankunft der
»Brent Spar« ein Fest gewesen wie Weihnachten und
Ostern auf einmal (»But, far from finding heavy metal
residues lethal or even mildly unappetizing, the bacte-
ria of the ocean floor would have greeted the arrival of
the Brent Spar as if all their Christmasses had come
at once«, wie die Zeitschrift Nature schreibt).
Auch die tatsächlich vorhandenen Rückstände wur-
den von Greenpeace gewaltig überschätzt: Nur 100
Tonnen Ölrückstände statt 5000, 0 Tonnen statt 100
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LexPI Bd. 2 Brent Spar 51

Tonnen Giftschlamm (die vorhandenen


Schlammrückstände haben sich bei einer Untersu-
chung durch unabhängige Experten als ungiftig her-
ausgestellt), keinerlei Batterien, Motoren, Pumpen,
elektrische Anlagen (wohl wissend, daß diese vor der
Versenkung auszubauen waren, hatte Greenpeace
dennoch diesbezüglich Ängste angemeldet), keinerlei
nennenswerte Radioaktivität usw.
Geblieben wären 14.000 Tonnen Ballast und Stahl,
ein Nichts verglichen mit den Tausenden von Kriegs-
und Handelsschiffen, die bereits heute auf dem Mee-
resboden lagern (Titanic, Bismarck, Hood) bzw. Jahr
für Jahr durch »natürliche« Katastrophen neu dazu-
kommen, und ebenfalls ein Nichts verglichen mit den
wirklichen Gefahren der Ölförderung auf See, welche
die Umwelt tatsächlich und weit nachhaltiger bela-
sten, als es die Versenkung der »Brent Spar« je hätte
bewirken können, und die durch diesen Öko-Aktionis-
mus auch weiter außerhalb der Medien-Entrüstungs-
zone bleiben.
& Lit.: »Brent Spar, broken spur«, Nature 375,
1995; »Das dicke Ende kommt erst noch«, Rhei-
nischer Merkur, 23.6.1995; »Abwracken von
Brent Spar an Land ist langwierig und gefähr-
lich«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1995;
Deutsche Shell AG (Hrsg.): Die Ereignisse um
die Brent Spar in Deutschland, Hamburg 1996.
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LexPI Bd. 2 Brent Spar 51

¤ Brent Spar: für die Bakterien der Tiefsee ein Fest


wie Weihnachten und Ostern auf einmal

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LexPI Bd. 2 Bridge 51

Bridge
Bridge ist typisch angelsächsisch
Bridge wurde erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts in
Istanbul gespielt. Erst mehrere Jahrzehnte später ist
dieses Kartenspiel dann auch nach England und Ame-
rika gekommen.
& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987; Stichwort »Bridge (Game)«
in der MS Microsoft Enzyklopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Brosamen 54

Brosamen
Brosamen kommt von Brotsamen
Das Wort Brosamen hat weder etwas mit Brot noch
mit Samen zu tun; es leitet sich vielmehr von dem
mittelhochdeutschen »brosem« oder »brosme« = klei-
nes Bröckchen her. Auch die Wörter Brösel und brö-
seln stammen aus dieser gleichen Quelle.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, durchgesehen und ergänzt von Wolf-
gang Pfeifer, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 1 Brücken 54

Brücken
Venedig hat die meisten Brücken
In Venedig gibt es 398 Brücken, in Amsterdam 1281
und in Berlin 1662. Den europäischen Rekord hält
aber Hamburg mit 2123 Brücken.
& Lit.: Guiness Buch der Rekorde.

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LexPI Bd. 2 Brüderlichkeit 1 52

Brüderlichkeit 1
Die Französische Revolution stand unter dem
Motto »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« (s.a.
ð »Résistance« sowie in Band 1 ð »Bastille«)
Erst unter Napoleon III., mehr als 50 Jahre nach der
Französischen Revolution, wurde die Parole »Liberté,
Egalité, Fraternité« zur offiziellen Devise der franzö-
sischen Republik erkoren.
Die Französische Revolution stand unter dem
Motto »Freiheit, Gleichheit, Eigentum«. In der Erklä-
rung der Bürger- und Menschenrechte vom 26. Au-
gust 1789 kommt die »fraternité« nicht vor. »Da die
Vertreter des französischen Volkes, als Nationalver-
sammlung eingesetzt, erwogen haben, daß die Un-
kenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der
Menschenrechte die einzigen Ursachen des öffentli-
chen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen
sind, haben sie beschlossen, die natürlichen, unveräu-
ßerlichen und heiligen Rechte der Menschen in einer
feierlichen Erklärung darzulegen, damit diese Erklä-
rung allen Mitgliedern der Gesellschaft beständig vor
Augen ist und sie unablässig an ihre Pflichten erin-
nert.«
»Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit
und Widerstand gegen Unterdrückung«, sagt Artikel
2. Und dann fährt die Erklärung mit diversen Defini-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Brüderlichkeit 1 52

tionen und Detailvorschriften fort: Souveränität »ruht


letztlich in der Nation« (Artikel 3), Freiheit »besteht
darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht
schadet« (Artikel 4), Gesetze sind »Ausdruck des all-
gemeinen Willens«, an deren Entstehung alle Bürger
ohne Unterschied des Standes und der Religion teil-
nehmen dürfen (Artikel 6), Rede- und Gedankenfrei-
heit ist »eines der kostbarsten Menschenrechte« über-
haupt (»un des droits les plus précieux«, Artikel 11).
Weitere Artikel legen fest, daß Angeklagte solange
unschuldig sind, bis ihre Schuld bewiesen ist, oder
daß niemand aufgrund eines Gesetzes verurteilt wer-
den darf, das es zur Tatzeit noch nicht gab – alles in
allem ein bemerkenswertes Dokument, das zu Recht
als Wiege der modernen Demokratie gefeiert werden
darf.
Aber kein einziger der 17 Artikel dieser Erklärung
erwähnt die Brüderlichkeit.
Auch später ist in den offiziellen Dokumenten der
Französischen Revolution von Brüderlichkeit keine
Rede. Die Verfassung von 1793 benennt als Rechte
»Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Eigentum«, »frater-
nité« kommt darin nirgends vor; die Direktorialver-
fassung von 1795 nennt als Menschenrechte ebenfalls
»Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Eigentum«, die Brü-
derlichkeit kommt an keiner Stelle vor; die Proklama-
tion der Konsuln vom 15. Dezember 1799 zitiert die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Brüderlichkeit 1 53

»geheiligten Rechte des Eigentums, der Gleichheit


und der Freiheit«, und auch hier ist von Brüderlich-
keit an keiner Stelle die Rede.
Bemerkenswert dagegen die konstante Betonung
des Menschenrechts auf Eigentum (»das Recht, sein
Vermögen, seine Einkünfte, den Ertrag seiner Arbeit
und seines Fleißes zu genießen und darüber frei zu
verfügen«, so die Direktorialverfassung von 1795).
»Das Eigentum der Patrioten ist heilig«, schreibt
Saint-Just in den Ausführungsbestimmungen zu den
Ventôse-Dekreten von 1794. Artikel 8 der Verfassung
von 1793 sagt: »Die Sicherheit beruht in dem Schutz,
den die Gesellschaft jedem ihrer Glieder für die Erhal-
tung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigen-
tums zusichert«, und auch die Erklärung der Men-
schenrechte von 1789 läßt an der Bedeutung des Ei-
gentums nicht den geringsten Zweifel: »Da das Eigen-
tum ein unverletzliches und heiliges Recht ist, kann es
niemandem genommen werden, wenn es nicht die ge-
setzlich festgelegte, öffentliche Notwendigkeit augen-
scheinlich erfordert und unter der Bedingung einer ge-
rechten und vorherigen Entschädigung.«
Eine zarte Spur von Brüderlichkeit findet sich al-
lein in einem Beschluß des Direktoriums des Départe-
ment Paris von 1793, auf alle Häuser die folgende Pa-
role anzubringen: »Unité, Indivisibilité de la Républi-
que, Liberté, Egalité, Fraternité ou la mort«. Jedoch
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Brüderlichkeit 1 53

wurden diese Worte nie zur offiziellen Devise oder


zum Kampfruf der neuen Republik, genausowenig
wie es das Motto der Bundesrepublik Deutschland ist,
daß die RAF lebt, oder daß es schade ist, daß Beton
nicht brennt, oder daß die 32-Stunden-Woche einzu-
führen sei, auch wenn wir diese Sprüche auf noch so
vielen Häuserwänden aufgeschrieben finden ...
& Lit.: W. Grab (Hrsg.): Die Französische Revoluti-
on – eine Dokumentation, München 1973; G. van
Heuvel: Der Freiheitsbegriff der Französischen
Revolution, Göttingen 1988; Jean-Paul Bertrand:
Alltagsleben während der Französischen Revolu-
tion, Freiburg 1989; Stichwort angeregt von Ul-
rich Kinkelin.

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LexPI Bd. 2 Brüderlichkeit 2 54

Brüderlichkeit 2
»Brüderlichkeit« ist ein altes deutsches Wort (s.a.
ð »Leidenschaft« in Band 1)
Das Wort »Brüderlichkeit« gab es bis zum 19. Jahr-
hundert in der deutschen Sprache nicht; es wurde von
dem Braunschweiger Schriftsteller und Sprachfor-
scher Heinrich Campe 1801 als Ersatz für das franzö-
sische Fremdwort »fraternité« erfunden (zusammen
mit »Feingefühl« für »tact«, »Minderheit« für »mino-
rité«, »Freistaat« für »république«, »Fallbeil« für
»Guillotine« oder »Streitgespräche« für »Debatte«).
& Lit.: Dieter E. Zimmer: Deutsch und anders, Rein-
bek 1997.

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LexPI Bd. 1 Brustkrebs 54

Brustkrebs
Brustkrebs ist erblich
Nach einer Studie der Harvard Universität ist Brust-
krebs weit weniger durch Erbfaktoren bedingt als bis-
her angenommen. Stattdessen kommen zunehmend
Auslöser wie Vitaminmangel und Alkohol in Ver-
dacht.
Bisher war man davon ausgegangen, daß Frauen,
deren Mutter und Schwester schon an Brustkrebs er-
krankt waren, verglichen mit anderen Frauen ein vier-
zehnfach größeres Risiko hätten, ebenfalls an Brust-
krebs zu erkranken. In der besagten Harvard-Studie,
die seit 1976 insgesamt 121000 Krankenschwestern
über mehr als 15 Jahre beobachtete, betrug diese
Quote aber nur 2,5 Prozent. Nach Meinung der Auto-
ren kommt damit Vererbung in 97,5 Prozent aller
Brustkrebsfälle nicht als Ursache in Frage.
Stattdessen werden ein Mangel an Vitamin A oder
zuviel Alkohol als Auslöser vermutet. Denn die Kran-
kenschwestern mit einer an Vitamin A armen Ernäh-
rung hatten ein um 20 Prozent höheres Brustkrebsrisi-
ko als diejenigen mit einer an Vitamin A reichen Er-
nährung. Und bei Frauen, die regelmäßig täglich ein
Glas Wein tranken, stieg das Risiko sogar auf das
Doppelte.
Natürlich darf man aus solchen Korrelationen noch
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Brustkrebs 55

nicht auf Kausalitäten schließen (siehe auch das


Stichwort ð »Korrelation«). Denn Menschen, die
gerne ein Glas Wein trinken, unterscheiden sich auch
in anderer Hinsicht von strikten Anti-Alkoholikern, so
daß die eigentliche Ursache vielleicht ganz woanders
liegt. Aber wer oder was auch immer den Brustkrebs
letztendlich verursacht, die Gene scheinen es wohl
nicht zu sein.
& Lit.: D.L. Weed: »Alcohol, breast cancer and cau-
sal inference: where ethics meets epidemiology«,
Contemporary drug problems 21, 1994, 185–204;
»Brustkrebs durch Vitaminmangel und Alkohol?«
Welt am Sonntag Nr. 30/1995, S. 11.

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LexPI Bd. 2 Brustkrebs. 54

Brustkrebs
Brustkrebs-Vorsorge ist immer medizinisch nütz-
lich (s.a. ð »Prävention« in Band 1)
Nach dem »Breast cancer awareness month« in Eng-
land 1996 forderte der bekannte englische Krebsarzt
Michael Baum einen »Breast cancer unawareness
month«: Nach seiner Meinung, und auch nach An-
sicht anderer führender Krebsspezialisten in anderen
Ländern, richten die Brustkrebs-Vermeidungs- und
Früherkennungskampagnen, mit denen die deutschen
und internationalen Medien uns periodisch heimzusu-
chen pflegen, netto mehr Schaden an, als daß sie
Nutzen stiften. Nach Baum ist Brustkrebs bei Frauen
unter 50 so selten (nur eine von tausend Frauen pro
Jahr erkrankt daran), daß man diese Frauen, sofern
nicht erblich vorbelastet, vor den Risiken der Vorsor-
ge verschonen sollte: Röntgenstrahlen, Fehlalarme,
die ganze Aufregung und Hektik, die mit zweideuti-
gen Befunden immer verbunden ist. Zählt man alle
diese physiologischen und psychologischen Schäden
zusammen, lohnt sich zumindest bei jüngeren Frauen
der ganze Früherkennungsaufwand nicht.
Auch die Warnungen vor Brustkrebs durch die
Pille haben nach Baum mehr Menschenleben gekostet
als gerettet (all die Frauen, die als Folge ungewollter
Schwangerschaften gestorben sind).
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Brustkrebs. 54

& Lit.: Michael Baum: »The lab«, Prospect, Juni


1997, S. 72.

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LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 1 55

Bruttosozialprodukt 1
Das Bruttosozialprodukt sagt uns, wie reich wir
sind
Das sogenannte Bruttosozialprodukt gilt als bester
Maßstab für Erfolg, Reichtum und Wirtschaftskraft
einer Nation. Es betrug 1990 in der Bundesrepublik
Deutschland (alte Bundesländer) rund 2400 Milliar-
den oder 2,4 Billionen Mark; pro Kopf der Bevölke-
rung damit rund 39000 Mark, mehr als in den meisten
anderen Staaten dieser Welt. Nur in der Schweiz, in
Japan und in den USA sowie in einigen kleineren
Ländern wie Norwegen, Kuwait oder Luxemburg, war
das Pro-Kopf-Einkommen größer. In England, Frank-
reich oder Italien, und in den restlichen 160 Ländern
dieser Welt erst recht, war es dagegen kleiner.
Daher sind nicht wenige Bundesbürger und Bun-
desbürgerinnen auf diese Leistung und auf diesen
Wohlstand ganz schön stolz – nicht ganz zu Recht,
zumindest was den Wohlstand anbetrifft. Denn auch
wenn wir das Bruttosozialprodukt als Maßstab für die
reine Produktion und Leistung einer Wirtschaft gelten
lassen – als Anzeiger für den Nutzen und den Wohl-
stand, der uns aus dieser Produktion erwächst, ist es
nur mit großer Vorsicht zu gebrauchen.
Der erste Grund ist sehr einfach: Das Sozialpro-
dukt mißt die Produktion und damit indirekt auch das
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LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 1 55

Einkommen, nicht aber das Vermögen. Oder anders


ausgedrückt: Es sagt, was jedes Jahr an Gütern neu
hinzukommt, nicht jedoch, was man schon hat. Und
wie jeder aus dem Alltagsleben weiß, sind Einkom-
men und Vermögen zwei verschiedene Paar Schuhe.
Die meisten Bauern in der Bundesrepublik z.B. haben
ein großes Vermögen, aber ein kleines Einkommen,
während viele »normale« Arbeitnehmer ein großes
Einkommen, aber kein Vermögen haben.
Und genauso auch auf internationaler Ebene: Ver-
mutlich ist ein typischer Einwohner unseres schönen
Nachbarlandes Frankreich trotz eines niedrigeren So-
zialprodukts pro Kopf doch reicher als ein Bürger un-
seres eigenen Landes, weil er oder sie im Mittel ein
größeres, durch keine Inflation und Kriegsverwüstung
gemindertes Vermögen hat.
& Lit.: Alfred Stobbe: Volkswirtschaftslehre 1:
Volkswirtschaftliches Rechnungswesen, Berlin
1966; W. Krämer: Statistik verstehen, Frankfurt
1992.

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LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 2 56

Bruttosozialprodukt 2
Das Bruttosozialprodukt sagt uns, wieviel wir ar-
beiten
Das Bruttosozialprodukt sagt weder, wie reich wir
sind, noch wieviel wir arbeiten. Denn es erfaßt nur
einen Teil der in einer Volkswirtschaft produzierten
Güter und Dienstleistungen – im wesentlichen solche,
die gegen Geld gehandelt werden: Autos, Straßen,
Waschmaschinen, Lebensmittel, Heizöl, Taxifahrten,
Dienstleistungen von Ärzten, Krankenhäusern, Ban-
ken, Post. Das hat den großen Vorteil, daß man so im
wahrsten Sinn des Wortes Äpfel und Birnen aufaddie-
ren kann: 1000 kg Äpfel à 4 Mark und 2000 kg Bir-
nen à 3 Mark ergibt ein Sozialprodukt von 1000 x 4
+ 2000 x 3 = 10000 Mark, hat aber den großen Nach-
teil, daß alle Produkte ausgeschlossen bleiben, die
nicht gegen Geld gehandelt werden: Die statt in der
Werkstatt selbst aufgezogenen Winterreifen, das
selbst tapezierte Wohnzimmer, das selbst getippte
Manuskript, die selbst reparierte Armbanduhr: Was
man selber macht statt von anderen gegen Entgelt ma-
chen läßt, fällt systematisch durch den Rost. Wenn
wir vom Sohn des Nachbarn für 20 Mark den Rasen
mähen lassen, steigt das Sozialprodukt um 20 Mark.
Mähen wir den Rasen selbst, bleibt das Sozialprodukt
konstant. Der frisch gemähte Rasen ist in beiden Fäl-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 2 56

len gleich, aber einmal zählt er zum Sozialprodukt


und einmal nicht.
Ein weiterer Teil der Wirtschaftsleistung, der auf
dem Weg in das Statistische Jahrbuch spurenlos ver-
schwindet, ist die sogenannte »Schattenwirtschaft«:
Wenn in Land A ein Maurer für tausend Mark eine
Grube gräbt und diesen Lohn versteuert, steigt das
Sozialprodukt um tausend Mark. Wenn in Land B
eine anderer Maurer die gleiche Arbeit schwarz erle-
digt, so steigt das »eigentliche« Sozialprodukt dort
ebenfalls um tausend Mark. Jedoch bleibt diese
Summe statistisch unsichtbar, und deshalb ist das
amtliche Sozialprodukt um tausend Mark zu klein.
Diese Schattenwirtschaft wird heute in westlichen
Industrienationen auf rund 10 Prozent des amtlichen
Sozialprodukts geschätzt. Die höchste Quote (13 Pro-
zent) vermutet man für Schweden und Italien, die
kleinsten Quoten von 4,1 und 4,3 Prozent für Japan
und die Schweiz. Die Bundesrepublik Deutschland
(West) belegt mit geschätzten 8,6 Prozent einen Mit-
telplatz – bei einem Sozialprodukt von 2,4 Billionen
Mark immerhin mehr als 200 Milliarden Mark. Um
diese Summe ist also die offizielle deutsche Zahl zu
klein.
Auch die durchaus legale, aber in aller Regel unbe-
zahlte Arbeit unserer Hausfrauen und Hausmänner
bleibt so außerhalb des offiziellen Sozialprodukts:
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LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 2 57

Spülen, Waschen, Kochen, Treppenputzen, Kinder er-


ziehen, Kranke pflegen. Inklusive dieser sozusagen
»gratis« erbrachten Dienstleistungen wäre unser So-
zialprodukt im Handumdrehen um fast die Hälfte grö-
ßer. Oder anders ausgedrückt: Je mehr Güter und
Dienstleistungen im Familien- oder Freundeskreis
quasi informell produziert, getauscht und gehandelt
werden, desto kleiner ist das amtliche Sozialprodukt.
Je mehr Güter und Dienstleistungen dagegen gegen
Rechnung den Besitzer wechseln, desto größer ist das
amtliche Sozialprodukt, desto reicher scheinen wir zu
sein.
& Lit.: Hannelore Weck u.a.: Schattenwirtschaft,
München 1984; M. Hilzenbecher »Die schatten-
wirtschaftliche Wertschöpfung der Hausarbeit«,
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik
1986.

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LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 3 57

Bruttosozialprodukt 3
Das Bruttosozialprodukt sagt uns, wie gut wir
leben
Das Bruttosozialprodukt sagt uns weder, wie reich
wir sind, noch wieviel wir arbeiten, noch wie gut wir
leben. Vermutlich leben in nicht wenigen Ländern der
Welt die Menschen trotz eines kleineren Sozialpro-
dukts pro Kopf rein materiell weit besser als in
Deutschland (immaterielles Glück und Wohlbefinden
kann man ohnehin in Geld nicht messen), und sind
andererseits die Menschen hierzulande trotz eines
kleineren Sozialprodukts pro Kopf mit irdischen Gü-
tern besser versorgt als anderswo, etwa in Japan oder
in den USA, wo das Sozialprodukt pro Kopf noch
höher ist.
Neben der statistischen Erfassung wirft das Sozial-
produkt nämlich noch zwei weitere Probleme auf. Er-
stens zählt es nur die Güter, für die wir arbeiten mü-
ssen, nicht aber die, die wir umsonst bekommen. Wo
die Menschen in der Sonne dösen und kein Gas und
keine Kohle zum Heizen brauchen, ist das Sozialpro-
dukt daher unter sonst gleichen Umständen kleiner als
in einem Land mit rauhem Klima, wo die Menschen
hart dafür arbeiten müssen, im Winter nicht zu frie-
ren. Und im Schlaraffenland oder im Garten Eden
sinkt das Bruttosozialprodukt sogar auf Null.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 3 58

Zweitens unterscheidet das Sozialprodukt nur un-


vollkommen zwischen Gütern, die uns letztendlich
wirklich zur Verfügung stehen, und den sogenannten
»Vorleistungen«, die zum Produzieren dieser Güter
nötig sind. Denn was wir wissen wollen, ist doch,
was zum Konsumieren und zum Investieren übrig
bleibt – die dabei eingesetzten Rohstoffe und Vorpro-
dukte interessieren nicht. Wenn Robinson Crusoe auf
seiner Insel 3 Zentner Getreide erntet, dafür aber
einen Zentner Saatgut braucht, beträgt sein Sozialpro-
dukt nicht drei Zentner, sondern zwei; die Vorleistun-
gen sind von der Gesamtproduktion natürlich abzu-
ziehen.
Leider geschieht das aber in der aktuellen Praxis
nur sehr unvollkommen. So schätzen wir etwa die
Dienste von Polizei, Justiz und Feuerwehr wohl kaum
um ihrer selbst; wir wären im Gegenteil wahrschein-
lich mehr als froh, wenn es keine Brände gäbe und
alle Menschen Engel wären, wir Polizei und Feuer-
wehr also überhaupt nicht bräuchten. Deren Dienste
und unsere Ausgaben dafür wären also besser als
Vorleistung des Staates für das Funktionieren der So-
zial-Gemeinschaft anzusehen; zu unserem Wohlstand
tragen sie per se nichts bei. Die Leistungen von Poli-
zei, Justiz, Feuer- und Bundeswehr an sich will keiner
haben – sie sind nur Inputs für das eigentlich Ge-
wünschte – Friede, Ordnung, Sicherheit – und daher
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 3 58

streng genommen als Vorleistung vom Produktions-


wert abzuziehen. Aber nach aktueller Praxis zählen
sie dennoch zum Sozialprodukt.
So kommt es, daß Erdbeben, kleine Kriege, Wir-
belstürme, Überschwemmungen oder Tankerkatastro-
phen mit Riesenumweltschäden das Sozialprodukt er-
höhen: Die Schäden werden, falls überhaupt, nur un-
zureichend abgezogen, die Arbeiten der Retter und
Helfer dagegen voll dem Produktionswert zugeschla-
gen. Wenn in den Städten der USA Tausende von Po-
lizeibeamten die Straßen patrouillieren müssen, um
die Bürger des Landes vom gegenseitigen Umbringen
abzuhalten, sind die Kosten dafür (als Maß der
Dienstleistungen der Polizei) Teil des amerikanischen
Sozialprodukts, und je mehr Polizisten patrouillieren,
desto größer das Sozialprodukt. Anderswo dagegen,
in Schweden oder Finnland etwa, wo die Menschen
seit jeher friedlicher miteinander verkehren und des-
halb auch nicht so viele Polizisten brauchen, ist das
amtliche Sozialprodukt pro Kopf vielleicht kleiner –
aber der Wohlstand der Menschen vermutlich trotz-
dem größer.
& Lit.: Christian Leipert: Die heimlichen Kosten des
Fortschritts, Frankfurt 1989; Peter von der Lippe:
Wirtschaftsstatistik, Stuttgart 1990; W. Krämer:
Statistik verstehen, Frankfurt 1992. Weltbank:
Monitoring environmental progress. Washington
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LexPI Bd. 1 Bruttosozialprodukt 3 59

1995.

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LexPI Bd. 2 Bücherverbrennung 1 55

Bücherverbrennung 1
Die Bücherverbrennung 1933 war eine Aktion
der Nazis
Die berüchtigten Bücherverbrennungen des 10. Mai
1933 sind von deutschen Studenten organisiert und
abgehalten worden; die Nazis waren nur im Hinter-
grund und indirekt beteiligt. Man traf sich in der Un-
iversität zu einem Fackelzug, marschierte unter Ab-
singen von nationalen Liedern zu einem zentralen
Platz, hörte sich nationale Reden an und warf dann
Bücher in ein Feuer. Solche Aktionen fanden an fast
allen deutschen Universitäten statt; die auf dem Berli-
ner Opernplatz war nur die medienwirksamste und
größte.
& Lit.: C. Schelle: »Bücherverbrennung 1933 – Ein
kurzer Abriß«, in: N. Schiffbauer und C. Schelle:
Stichtag der Barbarei, Braunschweig 1983, S.
20–40.

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LexPI Bd. 2 Bücherverbrennung 2 55

Bücherverbrennung 2
Die Bücherverbrennung 1933 war eine histori-
sche Premiere
Das öffentliche Verbrennen mißliebiger Bücher ist so
alt wie die Bücher selbst: Schon 250 v. Chr. ließ der
erste Herrscher der chinesischen Tsin-Dynastie die
Bücher des Konfuzius und seiner Anhänger verbren-
nen. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden
in Italien, Portugal und Spanien die Werke von Ovid,
Boccaccio und Dante öffentlich verbrannt (in Florenz
hieß dieser Ort »Der Scheiterhaufen der Eitelkeiten«),
in Frankreich teilten dieses Schicksal etwas später,
neben vielen anderen, die Werke von Voltaire, Pascal
und Rousseau, unter Napoleon wurde das »Buch
Über Deutschland« von Madame de Staë'l wegen
»unfranzösischer politischer Ansichten« aus dem Ver-
kehr gezogen und verbrannt.
Im 20. Jahrhundert stehen neben den Deutschen die
Amerikaner in der ersten Linie der Verbrenner: Teile
des »Ulysses«, die als Vorabdruck in der Zeitschrift
The Little Review erschienen waren, werden von der
amerikanischen Post konfisziert und verbrannt, auch
Werke von Wilde und Steinbeck landen auf öffentli-
chen Scheiterhaufen (letztere »wegen der vulgären
Ausdrucksweise der darin auftretenden Figuren«).
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LexPI Bd. 2 Bücherverbrennung 2 55

& Lit.: A.L. Haight: Verbotene Bücher, Düsseldorf


1956.

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LexPI Bd. 1 Buchweizen 59

Buchweizen
Buchweizen ist eine Weizenart
Der Buchweizen (Fagopyrum esculentum) ist ein
Knöterichgewächs, kein Getreide. Obwohl man seine
Früchte oft zu Mehl oder Grütze, besonders für Brei
(Polenta), seltener für Brot verarbeitet, hat der Buch-
weizen mit den »normalen« Getreidesorten, die alle
der Familie der Gräser angehören, nichts zu tun.
& Lit.: Stichwort »Buchweizen« in Brockhaus Enzy-
klopädie, 19. Aufl., Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 1 Büffel 59

Büffel
Der amerikanische Westernheld Buffalo Bill müßte
eigentlich »Bison Bill« heißen; er hat in seinem gan-
zen Leben vermutlich keinen einzigen Büffel zu Ge-
sicht bekommen.
In Nordamerika gibt es nur Bisons, keine Büffel.
Bisons sind mit den Büffeln zoologisch nicht ver-
wandt.
& Lit.: Wilhelm Eigener: Großes Farbiges Tierlexi-
kon, Herrsching 1982.

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LexPI Bd. 2 Bulle 56

Bulle
Mit der Bezeichnung »Bulle« für Polizisten ist ein
Horntier angesprochen
Im 18. Jahrhundert hießen die Landjäger »Landpul-
ler« oder »Bohler«, nach dem niederländischen »bol«
(= Kopf, kluger Mensch). Ein »Bulle« ist daher ein
Mensch mit Kopf. Wann dieser Ausdruck erstmals als
Beleidigung verstanden wurde, bleibt im Dunkel der
Historie verborgen.
& Lit.: M. Scheele und R. Wetter: Ratgeber Recht,
München 1990.

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LexPI Bd. 1 Bumerang 1 60

Bumerang 1
Der Bumerang ist eine Exklusiv-Erfindung der
Aborigines in Australien
Bumerangs gab es schon im alten Ägypten und gibt
es noch heute als Jagdwaffe bei gewissen Indianer-
stämmen Nordamerikas. Und da diese Kulturen wohl
kaum mit den australischen Aborigines in Verbindung
standen, haben sie dieses Krummholz wohl auch un-
abhängig voneinander erfunden.
& Lit.: Stichwortartikel »Boomerang« in Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Bumerang 2 60

Bumerang 2
Ein guter Bumerang kommt zum Abwurfpunkt
zurück
Der Hauptvorteil des Bumerangs ist nicht, daß er zum
Werfer zurückkehrt, sondern daß er weiter fliegt als
ein gerades Holz. Der Rückkehr-Bumerang wird von
den Aborigines vor allem zum Üben oder zum Auf-
scheuchen von Vögeln verwendet; die »richtigen«
Jagd-Bumerangs kehren nicht zurück.
Würden Bumerangs den Werfer suchen, hätte die
australische Armee im I. Weltkrieg wohl kaum einen
Handgranaten-Bumerang gebaut:
¤ Mit diesem Bumerang warfen australische Solda-
ten im Ersten Weltkrieg auf deutsche Schützengrä-
ben; er ist im australischen Infanteriemuseum in
Singleton zu sehen

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C 61

»Der Irrtum ist viel leichter zu erkennen, als die


Wahrheit zu finden; jener liegt auf der
Oberfläche, damit läßt sich wohl fertig werden;
diese ruht in der Tiefe, danach zu forschen ist
nicht jedermannes Sache.«
Goethe

»Zum zehnten Mal wiederholt


wird es gefallen«
Horaz

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LexPI Bd. 2 Casanova 57

Casanova
Casanova war ein Tunichtgut und Schürzenjäger
Giacomo Girolamo Casanova (1725–1798) war ein
Liebhaber der Frauen, aber auch der Wissenschaften:
Er war bereits mit 16 Jahren »Doctor iuris«, hatte an-
schließend Medizin, Chemie und Mathematik studiert
und kannte sich als einer von wenigen Menschen des
18. Jahrhunderts mit Wahrscheinlichkeiten aus (u.a.
auch deshalb wurde Casanova mit der Organisation
der französischen Nationallotterie betraut). Außerdem
dilettierte er als Ingenieur und Unternehmer, er leitete
eine Manufaktur zur Herstellung und Bemalung von
Seidenstoffen und diskutierte mit Friedrich dem Gro-
ßen über den Betrieb von Wasserspielen. Vielleicht
gerade wegen dieser Vielfalt an Talenten konnte er
aber, von den Erfolgen bei den Frauen abgesehen, in
keiner dieser anderen Sparten nachhaltig reüssieren.
& Lit.: O. Krätz und H. Merlin: Casanova, Liebha-
ber der Wissenschaften, München 1995.

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LexPI Bd. 2 Catgut 57

Catgut
Catgut wird aus Katzendarm gemacht
Die als Catgut (englisch für Katzendarm) bekannten
Nähfäden der Chirurgen wurden einst aus Schaf- und
Ziegendarm gemacht. Heute werden sie synthetisch
hergestellt.
& Lit.: Stichwort »Catgut« in der Encyclopaedia
Britannica, 15. Auflage, Chicago 1994; Stichwort
»Katgut« in Pschyrembel, 267. Auflage, Berlin
1994.

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LexPI Bd. 1 Chamäleon 61

Chamäleon
Das Chamäleon paßt seine Farbe der Umgebung
an
Das Chamäleon kann in der Tat die Farbe wechseln.
Aber wenn, dann wegen Hitze, Kälte, Hunger oder
Angst, nicht, um seine Farbe der Umgebung anzupas-
sen (nachts z.B. wird die Farbe des Chamäleons hel-
ler).
& Lit.: Stichwort »Chameleon« in Encyclopaedia
Britannica, 15. Auflage, Chicago 1976.

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LexPI Bd. 2 Champagner 58

Champagner
Champagner ist eine französische Erfindung
Auch wenn die Franzosen den Ersten Weltkrieg u.a.
mit dem Ziel bestritten haben, den Deutschen das Be-
nennen ihres deutschen Sektes als »Champagner« zu
verbieten (es gibt einen eigenen Abschnitt im Vertrag
von Versailles, der es deutschen Winzern verbietet,
ihren Sekt in diesem Sinne zu vermarkten), erfunden
haben sie den Schaumwein nicht. Vermutlich geht
dieser auf eine Beobachtung von englischen Wein-
händlern des 17. Jahrhunderts zurück, die bemerkten,
daß ihr »normaler« aus der Champagne eingeführter
Wein trotz Abfüllens in Flaschen weitergärte (das lag
an den speziellen in England benutzten Korken). Das
Prickeln, das durch die bei der durchaus ungewollten
zweiten Gärung produzierte Kohlensäure entstand,
schien den Kunden aber zu gefallen, und so hat man
diese Art der Weinbereitung systematisch kultiviert
und beibehalten.
Es ist nicht auszuschließen, daß unabhängig davon
auch Winzer in Frankreich auf ähnliche Gedanken
kamen. Fest steht aber, es waren keine Winzer aus der
Champagne, und es war auch nicht der legendäre Pro-
kurator der Abtei Hautvillers, Dom Pérignon, der dort
von 1668 bis 1715 wirkte und in Frankreich als der
Erfinder des Champagners gilt (dieser Anspruch geht
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Champagner 58

auf eine nachgewiesenermaßen gefälschte Urkunde


aus dem Jahr 1880 zurück).
& Lit.: Helmut Arntz: Deutsches Sektlexikon, Wies-
baden 1987; Stichwort vorgeschlagen von Mich-
ael Freitag.

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LexPI Bd. 1 Chartanalyse 61

Chartanalyse
Mit »Charts« läßt sich an der Börse Geld verdie-
nen (s.a. ð »Aktien« und ð »Börsenprofis«)
Die sogenannte »Börsensoftware«, die den Aktien-
käufern und -verkäufern anhand von gleitenden
Durchschnitten, Trendgeraden, Dreiecksformationen
und Kopf-Schulter-Kursverläufen sagt, wann sie zu
kaufen und zu verkaufen haben, macht nur die Soft-
warehäuser reich; von »Aktia Online«, »Brokis« oder
»Chartheft« über »Option Machine« und »Prognos«
bis zu »Tai-Pan« oder »Winchart« nützen sie nur die
Dummheit ihrer Käufer aus. Wie ein empirischer Test
nach dem anderen beweist, kann man aus vergange-
nen Kursen keine Schlüsse auf die künftige Entwick-
lung eines Wertpapieres ziehen, und sind alle derarti-
gen Versuche nichts als Kaffeesatzleserei.
Die wahren Börsenprofis wissen das sehr wohl;
ihre Kursprognosen sind meistens von der Sorte:
»Wenn der Hahn kräht auf dem Mist / ändert sich das
Wetter / oder es bleibt, wie es ist«. So ist man hinter-
her immer auf der richtigen Seite.
Aktienmärkte scheren sich nicht um die Vergan-
genheit; sie rollen das Weltgeschehen quasi aus der
Zukunft auf: Ein Investor, der ein Wertpapier zu
einem »korrekten« alias »fundamental gerechten«
Preis erwerben will, fragt nicht danach, was das Pa-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Chartanalyse 62

pier vor einem Jahr gekostet hat; er will wissen, was


das Papier ein Jahr später kosten wird. Der Börse
zählt allein die Zukunft; sie schaut wie ein Steuer-
mann im Nebel nur nach vorne, nie nach hinten, sie
ändert ihren Kurs in aller Regel nur dann, wenn aus
diesem Nebel neue, bis dato nicht bekannte Fakten
sichtbar werden.
Diese Fakten sind vorher nicht bekannt, sonst
wären sie nicht neu. Mit anderen Worten, sie erschei-
nen zufällig, und damit sind auch Auf und Ab der
Kurse zufällig: Aktuell kann niemand sagen, ob die
nächste Nachricht Gutes oder Böses bringen wird, ob
der für das nächste Jahr erwartete Kurs und damit per
Umweg über die geforderte Rendite auch der aktuelle
Kurs nach oben oder unten anzupassen ist. Die einzi-
ge Konstante ist die erwartete Rendite, die diese bei-
den Kurse verbindet (in Deutschland inflationsberei-
nigt etwa 5%), und deshalb muß die beste Prognose
des künftigen Kurses immer der aktuelle Kurs plus
diese geforderte Rendite sein.
Diese Theorie wird durch die Wirklichkeit bemer-
kenswert bestätigt, besser jedenfalls als die meisten
anderen ökonomischen Theorien, und daher ist es
auch sinnlos, in dem Heuhaufen vergangener Kurse
nach Informationen über die künftige Entwicklung
herumzustochern. Von kleinen Kalendereffekten und
anderen Anomalien abgesehen läßt sich auf Aktien-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Chartanalyse 62

märkten durch Kurvenanalyse langfristig keine müde


Mark verdienen. Auch wenn der eine oder andere
Chartist so wie im Lotto einmal einen Treffer landet,
das Gewerbe der Kurvenleser insgesamt kann seine
Meister nicht ernähren, und systematische Treffer bei
Kursprognosen sind so häufig wie systematische
Hauptgewinne in einer Lotterie.
Die einzige Möglichkeit zur Verbesserung der Pro-
gnose »aktueller Kurs plus erwartete alias geforderte
Rendite« sind Insiderinformationen, wie auf einem
Schiff im Nebel, das anders als die anderen ein Ra-
dargerät besitzt. Aber selbst solche Insider schöpfen
ihren Vorsprung nicht aus der Vergangenheit, sondern
daraus, daß sie weiter als andere in die Zukunft sehen;
außerdem tragen sie gerade durch ihre Aktivitäten
selber dazu bei, den aktuellen Kurs auf das Niveau zu
heben oder auch zu drücken, das mit der Zukunft
kompatibel ist.
& Lit.: Clive Granger und Oskar Morgenstern: Pre-
dictability of stock market prices, Lexington
1970; S.J. Taylor: Modelling financial time se-
ries, New York 1986; W. Krämer: Stichwortarti-
kel »Kapitalmarkteffizienz« in: Handwörterbuch
des Finanz- und Börsenwesens, 2. Aufl., Stuttgart
1994; »Börsensoftware«, mehrteilige Serie im
Handelsblatt, 1994/1995.
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LexPI Bd. 1 China 63

China
Chinesen haben gelbe Haut (s.a. ð »Indianer«)
Ein typischer Chinese ist nicht gelber als ein typischer
Franzose – an der Haut allein sind Europäer und Chi-
nesen nicht zu unterscheiden.
Bei der ersten Begegnung des Fernen Ostens mit
Europa ist auch von einer »gelben« Rasse keine Rede.
»Di nostra qualità« – »von unserer Art« seien die
Chinesen, berichtet der italienische China-Reisende
Andrea Corsali 1515, und einige Jahre später hält der
kaiserliche Geheimschreiber Transsylvanus aufgrund
von Aussagen heimkehrender portugiesischer Seeleute
fest, die Chinesen seien »ein weißhäutiges Volk mit
recht hochstehendem Gemeinwesen, ... das unserem
Deutschen ähnelt«.
Zum ersten Mal taucht die Farbe gelb im 18. Jahr-
hundert auf, als man begann, die Menschen in Rassen
aufzuteilen; weil man dazu eine »Zwischenrasse«
zwischen den Weißen im Norden und den Schwarzen
im Süden brauchte, erfand man die Gelben – zunächst
die Inder, dann auch die Chinesen wurden per Dekret
für gelb erklärt. Nach einem damals sehr beliebten
Handbuch des Göttinger Medizinprofessors Johann
Friedrich Blumenbach ist die sog. »kaukasische
Rasse« von weißer Farbe, die mongolische Rasse da-
gegen »meist waizengelb (theils wie gekochte Quit-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 China 63

ten, oder wie getrocknete Citronschaalen)«, die ameri-


kanische Rasse »kupferroth« und die afrikanische
Rasse schwarz.
Diese Urteile wurden meist zu Hause am Schreib-
tisch aufgrund von heute eher lächerlich anmutenden
theoretischen Überlegungen getroffen (Beispiel: Asia-
ten erkranken oft an Gelbsucht; deshalb bleiben sie
für den Rest des Lebens gelb), in der Regel ohne die
Objekte dieser Eingruppierung je von Angesicht zu
Angesicht zu sehen, nur unterstützt von einer Vorlie-
be der Chinesen selber für die Farbe gelb: »Sooft ich
an meine Kindheit zurückdenke«, schreibt der letzte
Kaiser Pu Yi in seinen Erinnerungen, »legt sich ein
Schleier von Gelb über meine Erinnerungen: Die gla-
sierten Dachziegel waren gelb, die Sänfte war gelb,
das Futter meiner Kleider und Hüte, die Schalen und
Teller, aus denen ich aß und trank, waren gelb ... Es
gab nichts um mich, was nicht gelb war.«
Mit dieser Vorliebe für gelb (der »gelbe Fluß«, der
mythologische »gelbe Kaiser«, alles Große, Göttliche
war gelb) kamen die Chinesen den klassifizierungs-
wütigen europäischen Naturforschern quasi auf hal-
bem Weg entgegen, auch wenn ihre Haut dadurch
kein bißchen gelber wurde.
& Lit.: Walter Demel: »Wie die Chinesen gelb wur-
den«, Historische Zeitschrift 255, 1992, S.
625–666.
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LexPI Bd. 2 China. 58

China
Im alten China trugen die Männer Zöpfe
Im alten China trugen Männer keine Zöpfe; erst die
zopftragenden Mandschu, die ab Mitte des 17. Jahr-
hunderts als Fremde über China herrschten, zwangen
die Chinesen, so wie die Mandschu einen Zopf zu tra-
gen. Aber dieses aufgezwungene Tragen eines Zopfes
wurde von den Chinesen eher als demütigend empfun-
den und bei der ersten Gelegenheit auch wieder abge-
schafft.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Chinesische Mauer 1 59

Chinesische Mauer 1
Die Chinesische Mauer und das Aachener Groß-
klinikum sind die einzigen Gebäude auf der Erde,
die man vom Mond mit bloßem Auge sehen kann
Zumindest der erste Teil dieser Behauptung wurde
und wird noch immer gern geglaubt (der zweite Teil
ist ein Kommentar von Norbert Blüm zum Wachstum
des deutschen Medizinbetriebs). In Wahrheit sind
aber beide Teile dieses Satzes falsch; die Chinesische
Mauer ist maximal zehn Meter breit, ein solches Ob-
jekt ist vom Mond, d.h. aus 300.000 km Abstand, ge-
nausogut zu sehen wie ein 1 mm breiter Bindfaden
aus 30 km Entfernung – nur mit einem starken Fern-
rohr, aber nicht mit bloßem Auge. Allenfalls die Spa-
celab- oder Shuttle-Astronauten können noch die
Mauer sehen – wenn die Sonne sehr tief steht und die
Mauern lange Schatten werfen. Aber diese fliegen
auch nicht 300.000 km, sondern nur einige Hundert
km über dieser Mauer.
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's? Die Chinesi-
sche Mauer kann man vom Mond aus mit bloßem
Auge erkennen«, Die Zeit, 18.7.1997; Stichwort
vorgeschlagen von Manfred Alberti.

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LexPI Bd. 2 Chinesische Mauer 2 59

Chinesische Mauer 2
Die Chinesische Mauer ist die längste Grenzbefe-
stigung der Welt
Die Chinesische Mauer ist 2000 km kürzer als der
»Große Australische Hundezaun«; mit einer Gesamt-
länge von 5530 km ist dieser die längste feste Grenze
auf der Welt.
Der Große Australische Hundezaun zieht sich quer
durch den Osten des Kontinents von der Großen Au-
stralischen Bucht im Süden durch die Weiden und
Wüsten der Bundesstaaten South Australia, New
South Wales und Queensland bis zum Pazifischen
Ozean bei Brisbane, wo er kurz vor dem Meer in den
Äckern und Baumwollfeldern des Küstenstreifens
endet, und er trennt keine Menschen, sondern Tiere:
Dingos auf der einen und Schafe auf der anderen
Seite. Ende des 19. Jahrhunderts als lokaler Schutz
begonnen, dann immer mehr erweitert, schließlich zu
einem einzigen, den Kontinent zertrennenden riesigen
Drahtgeflecht verbunden, schützt er die riesigen
Schafherden des australischen Südostens vor den Din-
gos, den vor mehreren Tausend Jahren von asiati-
schen Seefahrern nach Australien gebrachten wilden
Hunden, die sich gedacht haben: Jetzt ist Weihnach-
ten und Ostern auf einmal, als sie die ersten europäi-
schen Siedler mit ihren Schafen sahen.
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LexPI Bd. 2 Chinesische Mauer 2 60

Dingos fressen alles, was sich im Busch bewegt,


Schlangen, Känguruhs, Kaninchen, auch Kälber, am
liebsten aber Schafe, und sie haben schon manchen
Schafzüchter in den Ruin getrieben. Als diese daher
merkten, daß Fallen stellen, Gift verstreuen oder Prä-
mien für tote Dingos auszusetzen nicht mehr halfen,
zäunten sie ihre Schafreviere einfach ein, verbanden
diese Zäune dann peu à peu zu immer größeren Gebil-
den (»The dog fence« im Bundesstaat South Austra-
lia, »The border fence« im Bundesstaat New South
Wales, »The barrier fence« im Bundesstaat Queens-
land) und schlossen diese schließlich 1960 zu einem
einzigen Zaun – dem Großen Australischen Hunde-
zaun – zusammen.
& Lit.: Stichwort »Dingo« in der MS Microsoft En-
zyklopädie Encarta, 1994; »Travelling the Austra-
lian Dog Fence«, National Geographic 191, April
1997, S. 18–37.
¤ Der Große Australische Hundezaun – die längste
Grenzbefestigung der Welt

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LexPI Bd. 2 Chinesische Sprache 61

Chinesische Sprache
Es gibt eine chinesische Sprache
Eine Sprache namens Chinesisch gibt es nicht, es gibt
nur diverse Dialekte wie Mandarin oder Kantone-
sisch, aber keine »Hochsprache«, die alle diese Dia-
lekte überdeckt, so wie das Hochdeutsche das Platt-
deutsche und das Bayrische überdeckt. Ein Chinese,
der von Shanghai Richtung Peking reist, gleicht
sprachlich einem Bayern auf den Nordseeinseln; aber
anders als ein Bayer auf den Nordseeinseln kann er
sich mit seinen Gastgebern nicht auf einen gemeinsa-
men Nenner einigen, einen solchen gemeinsamen
Nenner gibt es für Chinesen nicht.
Das einigende Band der Chinesen ist nicht die
Sprache, sondern die Schrift – eine auf Symbolen auf-
bauende Bilderschrift wie die Figuren und Symbole
auf unseren Flughäfen und Bahnhofstoiletten. Wie
man das Gemeinte ausspricht, ist dann nebensächlich,
das Symbol wird überall in China gleich verstan-
den ...
& Lit.: Eduardo Fazzioli: Gemalte Wörter, Bergisch
Gladbach 1987; Stichwort vorgeschlagen von Al-
fredo Grünberg.
¤ Chinesisch für »Frau«: je nach Dialekt verschieden
ausgesprochen, aber als Schrift überall gleich ver-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Chinesische Sprache 61

standen

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Cholesterin 64

Cholesterin
Hohe Cholesterinwerte im Blut sind zu bekämp-
fen
Ein Übermaß an Cholesterin alias Blutfett soll unsere
Arterien verkalken und so alle möglichen Herz-Kreis-
laufkrankheiten bewirken, aber wenn man verschiede-
nen neuen Studien dazu glauben darf, ist das Reduzie-
ren eines tatsächlich oder vermeintlich zu hohen Blut-
fettspiegels oft gefährlicher als dieser Blutfettspiegel
selbst. Denn auch wenn es stimmt, daß dann das Risi-
ko von gewissen Krankheiten abnimmt, das Risiko
von anderen Krankheiten nimmt dadurch zu, und das,
worauf es letztlich ankommt, die Lebenserwartung
nämlich, bleibt genauso wie sie vorher war.
So hat eine amerikanische Forschergruppe von der
Universität Pittsburg herausgefunden, daß Patienten,
deren Blutfettwerte mit welchen Mitteln auch immer
gesenkt worden waren, öfter als andere tödlich
verunglückten, Selbstmord begingen oder Opfer von
Gewaltverbrechen wurden (Muldoon et al., 1990);
wie die Forscher meinen, fördert Blutfettsenkung un-
sere Aggression. Deshalb wird der Netto-Nutzen der
Cholesterinsenkung von vielen Medizinern immer
mehr bezweifelt.
Daß diese und ähnliche Wahrheiten über die Ne-
benwirkungen von Blutfettsenkung sich nur schwer
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Cholesterin 64

verbreiten, liegt vor allem an den Interessen derer, die


an der Cholesterinhysterie so gut verdienen, und die
vor allem solche Studien zitieren, die günstige Effekte
bei Blutfettsenkung finden: Wie eine Auswertung der
einschlägigen Literatur ergab (Ravnskov 1992), wer-
den Studien, die Blutfettsenkung unterstützen, im
Durchschnitt fünf- bis achtmal häufiger zitiert als Stu-
dien mit widersprüchlichen oder ungünstigen Ergeb-
nissen.
& Lit.: Matthew F. Muldoon et al.: »Lowering cho-
lesterol concentrations and mortality: a quantitati-
ve review of clinical prevention trials«, British
Medical Journal 301, 1990, 309–314; U.
Ravnskov: »Cholesterol lowering trials in corona-
ry heart disease: frequency of citation and outco-
me«, British Medical Journal 305, 1992, 15–19;
Dieter Borges: Cholesterin: Das Scheitern eines
Dogmas. Berlin 1993.

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LexPI Bd. 2 Cholesterin. 61

Cholesterin
Cholesterin ist schädlich (s.a. ð »Fett«)
Cholesterin ist für den Körper durchaus nützlich
(ohne Cholesterin z.B. könnte unser Organismus
keine Sexualhormone produzieren, deswegen bewir-
ken cholesterinsenkende Medikamente zuweilen Im-
potenz). Wie immer ist auch hier die Menge und die
Herkunft wichtig: Menschen mit einem hohen Butter-,
Ei- und Milchkonsum z.B. werden eher seltener von
einem Herzinfarkt betroffen als Menschen, die diese
cholesterinhaltigen Lebensmittel meiden.
& Lit.: H.-J. Holtmeier: Cholesterin: Zur Physiolo-
gie, Pathophysiologie und Klinik, Berlin 1996;
Stichwort vorgeschlagen von Max Dienel.

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LexPI Bd. 1 Chop Suey 65

Chop Suey
Chop Suey ist ein typisch chinesisches Gericht
(s.a. ð »Ketchup«)
Chop Suey ist in China unbekannt. Es wurde im 19.
Jahrhundert als »Gericht nach chinesischer Art« in
den USA erfunden; von dort hat es seinen Siegeszug
durch viele China-Lokale auf der Erde angetreten, nur
nicht in China selbst.
& Lit.: H. Haenchen (Hrsg.): Menü, Hamburg 1976.

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LexPI Bd. 2 Coca-Cola 62

Coca-Cola
Ein Stück Fleisch löst sich über Nacht in Coca-
Cola auf
Stimmt nicht, wie der Zeit-Redakteur Christoph Drös-
ser herausgefunden hat: »Nach 24 Stunden in der
Koffeinbrause hat sich das Stückchen Rinderfilet hell-
braun verfärbt, ist sehr mürbe geworden und riecht
übel. Die braune Farbe der Cola ist ausgefällt und
schwebt in Gestalt unappetitlicher Flocken in der
trüben Brühe. Auf der Oberfläche hat sich ein brauner
Schaum gebildet.«
Aber aufgelöst hat sich das Filet nicht. Wahr ist
dagegen, daß ein über Nacht in Cola eingelegter rosti-
ger Nagel entrostet wird und sogar noch einen Anti-
korrosionsbezug erhält.
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's?«, Die Zeit,
21.11.1997.

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LexPI Bd. 2 Code Napoléon 62

Code Napoléon
Der »Code Napoléon« geht auf Napoleon zurück
Der »Code Napoléon« ist das französische Gegen-
stück des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches (kor-
rekter Name: »code civil«). Er regelt in 2281 Artikeln
den Umgang der Franzosen miteinander und hat auch
das Vorbild für ähnliche Gesetzeswerke in Italien,
Spanien, Portugal und Holland abgegeben; anders als
sein Name vermuten läßt, wurde er zwar während der
Regierung Napoleons, aber durchaus ohne dessen
Mitwirkung verfaßt (die wichtigsten Autoren waren
die Juristen F.-D. Tronchet, F. Bigot de Prémaneu,
J.-E.-M. Portalis und J. de Meleville; der Code trat
1804 in Kraft).
& Lit.: Stichwort »Code« in der Brockhaus Enzyklo-
pädie, Wiesbaden 1990; Stichwort vorgeschlagen
von H. van Maanen.

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LexPI Bd. 1 Colosseum 65

Colosseum
Im römischen Colosseum wurden Christen abge-
schlachtet
Auch wenn verschiedene Romane und Theaterstücke
uns anderes erzählen (siehe etwa »Androkles und der
Löwe« von George Bernard Shaw): Im Colosseum
wurden niemals Christen den Löwen oder irgendwel-
chen anderen Tieren vorgeworfen, noch wurden sie
hier ganz »normal« getötet. Die Christen, die im alten
Rom als Märtyrer gestorben sind, haben ihren Tod
woanders gefunden, nicht im Colosseum.
& Lit.: Stichwortartikel »Coliseum« in Catholic En-
cyclopaedia, Chicago 1963.

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LexPI Bd. 2 Computer 1 63

Computer 1
Die Computer sind der Hauptmotor des wirt-
schaftlichen Produktivitätsfortschritts
Computer tragen weit weniger zur Produktivität der
Wirtschaft bei, als viele glauben; die »Produktivitäts-
wunder« (»productivity miracles«), die viele von der
Computerisierung der modernen Welt erhoffen, sind
bislang leider ausgeblieben: Gemessen am Sozialpro-
dukt pro Arbeitsstunde sind wir heute nicht viel wei-
ter als vor 20 Jahren, verglichen mit der Erfindung
des Fließbands Anfang des Jahrhunderts ist die Erfin-
dung des Computers für die Wirtschaft eine Margina-
lie gewesen.
Wahr ist: Die Computer selber werden immer effi-
zienter. Wahr ist aber auch: Computer sind für unsere
Wirtschaft längst nicht so wichtig, wie die meisten
glauben, oft behindern sie sogar den Fortschritt, statt
ihn zu befördern. Daten kann man nicht essen, und
die Datenverarbeitung ist eine brotlose Kunst, wenn
sie wie oft zu beobachten zum Selbstzweck wird. Mil-
liarden von Arbeitsstunden werden aufgewendet, nicht
um irgend etwas Nützliches zu produzieren, sondern
um Computer aufzustellen und zu warten, in vielen
Universitäten und Behörden verbringen immer mehr
Menschen immer mehr Dienststunden nicht damit,
Kunden zu bedienen oder Akten zu besorgen, sondern
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Computer 1 63

damit, vor Computern herumzusitzen und überflüssi-


ge Informationen zu verdauen oder die jeweils letzten
Versionen der zum Bearbeiten der Akten nötigen Pro-
gramme einzuüben (die Autoren dieses Buches haben
einen guten Teil der letzten Monate damit zugebracht,
nicht diesen Text zu schreiben, sondern das Manu-
skript von Word 5.0 auf Word '97 umzustellen). Zieht
man daher von den unbestrittenen Vorteilen der EDV,
vor allem in der Beschleunigung von Routine-Abrech-
nungs- und Adressierfunktionen, die Nachteile ab, die
überhaupt erst durch die EDV entstanden sind, so
bleibt von den Wundern der EDV-Revolution nicht
allzuviel zurück – manche Wissenschaftler meinen,
daß die Welt von heute nicht viel ärmer wäre, hätte
man die Rechner nie erfunden.
& Lit.: Alan S. Blinder und Richard E. Quandt:
»The computer and the economy«, Atlantic
Monthly 12/1997.

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LexPI Bd. 2 Computer 2 64

Computer 2
Computerfreaks sind Menschenfeinde
Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Al-
lensbach fürchten 52% aller Bundesbürger, Computer
könnten schlimme Folgen für die Menschen haben –
Computerfreaks zögen sich immer mehr in die eige-
nen vier Wände zurück, sie würden so zu Menschen-
feinden.
In Wahrheit haben Computerfachleute aber eine
»überdurchschnittlich stark ausgeprägte kommunika-
tive Persönlichkeit«, so Allensbach, sie trügen dazu
bei, »den Zug in Richtung auf eine hochtechnisierte
Informationsgesellschaft« auf humane Weise anzu-
treiben.
Andere Forscher haben Gleiches festgestellt. »Ent-
gegen der Annahme, daß intensive Computernutzung
zu Persönlichkeitsstörungen führt, konnten wir bei
unserer studentischen Stichprobe feststellen, daß gera-
de die expliziten Computerhasser und die distanziert
unerfahrenen StudentInnen durch hohe Werte auf der
zusammenfassenden Neurotismus-Skala (...) auffal-
len«, berichten Psychologen aus der Universität Düs-
seldorf; auch sie fanden unter den Computerfreunden
eher menschenfreundliche Naturen. »Solche Jugendli-
che verfügen über Ausgeglichenheit und Selbstver-
trauen und sind reif, belastbar, emotional stabil und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Computer 2 64

kontaktbereit.«
& Lit.: Georg Gittler und Willy Kriz: »Jugendliche
und Computer: Einstellungen, Persönlichkeit und
Interaktionsmotive«, Zeitschrift für experimentelle
und angewandte Psychologie 49, 1992, S.
171–193; Matthias Petzold, Manuela Romahn
und Sabine Schikorra: »Persönlichkeitseinstellun-
gen und Computernutzung bei Studentinnen und
Studenten«, Medien + Erziehung 6/1996; »Um-
frage: Computer machen nicht einsam«, Borkener
Zeitung, 8.3.1997; Stichwort vorgeschlagen von
Jens Sylvester.

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LexPI Bd. 2 Coriolis-Kraft 64

Coriolis-Kraft
Wegen der Coriolis-Kraft dreht sich das Bade-
wasser am Abfluß immer linksherum
Das Badewasser dreht sich am Abfluß einmal links-
herum und einmal rechtsherum, wie es der Zufall will.
Die sogenannte Coriolis-Kraft, die etwa dafür sorgt,
daß sich großflächige Hoch- und Tiefdruckwirbel auf
der Nordhalbkugel unserer Erde wie der Uhrzeiger
(Hoch) oder gegen den Uhrzeiger (Tief) bewegen, ist
viel zu schwach, um unser Badewasser umzulenken.
Wegen der Coriolis-Kraft wird ein Riese, der auf
dem Nordpol steht und einem zweiten Riesen am
Äquator einen Ball zuwirft, seinen Kompagnon ver-
fehlen: Wenn der Ball den Äquator erreicht, hat die
rotierende Erde den Fänger weggedreht, die Coriolis-
Kraft lenkt alle Materie nach links, die sich auf der
Nordhalbkugel von Norden nach Süden bewegt (und
umgekehrt auf der Südhalbkugel: hier lenkt sie alle
nordwärts strebende Materie nach rechts). Aber an-
ders als uns manche Physik-Lehrbücher lehren, reicht
die Coriolis-Kraft nicht aus, die Abflußrichtung unse-
res Badewassers zu bestimmen, dazu ist sie viel zu
klein.
& Lit.: Paul A. Tipler: Physik, Heidelberg 1994 (be-
sonders Kapitel 5.4: »Scheinkräfte«); Stichwort
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Coriolis-Kraft 65

»Bad meteorology« über die Internet-Adresse


www.ems.psu.edu/fraser/bad/badCoriolis.html.

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LexPI Bd. 2 Croissants 65

Croissants
Croissants kommen aus Frankreich
Croissants kommen nicht aus Frankreich, sondern aus
Österreich, genau gesagt aus Wien, wo sie 1683 wäh-
rend der Belagerung durch die Türken erfunden wur-
den. Der Legende nach hörten Wiener Bäcker bei
ihrer nächtlichen Arbeit die Türken einen Tunnel gra-
ben, um die Stadt von unten einzunehmen; sie alar-
mierten die Wachsoldaten und vereitelten den türki-
sche Plan; zur Erinnerung kreierten die Bäcker das
bekannte halbmondförmige Backwerk, das sie mit
dem eleganten Namen »Croissant« (frz.: Halbmond)
schmückten.
& Lit.: Helmut Haenchen (Hrsg.): Menü. Das große
moderne Kochlexikon, Hamburg 1978.

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LexPI Bd. 2 Curry 65

Curry
Curry ist ein indisches Gewürz
Curry – vom tamilischen »kari« (= Soße oder
Tunke) – ist kein Gewürz, sondern eine Mischung
von Gewürzen: u.a. Anis, Zimt, Paprika, Ingwer,
Kümmel, Pfeffer, Nelken, Muskat, Mohnsamen und
Koriander.
& Lit.: J. Rani: Feast of India, Neu-Delhi 1991;
Stichwort vorgeschlagen von Tobias Krämer.

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D 66

»Der Mensch ist bereit, für jede Idee zu sterben,


vorausgesetzt, daß ihm die Idee nicht ganz klar
ist.«
G.K. Chesterton

»Ein aufrichtiger Irrtum ist keine Lüge,


er ist nur ein Schritt auf die Wahrheit zu.«
Romain Rolland

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LexPI Bd. 2 Dalai Lama 66

Dalai Lama
Ein typischer Bundesbürger kennt den Dalai
Lama nur über viele Zwischenstationen
Jeder Leser dieser Zeilen kennt nach vier bis fünf Sta-
tionen (= gemeinsamen Bekannten) jeden anderen
Menschen dieser Erde, auch den Dalai Lama.
Ein erwachsener Mensch hat typischerweise zwi-
schen 1000 und 2000 Bekannte, also Leute, die er mit
Namen kennt und die auch ihn mit Namen kennen.
Dieser Kreis von unmittelbaren Bekannten explodiert
jedoch geradezu, wenn wir zu den Bekannten dieser
Bekannten übergehen. Diese mittelbaren Bekannten
vermehren sich nämlich nicht additiv, wie viele hier
intuitiv unterstellen, sondern multiplikativ: Die tau-
send Bekannten unserer Bekannten sind nicht zu un-
seren eigenen Bekannten hinzuzuzählen, sondern mit
unseren eigenen Bekannten malzunehmen. Wenn
jeder unserer eigenen – sagen wir tausend – Bekann-
ten wieder tausend Menschen kennt, und wenn es
dabei keine Überlappungen gibt, sind wir schon nach
einem einzigen Zwischenschritt bei tausend mal tau-
send = einer Million Bekannten zweiter Stufe ange-
kommen!
Auch wenn die jeweils tausend Bekannten unserer
eigenen Bekannten nicht alle verschieden sind (was
auch unmöglich ist, denn mindestens eine Person –
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Dalai Lama 66

wir selber – kommt sogar in allen diesen Mengen


vor), so nimmt doch der Bekanntenkreis mit dieser
zweiten Stufe ungeheuer zu: Wenn wir einmal unter-
stellen, daß nur hunderttausend dieser einen Million
Bekannter zweiter Stufe wirklich unterschiedliche
Personen sind, so ist trotzdem die Wahrscheinlichkeit
recht groß, daß ein zufällig ausgewählter Bundesbür-
ger, etwa unser Sitznachbar im ICE, zumindest einen
davon kennt; sie beträgt
1 - (79.900.000/80.000.000)1000 = 71,4%
Das heißt, mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als
zwei Drittel sind wir mit einem beliebig ausgewählten
Bundesbürger über maximal zwei Stationen persön-
lich bekannt.
Bei drei Stationen ist die Wahrscheinlichkeit für
eine Bekanntschaft nochmals größer, und bei vier Sta-
tionen bleibt fast niemand in der Republik mehr
übrig, der nicht mit uns selber über die eine oder an-
dere Bekanntenkette zusammenhängt.
Nun ist der Dalai Lama kein Bundesbürger; aber es
reicht, wenn er einen einzigen Bundesbürger kennt:
Wenn wir zu diesem Zwischenglied drei Schritte
brauchen, dann sind es bis zum Dalai Lama vier.
& Lit.: S. Milgram: »The small world problem«,
Psychology Today, Mai 1967; M. Kochen
(Hrsg.): The small world, Norwood 1989; W.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Dalai Lama 67

Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus der Welt des


Zufalls und der Zahlen, Frankfurt a.M. 1995.

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LexPI Bd. 1 Dampfmaschine 66

Dampfmaschine
Die Dampfmaschine ist eine Erfindung von James
Watt
Die erste Dampfmaschine wurde 1655 von Edward
Somerset, Marquis und Earl von Worcester entwor-
fen. Im Jahr 1685 produzierte Denis Papin ein erstes
funktionierendes Modell, und 1712 installierte Tho-
mas Newcomen in Tipton, England, die erste echte
Dampfmaschine – zwei Dutzend Jahre vor James
Watts Geburt.
Das Verdienst von James Watt – kein geringes,
aber eben nicht die Erfindung der Maschine selbst –
bestand vor allem in einer drastischen Steigerung der
Effizienz. Die Maschinen seiner Vorgänger z.B. er-
hitzten und kühlten den Dampf im gleichen Zylinder –
in James Watts Maschine dagegen bleibt der Arbeits-
zylinder immer heiß; der verbrauchte Dampf konden-
siert woanders, die Wärmeenergie wird besser ausge-
nutzt. Durch diese und verschiedene andere Verbes-
serungen war es möglich, Dampfmaschinen nicht nur
wie bis dato zum Betreiben langsamer Pumpen in
Bergwerken, sondern auch in Fabriken und später
dann in Eisenbahnen einzusetzen.
& Lit.: L.T.C. Holt: »Steam engine«, in E. de Bono
(Hrsg.): Eureka!, London 1947; Stichwortartikel
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Dampfmaschine 66

»Steam engine« in Microsoft CD-ROM Enzyclo-


pädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Dampfschiff 66

Dampfschiff
Viele Lexika wie Brockhaus oder Meyer bezeichnen
den 1807 gebauten Dampfer »Claremont« des Ameri-
kaners Robert Fulton als das erste brauchbare Dampf-
schiff der Welt. In Wahrheit hieß Fultons Dampfer
aber »North River Steam Boat«, und er war auch
nicht der erste seiner Art. Schon 1783 hatte ein
Dampfboot des Marquis d'Abbans die französische
Saone befahren, und auch die amerikanischen Inge-
nieure James Ramsey und John Fitch hatten schon vor
Fulton erfolgreich Dampfschiffe betrieben und ge-
baut. Jedoch war Fulton der erste, der das Ganze auch
wirtschaftlich erfolgreich tat, und so trug er allein die
Lorbeeren davon.
Der falsche Name seines Schiffes stammt vermut-
lich von einem Ort namens Clermont, wo Fultons
Boot öfters anlegte.
& Lit.: Ashley Montagu und Edward Darling: The
prevalence of nonsense, New York 1967.
¤ Fulton's erste Dampffähre »Clermont« zwischen
New York und Albany, 1807

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LexPI Bd. 1 Davidstern 67

Davidstern
Der Davidstern ist ein altes jüdisches Symbol
Der sechszackige Davidstern, den die Juden unter der
Naziherrschaft auf den Kleidern tragen mußten, ist
erst sehr spät, im 19. Jahrhundert, zu dem Symbol des
Judentums geworden, als das wir ihn heute kennen.
Damals begannen die Juden, diesen Stern als Kenn-
zeichen ihres Glaubens auf ihren Synagogen anzu-
bringen, so wie die Christen auf ihren Gotteshäusern
ihre Kreuze.
Bis dato hatte man dem Stern keine besondere Be-
deutung beigemessen; er war als eines von vielen ma-
gischen Symbolen auch in anderen Kulturen weit ver-
breitet.
& Lit.: Encyclopedia Judaica, Philadelphia 1971.

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LexPI Bd. 2 Delphine 67

Delphine
Delphine sind Fische
Delphine sind Säugetiere wie die Wale, keine Fische.
Säugetiere sind Warmblütler und atmen durch die
Lunge (außerdem säugen sie ihre Jungen mit Milch
aus Milchdrüsen, daher der Name). Fische dagegen
sind Wechselblütler, sie atmen durch Kiemen und zie-
hen ihre Jungtiere auf, ohne sie zu säugen.
& Stichwort angeregt von Michaela Wieben.

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LexPI Bd. 1 Demokratie 67

Demokratie
Demokratie bedeutet Herrschaft durch das Volk
Als man ihnen sagte, sie seien jetzt in einer Demokra-
tie, sollen zwei blinde Passagiere aus Kuba im Hafen
von Antwerpen voller Panik über Bord gesprungen
und ertrunken sein.
Daran sehen wir zumindest schon einmal das eine:
Demokratie bedeutet verschiedenen Menschen Ver-
schiedenes. Die hierzulande am weitesten verbreitete
Bedeutung ist »Herrschaft durch das Volk«: »Demo-
kratie, Form des polit. Lebens, die die Willensbildung
der Gemeinschaft oder des Staates vom Willen des
gesamten Volkes ableitet« (Brockhaus Kompakt).
Mit dieser Begriffsbestimmung sind viele Denker
aber nicht ganz einverstanden. »Für uns gibt es nur
zwei Regierungsformen«, schreibt etwa der große
Philosoph Karl Popper, »solche, die es den Regierten
möglich machen, ihre Machthaber ohne Blutvergießen
loszuwerden, und solche, die es ihnen nicht möglich
machen oder nur durch Blutvergießen. Die erste die-
ser Regierungsformen nennen wir gewöhnlich Demo-
kratie, die zweite Tyrannei oder Diktatur.«
In diesem Sinn war etwa die Schweiz auch ohne
Frauen-Wahlrecht eine gute Demokratie, das Rußland
Stalins mit seinem allgemeinen Wahlrecht aber nicht.
Denn die Schweiz ließ auch ohne Frauenwahlrecht
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LexPI Bd. 1 Demokratie 68

einen Wechsel der Regierung ohne Blutvergießen zu,


Rußland trotz Frauenwahlrecht aber nicht. Nach die-
ser Sicht der Dinge ist das A und O einer demokrati-
schen Verfassung allein die Leichtigkeit, mit der die
Regierten, wenn sie wollen, ihre Regierer loswerden
können; ob alle oder nur wenige der Bürger an diesem
Hinauswerfen teilhaben, ist erst in zweiter Linie wich-
tig.
& Lit.: Karl Popper: Auf der Suche nach einer bes-
seren Welt, München 1984.

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LexPI Bd. 2 Denk ich an Deutschland in der Nacht ... 67

Denk ich an Deutschland in der Nacht ...


Mit diesen Worten beklagte Heinrich Heine den
desolaten Zustand seines Vaterlandes
Die obigen, gern falsch zitierten Worte Heinrich Hei-
nes galten seiner Mutter; Heines Heimat Deutschland
kommt in dem Gedicht »Nachtgedanken«, das mit
dem berühmten Satz anfängt, eher sorgenfrei und son-
nig vor. Hier das komplette Gedicht:
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.

Die Jahre kommen und vergehn!


Seit ich die Mutter nicht gesehn,
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.

Mein Sehnen und Verlangen wächst.


Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!

Die alte Frau hat mich so lieb,


Und in den Briefen, die sie schrieb,
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LexPI Bd. 2 Denk ich an Deutschland in der Nacht ... 68

Seh ich, wie ihre Hand gezittert,


Wie tief das Mutterherz erschüttert.

Die Mutter liegt mir stets im Sinn.


Zwölf lange Jahre flossen hin,
Zwölf lange Jahre sind verflossen,
Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.

Deutschland hat ewigen Bestand,


Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.

Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,


Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Seit ich das Land verlassen hab,


So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,
So will verbluten meine Seele.

Und zählen muß ich – Mit der Zahl


Schwillt immer höher meine Qual,
Mir ist, als wälzten sich die Leichen
Auf meine Brust – Gottlob! sie weichen!
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LexPI Bd. 2 Denk ich an Deutschland in der Nacht ... 68

Gottlob! durch meine Fenster bricht


Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.

& Lit.: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, Mün-


chen 1971 (die »Nachtgedanken« sind aus dem
Band »Neue Gedichte«); Stichwort angeregt von
Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Deodorant 69

Deodorant
Deos sind neumodische Luxusgüter (s.a. ð
»Schweiß 2«)
Schon die alten Ägypter und Sumerer nutzten Deos:
Sie empfahlen das Einreiben der Achselhöhlen mit
parfümiertem Öl, wofür sie spezielle Zitrus- und Zim-
tölkonzentrate entwickelt hatten, die auch in großer
Hitze nicht ranzig werden konnten. Diese Rezepte
wanderten auch nach Griechenland und Rom, dann
wurden sie vergessen.
Zu den eigentlichen Gründen des Körpergeruchs,
zu den Bakterien, die in feuchten, warmen Achselhöh-
len so prächtig gedeihen, sind aber weder die Ägypter
noch die Griechen noch die Römer vorgestoßen; anti-
ke Deos überdeckten im wesentlichen nur einen Ge-
ruch durch einen anderen, erst vor wenigen Jahrzehn-
ten entlarvte man die Feuchtigkeit und die darin le-
benden Bakterien als die eigentlichen Bösewichte.
& Lit.: C. Panati: Universalgeschichte der ganz ge-
wöhnlichen Dinge, Frankfurt a.M. 1994.

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LexPI Bd. 2 Destilliertes Wasser 69

Destilliertes Wasser
Wer ausschließlich destilliertes Wasser trinkt,
muß sterben
Destilliertes Wasser enthält keine Salze; nach einer
verbreiteten Legende sollen deshalb Menschen, die
nur destilliertes Wasser trinken, ein Opfer der soge-
nannten Osmose werden: Von destilliertem Wasser
umgebene Körperzellen sollen sich demnach bei dem
Versuch, durch Flüssigkeitsaufnahme den Konzentra-
tionsunterschied von Salzen innerhalb und außerhalb
der Zelle auszugleichen, derart vollpumpen, daß sie
schließlich platzen.
Diese Theorie ist aber allein schon deshalb falsch,
weil Menschen den größten Teil der nötigen Salze
und Mineralien über feste Nahrung zu sich nehmen,
die sich dann im Magen mit Getränken aller Art ver-
mengt. Mit anderen Worten: Ob Mineral- oder destil-
liertes oder Kranenwasser, das Wasser, das mit unse-
ren Verdauungsorganen in Kontakt gerät, enthält auf
jeden Fall ausreichend Salz, um diese Osmose zu ver-
hindern.
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's? Wer destil-
liertes Wasser trinkt, stirbt«, Die Zeit, 19.9.1997;
Stichwort angeregt von Christian Kleiber.

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LexPI Bd. 2 Deutsche Autos 70

Deutsche Autos
Deutsche Autos werden in Deutschland herge-
stellt
Jeder dritte Pkw mit deutschem Markenzeichen ver-
läßt inzwischen das Fließband jenseits unserer Lan-
desgrenze, Tendenz steigend: Im Jahr 1990 wurden
insgesamt 1,6 Millionen von insgesamt 6,3 Millionen
Einheiten im Ausland hergestellt, 1996 schon 2,4
Millionen (von insgesamt 6,9 Millionen).
& Lit.: »Mobile Wirtschaft«, Informationsdienst des
Instituts der Deutschen Wirtschaft 17/1997.

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LexPI Bd. 1 Deutsche Sprache 68

Deutsche Sprache
Deutsch wäre um ein Haar die Amtssprache der
USA geworden
Richtig ist, daß Englisch als die Sprache der verhaß-
ten Kolonialmacht England im Nordamerika des spät-
en 18. Jahrhunderts nicht von allen Menschen gern
gesprochen wurde. Und wenn wir den Berichten des
Deputierten Johan Jakob Mühlenberg vertrauen dür-
fen, hat das Englische sogar in einer einschlägigen re-
gionalen Abstimmung nur mit einer einzigen Stimme
gegenüber dem Deutschen die Oberhand behalten.
Aber daraus darf man keine übereilten Schlüsse
ziehen; die Mehrheit der Menschen in den damaligen
englischen Kolonien konnte kein Deutsch, und diese
Abstimmung war wohl eher als Beleidigung der Eng-
länder gedacht.
& Lit.: P.G. Crean: Believe it or not, Toronto 1982.

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LexPI Bd. 2 Deutsche Sprache 1 70

Deutsche Sprache 1
Die »Eindeutscher« des 18. und 19. Jahrhunderts
waren fremdenfeindlich (s.a. ð »Brüderlichkeit
2«)
Schon im 18. und 19. Jahrhundert hatten Freunde der
deutschen Sprache zum Angriff auf Fremdwörterei ge-
blasen. Aber »es wäre ungerecht und geradezu falsch,
der ganzen Verdeutschungsbewegung der letzten Jahr-
hunderte fremdenfeindliche und nationalistische Moti-
ve zu unterstellen« (Zimmer). »Die meisten ›Sprach-
reiniger‹ wurden von keiner Feindseligkeit gegen
Nichtdeutsches getrieben und erst recht nicht von dem
Glauben, daß die deutsche Sprache anderen überlegen
sei.« Diesen Männern, wie Philipp von Zesen oder Jo-
achim Heinrich Campe, ging es vor allem um Ver-
ständlichkeit; statt eines mißverstandenen und ver-
ballhornten Pidgin-Französisch (heute: Pidgin-Eng-
lisch) wollten sie eine »anständige Literatursprache«;
sie glaubten, Sprache solle Menschen verbinden und
nicht Menschen trennen, viele der von ihnen als Er-
satz für mißglückte Fremdwörter erfundenen deut-
schen Wörter (»Brüderlichkeit« für »fraternité«, »Lei-
denschaft« für »passion« oder »Minderheit« für »mi-
norité«, um nur die bekanntesten Beispiele aus den
seinerzeitigen Eindeutschungsbüchern aufzuzählen)
gelten längst nicht mehr als Kunstprodukte; wir wis-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Deutsche Sprache 1 71

sen heute gar nicht mehr, daß sie erfunden wurden.


& Lit.: Dieter E. Zimmer: Deutsch und anders, Rein-
bek 1997.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Deutsche Sprache 2 71

Deutsche Sprache 2
Der moderne Kreuzzug gegen Fremdwörter im
Deutschen wurde von den Nazis ausgerufen
Der vorerst letzte Kreuzzug gegen Fremdwörter im
Deutschen wurde Ende des 19. Jahrhunderts vom
»Allgemeinen Deutschen Sprachverein« ausgerufen –
ein durchaus national gesinnter Club mit dem Motto:
»Gedenke, auch wenn Du die deutsche Sprache
sprichst, daß Du ein Deutscher bist.« Nach 1933 ver-
suchte der Verein, den Nazis seine Ziele anzudienen,
stieß dort jedoch auf wenig Gegenliebe und wurde
1941 wegen Deutschtümelei verboten. »Die Nazis
dachten gar nicht daran, sich ihre Lieblingsfremdwör-
ter anschwärzen oder verbieten zu lassen. Sie hatten
anderes im Sinn als ein Volk nur germanische Wort-
stämme benutzender Untertanen« (Zimmer). »Wenn
irgend etwas unvölkisch ist, dann ist es dieses Herum-
werfen mit besonders altgermanischen Ausdrücken,
die weder in die heutige Zeit passen, noch etwas Be-
stimmtes vorstellen« (Goebbels, 1937).
Es ist also historisch inkorrekt, Fremdwörterphobie
und Nazitum in einen Topf zu werfen.
& Lit.: Peter v. Polenz: »Sprachpurismus und Nati-
onalsozialismus: Die ›Fremdwort‹-Frage gestern
und heute«, in: Germanistik – eine deutsche Wis-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Deutsche Sprache 2 71

senschaft, Frankfurt a.M. 1967; Dieter E. Zim-


mer: Deutsch und anders, Reinbek 1997.

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LexPI Bd. 2 Deutschlandlied 1 71

Deutschlandlied 1
Das »Deutschland, Deutschland über alles« in der
ersten Strophe des Deutschlandliedes steht für
teutonischen Chauvinismus (s.a. ð »National-
hymnen«)
Der Text des Deutschlandliedes, so wie von dem
Breslauer Professor August Heinrich Hoffmann alias
Hoffmann von Fallersleben Mitte des 19. Jahrhun-
derts auserdacht, war zunächst einmal ein Aufruf zur
Überwindung der deutschen Kleinstaaterei des frühen
19. Jahrhunderts, ein Appell an alle deutschen Patri-
oten, mit der Kirchturmpolitik des 18. Jahrhunderts
aufzuhören.
In diesem Sinn sind diese Worte auch schon vorher
vorgekommen: »Wir verdienen wahrlich das Hohn-
gelächter aller Völker und die Hineinspielung der Pla-
gen aller Kriege in unsere Grenzen, wenn wir das
Kleine nicht in dem Großen untergehen lassen wollen,
wenn wir nicht unablässig nach der Einheit streben,
wodurch wir allein unseren Feinden die Spitze bieten
und rufen können: Teutschland über alles, wenn es
will«, schreibt Ernst Moritz Arndt während der Napo-
leonischen Kriege 1813. Durch das ganze, eben aus
den Fesseln Napoleons entkommene Europa ging ein
Ruck der Nationalbegeisterung, »Österreich über
alles, wenn es nur will«, riefen auch die Patrioten wei-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Deutschlandlied 1 72

ter südlich, aber eben nicht als ein Appell zur Front
nach außen, sondern als ein Appell zur Einigkeit nach
innen: Deutschland über Schaumburg-Lippe, Lippe-
Detmold, Anhalt-Köthen, Sachsen-Coburg-Gotha,
Hessen-Nassau, Schwarzburg-Sondershausen, und
wie die Herzogtümer, Großherzogtümer, Grafschaften
und Fürstentümer damals alle hießen.
Hoffmann von Fallersleben war kein pan-teutonis-
cher Chauvinist, sondern ein 48er Demokrat und ein
Anhänger der sogenannten »Freisinnigen«, einer Vor-
gängerpartei der F.D.P. Sein »Lied der Deutschen«
wurde erstmals am 5. Oktober 1841 zur Ehrung des
bedeutenden badischen Liberalen Karl Wencker auf-
geführt und von seinen ersten Anhängern immer nur
als Ruf nach innen, nicht als Drohung nach außen
verstanden. So wie wir heute »Europa über Deutsch-
land, Frankreich, Großbritannien« sagen, so war
»Deutschland über alles« damals als Appell zu sehen,
das Kleine in dem Großen aufzulösen, über den eige-
nen Kirchturmhorizont hinauszublicken. Verglichen
mit den offen blutrünstigen englischen, französischen
und besonders amerikanischen Hymnen ist der Text
von Hoffmann von Fallersleben sehr gemäßigt, »rein-
ste Lyrik« sozusagen (Golo Mann); der Sozialdemo-
krat Friedrich Ebert, den man wohl kaum als Säbel-
rasseler und als pan-teutonischen Nationalisten kennt,
hat ihn mit allen seinen Strophen nach dem Ersten
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Deutschlandlied 1 72

Weltkrieg zur nationalen Hymne vorgeschlagen.


& Lit.: Guido Knapp und Ekkehard Kuhn: Das Lied
der Deutschen: Schicksal einer Hymne, Berlin
1988; Golo Mann: »Kleine Betrachtung zu Nati-
onalhymnen«, in: Die Nationalhymne, Broschüre
des Hessischen Kultusministeriums, Wiesbaden
1989; Eckart Busch und Dieter Brenneis: »Text-
verständnis und Rezeptionsgeschichte des
Deutschlandliedes«, Der aktuelle Begriff
22/1996; Stichwort angeregt von Alfredo Grün-
berg.

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LexPI Bd. 2 Deutschlandlied 2 73

Deutschlandlied 2
Die erste Strophe des Deutschlandliedes ruft zu
territorialen Eroberungen auf
»Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis
an den Belt« sollte nach Hoffmann von Fallerslebens
Meinung das Reich der Deutschen reichen. Anders als
viele glauben, spekulierte er mit diesen Versen aber
nicht auf fremde Länder: Bei der Entstehung des
Deutschlandliedes 1841 umgrenzten Maas, Memel,
Etsch und Belt (= Ostsee) das Gebiet der 38 Staaten,
die zu dem 1815 auf dem Wiener Kongreß gegründe-
ten Deutschen Bund gehörten: im Westen das Her-
zogtum Limburg und das Großherzogtum Luxemburg
(Maas), im Osten Preußen mit Ostpreußen (Memel),
im Süden die Grafschaft Tirol (Etsch), im Norden das
Herzogtum Holstein (Belt). Ergo reklamierte Hoff-
mann von Fallersleben keine Länder anderer Natio-
nen.
& Lit.: Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19.
und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1958; Stich-
wort angeregt von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Deutschlandlied 3 73

Deutschlandlied 3
Das Deutschlandlied war schon im 19. Jahrhun-
dert die Nationalhymne der Deutschen
Kaiser Wilhelm I. fand das Deutschlandlied zu demo-
kratisch; bei der Reichsgründung 1871 ließ er deshalb
das Lied »Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Va-
terlands« zur Nationalhymne erklären.

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LexPI Bd. 1 Diamanten 68

Diamanten
Diamanten können nicht verbrennen
Anders als ihre Fassungen aus Gold und Platin kön-
nen Diamanten sehr wohl brennen. Da sie aus reinem
Kohlenstoff bestehen, verbrennen sie bei Temperatu-
ren über 900° ohne eine Spur zu hinterlassen. Und
solche Temperaturen werden, wenn auch nicht in
»normalen« Bränden, bei ausgedehnten Feuersbrün-
sten wie nach dem Erdbeben von San Francisco oder
in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges
durchaus auch erreicht. Wer also nach einem solchen
Feuer den Familienschmuck vergeblich suchen sollte,
braucht sich nicht zu wundern: die Diamanten haben
sich im wahrsten Sinn des Wortes in Luft aufgelöst.
& Lit.: Isaac Asimov: Buch der Tatsachen, Ber-
gisch-Gladbach 1981.

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LexPI Bd. 1 Diät 69

Diät
Diät macht dünn (s.a. ð »Essen«)
Wir Deutschen essen immer weniger. Trotzdem wer-
den wir immer dicker. Und nicht nur wir:
»Throughout the western world, an obsession with
diet and dieting seems to be coupled with an increase
in obesity« (New Scientist). Trotz einer fast hysteri-
schen Besessenheit mit Abnehm-Prozeduren aller Art
nimmt das mittlere Körpergewicht der Erwachsenen
in fast allen reichen Industrienationen dieser Erde
ständig zu. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
meldet einen Anteil von übergewichtigen bis fetten
(»adipösen«) Männern und Frauen von 18% (18- bis
24jährige) bis 75% (55- bis 64jährige), und ähnliche
Zahlen kommen auch aus anderen reichen Industrie-
nationen wie den USA; dort sind 43% aller erwachse-
nen Männer und 40% aller erwachsenen Frauen über-
gewichtig bzw. adipös, in Kanada sogar 49% der
Männer und 40% der Frauen, in England 40% und
32%, in Australien 41% und 31%, und in den Nieder-
landen 38% und 30%. Und was das sonderbare ist:
Diese Zahlen sind nicht nur absolut gesehen hoch,
sondern trotz rückläufigen Kalorienverbrauchs auch
noch höher als sie vor zehn bis zwanzig Jahren
waren, soweit die einschlägigen Statistiken einen Ver-
gleich erlauben.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diät 69

Es ist also ein Irrtum, daß Diäten dünner machen.


Diäten machen dicker. Wenn man der aktuellen Ex-
perten-Mehrheitsmeinung glauben darf, dann sind die
meisten Diäten nicht nur nutzlos, sondern sogar kon-
traproduktiv, dann haben ganze Generationen von
Nachkriegs-Europäern und Europäerinnen umsonst
gehungert, dann werden wir immer dicker, nicht ob-
wohl, sondern weil wir immer weniger an Kalorien zu
uns nehmen.
Die meisten Diäten vergessen oder ignorieren
nämlich, daß unser Körpergewicht nicht nur von den
Kalorien abhängt, die wir essen, sonderen langfristig
noch viel entscheidender von den Kalorien, die wir
verbrauchen. Unsere Körpermasse ist wie Wasser in
der Badewanne: oben fließt Wasser in die Wanne hin-
ein, unten fließt es heraus. Fließt mehr Wasser zu als
ab, wird die Badewanne voller. Fließt mehr Wasser
ab als zu, wird die Badewanne leerer. Und die mei-
sten Diäten kümmern sich vor allem um den Zufluß;
den Abfluß nehmen sie als gottgegeben hin (verständ-
licherweise, denn sonst würde keiner diese Bücher
kaufen).
In Wahrheit ist jedoch der Abfluß durchaus wichtig
und vor allem variabel. Schon eine simple Über-
schlagsrechnung zeigt, daß die Abflußrate mit der
Menge der Nahrung, die wir aufnehmen, variieren
muß; schon nach den reinen Gesetzen der Logik kann
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diät 69

das gar nicht anders sein. Wäre nämlich diese Abfluß-


rate unabhängig von der Nahrungsaufnahme immer
gleich, müßte z.B. eine tägliche Extraflasche Bier mit
sagen wir 300 Kalorien alle vier bis fünf Wochen ein
Extrakilo Körperfett erzeugen (ein Kilogramm Fett =
9100 [Kilo-]Kalorien = 30,3 Flaschen Bier = Kon-
sum von vier bis fünf Wochen). Mit anderen Worten,
wer solange statt Wasser Bier zum Essen trinkt, ist
hinterher – wenn diese Rechnung stimmt – ein Kilo
schwerer als er oder sie sonst gewesen wäre. Nach 8
Wochen ist er oder sie dann zwei Kilo schwerer, nach
80 Wochen 20 Kilo, nach 800 Wochen 200 Kilo, und
nach einem erfüllten Biertrinkerleben von 4000 Wo-
chen oder 77 Jahren genau 1000 Kilo oder eine
Tonne.
Das kann jedoch nicht stimmen. Ein Gegenbeweis
sitzt vor der Schreibmaschine, auf der diese Zeilen ge-
rade entstehen. Der Autor trinkt seit 25 Jahren pro
Tag rund zwei bis vier Glas Bier bzw. Wein mehr als
für das Überleben nötig wäre, und müßte nach dieser
Logik heute 300 bis 400 Kilo wiegen (verglichen mit
den bescheidenen 88, die er wirklich auf die Waage
bringt).
Diese aus der Alltagserfahrung abgeleitete Wider-
legung der »9100 Kalorien = ein Kilo Fett« – Theorie
wird durch verschiedene Experimente bestätigt. An-
fang des Jahrhunderts hat der deutsche Mediziner
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diät 70

R.O. Neumann per Selbstversuch über mehrere Mo-


nate täglich 800 Kalorien mehr konsumiert als sonst –
und wurde nach anfänglicher Gewichtszunahme trotz
800 Extrakalorien kaum noch dicker. In den 60er Jah-
ren wurde dieses Experiment in den USA mit mehrer-
en Dutzend Freiwilligen und mit 1000 Extrakalorien
täglich wiederholt, mit dem gleichen Resultat: »Es er-
eignete sich eine deutliche Anpassung an die Kalo-
rienzufuhr, dergestalt daß die Gewichtszunahme im
Lauf des Experiments stetig weniger wurde. Jedoch
gab es bemerkenswerte Schwankungen von Indivi-
duum zu Individuum, und es ist schon bemerkenswert
[quite remarkable], wie einige Personen mehr als
10000 Extrakalorien in der Woche konsumieren und
dabei abnehmen.« (Eigene Übersetzung; zitiert nach
Cannon und Einzig) Ganz offensichtlich paßt sich
also unser Körper an die Extrakalorien an, und eta-
bliert nach einiger Zeit ein neues, wenn auch erhöhtes
Gleichgewicht.
Der zweifelhafte Wahrheitsgehalt der »9100 Kalo-
rien = ein Kilo« – Theorie wird sogar noch deutlicher,
wenn wir den umgekehrten Fall betrachten, daß je-
mand, der bisher zu Mittag immer ein Glas Bier ge-
trunken hat, fortan stattdessen Wasser trinkt; sonst
soll die Nahrung unverändert bleiben. Nach vier Wo-
chen hätte diese Person dann ein Kilo Körperfett ver-
loren, nach 40 Wochen 10 Kilo, und nach 400 Wo-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diät 70

chen oder etwas mehr als sieben Jahren 100 Kilo –


bei einem Ausgangsgewicht von 88 Kilo würde sie
dann minus 12 Kilo wiegen.
Da dies aber auf dieser Erde nur schwer möglich
ist, bleibt nur die Konsequenz, daß die Abflußrate,
daß das Loch in unserer Kalorienbadewanne variabel
ist. Und vor allem: daß es durch dauerndes Diäten in
der Regel kleiner wird! Denn dieses Loch in der
Wanne, d.h. die Kalorien, die der Körper, weil zur
Gewichtserhaltung nötig, rückstandslos verbraucht,
hängt, wie die einschlägigen Experimente zeigen, von
unseren Eßgewohnheiten ab: Nicht alle Kalorien, die
wir essen, landen auch in unseren Körperzellen. Mehr
oder weniger, bei manchen Menschen fast die Hälfte,
werden bei der Produktion von Energie verschwendet,
so wie ein Automotor fast 70 Prozent der Benzinener-
gie verschwendet; sie laufen quasi durch.
Wenn nun die Kalorien knapper werden, versucht
der Körper, diese Verschwendung zu vermeiden: Er
führt einen größeren Prozentsatz der zugeführten Ka-
lorien dem Stoffwechsel wirklich zu, die Verschwen-
dung geht zurück, und zwar im Extremfall soweit
zurück, daß wir zwar weniger Kalorien zu uns neh-
men, aber trotzdem mehr davon als vorher in den
Stoffwechsel gelangen.
Zusätzlich und von dieser Verschwendung völlig
abgesehen kommt der Körper aber auch noch mit we-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diät 71

niger Kalorien aus: Langes Fasten, so fast überein-


stimmend zahlreiche internationale Ernährungsfor-
scher, reduziert sogar den unmittelbaren Kalorienbe-
darf der Körperzellen selbst, so als würde unser Auto
bei gleicher Geschwindigkeit und gleicher Energie-
ausnutzung nur 6 statt 8 Liter Benzin auf 100 Kilo-
meter brauchen: »Jemand, der mit 3000 Kalorien pro
Tag sein Gewicht gut hält, kann nach einer 1000-Ka-
lorien-3-Wochen-Kur einiges abnehmen. Aber mit der
anschließenden 2500-Kalorien-Alltagsdiät alles wie-
der zunehmen« (Ludwig).
Hartnäckige Diäter manipulieren ihren Stoffwech-
sel also gleich auf zweifache Weise: Erstens kommt
ein größerer Teil der aufgenommenen Kalorien auch
tatsächlich bei den Endverbraucher-Zellen an, und
zweitens brauchen diese auch noch weniger – eine
klassische Links-Rechts-Kombination, wie die Boxer
sagen, gegen unseren Energiehaushalt.
Das ist der Hintergrund des Phänomens, daß typi-
sche Westeuropäer und Nordamerikaner (und Euro-
päerinnen und Amerikanerinnen noch weit mehr)
heute nach allen einschlägigen Statistiken weniger
essen als vor dreißig, vierzig Jahren, aber im Durch-
schnitt trotzdem dicker sind: nicht obwohl, sondern
weil sie allzuviel gehungert haben, nicht obwohl, son-
dern weil sie so auf ihre Pfunde achten. Neben die
dicken Menschen, die es schon immer gab, die dick
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diät 71

sind, weil sie fressen, hat die moderne Diät-Industrie


eine Armee von dicken Leichtessern gestellt, deren Si-
syphus-Kampf gegen das eigene Körpergewicht mit
jedem Teilerfolg nur immer aussichtsloser wird.
& Lit.: Geoffrey Cannon und Hetty Einzig: Dieting
makes you fat, London 1983; »Schrei aus der
Tiefe des Bauches« Spiegel Nr. 15/1985; George
A. Bray: »Obesity«, in: M.L. Brown (Hrsg.):
Present knowledge in nutrition, Washington
1990; Bernhard Ludwig: Anleitung zum Dik-
kwerden, München 1990; »Schlankheitskuren I
&II«, Test März und April 1993 (S. 282–285 und
S. 389–401); P.S. Shetty: »Chronic undernutriti-
on and metabolic adaptation«, Proceedings of the
Nutrition Society 52, 1993, S. 267–284.

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LexPI Bd. 2 Dinosaurier 73

Dinosaurier
Die Dinosaurier sind ausgestorben
»Für die Paläontologen wird es immer mehr zur Ge-
wißheit: Die Dinosaurier leben«, schreibt der Spiegel.
Und zwar als Vögel. Demnach wären die Dinosaurier
keine überproportionalen Riesenechsen, eher »gerupf-
te Riesenhühner« gewesen; sie waren auch nicht, wie
bisher immer angenommen, Kaltblüter, sondern
Warmblüter wie die Vögel und die Säugetiere, sie
legten Eier wie die Vögel, brüteten wie die Vögel (zu-
mindest einige von ihnen: in der Mongolei wurden
zwei über ihrem Gelege hockende, vermutlich von
einem Sandsturm verschüttete Dinosaurier ausgegra-
ben) und leben heute in den mit ihnen genetisch ver-
wandten Vögeln weiter.
& Lit.: »Gerupfte Riesenhühner«, Der Spiegel
21/1996.

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LexPI Bd. 2 Diogenes 74

Diogenes
Diogenes lebte in einer Tonne (s.a. ð »Zyniker«)
Der griechische Philosoph Diogenes von Sinope war
ein Verfechter des einfachen und anspruchslosen Le-
bens; zu Alexander dem Großen, der ihm einen
Wunsch freigegeben hatte, soll er geäußert haben:
»Geh mir aus der Sonne.«
Aber so weit, in einer Tonne seinen Haushalt auf-
zuschlagen, ging Diogenes ganz sicher nicht. Diese
Legende geht vermutlich auf den römischen Philoso-
phen Seneca zurück, der in seiner Biographie des
Diogenes schreibt, ein Mensch von derart anspruchs-
loser Lebensweise hätte wie ein Hund genausogut in
einer Tonne leben können.
& Lit.: R. Peyrefitte: Alexander der Eroberer, Ham-
burg 1982; Das große Personenlexikon zur Welt-
geschichte in Farbe, 2 Bände, Dortmund 1983; G.
Maurach: Senecas Leben und Werk, Darmstadt
1991.
¤ Diogenes, von Wilhelm Busch gesehen:
»Diogenes schaut aus dem Faß
Und spricht: ›Ei, ei, was soll denn das!?«
(aus: »Diogenes und die bösen Buben von Ko-
rinth‹«)
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diskriminierung 72

Diskriminierung
Ein unterproportionaler Frauenanteil bei Stu-
dienanfängern deutet auf Diskriminierung hin
Im Wintersemester 1973 hatte die Universität Berke-
ley in Kalifornien 12763 Bewerber, 8442 Männer und
4321 Frauen. Von den Männern wurden 44%, von
den Frauen 35% aufgenommen. Darauf wurde Berke-
ley von vielen abgewiesenen Frauen der Diskriminie-
rung des weiblichen Geschlechts bezichtigt – zu Un-
recht, wie man sehr leicht sieht.
Nehmen wir der Einfachheit halber einmal an, es
bewerben sich 1000 Kandidaten, 500 Männer und
500 Frauen, und es gäbe nur zwei Fächer, Mathema-
tik und Soziologie. Der Fachbereich Soziologie sei
reichlich überlaufen und akzeptiere nur einen kleinen
Prozentsatz der Bewerber, konkret 12,5 Prozent der
Frauen und 10 Prozent der Männer. Der weniger
überlaufene Fachbereich Mathematik dagegen akzep-
tiere 50 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Män-
ner. Mit anderen Worten, beide Fächer lassen lieber
Frauen zu; in beiden Fächern haben Frauen, wenn sie
sich bewerben, bessere Aussichten als Männer. Trotz-
dem kann es vorkommen, daß insgesamt gesehen
mehr Frauen als Männer abgewiesen werden.
Angenommen etwa, Frauen entscheiden sich eher
für die gerade modische Soziologie, Männer mehr für
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diskriminierung 72

die harte Mathematik, entsprechend der folgenden


Aufteilung:
Soziologie Mathematik zusammen
Männer 320 180 500
Frauen 480 20 500
zusammen 800 200 1000

Bei dieser Aufteilung der Bewerber werden insgesamt


70 Frauen (60 für Soziologie und 10 für Mathematik)
und 104 Männer zugelassen (32 für Soziologie und
72 für Mathematik), obwohl in beiden Fächern Frau-
en Vorzugsrecht genießen, und genauso ist es damals
auch in Berkeley gewesen: Frauen drängten bevorzugt
in die gerade sehr begehrten Studiengänge und blie-
ben deshalb öfter in den Maschen des Auswahlverfah-
rens hängen.
Um bei diesen Maschen zu bleiben: in gewisser
Weise entsprechen die hoffnungsvollen Studienplatz-
bewerber durchaus einem Schwarm gleich großer
(alias gleich intelligenter) Fische, die einem Netz ent-
gegenschwimmen. Das Netz hat zwei Arten von Ma-
schen, enge und weite, und alle Weibchen wollen
durch die engen Maschen. Wenn dann auf der anderen
Seite des Netzes nur noch Männchen übrigbleiben, ist
das Netz dann frauenfeindlich?
& Lit.: P. Bickel et al.: »Sex bias in graduate admis-
sions: data from Berkeley«, Science 187, 1975,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Diskriminierung 73

398–404; Erhard Künzel: »Über Simpson's Para-


doxon«, Stochastik in der Schule 1/1991, 54–62;
W. Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus der Welt
des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 2 Doktortitel 75

Doktortitel
In Deutschland ist der Doktortitel Teil des Na-
mens
Das hätten die Doktoren sicher gerne, aber es ist nicht
so: Der Doktorgrad ist kein Teil des Namens, er wird
auf Antrag in den Reisepaß und in den Personalaus-
weis, darüber hinaus aber in keine anderen amtlichen
Personalpapiere eingetragen.
& Lit.: F. Kahle: Der Mißbrauch von Titeln. Berufs-
bezeichnungen und Abzeichen – Rechtsgut,
Schutzzweck und Anwendungsbereich des § 132a
StGB, Marburg 1995; »Kein Bestandteil des Na-
mens«, Leserbrief von Gerhard Schlund, Vorsit-
zender Richter am Oberlandesgericht, in: For-
schung und Lehre 12/1996, S. 660.

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LexPI Bd. 1 Dolchstoß 73

Dolchstoß
Die Deutsche Armee des Ersten Weltkriegs war
im Felde ungeschlagen und wurde von der Hei-
mat hinterrücks »erdolcht«
Dieser Irrtum war einmal sehr populär; heute glaubt
vermutlich keiner mehr daran, und wir führen ihn
auch nur aus Pietät hier mit den anderen zusammen
auf. (Immerhin kann man mit gewissem Recht be-
haupten, daß ohne diesen Irrtum das 20. Jahrhundert
anders abgelaufen wäre.)
Am 14. August 1918 hatte die Oberste Deutsche
Heeresleitung den Kaiser wissen lassen, daß man
nicht mehr hoffen dürfe, »den Kriegswillen unserer
Feinde durch kriegerische Handlungen zu brechen«
(aus einem Brief von General Ludendorff an Kaiser
Wilhelm II.). Nach mehreren erfolglosen Offensiven
der Deutschen, zuletzt im Juli an der Marne, hatten
die Alliierten die deutsche Front bei Amiens und St.
Quentin durchbrochen, auch anderswo mit Hilfe der
frischen amerikanischen Divisionen zunehmend die
Oberhand gewonnen, ein Verbündeter nach dem ande-
ren fiel von den Deutschen ab, der Krieg war militä-
risch aussichtslos geworden.
Um wenigstens einen geordneten Rückzug zu er-
möglichen, bedrängte General Ludendorff den Kaiser
mit großem Nachdruck, einen Waffenstillstand anzu-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Dolchstoß 73

bieten, und erst danach, als an der Front nichts mehr


zu gewinnen war, begann auch in der Heimat das
große Chaos auszubrechen.
& Lit.: Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19.
und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1958.

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LexPI Bd. 1 Don Carlos 74

Don Carlos
Don Carlos war ein Held und Freiheitskämpfer
Don Carlos, Thronfolger von Spanien und Held des
nach ihm benannten Trauerspiels von Friedrich Schil-
ler und vieler anderer Trauerspiele, war im wahren
Leben überhaupt kein Held – heute würde man ihn
wohl als Psychopath bezeichnen: Klein und schwäch-
lich, mit viel zu großem Kopf, von krummer Statur
und ungesunder Gesichtsfarbe, ohne Talente, aber mit
viel Ehrgeiz und mit einem großen Haß auf seinen
Vater, König Philipp II., der ihm überall im Wege
stand.
Don Carlos benahm sich zeit seines kurzen Lebens
»so wunderlich, daß selbst unerschütterliche Anhän-
ger des Königshauses bei dem Gedanken erschauer-
ten, ihn eines Tages als ihren Herren ansehen zu mü-
ssen«, schreibt ein Biograph. »Als er einmal neue
Schuhe erhielt, die ihn drückten, hielt er es für einen
guten Scherz, sie kochen zu lassen und den Schuhma-
cher zu zwingen, sie aufzuessen. Manchmal ver-
schlang er irgend etwas Ekelerregendes – und befahl
sodann den Dienern und Höflingen in Reichweite, ein
Gleiches zu tun. Einen Diener, den er nicht leiden
konnte, warf er fast aus einem hohen Fenster; einem
anderen drohte er damit, ihn zu entmannen.«
Der Botschafter des deutschen Kaisers schrieb nach
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LexPI Bd. 1 Don Carlos 74

Hause, der Thronfolger sei »so kindisch wie ein Kind


von sieben Jahren«. Der Botschafter Venedigs berich-
tete, daß Don Carlos »an ehrsamen und lobenswerten
Dingen niemals Gefallen finde, sondern nur am Übel-
tun«, und der englische Botschafter berichtete, er habe
»niemals mit einem liederlicheren, rasenderen und un-
einsichtigeren Menschen zu tun gehabt«.
Wie ein solches Ekel posthum zum Helden großer
Dramen werden konnte, wird wohl ewig ein Geheim-
nis bleiben. Vermutlich wollten Schiller und die viel-
en anderen, die den debilen Thronfolger schon im 16.
Jahrhundert zur Lichtgestalt erhoben, damit vor allem
den verhaßten König Philipp treffen, nach dem
Motto: Die Feinde unseres Feindes sind automatisch
unsere Freunde. Vor allem in den spanischen Nieder-
landen hatte man den Propagandawert dieser Ereig-
nisse schnell erkannt; man ließ das später auch von
Schiller übernommene Gerücht verbreiten, Don Car-
los habe sich auf die Seite der Rebellen schlagen wol-
len, deshalb habe Philipp ihn ermorden lassen.
In Wahrheit wollte umgekehrt Don Carlos seinen
Vater töten (nicht um den holländischen Rebellen zu
helfen, sondern um selbst schneller König zu werden),
was von diesem aber mit bemerkenswerter Nachsicht
aufgenommen wurde. Z.B. hat Philipp die Mordab-
sichten seines Sohnes immer abgestritten und ihn erst
verhaften lassen, als die Staatsraison dies unumgäng-
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LexPI Bd. 1 Don Carlos 75

lich machte. Aber auch dann hat er Don Carlos nicht,


wie viele glauben, heimlich im Gefängnis vergiften
lassen – Don Carlos hatte sich durch Hungerstreiks,
gefolgt von Freßgelagen, wobei er einmal, um seinen
großen Durst nach einer stark gewürzten Rebhuhnpa-
stete zu löschen, große Mengen Eiswasser in sich hin-
einschüttete und darauf Brechdurchfall bekam, an
dem er schließlich sterben sollte, mehr oder weniger
selber umgebracht.
& Lit.: Jack Beeching: Don Juan d'Austria, Mün-
chen 1983. Wie geschah es wirklich? Stuttgart
1990.

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LexPI Bd. 2 Döner Kebap 75

Döner Kebap
Döner Kebap ist ein altes türkisches Nationalge-
richt (s.a. ð »Hamburger« sowie ð »Chop Suey«
und ð »Hamburger« in Band 1)
In der Türkei ist Döner Kebap weder ein traditionel-
les noch ein besonders verbreitetes Gericht. Die typi-
sche Art der Zubereitung, Fleisch an senkrecht rotie-
renden Spießen langsam zu grillen und in dünnen
Scheiben zu servieren, wurde erst Mitte des letzten
Jahrhunderts in Anatolien erfunden, in Istanbul kann
man Döner Kebap erst seit etwa 1960 kaufen. Wegen
seines vergleichsweise hohen Preises ist der Döner
Kebap in der Türkei auch nie zu einem Nationalge-
richt geworden.
Die Welt-Hauptstadt des Döner Kebap mit mehr
als tausend Grillstationen ist Berlin.
& Lit.: E. Seidel-Pielen: Aufgespießt – Wie der
Döner nach Deutschland kam, Hamburg 1996;
»Deutschland – Dönerland«, Welt am Sonntag,
30.6.1996.

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LexPI Bd. 2 Dreizehn 76

Dreizehn
Die Dreizehn ist die internationale Unglückszahl
In Japan ist die Unglückszahl die vier: Das Wort
dafür heißt »shi« (= Tod), man findet in ganz Japan
kein Hotelzimmer und keinen Sitz im Flugzeug mit
der Nummer 4. In Italien ist nicht Freitag, der 13.,
sondern Freitag, der 17. der Unglückstag: Die römi-
schen Ziffern für 17, also XVII, lassen sich zu »vixi«
= lateinisch für »ich bin tot« umstellen. Deshalb kann
man in Italien auch keinen Renault 17 kaufen – das
Auto heißt dort Renault 117.
& Lit.: Brockhaus – Wie es nicht im Lexikon steht,
Mannheim 1996.

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LexPI Bd. 1 Dritte Welt 75

Dritte Welt
Die Armut der Dritten Welt ist eine Folge ihrer
wirtschaftlichen Verstrickung mit den reichen In-
dustrienationen (s.a. ð »Ausbeutung«, ð
»Außenhandel« und ð »Kolonien«)
»Unterentwicklung ist ein sich historisch entfaltendes
integrales Moment des von kapitalistischen Metropo-
len dominierten internationalen Wirtschaftssy-
stems, ... [eine Folge] internationaler Herrschaft und
Ökonomisierung, die eine kumulative Bereicherung
des einen Pols, der Metropolen, und eine kumulative
relative und sogar absolute Pauperisierung der Peri-
pherien systematisch, d.h. mit strukturbedingter Ver-
läßlichkeit und Regelmäßigkeit fördert.« (D. Seng-
haas: Peripherer Kapitalismus: Analysen über Abhän-
gigkeit und Unterentwickung; Frankfurt 1974, S.
18–19).
Oder in normalem Deutsch: Würde man die Dritte
Welt alleine lassen, ginge es ihr besser.
Das ist aber so ganz sicher falsch. Es mag durchaus
zutreffen, daß die Dritte Welt durch den westlichen
Imperialismus des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich ge-
litten hat (ohne daß die Kolonialmächte dadurch ge-
wonnen hätten; siehe auch ð »Kolonien«). Aber es
ist nicht richtig, daß die aktuelle Armut in der Dritten
Welt durch ihre Einbindung in den Welthandel ent-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Dritte Welt 75

steht. Die Länder der Dritten Welt sind vor allem des-
halb arm, weil sie zu wenig, nicht weil sie zuviel mit
großen Industrienationen handeln, nicht weil zuviel,
sondern weil zuwenig internationale Konzerne sich
dort angesiedelt haben.
Die modernen Musterländer unter den ehemaligen
Armenhäusern unseres Planeten sind Hongkong, Tai-
wan, Südkorea, Singapur. Dort setzt man konsequent
auf freien Handel, dort stehen internationale Großkon-
zerne für die Niederlassung Schlange (in Hong Kong
soll es heute für chic gehalten werden, englische Ox-
ford-Absolventen als Hausdiener einzustellen). Die
modernen Armenhäuser unter den ehemaligen Armen-
häusern sind Länder wie Kuba, Nordkorea oder In-
dien. Hier schwört man auf Autarkie und Selbstbe-
stimmung, hier bleibt das Sozialprodukt trotz allem
Fleiß der Menschen hinter dem der Nachbarn weit
zurück.
Der Grund ist einfach: Freiwilliger Handel nützt
immer beiden Partnern. Sonst fände er nicht statt. Die
Weltwirtschaft ist kein Nullsummenspiel, bei dem der
Gewinn des einen nur durch den Verlust des anderen
entsteht. In einem freien Handel gewinnen beide Part-
ner; je mehr eine Nation handelt, desto reicher wird
sie unter sonst gleichen Umständen werden, und wenn
heute immer noch Menschen in Indien und Pakistan
vor Hunger sterben, dann können sie sich dafür auch
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LexPI Bd. 1 Dritte Welt 76

bei verschiedenen wohlgenährten und gutbezahlten


Dependenztheoretikern an deutschen Soziologenfa-
kultäten bedanken.
& Lit.: Erich Weede: »Dependenztheorien und Wirt-
schaftswachstum: eine international vergleichende
Studie«, Kölner Zeitschrift für Soziologie und So-
zialpsychologie, 1981; Peter F. Drucker: The new
realities, London 1990; Peter Bauer: The develop-
ment frontier, London 1991; Ulrich Menzel: Das
Elend der Dritten Welt und das Scheitern der gro-
ßen Theorie, Frankfurt 1992.

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LexPI Bd. 2 Drittes Reich 76

Drittes Reich
Das »Dritte Reich« war eine Wortschöpfung der
Nazis
Das »Dritte Reich« geht auf ein gleichnamiges, 1922
erschienenes Buch des konservativen Politikwissen-
schaftlers Artur Moeller van den Bruck zurück; van
den Bruck hatte darin die seinerzeitige parlamentari-
sche Demokratie heftig angegriffen und statt dessen
ein neues, national-konservatives »Drittes Reich« be-
schworen. Dieses Schlagwort haben dann die Nazis
später wieder aufgegriffen.

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LexPI Bd. 1 »Du bist was du ißt« 76

»Du bist was du ißt« (s.a. ð »Bio-Nahrungsmit-


tel«)
Dieser moderne Aberglaube hängt uns noch aus unse-
ren Urwald-Zeiten an. Hundefleisch macht schnell,
Löwenfleisch dagegen stark, oder die Geschlechtsteile
von Büffeln machen einen großen Liebhaber. Eine
Frau, die ihrem Mann das Hirn einer Hyäne kocht,
macht diesen dumm wie die Hyäne, und wer schlecht
hört, muß viele Fledermäuse essen. So glaubten und
glauben immer noch viele Naturvölker auf dieser
Erde, und die meisten Kunden moderner Bio-Läden
sind kein bißchen klüger.
Moderne Ernährungswissenschaftler mögen über
viele Dinge streiten – in einem stimmen sie doch
überein: Ob die Kartoffel zu unserem Rinderbraten
mit Kuhmist oder Chemikalien aus Ludwigshafen
großgeworden ist, regt unseren Körper im Gegensatz
zu unserer Seele wenig auf. Genauso wie ein Automo-
tor weder weiß noch wissen muß, ob das Benzin, das
er verbrennt, aus Brent Crude oder Saudi Light ge-
wonnen worden ist, genauso können und wollen auch
die Körperzellen, in denen ganz am Ende der Stoff-
wechselkette die letztendliche Umwandlung von Nah-
rung in Energie stattfindet, die Herkunft ihres Brenn-
stoffs nicht erkennen. Eiweiß bleibt Eiweiß, Fett
bleibt Fett, Kohlehydrate bleiben Kohlehydrate, und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 »Du bist was du ißt« 77

Vitamine bleiben Vitamine, ob von glücklichen oder


unglücklichen Hühnern, ob aus Tiefkühl- oder fri-
scher Ware, ob chemisch oder biologisch hergestellt,
ob aus der Dose oder frisch, ob bei McDonald's oder
in der »Aubergine« eingenommen.
Natürlich gibt es bei Nahrungsmitteln durchaus
Unterschiede: im Geschmack, im Preis, im Gehalt an
Nährstoffen. Das wollen wir auf keinen Fall bestrei-
ten. Unser Punkt ist allein der, daß es bei gegebenen
Nährstoffen unseren Körper wenig interessiert, wie
diese in ihn hineingekommen sind.
& Lit.: R.M. Deutsch: The new nuts among the ber-
ries: how nutrition nonsense captured America,
Palo Alto 1977; Virginia Aaronson: A practical
guide to optimal nutrition, Boston 1983.

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LexPI Bd. 1 Duckmäuser 77

Duckmäuser
Duckmäuser ducken sich
Ein Duckmäuser ist ein Leisetreter; er hat seinen
Namen vom mittelhochdeutschen »tocken« = verber-
gen, versenken und »musen« = Mäuse fangen, listig
sein, betrügen. Im 15. Jahrhundert hießen die Duck-
mäuser deshalb »Duckelmuser«.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 1 Dudelsack 77

Dudelsack
Der Dudelsack ist ein typisch schottisches Musi-
kinstrument
Der Dudelsack kommt nicht aus Schottland; es gab
ihn schon im alten Griechenland. Auch in Persien, in
China und im alten Rom (als »tibia utricularis«) war
er bekannt. Im Mittelalter kannten ihn die Franzosen
als »cornemuse«, die Italiener als »cornamusa« und
die Deutschen als »Sackpfeife«, und selbst in der
Bibel wird der Dudelsack erwähnt: »Sobald ihr den
Klang der Hörner, Pfeifen und Zithern, der Harfen,
Lauten und Sackpfeiffen und aller anderen Instrumen-
te hört, sollt ihr niederfallen und das goldene Stand-
bild anbeten, das König Nebukadnezar errichtet hat«
(Buch Daniel, 3, 5).
Vermutlich kam der Dudelsack mit Caesar nach
England und von dort aus zu den Schotten, die noch
heute gerne darauf spielen. Aber erfunden haben sie
die Pfeife sicher nicht.
& Lit.: Stichwortartikel »Bagpipe« in Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Duden 78

Duden
Die Rechtschreibung des Duden ist verbindlich
Es gibt keine von der Duden-Redaktion in Mannheim
überwachte »amtliche Kodifizierung der deutschen
Rechtschreibung«.
Richtig ist: Es existiert eine »Vereinbarung« der
verbündeten Regierungen des Deutschen Reiches aus
dem Jahr 1901, »eine einheitliche Rechtschreibung in
den Schulunterricht und in den amtlichen Gebrauch
der Behörden einzuführen und von dieser Recht-
schreibung nicht ohne wechselseitige Verständigung
untereinander und mit Österreich abzuweichen«.
Diese einheitliche Rechtschreibung sollte in den
Schulen mit Beginn des Schuljahres 1903/04, in den
Behörden per 1.1.1903 verbindlich werden.
Die »Vereinbarung« war kein Gesetz. Sie betraf
auch nur die Schulen und den Schriftverkehr der amt-
lichen Behörden untereinander; eine irgendwie gearte-
te Verpflichtung für das breite Publikum oder für die
Parlamente und Gerichte ergab sich daraus nicht: So-
wohl unsere eigenen Briefe als auch Gesetzestexte als
auch Urteile, Beschlüsse und Verfügungen der Ge-
richte brauchen sich im Prinzip um den Duden nicht
zu kümmern (und weichen auch tatsächlich öfters von
ihm ab: das Bundesverfassungsgericht schreibt »der
Einzelne«, der Duden verlangt »der einzelne«, und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Duden 78

andere Abweichungen mehr).


Das verbreitete Mißverständnis von der Allgemein-
verbindlichkeit der Duden-Rechtschreibregeln geht
vermutlich auf einen Beschluß der Ständigen Konfe-
renz der Kultusminister der Länder vom 19.11.1955
zurück, der so beginnt: »Die in der Rechtschreibre-
form von 1901 und den späteren Verfügungen festge-
legten Schreibweisen und Regeln sind auch heute
noch verbindlich für die deutsche Rechtschreibung«,
gefolgt von dem Zusatz: »In Zweifelsfällen sind die
im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln
verbindlich.«
Dieser Beschluß ist aber größtenteils deklarato-
risch und nur insofern konstitutiv, als er die Duden-
Redaktion zum Schiedsrichter bestimmt. Und auch
das nur für den amtlichen Schriftverkehr von einer
Behörde zur anderen, auch wenn viele Germanisten
das gern anders sehen; der Rest der Republik kann
ohne Strafe schreiben wie er will.
& Lit.: Othmar Jauernig: »Glorienschein der totalen
Amtlichkeit ... Die Rechtschreibung, der Duden
und das Recht«, Forschung und Lehre 6/95,
332–334.

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LexPI Bd. 2 Dufte 76

Dufte
Der Ausdruck »dufte« für »toll« hat etwas mit
dem Geruch zu tun (s.a. ð »Apfel«, ð »Guter
Rutsch«, ð »Nassauer« und ð »Sauregurken-
zeit«)
Der Berliner Ausdruck »dufte« für aufregend, toll
(»dufte Biene«) kommt aus dem hebräischen »tow«,
das gut und fein bedeutet, und ist über das Jiddische
in unsere Sprache eingegangen.
Andere jiddische Worte oder Redewendungen,
deren Herkunft die meisten heute nicht mehr kennen,
sind »Pleite«, »Macke«, »mies« und »Kaff« (aus den
jiddischen bzw. hebräischen Worten »pleitje« für
Flucht, »maka« für Hieb oder Schlag, »miuss« für
häßlich sowie »kfar« für Dorf. Auch die Wörter
»Kies« und »Moos« für finanziellen Reichtum
stammen aus dem Jiddischen, sie leiten sich ab aus
»kiss« für Geldbeutel und »moess« für Geld.
& Lit.: Bernd-Lutz Lange: Dämmerschoppen, Köln
1997 (besonders das Kapitel »Spachdenkmäler«).

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LexPI Bd. 1 Durchschnitt 79

Durchschnitt
Durchschnittsmenschen sind nicht attraktiv
Ganz im Gegenteil. Wie neue psychologische For-
schungen ergeben haben, sind gerade Durchschnitts-
menschen attraktiv. Wenn Männer Portraitfotos von
Frauen nach »Attraktivität« sortieren, gewinnt typi-
scherweise ein Bild wie das untere.
¤ Dieses Foto wurde unter 32 Bildern als das attrak-
tivste eingestuft

Dieses Foto hat nur einen Nachteil: Die Frau da-


hinter gibt es nicht; sie wurde mittels der sogenannten
»Morphing-Technik« aus 32 zufällig ausgewählten
Frauen »gemittelt«: Jedes Einzelfoto (schwarz-weiß)
wird dabei in Graupunkte zerlegt, ähnlich wie man
Fotos in Zeitungen druckt, dann werden aus den Ein-
zelfotos Durchschnitte gebildet: der Grauwert des
neuen, synthetischen Bildes ist der Durchschnitt der
Grauwerte der Einzelbilder. So entsteht aus individu-
ellen Gesichtern ein Durchschnittsgesicht, ein Ge-
sicht, das bezüglich Ohren, Augen, Nase, Mund gera-
de der Durchschnitt der individuellen Augen, Ohren,
Nasen, Münder ist. Und diese Durchschnittsgesichter
schneiden bei Attraktivitätsbewertungen regelmäßig
besser als die Einzelfotos ab.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Durchschnitt 80

Das gleiche gilt für Männerfotos: legt man Frauen


Männerfotos vor, so gewinnt auch hier der Durch-
schnitt; durchschnittliche Augen, Ohren, Nasen, Mün-
der gefallen besser als die individuellen Komponen-
ten. Und nicht nur das: je mehr Einzelgesichter in den
Durchschnitt eingehen, desto attraktiver ist das
Kunstgesicht, für Männer und Frauen gleicherma-
ßen – je durchschnittlicher ein Gesicht, desto besser
sieht es aus.
& Lit.: Judith Langlois und Lori Roggman: »Attrac-
tive faces are only average«, Psychological Scien-
ce 1990, S. 115–121. Ronald Hens: Spieglein,
Spieglein an der Wand: Geschlecht, Alter und
physische Attraktivität, Weinheim 1992.

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LexPI Bd. 2 Durchschnitt. 77

Durchschnitt
Der Durchschnitt teilt eine Menge von Zahlen in
zwei Hälften
Über diesen Irrtum können Statistiker nur müde lä-
cheln, deshalb war er auch im ersten Band nicht auf-
genommen. Aber nachdem wir seither mehr als ein-
mal hören mußten, »Durchschnitt – klar, die eine
Hälfte kleiner, die andere Hälfte größer«, sei hier
doch darauf verwiesen, daß dies nur für eine bestimm-
te Art von Durchschnitt gilt, für den »Zentralwert«
oder »Median«. Für den Durchschnitt, den die mei-
sten Menschen meinen, wenn sie von Durchschnitt
reden, für das arithmetische Mittel nämlich, gilt dieser
Satz dagegen nicht.
Wenn neun Menschen ein Vermögen o besitzen,
der zehnte ein Vermögen 100, so haben im Durch-
schnitt alle 10 (Durchschnitt im Sinn des arithmeti-
schen Mittels, also Summe der Werte geteilt durch
deren Anzahl, hier hundert geteilt durch zehn). Aber
nur einer von zehn hat mehr als der Durchschnitt,
neun dagegen haben weniger.
Dieses Mißverständnis läßt sich durchaus auch po-
litisch nutzen. Wenn etwa in der Bundesrepublik vom
Einkommen der Zahnärzte die Rede ist (oder irgendei-
ner anderen Gruppe, von der viele meinen, sie ver-
dienten zu viel), so wird gern als Durchschnittsein-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Durchschnitt. 78

kommen das arithmetische Mittel zitiert: Ein deut-


scher Zahnarzt verdient im Jahr durchschnittlich
640.000 Mark. Und sofort denkt jeder: Diese Gauner,
jeder zweite Zahnarzt verdient pro Jahr mehr als
640.000 Mark!
In Wahrheit liegt bei Daten wie Einkommen, Ver-
mögen, Grundbesitz das arithmetische Mittel in aller
Regel oberhalb des Medians: Nach unten sind die
Werte durch die Null beschränkt, nach oben gibt es
keine Grenze, und so können einige wenige Spitzen-
verdiener das arithmetische Mittel stark nach oben
ziehen. Dem Median dagegen sind solche »Ausrei-
ßer« egal.
& Lit.: Walter Krämer: Statistik verstehen, 3. Aufla-
ge, Frankfurt a.M. 1998.
¤

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LexPI Bd. 2 Dynamische Lebensversicherung 78

Dynamische Lebensversicherung
Dynamische Lebensversicherungen sind eine gute
Kapitalanlage
Bei einer dynamischen Lebensversicherung sind Ver-
sicherungssumme und Beitrag nicht konstant, sie
wachsen jährlich, daher die Beifügung »dynamisch«.
Dieses jährliche Wachstum rentiert sich vor allem
für die Versicherungsgesellschaften, die Versicherten
selber erhalten für ihre Extrabeiträge in den letzten
Jahren der Laufzeit des Vertrages oft nicht einmal die
Einzahlung zurück. »Beim Einschluß der Dynamik in
die Verträge werden die Versicherten oft gelinkt. Sie
lohnt sich in den letzten Jahren eines Vertrages über-
haupt nicht. Zuviel geht für die Kosten des Versiche-
rers und die einkalkulierten Todesfalleistungen drauf«
(Arno Surminski).
Das Problem (aus der Sicht der Beitragszahler) ist
das folgende: Jede Erhöhung, der nicht widersprochen
wird, zählt im Umfang der Erhöhung als neuer Ver-
trag, mit allen Konsequenzen. Z.B. bezieht der Versi-
cherungsvertreter die volle Provision, die mit den üb-
rigen Abschlußkosten bereits die erste Jahresprämie
schluckt, so daß jeder dieser zusätzlichen Mini-Ver-
träge erst einmal im Minus anfängt, und aus diesen
Minus kommen die gegen Laufzeitende abgeschlosse-
nen Verträge dann nie mehr heraus.
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LexPI Bd. 2 Dynamische Lebensversicherung 78

& Lit.: »Fehlbetrag«, Capital 12/1989.

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E 79

»If all men acted from enlightened self interest,


the world would be a paradise in comparison to
what it is.«
Bertrand Russell

»Das sind die Weisen,


die durch Irrtum zur Wahrheit reisen.
Die bei dem Irrtum verharren,
das sind die Narren.«
Friedrich Rückert, Vierzeiler

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LexPI Bd. 1 Edelgas 81

Edelgas
Edelgase gehen keine chemische Verbindung ein
Edelgase (Helium, Argon, Neon, Krypton, Xenon und
Radon) verbinden sich normalerweise nicht mit ande-
ren Elementen, ihre äußere Elektronenschale ist voll
besetzt. Trotzdem ist es Chemikern 1962 gelungen,
diese stabile äußere Hülle aufzubrechen und Edelgas-
verbindungen herzustellen (die beständigste Edelgas-
verbindung ist das Xenonhexafluorid).
& Lit.: Stichwortartikel »Edelgase«. in: Das neue
große farbige Lexikon, Niedernhausen 1988.

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LexPI Bd. 1 Ehemänner 81

Ehemänner
Ehemänner leben länger
Ehemänner leben im Durchschnitt zwischen fünf und
fünfzehn Jahre länger als Witwer oder Junggesellen.
Aber sie leben nicht deswegen länger, weil sie Ehe-
männer sind – sie sind grob gesprochen Ehemänner,
weil sie länger leben. Oder wie schon der Engländer
William Farr in einer Studie aus dem Jahr 1858 über
Tod und Ehe in Frankreich formulierte:
»Cretins do not marry; idiots do not marry; idle
vagrants herd together, but rarely marry. Criminals
by birth and education do not marry to any great
extent .... The children of families which have been
afflicted with lunacy are not probably sought in
marriage to so great an extent as others; and several
hereditary diseases present practically some bar to
matrimony. The beautiful, the good, and the healthy
are mutually attractive, and their unions are promo-
ted by the parents in France.«
Und so ähnlich ist das auch noch heute, ob in Frank-
reich oder anderswo.
Vielleicht trägt auch die Ehe als solche zu langem
Leben bei, etwa weil verheiratete Männer gesünder
essen als unverheiratete (da getreu dem hergebrachten
Rollenmuster Frauen immer noch besser und gesünder
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ehemänner 82

kochen). Und wie jeder Psychologe weiß, kann auch


die aus einer glücklichen Ehe fließende emotionale
Stabilität die körperliche Gesundheit und damit die
Lebenserwartung beider Partner positiv berühren.
Diese widerstreitenden Kausalbeziehungen – in der
Demographie als »marriage selection« und »marriage
protection« bekannt – sind nicht leicht zu trennen.
Wir haben hier den klassischen Fall, daß eine unbe-
streitbare Korrelation ganz offensichtlich mehr als
einen Vater (bzw. eine Mutter) hat und daß die domi-
nierende Kausalbeziehung aus den Daten alles andere
als einfach abzulesen ist. Und da hier kontrollierte
Experimente nur schwer durchzuführen sind, wird die
Debatte wohl noch eine Zeitlang weitergehen. Fest
steht aber, daß die Ehe nicht nur die Ursache, wie
immer wieder in den Medien zu lesen, sondern auch
die (Neben-)Wirkung eines langen Lebens ist.
& Lit.: Noreen Goldmann: »Marriage selection and
mortality patterns«, Demography, Mai 1993.

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LexPI Bd. 1 Ei des Kolumbus 82

Ei des Kolumbus
Mit dem »Ei des Kolumbus« meint man eine einfache
Lösung für ein scheinbar schwieriges Problem: Wie
stellt man ein Ei auf seine Spitze? Antwort: man kickt
es auf, dann bleibt es stehen. So soll Christoph Ko-
lumbus, nach einem Bericht des Italieners Benzoni
(Venedig 1565), auf einem Bankett des Kardinals
Mendoza 1493 diese Aufgabe gemeistert haben.
Schon einige Jahre früher schreibt aber Benzonis
Kollege Vasari diese Tat dem Florentiner Filippo
Brunelleschi zu. Brunelleschi hätte nach einer heißen
Diskussion mit Fachkollegen, wie denn die Kuppel
des Florentiner Doms zu bauen sei, die Bezweifler
seines Plans gefragt: »Kann einer von euch ein Ei auf
seine Spitze stellen?« Natürlich wußte niemand eine
Lösung. Dann brachte Brunelleschi auf die bekannte
Art das Ei zum Stehen und sagte, genauso einfach
wäre es, nach seinen Plänen eine Kuppel für den Dom
zu bauen.
Vermutlich hat aber weder Brunelleschi noch Ko-
lumbus diesen Geistesblitz erfunden; in Spanien gab
es schon viel länger die Redensart von »Hänschens
Ei«: »Das andere kennst du doch mit Hänschens Ei?
Womit viele hoch erhabene Geister sich umsonst be-
mühen, um auf einen Tisch von Jaspis solches auf-
recht hinzustellen; aber Hänschen kam und gab ihm
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ei des Kolumbus 82

einen Knicks, und es stand« (Calderon, »Dame Ko-


bold«). Vermutlich ist diese Geschichte des aufgekik-
kten Eis mit den Arabern nach Spanien gekommen.
& Lit.: Fritz C. Müller: Wer steckt dahinter?
Namen, die Begriffe wurden, Eltville 1964; Georg
Büchmann: Geflügelte Worte, München 1977.

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LexPI Bd. 2 Eichenholz 79

Eichenholz
Eichenholz ist das härteste unter den in Deutsch-
land wachsenden Hölzern
Die Eiche ist bei weitem nicht der beste Lieferant von
harten Hölzern. Härter als Eiche sind zum Beispiel:
Buchsbaum, Flieder, Rosenholz, Weißbuche und
Weißdorn. Am härtesten von allen hierzulande wach-
senden Hölzern ist das der Kornelkirsche.
& Lit.: W. Lenz: Kleines Handlexikon, Gütersloh
1980; Stichwort vorgeschlagen von Jürgen Klop-
penburg.

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LexPI Bd. 1 Eichhörnchen 83

Eichhörnchen
Eichhörnchen haben ihren Namen von den Ei-
chen
Das »Eich« in Eichhörnchen kommt vermutlich von
dem althochdeutschen »aig« = sich heftig bewegen,
schwingen.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 1 Eier 1 83

Eier 1
Braune Eier sind nahrhafter als weiße
Das Äußere eines Hühnereis hat mit dem Inneren
nichts zu tun. Insbesondere hängt die Farbe der Eier
allein von der äußeren Schicht der Schale ab; die
Farbe reicht von reinem Weiß bis Dunkelbraun und
ist durch die Rasse des Huhnes festgelegt: Die wegen
ihrer Widerstandsfähigkeit und Fruchtbarkeit ge-
schätzte Weiße Leghornhenne etwa legt nur weiße
Eier (die Farbe der Eier kann man an den Ohrläpp-
chen der Henne erkennen: Sind sie weiß, sind auch
die Eier weiß, sind sie rot, so sind die Eier braun).
Braune Eier sind seltener, weil Hühner, die braune
Eier legen, weniger legefreudig und deshalb in Hüh-
nerfarmen seltener vertreten sind. Und nur deshalb
sind ihre Eier auch oft teurer – nicht weil sie besser,
sondern weil sie seltener sind und weil niemand
einem Eierhändler verbieten kann, die Dummheit sei-
ner Kunden auszunutzen.
& Lit.: David Feldmann: Warum ist die Banane
krumm? München 1987.

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LexPI Bd. 1 Eier 2 83

Eier 2
Je größer die Eier, desto länger müssen die Vögel
brüten
Große Vögel mit großen Eiern brüten nicht notwen-
dig länger als kleine Vögel mit kleinen Eiern. Der
afrikanische Strauß, mit 150 kg Gewicht und 3 Me-
tern Abstand zwischen Kopf und Fuß der größte und
schwerste aller Vögel, brütet nur 42 Tage auf seinen
1,5 kg schweren Eiern, der Wanderalbatros dagegen
73 und der Kiwi 80. Am kürzesten brüten Brillenvö-
gel (Zosteropidae), Rote Erdtauben (Geotrygon mon-
tana) oder Paradieswitwen (Steganura paradisae), die
ihren Nachwuchs schon nach 10 bis 11 Tagen aus
dem Ei entlassen.
Die größten Vögel legen auch nicht immer die
größten Eier. Bezogen auf das Körpergewicht wiegt
ein Straußenei zwischen ein und zwei Prozent, ein
Kiwiei dagegen 30 bis 40 Prozent der Vogelmutter;
eine feste Regel, aus der Größe des Vogels auf die
Größe seines Eis zu schließen, gibt es nicht.
& Lit.: Jürgen Nicolai: Vogelleben, Stuttgart 1973.

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LexPI Bd. 1 Eier 3 84

Eier 3
Ein gekochtes Ei paßt niemals heil durch einen
engen Flaschenhals
Wer jemals versucht hat, ein hartgekochtes und ge-
pelltes Ei in eine enge Milchflasche zu schieben, wird
sagen: sowas ist unmöglich. Denn die Luft in der Fla-
sche drückt gegen das Ei, sie verhindert so das Ein-
schieben, und wenn man fester drückt, zerbricht das
Ei.
Trotzdem geht ein dickes Ei durch einen dünnen
Flaschenhals, und zwar so: die Luft in der Flasche er-
hitzen (etwa ein brennendes Streichholz hineinwer-
fen), dann das Ei dicht auf die Öffnung drücken, war-
ten. Beim Abkühlen der Luft entsteht ein Unterdruck,
der saugt das Ei heil und unbeschädigt durch den Fla-
schenhals.
& Lit.: Klaus Freyer u.a.: Gut gedacht ist halb ge-
löst, Leipzig 1972.

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LexPI Bd. 2 Eier 1 79

Eier 1
Eier sind immer rund
Es gibt auch Eier mit Ecken; die Eier des Katzenhais
z.B. sind viereckig wie Würfel.

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LexPI Bd. 2 Eier 2 79

Eier 2
Man sollte Eier mit einem Plastiklöffel essen (s.a.
ð »Kartoffeln 1«)
Diese Regel sollte besser heißen: Man sollte niemals
Eier mit einem Silberlöffel essen. Denn dieses geht
mit dem Eigelb eine chemische Verbindung ein
(Schwefelwasserstoff), die den Geschmack des Eies
verdirbt. Außerdem verfärben sich die Löffel durch
das ebenfalls erzeugte Silbersulfid schwarz. Aber mit
modernen Chrom-Mangan-Bestecken kann das alles
nicht passieren.
& Stichwort vorgeschlagen von Maria Krämer.

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LexPI Bd. 1 Eigennutz 84

Eigennutz
Eigennutz und Gemeinwohl vertragen sich nicht
Eigennutz ist durchaus mit Gemeinwohl unter einen
Hut zu bringen. Ja mehr noch: Nach der Mehrheits-
meinung aller Ökonomen ist der Eigennutz geradezu
eine Garantie für Wohlstand und Wirtschaftswach-
stum auf der Welt.
Wichtig ist allein: Der Eigennutz, also unser Stre-
ben nach unserem eigenen Wohlergehen, muß gezü-
gelt werden. Und das geschieht in einer Marktwirt-
schaft im wesentlichen dadurch, daß jeder Teilnehmer
des Wirtschaftslebens nur dadurch seinen eigenen
Nutzen mehren kann, daß er simultan auch anderen
nützt: Der Bäcker verkauft uns seine Brötchen nicht
aus Sympathie – er will etwas verdienen. Der Taxi-
fahrer wartet nicht um drei Uhr morgens vor dem
Bahnhof, damit auch noch die Reisenden des letzten
Zuges heil nach Hause kommen – er spekuliert auf
seine Nachtzulage. Und der Zahnarzt um die Ecke
macht nicht deshalb Überstunden, weil wir vor
Schmerzen nicht mehr schlafen können – er will sei-
nen neuen Porsche abbezahlen. Und selbst eine Biene
befruchtet eine Blüte nicht zwecks Überleben dieser
Pflanze, sondern weil sie selber überleben will.
»Diese Einsicht kommt jedem zu seiner Zeit mit
dem aufregenden Gefühl einer persönlichen Offenba-
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LexPI Bd. 1 Eigennutz 85

rung« (Mark Blaug).


Eine Gesellschaft dagegen, die nur dann funktionie-
ren kann, wenn alle Menschen Mütter Theresas sind,
geht auf unserem Planeten unter.
PS: Die Abneigung gegen den Eigennutz als Trieb-
feder des menschlichen Handelns ist nicht nur linken
Radikalen eigen: Schon in dem allerersten, 1920 von
Adolf Hitler verfaßten Flugblatt der NSDAP prangt
stolz der Wahlspruch »Gemeinnutz geht vor Eigen-
nutz«.
& Lit.: Adam Smith: An inquiry into the nature and
causes of the wealth of nations, London 1776;
Mark Blaug: Systematische Theoriegeschichte der
Ökonomie, München 1971.

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LexPI Bd. 2 Einstein 80

Einstein
Einstein war ein reiner Theoretiker
Einstein betätigte sich durchaus auch in angewandter
Wissenschaft; in den 20er Jahren hat er z.B., weil ihm
die damalige Kühltechnik nicht gefiel, mehrere Dut-
zend Kühlschrank-Patente angemeldet. (»Es würde
mich interessieren«, schrieb ein amerikanischer Paten-
tanwalt, »ob dieser Einstein der gleiche ist, der die
Relativitätstheorie erfunden hat.«)
Die ersten Kühlschränke, die damals noch giftiges
Methylchlorid und Schwefeldioxid zum Kühlen nutz-
ten, waren eine Gefahr für Leib und Leben. Einstein
hatte in der Zeitung von einer Familie gelesen, die
durch diese aus dem Kompressor ausgetretenen gifti-
gen Gase umgekommen war, und hatte sich, um der-
gleichen Unglücksfälle zu verhindern, zusammen mit
seinem Studenten und nachmaligen Physikerkollegen
Leo Szilard verschiedene ohne Kompressor arbeiten-
de Kühlschränke ausgedacht, die das Erhitzen und
Abkühlen des Kühlgases auf andere Weise besorgten.
Eines seiner Modelle ersetzte den mechanischen Kol-
ben durch magnetisch angetriebenes flüssiges Metall,
ein anderes trieb den Kühlkreislauf durch Hitze an,
und wieder andere Modelle nutzten Verdampfungs-
kälte oder Wasserdruck; insgesamt meldeten Einstein
und Szilard mehr als 45 Kühlschrankpatente an.
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LexPI Bd. 2 Einstein 80

Mindestens drei dieser Patente wurden von Elektro-


firmen aufgekauft (zwei von der schwedischen Firma
AB Elektrolux, eines von der deutschen AEG, die
auch 1931 einen ersten Prototyp erstellte), aber es
kam nie zur Massenproduktion. Inzwischen hatten
amerikanische Chemiker ein ungiftiges Gas für kon-
ventionelle Kompressor- Kühlschränke gefunden, und
damit waren die Einstein-Kühler kommerziell nicht
mehr von Interesse. Daß dieses ungiftige, als FCKW
bekannte Kühlschrankgas aus ganz anderen Gründen
später selber in die Schlagzeilen geraten sollte, konnte
damals niemand ahnen ...
Nach seiner Übersiedlung in die USA setzte Ein-
stein seine Exkursionen in die Praxis fort; u.a. entwarf
er für die amerikanische Marine einen Zünder für Tor-
pedos.
& Lit.: G. Alefeld: »Einstein as inventor«, Physics
today 33, 1980; L.G. Danen: »The Einstein-Szi-
lard refrigerators«, Scientific American 1/1997;
»Einsteins Kühlschrank«, Süddeutsche Zeitung,
30.1.1997; »Einsteins Torpedos,« Der Spiegel
19/1998, S. 221.

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LexPI Bd. 1 Einstein 1 85

Einstein 1
Einstein war ein schlechter Schüler
Diese Legende hat schon manchen Schüler über
schlechte Noten weggetröstet. Wenn selbst Ein-
stein ...
In Wahrheit war Einstein alles andere als ein
schlechter Schüler; er war nur an Sport und Sprachen
wenig interessiert, und auch der Umgangston im Un-
terricht gefiel ihm nicht: »Die Lehrer in der Elemen-
tarschule kamen mir wie Feldwebel vor, und die Lehr-
er im Gymnasium wie Leutnants«, schrieb er später.
Deshalb und wegen seiner Verachtung für das Mi-
litär – »Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied
zu einer Musik marschieren kann, dann verachte ich
ihn schon; er hat sein großes Gehirn nur aus Irrtum
bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig
genügen würde« – war Einstein bei den Lehrern unbe-
liebt, aber diese Unbeliebtheit reichte nie, ihn sitzen-
bleiben zu lassen oder von der Schule – dem
Luitpoldgymnasium in München – zu entfernen.
»Es wäre nett, wenn du uns eines Tages verlassen
könntest«, sagte ihm einmal ein Lehrer, und auf Ein-
steins Einwand, er habe doch gar nichts getan, erklär-
te er: »Deine Anwesenheit und deine träumerische
und gleichgültige Haltung gegenüber allem, was wir
hier zu lehren versuchen, untergräbt den Respekt der
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LexPI Bd. 1 Einstein 1 85

Klasse.«
In diesem Sinn war Einstein also wirklich ein
schlechter Schüler. Aber seine Leistung in Fächern
wie Mathematik und Physik, die ihn interessierten,
war immer erste Spitzenklasse .....
& Lit.: Gerhard Prause: Genies in der Schule, Rein-
bek 1976.

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LexPI Bd. 1 Einstein 2 86

Einstein 2
Einstein hat den Nobelpreis in Physik für seine
Relativitätstheorie bekommen
Albert Einstein hat den Nobelpreis für Physik von
1921 nicht für seine berühmte, 16 Jahre vorher ver-
öffentlichte Relativitätstheorie, sondern für seine Ar-
beiten zu den sog. photoelektrischen Effekten bekom-
men. Außerdem erhielt er diesen Preis erst ein Jahr
später, zusammen mit dem Physik-Nobelpreisträger
1922, dem dänischen Physiker Niels Bohr.
& Lit.: Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund
1988.

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LexPI Bd. 2 Eis 81

Eis
Eis ist glatt (s.a. ð »Schlittschuhe«)
Eis ist wie alle festen Körper überhaupt nicht glatt;
die Moleküle an der Oberfläche sind miteinander fest
verbunden und erzeugen einen hohen Reibungswider-
stand.
Glatt wird Eis erst, wenn es schmilzt – durch das
Wasser auf der Oberfläche nimmt die Reibung ab. So
gleiten dann auch Schlittschuhläufer über das Eis –
nicht auf dem Eis selber, sondern auf einer dünnen
Wasserpfütze, die sie mit ihren Schlittschuhen durch
die Reibungswärme erzeugen.
& Lit.: Robert L. Wolke: Woher weiß die Seife, was
der Schmutz ist? Kluge Antworten auf alltägliche
Fragen, München 1998.

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LexPI Bd. 2 Eisbein 81

Eisbein
Eisbein hat etwas mit Frost und Eis zu tun
Das beliebte deutsche Eisbein hat seinen Namen von
den »Isbeinen«, den früher so genannten Hüftbeinen
der Schweine. Später hat sich diese Bezeichnung dann
auf jedwede gepökelten oder gekochten Schweinsfüße
oder -beine übertragen.
& Lit.: Walter Zerlett Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 1 Eisenbahn 86

Eisenbahn
Der wirtschaftliche Aufstieg der USA im 19. Jahr-
hundert ist vor allem den Eisenbahnen zu ver-
danken
Die Eisenbahn war durchaus nicht der große Antrei-
ber des frühen Wirtschaftswachstums in den USA, als
den sie viele in einer durch ungezählte Filme und Ro-
mane verfestigten Legende heute sehen. In Wahrheit,
so der Wirtschafts-Nobelpreisträger Robert Fogel,
wäre die amerikanische Wirtschaft des 19. Jahrhun-
derts fast genauso schnell auch ohne Eisenbahn ge-
wachsen.
Fogel hatte dazu einmal simuliert, was ohne Eisen-
bahn in Nordamerika geschehen wäre, mit dem Er-
gebnis: mehr oder weniger das gleiche, nur anders.
Der Massen-Transport von Weizen, Stahl und Kohle
wäre über Flüsse und Kanäle, und die schnelle Fort-
bewegung der Menschen so wie heute vor allem über
Straßen, zunächst mit Pferdekutschen, dann mit Autos
möglich gewesen, wobei letztere ohne die Konkurrenz
der Eisenbahn auch viel früher serienreif geworden
wären – die Technik dafür war vorhanden. Industrien
und Städte hätten sich anders und anderswo entwi-
ckelt, entlang der Flüsse und Kanäle statt entlang der
Eisenbahnen, gewisse Industrien hätten sich langsam-
er, andere schneller ausgebreitet, aber der Nettoeffekt
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LexPI Bd. 1 Eisenbahn 86

der fehlenden Eisenbahnen wäre weit geringer gewe-


sen als die meisten glauben: eine Einbuße am Sozial-
produkt bis zum Jahr 1890 von maximal rund fünf
Prozent. Soviel wächst die Wirtschaft in den USA im
Durchschnitt in normalen Zeiten in zwei Jahren, d.h.
wenn wir Fogel glauben dürfen, hat die Eisenbahn die
USA rein wirtschaftlich nur zwei Jahre schneller
dahin gebracht, wohin sie auch ohne Eisenbahn ge-
kommen wäre.
& Lit.: Robert William Fogel: Railroads and Ameri-
can economic growth, Baltimore 1964.

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LexPI Bd. 2 Eisenbahn. 82

Eisenbahn
Die erste deutsche Eisenbahn führte von Nürn-
berg nach Fürth
Die erste größere deutsche Eisenbahn führte von der
Zeche Himmelsfürster Erbstollen im heutigen Essen-
Steele durch das Deilbachtal über Kupferdreh nach
Langenberg; sie wurde schon 1830, fünf Jahre vor der
Strecke Nürnberg-Fürth, gebaut. Allerdings wurden
die bis zu sieben Wagen, die hintereinandergespannt
auf dieser Eisenbahn verkehrten, noch von Pferden
gezogen – der König von Preußen, dem diese Gegend
Deutschlands damals unterstand, hatte, u.a. auch auf
Druck der Kohlentreiber, die um ihre Arbeitsplätze
fürchteten, den Dampfbetrieb verboten.
& Lit.: W. Schneider: Essen – Abenteuer einer
Stadt, Düsseldorf 1971; R. Ostendorf: Die Ge-
schichte der Eisenbahndirektion Essen, Stuttgart
1983; W. Gantenberg: Auf alten Kohlenwegen,
Essen 1994; Stichwort vorgeschlagen von Udo
Thein.

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LexPI Bd. 1 Eiserner Vorhang 87

Eiserner Vorhang
Der »Eiserne Vorhang« ist eine Wortschöpfung
von Winston Churchill
Im März 1946 hatte Churchill in einer Rede am West-
minster College im amerikanischen Missouri auf das
Auseinanderdriften der Siegermächte anspielen wol-
len und gesagt: »Von Stettin an der Ostsee bis nach
Triest an der Adria senkt sich ein eiserner Vorhang
durch Europa« (From Stettin in the Baltic to Trieste
in the Adriatic an iron curtain has descended across
the continent); dieses Schlagwort wurde in dem gera-
de beginnenden Kalten Krieg begierig aufgegriffen
und seitdem immer Churchill zugeschrieben.
In Wahrheit hatte schon die belgische Königin Eli-
sabeth nach dem Einmarsch der Deutschen 1914 die-
ses Bild gebraucht: »Zwischen [Deutschland] und mir
ist nun für immer ein eiserner Vorhang niedergegan-
gen.« Mitte der zwanziger Jahre kommentierte der
britische Botschafter in Berlin den geplanten deutsch-
französischen Sicherheitspakt wie folgt: »Ich bleibe
bei meiner Überzeugung, daß der beste Schutz so-
wohl für Frankreich wie für Deutschland der ›Eiserne
Vorhang‹ wäre, das heißt der Gedanke einer neutrali-
sierten Zone, die nicht überschritten werden darf ...
Könnte nicht der Ärmelkanal zu einem ›Eisernen Vor-
hang‹ gemacht werden?« Am 18. Februar 1945 gab
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LexPI Bd. 1 Eiserner Vorhang 87

es eine Schlagzeile »Hinter dem Eisernen Vorhang«


in der Berliner Zeitung »Das Reich«, am 25. Februar
1945 berichtet die gleiche Zeitung, daß Propaganda-
minister Goebbels zweimal von einem Eisernen Vor-
hang zwischen den Deutschen und den Russen ge-
sprochen hätte.
& Lit.: Georg Büchmann: Geflügelte Worte, Ausga-
be Ex Libris, 6. Auflage, Frankfurt 1991.

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LexPI Bd. 2 Eiweiß 82

Eiweiß
Das Weiße vom Ei enthält mehr Eiweiß als der
Dotter
Das Weiße vom Ei heißt Eiklar, es enthält weit weni-
ger Eiweiß als der Dotter.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Elefanten 1 88

Elefanten 1
Elefanten werden bis zu 100 Jahre alt
Die ältesten Elefanten, deren Alter nachgewiesen wer-
den konnte, wurden bisher laut Guiness Book of Re-
cords 70 bzw. 76 Jahre alt. Die meisten werden aber
keine 50.

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LexPI Bd. 1 Elefanten 2 88

Elefanten 2
Elefanten haben Angst vor Mäusen
Elefanten haben keine besondere Angst vor Mäusen;
man sieht sie oft im Zirkusheu oder in Zoogehegen
friedlich mit diesen zusammen. Bei einem von Bern-
hard Grzimek durchgeführten einschlägigen Experi-
ment rannten die Versuchselefanten denn auch keines-
wegs unter erschreckten Trompetenstößen aufgelöst
davon; sie brachten vielmehr »ihre Rüssel weit geöff-
net ganz dicht an die Mäuse heran und zertraten sie
schließlich«.
Anders bei Grzimeks Versuchen mit Kaninchen
und Dackeln: Hier wichen die Elefanten ängstlich
zurück und bewarfen die anderen Tiere aus der Ferne
mit Sand und Steinen.

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LexPI Bd. 1 Elefanten 3 88

Elefanten 3
Elefanten haben ein außergewöhnliches Gedächt-
nis
Auch das phänomenale Gedächtnis von Elephanten
existiert vor allem in der Phantasie von Zeitungschrei-
bern. Es mag zwar durchaus stimmen, wie man zu-
weilen liest, daß ein Elefant einen Peiniger nach Jah-
ren wiedererkennt und attackiert, aber das kann einem
Löwen- oder Tigerquäler ebenso passieren.

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LexPI Bd. 2 Elefanten 1 82

Elefanten 1
Elefanten sind Dickhäuter
Elefantenhaut ist eher dünn: kaum dicker als 2–4 cm
und bis dicht unter die verhornte Schicht sehr gut
durchblutet. »Sie ist überall sehr tastempfindlich.«
Falsch ist auch, daß Elefanten durch den Rüssel
trinken: Sie trinken mit dem Rüssel; sie saugen Was-
ser mit dem Rüssel auf und spritzen es dann in den
Mund. Auf diese Weise leeren sie zuweilen mehr als
ein Dutzend Eimer hintereinander.
Und falsch ist schließlich auch, daß Elefanten ihre
Stoßzähne abwerfen, um diese durch neue zu ersetzen.
Zwar ersetzen Elefanten tatsächlich ihre Zähne bis zu
sechsmal während ihres Lebens, nur die zwei Stoß-
zähne nicht. Sind diese abgebrochen oder ausgefallen,
muß der Elefant den Rest des Lebens ohne sie ver-
bringen.
& Lit.: Vitus B. Dröscher (Hrsg.): Rettet die Elefan-
ten Afrikas, Hamburg 1990; Bertelsmann Lexi-
kon der Tiere, Gütersloh 1991; Stichwort vorge-
schlagen von Herbert Hamacher.

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LexPI Bd. 2 Elefanten 2 83

Elefanten 2
Es gibt weiße Elefanten
Weiße Elefanten hat es nie gegeben. Die heute als
»weiße« Elefanten verehrten und in Südostasien sehr
geschätzten Tiere (angeblich war Buddha vor seiner
Geburt als Mensch ein weißer Elefant, in Thailand
werden weiße Elefanten deshalb automatisch Eigen-
tum des Königs) sind hellgrau oder rosa gefärbte Al-
binos.
& Lit.: Jeheskel Shoshani (Hrsg.): Elefanten. Enzy-
klopädie der Tierwelt, Hamburg 1992.

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LexPI Bd. 2 Elefanten 3 83

Elefanten 3
Es gibt Elefantenfriedhöfe
Afrikanische Elefanten sterben mit ca. 60 Jahren, und
zwar vor Hunger. Weil nach der bis zu sechsmaligen
Erneuerung seiner verbrauchten Zähne keine neuen
mehr nachwachsen, kann der Elefant seine aus Gras
und Laub bestehende Standardnahrung nicht mehr
richtig zerkauen, das unzerkaute Gras bleibt großteils
unverdaut, und der Elefant muß hungern. Deshalb
sucht er gern in Sümpfen nach besser verdaulichen
weichen Gräsern, wobei er oft ganz ohne jede Ab-
sicht, und ohne einen Friedhof aufzusuchen, im
Schlamm versinkt und stirbt.
& Lit.: Jeheskel Shoshani (Hrsg.): Elefanten. Enzy-
klopädie der Tierwelt, Hamburg 1992.

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LexPI Bd. 2 Elefanten 4 84

Elefanten 4
Elefanten wurden erstmals von Hannibal im
Krieg verwendet
Schon hundert Jahre vor Hannibal hatte König Poros
von Pandschab gegen Alexander den Großen Kriegse-
lefanten in die Schlacht geschickt; dito Dareios III.,
der in der Schlacht von Gaugamela seine Truppen mit
15 indischen Elefanten stärkte. Auch Alexander selber
hatte später mehr als 200 Kriegselefanten, er gewann
mit diesen u.a. die Schlacht am Hydaspes (der Fluß
heißt heute Jhelum).
Selbst die Römer hatten schon lange vor Hannibal
Erfahrung mit gegnerischen Elefanten: In der Schlacht
bei Herakleia unterlagen sie dem Molosserkönig Pyrr-
hus (der Urheber des »Pyrrhussieges«), dieser hatte
20 Elefanten auf seiner Seite. Als daher Hannibal mit
seinen 8 übriggebliebenen Kampfelefanten in Nordi-
talien erschien, konnte diese Waffe keinen mehr er-
schrecken.
& Lit.: E. Brumford: Hannibal, New York 1981;
Brockhaus – Wie es nicht im Lexikon steht,
Mannheim 1996.
¤ Hannibal setzt mit seinem Heere und Schlachtele-
fanten über die Rhone, so wie ihn Zeichner nach
2000 Jahren sehen
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LexPI Bd. 2 Elektrischer Strom 84

Elektrischer Strom
Das Wesen der Elektrizität wurde erst in der
Neuzeit anerkannt und ausgenutzt (s.a. ð »Ver-
silbern«)
Schon vor mehr als 2000 Jahren haben die Parther im
heutigen Persien den elektrischen Strom zu handwerk-
lichen Zwecken (Galvanisieren) ausgenutzt. Wie mo-
derne Archäologen herausgefunden haben, sind die
seltsamen, 1936 bei Ausgrabungen in der Nähe von
Bagdad und später noch an vielen anderen Stellen ge-
fundenen Terrakottavasen mit inwendigem Kupferzy-
linder in Wahrheit nichts als primitive Batterien. Alle
nötigen Zutaten wie Eisen, Blei oder Bitumen waren
vorhanden, mit einer sauren oder laugenartigen Flüs-
sigkeit gefüllt sind diese Vasen sogenannte »galvani-
sche Elemente«. Anläßlich der Ausstellung »Sumer –
Assur – Babylon« im Hildesheimer Roemer- und Pa-
lizaeus-Museum 1978 hat der Ägyptologe Arne Egge-
brecht aus diesen Zutaten plus dem Saft von frisch ge-
preßten Trauben einen Strom von einer Spannung
eines halben Volt erzeugt.
& Lit.: J. Zahn: Nichts Neues mehr seit Babylon,
Hamburg 1959; G. Prause: Tratschkes Lexikon
für Besserwisser, München 1986.

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LexPI Bd. 2 »Elementary, my dear Watson« 85

»Elementary, my dear Watson«


Diese wohl berühmtesten Worte des berühmten De-
tektivs kommen in keiner einzigen der 68 Sherloc-
-Holmes-Novellen vor, die Arthur Conan Doyle in
seinem Leben schrieb.
& Lit.: H. van Maanen: Kleine encyclopedie van
misvattingen, Amsterdam 1994.

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LexPI Bd. 2 Elfenbein 85

Elfenbein
Elfenbein entsteht nur aus den Stoßzähnen von
Elefanten
Elfenbein wird auch aus den Hauern von Narwalen,
Walrossen, Flußpferden und Keilern hergestellt. Das
Wort hat auch nichts mit Elfen zu tun; es leitet sich
vom althochdeutschen »helfantbein« ab, das heißt
»Elefantenknochen«.
& Lit.: Stichwort »Elfenbein« in der Brockhaus En-
zyklopädie, Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 2 Elfmeter 85

Elfmeter
Der gefoulte Spieler ist ein schlechter Elfmeter-
schütze
Diese Faustregel ist zumindest für die Bundesliga
falsch. Nach der folgenden Statistik von SAT.1 sind
die gefoulten Spieler ganz im Gegenteil die besseren
Elfmeterschützen:
Verwandelte Elfmeter bezogen auf die Anzahl aller
Elfmeter in %
Jahr Gefoulte Spieler Alle Elfmeter
1993/94 100,0% (5 von 5) 83,78% (62 von 74)
1994/95 83,33% (10 von 12) 82,35% (70 von 85)
1995/96 100,0% (6 von 6) 74,70% (62 von 83)
1996/97 80,00% (4 von 5)1 73,17% (30 von 41)

Aufsummiert über die letzten 3 1/2 Jahre:


Gefoulte Spieler (93–97) Alle Elfmeter (93–97)
89,29% (25/28) 78,50% (224/283)

Von 1993 bis 1997 haben nur drei gefoulte Spieler –


Peter Közle, Giovane Elber und Harry Decheiver –
den Strafstoß nicht verwerten können.
& Quelle: Persönliche Mitteilung von Heiko Rahlfs,
Sportredaktion SAT.1.
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LexPI Bd. 2 Elfmeter 86

Fußnoten

1 Stand: 17. Spieltag 1997

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LexPI Bd. 2 Elise 86

Elise
Beethoven schrieb »Für Elise« für Elise
Beethoven schrieb »Für Elise« in Wahrheit für There-
se. Das Manuskript für dieses berühmte Klavierstück
von 1808 ist zwar verschollen, bekannt ist aber, daß
Beethoven zu dieser Zeit für die Tochter Therese
eines Wiener Arztes namens Malfatti schwärmte, und
dieser Therese hat er auch sein Stück gewidmet. Bei
der Drucklegung hat man aber die notorisch unlesbare
Handschrift Beethovens mißdeutet und »Therese« in
»Elise« umgewandelt, und dabei ist es dann geblie-
ben.
& Lit.: H. van Maanen: Kleine encyclopedie van
misvattingen, Amsterdam 1994; Stichwort vorge-
schlagen von H. van Maanen.

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LexPI Bd. 1 Elstern 88

Elstern
Elstern stehlen Ringe und Edelsteine
Die diebischen Elstern tragen ihren Ruf nicht ganz zu
Recht, wenn man dem Vogelkundler Wolfgang
Makatsch glauben darf: »Obwohl die Elster eine ge-
wisse Vorliebe für blinkende Gegenstände hat, habe
ich noch nie in den zahlreichen von mir untersuchten
Elsternnestern irgendwelche derartige Sachen gefun-
den.«
& Lit.: W. Makatsch: Die Vögel in Feld und Flur, 2.
Aufl. Radebeul 1955.

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LexPI Bd. 2 Eltern 87

Eltern
Von allen Mitgliedern einer Familie bestimmen
vor allem die Eltern den späteren Lebensweg der
Kinder
Den größten Einfluß auf den späteren Lebensweg von
Kindern haben nicht die Eltern, sondern – falls vor-
handen – die Geschwister. So die vieldiskutierte
Theorie des amerikanischen Historikers und Soziolo-
gen Frank J. Sulloway. Ob ein Junge oder ein Mäd-
chen später ein Neuerer oder ein Bewahrer, ein Revo-
luzzer oder ein Systemerhalter wird, hänge mehr als
von allen anderen familiären Variablen davon ab, ob
er oder sie zuerst oder zuletzt geboren ist.
Fast alle großen Umstürzler der Weltgeschichte, ob
in Politik, Religion oder Wissenschaft, waren nachge-
boren: Fidel Castro, Che Guevara, Karl Marx, Fried-
rich Engels, Jean-Jacques Rousseau, Isaac Newton,
Voltaire, Kopernikus, Charles Darwin, alle waren
keine ersten Kinder. Und wenn Erstgeborene zu Re-
voluzzern werden, haben sie selten die typische Fami-
lienkarriere von Erstgeborenen erlebt: Galilei, ein
Erstgeborener, war neun Jahre älter als das älteste sei-
ner Geschwister und damit fast ein Einzelkind, Kep-
ler, ein anderer Revolutionär der Wissenschaft, wurde
im Alter von 17 von seinem Vater verlassen, den er
niemals wiedersah, und Martin Luther, ein anderer
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eltern 87

Erstgeborener, sah sich selbst wohl eher als Bewahrer


denn als Umstürzler und Revoluzzer (z.B. konnte er
den aufständischen Bauern nur wenig Sympathie ent-
gegenbringen, er unterstützte stets die Staatsgewal-
ten).
Denn das ist eines der Kennzeichen von Erstgebo-
renen: Sie haben die Tendenz, den hergebrachten Sta-
tus quo zu schützen. Da nun die Nachgeborenen diese
Stelle des Systemerhalters in der Familie schon be-
setzt gefunden haben, so die These Sulloways, mü-
ssen sie, um sich ihren Anteil an Aufmerksamkeit und
Zuneigung der Eltern zu sichern, ein anderes Verhal-
tensfeld besetzen. Und das ist eben das des Revoluz-
zers.
& Lit.: Frank J. Sulloway: Born to rebel, New York
1996; Daniel Goleman: »First, but not always
equal«, The Times, 10.5.1996; Stichwort vorge-
schlagen von Percy A. Rhode und Dietrich Groh.

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LexPI Bd. 1 Emanzipation 89

Emanzipation
Die Reformation hat die Emanzipation der Frau-
en eingeleitet
Die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts
hat nicht, wie viele glauben, die Emanzipation der
Frau vorangebracht; sie hat sie eher hintertrieben.
Weil Luther, Calvin, Zwingli und die anderen Refor-
matoren anders als die etablierte Kirche auf Eigenver-
antwortung und individuelle Selbstentfaltung setzten,
glauben viele, daß damit auch die Frauen ihren langen
Marsch zur Gleichberechtigung begonnen hätten, aber
das ist falsch.
Wenn man einer einschlägigen neuen Studie von
Lyndal Roper glauben darf, war fast das Gegenteil der
Fall. Durch die vielfältigen Zwänge der neuen »bür-
gerlichen Rechtschaffenheit«, durch die weit strengere
Verfolgung sexueller Abweichungen, durch die neue
protestantische Arbeitsethik gerieten Frauen von dem
mittelalterlichen Regen in eine neuzeitliche Traufe.
Sie waren nicht weniger, sondern eher mehr abhängig
als zuvor, sie hatten nicht mehr, sondern weniger als
zuvor ihr Schicksal in den eigenen Händen, und hat-
ten, was die Emanzipation betrifft, durch den Abfall
der Reformatoren von der etablierten Kirche nur ver-
loren.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Emanzipation 89

& Lit.: Lyndal Roper: Das fromme Haus: Frauen


und Moral in der Reformation, Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 1 Encyclopaedia Britannica 89

Encyclopaedia Britannica
Die Encyclopaedia Britannica kommt aus Groß-
britannien
Die Encyclopaedia Britannica kommt schon lange
nicht mehr aus Großbritannien; der aktuelle Verleger
und Eigentümer aller Rechte ist die amerikanische
Aktiengesellschaft »Encyclopaedia Britannica Inc.«
mit Sitz in Chicago.
Schon 1920 waren die Rechte an diesem berühm-
ten Lexikon, dem auch die Autoren des vorliegenden
Buches viele Informationen verdanken, nach Amerika
gewechselt, damals an das Versandkaufhaus Sears-
Roebuck; von dort wanderten sie über die Universität
von Chicago zu einer eigens für dieses Lexikon ge-
gründeten Aktiengesellschaft, die seit 1941 die Ge-
schicke dieses Werkes in den Händen hält.
& Lit.: Stichwort »Encyclopaedia Britannica« in
»The New Encyclopaedia Britannica, Ready Refe-
rence«, Chicago 1994.

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LexPI Bd. 2 Engel 88

Engel
Engel haben Flügel
Wo immer diese Gottesboten im Alten oder Neuen
Testament erscheinen, ist von Flügeln keine Rede:
»Der Engel des Herrn fand Hagar in der Wüste« (Ge-
nesis 16,7); »Der Engel Gottes, der den Zug anführte,
erhob sich und ging an das Ende des Zuges« (Exodus
14,19); »Der Engel des Herrn kam und setzte sich
unter die Eiche bei Ofra« (Richter 6,11); »im sechsten
Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine
Stadt in Galiläa namens Nazareth (...) gesandt«
(Lukas 1,26) usw. Die einzigen biblischen Gestalten
mit Flügeln sind die Serafim und Cherubim, aber das
sind keine Boten Gottes, sondern Mitglieder des gött-
lichen Hofstaates, die auch schon durch ihre Löwen-
leiber etwas aus der Rolle fallen.
Demzufolge werden Engel in der frühchristlichen
Kunst auch durchweg ohne Flügel abgebildet. Erst ab
Ende des 4. nachchristlichen Jahrhunderts sieht man
Engel auch mit Flügeln, vermutlich um ihr plötzliches
Erscheinen und Verschwinden wie auch die Auffahrt
in den Himmel für die Menschen nachvollziehbarer
zu machen. In der Renaissance entwickeln sich dann
zusätzlich die beflügelten Mädchen- oder Kinderengel
(Putten; bis dato waren Engel durchweg junge Män-
ner), und heute gehört der Flügel zum Engel wie der
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LexPI Bd. 2 Engel 89

Zylinderhut zum Schornsteinfeger.


& Lit.: C. Westermann: Gottes Engel brauchen
keine Flügel, Berlin 1957; Engeldarstellungen aus
zwei Jahrtausenden (Ausstellungskatalog), Rek-
klinghausen 1959; Wörterbuch des Christentums,
München 1995.
¤ Angelo Bronzino: Girlande mit flügellosem Engel
(Detail aus den Fresken der Kapelle der Eleonora
da Toledo im Palazzo Vecchio in Florenz)

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LexPI Bd. 1 England 1 90

England 1
In England regnet es mehr als in Italien
In London fallen pro Jahr 590 mm Niederschlag, in
Rom 760, in Florenz 870, in Mailand 1000 und in
Genua sogar 1100. Damit ist London eine der
trockensten Städte in Europa.
Auch im Rest des Landes ist England trockener als
Italien: durchschnittlich 900 Millimeter Niederschlag,
verglichen mit 950 in Italien. Daß trotzdem die aus-
ländischen Gäste einen ganz anderen Eindruck mit
nach Hause nehmen, liegt an der Verteilung: in Italien
regnet es vor allem im Herbst und Winter, in England
gleichmäßig das ganze Jahr. Und auch die Dauer der
Regenschauer ist verschieden: In England kommt der
Regen britisch-dezent in kleinen Dosen, dafür aber
öfter (im Durchschnitt regnet es an jedem zweiten
Tag), in Italien seltener, aber dann gewaltig. Daher
hat man das Gefühl, es regnet weniger, obwohl die
reine Menge des Regens in Italien größer ist.
& Lit.: World survey of climatology, Bände 5 und 6,
Amsterdam 1970 bzw. 1977.

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LexPI Bd. 1 England 2 90

England 2
In England wächst kein Wein
Nur wenige Kontinentaleuropäer denken beim Stich-
wort England an Weinberge und Wein. Trotzdem
wird auf den britischen Inseln schon seit Jahrhunder-
ten Wein angebaut, wenn auch früher mehr als heute.
Die mittelalterlichen englischen Klöster bis hinauf
nach Liverpool und Nottingham z.B. produzierten
einen sehr beliebten Wein, der den Überlieferungen
zufolge keinen Vergleich mit anderen zu scheuen
brauchte, und hätte sich England nicht 1152 das fran-
zösische Bordeaux gesichert (und damit den einheimi-
schen Winzern selber Konkurrenz gemacht), wer weiß
wieviele Winzer es noch heute auf der Insel gäbe.
Die meisten noch verbliebenen Anbauflächen lie-
gen im Süden und Südosten, in der Grafschaft Kent,
entlang der Themse und um Cambridge. Sie sind
heute nach mehreren hundert Jahren der Vernachlässi-
gung wieder im Wachsen begriffen und bedecken zu-
sammen wieder etwa 400 ha, soviel wie in Deutsch-
land das Anbaugebiet der Saar.
Ein anderes weinproduzierendes Land, das man
normalerweise nicht als solches kennt, ist Kanada.
& Lit.: Hugh Johnson: Der große Weinatlas, 24.
Auflage, Bern 1992.
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LexPI Bd. 1 England 2 91

¤ In England produziert und abgefüllt

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LexPI Bd. 1 England 3 91

England 3
In England wird der meiste Tee getrunken
Pro Kopf und Jahr wird in Irland mehr Tee getrunken
als in England (Quelle: International Tea Committee
LTD, London).

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LexPI Bd. 1 England 4 91

England 4
Alle erwachsenen Engländer dürfen wählen
Die Mitglieder des englischen Oberhauses sowie die
Königin haben bei den britischen Unterhauswahlen
keine Stimme.
& Lit.: John McEldowney: Public law, London
1994.

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LexPI Bd. 2 Englischhorn 89

Englischhorn
Das Englischhorn ist ein englisches Horn
Das als Englischhorn bekannte Musikinstrument ist
eine Art Oboe; es wird aus Holz hergestellt und hat
weder mit einem Horn noch mit England das Minde-
ste zu tun. Vermutlich verdankt es seinen Namen
einer gewissen Ähnlichkeit mit den gebogenen Jagd-
hörnern, wie man sie aus England kennt.
& Stichwort vorgeschlagen von Josef Stern.

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LexPI Bd. 2 Entschlackungskuren 89

Entschlackungskuren
Entschlackungskuren räumen den Darm auf
»Fasten bis zur völligen Darmentleerung ist medizi-
nisch unsinnig«, schreibt Bild der Wissenschaft.
»Vor allem ältere Menschen werden von der Roßkur
nur unnötig geschwächt. Besser als gar nichts zu
essen ist eine ballaststoff- und faserreiche Nahrung
mit Rohkost und viel Gemüse, die die Verdauung an-
regt und die Darmfalten ausputzt.«
& Lit.: »Fünf Vorurteile übers Essen«, Bild der
Wissenschaft 1/1997, S. 68.

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LexPI Bd. 1 Entwicklungshilfe 91

Entwicklungshilfe
Entwicklungshilfe hilft armen Ländern beim Ent-
wickeln
Wenn man verschiedenen Ökonomen glauben darf,
die sich mit diesem Thema befassen, so landet ein
Großteil unserer Entwicklungshilfe letztendlich da,
wo wir sie nicht sehen wollen: auf den Konten und in
den Bäuchen der Reichen, die es auch in armen Län-
dern gibt.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen haben die
westlichen Entwicklungsgelder, die seit dem Zweiten
Weltkrieg in die Dritte Welt geflossen sind, weder für
mehr Wachstum gesorgt, also indirekt den Lebens-
standard aller angehoben, noch das Los der Armen di-
rekt merklich aufgebessert. Selbst wenn die Entwick-
lungsgelder zweckgebunden ausgegeben werden mü-
ssen, finden sie per Umweg doch den Weg in falsche
Kassen. Denn wenn andere Krankenhäuser bauen und
Kinder impfen, braucht es die eigene Regierung nicht
zu tun; sie kann das Geld stattdessen für Panzer oder
Staatsempfänge nutzen.
Und genau das ist, wenn wir verschiedenen ein-
schlägigen Studien glauben dürfen, in großem Um-
fang auch geschehen: Sowohl Armut wie Wirtschafts-
wachstum eines armen Landes sind im wesentlichen
unabhängig von Entwicklungshilfe. So sind etwa die
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LexPI Bd. 1 Entwicklungshilfe 92

von der EG und ganz besonders Frankreich sehr gene-


rös bedachten ehemaligen französischen Kolonien in
Zentralafrika in den letzen 30 Jahren genauso schnell
bzw. besser gesagt genauso langsam gewachsen wie
ihre weniger gut versorgten Nachbarländer, und auch
für den Rest der Dritten Welt ist die Korrelation zwi-
schen Wirtschaftswachstum und Entwicklungshilfe
nahe Null.
& Lit.: »Down the rathole«, The Economist,
10.12.1994; P. Boone: »The impact of foreign aid
on savings and growth«, Diskussionspapier, Lon-
don School of Economics 1994.

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LexPI Bd. 1 Epoche 92

Epoche
»Von hier und heute geht eine neue Epoche der
Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid
dabeigewesen«
So soll Goethe im September 1792 in Valmy ange-
sichts einer vor den revolutionären Franzosen fliehen-
den preußischen Armee gesprochen haben. Aber kei-
ner der Zeitgenossen weiß etwas davon. In den Me-
moiren eines Majors von Massenbach aus dem Jahr
1809 wird Goethe nur der weit weniger prägnante
Ausspruch zugeschrieben: »Der 20. September 1792
hat der Welt eine andere Gestalt gegeben; es ist der
wichtigste Tag des Jahrhunderts.«
Erst 1820/22, als Goethe seine Kampagne in
Frankreich 1792 niederschrieb und damit 30 Jahre
Zeit gehabt hatte, an seinem spontanen Wort zu ba-
steln (und auch keine Angst mehr haben mußte, daß
die Vorhersage danebengeht), kommt diese berühmte
Prognose zum ersten Mal in Goethes Werken vor.
& Lit.: William Lewis Hertslet: Der Treppenwitz
der Weltgeschichte, 11. Auflage, Berlin 1965.

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LexPI Bd. 2 Erbkrankheiten 89

Erbkrankheiten
Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach-
wuchses« war ein geistiges Produkt der Nazis
Das berüchtigte »Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses« von 1933 wurde schon lange vor der
Machtübernahme der Nationalsozialisten von alles
andere als braunen Ärzten ausgearbeitet und von den
Nazis einfach übernommen. Es fußt auf Gedanken der
englischen Statistiker Francis Galton und Ronald
Fisher, die schon lange vor den Nazis im Ausland
willig aufgegriffen worden waren. »Das unnatürliche
und zunehmend schnellere Anwachsen der geistes-
schwachen und wahnsinnigen Bevölkerungsschichten,
das mit stetem Rückgang bei den tüchtigen, starken
und überlegenen Schichten einhergeht, konstituiert
eine Gefahr für Nation und Rasse, die gar nicht über-
bewertet werden kann«, schrieb Winston Churchill im
Jahr 1910. »Ich finde, daß die Quelle, aus welcher der
Strom des Wahnsinns gespeist wird, ausgetrocknet
und versiegelt werden sollte, noch bevor ein weiteres
Jahr ins Land zieht.«
Ein Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuch-
ses gab es in den USA schon 1909 (über 50.000 Ste-
rilisierungen bis 1950). Im Jahr 1928 folgte die
Schweiz und 1929 Dänemark, und auch Island, Nor-
wegen, Finnland und Schweden kamen wenig später
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LexPI Bd. 2 Erbkrankheiten 90

ebenfalls dazu.
& Lit.: H. Nachtsheim: »Das Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses aus dem Jahr 1933 in
heutiger Sicht«, Ärztliche Mitteilungen,
18.8.1962; J. Fischer: »Rückblick und Vorschau
zu einem Sterilisierungsgesetz«, Gesundheitspoli-
tik 6, 1964, S. 340–354; Luc Bürgin: Irrtümer
der Wissenschaft, München 1997 (besonders der
Abschnitt »Irrweg Eugenik«); Stichwort vorge-
schlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Erbsen 90

Erbsen
Erbsen haben Schoten
Erbsen haben Hülsen, keine Schoten. Mit »Schoten«
meint man in der Botanik die Früchte der sogenannten
Kreuzblütler, das sind Kräuter oder Sträucher mit je
vier kreuzweise stehenden Kelch- und Blütenblättern.
& Lit.: F. Jacob, E.J. Jäger und E. Ohmann: Bota-
nik, 4. Auflage, Stuttgart 1991; Stichwort vorge-
schlagen von Maren Sylvester und Ralf
Kehlenbeck.

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LexPI Bd. 2 Erdbeeren 90

Erdbeeren
Erdbeeren sind Beeren
Die Erdbeere ist biologisch gesehen keine Beere, son-
dern eine sogenannte Sammelnußfrucht. Was wir als
»Erdbeere« verzehren, ist in Wahrheit eine – zugege-
ben ungewöhnlich fleischige – Blütenachse, die ei-
gentlichen Früchte der Erdbeerpflanze aber sind die
winzigen, auf dieser fleischigen roten Blütenachse an-
gebrachten Nüsse (ähnlich bei Himbeeren und Brom-
beeren – hier treten an die Stelle der Mini-Nüsse klei-
ne Steinfrüchte, weshalb auch Himbeeren und Brom-
beeren in der Botanik nicht als Beeren, sondern als
»Sammelsteinfrüchte« zählen).
Mit »Beeren« meint man in der Botanik Früchte,
die nur aus fleischigen Schichten bestehende Frucht-
schalen haben, wie etwa Stachelbeeren, Hagebutten
oder Heidelbeeren, aber auch Kürbisse und Gurken.
& Lit.: F. Jacob, E.J. Jäger und E. Ohmann: Bota-
nik, 4. Auflage, Stuttgart 1991; Stichwort vorge-
schlagen von Maren Sylvester und Ralf
Kehlenbeck.

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LexPI Bd. 2 Erdnüsse 91

Erdnüsse
Erdnüsse sind Nüsse (s.a. ð »Walnuß«)
Erdnüsse sind Bohnen, keine Nüsse; sie gehören wie
die Erbsen und die Bohnen zu den Hülsenfrüchten,
die ihre Samen durch eine elastisch-ledrige Hülse
schützen; »Nüsse« dagegen haben harte Schalen.
Anders als viele glauben, kommen Erdnüsse auch
nicht vorzugsweise aus den USA – deren jährliche
Ernte von zwei Millionen Tonnen fällt weit hinter die
acht Millionen Tonnen aus Indien oder die zehn Mil-
lionen Tonnen aus China zurück (Zahlen für 1995) –
und sind auch keine alte amerikanische Knabberspe-
zialität. Sie dienten in den USA zunächst und aus-
schließlich als Schweinefutter. Erst um 1880 begann
der Zirkusunternehmer Barnum, in den Pausen Erd-
nüsse in kleinen Tüten auch für Menschen anzubie-
ten, ab da entdeckten die Amerikaner parallel zur
Liebe für den Zirkus auch die Liebe für die Erdnuß.
& Lit.: Stichwort »Peanut« in der MS Microsoft En-
zyklopädie Encarta, 1994; C. Panati: Universal-
geschichte der ganz gewöhnlichen Dinge, Frank-
furt a.M. 1994; FAO Production Yearbook, Band
50, Rom 1996.

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LexPI Bd. 1 Erdöl 93

Erdöl
Deutschland bezieht das meiste Erdöl aus dem
Nahen Osten
Der wichtigste deutsche Erdöllieferant ist England.
Im Jahr 1990 hat Deutschland aus England 14,8 Mil-
lionen Tonnen Erdöl importiert, aus Norwegen 6,6
Millionen und aus Saudi-Arabien nur 6 Millionen.
Der wichtigste arabische Lieferant war Libyen mit 11
Millionen Tonnen.
& Lit.: Jahrbuch Bergbau, Öl und Gas, Essen 1992.

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LexPI Bd. 2 Erfrierungen 92

Erfrierungen
Erfrierungen lassen sich durch Einreiben mit
Schnee bekämpfen
Erfrorene Körperteile sollte man auf keinen Fall mit
Schnee einreiben – dadurch werden die abgekühlten
und durch den Frost sehr spröden Körperzellen noch
weiter abgekühlt und u.U. sogar beschädigt. Das Rote
Kreuz empfiehlt statt dessen, die erfrorenen Körper-
stellen sanft und allmählich zu erwärmen, etwa durch
Eintauchen in warmes Wasser (nicht in heißes, denn
erfrorene Körperzellen fühlen keinen Schmerz und
können daher auch nicht vor Verbrennen warnen).
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991; Verena Corazza et al.: Kursbuch Ge-
sundheit, Köln 1992.

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LexPI Bd. 2 Erkältung 92

Erkältung
Kalte Duschen und das Schlafen in kalten Räu-
men mindern die Gefahr einer Erkältung
Eher das Gegenteil ist der Fall: Erkältungen verbrei-
ten sich durch Viren, und denen ist unsere Dusch- und
Zimmertemperatur reichlich gleichgültig. Eher ist
durch das Schlafen in kalten Räumen sogar ein höhe-
res Erkältungsrisiko zu befürchten, denn im Kalten
trocknet leicht die Nasenschleimhaut ein, dann fällt es
den Erkältungsviren leichter, diese Schleimhaut zu
durchdringen, und die Gefahr, sich zu erkälten, wird
nicht kleiner, sondern größer.
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991.

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LexPI Bd. 1 Erkältungen 93

Erkältungen
Erkältungen bekommt man von der Kälte
Erkältungen entstehen durch Viren, nicht durch Kälte.
Wir erkälten uns, indem wir uns anstecken, nicht
indem wir unter Kälte oder Nässe leiden.
Daß trotzdem Nässe und Kälte so oft mit Erkältun-
gen gemeinsam auftreten, hat verschiedene Gründe.
Z.B. halten wir uns bei kaltem öfter als bei warmem
Wetter gemeinsam mit anderen Menschen in ge-
schlossenen Räumen auf, dadurch steigt die Gefahr
einer Virusübertragung. Oder die Kälte könnte unsere
Virus-Abwehr schwächen. Was auch immer die wahr-
en Ursachen einer Erkältung sind – die Kälte selber
ist es nicht.

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LexPI Bd. 2 Eroberung Amerikas 1 92

Eroberung Amerikas 1
Die Spanier konnten Amerika vor allem mit Hilfe
der den Indianern unbekannten Pferde und Feu-
erwaffen erobern
Noch heute wundern sich viele Historiker, wie weni-
ger als hunderttausend Spanier so schnell und so pro-
blemlos dreißig bis fünfzig Millionen Indianer unter-
werfen konnten. »Durch das Schwert, das Kreuz und
den Hunger«, meint Pablo Neruda und meinen mit
ihm viele andere, aber diese Sicht ist falsch. Die Ur-
einwohner hätten vor den Spaniern Angst gehabt; vor
allem ihr Entsetzen angesichts der unbekannten Feu-
erwaffen und der riesigen Tiere, auf denen die Kon-
quistadoren daherkamen (die den Indianern bis dato
unbekannten Pferde), hätten den Spaniern das Siegen
leicht gemacht. Die Eingeborenen wären von den
glänzenden Rüstungen und bunten Fahnen der Spa-
nier eingeschüchtert und gelähmt gewesen, die Spa-
nier wären ihnen wie Götter vorgekommen, denen
man sich nolens volens unterwerfen müsse.
In Wahrheit war der anfangs tatsächlich vorhande-
ne Respekt der Indianer vor den ungewohnten Ein-
dringlingen und vor deren Pferden und Musketen bald
verschwunden. Auch an die Fahnen und Kleider,
sogar an die Kanonen der Europäer hatten sie sich
bald gewöhnt. »Als Cortez bei Xicalango, einem Ort
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Eroberung Amerikas 1 93

südlich des Hafens von Veracruz, eine Kanone abfeu-


ern ließ, als Montezumas Gesandte eintrafen, fiel die
ganze Gesandtschaft wie tot auf den Boden, und die
Spanier hatten Mühe, sie wieder aufzurichten«,
schreibt Ferdinand Salentiny, aber dieser Knalleffekt
war bald vorüber; beim zehnten Abschuß einer Kano-
ne (sofern es überhaupt dazu kam, denn das Pulver
wurde in dem feuchtheißen Klima Mittel- und Süda-
merikas sehr schnell naß und war dann nicht mehr zu
gebrauchen) fielen sie schon nicht mehr hin. Zudem
waren die antiken Kanonen wie auch die Hakenbüch-
sen der Spanier schwer zu laden; auf all ihren Erobe-
rungsfeldzügen führten die Spanier als wichtigste
Waffe die althergebrachte Lanze, und die war den
Steinschleudern und Bogen der Inkas und Azteken
nicht sehr überlegen.
Daß die Spanier dennoch so schnell und so gründ-
lich siegen konnten, hatten sie weder ihrer waffentech-
nischen Überlegenheit noch ihrem Götternimbus, son-
dern vor allem der Zwietracht der Indianer zu verdan-
ken; diese brachten sich schneller selber gegenseitig
um, als die Spanier mit dem Zählen nachkamen, sie
besorgten so das Handwerk ihrer Henker im wesentli-
chen selber. »Ohne die massive militärische Hilfe der
Herrscher von Tlaxcala (...) hätten die Spanier die Er-
oberung von Tenochtitlan, der Hauptstadt der Mexica,
wochen- oder monatelang hinausschieben müssen«
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LexPI Bd. 2 Eroberung Amerikas 1 93

(Salentiny). »In Altperu waren es die Stämme der Ka-


narr, Wanka und Chachapuyas, die ›ewigen‹ Rebellen
im Land der Inka, die Pizarro bei der Niederwerfung
des Inkareiches behilflich waren. Man darf heute ruhi-
gen Gewissens behaupten, daß die altamerikanischen
Reiche kaum ohne die massive Hilfe der Eingebore-
nen und Kaziken hätten bezwungen werden können.«
& Lit.: J. Hemming: The conquest of the Incas, Lon-
don 1970; H.J.M. White: Cortez and the downfall
of the Atztek empire, London 1971; F. Salentiny:
Santiago! Die Zerstörung Altamerikas, Frankfurt
a.M. 1980.

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LexPI Bd. 2 Eroberung Amerikas 2 94

Eroberung Amerikas 2
Vor der Ankunft der Europäer lebten die Urein-
wohner Amerikas glücklich und in Frieden
Die Herrscher Mexikos und Perus herrschten auch vor
den Spaniern so wie alle Herrscher damals herrschten:
brutal und mit Gewalt. Die Azteken etwa waren be-
kannt für ihre Menschenopfer; sie pflegten Kriegsge-
fangenen lebendigen Leibes Herzen zu entreißen. Die
Inka in Peru unterhielten ein Schädelmuseum mit den
Köpfen ihrer besiegten Feinde, »zu ihren Besonder-
heiten gehörte es, aus der Haut erschlagener Häuptlin-
ge Kriegstrommeln zu fertigen«, der Inka Atahualpa,
den Pizarro in einem Schauprozeß zum Tode verurtei-
len und durch die Garotte hinrichten ließ, »trank seine
Chicha aus der goldgeschmückten Schädelschale sei-
nes Bruders Atoc, den er im Kampf gefangennahm
und grausam töten ließ« (Huber). Unter den Opfern
dieses Terrors rekrutierten die Spanier ihre Hilfssol-
daten, nur mit diesen war es ihnen möglich, so schnell
und mit so wenig eigenen Soldaten einen ganzen Kon-
tinent zu unterwerfen.
& Lit.: S. Huber: Pizarro, Olten 1978: F. Salentiny:
Santiago! Die Zerstörung Altamerikas, Frankfurt
a.M. 1980.

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LexPI Bd. 2 Eros 95

Eros
Die Eros-Statue auf dem Londoner Picadilly Cir-
cus zeigt den griechischen Gott Eros
Der Eros auf dem Picadilly Circus wurde 1893 zum
Gedenken an den englischen Grafen und Philanthro-
pen Shaftesbury als »Engel der christlichen Barmher-
zigkeit« errichtet (anfangs hieß die Statue daher auch
»Shaftesbury Monument«).
& Lit.:
http://www.speel.demon.co.uk/other/eros.htm;
Stichwort vorgeschlagen von H. van Maanen.
¤ Dieser Griechengott ist eigentlich ein Engel

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LexPI Bd. 2 Erster Diener 95

Erster Diener
»Der König ist der erste Diener des Staates«
Diese berühmten Worte des berühmten Großen Fried-
rich sind leicht irreführend aus dem Französischen
übersetzt (Friedrich II. sprach mit Vorliebe Franzö-
sisch). Die französische Urfassung spricht von »do-
mestique« (= Hausknecht), nicht wie vielfach später
von »serviteur« (= Diener). Und zwischen diesen Be-
griffen gibt es einen kleinen, aber feinen Unterschied:
Ein Hausknecht verrichtet mehr oder wenig widerwil-
lig Dinge, die er verrichten muß, ein Diener dient
voller Liebe seinem Herren. Und mit seinem »Dome-
stiken« drückte Friedrich seinen bekannten Widerwil-
len gegen seine Königsrolle aus; er war alles andere
als glücklich, seinem Land zu »dienen«.
& Lit.: S. Haffner: Preußen ohne Legende, 3. Aufla-
ge, Hamburg 1979.

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LexPI Bd. 2 Esel 96

Esel
Esel sind dumm
Unter allen Huftieren schneiden Esel bei Intelligenz-
tests oft am besten ab. Esel auf der Weide testen mit
ihren Barthaaren, ob der Elektrozaun angeschaltet ist,
Pferde oder Kühe lassen sich erst durch Stromschläge
belehren. »Einer unserer Esel macht sich abends das
Licht im Stall an«, erfahren wir vom 2. Vorsitzenden
der »Interessengemeinschaft für Eselfreunde e.V.« in
Bochum (840 Mitglieder).
Kein Esel betritt einen unsicheren Weg, ohne vor-
her nachzudenken, wie er ihn bewältigen kann. Über
schmale Brücken und trübe Pfützen geht ein Esel nur,
wenn sein Treiber es ihm vormacht. »Folge einer
Ziege, und du wirst in einen Abgrund stürzen. Folge
einem Esel, und er führt dich in dein Dorf«, lautet ein
spanisches Sprichwort.
Ihren unverdienten Ruf als mentale Tiefflieger
haben Esel vermutlich wegen ihrer Sturheit bekom-
men. Aber genau diese Sturheit ist ein weiterer Be-
weis für Intelligenz. Denn wenn Esel stur und stör-
risch sind, haben sie in aller Regel einen Grund. »Auf
einem schmalen Pfad in der südmarokkanischen
Steinwüste trieb ein junger Berber seinen schwerbela-
denen Packesel der Oase Quarzaza zu«, schreibt
Vitus B. Dröscher. »Unvermittelt blieb das Tier ste-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Esel 96

hen und dachte nicht daran, auch nur einen einzigen


Schritt zu tun. Der Berber drosch mit einem Stock auf
den scheinbar störrischen Esel ein. Vergebens. Dann
zerrte er am Zügel. Mit der ihm eigenen Halsstarrig-
keit stemmte sich das Tier mit allen vier Beinen dage-
gen. Einen Schritt wurde es vorwärtsgeschleift, einen
zweiten und noch einen dritten. In diesem Augenblick
schrie der Berber auf. Eine giftige Kobra, die auf dem
Pfad lag, hatte ihn gebissen.«
& Lit.: Vitus B. Dröscher: Sie turteln wie die Tau-
ben, Hamburg 1988; Christina Will-Bruhn:
»Trotzkopf«, TV Hören und Sehen 43/1997;
Stichwort vorgeschlagen von Dieter Holtzmann.

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LexPI Bd. 2 Esperanto 96

Esperanto
Esperanto ist eine Kunstsprache, die von nieman-
dem wirklich gesprochen wird
Esperanto ist zwar eine Kunstsprache (es wurde 1887
von dem jüdischen Augenarzt Ludwig Zamenhof aus
Polen als kulturell neutrale und leicht zu lernende in-
ternationale Sprache quasi frei erfunden), aber es gibt
heute mehrere Millionen Menschen, die diese Sprache
sprechen. Unter den 3000 bis 4000 Sprachen, die es
heute auf der Erde gibt und die in der Mehrzahl nur
von wenigen hunderttausend Menschen gesprochen
werden, liegt Esperanto damit in der Spitzengruppe;
es ist von der katholischen Kirche als Liturgiesprache,
vom Internationalen PEN-Club als Literatursprache
und vom Weltpostverein als Sprache für Telegramme
zugelassen. Im Internet gibt es Diskussionsrunden in
Esperanto, und die jährlichen Weltkongresse der »Es-
perantisten« (1997 in Adelaide/Australien, 1998 in
Montpellier und 1999 in Berlin) ziehen jeweils meh-
rere Tausend Menschen an.
& Stichwort beigetragen von Rudolf Fischer.

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LexPI Bd. 1 Essen 93

Essen
Dicke Leute essen mehr als dünne (s.a. ð »Diät«)
Warum sind dicke Leute dick?
Die populäre Antwort ist: weil sie zuviel essen.
Und in gewisser Weise stimmt das auch. Würden sie
weniger essen, dann würden sie auch weniger wiegen.
Diese Binsenweisheit gilt für jedermann, dick oder
dünn. Jede Kalorie über das hinaus, was unser Körper
braucht, macht uns schwerer, jede Kalorie, die zum
Ausgleich der Energieverluste fehlt, macht uns leicht-
er.
In gewisser Weise ist die Antwort aber auch falsch.
Denn dicke Menschen mögen vielleicht mehr essen
als sie zur Gewichtserhaltung brauchen; aber sie
essen im Durchschnitt weniger als dünne. »Generally
speaking, fatter people eat less than thinner people«
(Ernährungswissenschaftler Peter Wood von der Stan-
ford Universität in Kalifornien). Wie eine Ernäh-
rungsstudie nach der anderen ergibt, sind unter sonst
gleichen Umständen Vielesser in der Regel dünner.
So essen etwa englische Teenager weit weniger als
ihre Eltern, im Durchschnitt sogar 300 bis 500 Kalo-
rien am Tag weniger als von der Weltgesundheitsor-
ganisation empfohlen – und sind trotzdem mehrheit-
lich zu dick. Eine andere Studie aus Schottland ergab,
daß dicke Mädchen nicht mehr essen als dünne – sie
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Essen 94

essen weniger. Und eine Untersuchung von mehr als


3000 englischen Erwachsenen – 900 Mitarbeiter der
Firma »Beecham Foods«, 1000 Angestellte der Lon-
doner Stadtverwaltung und 1500 Staatsbeamte –
ergab zur nicht geringen Überraschung aller Beteilig-
ten eine »hoch signifikante negative Korrelation zwi-
schen Kalorienverbrauch und Körperfett, und zwar
für beide Geschlechter und alle drei Teilpopulationen
gleichermaßen« (zitiert nach Cannon und Einzig;
Übersetzung von uns): »Whatever the exact figure
may be, it is save to say that we are getting fatter
while eating less.«
Die folgende Tabelle gibt dazu exakte Zahlen. Sie
zeigt den durchschnittlichen Kalorienkonsum von
normal- bzw. untergewichtigen und übergewichtigen
Versuchspersonen an, so wie er in verschiedenen Stu-
dien ermittelt worden ist:

Zu dieser Tabelle wäre noch einiges zu sagen (Defini-


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LexPI Bd. 1 Essen 94

tion von »Übergewicht«, Alter, Beruf und Normalge-


wicht der Versuchspersonen etc.), aber in dem Um-
fang, wie die normal- und übergewichtigen Probanden
in ihren sonstigen Merkmalen übereinstimmen, ist das
Ergebnis klar genug: Mit einer einzigen Ausnahme
essen dicke Probanden weniger als dünne.
Diese dicken Probanden sind in der Regel dick,
nicht obwohl, sondern weil sie soviel fasten. Denn der
Energiebedarf unseres Körpers hängt ebenfalls von
unserem Essen ab: Wer wenig ißt, trainiert den Kör-
per, dieses knappe Essen besser auszunutzen, weniger
von den Kalorien in der Nahrung zu verschwenden,
kurz, wie die Bauern sagen, das Futter besser zu ver-
werten. Wenn also zwei 1,80 große Männer mit
jeweils 80 kg Körpergewicht und identischem Ener-
giebedarf von 2800 Kalorien pro Tag je zwei Steaks
mit Beilagen und mehrere Bier mit zusammen 3500
Kalorien vertilgen, kann der eine dadurch dünner und
der andere dicker werden. Wenn der eine vorher lang
gefastet und Diät gehalten hat, wird sein Körper viel-
leicht 3000 der 3500 Kalorien wirklich auch verwer-
ten – 200 mehr als zur Gewichtserhaltung nötig – mit
anderen Worten, er nimmt zu. Der andere hat keine
Diätkur hinter sich und geht mit seiner Nahrung viel
salopper um, verwertet sagen wir nur 2500 der 3500
aufgenommenen Kalorien. Das sind 300 weniger als
er braucht, und er nimmt ab.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Essen 95

Davon zu unterscheiden ist der Fall, daß zwei Per-


sonen mit gleicher Größe, Statur und gleichem Ge-
wicht trotzdem unterschiedliche Mengen an Kalorien
brauchen, etwa weil der eine sich fit gehalten und
Sport getrieben hat und der andere nicht. Dann
braucht der Sportler wegen des größeren Muskelan-
teils am Körpergewicht, auch bei völliger Ruhe, allein
durch »base metabolic rate«, mehr Kalorien als sein
fauler Nachbar und kann auch bei identischer Futter-
Verwertungsrate abnehmen, während der andere kein
Gramm mehr ißt und verwertet und trotzdem zu-
nimmt.
& Lit.: Cannon/Einzig: Dieting makes you fat, Lon-
don 1983. Die Tabelle ist eine kondensierte Fas-
sung von Tabelle 4 aus George A. Bray: »Obesi-
ty« in: M.L. Brown (Hrsg.): Present knowledge in
nutrition, Washington 1990, S. 23–38; Bernhard
Ludwig: Anleitung zum Dickwerden, München
1990.
Die Originalquellen sind: R. Beaudoin und J.
Mayer: »Food intakes of obese and nonobese
women«, Journal of the American Dietary Asso-
ciation 1953; J.E. Lincoln: »Calorie intake, obesi-
ty, and physical activity«, American Journal of
clinical nutrition 1972; J.A. Baecke et al.: »Food
consumption, habitual physical activity, and body
fatness in young dutch adults«, American Journal
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LexPI Bd. 1 Essen 95

of clinical nutrition 1983; D. Kromhout: »Chan-


ges in energy and macronutrients in 871 middle-
aged men during 10 years of the follow up (the
Zutphen study)«, American Journal of clinical nu-
trition 1983; L.E. Braitman et al.: »Obesity and
caloric intake: the national health and nutrition
examination survey of 1971–1975«, Journal of
chronic deseases 1985; I. Romieu et al.: »Energy
intake and other determinants of relative weight«,
American Journal of clinical nutrition 1988.

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LexPI Bd. 2 Essen 1 97

Essen 1
Wir essen, was uns schmeckt
Andersherum wird ein Schuh daraus: Es schmeckt
uns, weil wir essen. Die Vorlieben für geröstete
Heuschrecken, gekochte Schweinefüße, Blutwurst
oder faule Eier, die wir Menschen in verschiedenen
Kulturen hegen, sind uns nicht in die Wiege gelegt,
sie sind uns durch Gewohnheit anerzogen.
Dieses Appetitanregen durch Gewöhnung steckt in
unseren Genen. Zu den Eigenschaften der Spezies
Homo sapiens, die dieser seit ihren Kindertagen im
Urwald das Überleben sichern, gehört auch die Freu-
de an Bekanntem: Was der Urwaldaffe schon einmal
gegessen hatte, ohne dadurch umzukommen, das aß er
gerne immer wieder; Stammesgenossen, die lieber
immer wieder Neues ausprobierten, taten dies nicht
lange (auch im Urwald gab es giftige Beeren oder
Pilze), sie selbst und ihre Gene waren bald gestorben.
Auch der kurzfristige Überdruß nach übermäßigem
Genuß von Lieblingsspeisen ist genetisch program-
miert: Er regt uns an, die Nahrung abzuwechseln.
Denn auch die Affen, die immer nur die gleichen Bee-
ren aßen, sind inzwischen – nämlich wegen Nähr-
stoffmangel – ausgestorben. So hat ein mehrere Milli-
onen Jahre langer Ausleseprozeß bewirkt, daß die
überlebenden Mitglieder der Spezies Homo sapiens
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Essen 1 97

von Natur aus ihrer gewohnten Nahrung treu bleiben,


aber innerhalb ihres kulturell geprägten Nahrungs-
spektrums gerne wechseln.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Essen 2 98

Essen 2
Unser Körper braucht im Winter mehr zu essen
als im Sommer
Weil es im Winter kälter ist, so die populäre Theorie,
und der Körper Energie zum Heizen brauche. Aber
diese Theorie ist falsch, die Energie, die unser Körper
im Sommer zum Kühlen braucht, entspricht fast exakt
dem Heizbedarf im Winter.
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991.

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LexPI Bd. 2 Essig 98

Essig
Essig verdünnt das Blut
So konnte man zuweilen früher von der Oma hören.
Aber in Wahrheit läßt selbst übermäßiger Genuß von
Essig, ganz gleich welcher Sorte, Blutbild und Organ-
funktionen unverändert.
& Stichwort vorgeschlagen von Günter Niederast-
roth.

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LexPI Bd. 2 EU-Kommission 1 98

EU-Kommission 1
Die EU-Kommission in Brüssel fordert symmetri-
sche Weihnachtsbäume
Es gibt keine EU-Regeln zu Weihnachtsbäumen. Es
gibt eine private »Christmas Tree Growers Associa-
tion of Western Europe«, der wie allen derartigen An-
bieter-Vereinen, die ja in aller Regel zur Abwehr von
Billig-Konkurrenz gegründet werden (siehe Stichwort
ð »Lizenzen« in Band 1), eine solche Forderung
durchaus zuzutrauen wäre, aber die EU hat damit
nichts zu tun..
Andere frei erfundene Euromythen betreffen das
europäische Standardpräservativ (je nach Herkunft
der Legende einmal in Italien, dann wieder Frankreich
oder England als zu klein empfunden), die europäi-
sche Standardpizza, das Verbot von Bierdeckeln (an-
geblich unhygienisch), das Verbot von krummen Gur-
ken und Bananen oder die Forderung, daß Hochseefi-
scher Haarnetze zu tragen hätten. Einige dieser Enten
sind bei gutem Willen noch als Mißverständnisse zu
deuten, etwa daß hausgemachte Gelees und Marmela-
den auf Weihnachtsmärkten und ähnlichen Basaren
nicht mehr angeboten werden dürften (es gibt zwar
EU-weite Kennzeichnungspflichten für Gelees und
Marmeladen, aber nichtkommerzielle Hersteller sind
davon ausdrücklich ausgenommen), andere gründen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 EU-Kommission 1 99

sich auf tatsächlich bestehenden, aber nicht EU-rele-


vanten Regeln (nach englischem Recht z.B. dürfen
gewisse Nahrungsmittel wegen möglicher
Ungenauigkeiten beim Wiegen nicht einzeln verkauft
werden, daraus wurde dann die Zeitungsente: »EU-
Kommission verbietet den Verkauf von Pfefferscho-
ten«), wieder andere Euromythen wurden aus ver-
schiedenen, in der Regel von Interessenverbänden
vorgebrachten Vorschlägen geboren, die jedoch nie
EU-verbindlich wurden. Aber die meisten sind genau
das, was ihr Name sagt, nämlich Mythen und frei er-
fundene Legenden.
& Lit.: »Do you still believe all you read in the new-
spapers«, Broschüre der EU-Kommission, Brüs-
sel (ohne Jahr); weitere Euromythen sind über
verschiedene Internet-Adressen zu erfahren:
www.cec.lu, www.fco.gov.uk und europa.eu.int;
Stichwort vorgeschlagen von Peter Berninger.

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LexPI Bd. 2 EU-Kommission 2 99

EU-Kommission 2
Die EU-Kommission will unser Leben regulieren
Die meisten EU-Erlasse, die uns ärgern oder amüsie-
ren, sind keine Kopfgeburten von Brüsseler Bürokra-
ten – sie sind wie die berühmten »landgebundenen Fi-
sche« die Kinder durchaus enger, nationaler Interes-
sen, die sich per Umweg über Brüssel durchzusetzen
trachten (bei den »landgebundenen Fischen« handelte
es sich um einen zum Glück erfolglosen Versuch fran-
zösischer Bauernfunktionäre, Schnecken und Frösche
zu Meerestieren zu erklären, um den notleidenden
französischen Schneckenzüchtern einen bequemen
Zugriff auf die reichlichen EU-Mittel für Fischerei zu
sichern).

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LexPI Bd. 1 Eunuchen 95

Eunuchen
Eunuchen sind unfähig zum Geschlechtsverkehr
Das hängt von der Art des Eingriffs ab, durch den
man zum Eunuchen wird. »Im allgemeinen bestand
der Eingriff nur im Wegschneiden der Hoden«,
schreibt Werner Keller. »Da jedoch auch danach oft
noch eine gewisse Erektionsfähigkeit des Gliedes und
damit die potentia coeundi bleibt, wurde im Orient
manchem Unglücklichen, vor allem, wenn er als Har-
emswächter vorgesehen war, obendrein auch noch der
Hodensack und der Penis entfernt. Die wenigen, die
diese fürchterliche Operation überlebten, standen
umso höher im Preis und waren sehr begehrt.«
& Lit.: Werner Keller: Da aber staunte Herodot,
München 1972; A.S. Ackermann: Popular falla-
cies, Detroit 1995.

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LexPI Bd. 1 Export 1 96

Export 1
Mehr Export heißst mehr Wohlstand
Mehr Export heißt keinesfalls mehr Wohlstand. Die-
ser Mythos wurde von den sogenannten Merkantili-
sten des 18. Jahrhunderts in die Welt gesetzt; die
Merkantilisten bemaßen den Reichtum eines Landes
vor allem an dem Geld, das von außen hereinkam, an
Gold, Devisen, Wertpapieren. Je mehr Güter ein Land
exportierte und je mehr Gold es netto dafür importier-
te, desto reicher war nach dieser Theorie das Land.
Diese Theorie führt aber in die Irre, denn Gold und
Wertpapiere kann man nicht essen. Wer mehr expor-
tiert als importiert, sammelt netto ausländisches Geld
alias Devisen (Gold ist heute kein internationales
Zahlungsmittel mehr). Dieses Geld können wir auf-
häufen bis wir daran ersticken, oder aber wir geben es
aus, sei es für den Kauf ausländischer Konsumgüter,
sei es für Urlaubsreisen oder sei es durch eine Investi-
tion in ausländische Wertpapiere. Was auch immer
wir mit diesen Zahlungsmitteln machen – letztendlich
können wir sie nur für Importe nützen.
Bleiben die Devisen dagegen im Keller der Zentral-
bank liegen, droht immer die Gefahr, daß die Herstel-
ler dieser Papierschnitzel eines Tages sagen: Ȁtsch,
die Zettel sind ab morgen nichts mehr wert.« Und
dann hat man seine schönen Autos oder Stahlwalz-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Export 1 96

straßen gegen ein paar Tonnen Zellstoffasern einge-


tauscht.
Ein Land mit chronischen Außenhandelsüberschüs-
sen produziert quasi gratis für den Rest der Welt. Nur
wenn den Exporten gleich hohe Importe gegenüber-
stehen, ist das ganze langfristig ein gutes Geschäft.
Exporte für sich allein gesehen sind genauso wohl-
standsmehrend wie ein harter Arbeitstag am Fließ-
band, wenn die Firma hinterher den Lohn nicht zahlt.
& Lit.: Artur Woll: Allgemeine Volkswirtschaftsleh-
re, München 1987.

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LexPI Bd. 1 Export 2 97

Export 2
Rohstoffexportierende Länder sind ärmer als ent-
wickelte Industrienationen
Wer Rohstoffe exportiert, ist arm, wer Fertigwaren
exportiert, ist reich – diese populäre Gleichung geht
nicht auf. Zu Anfang unseres Jahrhunderts waren fünf
der acht reichsten Länder dieser Erde Nettoexporteure
von sog. Primärgütern, allen voran das schon damals
reichste Land der Welt, die USA: die USA exportier-
ten damals weder Flugzeuge noch Hollywoodfilme,
auch keine Computer oder Autos, sondern Baumwol-
le, und sie lebten gut davon. Und auch die meisten an-
deren damals reichen Länder, wie Argentinien, Au-
stralien, Neuseeland, Kanada und Dänemark, expor-
tierten vor allem Lebensmittel wie Fleisch und Käse
oder Rohstoffe wie Holz und Wolle. Gegenüber die-
sen Rohstoffexporteuren fielen die meisten Exporteure
von Industrieprodukten im Lebensstandard damals
deutlich ab.
& Lit.: Paul Bairoch: Economics and world history:
Myths and paradoxes, New York 1993.

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LexPI Bd. 1 Export 3 97

Export 3
Japan ist Exportweltmeister
Seit Mitte der 80er Jahre wechseln sich Deutschland
und die USA als Spitzenreiter der Exportnationen ab.
Die gemeinhin als Exportweltmeister sowohl gefeier-
ten wie gehaßten Japaner belegen in der Regel nur
Platz 3 (im Jahr 1994 etwa exportierten die USA
Güter und Dienstleistungen im Wert von 513 Milliar-
den Dollar, Deutschland 422 Milliarden Dollar, und
Japan 397 Milliarden Dollar).
Pro Kopf der Bevölkerung gerechnet geht der Titel
des Exportweltmeisters an den Stadtstaat Singapur
(mehr als 30000 Dollar pro Kopf im Jahr 1994, ge-
genüber 5000 Dollar in der Bundesrepublik und 2000
Dollar in den USA). Auch als Anteile am Sozialpro-
dukt gerechnet führen die Exporte Singapurs die Liga
der Nationen an, gefolgt von Hongkong, Malaysia,
Tschechien und Rußland! So gesehen liegen auch
Thailand, Ungarn, Chile, China oder Griechenland
noch vor Deutschland, Japan und den USA.
& Lit.: Statistisches Jahrbuch für das Ausland, ver-
schiedene Jahre.

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F 98

»Irrtümer entspringen nicht allein daher, weil


man gewisse Dinge nicht weiß, sondern weil
man sich zu urteilen unternimmt, obgleich man
noch nicht alles weiß, was dazu erfordert wird.«
Immanuel Kant

»Die Menschen glauben an die Wahrheit all


dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.«
Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches

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LexPI Bd. 2 Fahrverbot 1 100

Fahrverbot 1
Fahrverbot ist das gleiche wie Führerscheinent-
zug (s.a. ð »Führerschein«)
Führerscheinentzug bedeutet: der Führerschein ist
weg. Und man bekommt ihn auch nicht wieder; wer
dennoch auf legale Weise wieder Auto fahren möchte,
muß einen neuen Führerschein erwerben, mit allen
Formalitäten (Prüfung, Sehtest usw.), die damit ver-
bunden sind.
Verglichen damit ist ein Fahrverbot weit weniger
dramatisch; man erhält am Ende denselben Führer-
schein zurück, und anders als der Führerscheinentzug
wird das Fahrverbot auch erst mit Rechtskraft der zu-
grundeliegenden Entscheidung wirksam; durch geziel-
ten Einspruch können geschickte Delinquenten die
Affäre damit dergestalt verzögern, daß die führer-
scheinlose Zeit gerade in den Urlaub auf Mallorca
fällt.
& Lit.: Klaus Mollenkott und Oliver Kleine: »Wann
ist der Führerschein in Gefahr?«, Recht und Pra-
xis Digital, September 1996, über die Internet-
Adresse http://www.vrp.de/sept96/beitrag/
bt055.htm.

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LexPI Bd. 2 Fahrverbot 2 100

Fahrverbot 2
Generelle Fahrverbote an bestimmten Wochenta-
gen werden erst seit der ersten Ölkrise erwogen
(s.a. ð »Autos 1«)
Schon Anfang des Jahrhunderts wurden für bestimmte
Tage generelle Fahrverbote vorgeschlagen: nicht für
Sonntage wie Anfang der 70er Jahre, aber für Son-
nentage, weil die Staubbelästigung durch Autos da-
mals viele Menschen auf die Palme brachte.
Die Autofabrikanten konterten diese Drohung mit
einem Patent für eine »verblüffend einfache Vorrich-
tung«, die darin bestand, »daß beiderseits der Tritt-
bretter des Automobils längliche Wasserbehälter an-
geordnet werden, von denen aus die Vorder- und Hin-
terräder während der Fahrt durch belebte Orte, Stra-
ßen, Villenquartiere je nach Notwendigkeit in drei
verschiedenen Graden besprengt werden. Die benetz-
ten Räder wirbeln keinen Staub auf und hinterlassen
eine nasse Spur. Da die Staubplage naturgemäß da
am stärksten ist, wo viele Automobile verkehren, wird
bei allgemeiner Anwendung die Straße durch die Au-
tomobile selbst stets feucht erhalten, so daß durch
Adhäsion und Luftwirbel keine Staubwolke erzeugt
werden kann. So erweisen die Automobilisten der All-
gemeinheit einen Dienst und sichern sich deren Wohl-
wollen«.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Fahrverbot 2 101

Durch die zunehmende Asphaltierung unserer Stra-


ßen wurde diese Neuerung dann überflüssig.
& Lit.: F.-J. Brüggemeier und M. Toyka-Seid: Indu-
strie-Natur: Lesebuch zur Geschichte der Umwelt
im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995.

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LexPI Bd. 2 Fallschirm 101

Fallschirm
Der erste Fallschirmspringer war ein Franzose
Am 22. Oktober 1797 sprang der Franzose André-
Jacques Garnerin aus 400 m Höhe über dem Pariser
Parc Monceau aus einem selbstgebauten Wasserstoff-
ballon mit einem Fallschirm ab, der erste Fallschirm-
sprung in Europa. Was aber weder Garnerin noch
Leonardo da Vinci wußten (der uns schon im 16.
Jahrhundert die Skizze eines Fallschirms hinterlassen
hatte): Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts sind in
China Zirkuskünstler mit einer Art Sonnenschirm von
Türmen abgesprungen.
& Lit.: »Der Pionier ließ seinem Hund den Vortritt«,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.1997;
Stichwort vorgeschlagen von Michael Schmidt.

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LexPI Bd. 1 Fast Food 98

Fast Food
Fast Food ist ungesund
Ein Big-Mac von McDonald's ist weder gesünder
noch ungesünder als ein Menü in einem Drei-Sterne-
Spesenritter-Speisentempel. Er enthält gemessen an
seinen Kalorien etwas zu viel Fett und etwas zu wenig
Ballaststoffe, dafür aber mehr Vitamine, Calcium und
Eisen als viele andere Speisen, die zehnmal soviel ko-
sten (und selbst das Fett-Ballaststoff-Gleichgewicht
läßt sich durch ein Glas Orangensaft billig und pro-
blemlos herstellen).
»Die ... publikumswirksamen Angriffe gegen ›Fast
Food‹, vor allem gegen den zum Symbol gewordenen
McDonald's Hamburger, gehen von falschen Annah-
men aus«, sagt der Gourmet-Kritiker und vormalige
Panorama-Moderator Gert von Paczensky. »Sie zeu-
gen von einer geradezu grotesken Unkenntnis unserer
Ernährungsgeschichte.« Denn »Fast-Food«, vorge-
kochtes Essen aus Garküchen und Buden, gab es in
den Städten Europas und Asiens schon Tausende
Jahre vor McDonald's, nur nicht so gesund. Die mei-
sten modernen Ernährungsspezialisten können bei
Fast-Food-Produkten von der Stange kaum Nährwert-
nachteile gegenüber Designer-Mahlzeiten aus der
Feinschmeckerküche entdecken. »Wer Spaß an ›Fast
Food Kultur‹ hat, sollte sich den Appetit nicht verder-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fast Food 98

ben lassen« (AID-Verbraucherdienst). »Die Frage


kann nicht heißen: Darf ich Fast Food essen? Son-
dern: Wie viel davon und wie oft kann ich es essen?«
(Allgemeine Ortskrankenkassen).
Aber diese Regel, nämlich daß es auf die Menge
ankommt, gilt für alle Nahrungsmittel. Die Feind-
schaft des aktuellen Zeitgeistes hat sich das moderne
»Fast Food« ganz offensichtlich aus ganz anderen
Gründen als aus Nährwertmängeln zugezogen: Pro-
duktionsmethoden, Abfall, Marktbeherrschung. Das
sind alles diskutable Argumente, aber deshalb sollten
wir uns doch von elitären Profi-Essern nicht die Freu-
de an der Bratwurst und dem Big Mac nehmen lassen.
& Lit.: Auswertungs- und Informationsdienst für Er-
nährung, Landwirtschaft und Forsten (AID): Fast
Food: Essen auf die Schnelle, Bonn 1990; »Vor-
urteile auf dem Teller? Die Wahrheit über Big
Mac, Currywurst &Co.«, AOK-Mitgliedermagzin
»Bleib Gesund«, Mai 1994; Gert von Paczensky
und Anne Dünnebier: Leere Töpfe, volle Töpfe –
Die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens,
München 1994; Gert v. Paczensky: »Zweimal
Hamburger und zurück? Fundstücke aus der Kul-
turgeschichte des Essens und Trinkens«, Vor-
tragsmanuskript 1995. M. Wagner: Fast schon
Food: Die Geschichte des schnellen Essens.
Frankfurt 1995.
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LexPI Bd. 2 Faultier 102

Faultier
Faultiere sind die faulsten Tiere
Das Faultier schläft 18 von 24 Stunden täglich, aber
noch fauler ist der Koalabär (eigentlich ein Beuteltier,
kein Bär; siehe Stichwort ð »Koalabär« in Band 1),
der bis zu 22. Stunden täglich schläft.
& Stichwort vorgeschlagen von Marc Schuhmacher.

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LexPI Bd. 2 Fax 102

Fax
Das Faxgerät kam nach dem Telefon
Schon 1840, Jahrzehnte vor den ersten Telefonen,
hatte der schottische Uhrmacher Alexander Bain einen
Apparat ersonnen, um beliebige Zeichen über Tele-
graphendraht zu senden: Über das zu sendende Zei-
chen – dieses mußte aus elektrisch leitendem Material
gefertigt sein – schwang ein an einen Stromkreis an-
geschlossenes Pendel hin und her. Wann immer das
Pendel das Zeichen berührte, wurde der Stromkreis
geschlossen, und ein ähnliches Pendel am anderen
Ende der Leitung schwärzte ein chemisch behandeltes
Papier. Indem sowohl das zu sendende Zeichen als
auch das Papier auf der Empfängerseite stetig unter
den jeweiligen Pendeln durchgeschoben wurden, ent-
stand beim Empfänger ein Bild des Zeichens, das zu
übertragen war.
Dieses System, das im Prinzip noch heute gilt (nur
mit Lichtstrahlen statt Pendel) wurde von dem Italie-
ner Giovanni Caselli weiterentwickelt und für eine
ständige, von 1865 bis 1870 bestehende Faxverbin-
dung zwischen Paris und Lyon eingesetzt.
& Lit.: G. Tibballs: The Guinness book of oddities,
London 1995.

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LexPI Bd. 2 Fegefeuer 104

Fegefeuer
Schon die Bibel droht uns mit dem Fegefeuer
Anders als viele Christen glauben, kommt das be-
rühmte Fegefeuer in der Bibel nirgends vor; weder im
Alten noch im Neuen Testament ist von dieser »post-
mortalen Läuterung« die Rede. Erst 200 Jahre nach
Christus stellte ein alexandrinischer Kirchenmann na-
mens Origines die These auf, daß wir nach dem Tod
noch einer Läuterung bedürften (er gibt sogar exakte
Zahlen an: ein Jahr Fegefeuer für jeden Tag, den wir
in Sünde auf der Erde leben), und diese These ist
dann peu à peu zur offiziellen Kirchenlehre aufgestie-
gen.
& Lit.: Theologische Realenzyklopädie, Berlin
1983.

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LexPI Bd. 2 Feiern 104

Feiern
Einmal im Monat darf man auch als Mieter
abends lautstark feiern
Nein, sagen die Lärmexperten des »Zentralverbandes
der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentü-
mer«: »reines Wunschrecht« sei das hartnäckige Ge-
rücht, einmal im Monat feiern sei erlaubt.
Nach aktueller Rechtslage hat in Deutschland zwi-
schen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens
Nachtruhe zu herrschen; wer diese Nachtruhe nach-
barschaftsstörend mißachtet, hat mit Geldstrafen zu
rechnen, ganz gleich ob einmal im Monat oder einmal
in zehn Jahren.
& Lit.: »Experte: Lautstarke Feier stört Ruhe der
Nachbarn«, Hannoversche Allgemeine Zeitung,
24.10.1996.

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LexPI Bd. 1 Felleisen 99

Felleisen
Dieses Gepäckstück hat mit Fell und Eisen nichts zu
tun. Der Name kommt von dem französischen »vali-
se« (Koffer oder allgemein Gepäckstück) und von
dem arabischen »waliha« (Getreidesack) und bezeich-
net im deutschen eine Reisetasche oder einen
Reisesack aus Leder.

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LexPI Bd. 2 Fernrohr 104

Fernrohr
Das Fernrohr ist eine Erfindung von Galileo Gali-
lei (s.a. ð »Glühbirne« und ð »Leonardo da
Vinci«)
Bekanntlich hat Galilei im Januar des Jahres 1610
mit einem selbstgebauten Fernrohr die Monde des Ju-
piters entdeckt. Aber erfunden hat er dieses Fernrohr
nicht. Vielmehr wird unter Experten der holländische
Optiker Hans Lipperhey als der eigentliche Erfinder
angesehen; er hat nach alten Protokollen der General-
staaten schon 1608 um ein Patent dafür ersucht, und
vermutlich waren es einschlägige Gerüchte aus Hol-
land, wo damals neben Lipperhey auch andere Erfin-
der an einem Fernrohr arbeiteten, die Galilei auf den
Gedanken brachten, sich selbst ein Teleskop zu
bauen.
Aber schon mehr als 100 Jahre vor den Holländern
und Galilei hatte Leonardo da Vinci »dicke Brillen-
gläser« zur Vergrößerung von Bildern vorgeschlagen:
»Mache Gläser für die Augen, um den Mond groß zu
sehen.« Und auch der italienische Physiker Giambati-
sta della Porta hatte schon mehrere Jahrzehnte vor
Galilei ein Instrument erdacht, »um aus der Ferne
sehen zu können«.
& Lit.: F.M. Feldhaus: »Fernrohre im Mittelalter«,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Fernrohr 105

Geschichtsblätter für Technik und Industrie 5,


1918; W. Hübschmann: »Leonardo da Vinci er-
fand das Fernrohr«, Zeitschrift für Naturlehre und
Naturkunde 16, 1968; Rolf Riekher: Fernrohre
und ihre Meister, 2. Auflage, Berlin 1990; Stich-
wort vorgeschlagen von J.V. Feitzinger und H.
Greßmann.

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LexPI Bd. 1 Fett 99

Fett
Der weibliche Körper enthält mehr Fett als der
männliche
Nach herkömmlicher Meinung besteht der Körper
einer Frau zu 25%, der Körper eines Mannes zu 15%
aus Fett. Aber nach neueren Erkenntnissen ist diese
Hypothese von der relativen Überzahl des Fetts im
Frauenkörper falsch.
Herkömmlicherweise bestimmt man das Fettgewe-
be in einem lebendigen menschlichen Körper durch
einen Umweg über dessen Dichte: ein Körper wird
gewogen, dann in Anlehnung an eine uralte, von dem
griechischen Mathematiker Archimedes erfundene
Methode in eine Wanne getaucht, wo er über den An-
stieg des Wasserpegels sein Volumen verrät, und der
Quotient Volumen/Gewicht dient dann als Indikator
für die Zusammensetzung der Körpermasse, mit dem
bekannten Resultat, daß Frauen in aller Regel prozen-
tual mehr Fett durchs Leben tragen als die Männer.
Eine weitere traditionelle Methode der Fettmessung
ist der sogenannte »pinch-test«. Dieser nützt aus, daß
für gewisse Körperpartien die Dicke der Fettschicht
unter der Haut ein guter Indikator für die gesamte
Fettmenge im Körper ist. Sehr beliebt für diesen Test
ist etwa die Rückseite des Oberarms, in der Mitte
zwischen Schulter und Ellbogen: man läßt den Arm
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fett 99

locker hängen, ein freundlicher Helfer klemmt (auf


Englisch: »pincht«) einige Quadratzentimeter lockere
Haut von den Muskeln weg, und mißt wie dick sie ist;
aus der Abweichung vom Sollwert schließt man dann
auf den Fettgehalt im Körper insgesamt. (Bei einem
Mann von 30 Jahren gelten z.B. 23 Millimeter Haut +
Fettschicht, für eine gleichaltrige Frau 30 Millimeter
als »normal«.) Auch dieses Verfahren weist für Frau-
en prozentual mehr Fett im Körper aus.
Eine neue, auf der sogenannten Kernspinresonanz
beruhende Meßmethode, kommt dagegen zu anderen
Ergebnissen: Wenngleich Männer und Frauen das
Fettgewebe in verschiedenen Körperregionen konzen-
trieren – Frauen vorzugsweise unter, Männer vor der
Gürtellinie –, sind doch die reinen Mengen dieses un-
geliebten Gewebes für beide Geschlechter etwa
gleich: ungefähr 23%, wie amerikanische Wissen-
schaftler herausgefunden haben.
& Lit.: R.M. Deutsch: Realities of Nutrition, Palo
Alto 1976 (besonders der Abschnitt »How fatness
is measured«).

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LexPI Bd. 2 Fett. 105

Fett
Fett ist ungesund (s.a. ð »Cholesterin«)
Für Fett gilt das gleiche wie für Alkohol und viele an-
dere Dinge: auf die Menge kommt es an. Eine völlig
fettfreie Kost würde zu schweren Mangelerscheinun-
gen führen, dem Körper würden die im Fett gelösten
Vitamine A, D, E und K und auch die essentiellen
Fettsäuren fehlen. Genauso ist es auch ein Irrtum zu
glauben, fette Menschen wären wegen Fett so fett –
die meisten Übergewichtigen essen zu viele hochkon-
zentrierte Kohlehydrate wie Schokolade oder Kuchen,
auch diese werden dann als Fett im Körper abgelegt.
Und auch der Glaube, daß Freunde fetter Nahrung
öfter als andere einen Herzinfarkt erleiden, konnte zu-
mindest für naturbelassene Fette wie in Nüssen, But-
ter, Speck und kaltgepreßten Ölen bisher wissen-
schaftlich nicht bestätigt werden.
& Lit.: G. Fraser et al.: »Protective effect of nut con-
sumption«, Arch. Intern. Med. 152, 1992, S.
1416ff.; W.C. Willett et al.: »Nurses health
study«, Lancet 341, 1993, S. 581ff.; Stichwort
vorgeschlagen von Max Dienel.

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LexPI Bd. 1 Feuer 100

Feuer
Das Gefährliche bei Bränden sind die Flammen
Die meisten Menschen, die bei Bränden sterben, ster-
ben durch den Rauch, nicht durch die Flammen: Pro
Jahr kommen in Deutschland mehr als tausend Men-
schen durch Kohlenmonoxyd ums Leben, nur rund
800 sterben an Verbrennungen.
& Lit.: Fachserie 12: Gesundheitswesen, des Stati-
stischen Bundesamtes (besonders Reihe 4: Todes-
ursachen).

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LexPI Bd. 2 Figur 1 106

Figur 1
Bei Figurproblemen sollte man vor allem die je-
weiligen Problemzonen trainieren (s.a. ð »Diät«
und ð »Essen« in Band 1)
Einer der größten Fitness-Mythen sagt, man könne
Fett durch gezieltes Training der befallenen Körper-
zonen quasi punktuell vertreiben – bei Bierbauch
Bauchmuskeln trainieren, bei dicken Oberschenkeln
Treppen steigen usw.
Aber so einfach funktioniert das Fett-Verbrennen
nicht – das Fett in unserem Körper verschwindet ent-
weder gleichmäßig oder gar nicht; man kann nicht das
Fett an einer Stelle vertreiben und an einer anderen
Stelle schonen. Durch gezieltes Training bestimmter
Körperpartien, etwa der Bauchmuskeln, verschwindet
allenfalls das lokale Muskelfett, aber da dieses nur
einen sehr kleinen Teil unserer angesammelten Fett-
vorräte bildet, schrumpft der eigentliche Rettungsring
zwischen Haut und Bauchmuskeln um keinen Milli-
meter.
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991; J. Garret: »The spot reduction myth«,
über die Internet-Adresse http://carlisle-
www.army.mil.
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LexPI Bd. 2 Figur 2 106

Figur 2
Idealfiguren regen zum Nachahmen an
Amerikanische Psychologen haben Frauen, die schon
seit längerer Zeit eine Schlankheitsdiät einhielten,
einen Spielfilm in drei Versionen vorgeführt: die erste
ohne alle Werbung, die zweite mit eingestreuten Wer-
befilmen, die aber nichts mit Diät zu tun hatten, und
die dritte mit Werbung, in der superschlanke Manne-
quins Diätmittel verkauften. Außerdem standen im
Vorführraum zahlreiche Schüsseln mit
Knabbergebäck herum.
Ergebnis: die der Diätwerbung ausgesetzten Frauen
aßen doppelt soviel Knabbergebäck wie die anderen,
die keine Diätwerbung gesehen hatten.
& Stichwort vorgeschlagen von Marc Schuhmacher.

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LexPI Bd. 1 Fingernägel 100

Fingernägel
Fingernägel wachsen nach dem Tode weiter
Entgegen einem alten Aberglauben wachsen unsere
Fingernägel nach dem Tode nicht mehr weiter. Die
Sorgen aus einer alten Germanensage sind also unbe-
gründet: »Kein Toter soll beerdigt werden, ohne daß
jemand ihm die Nägel schneidet; denn sonst wird das
Schiff Naglfar schneller fertig.« (Das Schiff Naglfar
wird mit den Fingernägeln der Toten zusammengehal-
ten.)
Hier noch ein paar andere einschlägige Legenden:
Nägelschneiden am Karfreitag ist gut gegen Zahnweh
(alternativ: bringt Unglück, läßt den künftigen Mann
im Traum erscheinen etc.); Menschen mit krummen
Nägeln sterben früh; eine Schwangere, die über abge-
schnittene Nägel läuft, verliert ihr Kind; ein Säugling,
dessen Nägel man hinter der Eingangstür des Hauses
schneidet, lernt gut singen (es sei denn, das Nägel-
schneiden passiert montags – dann verliert das Kind
früh alle Zähne); man muß abgeschnittene Nägel tief
vergraben, sonst holen einen die Hexen (alternativ:
dreimal draufspucken oder nochmals in drei Teile
schneiden); und so weiter. Jedoch hat sich nur der
Glaube an das Weiterwachsen nach dem Tode bis
heute weltweit halten können.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fingernägel 101

& Lit.: Sophie Lasne und Andre Pascal Gaultier:


Dictionnaire des superstitions (engl. Übersetzung:
A dictionary of superstitions, Englewood Cliffs
1984).

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Fisch 1 101

Fisch 1
Fische sind taub und stumm
Viele Fische können durchaus Schallwellen wahrneh-
men; die nötigen Organe, die sog. »Fischohren«, be-
finden sich in Kapseln hinter den Augen. Manche,
wie Knurrhahn, Tigerfisch, Krächzerfisch, Hornfisch,
Katzenwels und der gemeine Trommelfisch, erzeugen
auch mehr oder weniger laute Töne (um sich mit Art-
genossen zu verständigen, aber auch um Feinde abzu-
schrecken), die mit empfindlichen Mikrofonen aufge-
fangen werden können. Dabei bedienen sie sich der
Flossenknorpel, der Zähne oder ihrer Luftblase. (Bei
Katzenwelsen etwa wird die ausweichende Luft an
Membranen vorbeigeführt, die zu schwingen anfan-
gen und damit Geräusche hervorbringen.)
& Lit.: Roland Michael: Wie, Was, Warum? Augs-
burg 1990.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Fisch 2 101

Fisch 2
Fisch ist gut für das Gehirn (s.a. ð »Fleisch« und
ð »Du bist, was du ißt«)
Dieser Mythos kam im Kielwasser von Untersuchun-
gen des deutschen Mediziners und Philosophen Lud-
wig Büchner (1824–1899) auf. Büchner hatte Phos-
phor im menschlichen Gehirn entdeckt und zog dar-
aus den Schluß, daß Phosphor eine Art Katalysator
für das Denken sei. Und da Fischfleisch ebenfalls viel
Phosphor enthält, empfahlen Ärzte eine Zeitlang
gerne Fisch zur Aktivierung des Gehirns.
In Wahrheit brauchen wir den Phosphor aus den
Fischen nicht; dieser ist reichlich genug in Eiern,
Fleisch, Milch und Gemüse enthalten, und für das
Denken ohnehin nicht nötig: eine Überdosis über un-
seren »normalen« Phosphorbedarf hinaus läßt uns
keine Zehntelsekunde schneller überlegen.

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LexPI Bd. 2 Flache Scheibe 107

Flache Scheibe
Im Mittelalter hielt man die Welt für eine flache
Scheibe (s.a. ð »Inquisition« sowie ð »Galilei«,
ð »Hexen« und ð »Kolumbus« in Band 1)
Seit Aristoteles hält und hielt kein seriöser Gelehrter
die Welt für eine flache Scheibe. Insbesondere haben
auch die gelehrten Mönche des Mittelalters niemals
und zu keiner Zeit behauptet, daß die Erde eine Schei-
be wäre. Von Beda Venerabilis (673–735) bis Tho-
mas von Aquin (1225–1292), von den Lehrern Karls
des Großen bis zu den Beichtvätern der Könige von
Spanien und Portugal (die den Plan des Kolumbus,
durch Westwärtssegeln Indien zu erreichen, als un-
möglich abgewiesen haben sollen, da man so vom
Rand der Welt herunterfallen müsse): Kein maßgebli-
cher Kirchenmann des Mittelalters hat je die Kugel-
form der Erde angezweifelt, in keinem einzigen aner-
kannten, zwischen den Jahren 200 n. Chr. und 2000
n. Chr. erschienenen, ob von geistlichen oder weltli-
chen Gelehrten verfaßten Lehrbuch der Astronomie
oder Physik ist je von einer flachen Welt gesprochen
worden.
Der Kronzeuge der populären Theorie, daß man im
Mittelalter die Welt für flach gehalten hätte, ist der
griechische Mönch Kosmas Indikopleustes (Kosmas
der Indienfahrer), der im 6. nachchristlichen Jahrhun-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Flache Scheibe 107

dert vermutlich in Alexandria lebte und der nicht nur


die Welt für flach, sondern in strenger Auslegung di-
verser Bibelverse darüber hinaus auch für viereckig
und im Norden von einem hohen Berg begrenzt er-
klärte, um den sich Mond und Sonne drehten. Ver-
schwindet die Sonne hinter dem Berg, so wird es
Nacht; im Sommer steigt die Sonne höher, wegen des
mit der Höhe geringeren Umfangs des Berges werden
dann die Nächte kürzer.
Und so soll dann der Siegeszug der Dummheit an-
gefangen haben: »Jeder, der sich z.B. nur mit antiker
Geographie befaßt hat, kann ein Lied davon singen,
wie es eben die büffelhafte Borniertheit der Mönche
war, die über ihren christlich-topographischen Träu-
men fast sämtliche alten Geographien verloren gehen
ließen« (Arno Schmidt). »Unter dem Einfluß des
Christentums geriet die Erkenntnis von der Kugelge-
stalt der Erde annähernd anderthalb Jahrtausend in
Vergessenheit. Solange die Erde als Scheibe angese-
hen wurde, war jede gegenteilige Lehre Ketzerei.«
(Dreyer-Eimbcke).
In Wahrheit wurde die »Christianike Topographia«
des Kosmas Indikopleustes nie sehr ernst genommen;
sie wurde weder ins Lateinische übersetzt, noch
sonstwie weit verbreitet, sie war nie die Mehrheits-
meinung klerikaler Geographen. Niemand wurde im
Mittelalter von der Kirche zum Glauben an die flache
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Flache Scheibe 108

Erde angehalten, und so war auch bis weit in die Auf-


klärung von klerikalen Flacherdenvertretern keine
Rede; kein einziger der durchaus antiklerikalen Ratio-
nalisten des 18. Jahrhunderts, weder Voltaire noch
Diderot noch Kant noch Hume noch Leibniz, hat dem
Mittelalter, dem man ansonsten alles Schlechte zu-
traute, diesen Irrtum vorgeworfen.
Der moderne Mythos von den dummen Mönchen
ist eine Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts, als
man fast zwanghaft jeden Fortschritt in den Wissen-
schaften als einen Kampf zwischen klerikalen Dun-
kelmännern und aufgeklärten Wissenschaftlern sehen
wollte. Vor allem zwei Männer, der amerikanische
Arzt und Kirchenhasser John B. Draper (1811–1882)
und der Gründer der Cornell-Universität, Andrew
Dickson White (1832–1918), waren für dieses nach-
trägliche Umschreiben der Wissenschaftsgeschichte
verantwortlich. In seiner »History of the conflict bet-
ween religion and science« (mehr als 50 Auflagen seit
1874) schreibt Draper: »Die Geschichte der Wissen-
schaften ist nicht allein eine Geschichte isolierter Ent-
deckungen; es ist die Geschichte eines Kampfes
zweier rivalisierender Mächte, der vorwärtsschreiten-
den Macht des menschlichen Geistes auf der einen
und des retardierenden traditionellen Glaubens auf der
anderen Seite. (...) Glaube ist von Natur aus behar-
rend, Wissenschaft ist von Natur aus vorwärtsstre-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Flache Scheibe 108

bend, deshalb kann es zwischen diesen beiden keinen


dauerhaften Frieden geben.«
Und zum Beweis für diesen Kampf zwischen der
vorwärtsstrebenden Wissenschaft auf der einen und
der »retardierenden« Religion auf der anderen Seite
streute Draper dann den Mythos von der flachen Erde
aus.
Dito White. Anders als Draper sieht er zwar nicht
die Religion an sich, sondern die Heilsgewißheit man-
cher Kirchenmänner als die eigentlichen Stolpersteine
auf dem Weg des Fortschritts, aber letztendlich läuft
auch seine 1896 erschienene »History of warfare of
science with theology in christendom« auf eine exklu-
sive Verurteilung der Religion hinaus. Und wie Dra-
per macht auch White seine These an der angeblich
von Kirchenleuten propagierten flachen Erde fest.
Der Erfolg dieser Kampagne ist noch heute welt-
weit nachzuweisen: Um 1870 z.B. war in keinem ein-
zigen englischen Schul-Geschichtsbuch von der mit-
telalterlichen flachen Welt die Rede – zehn Jahre
später fast in allen.
& Lit.: Arno Schmidt: Kosmas oder Vom Berge des
Nordens, Frankfurt a.M. 1955; Oswald Dreyer-
Eimbcke: Die Entdeckung der Erde, München
1988; J.B. Russell: Inventing the flat earth, New
York 1991; Rudolf Simek: Erde und Kosmos im
Mittelalter, München 1992; Stephen Jay Gould:
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Flache Scheibe 109

The Dinosaur in a haystack, London 1997 (beson-


ders Kapitel 4: »The late birth of a flat earth«);
Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel und Brigit-
te Kronauer: Kulturgeschichte der Mißverständ-
nisse, Stuttgart 1997 (besonders der Abschnitt
»Scheibe, Kugel, Birne, Tisch«); Stichwort vorge-
schlagen von Hartmut Kliemt.

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LexPI Bd. 1 Flammenwerfer 102

Flammenwerfer (s.a. ð »Giftgas«)


Diese Mordinstrumente gibt es nicht erst seit dem Er-
sten oder Zweiten Weltkrieg. Man kannte sie schon
900 Jahre früher, und zwar in China, wo sie im 11.
Jahrhundert sowohl bei der Verteidigung wie bei der
Belagerung zum Einsatz kamen. »Der Flammenwerfer
bestand aus einem Kupfertank, an dem vier Rohre an-
gebracht waren. Der austretende Erdölstrahl entzün-
dete sich an einer Zündpfanne. Der Antrieb der
Pumpe erfolgte durch menschliche Muskelkraft.«
& Lit.: Walter Böttger: Kultur im alten China, Leip-
zig 1977.

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LexPI Bd. 1 Fleisch 102

Fleisch
Sportler brauchen viel Fleisch (s.a. ð »Fisch«
und ð »Du bist, was du ißt«)
Wenn sich der Boxer Rocky von seinem Schwager im
Schlachthaus einen Packen Steaks einwickeln läßt, sie
brät, ißt und dann Boxweltmeister wird, so liegt das
nicht an diesen Fleischportionen – genauso hätte
Rocky eine Schüssel Sojabohnen essen können.
Unserem Körper ist es völlig gleich, woher das Ei-
weiß stammt, aus dem er seine Muskeln baut – er
weiß es nicht und will es auch nicht wissen. Hat das
Eiweiß erst einmal alle Stoffwechsel-Stationen vor
der letztendlichen Umwandlung in Muskelmasse
durchlaufen, ist seine Herkunft, ob aus einem T-Bone-
Steak, einem Omelett oder einem Yoghurt, nicht mehr
festzustellen.
Außerdem ist Eiweiß schon in unserer Standard-
nahrung so reichlich vorhanden, daß selbst ein Hoch-
leistungssportler keine Extramengen davon braucht.
Skilangläufer etwa brauchen an Tagen mit 50 bis 100
Trainingskilometern kaum mehr Eiweiß als an Ruhe-
tagen, und nach Untersuchungen amerikanischer
Sportmediziner unterscheidet sich der Eiweißbedarf
eines Footballspielers und eines gleichgroßen Büro-
angestellten nur ganz minimal.
Der höhere Kalorienbedarf von Leistungssportlern
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fleisch 102

läßt sich genausogut durch Nudeln oder Pizza dek-


ken – für die körperliche Fitness ist das völlig gleich
(sofern alle Nährstoffe ausreichend vorhanden sind).
Und jede Kalorie über diesen Bedarf hinaus, ob aus
Koteletts, Käse oder Kartoffeln, erzeugt im Football-
spieler wie im Buchhalter auch das gleiche Resultat,
nämlich ganz normales Fett.
& Lit.: Bergström, J. und Hultman, E.: Nutrition for
maximal sports performance, Journal of the Ame-
rican Medical Association 1972, vol 221, S.
999–1006; Segal, Wolfe: Food and nutrition:
facts and fallacies, Perth 1977 (besonders Kap.
35: Food for thought on sport).

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LexPI Bd. 1 Fliegen 1 103

Fliegen 1
Die sicherste Art des Reisens ist das Fliegen
Je nachdem, wie man es nimmt. Zählt man weltweit
die Todesopfer des Bahn- und Luftverkehrs zusam-
men (das Auto als den unbestrittenen Killer Nr. 1 la-
ssen wir außen vor) und teilt diese Zahlen durch die
zurückgelegten Passagierkilometer, so kommt folgen-
des heraus:
Bahn: 9 Todesopfer pro 10 Milliarden Passagierkilometer
Flugzeug: 3 Todesopfer pro 10 Milliarden Passagierkilometer

Teilen wir die Zahl der Opfer aber durch die Passa-
gierstunden statt durch die Passagierkilometer, ergibt
sich das umgekehrte Bild:
Bahn: 7 Todesopfer pro 100 Millionen Passagierstunden
Flugzeug: 24 Todesopfer pro 100 Millionen Passagierstunden

Mit anderen Worten, die Gefahr, die nächste Stunde


nicht zu überleben, ist im Flugzeug mehr als dreimal
so groß, und so gesehen ist die Angst so vieler Men-
schen vor dem Fliegen gar nicht so irrational, wie wir
immer weisgemacht bekommen.
& Lit.: G. Lopez-Real: »Die Statistik des sicheren
Reisens,« Stochastik in der Schule 1/1989,
28–31; W. Krämer: So lügt man mit Statistik,
Frankfurt 1995.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fliegen 2 103

Fliegen 2
Der erste erfolgreiche Motorflug war eine Tat der
Brüder Wright (s.a. ð »Lindbergh« und ð
»Zeppelin«)
Als die Brüder Wilbur und Orville Wright am 17.
Dezember 1903 bei Kitty Hawk, North Carolina, ihre
berühmten Erstlingsflüge von zweimal 300 Metern
machten, standen sie in einer langen Tradition – die
Franzosen Penaud, Le Bris und Tatin, die Engländer
Cayley, Stringfellow und Henson, die Amerikaner
Chanute und Langley, der Deutsche Otto Lilienthal
oder der Australier Hargraves hatten schon mehr oder
weniger vorher erfolgreich Flugmaschinen in die Luft
geschickt.
Viele – aber nicht alle – dieser Vorgänger-Maschi-
nen waren motorlos oder unbemannt; manche flogen
wie die Wrights schon mit Bemannung und Motor.
Wenn wir dem Guinness book of air facts and feats
vertrauen dürfen, hatte etwa der Franzose Clement
Ader schon 1890 ähnliche Distanzen wie die Wrights
per Motorflug überwunden, genauso wie auf der ande-
ren Seite des Erdballs der Neuseeländer Richard Wil-
liam Pierse, der ein halbes Jahr vor den Brüdern
Wright in einem Flugzeug mit Benzinmotor die
»Main Waitohi Road« bei South Canterbury entlang-
geflogen ist.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fliegen 2 104

Der einzige Rekord, den die Wrights vermutlich


wirklich reklamieren dürfen, ist für den ersten kon-
trollierten Motorflug mit einer Flugmaschine, die
schwerer ist als Luft.
& Lit.: The Guiness book of air facts and feats;
Stichwort »Aviation« im Microsoft CD-Rom Le-
xikon Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Fließband 104

Fließband
Viele Menschen verbinden mit dem Stichwort »Fließ-
band« den Namen Henry Ford und sein berühmtes
Auto Modell T. Dabei wird häufig übersehen, daß
Henry Ford durchaus nicht als erster und noch nicht
einmal als erster Autobauer die Fließbandfertigung er-
funden hat. Schon 1902 und damit sechs Jahre vor
dem ersten Modell T hatte etwa Ransom E. Olds, ein
Konkurrent von Henry Ford, mit Fließbändern gear-
beitet: Er ließ seine Autos auf Holzgestellen durch die
Fabrikhalle ziehen (rund 2500 Stück pro Jahr). Unter
Ford wurde dann aus den Holzgestellen ein durchge-
hendes Band, aber die Grundidee, nicht die Einzeltei-
le und die Arbeiter zum Auto, sondern das Auto zu
den Arbeitern zu bringen, stammt von anderen.

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LexPI Bd. 2 Fort Knox 109

Fort Knox
In Fort Knox lagern die weltweit größten Goldbe-
stände
Richtig ist, daß die USA einen großen Teil ihrer eige-
nen Goldreserven in Fort Knox verwahren (daneben
gibt es noch Lager in West Point, San Francisco, Phi-
ladelphia und Denver). Aber die weltweit größten
Goldbestände, rund 10.000 Tonnen, mehr als ein
Viertel der offiziellen Goldreserven der gesamten
Welt und fünfmal mehr als in Fort Knox, lagern in
Manhattan im Keller der »Federal Reserve Bank of
New York«.
Anders als in Fort Knox liegt in New York auch
Gold von außerhalb der US-Landesgrenzen: Zahlrei-
che Staaten dieser Erde lagern ihre Goldreserven in
New York, wo sie erstens sicherer sind als in Nairobi
oder São Paulo, und wo sie zweitens internationale
Goldbewegungen erleichtern: Wenn die Vereinten
Arabischen Emirate dem Sultan von Brunei zwei
Tonnen Gold zukommen lassen wollen, reicht es, auf
den Stapel des Emirs einen neuen Zettel aufzukleben.
& Lit.: »The world's goldkeeper«, über die Internet-
Adresse http://woodrow.mpls.frb.fed.us/
site collection/pubs/region/reg9112b.html.

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LexPI Bd. 1 »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was 104

»Frage nicht, was dein Land für dich tun kann,


frage, was du für dein Land tun kannst«
Dieser Appell stammt nicht von John F. Kennedy.
Schon Jahrzehnte vorher hatten der amerikanische
Bundesrichter Holmes und auch Kennedys mittelbarer
Amtsvorgänger Harding Gleiches ausgesprochen: »It
is now the moment ... to recall what our country has
done for each of us, and to ask ourselves what we can
do for our country in return« (Holmes). »We must
have a citizenship less concerned about what the go-
vernment can do for it and more anxious about what it
can do for the nation« (Harding).
Aber wie so oft macht auch hier der Ton alias die
konkrete Wortwahl die Musik, und so wurde dieses
Motto erst durch Kennedys prägnante Kurzfassung
richtig populär: »Ask not what your country can do
for you; ask what you can do for your country.«
& Lit.: Bill Burnam: The dictionary of misinformati-
on, New York 1975.

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LexPI Bd. 1 Frankenstein 105

Frankenstein
Frankenstein ist ein Monster
Die Figur des Frankenstein aus Mary Shelleys gleich-
namigem Roman ist ein junger, durchaus attraktiver
Student der Mathematik und Naturwissenschaften an
der Universität von Ingolstadt; er ist alles andere als
ein Monster. Das Monster ist vielmehr der Kunst-
mensch, den sich Frankenstein erschafft. Aber dieser
Unterschied zwischen »Frankensteins Monster« und
»Frankenstein, das Monster« ist im Lauf der Jahr-
zehnte in Vergessenheit geraten.
& Lit.: Mary Shelley: Frankenstein, München 1995.

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LexPI Bd. 2 Freddy Quinn 110

Freddy Quinn
Freddy Quinn ist Hamburger Urgestein
Freddy Quinn wurde 1931 in Wien als Franz Eugen
Nidl-Petz geboren und ist noch heute Österreicher.

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LexPI Bd. 2 Freie und Hansestadt Hamburg 110

Freie und Hansestadt Hamburg


Die Freie und Hansestadt Hamburg hat ihren
Titel von Kaiser Barbarossa
So steht es heute noch in vielen Büchern: Im Jahr
1189 soll Kaiser Barbarossa der Stadt Hamburg einen
»Freibrief« (eine Bestätigung diverser Privilegien, be-
sonders des zollfreien Transports von Waren auf der
Unterelbe) übergeben haben.
Diese Urkunde ist aber nachweislich gefälscht; sie
stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, und zwar
aus Hamburg selbst: Um sich die Konkurrenz aus
Bremen und aus Stade vom Leibe halten, und weil
wegen des gerade herrschenden Interregnums kein
Kaiser zum Ausstellen des nötigen »Kaiserbriefs«
verfügbar war, schrieben sich die Hamburger den
Brief halt selbst.
& Lit.: G. Prause: Tratschkes Lexikon für Besser-
wisser, München 1986 (besonders das Kapitel
»Freie und Hansestadt: Hamburgs stolzer Titel ist
gefälscht«).

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LexPI Bd. 1 Freihandel 105

Freihandel
Das 19. Jahrhundert war die hohe Zeit des Frei-
handels
Anders als viele Ökonomen glauben, war das 19.
Jahrhundert nicht die hohe Zeit des freien, von Lizen-
zen, Zöllen und anderen Schikanen unbeschwerten
Handels. Schon vor hundert Jahren gab es zwischen
Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis große Un-
terschiede: Allen allgemeinen Lippenbekenntnissen
zu den Laissez-faire-Maximen des großen schotti-
schen Gelehrten Adam Smith zum Trotz läßt sich die
Wirtschaftspolitik der damaligen Mächte besser als
»ein Ozean von Protektionismus mit ein paar libera-
len Inseln« beschreiben (Paul Bairuch).
Einen wirklich freien Handel erlaubten im 19. Jahr-
hundert nur einige kleinere Länder wie Dänemark,
Holland, Portugal oder die Schweiz, mit weniger als
fünf Prozent der europäischen Bevölkerung. Die gro-
ßen Staaten wie England, Frankreich, Österreich und
Preußen dagegen suchten im Vorgriff auf moderne
Praktiken entweder ihre Bauern oder ihre Fabrikanten
oder beide zu beschützen.
Nur für kurze Zeiten siegte die ökonomische Ver-
nunft, wie in einem vergleichsweise liberalen Inter-
mezzo von 1860 bis 1879; ansonsten wurde an fast
allen Grenzen fleißig Zoll erhoben, in Frankreich
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LexPI Bd. 1 Freihandel 105

durchschnittlich 12 bis 15 Prozent, in Österreich-Un-


garn 15 bis 20 Prozent, in Deutschland und England
etwas weniger, aber von einem wirklich freien Handel
konnte damals keine Rede sein.
& Lit.: Paul Bairuch: Economics and world history:
Myths and paradoxes, New York 1993.

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LexPI Bd. 2 Freiheit 110

Freiheit
Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders
Denkenden
In ihrer 1918 im Gefängnis abgefaßten Schrift über
die Russische Revolution schreibt Rosa Luxemburg:
»Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für
die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahl-
reich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur
die Freiheit des anders Denkenden.« Dieser wohl be-
rühmteste Ausspruch der berühmten Rosa Luxemburg
ist aber durchaus anders gemeint, als ihre Freunde uns
heute gerne glauben machen wollen. Beim Weiterle-
sen stellt sich nämlich heraus, daß diese »anders Den-
kenden« vor allem anders denkende Kommunisten
sind; anders denkende Liberale, Nationale, Klerikale
usw. sind in der guten alten Tradition der Kommuni-
sten von dieser Freiheit ausgenommen und möglichst
schnell zu liquidieren: »Der Sozialismus (...) hat (...)
zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen –
gegen Eigentum usw.«, schreibt die rote Rosa eine
Seite weiter, und wer mit »usw.« gemeint ist, bleibt
nicht lange im dunkeln: »Wer sich dem Sturmwagen
der sozialistischen Revolution entgegenstellt, wird
mit zertrümmerten Gliedern am Boden liegen blei-
ben.«
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LexPI Bd. 2 Freiheit 111

& Lit.: F. Weil: »Rosa Luxemburg über die russi-


sche Revolution. Einige unveröffentlichte Manu-
skripte«, Archiv für die Geschichte des Sozialis-
mus und der Arbeiterbewegung 13, 1928, S.
285–298; Josef Nyary: »Vom Umgang mit Roten
und Rothäuten«, Welt am Sonntag, 15.2.1998;
Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Freitag, der Dreizehnte 111

Freitag, der Dreizehnte


Freitag, der Dreizehnte hebt sich durch nichts Be-
sonderes hervor
Der Dreizehnte eines Monats fällt öfter auf einen
Freitag als auf jeden anderen Wochentag.
Der Kalender wiederholt sich alle 400 Jahre. Wenn
wir, beginnend an irgendeinem Tag, die nächsten 400
Jahre = 4800 Monate auszählen, haben wir 4800 mal
einen Dreizehnten des Monats, und der verteilt sich
wie folgt auf die Wochentage:
Montag 685
Dienstag 685
Mittwoch 687
Donnerstag 684
Freitag 688
Samstag 684
Sonntag 687
Summe 4800

In 400 Jahren macht das keine großen Unterschiede.


Aber wenn die Erde noch weitere vier Milliarden
Jahre überdauert (dann wird die Sonne zu einem
Roten Riesen und frißt die Erde auf), werden wir 40
Millionen mal mehr den Dreizehnten an einem Freitag
als an einem Samstag haben.
& Lit.: J.O. Irwin: »Friday 13th«, The Mathematical
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LexPI Bd. 2 Freitag, der Dreizehnte 111

Gazette 55, 1971, S. 412–415.

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LexPI Bd. 2 Fremdenfeindlichkeit 112

Fremdenfeindlichkeit
Die Deutschen sind besonders fremdenfeindlich
Deutschland ist seit jeher ein Magnet für Fremde;
über lange Jahrhunderte wurden sie hier weit gastli-
cher als sonstwo in Europa aufgenommen. Vor allem
Preußen war einer der nach außen offensten Staaten
auf der ganzen Erde, »eine Freistatt und ein Rettungs-
hafen für die Verfolgten, Beleidigten und Erniedrigten
ganz Europas« (Haffner); Waldenser, Mennoniten,
schottische Presbyterianer, auch Juden, »sogar gele-
gentlich Katholiken«, strömten in Scharen in die
Mitte unseres Landes und wurden hier mit großem
Wohlwollen empfangen. Um 1700 war jeder dritte
Berliner ein Franzose, die Gäste »bekamen Wohnun-
gen und Kredite und sie wurden keineswegs genötigt,
ihre Nationalität zu verleugnen. Alles vorbildlich«,
wie Sebastian Haffner schreibt, der darin einen der
»Grundzüge des klassischen Preußen« sieht, einen
Zug, »der ebenso charakteristisch und auffallend ist
wie sein Militarismus, nämlich seine beinahe gren-
zenlose Fremdenfreundlichkeit« (S. 78).
Nun ist das moderne Deutschland nicht das alte
Preußen, aber auch heute müssen wir uns bezüglich
unserer Fremdenfreundlichkeit vor niemandem
verstecken: Derzeit leben mehr als sieben Millionen
Ausländer in Deutschland (ohne Flüchtlinge und
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LexPI Bd. 2 Fremdenfeindlichkeit 112

Asylbewerber), und auch bei Flüchtlingen und Asyl-


bewerbern steht Deutschland weltweit als ein Vorbild
da: Allein die alten Bundesländer beherbergten Mitte
der 90er Jahre mehr als doppelt so viele davon wie
Frankreich, England und Italien zusammen.
& Lit.: Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, 3.
Auflage, Hamburg 1979; »Jeder fünfte ist ein
Flüchtling«, Informationsdienst des Instituts der
Deutschen Wirtschaft 35/1997.

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LexPI Bd. 2 Fremdenlegion 1 112

Fremdenlegion 1
Die französische Fremdenlegion ist ein Zufluchts-
ort für Kriminelle
Die 1831 von Louis Philippe gegründete französische
Fremdenlegion akzeptiert beim Eintritt die verschie-
densten Motive – Liebeskummer, Rauflust, Maso-
chismus – aber keine ungesühnte Kriminalkarriere.
Alle Bewerber werden vor der Aufnahme sowohl von
Interpol wie vom französischen Deuxième Bureau auf
Herz und Nieren überprüft; sollten später dennoch
kriminelle Taten ruchbar werden, müssen die Übeltä-
ter mit einer Überführung in die Heimatländer rech-
nen.

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LexPI Bd. 2 Fremdenlegion 2 113

Fremdenlegion 2
Nur die Franzosen haben eine Fremdenlegion
Auch Spanien unterhält eine Fremdenlegion; sie be-
steht aus einigen Infanteriebataillonen in den spani-
schen Besitzungen entlang der marokkanischen Mit-
telmeerküste.
& Lit.: Stichwort »Fremdenlegion« in der Brockhaus
Enzyklopädie, Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 1 Fremdstoffe 106

Fremdstoffe
Fremdstoffe in Lebensmitteln sind generell ge-
sundheitsschädlich (s.a. ð »Bio-Nahrung«)
Nicht alles, was wir täglich essen, ist gut für die Ge-
sundheit: Manche Teile unserer Nahrung machen
unser Leben nicht länger, sondern kürzer. Viele dieser
Gifte sind in den Lebensmitteln von Natur enthalten,
andere kommen erst durch uns dazu.
Dabei werfen viele aber die schädlichen und die
nützlichen Fremdstoffe in einen Topf. Schädlich sind
z.B. Schwermetalle wie Blei oder Zinn, die ohne Ab-
sicht des Produzenten aus Dosen, Wasserleitungen
oder Keramiktassen in unser Essen kommen, schäd-
lich sind auch Rückstände von Pflanzenschutzmitteln,
Nitrat und Nitrit aus Düngemitteln oder andere sog.
»Mitläufer« bei der Produktion und Verarbeitung von
Lebensmitteln, die unseren Organismus gehörig
durcheinanderbringen können, wie der Schreiber die-
ser Zeilen seit dem Genuß einer Dose Waldpilze aus
einem bekannten deutschen Supermarkt aus eigener
Erfahrung weiß. Hier reichen z.T. schon kleinste
Dosen, etwa des Killergiftes Dioxin, um uns ein für
allemal den Appetit zu nehmen.
Von diesen Rückständen und Verunreinigungen
unterscheiden muß man aber sogenannte »Hilfs-«
oder »Zusatzstoffe« wie Farben oder Konservierungs-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fremdstoffe 106

mittel, die durchaus mit Absicht den Lebensmitteln


beigegeben werden. Diese sind vielleicht nicht immer
nötig, aber in der Regel auch nicht schädlich. Nach
deutschem Lebensmittelrecht z.B. müssen Zusatzstof-
fe gesundheitlich unbedenklich sein (wobei man na-
türlich über Belastungsgrenzen lange streiten kann);
sie dürfen den Verbraucher auch nicht über die wahre
Qualität der Nahrung täuschen. Aber die Risiken, die
bei übermäßiger Verwendung solcher Hilfs- und Zu-
satzstoffe auftreten können, scheinen gegen die Ge-
fahren einer selber auferlegten einseitigen oder unmä-
ßigen Ernährung eher zu verblassen.
& Lit.: Ulrich Rüdt: Essen wir Gift?, Stuttgart 1978;
Werner Thumshirn: Keine Angst vor dem Essen,
Düsseldorf 1984; Karlheinz Gierschner und A.
Kohler (Hrsg.): Lebensmittel – Gesunde Ernäh-
rung, Weikersheim 1990.

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LexPI Bd. 2 Friedenstaube 113

Friedenstaube
Tauben sind friedliche Tiere
Tauben sind durchaus nicht friedlich; in ihrer Rolle
als Symbol des Friedens sind sie eine klare Fehlbeset-
zung. »Außer am Marterpfahl der Indianer hat wohl
kaum ein anderes Lebewesen einem Artgenossen in
solch ausdauernder Kleinarbeit ähnlich gräßliche, zu
einem langsamen, fürchterlichen Tod führende Wun-
den beigebracht« wie eine Taube.
Damit spielt Vitus B. Dröscher, dem wir in diesem
Stichwort folgen, auf ein Experiment von Konrad Lo-
renz an; Lorenz hatte über eine kurze Dienstreise sein
Taubenmännchen Willy und sein Taubenweibchen
Petra in ein und demselben Käfig zurückgelassen, in
der Hoffnung, so ihrer Liebe etwas nachzuhelfen.
Doch bei seiner Rückkehr war von Liebe keine Rede:
»Willy lag in einer Käfigecke auf dem Boden. Hinter-
kopf, Oberseite des Halses und der ganze Rücken bis
an die Schwanzwurzel waren nicht nur völlig kahlge-
rupft, sondern so geschunden, daß sie eine einzige
Wundfläche bildeten. Auf der Mitte dieser Fläche,
wie ein Adler auf seiner Beute, stand das zweite Frie-
denstäubchen, Petra, die ›Braut‹. Mit dem versonne-
nen Gesichtsausdruck, der dem vermenschlichenden
Beobachter diese Vögel so sympathisch erscheinen
läßt, pickte das Vieh pausenlos in den Wunden des
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Friedenstaube 114

buchstäblich ›Unterlegenen‹ herum. Raffte sich der


auf, um mit letzter Kraft zu entkommen, war die
Amazone schon wieder hinter ihm, klapste ihn mit
den weichen Flügelchen zu Boden und setzte ihr er-
barmungsloses, langsames Tötungswerk fort, obwohl
sie selbst davon schon so müde war, daß ihr immer
wieder die Augen zufallen wollten.«
Dieses Verhalten zeigen Tauben regelmäßig, wenn
man mehr als zwei in einen Käfig sperrt: Sie hacken
so lange aufeinander ein, bis einer oder eine nicht
mehr lebt.
& Lit.: Vitus B. Dröscher: Mit den Wölfen heulen,
Düsseldorf 1978.
¤ Als Allegorie des Friednes und der Zärtlichkeit
eine klare Fehlbesetzung

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LexPI Bd. 1 Friedhof 106

Friedhof
Friedhof hat etwas mit »Frieden« zu tun
Friedhof kommt vom althochdeutschen »frithof« =
Vorhof, Vorplatz, Vorraum einer Kirche. Es bedeutet
»eingefriedeter, beschützter Platz«. Da dieser einge-
friedete, beschützte Platz vor den Kirchen oft auch als
Begräbnisstätte diente, hat diese eingeschränkte Be-
deutung peu à peu das Wort für sich alleine in Be-
schlag genommen.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 2 Frostschutzmittel 114

Frostschutzmittel
Je mehr Frostschutzmittel im Kühlwasser des
Autos, desto besser ist der Schutz vor großer
Kälte
So dachten zumindest die Autoren dieses Buches und
haben deshalb oft am Winteranfang reines Frost-
schutzmittel in die Kühler ihrer Autos eingefüllt. Das
war aber ein Fehler, denn unverdünntes Frostschutz-
mittel gefriert weit schneller – je nach Marke schon
bei -12° Celsius, während eine Mischung aus 50%
Frostschutzmittel und 50% Wasser noch bei Tempe-
raturen unter -30° Celsius flüssig bleibt.
Der Grund ist, daß beide Flüssigkeiten sich gegen-
seitig am Einfrieren hindern – das Glykol das Wasser,
aber auch das Wasser das Glykol. Indem die Flüssig-
keiten sich gegenseitig verdünnen, sinkt die Zahl der
jeweils pro Raumeinheit vorhandenen, zur Bildung
von Eiskristallen nötigen Moleküle, und zwar für das
Wasser genauso wie für das Glykol. Während letztere
in unverdünnter Fassung schon bei -12°C die ersten
Eiskristalle bildet, senkt die Beimischung von Wasser
diesen Punkt bis unter -30°C – das eigentliche Frost-
schutzmittel ist hier also in gewissem Sinn das Was-
ser.
& Lit.: Robert L. Wolke: Woher weiß die Seife, was
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LexPI Bd. 2 Frostschutzmittel 115

der Schmutz ist? Kluge Antworten auf alltägliche


Fragen, München 1998.

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LexPI Bd. 2 Frühling 115

Frühling
Auf einen trockenen Frühling folgt ein nasser
Sommer (s.a. ð »Januar«, ð »Martinstag« und
ð »Siebenschläfer«)
Diese alte Bauernregel konnte für Deutschland nicht
bestätigt werden – zwischen den Niederschlägen im
Frühling und im Sommer können Meteorologen hier-
zulande keinerlei Zusammenhang erkennen.
& Lit.: P. Bisolli: »Eintrittswahrscheinlichkeit und
statistische Charakteristika der Witterungsfälle in
der Bundesrepublik Deutschland und West-Ber-
lin«, Institut für Meteorologie und Geophysik,
Universität Frankfurt a.M. 1991; H. Malberg:
Bauernregeln aus meteorologischer Sicht, Berlin
1993.

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LexPI Bd. 1 Frühstück 107

Frühstück
Gesund essen heißt gut frühstücken
Das Frühstück gilt vielen als die wichtigste Mahlzeit
des Tages – nach Meinung von englischen Ernäh-
rungswissenschaftlern nicht ganz zu Recht. Sie fanden
nach einer umfangreichen Auswertung einschlägiger
Studien »kaum eine Stütze für die Hypothese, daß das
Auslassen des Frühstücks die körperliche und geistige
Leistungsfähigkeit (›performance‹) negativ beein-
flußt ... oder gar dafür, daß das Frühstück die wich-
tigste Mahlzeit des Tages ist«.
Die Legende von der Wichtigkeit des Frühstücks
geht vermutlich auf eine Reihe von Studien aus den
späten 40er Jahren zurück; diese hatten Versuchsper-
sonen auf ihre Belastbarkeit mit oder ohne Frühstück
getestet. Obwohl die Studien selber ohne eindeutiges
Ergebnis blieben, gelang es den Auftraggebern – der
amerikanischen Cornflakes-Industrie – diese Ergeb-
nisse in der Öffentlichkeit so darzustellen, daß hinfort
alle an die Wichtigkeit des Frühstücks glaubten.
Bis heute, fünfzig Jahre später, konnte trotz zahl-
reicher Versuche eine Sonderrolle für das Frühstück
in keiner einzigen Studie überzeugend nachgewiesen
werden; nach Meinung vieler Ernährungswissen-
schaftler spricht zumindest bei Erwachsenen nichts
dagegen, die tägliche Ernährung mit dem Mittagessen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Frühstück 107

zu beginnen.
& Lit.: N.H. Dickie und A.E. Bender: »Breakfast
and performance«, Applied Nutrition 55, 1982,
36–46.

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LexPI Bd. 2 Führerschein 115

Führerschein
Man kann seinen Führerschein auch durch Trun-
kenheit beim Fahrradfahren verlieren (s.a. ð
»Fahrverbot 1«)
In Deutschland kann man seinen Führerschein nur
dann wegen »Führen eines Fahrzeugs in fahruntüch-
tigem Zustand« verlieren, wenn das Führen dieses
Fahrzeugs einen Führerschein verlangt. Zum Fahrrad-
fahren braucht man keinen Führerschein, also kann
man beim Fahrradfahren auch keinen Führerschein
verlieren.
Anders dagegen, wenn die Trunkenheit auf dem
Fahrrad die Behörden vermuten läßt, der oder die Be-
treffende wäre generell zum Führen eines Kraftfahr-
zeuges ungeeignet. Wer z.B. mit mehr als zwei Pro-
mille Alkohol im Blut beim Fahrradfahren auffällt,
gilt bis zum Beweis des Gegenteils als Trinker; wer
diesen Verdacht nicht ausräumt, kann also wegen ge-
nereller Fahruntüchtigkeit den Führerschein verlieren.
& Lit.: »Stichwort: Führerscheinentzug wegen be-
trunkenen Fahrradfahrens«, Recht und Praxis Di-
gital, Nov./Dez. 1995, über die Internet-Adresse
http://www.vrp.de/nov95/eilinfo/stw5.htm.

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LexPI Bd. 2 Führung 116

Führung
Bei gleichstarken Kontrahenten wechselt die Füh-
rung ständig ab
Zwei gleichstarke Schach- oder Tennisspieler haben
nur selten eine ausgeglichene Matchbilanz (in dem
Sinn, daß die Führung in der Gesamtwertung häufig
wechselt). Mit weit größerer Wahrscheinlichkeit liegt
der anfangs Führende immer vorn, und liegt der an-
fangs Zurückliegende immer hinten.
Der gleiche Effekt tritt auch bei Glücksspielen auf.
Angenommen, wir wetten eine Mark, daß bei einem
fairen Münzwurf »Kopf« erscheint, unser Gegner hält
eine Mark dagegen. Auch dann liegt der anfangs Füh-
rende mit weit größerer Wahrscheinlichkeit immer
vorn und der anfangs Zurückliegende immer hinten,
und daß bei diesem Glücksspiel einer der Kontrahen-
ten genau die Hälfte aller Runden führt, ist nicht die
wahrscheinlichste, sondern die unwahrscheinlichste
aller Möglichkeiten. Am wahrscheinlichsten ist, daß
der letztendliche Sieger immer führt und daß der letzt-
endliche Verlierer immer zurückliegt: Entweder füh-
ren wir selber die ganze Zeit, oder wir liegen die
ganze Zeit zurück.
Das macht man sich an einem einfachen Beispiel
mit nur vier Runden sehr leicht klar: Wir werfen vier-
mal eine faire Münze und setzen jeweils eine Mark
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LexPI Bd. 2 Führung 116

auf Zahl, der Gegner eine Mark auf Kopf. Dann sind
die folgenden Sequenzen möglich sowie gleich wahr-
scheinlich (in Klammern dahinter die Zahl der Run-
den, die wir führen; bei Gleichstand geht die Runde
an den, der vorher vorne lag).
1. K K K K (0) 9. Z K K K (2)
2. K K K Z (0) 10. Z K K Z (2)
3. K K Z K (0) 11. Z K Z K (4)
4. K K Z Z (0) 12. Z K Z Z (4)
5. K Z K K (0) 13. Z Z K K (4)
6. K Z K Z (0) 14. Z Z K Z (4)
7. K Z Z K (2) 15. Z Z Z K (4)
8. K Z Z Z (2) 16. Z Z Z Z (4)

Bei sechs der möglichen sechzehn Spielverläufe lie-


gen wir immer hinten, bei sechs der sechzehn liegen
wir immer vorn, und nur in vier von sechzehn Fällen
führen wir über die Hälfte der Gesamtspieldauer und
liegen über die andere Hälfte zurück.
Mit wachsender Zahl der Runden wird dieses Un-
gleichgewicht noch größer: Bei zwanzig Runden lie-
gen wir verglichen mit einer gleichmäßigen Auftei-
lung von Führung und Rückstand sechsmal so wahr-
scheinlich immer vorne oder immer hinten, und bei
hundert Runden liegen wir sogar rund zehnmal so
wahrscheinlich immer vorne oder immer hinten – je
länger die Serie, desto unwahrscheinlicher wird eine
völlig gleichmäßige verglichen mit einer völlig extre-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Führung 117

men Verteilung der Zeit, die wir in Führung liegen.


Im Grenzfall, wenn die Serien immer länger werden,
läßt sich diese Wahrscheinlichkeit mittels der soge-
nannten Arcus-Sinus-Funktion beschreiben, deshalb
heißt dieses Phänomen auch »Arcus-Sinus-Paradox«.
& Lit.: R.A. Epstein: The theory of gambling and
statistical logic, New York 1967; W. Feller: An
introduction to probability theory and its applica-
tions, Band 1, 3. Auflage, New York 1968; W.
Riemer: »Das Arcsin-Gesetz der Wahrscheinlich-
keitsrechnung«, Der Mathematikunterricht
4/1989, S. 64–75; G.J. Székely: Paradoxa: klassi-
sche und neue Überraschungen aus Wahrschein-
lichkeitstheorie und mathematischer Statistik,
Thun 1990; W. Krämer: Denkste! Trugschlüsse
aus der Welt des Zufalls und der Zahlen, Frank-
furt a.M. 1995.

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LexPI Bd. 1 Fürst-Pückler-Bombe 107

Fürst-Pückler-Bombe
Damit meint man ein halbgefrorenes, meistens in drei
Schichten aus Schokolade, Erdbeer und Vanille ange-
botenes und mit Maraschino und Rosenlikör veredel-
tes Eis. Anders als der Name glauben macht, wurde
dieser Nachtisch aber nicht von Hermann Fürst von
Pückler-Muskau erfunden (1785–1871), der gemein-
hin als der Schöpfer gilt.
Der wahre Erfinder hieß Schulz, und war Konditor
in der Lausitz, wo der Fürst ein Schloß bewohnte. In
der völlig richtigen Einschätzung, daß »Schulz-
Bombe« weniger verkaufsfördernd klingt als »Fürst-
Pückler-Bombe«, fragte er den Fürsten, ob er, Schulz,
diese Kreation nach ihm benennen dürfe, und der
Fürst war einverstanden (er war dafür bekannt, sich
gerne kulinarisch zu verewigen; damals trugen auch
Schinken, Kartoffelsorten oder Torten seinen Namen).
& Lit.: Fritz C. Müller: Was steckt dahinter:
Namen, die Begriffe wurden, Eltville 1964.

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LexPI Bd. 2 Furz 117

Furz
»Den leisen, die da schleichen, muß man wei-
chen«
Nichts bleibt auf diesem Globus unerforscht: Auf der
»Digestive Desease Week 1997« in Washington
haben Ärzte eine populäre Theorie zum Zusammen-
hang von Volumen und Gestank von Fürzen widerlegt
und eine hohe Korrelation zwischen dem Volumen
und dem Schwefelgehalt von solchen Gasen festge-
stellt.
& Lit.: »Forschungsobjekt Furz: Spezialhose dämpft
Gestank – Studie widerlegt These der ›schlimmen
Schleicher‹«, Rheinpfalz, 23.8.1997; Stichwort
vorgeschlagen von W. Rupprecht.

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LexPI Bd. 1 Fußball 108

Fußball
Fußball ist als Sport der Arbeiter entstanden
Als Ende des 19. Jahrhunderts der Fußballsport den
Weg von England auch nach Deutschland fand, war
er so wie heute Golf und gestern Tennis eher eine
Sache für die bessere Gesellschaft: für Angestellte,
Ingenieure, Techniker. Arbeiter dagegen wurden, falls
überhaupt, in Fußballklubs nicht gern gesehen (der
damalige Arbeitersport war Turnen).
Die frühen kontinentalen Fußballspieler orientier-
ten sich vor allem an englischen Internaten und deut-
schen Burschenschaften; sie nannten ihre Vereine
Alemannia und Borussia, sie waren von Beruf Juri-
sten, Offiziere und höhere Verwaltungsbürokraten,
auch Maler, Opernsänger oder Dichter wie der Hei-
desänger Hermann Löns, sie waren auf sozialen Auf-
stieg programmiert.
Erst 1908 ließ die deutsche Kriegsmarine auch
Schiffsjungen zum Fußballspielen zu (Geschwader-
meisterschaft). Im Jahr 1910 folgte das Heer; um den
Zusammenhalt der Truppe zu stärken, nahm es Fuß-
ball in seine Ausbildungspläne auf, und brachte so
diesen Sport auch Rekruten aus den weniger guten
Kreisen nahe. Aber noch in den zwanziger Jahren
kamen erst fünfzehn Prozent, in den dreißiger Jahren
erst dreißig Prozent der deutschen Fußball-National-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Fußball 108

spieler aus Arbeiterfamilien, trotz der Schalker Fuß-


ballhelden Szepan und Kuzorra, die im Kreis ihrer
Nationalmannschafts-Kollegen eher als Exoten glänz-
ten.
Die heutige Begeisterung quer durch alle Stände
und Berufe (wenn auch nicht quer durch die Ge-
schlechter) sollte also nicht darüber hinwegtäuschen,
daß Fußball durchaus nicht immer der Sport für alle
Sportverliebte war, der er unbestritten heute ist.
& Lit.: Christiane Eisenberg: »Fußball in Deutsch-
land 1890–1914«, Geschichte und Gesellschaft,
Heft 2, 1994.

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LexPI Bd. 2 Fußball. 118

Fußball
Im internationalen Vereinsfußball zählen
Auswärtstore doppelt
Natürlich wissen alle Fußballfreunde, daß dieser Satz
nicht stimmt. Gewinnt Borussia Dortmund zu Hause
gegen Ajax Amsterdam mit 1:0, verliert aber in Am-
sterdam mit 2:4, so nützen auch die Auswärtstore
wenig. Bei wörtlicher Auslegung obiger Regel hätte
Dortmund 5:4 gewonnen, aber diese Regel tritt nur
dann in Kraft, wenn Heim- und Auswärtsspiel zusam-
men unentschieden enden.
& Stichwort vorgeschlagen von Christian Witte.

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G 119

»Die Menschen glauben gerne, was sie


wünschen.«
Caesar, De bello gallico

»Man soll öfter dasjenige untersuchen, was von


den Menschen meist vergessen wird, wo sie
nicht hinsehen und was so sehr als bekannt
angenommen wird, daß es keiner Untersuchung
mehr wert geachtet wird.«
Georg Christoph Lichtenberg

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LexPI Bd. 1 Galilei 109

Galilei
Galileo Galilei war ein Opfer der katholischen
Kirche (siehe auch ð »Und sie bewegt sich
doch!«)
Wenn man Historikern wie Gerhard Prause glauben
darf, war der große Galileo Galilei (1564–1642)
durchaus nicht das unglückliche Opfer der katholi-
schen Kirche, als das ihn die nachfolgenden Jahrhun-
derte bis heute gerne sehen. Sein berühmtes Schar-
mützel mit der Inquisition ist aus heutiger Sicht wohl
eher als Spiegelfechterei zu werten, und der Mantel
des Märtyrers, der ihm von seinen Jüngern umgewor-
fen wurde, paßt dem guten Galilei hinten und vorne
nicht.
Anders als der unglückliche, nur wenige Jahrzehnte
vorher auf dem Scheiterhaufen verbrannte Giordano
Bruno befand sich Galilei Zeit seines Lebens mit den
Mächtigen von Staat und Kirche in durchaus gutem
Einvernehmen. Auch wenn er von letzterer, wie Papst
Johannes Paul II. 1979 formulierte, »viel zu leiden«
hatte: Galileis größte Feinde waren seine weltlichen
Kollegen, die Professoren auf den Universitätskathe-
dern, nicht die Mönche auf den Kirchenkanzeln. Vor
allem aus Angst vor dem Spott der anderen Physik-
professoren, nicht aus Angst vor der Kirche wagte
Galilei erst als über 50-jähriger, öffentlich für die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Galilei 109

Lehren des Kopernikus zu werben; als er die Monde


des Jupiters entdeckte, lehnten es die Physiker-Kolle-
gen ab, zum Beweis durch Galileis Teleskop zu
sehen – nach dem Motto, daß nicht sein kann, was
nicht sein darf, erschienen Experimente und Natur-
beobachtungen den meisten Gelehrten des frühen 17.
Jahrhunderts reichlich überflüssig.
Die Kirche dagegen behandelte den unkonvention-
ellen Physikprofessor aus der Toskana mit bemer-
kenswerter Toleranz; er wurde vom Papst zur Audi-
enz empfangen, von den Jesuiten sogar für seine wis-
senschaftlichen Verdienste ausgezeichnet, und anders
als die weltlichen Gelehrten ließen sich die Jesuiten
auch durch Fakten (nämlich durch die Monde des Ju-
piters) überzeugen, daß das ptolemäische Weltbild
wissenschaftlich nicht zu halten war.
Erst als Galilei nicht nur das ptolemäische Welt-
bild als falsch, sondern darüber hinaus sein eigenes
als das einzig richtige bezeichnete (was nicht stimmt,
wie wir spätestens seit Einstein wissen), wurde diese
Toleranz der Kirche ernsthaft auf die Probe gestellt.
Denn als Arbeitshypothese hätte man Galileis Thesen
durchaus gelten lassen, aber als endgültige Wahrheit
nicht. Hier sah die Kirche ihren Monopolanspruch
verletzt, und als Galilei trotz Abmahnung immer dezi-
dierter von dem System des Kopernikus als einer »be-
wiesenen Wahrheit« sprach, den Beweis aber nicht
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Galilei 110

beibringen konnte (was auch gar nicht geht, denn wis-


senschaftliche Theorien lassen sich nur widerlegen,
aber nicht beweisen), reagierte die Kirche auch ihrer-
seits recht überzogen mit einem Dekret, das die Lehre
von der Bewegung der Erde für »falsch und in allen
Punkten der Heiligen Lehre widersprechend« erklärte.
Persönlich wurde Galilei jedoch nicht belangt.
Weder wurden seine Bücher verboten, noch seine
guten Beziehungen zu den Mächtigen ernsthaft ange-
griffen. Hätte er hinfort von seinen Thesen als Theo-
rien und nicht letzten Wahrheiten gesprochen, wäre es
wohl nie zu der berühmten Vorladung vor die Inquisi-
tion nach Rom gekommen.
Diese Vorladung erging aufgrund eines neuen Bu-
ches, in dem Galilei weiter und allen Abmahnungen
zum Trotz von absoluter Wahrheit sprach. Sie wurde
im Oktober 1632 zugestellt, wegen Krankheit Galileis
aber aufgeschoben, erst im Februar 1633 reiste Gali-
lei dann nach Rom. Dort wohnte er zunächst als Gast
des florentinischen Botschafters in der Villa Medici,
dann, während des eigentlichen Inquisitionsverfahrens
vom 12. April bis 22. Juni 1633, in einem Drei-Zim-
mer-Apartment im Vatikan, mit Diener und Blick auf
den Garten. Er wurde weder eingekerkert noch gefol-
tert.
Wie vielen genialen Menschen war es auch Galilei
immer schwergefallen, seine weniger begabten Zeitge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Galilei 110

nossen ernst zu nehmen. Auch in seinem Inquisitions-


verfahren ging er wohl davon aus, nach Klarstellung
einiger strittiger Passagen, welche die ignoranten Kar-
dinäle nicht verstanden hatten, nach Hause geschickt
zu werden. Erst als die gar nicht so dummen Inquisi-
toren durch keine wissenschaftlichen Argumente
davon abzubringen waren, daß Galilei verbotenerwei-
se und falsch von absoluten Wahrheiten geschrieben
habe, geriet Galilei in Panik; vielleicht dachte er
dabei an Giordano Bruno, vielleicht wollte er nur
seine Ruhe haben – wie auch immer: Unaufgefordert
und ohne Druck von außen stritt er seine Lehren en
bloc einfach ab.
Das Urteil lautete auf Ungehorsam. Die Strafe
waren sieben Bußpsalmen jede Woche für drei Jahre,
plus eine Kerkerstrafe, die Galilei aber niemals anzu-
treten brauchte. Nach dem Verfahren lebte er als Gast
beim Großherzog der Toskana, dann beim Erzbischof
von Siena, dann als Staatsrentner in dem kleinen Dorf
Arcetri bei Florenz, wo er unbelästigt seine Forschun-
gen weiterführte und 1642 starb.
& Lit.: Karl von Gebler: Galileo Galilei und die rö-
mische Kurie. Nach authentischen Quellen, Stutt-
gart 1976; Arthur Koestler: Die Nachtwandler:
Das Bild des Universums im Wandel der Zeit,
Bern 1959; Walter Brandmüller: Galilei und die
Kirche oder das Recht auf Irrtum, Regensburg
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Galilei 111

1982; Gerhard Prause: Niemand hat Kolumbus


ausgelacht, Düsseldorf 1986 (besonders das Ka-
pitel »Galilei war kein Märtyrer«); »Der Fall Ga-
lilei«, Forschung &Lehre, Heft 3, 1994.
¤ Galilei im Kerker: diese Szene hat nie stattgefun-
den

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LexPI Bd. 1 Geburten 111

Geburten
Der Geburtenrückgang ist vor allem eine Folge
der Anti-Baby-Pille (s.a. ð »Bevölkerungsexplo-
sion«)
Der Geburtenrückgang, den wir heute überall auf der
Welt beobachten, hat viel weniger mit der Anti-Baby-
Pille und anderen Verhütungsmitteln zu tun als viele
glauben. Er hat in den entwickelten Industrienationen
des Westens schon lange vor der Anti-Baby-Pille an-
gefangen, und er wird mit oder ohne Anti-Baby-Pille
bald auch die Dritte Welt erreichen.
Schon heute fallen die Geburtenraten weltweit ohne
Rücksicht auf Verhütungsmittel: in Thailand von
durchschnittlich 4,6 Kindern pro Frau 1975 auf 2,3
Kinder 1987, in Kolumbien von 4,7 Kindern 1976
auf 2,8 Kinder 1990, und ähnlich auch anderswo in
Afrika und Asien. Zwar kann man dabei durchaus
einen positiven Zusammenhang zwischen der Verbrei-
tung von Verhütungsmitteln und den Geburtenraten
messen (d.h. in Ländern mit leichtem Zugang zu Ver-
hütungsmitteln sind die Geburtenraten in der Regel
kleiner), aber das muß genausowenig auf eine Kausal-
beziehung hindeuten wie der positive Zusammenhang
zwischen Geburten und Klapperstörchen, den man in
manchen deutschen Bundesländern nachgewiesen hat;
vielmehr hängen beide Variablen gemeinsam von
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Geburten 112

einer dritten Variablen ab.


Diese gemeinsame dritte Variable ist die Vorstel-
lung der Eltern, wieviele Kinder sie denn haben wol-
len. Diese geplante Familiengröße war schon immer
und ist noch heute die mit Abstand wichtigste Bestim-
mungsgröße für die Zahl der Kinder einer Ehe. Zwar
hat es immer auch ungewollte Kinder gegeben (und in
gewisser Weise kann man den Rückgang dieser unge-
wollten Kinder als den eigentlichen Erfolg der Anti-
Baby-Pille und anderer Verhütungsmittel sehen), aber
im großen und ganzen haben die Menschen zu allen
Zeiten, wenn auch mit verschiedenen Methoden, ihre
Kinderwünsche in der Praxis durchgesetzt. So hatten
etwa europäische Bauernfamilien zu Anfang des 19.
Jahrhunderts im Mittel vier Kinder, amerikanische da-
gegen sechs; aber nicht, weil die Bauern und Bäuerin-
nen diesseits des Atlantiks nicht so fruchtbar waren,
sondern weil sie nicht so viele Kinder haben wollten:
Das Ackerland war aufgeteilt, für mehr Kinder gab es
weder Brot noch Platz. In Amerika dagegen konnte
der Farmer seine Kinder einfach nur nach Westen
schicken ...
In gewisser Weise verläuft die Kausalbeziehung
zwischen Verhütung und Geburten also genau anders-
herum: Die Menschen benützen Verhütungsmittel,
weil sie weniger Kinder wollen; sie bekommen nicht
deshalb weniger Kinder, weil sie Verhütungsmittel
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Geburten 112

nutzen. Der Vorschlag eines westlichen Entwick-


lungshilfe-Bürokraten, »den ganzen Kontinent von
Flugzeugen mit Kondomen und Pillen zu beregnen«,
hätte also nur den zahlreichen verschwendeten Mil-
liarden für Entwicklungshilfe noch ein paar weitere
hinzugefügt; wenn die Menschen Afrikas wirklich we-
niger Kinder wollen, brauchen sie dafür keine westli-
che Entwicklungshilfe – das schaffen sie allein; wol-
len sie dagegen weiterhin soviele Kinder wie schon
immer, nützen auch Kondome wenig.
& Lit.: B. Robey et al.: »The fertility decline in de-
veloping countries«, Scientific American, Dez.
1993, S. 30–37; »Population misconceptions«,
The Economist, 28.5.1994.

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LexPI Bd. 1 Geburtstag 113

Geburtstag
Es ist unwahrscheinlich, daß unter zwei Dutzend
Zufallsbekannten zwei am gleichen Tag Geburts-
tag haben (s.a. ð »Zufall«)
Ab 23 Personen ist die Wahrscheinlichkeit größer als
1/2, daß mindestens zwei davon am gleichen Tag Ge-
burtstag haben.
Das scheint vielen Menschen unplausibel; sie den-
ken: »Mit welcher Wahrscheinlichkeit hat jemand an-
ders am gleichen Tag Geburtstag wie ich selbst?«
Diese Wahrscheinlichkeit ist natürlich bei dreiund-
zwanzig Personen nicht sehr groß (konkret nur 5,9
Prozent); daraus schließen wir dann scheinbar lo-
gisch, daß diese Wahrscheinlichkeit auch insgesamt
sehr klein sein muß.
In Wahrheit wird diese Wahrscheinlichkeit mit
wachsender Gruppengröße sehr schnell sehr groß.
Wenn wir bei zwei Zufallsbekannten anfangen (und
zunächst der Einfachheit halber den 29. Februar weg-
lassen sowie unterstellen, daß alle Tage des Jahres als
Geburtstag gleich wahrscheinlich sind), dann ist die
Wahrscheinlichkeit für zwei identische Geburtstage
genau 1/365: Unabhängig vom Geburtstag der ersten
Person hat die zweite immer eine Chance unter 365,
genau den gleichen Tag zu treffen, und da alle Tage
gleich wahrscheinlich sind, beträgt die Wahrschein-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Geburtstag 113

lichkeit dafür genau 1/365 oder rund 0,3 Prozent.


Bei mehr als zwei Personen wird die Sache kompli-
zierter. Hier hilft ein Trick: Statt nach der Wahr-
scheinlichkeit, daß mindestens zwei davon am glei-
chen Tag Geburtstag haben, fragen wir: Mit welcher
Wahrscheinlichkeit sind alle Geburtstage verschie-
den? Denn da diese Ereignisse sich gegenseitig aus-
schließen, aber eines davon auf jeden Fall eintritt, ist
die Wahrscheinlichkeit für das eine immer eins weni-
ger als die Wahrscheinlichkeit für das andere.
Bei drei Personen berechnen wir die Wahrschein-
lichkeit für drei verschiedene Geburtstage wie folgt:
Die erste Person hat freie Wahl, die zweite bei jedem
Geburtstag der ersten noch die Auswahl unter 364
von 365 Tagen, und die dritte noch die Auswahl unter
363 Tagen. Mit anderen Worten, die Wahrscheinlich-
keit für drei verschiedene Geburtstage ist

Die Wahrscheinlichkeit des Gegenteils, also daß min-


destens zwei Personen den gleichen Geburtstag
haben, ist demnach 0,9 Prozent.
Genauso rechnen wir auch die Wahrscheinlichkeit
für mindestens zwei identische Geburtstage bei mehr
als drei Personen aus und erhalten:
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Geburtstag 114

Wahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeit
Gruppen- daß alle Geburtstage für mindestens zwei
größe verschieden gleiche Geburtstage
2 99,7% 0,3%
3 99,1% 0,9%
4 98,4% 1,6%
5 97,3% 2,7%
• • •
• • •
• • •
20 58,9% 41,1%
21 55,6% 44,4%
22 52,4% 47,6%
23 49,3% 50,7%
• • •
• • •
• • •
30 29,4% 70,6%
40 10,9% 89,1%
50 3,0% 97,0%

Wir sehen: ab 23 Personen ist die Wahrscheinlichkeit


für mindestens zwei gleiche Geburtstage größer als
1/2, ab 40 Personen sogar schon 90% – in einer sol-
chen Menschenmenge ist es also äußerst unwahr-
scheinlich, daß keine zwei am gleichen Tag Geburts-
tag haben.
Wenn die Geburtstage nicht alle gleich wahrschein-
lich sind, werden die Wahrscheinlichkeiten für identi-
sche Geburtstage sogar noch größer. Im Extremfall,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Geburtstag 114

daß alle Menschen am gleichen Tag geboren sind, ist


das auch sehr leicht einzusehen: Dann finden wir
immer zwei identische Geburtstage, ganz gleich, wie
groß die Gruppe ist. Aber auch für andere ungleiche
Verteilungen ist dieses Ansteigen der Wahrscheinlich-
keiten nicht schwer nachzuweisen.
Bei drei statt zwei identischen Geburtstagen wird
die Sache etwas komplizierter. Aber auch hier sind
die Wahrscheinlichkeiten größer als die meisten glau-
ben: Ab einer Gruppengröße 88 wird hier die Wahr-
scheinlichkeit, daß mindestens drei davon am glei-
chen Tag Geburtstag haben, größer als 1/2.
Noch allgemeiner kann man fragen: »Wie groß
muß eine Gruppe sein, damit mit einer Wahrschein-
lichkeit von mehr als fünfzig Prozent mindestens vier,
fünf, sechs oder sonstwieviele Personen am gleichen
Tag Geburtstag haben?« Die Antwort für zwei und
drei Personen kennen wir bereits: dreiundzwanzig
bzw. achtundachtzig, und die folgende Tabelle zeigt
die nötigen Gruppengrößen auch für andere Zahlen
an:
Soviele Menschen Soviele Menschen brauchen
haben am gleichen wir mindestens für eine
Tag Geburtstag Wahrscheinlichkeit von
mehr als 50 Prozent
2 23
3 88
4
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
187
LexPI Bd. 1 Geburtstag 115

5 313
6 460
7 623
8 798
9 985
10 1181
11 1385
12 1596
13 1813

Wie wir sehen, brauchen wir selbst für neun identi-


sche Geburtstage, also für ein auf den ersten Blick
doch sehr verblüffendes Ereignis, noch nicht einmal
tausend Menschen, um dieses Ereignis wahrschein-
licher zu machen als sein Gegenteil. Oder anders aus-
gedrückt, in mehr als der Hälfte aller deutschen
Schulen mit mehr als tausend Schülern müssen min-
destens neun Schüler oder Schülerinnen am gleichen
Tag Geburtstag haben.
& Lit.: Georg Schrage: »Ein Geburtstagsproblem«,
Stochastik in der Schule 1992, Heft 2, 30–36;
Walter Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus der
Welt des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt 1995.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Geheimrat 119

Geheimrat
Ein Geheimrat hat etwas mit Heimlichtuerei zu
tun
Ein Geheimrat oder auch Geheimer Rat ist ein »Ver-
trauter Rat«. »Geheim« hieß früher »zum Haus gehö-
rig«, im Sinn von »vertrauenswürdig«; erst viel später
erhielt das Wort »geheim« auch die Bedeutung von
heimlich oder »streng vertraulich«.
& Lit.: Duden – Herkunftswörterbuch; München
1989.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Gehirn 115

Gehirn
Intelligente Menschen haben ein schwereres Ge-
hirn als dumme
Entgegen einem alten Vorurteil hat das Gewicht unse-
res Gehirns nicht viel mit dessen Qualität zu tun.
Worauf es ankommt, ist in erster Linie die Zahl der
grauen Zellen in der Rinde unseres Hirns.
Bei Männern wiegt das Gehirn im Durchschnitt
1375 Gramm; wie die folgende Tabelle zeigt, weicht
das Gehirngewicht von Männern, die alle als begabte
Denker galten, davon nach oben wie nach unten teils
beträchtlich ab:

Iwan Turgenjew 2012 g


Otto von Bismarck 1807 g
Immanuel Kant 1600 g
Friedrich Schiller 1530 g
Raffaelo Santi 1161 g
Anatole France 1160 g

& Lit.: Kleines Handlexikon, Gütersloh 1969.

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LexPI Bd. 2 Gehirn 1 119

Gehirn 1
Der Mensch nutzt nur 10 Prozent seines Gehirns
Sämtliche Zellen unseres Gehirns sind auf die eine
oder andere Weise an unserem Denken und Erinnern
beteiligt (das sieht man allein schon daran, daß bei
Ausfall eines Teils der Zellen immer irgendwelche
Gehirnfunktionen leiden). Vermutlich hatte Einstein,
dem obige These zuweilen zugesprochen wird, nur
sagen wollen, zu einem gegebenen Zeitpunkt wäre nur
jede zehnte Zelle unseres Gehirns aktiv.
Das mag stimmen oder auch nicht – in jedem Fall
wird jede Zelle des Gehirns und nicht nur jede zehnte
Zelle wirklich auch gebraucht ...
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's? Der Mensch
nutzt nur zehn Prozent seiner Gehirnkapazität«,
Die Zeit, 26.9.1997; Stichwort vorgeschlagen von
Christian Kleiber.

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LexPI Bd. 2 Gehirn 2 120

Gehirn 2
Von allen Tieren haben die Menschen das
schwerste Gehirn
Das menschliche Gehirn wiegt durchschnittlich 1,5 kg
(mit beträchtlichen Abweichungen nach oben und
unten, siehe den Stichwortartikel ð »Gehirn« in
Band 1); das Gehirn eines Elefanten oder eines Wals
wiegt vier- bis fünfmal mehr. Und auch im Verhältnis
zum Körpergewicht sind wir Menschen nicht die Spit-
zenreiter: Das Gehirn einer Maus z.B. erreicht mit
rund 5 Prozent des gesamten Körpergewichts mehr
als das Doppelte des Gehirns des Menschen.
Trotzdem können Menschen Schachfiguren lenken,
Elefanten, Wale oder Mäuse aber nicht. Aber das liegt
nicht an der Masse, sondern einmal an der Zahl der
Zellen, aus denen das Gehirn besteht (beim Menschen
15 Milliarden), besonders aber an der Art und Weise
der Verbindung dieser Zellen. Vor allem deshalb,
weil die Zellen unterschiedlich miteinander in Verbin-
dung stehen, kann die eine Spezies Atome und die an-
dere nur Steine spalten.
& Lit.: H. van Maanen, J.J.E. van Everdingen und
H.E. Fokke: Le cœur se situe à gauche – mille et
une idées reçues en matière de médecine, Amster-
dam 1995.
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LexPI Bd. 1 Geld 116

Geld
Unser Geld ist durch Gold und Devisen der Zen-
tralbank abgesichert (s.a. ð »Girokonto«)
Unser Papiergeld ist genau das: Papier. Der Bäcker
gibt uns dafür Brötchen, und der Autohändler Autos,
nicht weil diese Scheine einen Anspruch auf einen
Staatsschatz irgendwo in den Kellern der Bundesbank
in Frankfurt verbriefen – das tun sie nämlich nicht –,
sondern weil er weiß, daß er mit diesen Scheinen sei-
nerseits etwas bezahlen kann.
Früher war Geld, ob in Form von Gold, Silber, Ka-
melen, Muscheln oder Zigaretten, auch aus sich selbst
heraus geschätzt und wertvoll, und deshalb haben
viele Menschen auch heute noch die vage Vorstel-
lung, daß die Scheine in unseren Geldbörsen eine Art
Ersatzgutscheine sind, um uns das Herumschleppen
des »echten« Geldes zu ersparen.
Diese Zeiten sind aber lange vorbei. Im London
des 17. Jahrhunderts, in den Kindertagen des Papier-
gelds, stellten Juweliere ihren Kunden gegen Gold
Bescheinigungen des Inhalts aus, daß die Kunden je-
derzeit das Gold zurück verlangen konnten; diese
Scheine wurden später übertragbar und ersparten
damit den Besitzern bei größeren Transaktionen sehr
viel Mühe: statt des »echten« Geldes zahlte man mit
Scheinen; dem Verkäufer war das einerlei, denn er
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Geld 116

konnte jederzeit beim Juwelier das »echte« Geld


zurückverlangen.
Heute dagegen bürgen weder private noch staatli-
che Notenbanken für irgendwelche Werte hinter dem
Papiergeld, das sie drucken. Als letzte hat die ameri-
kanische Notenbank die Verpflichtung widerrufen, je-
derzeit zu einem festen Preis ihre Dollarscheine gegen
Gold zurückzutauschen (am 15.8.1971); seitdem
verbrieft Papiergeld weltweit nur noch das Recht, daß
wir damit unsere Schulden abbezahlen dürfen (gesetz-
liches Zahlungsmittel); davon abgesehen ist es aus
sich selbst gesehen völlig ohne Wert.
& Lit.: E.V. Morgan: A history of money, London
1965, R. Sedillot: Muscheln, Münzen und Papier.
Geschichte des Geldes. Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 2 Geldbörsen 120

Geldbörsen
80 Prozent aller in den USA verlorenen Geldbör-
sen werden samt Inhalt retourniert (s.a. ð »Um-
fragen«)
In Reader's Digest war einmal zu lesen, mehr als 80
Prozent der in den USA verlorenen Brieftaschen wür-
den samt Inhalt dem Besitzer wieder ausgehändigt. So
das Ergebnis der Umfrage eines Journalisten, der
seine Leser aufgefordert hatte: »Haben Sie schon ein-
mal Ihre Geldbörse verloren? Dann schreiben Sie mir
bitte, ob Sie sie zurückerhalten haben oder nicht.«
Von den Menschen, die darauf antworteten, hatten
mehr als 80 Prozent ihre verlorene Geldbörse zurük-
kerhalten.
Leider sagt das nicht, daß 80 Prozent aller verlore-
nen Geldbörsen zurückgegeben werden; es sagt allein,
daß 80 Prozent der Verlierer, die sich auf den Aufruf
meldeten, ihre Geldbörse zurückerhalten hatten; die
Verlierer, deren Börsen sich nicht wiederfanden –
vermutlich die große Mehrheit –, sahen keinen großen
Anlaß, deshalb einen Brief zu schreiben.
Aus dem gleichen Grund ist auch einer Umfrage
der Dortmunder Ruhr-Nachrichten zu dem üblen Pid-
gin-Englisch in der deutschen Sprache nicht zu trau-
en. »Werden im Deutschen zu viele englische Wörter
benutzt?« fragte die Zeitung im Dezember 1996.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Geldbörsen 121

»Sagen Sie uns telefonisch heute von 11 bis 18 Uhr


Ihre Meinung. Wenn Sie meinen, daß zu viele engli-
sche Wörter benutzt werden, sprechen Sie ein ›Ja‹ auf
das Band, sonst ›Nein‹.«
97 Prozent der Anrufer sagten »ja«. Aber nicht,
weil 97 Prozent der Bundesbürger diese Ansicht teil-
ten, sondern weil von den anderen kaum jemand sich
die Mühe machte, bei den Ruhr-Nachrichten anzuru-
fen. Deshalb ist auch bei Meldungen wie »90 Prozent
der Deutschen glauben, daß die Erde demnächst un-
tergeht« keine Panik nötig. Vermutlich hatte nur einer
Zeitung eine Karte mit der folgenden Frage beigele-
gen: »Glauben Sie, daß die Erde demnächst unter-
geht? Bitte antworten Sie mit Ja oder Nein und
schicken Sie die Karte an die Redaktion.«
& Lit.: W. Krämer: So lügt man mit Statistik, 7.
Auflage, Frankfurt a.M. 1997.

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LexPI Bd. 2 General Custer 121

General Custer
General Custer war ein General
Der bekannte General George Armstrong Custer,
Kommandeur des in der Schlacht am Little Big Horn
im Juni 1867 von einer vereinten Streitmacht der
Sioux- und Cheyenne-Indianer vernichteten 7. Kaval-
lerieregiments, war erstens und anders, als wir in
amerikanischen Filmen immer wieder vorgesetzt be-
kommen, einer der unfähigsten Militärführer aller Zei-
ten (siehe dazu auch die Liste »Sieben unfähige Mili-
tärführer« in W. Krämer und M. Schmidt: »Das Buch
der Listen«, S. 427 f.), und zweitens war er auch kein
General. Unter den 34 Offiziersanwärtern seines
West-Point-Jahrgangs hatte Custer den Rang 34 ein-
genommen, und obwohl während des amerikanischen
Bürgerkrieges kurzzeitig »Brigadier general of
volunteers«, wurde er nie offizieller General; das
Ende des Krieges sah ihn als Major (»Captain«). Da-
nach gelang es ihm, als »Lieutenant Colonel« (ent-
spricht dem deutschen Oberstleutnant) zum vorüber-
gehenden Befehlshaber des 7. Kavallerieregiments er-
nannt zu werden, das zunächst in Kansas, dann in den
heutigen Dakotas gegen die Indianer kämpfte. Und
mit diesem Rang eines »Lieutenant Colonel« ist er
zusammen mit den meisten seiner Männer aufgrund
seiner katastrophalen Fehler bei der Feinderkundung
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 General Custer 122

und Truppenführung auch gestorben.


& Lit.: H.J. Stammel: Der Cowboy – Legende und
Wirklichkeit, Reinbek 1976; Stichwort »Custer,
George Armstrong« in der MS Microsoft Enzy-
klopädie Encarta, 1994 (ein seltenes Beispiel von
Chauvinismus, den man sonst nur bei Franzosen
kennt, in diesem ansonsten durchaus seriösen Le-
xikon); G. Regan: The Guinness book of military
blunders, London 1996; Stichwort vorgeschlagen
von Werner Wenz.
¤ »General« George Armstrong Custer, von den In-
dianern auch Squaw-Killer genannt, einer der viel-
en falschen Helden des amerikanischen Wilden
Westens

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Gerichtsvollzieher 117

Gerichtsvollzieher
Das Pfandsiegel des Gerichtsvollziehers zeigt
einen Kuckuck
Obwohl man heute immer noch den Ausdruck hört
»Da klebt der Kuckuck drauf«, an einem modernen
Pfandsiegel erinnert nichts an einen Vogel, geschwei-
ge denn an einen Kuckuck.
Früher zeigte das Pfandsiegel einen Reichsadler,
der dann vom Volksmund abwertend als »Kuckuck«
bezeichnet wurde. Aus dem gleichen Grund nannten
die Bayern die Münzen mit dem preußischen Adler
auch »Gugetzergroschen«.
& Lit.: Roland Michael: Wie, Was, Warum? Augs-
burg 1990.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Gesetz der Großen Zahl 117

Gesetz der Großen Zahl


Nach dem Gesetz der Großen Zahl muß die
Wahrscheinlichkeit für lange nicht gezogene Lot-
tozahlen steigen
Die seltenste Zahl beim deutschen Samstagslotto ist
die 13. In den ersten zweitausend Ausspielungen, von
1955 bis 1995, wurde sie weniger als zweihundertmal
gezogen, die 32 als die bis dato häufigste Zahl dage-
gen fast dreihundertmal, und deshalb kreuzen viele
Lottospieler gern die 13 an; sie denken so:
»Jede Lottozahl kommt in 49 Ziehungen im Durch-
schnitt sechsmal vor, in zweitausend Ziehungen also
rund 250 mal, und deshalb muß die 13 sich etwas be-
eilen.«
Auch in Spielkasinos kann man häufig solche Ar-
gumente hören: Es ist mehrmals in Folge Rot gefal-
len, also kommt jetzt Schwarz. »Denn da Schwarz auf
lange Sicht genauso häufig fällt wie Rot, hat Schwarz
jetzt einen Rückstand aufzuholen.«
In Wahrheit denkt Schwarz überhaupt nicht daran,
einen Rückstand aufzuholen, genausowenig wie die
13; Würfel und Lottokugel haben, so der französische
Mathematiker Joseph Bertrand, »weder Gewissen
noch Gedächtnis«, sie fallen immer mit den gleichen
Wahrscheinlichkeiten, ganz egal, was vorher war, ob
dreimal Rot oder zehnmal Rot, ob oft die 13 oder nie.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesetz der Großen Zahl 118

Selbst nach hundertmal Rot bleibt die Wahrschein-


lichkeit für Schwarz ein halb; sie wird nicht einen
Millimeter größer oder kleiner, genausowenig wie die
13 beim Lotto künftig öfter fällt.
Daß trotzdem viele Menschen anders denken, liegt
am Gesetz der Großen Zahl. Dieses berühmte Gesetz
der Großen Zahl besagt, daß bei vielen unabhängigen
Wiederholungen eines Zufallsexperiments, sei es
Münzwurf, Würfeln, Lotto, Kartenspielen oder was
auch immer, die relative Häufigkeit und die Wahr-
scheinlichkeit eines Ereignisses immer näher
zusammenrücken müssen: Je häufiger wir eine faire
Münze werfen, desto näher kommt der Anteil von
»Kopf« seiner Wahrscheinlichkeit ein halb, je häufi-
ger wir würfeln, desto näher kommt der Anteil der
Sechsen der Wahrscheinlichkeit für Sechs, und je
häufiger wir Lotto spielen, desto näher kommt die re-
lative Häufigkeit der 13 der Wahrscheinlichkeit der
13. An diesem Gesetz gibt es nicht herumzudeuteln,
dieses Gesetz ist in gewisser Weise die Krönung der
gesamten Wahrscheinlichkeitstheorie.
Daraus folgt aber nicht, und das wird immer wieder
übersehen, daß auch die absolute Anzahl von »Kopf«
oder »Dreizehn« oder »Sechs« (oder irgendeines an-
deren zufälligen Ereignisses) dem jeweiligen theoreti-
schen Wert immer näher rücken muß. Genau das Ge-
genteil ist wahr. Die absolute Häufigkeit für »Kopf«
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesetz der Großen Zahl 118

oder »Dreizehn« oder »Sechs« wird sich ganz im Ge-


genteil und mit großer Wahrscheinlichkeit immer wei-
ter von der Zahl entfernen, die man nach der Theorie
erwarten muß – wenn wir etwa viermal öfter würfeln,
verdoppelt sich der durchschnittliche Abstand der tat-
sächlich gewürfelten von den theoretisch erwarteten
Sechsen, wenn wir hundertmal öfter würfeln, wird der
durchschnittliche absolute Abstand zehnmal größer,
wenn wir eine Millionen mal häufiger würfeln, wird
er tausendmal größer usw. (Für Experten: der mittlere
Abstand zwischen der tatsächlichen und der theoreti-
schen Anzahl der Sechsen wächst wie die Wurzel aus
der Zahl der Würfe.) Aber der relative Abstand geht,
so wie in der folgenden Abbildung, trotzdem zurück;
zwischen dem Auseinanderdriften der absoluten und
dem Zusammenfallen der relativen Häufigkeiten gibt
es keinen Widerspruch.
& Lit.: H.J. Benz: »Hat die Münze doch ein Ge-
dächtnis?« Der Mathematikunterricht 29, 1983,
8–10; Georg Schrage: »Stochastische Trugschlüs-
se«, Mathematica Didactica 7, 1984, 3–19; Wal-
ter Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus der Welt
des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt 1995.
¤ Der absolute Abstand wächst, der relative Abstand
schrumpft

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Gesundheit 1 119

Gesundheit 1
Die Preise im Gesundheitswesen explodieren
Wir geben in Deutschland pro Jahr rund 500 Milliar-
den Mark, mehr als das komplette Sozialprodukt von
Portugal und Griechenland zusammen, nur für die Ge-
sundheit aus (zum Vergleich: 1970 beliefen sich un-
sere Gesamtausgaben für Gesundheit auf rund 70
Milliarden Mark).
Diese Ausgabenexplosion hat aber andere Gründe
als viele Kritiker des modernen Medizinbetriebes
glauben. Ausgaben sind nämlich immer das Produkt
von zwei Faktoren, von Preisen auf der einen und
Mengen auf der anderen Seite, und wenn wir die Aus-
gabenexplosion der vergangenen Jahrzehnte einmal
auf diese beiden Komponenten aufteilen, stellen wir
fest, daß nicht die Preise, sondern die Mengen der
Hauptmotor gewesen sind.
Die folgende Tabelle vergleicht einmal die
Preisentwicklung einiger Gesundheits- und sonstiger
Güter über 20 Jahre. Und wie wir sehen, steigen die
Preise von Gesundheitsgütern in aller Regel langsam-
er als andere Preise:
1975 1995 W-rate
Eine Packung
Adalat (100 Kapseln) 54,40 47,43 -12,8%
Hörgerät 960,00 1106,00 15,5%
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesundheit 1 119

Zahn ziehen (einwurzlig) 9,70 15,98 64,7%


Einfache Beratung (Arzt) 4,50 7,92 76,0%
Superbenzin (1 l, verbleit) 0,90 1,69 87,7%
Standardbrief 0,50 1.00 100,0%
Kino (mittlere Reihe) 4,86 10,32 112,3%
Mischbrot (dunkel, 1 kg) 2,04 4,01 115,3%
Frisörleistungen für
Damen (Haare färben). 15,74 37,80 145,4%
1 Std. Tennisunterricht 22,20 56,50 154,5%
Kotflügel lackieren (vorne,
durchschnittlicher Aufwand) 109,00 460,00 322,0%

Selbst im Krankenhaus, das hier mit seinen exorbitan-


ten Steigerungsraten bei den Pflegesätzen etwas aus
dem Rahmen fällt, sind die Preise im Prinzip gar nicht
so stark gestiegen. Denn ein Pflegetag in einem Kran-
kenhaus von heute ist doch etwas ganz anderes als ein
Pflegetag vor 40 oder 50 Jahren, und zwar etwas sehr
viel besseres, wie wir einmal hoffen wollen. Wer aber
früher einen VW-Käfer fuhr und sich heute einen
Mercedes leistet, darf auch nicht darüber klagen, daß
der Preis des Fahrzeuges gestiegen ist. Hier von einer
»Kostenexplosion« zu reden, wäre offensichtlich
wenig angebracht.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993; Fachserie »Preise« des Statisti-
schen Bundesamtes, verschiedene Jahre.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Gesundheit 2 120

Gesundheit 2
Mehr Geld für die Gesundheit macht gesünder
Wir Deutsche sind ein Volk von Kranken. Jeder zehn-
te Deutsche ist heute amtlich schwerbehindert, jeder
fünfte psychisch krank, und jeder dritte Opfer einer
Allergie. Jeweils mehr als zehn Millionen Bundesbür-
ger haben überhöhten Blutdruck, Rheuma oder Rük-
kenschmerzen (und mindestens drei Millionen der
Rheumakranken solche Schmerzen, daß sie laut Deut-
scher Rheumaliga ständige Behandlung nötig hätten),
fünf Millionen haben Gallensteine, vier Millionen Le-
berschäden, drei Millionen chronische Bronchitis, und
mehr als eine Million Menschen in Deutschland
haben Krebs. Eine weitere halbe Million Menschen,
meist jüngere Frauen, leiden an Muskel-, mehr als
zwei Millionen an Knochenschwund. Hier sehen Ex-
perten sogar »eine neue Volkskrankheit« am Hori-
zont. Rund 10 Prozent aller Schulkinder unter 14 Jah-
ren haben Asthma. Zehn Millionen Bundesbürger
hören schlecht und bräuchten eigentlich ein Hörgerät.
15 Millionen Bürger sind zu dick, mehr als drei Milli-
onen leben krankheitshalber auf Diät, und als »venen-
krank«, d.h. mit dem Risiko einer tödlichen Thrombo-
se lebend, stufen Ärzte nochmals vier Millionen Men-
schen ein. Dazu kommen jeweils mehrere Millionen
Suchtkranke oder »Eßgestörte« (darunter laut der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesundheit 2 120

»Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren« al-


lein drei Millionen behandlungsbedürftige Alkoholi-
ker) sowie mehrere hunderttausend Lungenkranke,
Magenkranke, oder Unfallopfer – von AIDS bis
Zahnweh nimmt die Bedrohung unserer Gesundheit,
trotz 500 Milliarden DM jährlich für das Gesund-
heitswesen allein in Deutschland, ständig zu.
»Das Gesundheitswesen, dem bereits Ende der
60er Jahre nahezu 10 Prozent des Bruttosozialpro-
dukts, also ein Zehntel der geldwerten Leistungen un-
serer Volkswirtschaft zur Verfügung standen, wirt-
schaftet mit diesen Mitteln nicht sehr erfolgreich«
(Christian und Lieselotte von Ferber). »Der früher
verbreitete Optimismus, daß eine Leistungsauswei-
tung im Gesundheitswesen einen Nutzen für die ge-
sundheitliche Situation der Bevölkerung habe und
von daher sich selbst rechtfertige, ist heute – nach
einem weltweiten Läuterungsprozeß, der durch die
starken Kostenschübe in nahezu allen Gesundheitssy-
stemen ausgelöst wurde – kaum noch nachvollzieh-
bar« (Ulrich Geissler). »Es kann definitiv keine Rede
davon sein, daß die Menschen zunehmend gesünder
werden ... Die Steigerung der Kosten ist, was die
Morbidität betrifft, total unergiebig gewesen« (Hans
Schäfer). »Mit einem immer größeren Aufwand an
Personal und Materialien, an Spitälern, Ärzten, tech-
nischen Einrichtungen und Heilmitteln ist es uns le-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesundheit 2 121

diglich gelungen, den Gesundheitszustand des Volkes


auf dem Niveau des Jahres 1960 zu halten« (Meinrad
Schär). »Große Fortschritte haben wir trotz des aus-
gegebenen Heidengeldes nicht gemacht.«
Dieses Paradox, daß wir mit wachsenden Ausgaben
für Gesundheit trotzdem immer kränker werden, hat
aber ganz andere Wurzeln als die meisten Menschen
glauben. Dieser vermeintliche Widerspruch von Ge-
sundheitsausgaben und Krankenständen ist in Wahr-
heit nämlich überhaupt nicht widersprüchlich, und der
vermeintlich so bescheidene Ertrag des modernen Me-
dizinbetriebs ist in Wahrheit alles andere als beschei-
den. Die Wahrheit, die paradoxe und sehr schmerz-
hafte Wahrheit ist vielmehr, daß uns die Medizin
nicht trotz, sondern wegen ihres Könnens immer
kränker macht und immer kränker machen muß.
Diese Einsicht wird am besten mittels des Beispiels
einer größeren Versammlung von Menschen klar, die
aus irgendeinem Anlaß in einem Saal versammelt sind
(etwa eine Geburtstagsrunde). Diese Versammlung ei-
nigt sich auf ein »Spiel« – jeder, der weniger als einen
bestimmten Geldbetrag mit sich führt, muß den Saal
verlassen. Wieviel Geld haben die anderen dann im
Durchschnitt in der Tasche?
Offenbar hängt das ganz entscheidend von der kri-
tischen Grenze ab. Liegt diese etwa bei eintausend
Mark, d.h. jeder mit weniger als tausend Mark im
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesundheit 2 121

Portemonnaie muß den Saal verlassen, so haben die


Zurückbleibenden logisch notwendigerweise jeder für
sich und damit auch im Durchschnitt mehr als tausend
Mark dabei. Das muß per Konstruktion so sein, hier
gibt es kein Vertun. Im Durchschnitt besitzt jeder der
Zurückbleibenden mehr als tausend Mark.
Senken wir dagegen die kritische Grenze auf ein-
hundert Mark, so bleiben einerseits mehr Menschen
im Saal zurück, die aber andererseits im Durchschnitt,
und die Betonung liegt auf Durchschnitt, ärmer sind.
Das Vermögen der »Stammbesatzung« bleibt zwar
gleich, aber der Durchschnitt sinkt, weil jetzt auch
viele Personen mitzählen, die vorher nicht dabeigewe-
sen sind.
Dieses Spiel können wir nach Belieben weitertrei-
ben: Bei einer Grenze von zehn Mark etwa dürfen
nochmals mehr Menschen bleiben, die aber im Durch-
schnitt nochmals ärmer sind, und genau diesen Effekt
hat, grob gesprochen, wenn wir Geld mit Gesundheit
vertauschen, auch die moderne Medizin: Sie gibt
immer mehr Menschen, die ohne sie den Saal bzw.
unsere schöne Welt verlassen müßten, sozusagen eine
Aufenthaltsverlängerung.
Beispiel Nierenversagen: Wir haben in Deutsch-
land mit die höchsten Raten an Nierenkranken in der
ganzen Welt, aber nicht, weil unsere Medizin so
schlecht ist, sondern weil sie so gut ist. Hätten wir
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesundheit 2 122

nicht die weltweit vorbildlichen Möglichkeiten der


künstlichen Blutwäsche für alle, die sie brauchen,
gäbe es heute bei uns sehr viele Nierenkranke weni-
ger. In England z.B. gibt es nur rund 100 Nierenkran-
ke pro eine Million Einwohner, verglichen mit mehr
als 200 in der Bundesrepublik, aber nicht, weil in
England diese Krankheit seltener auftritt, sondern
weil dort kaum ein Nierenkranker seinen 60. Geburts-
tag überlebt.
Oder nehmen wir Diabetes. Heute gibt es rund 2
Millionen Zuckerkranke in der Bundesrepublik, mehr
als 10mal soviel wie zu Zeiten Röntgens oder Kochs.
Das liegt aber nicht an der Unfähigkeit der Medizin,
sondern daran, daß vor 60 Jahren das Insulin erfunden
wurde. Auch hier das gleiche Resultat – und wir bit-
ten, dies genauso zu interpretieren wie es gemeint ist,
nämlich als reine und völlig wertneutrale Feststellung
einer Tatsache: Ohne medizinischen Fortschritt wäre
der Durchschnitt der Überlebenden heute gesünder.
Beispiele gibt es genug, und wir wollen auch gar
nicht weiter in die Einzelheiten gehen. Der Punkt ist
einfach der, und dabei zitieren wir fast wörtlich den
Präsidenten der deutschen Bundesärztekammer, daß
es, je besser die Medizin ist, umso mehr Kranke
geben wird. Der moderne Arzt ist also weniger ein
weißer Engel, der uns die Tür zum ewigen Leben auf-
schließt, als vielmehr ein neuer Sisyphus, dessen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesundheit 2 122

Mühen und Sorgen mit jedem Erfolg nur immer grö-


ßer werden. Es ist daher auch eine absolute Illusion
zu glauben, daß ein medizinisch effizienteres Gesund-
heitswesen uns als Kollektiv gesünder macht. Den
einzelnen Patienten ja, aber den Durchschnitt der
Überlebenden nein. Die große Gleichung »mehr Geld
= mehr Gesundheit« ist ganz eindeutig falsch. Genau-
so könnten wir versuchen, einen Brand zu löschen,
indem wir Benzin hineinschütten. Je mehr die Medi-
zin sich anstrengt, desto kränker werden wir, die mo-
derne Medizin sitzt ein für allemal in einer großen
Fortschrittsfalle fest.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Gesundheit 3 123

Gesundheit 3
Der technische Fortschritt macht das Gesund-
heitswesen billiger
Anders als z.B. in der EDV, die durch den techni-
schen Fortschritt immer preiswerter wird, hat der
Fortschritt in der Medizin den Medizinbetrieb enorm
verteuert. Der Grund ist, daß der Fortschritt in der
EDV vor allem sogenannte »Ersatztechnologien« pro-
duziert, also Verfahren, womit eine gegebene Lei-
stung wie etwa die Addition von 1 und 1 effizienter
und damit auch billiger herzustellen ist.
Solche Ersatztechnologien gibt es in der Medizin
zwar auch, aber nur am Rand. Hier dominieren ganz
eindeutig die sogenannten »Zusatztechnologien«, also
Verfahren, die etwas bis dato prinzipiell unmögliches
auf einmal möglich machen. Zusatztechnologien wie
Organverpflanzungen oder Operationen am offenen
Herz erzeugen aber erst einen Bedarf, der vorher al-
lenfalls latent vorhanden war, und die meisten medizi-
nischen Fortschritte, etwa aus der folgenden Tabelle
sind genau von diesem Typ.
Medizintechnische Großgeräte in Westdeutschland
1951 1971 1991
LHK-Meßplätze 0 76 210
DSA-Geräte 0 0 491
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Gesundheit 3 123

Strahlentherapiegeräte 0 146 334


Gamma-Kameras 0 30 1204
CT-Geräte 0 0 700
Kernspintomographen 0 0 156

Das Prinzip ist also nur allzu einfach: was nicht exi-
stiert, das kostet auch nichts. Das fängt bei Kontakt-
linsen an und hört bei Kernspintomographen auf, und
das und nichts anderes ist für den größten Teil der
Milliarden verantwortlich, die uns das deutsche Ge-
sundheitswesen jährlich kostet. Der große Kostentrei-
ber des modernen Gesundheitswesens sind nicht die
Gesundheitsberufe oder die Pharmaindustrie, auch
nicht die Patienten oder Krankenkassen, trotz aller
Kleinkriminalität, die es hier an allen Ecken und
Enden immer wieder gibt, der große Kostentreiber ist
der medizinische Fortschritt selbst. Unser Gesund-
heitswesen war früher preiswerter, nicht weil die
Menschen gesünder, die Ärzte bescheidener oder die
Preise niedriger waren, sondern weil es all die teuren
Wunderdinge, die heute die Kassenbudgets belasten,
damals noch nicht gab.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.

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LexPI Bd. 2 Gewalt in der Ehe 122

Gewalt in der Ehe


Gewalt in der Ehe geht mehrheitlich von Män-
nern aus
Gewalt in der Ehe geht genauso oft von Frauen wie
von Männern aus. So das Fazit diverser neuer und
nicht so neuer Studien, »wonach Frauen genauso häu-
fig häusliche Gewalt ausüben wie Männer und Män-
ner im gleichen Umfang Opfer häuslicher Gewaltakte
werden wie Frauen« (Wadham).
Nach nationalen und internationalen Kriminalstati-
stiken werden rund die Hälfte aller ermordeten Frauen
von ihrem eigenen Mann oder Lebensgefährten, und
etwas weniger als die Hälfte aller ermordeten Männer
von ihrer eigenen Frau oder Lebensgefährtin umge-
bracht; bei Delikten unterhalb von Mord und Tot-
schlag wird der Verwandtschaftsgrad zwischen Opfer
und Täter meist nicht statistisch festgehalten, aber wie
eine aufwendige Umfrage von Strauss u.a. (1981) für
die USA beweist, sind auch hier die Männer wie die
Frauen als Opfer wie als Täter gleich beteiligt. Nach
Strauss u.a. ist Gewalt »eine Tat, mit der Absicht aus-
geführt, den anderen oder die andere körperlich zu
verletzen«; sie wurde nach folgender Skala abgefragt
(S. 33):
– Habe nach meinem Partner mit einem Gegenstand
geworfen
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LexPI Bd. 2 Gewalt in der Ehe 123

– Habe Partner gestoßen


– Habe Partner mit der flachen Hand geschlagen
– Habe Partner getreten oder mit der Faust geschlagen
– Habe Partner mit einem Gegenstand geschlagen
oder zu schlagen versucht
– Habe Partner verprügelt
– Habe Partner mit Messer oder Pistole bedroht
– Habe Partner mit Messer oder Pistole verletzt
16 Prozent der befragten Paare hatten sich im letz-
ten Jahr vor der Befragung auf eine dieser Arten »un-
terhalten«; in der Hälfte dieser Fälle waren beide Part-
ner gewalttätig geworden, in einem Viertel nur die
Männer, in einem Viertel nur die Frauen. Bei Be-
schränkung auf Gewaltakte mit einem hohen Risiko
von körperlichen Schäden (in der obigen Skala alles
von »getreten oder mit der Faust geschlagen« ab-
wärts) waren insgesamt 4% der befragten Frauen und
5% der befragten Männer von ihrem Partner körper-
lich mißhandelt worden.
Interessant ist in der Studie von Strauss u.a. auch
die Aufspaltung nach Erziehung, Alter und besonders
Religion: Am meisten schlagen sich demnach Paare
ohne alle oder mit unterschiedlicher religiöser Bin-
dung, gefolgt von religiösen Minderheiten, dann erst
Katholiken oder Protestanten. Und auch die Opfer-
Täter-Symmetrie ist nicht religionsneutral: Der Anteil
der geschlagenen Männer unter den geschlagenen
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LexPI Bd. 2 Gewalt in der Ehe 123

Ehepartnern ist mit Abstand am höchsten bei den


Juden.
Diese Studie ist nicht ohne Widerspruch geblieben,
bemängelt wurde etwa, daß auch Gewaltversuche ein-
bezogen waren (und in dem Umfang, wie diese den
Frauen seltener gelingen als den Männern, wird so die
tatsächlich ausgeübte weibliche Gewalt leicht über-
trieben), aber der Grundtenor, daß Gewalt in eheli-
chen und sonstigen Partnerschaften kein Monopol der
Männer ist, wurde unabhängig davon auch vielfach
anderswo bestätigt.
Warum halten trotzdem die meisten Menschen das
Gegenteil für richtig? Die folgenden Gründe drängen
sich hier auf:
1. Gewalt von Frauen gegen Männer ist politisch
inkorrekt.
2. Männliche Opfer weiblicher Gewalt hängen ihre
Probleme ungern an die große Glocke.
3. Auch bei einer Neigung zur Gewalt als solcher
bei beiden Geschlechtern gleichermaßen sind die Fol-
gen der Gewalt doch sehr verschieden: ein und diesel-
be Ohrfeige kann je noch Körperkraft des Austeilen-
den durchaus unterschiedliche Effekte haben, und des-
halb werden wohl auch in Zukunft die Häuser für ge-
schlagene Männer, die es in einigen deutschen Städten
bereits gibt, im wesentlichen Kuriosa bleiben.

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LexPI Bd. 2 Gewalt in der Ehe 124

& Lit.: C. Benard und E. Schlaffer: Die ganz ge-


wöhnliche Gewalt in der Ehe, Reinbek 1978;
M.A. Strauss, R.J. Gelles und S.K. Steinmetz:
Behind closed doors: violence in the American fa-
mily, New York 1981; R. Simm: Gewalt in der
Ehe, IBS-Materialien Nr. 7, Bielefeld 1983; S.
Lindner: Tatort Ehe, Wien 1992; K. Dunn:
»Media beat-ups conceal truth on female domestic
violence«, The Australian, 21.7.1994; J.
Coochey: »All men are bastards«, The Indepen-
dent Monthly, Nov. 1995; B. Wadham: »The
myth of male violence?«, XY – Men, Sex, Poli-
tics, 6 (1) 1996 (auch erreichbar über die Internet-
Adresse coombs.anu.edu.au/gorkin/XY/maleviol-
ence.htm).

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LexPI Bd. 1 Giftgas 124

Giftgas
Giftgas ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts
(s.a. ð »Flammenwerfer«)
Mehr als tausend Jahre vor dem Ersten Weltkrieg
haben die Chinesen in Kriegen Giftgas eingesetzt.
Schon im 4. Jahrhundert hatten sie die Mittel, ihre
Feinde mit Rauch aus Senfgas zu betäuben: sie trie-
ben den Rauch mit Gebläsen auf die feindlichen Sol-
daten zu. Bekannt ist auch, daß die Mongolen in der
Schlacht bei Liegnitz 1241 die christlichen Ritter mit
»dampfausstoßenden Kriegsmaschinen« in Erschrek-
ken setzten.
& Lit.: Walter Böttger: Kultur im alten China, Leip-
zig 1977.

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LexPI Bd. 1 Ginseng 124

Ginseng
Ginseng hält jung
Die Wunderwurzel Ginseng wirkt ihre Wunder leider
nur in der Reklame: »Irgendwann trifft es jeden.
Plötzlich merkt man, daß man nicht mehr so kann wie
früher. Jetzt heißt es: nicht den Kopf hängen lassen.«
Und möglichst viele teure Ginseng-Wurzeln essen.
Denn »Ginseng ist ein Kraftquell zur Stärkung der
körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit«, es
macht müde Männer munter und läßt uns alle spritzle-
bendig 120 werden.
Nach aktueller Mehrheitsmeinung der Ernährungs-
wissenschaft ist das aber alles Einbildung – im gro-
ßen und ganzen enthält die Ginseng-Wurzel nicht
mehr und nicht weniger Wirkstoffe als viele andere
Wurzeln auch; ihre Popularität verdankt sie vor allem
der Cleverness ihrer Produzenten und der Dummheit
ihrer Käufer.
& Lit.: Arnold E. Bender: Health or hoax? The truth
about health food and diets, Goring-on-Thames
1985.

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LexPI Bd. 2 Giraffen 124

Giraffen
Giraffen haben mehr Halswirbel als Mäuse
Giraffen haben genau sieben Halswirbel, so wie die
meisten anderen Säugetiere inklusive Menschen oder
Mäuse auch.
& Stichwort vorgeschlagen von Werner Helbig.

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LexPI Bd. 1 Girokonto 125

Girokonto
Ein Girokonto ist so gut wie Bargeld (s.a. ð
»Geld«)
Viele Menschen sehen ihr Girokonto als eine Art Tre-
sor, so wie die notorische Großmutter, die ihr ganzes
Konto abhebt, das Geld nachzählt und dem Kassierer
mit den Worten wiedergibt: »Ich wollte nur sehen, ob
noch alles da ist.«
Ganz so dumm wie viele glauben war die Oma
nicht – die Summe aller Girokonten Deutschlands ist
durch Noten bei weitem nicht gedeckt, und das Ban-
kensystem lebt in gewisser Weise davon, daß die
Menschen ihm vertrauen, daß sie sicher daran glau-
ben, jederzeit ihr Konto in Bargeld umtauschen zu
können, und daß nicht allzuviele Leute simultan so
wie die Oma denken.
& Lit.: H. J Jarchow: Theorie und Politik des Gel-
des, Göttingen 1976.

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LexPI Bd. 2 Gleichberechtigung 124

Gleichberechtigung
In der DDR war die Gleichberechtigung der
Frauen weiter fortgeschritten als im Westen
Auf dem Papier waren Frauen in der DDR stets
gleichberechtigt: In Artikel 7 der Verfassung von
1949 wurde die Gleichberechtigung gesetzlich festge-
schrieben, alle noch geltenden Gesetze aus dem Ehe-,
Familien- und Erbrecht, die diesem Grundsatz wider-
sprachen, wurden eingestampft, ein »Demokratischer
Frauenbund Deutschlands« (DFD) mit der Überwa-
chung dieses Programms betraut. »Der DFD ver-
pflichtet sich, die Frauen mit allen Rechten, die ihnen
erstmalig in der deutschen Geschichte auf allen Ge-
bieten des politischen, wirtschaftlichen und kulturel-
len Lebens zuerkannt sind, vertraut zu machen, damit
sie lernen, sie in vollem Umfang anzuwenden.«
In der Praxis aber waren Frauen in der DDR wie
vorher unter Hitler vor allem als Arbeiter und Mütter
interessant. Auch wenn die SED die »Frauenfrage«
Anfang der 70er Jahre für gelöst erklärte, der »ekla-
tante Widerspruch des Verdrängens von Frauen aus
dem politischen Gestaltungsprozeß der DDR und dem
staatlicherseits proklamierten Anspruch auf Gleichbe-
rechtigung der Geschlechter« war kaum zu übersehen
(Bühler). Angefangen bei den »Hausfrauenbrigaden«
der 50er Jahre, den Vorläufern der späteren Dienstlei-
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LexPI Bd. 2 Gleichberechtigung 125

stungskombinate, mit denen man Frauen aus dem


»Nur-Hausfrauendasein« herauszulocken hoffte, bis
zu den 3-Kinder-Familien-Kampagnen der 70er und
80er Jahre stand immer nur die wirtschaftliche und
soziale Nützlichkeit der Frau im Mittelpunkt; bei
wirklich wichtigen Entscheidungen in Politik und
Wirtschaft blieben Frauen in der DDR genauso aus-
geschlossen wie im Westen und im ganzen Rest des
Erdballs auch.
& Lit.: August Bebel: Die Frau und der Sozialis-
mus, Berlin 1879; Grit Bühler: Mythos Gleichbe-
rechtigung in der DDR, Frankfurt a.M. 1997.

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LexPI Bd. 2 Gleichschritt 125

Gleichschritt
Im Gleichschritt marschierende Soldaten können
eine Brücke zum Einsturz bringen
So scheint zumindest die Bundeswehr zu glauben: Es
ist üblich, daß Kompanien beim Überqueren einer
Brücke »ohne Tritt« marschieren.
Die Gefahr scheint aber übertrieben; es ist kein ein-
ziger Fall bekannt, daß eine Brücke durch die Reso-
nanz der Tritte marschierender Soldaten derart ins
Schwingen geraten wäre, daß sie einstürzte. Selbst die
bekannteste durch Resonanz bewirkte Brückenkata-
strophe, der Einsturz der Tacoma Narrows Bridge im
US-Staat Washington 1940, ist nach neueren Er-
kenntnissen nicht durch rhythmische Anstöße von
außen, sondern durch »Aufschaukeln« aus sich selbst
heraus entstanden.
& Lit.: K.Y. Bilah und R.H. Scanlan: »Resonance,
Tacoma Narrows Bridge failure, and undergra-
duate physics textbooks«, American Journal of
Physics 1991, S. 118–114; Christoph Drösser:
»Stimmt's?«, Die Zeit, 1.8.1997.
¤ Das kann durch Gleichschritt nicht passieren ...

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LexPI Bd. 2 Glenn Miller 126

Glenn Miller
Glenn Miller ist im Krieg mit einem Flugzeug ab-
gestürzt
Es gibt mindestens drei Versionen für den Tod dieses
legendären Musikers: In der ersten, offiziellen Fas-
sung ist Miller am 15. Dezember 1944 auf einem
Flug von England nach Paris mit einem kleinen Flug-
zeug abgestürzt – auf den Tragflächen der Maschine
hätte sich Eis gebildet, mangels Enteisungsvorrich-
tungen wäre das Flugzeug in den Kanal gestürzt. In
der zweiten Fassung ist Glenn Miller ebenfalls in
einem Flugzeug über dem Kanal gestorben, aber als
Folge eines ungewollten Bombentreffers: Eine Grup-
pe englischer Lancaster-Bomber, unverrichteter Dinge
von einem Angriff zurückkehrend (der Angriff soll
dem Hauptbahnhof von Siegen gegolten haben), hät-
ten demnach wie in solchen Fällen üblich ihre nicht
benutzten Bomben vor der Landung in den Kanal ge-
worfen und dabei den unter ihnen fliegenden Glenn
Miller getroffen. Und die dritte und vermutlich kor-
rekte Fassung ist die, daß Glenn Miller durchaus
wohlbehalten in Paris ankam, dort heimlich ein Bor-
dell besuchte, einen Herzinfarkt erlitt und daran starb.
Da diese Nachricht aber die Moral der Truppe unter-
graben hätte, wurde sie vom amerikanischen Geheim-
dienst zu einem spurlosen Verschwinden über dem
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Glenn Miller 127

Kanal gemacht.
& Lit.: George T. Simon: Glenn Miller: Sein Leben,
seine Musik, Wien 1987; Udo Ulfkotte: Ver-
schlußsache BND, München 1997; Stichwort vor-
geschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Gletscher 125

Gletscher
In Afrika gibt es keine Gletscher
Afrika besitzt rund 13 Quadratkilometer Gletscherflä-
che, den größten Teil davon auf dem Kilimandscharo.
Von allen Kontinenten hat allein Australien keine
Gletscher (auf den oft zu Australien gezählten Inseln
Neu-Guinea und Neuseeland gibt es aber Gletscher).
Das afrikanische Klima war auch längst nicht
immer so warm wie heute. Der Nil z.B. war seit Jesus
Christus mindestens zweimal, in den Jahren 829 und
1010, zugefroren.
& Lit.: Isaac Asimov: Buch der Tatsachen, Ber-
gisch-Gladbach 1981.

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LexPI Bd. 2 »Global Warming« 127

»Global Warming«
Die mögliche Erwärmung der Erde durch die Zu-
nahme von Kohlenstoff in der Luft ist eine Ent-
deckung der letzten Jahre
Der als »Global Warming« bekannte (vermutete)
Treibhauseffekt als Folge der Verbrennung von
Kohle, Holz und Erdöl ist in der Physik seit mehr als
100 Jahren wohlbekannt; allerdings hielt man damals
die Natur für ausreichend robust, von selbst für
Gleichgewicht zu sorgen: »Steigt nämlich die Kohlen-
säuremenge der Luft, nimmt auch die Assimilation
der Pflanzen zu«, schreibt 1903 der deutsche Physiker
Arrhenius. »Eine relativ geringe Zunahme der Vegeta-
tion vermag demnach das durch die wachsende Ver-
brennung der Kohle gestörte Gleichgewicht wieder-
herzustellen. (...) Denn die Zunahme der Kohlensäure
in der Luft würde die Temperatur des Erdbodens er-
höhen und eine Ausgleichung der Temperaturextreme
herbeiführen, was offenbar für die Vegetation sehr
förderlich wäre. Es würde sich also das Gleichgewicht
in bezug auf den Luftsauerstoff nur äußerst wenig ver-
schieben.«
& Lit.: S.A. Arrhenius: Lehrbuch der kosmischen
Physik, Leipzig 1903.

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LexPI Bd. 1 Glücksspiele 125

Glücksspiele
Mit Vorsicht kommt man bei Glücksspielen noch
am ehesten ans Ziel
Wer bei Glücksspielen aus einem bestimmten Aus-
gangskapital mit der größtmöglichen Wahrscheinlich-
keit ein bestimmtes höheres Endkapital erreichen will,
tut gut daran, möglichst riskant zu spielen – Vorsicht
wäre hier nur kontraproduktiv. Bei Glücksspielen, die
im Mittel weniger auszahlen als sie kosten, ist es
immer vorteilhaft, auf maximales Risiko zu setzen.
Wer etwa beim Roulette in Las Vegas aus neun-
hundert Dollar tausend Dollar machen will, darf auf
keinen Fall immer nur einen Dollar auf einfache
Chancen setzen. Denn trotz einer auf den ersten Blick
recht fairen Auszahlungsquote von 94,7 Prozent beim
amerikanischen Roulette ist die Wahrscheinlichkeit,
so irgendwann einmal auf tausend Dollar zu kommen,
nur 0,003 Prozent. Mit anderen Worten, das ist fast
unmöglich, dieses scheinbar nahe Ziel bleibt bei vor-
sichtigem Spielen praktisch unerreichbar.
Wenn wir dagegen hundert statt einen Dollar auf
eine einfache Chance setzen und bei Verlust jeweils
verdoppeln, bis wir entweder gewinnen oder unser
ganzes Geld verlieren, erreichen wir die tausend Dol-
lar mit einer Wahrscheinlichkeit von 89 Prozent.
Das ist zugleich auch schon Obergrenze – bei kei-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Glücksspiele 126

ner anderen Strategie ist die Wahrscheinlichkeit der


Zielerreichung größer.
Die allgemeine Formel für diese Obergrenze der
Wahrscheinlichkeit, aus einem Anfangskapital ein
vorbestimmtes Endkapital zu erspielen, ist
1-(1-Anfangskapital/Endkapital)Auszahlungsquote.
Sie liefert uns etwa für europäisches Roulette, mit
einer Auszahlungsquote bei einfachen Chancen von
98,6 Prozent und einem Verhältnis von Anfangs- zu
Endkapital von 1:2, die Obergrenze
1 - (1 - 1/2)0,986 = 0,495 = 49,5 Prozent,
und dieser Obergrenze kommen wir nie näher, als
wenn wir gleich im ersten Spiel das ganze Kapital auf
einmal setzen.
Bei anderen Glücksspielen, Zielsummen und Quo-
ten sind auch die optimalen Strategien anders. Wollen
wir beim Roulette das Anfangskapital nicht verdop-
peln, sondern verzehnfachen, so kann das bedeuten,
immer soviel Geld wie zum Erreichen dieses Zieles
nötig auf eine einzige Zahl zu setzen. Beim Lotto
kann es heißen, alle Tippreihen identisch auszufüllen,
und bei Pferdewetten sind die besten Strategien noch-
mals anders (etwa auf Außenseiter setzen). Aber eins
bleibt immer gleich: Der vorsichtige Spieler mag
zwar nicht als armer Mann nach Hause gehen, aber an
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LexPI Bd. 1 Glücksspiele 126

das Ziel kommt er zuletzt.


& Lit.: Lester E. Dubins und Leonard J. Savage:
How to gamble if you must, New York 1965;
Cynthia A. Coyle und Chamont Wang: »Wonna
bet? On gambling strategies that may or may not
work in a casino,« The American Statistician 47,
1993, 108–111; Walter Krämer: Denkste! Trug-
schlüsse aus der Welt des Zufalls und der Zahlen,
Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 2 Glühbirne 127

Glühbirne
Die Glühbirne wurde von Thomas Alva Edison
erfunden
Der Erfinder der Glühbirne ist der deutsche Uhrma-
cher Heinrich Goebel aus Springe bei Hannover; er
hatte nach seiner Auswanderung nach Amerika schon
1854 seine Werkstatt in New York damit elektrisch
ausgeleuchtet.
Rund 25 Jahre später kam Edison auf die gleiche
Idee; statt einer verkohlten Bambusfaser, wie noch
Goebel, nahm er einen Kohlefaden (aber auch der war
schon vorher von dem Engländer Swan als Leuchtkör-
per erfunden worden), und anders als Goebel wußte er
seine Erfindung dann auch zu vermarkten.
& Lit.: W. Schneider: Die Sieger, Hamburg 1992
(besonders Kapitel 7: »Erfinder im Dutzend«).

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LexPI Bd. 1 Glühwürmchen 128

Glühwürmchen
Glühwürmchen sind Käfer, keine Würmer. Es gibt
mehrere Arten, in Europa am bekanntesten die Lam-
pyris noctiluca.
Das Licht erzeugen die Glühwürmchen (übrigens
nur die Weibchen) durch die Reaktion von Luziferin,
einer chemischen Substanz, und Sauerstoff, wobei ein
weiterer Stoff, Luziferase, eine Katalysatorrolle über-
nimmt, d.h. die chemische Reaktion als neutraler Be-
gleiter unterstützt. Außerdem bewirkt noch eine
Schicht von Ammoniumnitratkristallen eine bessere
Streuung des Lichts.
Ein besonders bemerkenswertes Glühwürmchen ist
das Weibchen des Phrixothrix, welches in Südameri-
ka vorkommt: Es sendet sowohl rotes als auch grün-
gelbliches Licht aus, entweder gleichzeitig oder ab-
wechselnd. Das Rotlicht kommt vom Kopf, das Grün-
licht von einer Anzahl leuchtender Organe am Leib.
& Lit.: William C. Vergara: Das Blaue vom Him-
mel herunter gefragt, Augsburg 1993.

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LexPI Bd. 2 Goethe 128

Goethe
Goethe und Schiller waren die erfolgreichsten
deutschen Bühnendichter
Nicht als sie noch lebten: Anfang des 19. Jahrhun-
derts hieß der weltweit meistgespielte deutsche
Stückeschreiber August Kotzebue. Mit mehr als 200
Lustspielen, Satiren oder Dramen war er nicht nur
mengenmäßig weit produktiver als Goethe und Schil-
ler zusammen, er schaffte es auch, daß seine
Rührstücke die Leute in Massen ins Theater lockten:
»Sentimentale Familienszenen, ein tränenseliges
Schlußtableau, liebenswürdige Ehebrecherinnen und
gescheite Kinder, (...) die Leichtigkeit des Dialogs
und effektvolle Situationswirkung« (Harenbergs Lexi-
kon der Weltliteratur) – keine Frage, Kotzebue wäre
in Hollywood steinreich geworden.
& Lit.: Stichwort »Kotzebue« in Harenbergs Lexi-
kon der Weltliteratur, 3. Band, Dortmund 1989.

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LexPI Bd. 1 Gold 1 127

Gold 1
Gold kommt vor allem in Goldminen vor
Das meiste Gold gibt es nicht auf dem Land, sondern
im Wasser: In den Ozeanen unserer Erde schwimmen
fast neun Millionen Tonnen Gold, rund 200mal mehr
als im bisherigen Verlauf der Menschheitsgeschichte
in allen Goldminen des Globus zusammen gefunden
und gefördert worden sind.
Außer Gold sind auch noch viele andere Mineralien
im Meerwasser enthalten. Die folgende Tabelle zeigt,
wieviel davon rund auf einen Kubikkilometer Meer-
wasser kommen:
Soviele Tonnen sind in einem Kubikkilometer
Meerwasser enthalten:
Natriumchlorid (gew. Salz): 72600000
Magnesiumchlorid 10150000
Magnesiumsulfat 4430000
Kaliumsulfat 3560000
Calciumcarbonat 328000
Magnesiumbrom 198000
Bromide 170100
Bor 12000
Silber 25
Gold 14
Uran 4

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LexPI Bd. 1 Gold 1 127

Von diesen Mineralien wird aber nur Natriumchlor,


also gewöhnliches Salz, sowie Magnesium in größe-
rem Umfang kommerziell aus Meerwasser gewonnen.
& Lit.: Isaac Asimov: Buch der Tatsachen, Ber-
gisch-Gladbach 1981.

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LexPI Bd. 1 Gold 2 127

Gold 2
Gold ist seltener als Eisen
Gold war durchaus nicht immer seltener als Eisen.
Die Inkas Südamerikas z.B. kannten vor den spani-
schen Eroberungen überhaupt kein Eisen, besaßen
aber reichlich Gold. Sie verwendeten es außer zur De-
koration auch für Eßbestecke, Kämme oder Nägel.
Im frühen Ägypten war auch Silber wertvoller als
Gold, weil man es seltener in Klumpen findet.
& Lit.: Isaac Asimov: Buch der Tatsachen, Ber-
gisch-Gladbach 1981.

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LexPI Bd. 1 Gold 3 128

Gold 3
Gold widersteht jeder Säure
Gold löst sich in einer Mischung von 3 Teilen Salz-
säure und einem Teil Salpetersäure auf. Der Trick ist
dabei der, daß die Salpetersäure das Gold zunächst
nur oxidiert; dieses oxidierte Gold wird dann in der
Salzsäure gelöst.

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LexPI Bd. 2 Good Bye 128

Good Bye
»Good Bye« hat etwas mit »gut« zu tun
Dieser amerikanische Abschiedsgruß kommt von
»God Bye« = »God be with you« (= Geh mit Gott).
Ein anderer, hierzulande oft mißverstandener ame-
rikanischer Abschiedsgruß ist »So long«; dieser ist
nicht aus der langen Zeit bis zum nächsten Wiederse-
hen, sondern aus dem arabischen »salaam« bzw. aus
dem hebräischen »shalom« entstanden.

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LexPI Bd. 1 Göttliche Komödie 128

Göttliche Komödie
Dieses große Werk des großen Dante Alighieri wurde
von Dante selbst nie »Göttliche Komödie« genannt –
er nannte es »La Commedia«. Das Beiwort »göttlich«
wurde erst 200 Jahre später, lange nach Dantes Tod,
von geschäftstüchtigen Buchdruckern dazugesetzt;
zum ersten Mal erschien es auf einer von Lodovico
Dolci besorgten Ausgabe im Jahr 1555.
& Lit.: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Dort-
mund 1989.

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LexPI Bd. 2 Gourmet 129

Gourmet
Ein Gourmet ist ein Feinschmecker und ein
Gourmand ist ein Vielfraß
»Gourmet« kommt vom altfranzösischen »gormet«
oder »gromet« (= Gehilfe des Weinhändlers). Später
wurde es zum Synonym für Weinkenner; dieser kann,
aber muß nicht auch vom Essen etwas verstehen.
»Gourmand« heißt naschhaft, gefräßig; die Her-
kunft ist ungeklärt und wahrscheinlich unabhängig
von »Gourmet«. Ein »Gourmand« ist also ein
Schlemmer, jemand, der gern ißt. Er kann durchaus
auch als Gourmet gelten, die Begriffe schließen sich
nicht gegenseitig aus. »In dem Raum herrschte der
Luxus der Tafel, der bekanntlich in der Zeit der Re-
stauration seinen Höhepunkt erreichte«, schreibt Bal-
zac in »Père Goriot«. »Monsieur de Beauséant kann-
te, wie so manche blasierten Menschen, kaum noch
ein anderes Vergnügen als das eines guten Tisches; er
stammte ganz aus der Schule Ludwigs XVIII. und des
Duc d'Escars, dieser größte Gourmand seiner Zeit.«
& Lit.: Das Deutsche Wörterbuch, München 1985;
Stichwort vorgeschlagen von Heide Aßhoff.

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LexPI Bd. 2 Grand Slam 129

Grand Slam
»Grand Slam« gibt es nur im Tennis
Einen »Grand Slam« gibt es auch im Golf (das Ma-
sters in Augusta, die offenen Meisterschaften Groß-
britanniens und der USA, und das PGA-Turnier) und
in anderer Bedeutung auch bei Kartenspielen wie
Bridge oder Whist.

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LexPI Bd. 1 Grasmücke 129

Grasmücke
Die Grasmücke hat etwas mit Mücken oder Gras
zu tun
Dieser beliebte Singvogel aus der Familie Sylviidae,
auch »Schwarzplättchen« oder »Plattmönch« genannt,
hat seinen Namen von dem mittelhochdeutschen
»Gra-smiege« = Grau-Schlüpfer; er ist grau und ein
»Meister im Durchkriechen, Durchhüpfen und Durch-
schlüpfen des Gebüschs«.
& Lit.: O. Kleinschmidt: Die Singvögel der Heimat,
Leipzig 1931.
¤ Sperber-, Garten- und Mönchsgrasmücke (Sylvia
nisoria, hortensis und atricapilla)

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LexPI Bd. 2 Graubrot 129

Graubrot
Graubrot ist gesünder als Toastbrot
Zwischen Graubrot und Toastbrot gibt es nährwert-
mäßig keine großen Unterschiede; beide werden aus
Auszugsmehlen hergestellt – ihnen fehlen die Vitami-
ne und Nährstoffe aus den Randschichten des Getrei-
dekorns. Gesünder als diese beiden Sorten ist daher
das Vollkornbrot.
& Lit.: »Die 15 großen Lügen übers Essen«, Hörzu
30/1996.

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LexPI Bd. 2 Graue Eminenz 130

Graue Eminenz
Eine graue Eminenz hat etwas mit grauhaarigen,
älteren Herren zu tun
Die erste »Graue Eminenz« war der als »Vater Josef«
bekannte Kapuzinerpater und Berater des Kardinals
Richelieu, François Leclerc du Tremblay
(1577–1638). Da der Kardinal aufgrund der roten
Kardinalsgewänder den Namen »Rote Eminenz« er-
hielt, nannten die Leute den Vater Josef wegen seiner
grauen Kapuzinerkleider »Graue Eminenz«.
Diese »Graue Eminenz« war aber ansonsten alles
andere als grau. Er hatte Sprachen und Juristerei stu-
diert, konnte fechten und reiten (letzterer Leidenschaft
mußte er dann als Kapuzinermönch entsagen, Kapuzi-
ner gehen nur zu Fuß), er galt als guter »Kriegsmann«
und machte auch als Mönch noch eine stattliche
Figur: »Unter der breiten, intellektuellen Stirn waren
die weit offenen blauen Augen ein wenig vorgewölbt
und hatten etwas Starrendes. Die Nase hatte den kraft-
vollen Schwung eines Adlerschnabels. Ein langer, un-
gepflegter rötlicher (...) Bart bedeckte Wangen und
Kinn; aber der entschlossene Mund mit seinen vollen
Lippen deutete auf eine entsprechend feste Formung
der Kiefer darunter« (Huxley).
Diese »Graue Eminenz« im Hintergrund der fran-
zösischen Politik des 17. Jahrhunderts wurde dann
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Graue Eminenz 130

zum Sinnbild für versteckte Macht im allgemeinen.


& Lit.: A. Huxley: Die Graue Eminenz, München
(ohne Jahr); H. van Maanen: Kleine encyclopedie
van misvattingen, Amsterdam 1994.

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LexPI Bd. 2 Griechische Statuen 130

Griechische Statuen
Griechische Statuen sind unbemalt
So ist man nach zwei Stunden Louvre gern geneigt zu
glauben, und so glaubt auch die Kunstwelt seit Win-
kelmanns »Anmerkungen über die Baukunst der
Alten« von 1762. Darin heißt es, der Bildhauer solle
die Natur nachahmen und eine Marmorplastik unbe-
handelt lassen, er dürfe den Marmor nicht mit Farbe
überdecken.
In Wahrheit waren die meisten antiken Statuen und
Reliefs recht bunt bemalt, wie man schon bald nach
Winkelmann herausgefunden hatte – die Farbschicht
war im Lauf der Zeit nur abgeblättert. Zur späten Eh-
renrettung dieser alten wie auch vieler moderner
Stein- und Pinselkünstler gab es im November 1996
eine Ausstellung »Farbe in der Skulptur« im Van
Gogh Museum Amsterdam.

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LexPI Bd. 2 Grüner Punkt 131

Grüner Punkt
Der grüne Punkt garantiert eine umweltfreundli-
che Verpackung (s.a. ð »Müll« in Band 1)
Der grüne Punkt bezeugt allein, daß der Hersteller des
Produktes, auf oder an dem sich dieser grüne Punkt
befindet, an das »Duale System Deutschland GmbH«
eine Gebühr zur Entsorgung und Wiederverwertung
der Verpackung abgeliefert hat; weitergehende Aussa-
gen zur Verträglichkeit von Umwelt und Verpackung
folgen daraus nicht.
Nach der »Verpackungsverordnung« von 1991 mü-
ssen Händler und Hersteller von Konsumprodukten
sog. »Verkaufs Verpackungen« (Joghurtbecher, Kon-
servendosen, Flaschen usw.) zurücknehmen und wie-
derverwerten. Diese Verpflichtung entfällt bei einem
grünen Punkt; für rund 20 Pfennig pro Kilo
Glasverpackung oder für 3 Mark pro Kilo Kunststoff
sammelt statt dessen die Firma DSD den Abfall ein
(Umsatz 1996: über 4 Mrd. Mark), der Rest geht den
Produzenten nichts mehr an. Mit anderen Worten, die
Umweltverträglichkeit der mehr als 5 Millionen Ton-
nen Abfall, die die DSD pro Jahr einsammelt und ver-
wertet, ist durch den grünen Punkt in keiner Weise
nachgewiesen.
& Lit.: H.-J. Kursawa-Stucke et al.: Der grüne
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LexPI Bd. 2 Grüner Punkt 131

Punkt und der Recycling-Schwindel, München


1994; Duales System Deutschtand GmbH: Duales
System von A-Z: das kleine Lexikon, Broschüre,
Köln 1995; »DSD macht Anfangsverluste wett«,
Die Welt, 25.6.1997; Stichwort vorgeschlagen
von Judith Krämer.

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LexPI Bd. 2 Grünspan 131

Grünspan
Auf Kupferdächern kann man zuweilen Grün-
span sehen
Der grüne Belag auf Kupferdächern ist kein Grün-
span, sondern Patina. Beides sind Kupferverbindun-
gen, wenn auch von unterschiedlichem Charakter:
Grünspan entsteht durch die Verbindung von Kupfer
mit einer Säure (konkret: durch die Verbindung von
Kupfer mit Essigsäure), Patina (italienisch für Firnis)
entsteht durch die Verbindung von Kupfer mit einer
Base (konkret: durch die Verbindung von Kupfer mit
basischen Karbonaten, Sulfaten und Chloriden). Und
da Essigsäure in der Atmosphäre nur in verschwin-
dend kleinen Mengen vorkommt, entsteht der Grünbe-
lag auf Kupferdächern durch Basen und ist damit Pa-
tina.
& Lit.: Gmelins Handbuch der anorganischen Che-
mie, Berlin 1977; Stichwort vorgeschlagen von
Stefan Faßbinder.

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LexPI Bd. 2 Guernica 132

Guernica
Guernica war ein Opfer deutscher Terrorbomber
Neben den Engländern und Amerikanern haben zwar
auch die Deutschen im letzten Weltkrieg Bomben nur
zu Terrorzwecken abgeworfen, die auf Guernica gehö-
ren vermutlich aber nicht dazu.
Guernica war ein vielbefahrener Verkehrsknoten-
punkt dicht hinter der Front; die deutschen Bomber
sollten den zurückweichenden Nationalspaniern den
Rückweg nach Bilbao abschneiden. Sofern also das
Bombenwerfen auf zivile Ziele überhaupt als militä-
risch sinnhaft angesehen werden darf (etwa nach den
Kriterien für alliierte Bombenangriffe auf Köln oder
Frankfurt), war hier ein Luftangriff zumindest nicht
verboten. Allerdings entartete diese Militäroperation
schnell in eine unkontrollierte Bombenwerferei, ver-
gleichbar dem späteren Bombenterror der Engländer
und Amerikaner. »Neuere Forschungen ergaben, daß
die Zerstörung Guernicas (...) nicht so geplant war,
wie sie dann erfolgte« (S. Berloge). Statt auf Brücken
oder Straßen fielen Bomben auch auf Wohnhäuser
und Kirchen, ob mit oder ohne Absicht, ist heute nicht
mehr festzustellen (die deutschen Bomberpiloten be-
haupteten, sie hätten ihre Ziele nicht erkennen kön-
nen).
Der Mythos von Guernica als dem ersten Opfer ge-
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LexPI Bd. 2 Guernica 133

planten Bombenterrors speist sich aus mehreren Quel-


len. Eine ist der englische Militärhistoriker Hugh
Thomas, der in seiner »Geschichte des Spanischen
Bürgerkriegs« behauptet, die Nazis hätten ihre neuen
Bomber und deren Wirkung auf Zivilpersonen einfach
einmal ausprobieren wollen; Göring hätte dies in
Nürnberg eingestanden: »Man kommt aber kaum um
den Schluß herum, daß die Deutschen den Ort bewußt
mit der Absicht der Zerstörung bombten, um sozusa-
gen klinisch die Wirkungen eines solchen Terroran-
griffs zu studieren.«
In Wahrheit findet sich in den Prozeßakten von
Nürnberg nur ein allgemeiner Hinweis Görings auf
den Erprobungscharakter des deutschen Luftwaffen-
einsatzes in Spanien; Guernica wird nicht erwähnt.
Weitere Quellen für den Guernica-Mythos und
dafür, daß das vergleichsweise unbelästigte Guernica,
in dem kaum tausend Menschen starben, und nicht
Hiroshima und Dresden mit ihren Hunderttausenden
von Toten so vielen als Sinnbild blinden Bombenter-
rors gilt, sind darin zu sehen, daß in diesem Fall die
Täter nicht den Krieg gewonnen haben und daß die
Gegenseite für ihre Propaganda einen guten Maler
hatte.
& Lit.: H. Thomas: Der Spanische Bürgerkrieg, Ber-
lin 1961; K.A. Meier: Guernica, 26.4.1937. Die
deutsche Intervention in Spanien und der Fall
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LexPI Bd. 2 Guernica 133

Guernica, Freiburg 1975; H.H. Abendroth:


»Guernica: Ein fragwürdiges Symbol«, Militärge-
schichtliche Mitteilungen 41, 1987; S. Berloge:
»Guernica«, in: W. Benz (Hrsg.): Legenden,
Lügen, Vorurteile, München 1995.
¤ Der Frontverlauf im Norden Spaniens im April
1937: Guernica war ein zentraler Rückzugspunkt
der Republikaner

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LexPI Bd. 1 Guillotine 129

Guillotine
Die Guillotine ist eine Erfindung des Dr. Guillotin
Diese Tötungsmaschine ist keineswegs eine Erfin-
dung des französischen Wundarztes Joseph Ignace
Guillotin (1738–1814), von dem sie ihren Namen hat.
Ähnliche Fallbeile für den gleichen Zweck gab es
schon im alten Persien oder im deutschen Mittelalter,
wo man dieses Instrument als »Diele«, »Hobel« oder
»welsche Falle« kannte.
Nach Frankreich kam die Guillotine gegen Ende
des 18. Jahrhunderts aufgrund eines Gutachtens des
Arztes Dr. Anton Louis aus Metz; sie hieß deshalb
zunächst »Louisette« oder »Petite Louison«. Der
Konstrukteur des ersten Prototyps war ein Deutscher
namens Schmitt, das erste Opfer ein Straßenräuber
namens Pelissier.
Ihren heutigen Namen erhielt die Guillotine erst ei-
nige Jahre nach dieser Premiere; man fand in den Pro-
tokollen der Nationalversammlung von 1789 einen
Antrag des Bürgers Guillotin, die Todesstrafe in
Frankreich künftig ohne Ansicht des Standes des Op-
fers immer auf die gleiche Weise zu vollstrecken, am
besten mittels Fallbeil, das sei noch am humansten.
Mit dem Terror der französischen Revolution hatte
der gute Dr. Guillotin aber nichts zu tun, und seine
Kinder waren über die Verbindung dieses Namens
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LexPI Bd. 1 Guillotine 129

mit dem Terror so entsetzt, daß sie beim Tod des


Doktors 1814 den Familiennamen ändern ließen.
& Lit.: Fritz C. Müller: Was steckt dahinter?
Namen, die Begriffe wurden, Eltville 1964.

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LexPI Bd. 2 Gulaschsuppe 133

Gulaschsuppe
Ein Gulasch ist schon eine Suppe, »Gulaschsuppe«
ist damit »doppelt gemoppelt«, wie die bekannte Fla-
sche Flaschenbier.
Gulasch kommt von »Gulyás« (= Schafhirte); für
ihre langen Wanderungen schnitten ungarische Hirten
früher Rind-, Hammel- oder Schweinefleisch in große
Würfel, die sie in einem Eisenkessel bis zum Ver-
dampfen aller Flüssigkeiten kochten; dann wurde das
Fleisch in der Sonne getrocknet und auf die Reise mit-
genommen. Hatte der Schäfer Hunger, nahm er ein
paar Stücke, gab Wasser dazu, erhitzte das Ganze,
und schon hatte er sein »Gulasch«.
Was wir normalerweise mit »Gulasch« meinen,
heißt in Ungarn »Pörkölt«.
& Lit.: J. Römer und M. Ditter (Hrsg.): Culinaria,
Köln 1995; Stichwort vorgeschlagen von Alfredo
Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Gustav Adolf 130

Gustav Adolf
Der Schwedenkönig Gustav Adolf ist vor allem
zur Rettung der deutschen Protestanten in den
30jährigen Krieg gezogen
Gustav Adolf ist aus den gleichen Gründen in den
Krieg gezogen, aus denen Könige schon immer in den
Krieg gezogen sind: um seine Macht zu mehren. Es
ging ihm vor allem darum, die Ostsee zu beherrschen,
und um die Chance, nach dem erfolgreichen Ende des
schwedisch-polnischen Krieges 1629 das Chaos in
Deutschland für seine Zwecke auszunutzen. Daß er
dabei quasi nebenbei zum »Retter Deutschlands«
wurde (aus protestantischer Sicht), hat ihm sicher sehr
geschmeichelt, aber nach der Mehrheitsmeinung der
Historiker sein Handeln nicht allein und auch nicht
vordringlich geleitet.
Als Gustav Adolf am 6. Juli 1630 mit 13000
Schweden an der Peenemündung landete, blieb der
Jubel unter Deutschlands Protestanten denn auch sehr
begrenzt. Nur die Fürsten von Hessen-Kassel und
Sachsen-Weimar grüßten ihn freundlich, wenn auch
aus der Ferne; die übrigen protestantischen Landes-
herren blieben zunächst mißtrauisch bis feindlich-
neutral; Gustavs bester Verbündeter war lange ein
gutkatholischer Herrscher, der König von Frankreich,
während viele deutsche Protestanten mit ihm nichts zu
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LexPI Bd. 1 Gustav Adolf 130

schaffen haben wollten.


Erst die Eroberung und Plünderung Magdeburgs
durch den kaiserlichen Feldherrn Tilly schmiedete die
geschlagenen Protestanten zusammen; aus Furcht vor
einem Sieg des Kaisers wandten sie sich schließlich
Gustav Adolf zu.
& Lit.: Hans F. Helmolt: Weltgeschichte, 7. Band,
Leipzig 1920; William Lewis Hertslet: Der Trep-
penwitz der Weltgeschichte, 11. Auflage, Berlin
1965.

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LexPI Bd. 2 Gutenberg 134

Gutenberg
Gutenberg war der Erfinder der Buchdruckkunst
(s.a. ð »Dampfmaschine«, ð »Fließband« und ð
»Morsetelegraph« in Band 1)
Schon mehr als tausend Jahre vor Gutenberg wurden
in China Bücher nicht mehr handgeschrieben, sondern
maschinell gedruckt. Anders als die Griechen oder
Römer, die auf Papyrus oder Vellum schreiben muß-
ten, beides zum Drucken nicht geeignet (Papyrus war
zu zerbrechlich, Vellum zu teuer), kannten die Chine-
sen seit etwa 100 v. Chr. schon das druckerfreundli-
che Papier, und sie druckten auch darauf. Die ältesten
noch erhaltenen, noch mittels Holzrelief gedruckten
Texte stammen aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Eben-
falls noch per Holzrelief gedruckt wurden mehrere
hundert Jahre später die 130.000 Seiten der als »Tri-
pitaka« bekannten Bibel des Buddhismus, aber noch
vor der Jahrtausendwende und damit mehr als 400
Jahre vor Gutenberg begann man, die im wahrsten
Sinn des Wortes »en bloc« in eine Holzplatte ge-
schnitzten durch bewegliche Schriftzeichen zu erset-
zen.
Gutenbergs Verdienst liegt also nicht in der Erfin-
dung, sondern in der Perfektionierung dieser Technik:
Seine Schriftzeichen waren aus Metall, die der Chine-
sen aus Holz; seine Druckerfarbe löste sich nicht in
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Gutenberg 134

Wasser, die der Chinesen löste sich in Wasser auf,


und anders als die Chinesen preßte Gutenberg nicht
das Papier gegen eine feste Druckerplatte, sondern
eine bewegliche Druckerplatte gegen das festliegende
Papier.
Und dann hatte Gutenberg auch noch Glück: Wäh-
rend seine chinesischen Konkurrenten mit mehreren
Tausend Schriftzeichen zu kämpfen hatten (die chine-
sische Schrift kennt keine Buchstaben, nur Zeichen
für Silben oder ganze Wörter; siehe Stichwort ð
»Chinesische Sprache«), waren es bei Gutenberg nur
26.
& Lit.: Stichwort »Printing« in der MS Microsoft
Enzyklopädie Encarta, 1994; Stichwort vorge-
schlagen von P. Häcker.

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LexPI Bd. 2 Guter Rutsch 135

Guter Rutsch
Wir wünschen »Guten Rutsch«, um gut ins neue
Jahr zu rutschen
Unser »Guter Rutsch« an Silvester und an Neujahr
kommt aus dem hebräischen »rösch« (= Anfang) und
hat mit Rutschen nichts zu tun.
& Lit.: Christoph Gutknecht: Lauter böhmische
Dörfer, München 1996.

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H 136

»Wahrheiten, die man ganz besonders ungern


hört, hat man besonders nötig.«
La Bruyère

»Ein Irrtum ist um so gefährlicher,


je mehr Wahrheit er enthält.«
H.F. Arniel

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LexPI Bd. 1 Haare 1 131

Haare 1
Häufiges Haareschneiden fördert den Haarwuchs
Das stimmt nur bedingt. Richtig ist: Je kürzer das
Haar, desto schneller wächst es. Kurzes Kopfhaar
wächst rund zwei Zentimeter im Monat, langes Haar
(30 cm) nur noch halb so schnell. Außerdem hängt
das Wachstum noch von Hautpartie, Geschlecht und
Alter ab: Am schnellsten wächst das Haar auf dem
Kopf von 18- bis 25-jährigen Frauen.
Falsch ist allerdings, daß die Zahl der Haare durch
das Schneiden wächst. Diese Zahl ist genetisch pro-
grammiert und durch den Menschen (noch) nicht zu
beeinflussen.
& Lit.: Stichwort »Hair« in Microsoft CD-ROM En-
cyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Haare 2 131

Haare 2
Häufiges Haarewaschen führt zu Haarausfall
Der Mensch verliert pro Tag im Durchschnitt 50 bis
100 Kopfhaare, ob wir diese waschen oder nicht.
& Lit.: Dr. Reitners Großes Gesundheitslexikon,
Niedernhausen 1987.

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LexPI Bd. 1 Haare 3 131

Haare 3
Menschliches Haar wird zuweilen binnen Stun-
den weiß
Die einzige Methode, binnen weniger Stunden seine
Haarfarbe zu ändern, ist ein Frisörbesuch.
Die zahlreichen Anekdoten, die vielerorts über
Menschen kursieren, deren Haare aufgrund eines
Schocks oder tragischen Ereignisses über Nacht er-
bleicht sein sollen, beruhen auf einem Mißverständ-
nis: die dunklen Haare sind nicht weiß geworden,
sondern ausgefallen. Gewisse Haarkrankheiten (etwa
die sog. alopecia areata) fallen nämlich vorzugsweise
dunkle Haare an; sie lassen weiße Haare stehen. Men-
schen, die sowohl helle als auch dunkle Haare haben,
lassen einen dann leicht denken, das dunkle Haar sei
weiß geworden.
Natürlich können dunkle Haare auch ergrauen, wie
jeder Leser über 40, der in den Spiegel schaut, gerne
bzw. nicht so gerne bestätigen wird. Aber da unser
Haar nur rund einen Zentimeter pro Monat wächst
und das Weißwerden an der Wurzel anfängt, dauert
ein kompletter Farbwechsel pro Haar mehrere Wo-
chen, nicht mehrere Stunden; mit den über Nacht
schlohweiß gewordenen Gestalten der Folklore hat
das nichts zu tun.
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LexPI Bd. 1 Haare 3 132

& Lit.: A.J. Ephraim. »On sudden or rapid white-


ning of the hair«, Archives of Dermatology 79,
1959, 142–149; F. Helm und H. Milgrom: »Can
scalp hair suddenly turn white?« Archives of Der-
matology 102, 1970, 102–103.

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LexPI Bd. 1 Haare 4 132

Haare 4
Unser Haar wächst nach dem Tode weiter (s.a. ð
»Fingernägel«)
Mit unserem Tod (korrekt: mit dem Stillstand des
Herzens) hört auch das Wachstum unseres Haares
auf, allen anderslautenden Anekdoten zum Trotz.
»Der Grabstein sprang beim ersten Schlag mit der
Hacke in Stücke, aus der Öffnung ergoß sich, leuch-
tend kupferfarben, eine lebendige Haarflut«, schreibt
Gabriel García Márquez in der Vorrede zu seinem
Roman »Von der Liebe und anderen Dämonen«, um
die Heldin seiner Geschichte, ein junges Mädchen,
einzuführen, der kurz vor ihrem Tod die Haare abge-
schnitten wurden. »Der Maurermeister erklärte mir
unbeeindruckt, daß menschliches Haar einen Zentime-
ter im Monat wächst, auch noch nach dem Tod ...«
Aber der Maurermeister irrt. Unsre Haare wachsen
dadurch, daß sich in der Haarwurzel die Haarzellen
teilen. Mit dem Stillstand des Herzens endet der Blut-
kreislauf, die über das Blut mit Nährstoff versorgten
Haarwurzeln erhalten keine Nahrung mehr, sie stellen
die Zellteilung ein; damit ist das Haarwachstum been-
det. Allenfalls die Barthaare am Kinn können nach
dem Tod einige Millimeter länger erscheinen – aber
nicht, weil sie gewachsen wären, sondern weil die
Kopfhaut trocken wird und schrumpft.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Haare 4 133

& Lit.: Gabriel García Márquez: Von der Liebe und


anderen Dämonen, Köln 1994.
¤ Auch dieses Haar ist nach dem Tod nicht mehr ge-
wachsen: Eleanor Siddal, deren Haarpracht ihre
Trägerin um einiges überlebt haben soll

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LexPI Bd. 2 Haare 1 136

Haare 1
Manche Menschen haben graue Haare
Kein Mensch hat graue Haare. Graue Haare gibt es
nicht, es gibt nur braune, blonde, rote oder schwarze
Haare, auch weiße – aber keine grauen. Die scheinbar
grauen Haare vieler Menschen sind eine durch die Mi-
schung weißer und anderer Haare hervorgerufene op-
tische Täuschung; netto und von weitem wirkt das
Ganze grau. Sieht man aber näher hin, wird man
keine grauen Haare finden.
& Lit.: »Graue Haare gibt's nicht«, Ruhr-Nachrich-
ten, 21.6.1996.

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LexPI Bd. 2 Haare 2 136

Haare 2
Das Spülen mit Bier, Tee oder Essig bringt Haar
zum Glänzen
Dieser Irrtum geht auf die shampoolose Zeit unserer
Großeltern zurück, als man sich das Haar mit Seife
waschen mußte. Nach dieser Seifenwäsche war das
Haar oft stumpf und spröde, und das konnte durch die
Säure in Bier, Tee oder Essig abgemildert werden.
Aber mit modernen Shampoos werden Haare nicht
mehr spröde, deshalb sind auch die Geheimrezepte
unserer Oma heute überflüssig.
Falsch ist auch, daß man Haare häufig kämmen
sollte – nach Expertenmeinung reichen zwanzig Bür-
stenstriche täglich zum Entfernen von Staub und
Schuppen und anderen unerwünschten Dingen völlig
aus; darüber hinausgehendes Kämmen schadet nur.
& Lit.: »Hair care facts and fallacies«, über die In-
ternet-Adresse http://www.b4-u-buy.com.

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LexPI Bd. 1 Haftung 133

Haftung
Eltern haften für ihre Kinder
Eltern haften nicht in jedem Fall für ihre Kinder. Sie
haften nur, wenn sie deren Missetaten absichtlich oder
fahrlässig ermöglicht oder gar gefördert haben.
Zahlen müssen wir zum Beispiel, wenn unser sie-
benjähriger Filius beim Spielen mit Zündhölzern die
Scheune des Nachbarn abbrennt. Nach einer Entschei-
dung des Bundesgerichtshofs reicht es hier nicht, das
Kind vor der Gefahr des Feuers nur zu warnen; zu-
sätzlich müssen wir die Zündhölzer auch noch für
dieses unzugänglich aufbewahren.
Nicht zahlen müssen wir dagegen, wenn die Kinder
die Zündhölzer zufällig und ohne unser Zutun finden.
Hier hat der Bundesgerichtshof die Eltern eines Acht-
jährigen, der mit anderen Kindern im Öllagerraum
unter einer Gaststätte mit dort herumliegenden Zünd-
hölzern ein Feuer entfacht und einen Schaden von
mehr als 200000 Mark verursacht hatte, von der Haf-
tung freigesprochen.
Ebensowenig verletzen wir im allgemeinen unsere
Aufsichtspflicht, wenn
– ein Elfjähriger sich allein in der Wohnung aufhält;
– vierjährige Kinder gemeinsam mit neunjährigen auf
Dorfwegen spazierengehen;
– ein fünfjähriges Kind nach ausreichender Belehrung
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LexPI Bd. 1 Haftung 134

alleine einkaufen geht;


– ein fünfjähriges Kind allein auf dem Gehweg spielt,
nachdem es vorher ermahnt wurde, nicht die Fahr-
bahn zu betreten;
– oder ein vierjähriges Kind mit dem Roller auf einer
verkehrsarmen Straße fährt.
In allen diesen Fällen hatten Kinder Schäden ange-
richtet, aber die Eltern wurden von der Haftung frei-
gesprochen.
& Lit.: Michael Scheele und Reinhard Wetter: Rat-
geber Recht, 2. Auflage, München 1988.

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LexPI Bd. 2 Hagestolz 137

Hagestolz
Ein Hagestolz ist ein Frauenfeind und Einzelgän-
ger
Ursprünglich meinte man mit »Hagestolz« einen
armen Hagbesitzer (althochdeutsch »Hagestalt«), den
Besitzer eines bäuerlichen Nebengutes (in der Regel
jüngere Bauernsöhne, da der älteste Sohn das Haupt-
gut erbte). Da diese Hagen wenig einbrachten, konn-
ten ihre Besitzer oft den Preis für eine Braut nicht
zahlen und blieben so ganz gegen ihren Willen Jung-
gesellen.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 1 Haie 134

Haie
Haie greifen gerne Menschen an
Haie greifen nur im Notfall Menschen an, wenn man
sie reizt oder sie nichts anderes zu fressen finden. Nur
von 10 oder 12 der rund 350 Arten ist bekannt, daß
sie, ohne provoziert zu werden, Menschen attackieren;
die anderen geben sich in der Regel mit kleinerem
Futter zufrieden ...
Zwischen 1916 und 1969 wurden weltweit insge-
samt 32 Angriffe des Weißen Hais, des größten und
gefährlichsten Exemplars der Gattung, auf Menschen
registriert, 13 davon mit Todesfolge. Das macht pro
Jahr und weltweit weniger als einen einzigen Angriff
eines Weißen Hais auf einen Menschen.
Nimmt man auch andere Haie mit dazu, etwa den
Tigerhai, den Blauhai oder den Bullenhai, die eben-
falls Menschen attackieren, wird die Zahl der Todes-
opfer größer, kommt aber immer noch nicht an die
Zahl der Menschen heran, die jährlich von Hunden
totgebissen werden.
& Lit.: Lee Server: Haie, Erlangen 1990; Stichwort
»Great White Shark« in Microsoft CD-ROM En-
cyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Haken und Ösen 137

Haken und Ösen


Eine Sache mit »Haken und Ösen« ist nicht ganz
in Ordnung
Eine Sache »mit Haken und Ösen« ist nicht verdor-
ben, sie ist ganz im Gegenteil sehr gut gelungen. Vor
der Erfindung der Knöpfe (und das ist weniger als
1000 Jahre her; siehe Stichwort ð »Knöpfe«) wurden
Mäntel mit Haken und Ösen geschlossen; eine Sache
mit Haken und Ösen ist also etwas, das mit allem Nö-
tigen versehen ist, wo alles gut zusammenpaßt.
& Stichwort vorgeschlagen von Richard M. Müller.

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LexPI Bd. 2 Halogenleuchten 137

Halogenleuchten
Häufiges Ein- und Ausschalten verkürzt die Le-
bensdauer von Halogenleuchten
Dieses hartnäckige Gerücht wurde vermutlich von
Stromverkäufern in die Welt gesetzt. Wegen der ex-
trem überhöhten Spannung beim Einschalten und
wegen der für das Zünden der Lampe nötigen anfäng-
lichen Stromstärken gingen Halogen- und andere
Leuchtstoffröhren durch häufiges Ein- und Ausschal-
ten schnell kaputt, so diese These, deshalb sollte man
die Lampe lieber brennen lassen.
In Wahrheit liegt die Stromstärke vor der Zündung
einer Leuchtstoffröhre weniger als 30% über der
Stromstärke im Betriebszustand, und die hohen Span-
nungsspitzen beim Einschalten werden durch einen
Kondensator aufgefangen – man kann also Leucht-
stoffröhren beliebig an- und ausschalten, ohne daß es
ihrer Lebensdauer schadet.
Schaden nehmen können allenfalls herkömmliche
Glühlampen, die sich bei jedem Einschalten erneut er-
hitzen. Durch diese Temperatursprünge leidet der
Glühfaden, er schmilzt schneller durch. Da aber
Glühlampen so billig zu ersetzen sind, regt dieser
Verschleiß die Leute wenig auf.
& Stichwort vorgeschlagen von Stefan Faßbinder.
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LexPI Bd. 2 Hals- und Beinbruch 138

Hals- und Beinbruch


Die Floskel »Hals- und Beinbruch« hat etwas mit
gebrochenen Knochen zu tun
»Hals- und Beinbruch« kommt aus dem jiddischen
»hazloche und broche« = Glück und Segen.
& Lit.: Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel und
Brigitte Kronauer: Kulturgeschichte der Mißver-
ständnisse, Stuttgart 1997 (besonders der Ab-
schnitt »Etymologie auf dem Holzweg«).

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LexPI Bd. 1 Hamburger 135

Hamburger
Die meisten Engländer und Amerikaner, aber auch
manche Schnellimbiß-Kunden hierzulande glauben,
»Hamburger« käme von Schinken = ham, so wie
»Cheeseburger« von cheese = Käse oder »Fishbur-
ger« von Fisch.
In Wahrheit hat der Hamburger seinen Namen tat-
sächlich von der Stadt Hamburg. Ursprünglich ein
einfaches Hackfleisch, so wie von den Tataren Ruß-
lands im Deutschland des 14. Jahrhunderts übernom-
men (die Tataren wollten durch das Kleinhacken vor
allem das zähe Fleisch der russischen Steppenrinder
genießbarer machen; noch heute erinnern wir uns
daran mit dem »Beefsteak Tatar«), kam dieses mit
deutschen Auswanderern über Hamburg nach Ameri-
ka; dort klemmte man es dann, vermutlich um Besteck
zu sparen, nach dem Braten zwischen die zwei Seiten
eines aufgeschnittenen Brötchen.
Auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 wurden
dieses Hackfleischbrötchen als »Hamburg« verkauft
(noch ohne »er« am Schluß); weniger später kam
dann noch das »er« dazu, und so heißen diese Hack-
fleischbrötchen heute noch Hamburger.
& Lit.: Charles Panati: Universalgeschichte der ganz
gewöhnlichen Dinge, Frankfurt 1994.
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LexPI Bd. 2 Hamburger. 138

Hamburger
Hamburger sind der beliebteste deutsche Schnell-
imbiß (s.a. ð »Döner Kebap«)
Wenn man der Welt am Sonntag glauben darf, wer-
den in Deutschland mehr Döner als Hamburger ge-
gessen: für insgesamt 3,6 Milliarden Mark im Jahr,
das entspricht 200 Tonnen Döner Kebab täglich oder
über das Jahr gerechnet 800 Millionen Portionen, pro
Bundesbürger 10.
& Lit.: »Deutschland – Dönerland«, Welt am Sonn-
tag, 30.6.1996.

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LexPI Bd. 1 Hameln 135

Hameln
Der Rattenfänger von Hameln ist eine historische
Figur
Der Rattenfänger von Hameln hat niemals existiert;
diese wohl bekannteste deutsche Sagengestalt ist eine
aus mehreren Quellen gespeiste Erfindung.
Wahr ist vermutlich, daß an einem Sonntag des
Jahres 1284 zahlreiche junge Menschen (die Sage
spricht von 130) aus Hameln weggezogen und nie
zurückgekommen sind. Das waren aber keine Kin-
der – man hat nur lange Zeit das alte »Kint« als
»Kind« verstanden; »Kint« konnte im mittelhochdeut-
schen aber auch »Jüngling«, »Jungmann« oder »Jung-
frau« heißen. Und der Mann mit der Pfeife war auch
kein Rattenfänger, sondern höchstwahrscheinlich ein
Werber, der neue Siedler in den Osten locken sollte.
Für diese Sicht der Dinge spricht etwa das Dorf Ham-
lingow bei Brünn in Mähren, dessen Namen möglich-
erweise aus Hamlingen = Hamelin = Hameln entstan-
den ist, sowie auch eine andere Variante der Ratten-
fängersage, wonach die Kinder in einer großen Höhle
verschwunden und in Siebenbürgen wieder herausge-
kommen seien.
Auch die älteste bekannte schriftliche Fassung der
Sage, festgehalten in einer Lüneburger Handschrift
von etwa 1430, spricht nur von einem eleganten Jüng-
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LexPI Bd. 1 Hameln 136

ling, der mit den jungen Menschen verschwunden ist,


aber nicht von deren Tod und nicht von Ratten.
Andere, aber weniger wahrscheinliche Erklärungen
sind der Kinderkreuzzug von 1212 oder die Schlacht
bei Sedemünde 1259, bei der viele junge Männer Ha-
melns, geführt von einem bunt gekleideten Haupt-
mann, im Kampf gegen den Bischof von Minden um-
gekommen sind. Diesen beiden Erklärungen steht
aber das Datum 1284 entgegen, das seit den Frühzei-
ten der Sage immer fest geblieben ist.
Die Ratten wurden dem Auszug erst später vorge-
schaltet, um den im Lauf der Zeiten unverständlich
gewordenen Auszug der »Kinder« nachträglich zu er-
klären. Wie in den modernen Großstadtmythen von
der Ratte in der Fertigpizza hat hier die Volksseele
ein Ventil gefunden, ihre Angst und ihr Gerechtig-
keitsempfinden ohne Schuldgefühle auszuleben.
& Lit.: William L. Hertslet: Der Treppenwitz der
Weltgeschichte, Berlin 1965; Gerhard Prause:
Tratschkes Lexikon für Besserwisser, München
1986.
¤ Diesen Rattenfänger hat es nie gegeben ...

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LexPI Bd. 1 Handelsdefizit 136

Handelsdefizit
Die USA importieren mehr als sie exportieren
Die oft gehörte Klage der Amerikaner: »Wir kaufen
eure Güter, aber ihr kauft nichts bei uns« ist nach
neueren Studien nicht berechtigt – das berühmte ame-
rikanische Handelsdefizit ist nämlich eine statistische
Seifenblase.
Die herkömmliche Außenhandelsstatistik zählt al-
lein den grenzüberschreitenden Güterverkehr, und so
gesehen haben die Amerikaner Recht: danach haben
die USA etwa im Jahr 1991 für insgesamt 28 Milliar-
den Dollar mehr Güter und Dienstleistungen aus dem
Ausland importiert als in das Ausland exportiert.
Aber diese herkömmliche Statistik verzerrt das
wahre Bild. Denn auf das Überschreiten der Landes-
grenze kommt es hier doch gar nicht an. Was zählt,
ist das, was Amerikaner an Ausländer verkaufen, und
selbst von Ausländern kaufen, unabhängig davon, ob
die gehandelten Güter und Dienstleistungen dabei die
Landesgrenze überschreiten. Ob eine amerikanische
Whiskybrennerei ihre Produkte in den USA (etwa an
Touristen) oder in Deutschland an deutsche Haushalte
verkauft, ist rein ökonomisch betrachtet dasselbe – in
beiden Fällen verkauft eine amerikanische Firma ihr
Produkt an einen Ausländer.
Ermittelt man den internationalen Handel aber mit
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Handelsdefizit 137

dieser Methode, wird aus dem amerikanischen Han-


delsdefizit ein Handelsüberschuß. Statt 28 Milliarden
Dollar Defizit etwa 1991 verbuchen die USA einen
Überschuß von je nach Berechnungsmethode 24 bis
160 Milliarden Dollar, und haben damit keinen
Grund, dem Rest der Erde etwas vorzujammern.
& Lit.: S. Landefeld et al.: »Alternative frameworks
for U.S. international transactions«, Survey of
Current Business, Dez. 1993; »Grossly distorted
picture«, The Economist, 5.2.1994.

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LexPI Bd. 1 Hängematte 133

Hängematte
Hängematte kommt von »hängende Matte«
»Hängematte« leitet sich von dem indianischen »ha-
maca« ab – so nennen viele Indianer im tropischen
Südamerika ihre zwischen Bäume aufgespannten
Schlaf- und Ruhemöbel (die Mayas verwendeten die
Hängematte auch als Sänfte). Über »Amakken« und
»Hangmak« wurde dann daraus die deutsche Hänge-
matte.
Wegen ihres geringen Platzbedarfs wurden diese
indianischen Hamacas dann auf den Segelschiffen der
Europäer sehr beliebt und haben sich so auch außer-
halb Amerikas verbreitet. Auf Englisch heißt Hänge-
matte »hammock«.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 1 Haschisch 1 137

Haschisch 1
Haschisch macht süchtig
Haschisch alias Marihuana, der Blütenextrakt der
weiblichen Hanfpflanze Cannabis sativa, macht nicht
süchtiger als Alkohol oder Nikotin, eher weniger. So
das übereinstimmende Fazit zahlreicher medizinischer
und soziologischer Untersuchungen zu Haschisch und
Haschischkonsum, die in den vergangenen fünfzig
Jahren in den USA und weltweit unternommen wor-
den sind.
Daß trotzdem viele Menschen etwas anderes glau-
ben, liegt vor allem daran, daß sie diese Droge im Ge-
gensatz zu Alkohol und Nikotin nicht kennen und mit
den wirklich gefährlichen harten Drogen wie Heroin
und Kokain zusammenwerfen.
& Lit.: R.W. Leonhardt: Haschisch-Report, Mün-
chen 1970; Stichwortartikel »Marijuana« im Mi-
crosoft CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Haschisch 2 138

Haschisch 2
Haschisch ist eine Einstiegsdroge
Viele Menschen, die von harten Drogen abhängen,
haben früher auch Haschisch geraucht. Daraus wird
dann oft geschlossen, sie seien rauschgiftsüchtig, weil
sie Haschisch geraucht hätten.
Diese These ist aber nach der Mehrheitsmeinung
der modernen Drogenforscher nicht zu halten. Es läßt
sich allenfalls ein indirekter Zusammenhang dadurch
nachweisen, daß Haschischraucher beim Einkauf fast
notwendig auch in Kreise hineingeraten, in denen man
auch harte Drogen handelt; durch ihre Stellung außer-
halb der aktuellen Normen sind sie quasi Freiwild für
die »echten« Drogenhändler. »Es ist möglich, daß ge-
wisse langfristige Effekte auf das Verhalten zu einem
mehr oder weniger großen Maße vom gesellschaft-
lich-kulturellen Milieu abhängen, in dem sich das In-
dividuum dem Rauschmittel hingibt«, schreibt die
Weltgesundheitsorganisation. »So befindet sich der
Haschisch-Raucher in einer Gesellschaft, in der der
Cannabiskonsum illegal ist und allgemein verworfen
wird, automatisch in einem Zustand des Nichtkon-
formseins. Diese einfache Tatsache kann ihm ver-
schiedene Möglichkeiten der gesellschaftlichen An-
passung verschließen und drängt ihn dazu, einen un-
terschiedlichen Lebensstil anzunehmen, der oft mit
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Haschisch 2 138

der Einnahme von Rauschmitteln nicht das geringste


zu tun hat.«
Kein Mensch z.B. käme auf den Gedanken, daß
etwa die Sucht nach Kokain durch Nikotin entsteht,
nur weil ein Großteil der modernen Kokain-Konsu-
menten früher Zigarettenraucher war oder heute auch
noch ist. Oder um dieses Schein-Argument einmal auf
die Spitze zu treiben: dann müßten wir auch Hühner-
eier oder Milch verbieten, denn es gibt kaum einen
Übeltäter, Massenmörder oder Sexualverbrecher auf
dem Globus, der nicht irgendwann in seinem Leben
einmal Milch getrunken oder ein Spiegelei gegessen
hat.
Wir haben hier das ewige Problem der Korrelation
und Kausalität: Zwei Verhaltensweisen treten gehäuft
zusammen auf, und schon wird geschlossen, daß die
eine die andere verursacht. Aber wie wir unter dem
Stichwort »Korrelation« noch sehen werden, kann
eine positive Korrelation auch auf andere Art entste-
hen, etwa dadurch, daß beide Verhaltensweisen ge-
meinsam von einer dritten Ursache abhängen, und
genau das scheint bei harten und weichen Drogen in
der Tat der Fall zu sein.
& Lit.: Ulf Homann: Das Haschischverbot, Frank-
furt 1972; D.F. Duncan: »Marijuana and Heroin«,
British Journal of Addiction 70, 1975, S.
192–197.
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LexPI Bd. 1 Hauptmann von Köpenick 139

Hauptmann von Köpenick


Der Hauptmann von Köpenick war ein ewiger
Verlierer
Der in Literatur und Film gern als der typische Verlie-
rer dargestellte Schuster Wilhelm Voigt alias Haupt-
mann von Köpenick war vom Schicksal weit weniger
geschlagen als uns diese Quellen glauben machen.
Zumindest sein letztes und berühmtestes Gaunerstück
hat dem Schuster nämlich durchaus etwas einge-
bracht.
Als Wilhelm Voigt in seiner gebrauchten Haupt-
mannsuniform am 16. Oktober 1906 ein paar Grena-
diere anhält und mit diesen das Rathaus in Köpenick
besetzt, hat er zwar schon 28 Jahre, fast genau die
Hälfte seines Lebens, hinter Gittern zugebracht, denen
noch 20 weitere Monate wegen Freiheitsberaubung,
Betrug und Urkundenfälschung folgen sollten. Aber
anders als bei seinen früheren Delikten – kleine Dieb-
stähle, Urkundenfälschungen, Einbruch – ist er dies-
mal trotz der baldigen Verhaftung der Gewinner: Die
Geschichte kommt in die Zeitungen, Voigt wird be-
rühmt, bekommt ins Gefängnis Geld und sogar Hei-
ratsanträge geschickt, und der Kaiser höchstpersön-
lich erläßt dem Schuster den größten Teil der Strafe.
Nach dem Gefängnis tingelt Voigt mehrere Jahre
als Alleinunterhalter durch deutsche Jahrmärkte und
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LexPI Bd. 1 Hauptmann von Köpenick 139

Wirtshäuser, von seinen Abenteuern erzählend. Von


den Honoraren für diese Auftritte und aus dem Erlös
von signierten Postkarten mit ihm selbst in Haupt-
mannsuniform kauft er sich 1912 in Luxemburg ein
Haus, in dem er als Rentner noch 10 Jahre friedlich
und weit komfortabler als die meisten anderen Deut-
schen damals lebt.
& Lit.: Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von
Köpenick, Berlin 1931; Gerhard Prause:
Tratschkes Lexikon für Besserwisser, München
1986 (besonders den Abschnitt »Köpenick: Am
Ende hat der Hauptmann doch gewonnen«).
¤ Wilhelm Voigt alias »Hauptmann von Köpenick«.

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LexPI Bd. 1 Haut 140

Haut
Nach dem Baden schrumpft die Haut
Durch ein warmes Wannenbad wird unsere Haut nicht
enger, sondern weiter; sie dehnt sich aus. Besonders
die Hornhaut an Fingern, Handflächen und Füßen er-
weitert, wenn sie sich mit Wasser vollsaugt, ihre Ob-
erfläche, so daß sie seltsam faltig wirkt.
Weniger ausgeprägt, aber ebenfalls vorhanden, ist
dieser Effekt auch auf dem Rest der Haut. Diese kann
mehr Wasser aufnehmen, ohne an Volumen zuzuneh-
men, dehnt sich aber gleichfalls durch das warme
Baden aus.
& Lit.: David Feldman: Warum ist die Banane
krumm? München 1987.

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LexPI Bd. 2 Hefepilze 138

Hefepilze
Hefepilze im Darm sind schädlich
Der Hefepilz »Candida albicans«, derzeit ein
Lieblingsschrecken der Teutonen, ist in aller Regel
harmlos; jeder Mensch hat Tausende davon im Stuhl
(zwischen 100 und 10.000 pro Gramm durchverdau-
tem Essen).
Die Warnung von Pilztherapeuten, diese
Mikroorganismen könnten das menschliche Abwehr-
system durchbrechen und den ganzen Körper mit Pilz-
giften überschwemmen, scheinen nach neueren For-
schungen kaum begründet; manche sehen sogar in den
empfohlenen Therapien, etwa dem Patienten für mehr
als 100 Mark pro Sitzung die Pilznester aus dem
Darm herauszuspülen, ein »Abzocken sonderglei-
chen« (der Freiburger Hygiene-Professor Fritz Dasch-
ner). »An der erfundenen Epidemie verdienen [nur]
Labors und Heilkundler« (Der Spiegel).
& Lit.: »Der Mythos der Hefepilze im Darm«, Der
Spiegel 26/1996.

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LexPI Bd. 2 Heile, heile Gänschen 139

Heile, heile Gänschen


Das »heile« in »heile Gänschen« hat etwas mit
Wundheilung zu tun
Das »heile« in dem bekannten Lied von Ernst Neger:
Heile, heile Gänschen,
es wird bald wieder gut
heile, heile Mausespeck
in 100 Jahren ist alles weg,
usw.

kommt von »hiele« bzw. »biele«, auf sächsisch »klei-


ne Gans«. So wie man noch heute »put put put« ruft,
um die Hühner anzulocken, rief man in Sachsen
»hiele hiele hiele« für die Gänse.
& Lit.: G. Bergmann: Kleines sächsisches Wörter-
buch, Leipzig 1985; Stichwort vorgeschlagen von
Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Heilige Drei Könige 140

Heilige Drei Könige (s.a. ð »Stern von Bethle-


hem«)
Die Heiligen Drei Könige, deren Gebeine man im
Kölner Dom verehrt, sind strikt gesehen keine Heili-
gen: ein Heiliger oder eine Heilige muß von der Ka-
tholischen Kirche in einem eigenen Verfahren dazu
erhoben werden, und ein solches Verfahren hat es für
die Heiligen Drei Könige nie gegeben.
Auch Könige sind die Herren Kaspar, Balthasar
und Melchior nie gewesen – in der Bibel ist nur von
»Weisen«, »Magiern« bzw. »Sterndeutern« die Rede.
Und auch die Namen selber sind erfunden, sie werden
in der Bibel nirgendwo erwähnt; zum ersten Mal ist in
einer um 500 nach Christus in armenischer Sprache
abgefaßten Kindheitsgeschichte Jesu von den drei Kö-
nigen Melkon von Persien, Gaspar von Indien und
Baltassar von Arabien die Rede, vorher nicht. Der
Evangelist Matthäus, der als einziger im Neuen Te-
stament von der Anbetung berichtet, erwähnt mit kei-
ner Silbe, wie die Anbeter heißen, oder wieviele es
überhaupt waren.
Daß es drei gewesen seien, wurde aus den drei
Gaben – Weihrauch, Myrrhe, Gold – nicht ganz was-
serdicht zurückgeschlossen (oder man hat auch nur
die in der christlichen Mythologie so wichtige Zahl
Drei auf die Anbetung im Stall zu Bethlehem übertra-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Heilige Drei Könige 140

gen). Zu Königen wurden die Sterndeuter erst in


nachträglichen Interpretationen, u.U. wegen einer
mißverständlichen Übersetzung von »Magier«
(»König« meinte zu Zeiten Jesu etwas ganz anderes
als im Mittelalter, nämlich weit weniger; fast jeder
Vasall der Römer war damals ein »König«) oder aber
aufgrund einer Prophezeiung aus dem Alten Testa-
ment, wo es heißt: »Die Könige von Tarsis und auf
den Inseln sollen Geschenke bringen ...«
Nach Köln kamen die Könige bzw. deren Gebeine
im Jahr 1158 auf Veranlassung des Reichskanzlers
und Kölner Erzbischofs Rainald von Dassel; er hatte
sie einem Reliquienhändler in Mailand abgekauft,
vielleicht sich auch von den Bürgern der Stadt Mai-
land schenken lassen – die näheren Umstände des Er-
werbs sind nicht genau geklärt. Die Mailänder hatten
die Reliquien angeblich Ende des 4. Jahrhunderts
selbst als ein Geschenk erhalten, und zwar vom Kai-
ser aus Byzanz, wohin wiederum sie aus Palästina ge-
kommen sein sollen, wo sie die Mutter des Kaisers
bei einer Pilgerfahrt gefunden haben will.
Aber was tun die Gebeine der Sterndeuter in Palä-
stina? So heißt es etwa in der Bibel, die Weisen seien
nach Anbetung in ihre Heimat, wahrscheinlich das
Zweistromland Mesopotamien, zurückgekehrt, so daß
dort auch ihre Knochen liegen. Und auch die Über-
führung von Konstantinopel nach Mailand ist nur in
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Heilige Drei Könige 141

einer posthumen Biographie eines Mailänder Bischofs


erwähnt, der »Vita Eutorgii«, die mehrere hundert
Jahre später ausgerechnet in Köln entstand. Vermut-
lich hat also Rainald von Dassel als rechte Hand des
Deutschen Kaisers diese Legende einfach politisch
ausgenützt, um im damaligen Streit zwischen Papst
und Kaiser seinem Herrn, dem Kaiser, einen Vorteil
zu verschaffen: die Könige, also die weltlichen Herr-
scher, waren die ersten, die das Christkind anbeteten,
und haben deshalb, so die Logik Dassels, Vorrecht
vor dem Papst. Daher ist auch klar, warum die Partei
des Papstes keine Eile hatte, durch eine Heiligspre-
chung diese Sicht der Dinge zu befördern.
& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-
serwisser, München 1986 (besonders der Ab-
schnitt »Drei Könige«); Konradin Ferrari
d'Occhieppo: Der Stern von Bethlehem in astro-
nomischer Sicht, Gießen 1994 (besonders der Ab-
schnitt »Über die Magier« auf den Seiten 133ff.).

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LexPI Bd. 2 Heinrich Heine 139

Heinrich Heine
Heinrich Heine hieß mit Vornamen Heinrich
Heinrich Heine hieß bis in seine jungen Mannesjahre
Harry, nach einem Geschäftsfreund seines Vaters; als
Harry Heine wurde er am 13. Dezember 1797 in Düs-
seldorf geboren, erst mit 28 Jahren nannte er sich erst-
mals Heinrich.
& Lit.: W. Wadepuhl: Heinrich Heine – sein Leben,
seine Werke, Köln 1974.

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LexPI Bd. 1 Heißes Wasser 141

Heißes Wasser
Heißes Wasser löscht Feuer schlechter als kaltes
Wasser löscht Feuer nicht direkt, sondern indirekt,
per Umweg über den Wasserdampf, der beim Kontakt
des Wassers mit dem brennenden Material entsteht.
Dieser Wasserdampf hüllt den Brandherd ein und ver-
hindert so die Zufuhr von Sauerstoff – das Feuer er-
stickt.
Ist das Wasser also schon von sich aus heiß, wird
dieses Verdampfen und damit das Löschen des Feuers
erleichtert. Hinzu kommt noch die höhere Viskosität
des heißen Wassers, das sich damit schneller an der
Brandstelle ausbreiten kann als kaltes und damit
nochmals das Feuerlöschen leichter macht.

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LexPI Bd. 2 Hering 140

Hering
Der Hering ist ein reiner Salzwasserfisch
Von den rund 160 Heringsarten, die es heute gibt,
leben einige auch in süßem Wasser: Der Maifisch und
der Kaspi-Hering etwa wandern weit in den Oberlauf
von Flüssen.
& Lit.: W. Eigener: Großes Farbiges Tierlexikon,
Herrsching 1982.

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LexPI Bd. 1 Herz 142

Herz
Unser Herz schlägt links
Unser Herz schlägt weder links noch rechts, sondern
in der Mitte. Es sitzt ziemlich zentral in unserem
Brustkorb, unmittelbar hinter dem Brustbein zwi-
schen linkem und rechtem Lungenflügel.

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LexPI Bd. 2 Heute gehört uns Deutschland ... 140

Heute gehört uns Deutschland ...


... und morgen die ganze Welt. So erinnert sich etwa
Lehrer Matthes in Walter Kempowskis »Uns geht's ja
noch gold«. »Dieses Lied, das hätte uns schon stutzig
machen müssen ...«
Dieses Lied schrieb Hans Baumann 1932 für die
katholische »Deutschmeister Jungenschaft«. Hier die
so oft zitierte Textpassage, wie sie wirklich heißt (zi-
tiert nach P. Buscher: »Das Stigma«, Koblenz 1988,
S. 336):
Wir werden weiter marschieren,
wenn alles in Scherben fällt,
denn heute, da hört uns Deutschland,
und morgen die ganze Welt.

Kein Lied für Greenpeace, zugegeben, aber zwischen


Gehörtwerden und Besitzen gibt es dennoch einen
Unterschied.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Hexen 142

Hexen
Hexenverbrennungen sind eine Erfindung des
Mittelalters
Das sogenannte »finstere Mittelalter« (»the dark
ages«, wie die Engländer sagen), die Zeit vom Unter-
gang des weströmischen bis zum Untergang des ost-
römischen Reiches, also von rund 500 bis 1500 nach
Christus, hat heute einen schlechten Ruf – es gilt
nicht gerade als die große Wunschepoche, in die wir
aufgeklärten Neuzeitler uns gern zurückversetzen la-
ssen würden.
Unter diesem kollektiven Naserümpfen wird aber
häufig übersehen, daß eine der finstersten Episoden
der ganzen Menschheitsgeschichte, die heute kaum
mehr nachvollziehbare Hexenhysterie vergangener
Jahrhunderte, gar nicht im Mittelalter stattgefunden
hat. Sie kam vielmehr erst nach dessen Ende, in der
Renaissance, in dem Zeitalter des Lichts und der Er-
leuchtung, und mit der aktiven Unterstützung vieler
heute hochverehrter Menschenfreunde, so richtig in
die Gänge.
Die Wahrscheinlichkeit, als Hexe oder Hexer auf
dem Scheiterhaufen zu enden, war zu Zeiten Luthers,
Galileis oder Gutenbergs weit größer als davor. Zwar
konnte man auch im Mittelalter durchaus durch das
Feuer sterben, vor allem wegen Ketzerei und Insubor-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Hexen 142

dination gegen die allgegenwärtige Kirche, aber He-


xenprozesse, wie wir sie aus dem modernen Kino
kennen, mit ihren absurden Anklagen wegen Be-
schwören des Wetters, Beischlaf mit dem Satan, Ver-
zaubern ungeliebter Nachbarskinder oder Orgien auf
Besenstielen, so wie sie später routinemäßig gegen
fast jeden und jede erhoben und beglaubigt wurden,
der oder die sich zu sehr von seinem oder ihrem
Nachbar unterschied, solchen kollektiven Wahnsinn
gab es damals nicht.
Der richtige Hexenwahnsinn geht erst viel später
los, zunächst mit vereinzelten Prozesse ab etwa 1400:
hier ein exaltierter Mystiker, da ein Wünschelruten-
gänger, Ketzer, Zauberer – für damalige Zeiten nichts
besonderes. Dann, im Jahr 1419, erscheint in einem
Prozess im schweizerischen Luzern zum ersten Mal
das Wort »hexereye«, und das Konzil zu Basel nimmt
sich dieses Themas an. Aber von Hexenhysterie noch
keine Rede (auch wenn im Jahr 1430 die Heilige Jo-
hanna als Semi-Hexe auf dem Scheiterhaufen stirbt:
sie war eher Opfer eines politischen Schauprozesses,
was auch von den meisten Beteiligten genau in die-
sem Sinn gesehen wurde).
Diese Massenhysterie, die den Hexenwahn zu einer
wohl nur noch mit dem Nazi-Rassenwahn vergleich-
baren historischen Entgleisung ausarten läßt, entwi-
ckelt sich erst langsam in vereinzelten Regionen um
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Hexen 143

die Alpenberge, wie ein zaghaftes Kaminfeuer zuerst,


bis dann im Jahr 1487 und damit fast pünktlich mit
Beginn der Renaissance der berühmte »Hexenham-
mer« erscheint, ein Buch mit dem Titel »Malleus Ma-
leficarum« des Dominikanermönches Heinrich Insti-
toris, das die Hexenhysterie dann wirklich flächendek-
kend lostritt. Denn mit diesem Buch und mit ver-
wandten Werken, die um diese Zeit erscheinen, wird
quasi wissenschaftlich nachgewiesen, daß es Hexen
gibt, wird in gelehrten Worten abgehandelt, warum
sie existieren, was sie alles anrichten, wie man sie er-
kennt, und natürlich auch, wie mit ihnen zu verfahren
ist. Erst jetzt, nach dem Motto »Gefahr erkannt, Ge-
fahr gebannt« wird das Hexenverbrennen quasi zur
Staatsaufgabe, erst jetzt, hundert Jahre nachdem das
Mittelalter begraben ist, wird Hexenjagd zur Bürger-
pflicht: In mehreren Wellen, besonders intensiv zwi-
schen 1560 und 1630, wälzt sich der Wahn über
Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien, über
England, Schottland, Rußland, Böhmen, Skandina-
vien, nicht von dumpfem Aberglauben, sondern von
feingebildeten Juristen und akkuraten Bürokraten an-
getrieben, die ihre Bücher und Paragraphen bestens
kennen und die alles andere als »Hinterwäldler und
Dorftrottel« gewesen sind.
»Es waren Wissenschaftler, Universitätsprofesso-
ren, hochangesehene Theologen, Philosophen, Juri-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Hexen 144

sten, die die Existenz von Hexen, die von der Kirche
jahrhundertelang bestritten worden war, für wahr und
ihre Verfolgung für notwendig erklärten« (Gerhard
Prause). Als etwa der durchaus gebildete und human
gesinnte Kaiser Maximilian I., der dem Hexenwahn
eher skeptisch gegenüberstand, einen Humanisten um
ein Gutachten dazu bat, wurde ihm die Existenz von
Hexen quasi wissenschaftlich beglaubigt (soviel zur
Seriosität wissenschaftlicher Gutachten). Auch der
berühmte Arzt Paracelsus wie auch viele Reformato-
ren inklusive Martin Luther haben die Hexenverfol-
gungen ausdrücklich gebilligt und oft und nachdrük-
klich gefordert, daß diese getötet werden müßten und
»keine Barmherzigkeit« verdienten; denn Zauberei
und Hexerei seien ganz klar Teufelsdinge.
Der vielleicht größte und brutalste Wüterich unter
diesen heute gern als Lichtgestalten verehrten Refor-
matoren war wohl der Schweizer Johann Calvin. Vor
seinem Auftreten auf der politischen Bühne kamen
vermeintliche Hexer und Hexen in Calvins Heimat-
stadt Genf oft mit leichten Strafen wie Verbannung
davon – verbrannt wurden in den Jahren 1495 bis
1531 kaum ein Dutzend. Erst Calvin nötigte die Gen-
fer Bürger, alle Hexen mit Stumpf und Stiel und mög-
lichst grausam – als Abschreckung für andere – aus-
zurotten, und anders als die weltlichen Ratsherren be-
stand er rigoros auf der Verbrennung aller Zauberer
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Hexen 144

und Hexer, auch der für Mensch und Tiere unschädli-


chen, die man bis dato hatte laufen lassen. Das alles
ist in überlieferten Protokollen von Genfer Ratssitz-
ungen noch heute wörtlich nachzulesen.
Die Mechanik hinter diesem Ausbruch kollektiven
Wahnsinns ist immer noch ein Rätsel. War es religi-
öser Übereifer (zweifelhaft: die eifrigsten Hexenjäger
waren Laien), die Angst des Mannes vor dem »ewig
unergründlich Weiblichen« (genauso zweifelhaft:
auch Männer wurden als Hexen verbrannt, in gewis-
sen nördlichen Ländern sogar mehrheitlich) oder ein-
fach nur ein grandioser Zusammenbruch aller Werte
und Normen nach den Pestkatastrophen und sonstigen
Verheerungen der vergangenen Jahrhunderte? Welche
finsteren Seiten der menschlichen Natur auch immer
hier den Ausschlag geben – das Mittelalter hat mit all
dem nur am Rand zu tun.
& Lit.: Oskar Pfister: Calvins Eingreifen in die
Hexer- und Hexenprozesse von Peney 1545 nach
seiner Bedeutung für Geschichte und Gegenwart,
Zürich 1947; Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon
für Besserwisser, München 1984 (besonders der
Abschnitt über Hexen); Wolfgang Behringer:
»Erträge und Perspektiven der Hexenforschung«,
Historische Zeitschrift 1989, S. 619–640; Andre-
as Blauert (Hrsg.): Die Anfänge der europäischen
Hexenverfolgungen, Frankfurt 1990.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Hexen 144

¤ Hexenverbrennungen waren das Werk von Huma-


nisten und Gelehrten

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LexPI Bd. 1 »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« 145

»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«


Als Martin Luther am 18. April 1521 vor dem Reich-
stag zu Worms seine »ketzerischen« Schriften vertei-
digte, schloß er seine Rede mit dem damals üblichen:
»Gott helfe mir. Amen.« So zumindest berichten alle
Augenzeugen. Aber dieser Schluß erschien Luthers
Anhängern nicht stark genug, und so fügten sie später
noch das obige Bekenntnis an. Es erschien zum ersten
Mal in der Wittenberger Ausgabe von Luthers Wer-
ken (1539–1558), wurde aber auf dem Wormser
Reichstag nie gesprochen.
& Lit.: Georg Büchmann: Geflügelte Worte, Mün-
chen 1977; Gerhard Ritter: Luther: Gestalt und
Tat, Frankfurt 1985.
¤ Luther vor dem Reichstag: »Hier stehe ich, ich
kann nicht anders« hat er nicht gesagt

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LexPI Bd. 2 Himalaya 140

Himalaya
Im Himalaya gibt es nur Eis und Schnee
Der größte Teil des Himalayas ist staubtrocken und
durch ein Wüstenklima mit Temperaturen von im
Sommer bis zu 30°C bestimmt.
& Lit.: Stichwort »Himalaya« in der MS Microsoft
Enzyklopädie Encarta, 1994; Stichwort vorge-
schlagen von Judith Sievers.

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LexPI Bd. 1 Hippokrates 146

Hippokrates
Der Eid des Hippokrates soll vor allem die Pa-
tienten schützen (s.a. ð »Ärzte«)
Der sogenannte »Eid des Hippokrates« stammt weder
von Hippokrates, noch sagt er das, was viele Medizi-
ner und auch Laien glauben.
Als Hippokrates, der berühmteste Arzt der Antike,
um 377 vor Christus starb, gab es diesen Eid noch
nicht. Wie viele andere Schriften, wurde auch diese
ihm später angedichtet, vermutlich um ihr größeres
Gewicht zu geben.
Und selbst dieser Text wird heute gerne falsch ver-
standen. Denn die moderne Fassung dieses Eides, das
sogenannte Genfer Ärztegelöbnis von 1948, läßt
große Teile des Ausgangstextes aus. Neben Ver-
schwiegenheit und Fürsorge für Patienten (»Die Ge-
sundheit meiner Patienten wiederherzustellen und zu
erhalten wird mein erstes Gebot sein ...« etc.) enthält
dieses Originalgelöbnis nämlich auch verschiedene
Passagen, die weniger das Wohl der Patienten als das
Wohl der Ärzte schützen sollen: »Ich werde die Leh-
ren der Medizin nur meinen Söhnen, den Söhnen mei-
ner Lehrer und rechtmäßig eingeschriebenen Studen-
ten weitergeben, und niemandem sonst«, heißt es etwa
in dem alten Text, in kaum verhüllter Umschreibung
der Absicht, die Zahl der Mediziner und damit die
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LexPI Bd. 1 Hippokrates 146

Zahl der Konkurrenten möglichst klein zu halten, und


auch die in manchen Versionen des Eides enthaltene
Aufforderung, Kollegen und deren Familien kostenlos
zu behandeln, soll wohl primär den Ärzten nützen.
& Lit.: Walter Krämer: »Schotten dicht!« Der Spie-
gel Nr. 30/1981.

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LexPI Bd. 2 Hitler 1 141

Hitler 1
Adolf Hitler hieß eigentlich Adolf Schicklgruber
Hitlers Vater Alois war das uneheliche Kind von
Maria Anna Schicklgruber und Johann Huettler (ge-
schrieben auch Hiedler oder Hitler). Die beiden heira-
teten, als Alois fünf Jahre alt war; mit 40 Jahren
nahm Alois dann den Namen seines Vaters Johann
Hitler an. Als daher 12 Jahre später sein eigener Sohn
Adolf geboren wurde, hieß dieser vom ersten Tag an
Hitler.
& Lit.: Stichwort »Hitler« in Meyers Großes Ta-
schenlexikon, Band 9, Mannheim 1992; Stich-
wort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Hitler 2 141

Hitler 2
Hitlers gefährlichste politische Gegner in
Deutschland waren die Sozialdemokraten und
Kommunisten
Sozialdemokraten und Kommunisten waren zwar Hit-
lers Feinde, aber sie waren Hitler nie gefährlich. »Die
einzigen innenpolitischen Gegner oder Konkurrenten,
mit denen Hitler in den Jahren 1930–1934 ernsthaft
zu rechnen und zeitweise zu kämpfen hatte, waren die
Konservativen. Die Liberalen, Zentrumsleute und So-
zialdemokraten haben ihm nie im geringsten zu schaf-
fen gemacht, ebensowenig wie die Kommunisten«
(Haffner).
Und so ist es auch in den Jahren von Hitlers unum-
schränkter Macht nach 1934 geblieben. Ob in innerer
oder äußerer Emigration: Überzeugte Liberale, Chri-
sten oder Sozialisten waren für die Nazis ungefähr-
lich, genauso wie der »rein symbolische Widerstand«
der Kommunisten. Nur die Konservativen blieben
immer »ein echtes politisches Problem«; es waren fast
durchweg konservative Politiker und Generäle, die
seit 1934 gegen Hitler konspirierten, auch der 20. Juli
1944 war ein »hochkonservatives« Unternehmen. Der
Rest des Widerstands gegen Hitler hatte zwar die
Moral und das gute Gewissen, aber keinerlei Erfolgs-
aussicht auf seiner Seite.
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LexPI Bd. 2 Hitler 2 141

& Lit.: Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler,


München 1978.

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LexPI Bd. 2 Hitler 3 142

Hitler 3
Adolf Hitler war seit seiner Jugend Judenhasser
Hitlers notorischer Antisemitismus ist erst nach dem
Ersten Weltkrieg virulent geworden, als Hitler schon
erwachsen war, als »Erfolgsrezept, wie man aus
einem kleinen Verein eine Massenpartei, eine Volks-
partei machen kann, nämlich durch ein alle Gruppen
einigendes Feindbild« (Hamann). Auch wenn Hitler
selber in »Mein Kampf« das Gegenteil behauptet:
Weder in seiner Linzer noch in seiner Wiener Zeit ist
er als Judenfeind hervorgetreten, seine jüdischen Mit-
schüler an der Linzer Realschule kamen gut mit ihm
zurecht, seine Lieblingsschauspieler am Linzer Stadt-
theater waren fast ausschließlich Juden, sein Linzer
Hausarzt war Jude (und Hitler hat sich ihm gegenüber
immer dankbar gezeigt), und in Wien gab Hitler
große Teile seines knappen Geldes für Operninsze-
nierungen des Juden Gustav Mahler aus.
Auch die oft kolportierte Legende, Hitlers Juden-
haß sei durch sein Scheitern an der Kunstakademie,
das er den jüdischen Professoren angelastet habe, ver-
ursacht oder mitverursacht worden, wird von Brigitte
Hamann nicht bestätigt: unter Hitlers Lehrern gab es
keine Juden.
& Lit.: B. Hamann: Hitlers Wien – Lehrjahre eines
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LexPI Bd. 2 Hitler 3 142

Diktators, München 1996; K.-H. Janßen: »Die


Mitgift aus Wien«, Die Zeit 41/1996.

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LexPI Bd. 2 Hitler 4 142

Hitler 4
Hitler war ein Faschist
»Nichts ist irreführender, als Hitler einen Faschisten
zu nennen«, schreibt Sebastian Haffner. Und in der
Tat, wenn man getreu dem Lexikon unter »Faschis-
mus« eine »durch künstliche Massenbegeisterung ab-
gestützte Herrschaft der Oberklasse« versteht, so
kann man Hitler kaum einen Faschisten nennen. Seine
Ziele und Methoden standen Stalin weitaus näher als
Mussolini, die Nazi-Ideologie propagierte fast das
Gegenteil der typisch faschistischen Ideale einer stän-
disch-bürgerlich-hierarchischen Gesellschaft.
& Lit.: Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler,
München 1978; Stichwort »Faschismus« in Mey-
ers Großes Taschenlexikon, Band 7, Mannheim
1992.

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LexPI Bd. 2 Hochwald 143

Hochwald
Ein Hochwald ist ein hoher Wald
Ein Hochwald muß weder aus hohen Bäumen beste-
hen noch hoch gelegen sein; er ist einfach das Gegen-
teil von Niederwald, und das ist wiederum ein Wald,
dessen Bäume in jungen Jahren kurz über der Erde
abgeschnitten werden. Dadurch kommen unterhalb
des Schnittes neue Triebe, die jeder für sich zu einem
neuen Baumstamm werden; so entsteht rein massemä-
ßig viel mehr Holz.
Naturgemäß wachsen diese neuen Stämme nicht so
hoch, wie ein Einzelstamm gewachsen wäre; bei einer
gegebenen Art von Baum ist Hochwald also wirklich
höher als der aus der gleichen Holzart gewachsene
Niederwald. Auf der anderen Seite aber können die
Niederwälder mancher Bäume durchaus gewisse
Hochwälder an Höhe übertreffen.
& Stichwort vorgeschlagen von Ludwig Krämer.

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LexPI Bd. 1 Höhlenmenschen 146

Höhlenmenschen
Die ersten Menschen lebten größtenteils in Höh-
len
Weil wir so viele Zeugnisse der frühen Menschen
ausgerechnet in Höhlen finden, kann man in der Tat
leicht glauben, unsrere Vorfahren hätten dort auch
größtenteils gelebt. In Wahrheit dienten Höhlen aber
immer nur als kurzfristige Ausweichquartiere und
Verstecke – die ersten Menschen lebten, jagten, arbei-
teten und schliefen wenn immer möglich im Freien an
der frischen Luft. Daß wir dort viel weniger Zeugen
ihres Lebens finden, liegt einfach daran, daß Wind
und Wetter diese Zeugen anders als in Höhlen bald
zerstörten.
& Lit.: Stichwort »Cave dwellers« in Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Holland 143

Holland
Holland ist ein anderer Name für die Niederlande
Die Niederlande bestehen aus elf Provinzen, nur zwei
davon heißen »Holland«: die Provinzen »Noord Hol-
land« und »Zuid Holland« zwischen Ijsselmeer und
Nordsee (die anderen Provinzen sind Groningen,
Friesland, Overijssel, Gelderland, Fleveland, Drenthe,
Utrecht, Zeeland, Noord Brabant und Limburg). Mit
dem gleichen Recht könnten wir die Niederlande also
auch »Zeeland« oder »Limburg« nennen.
& Stichwort vorgeschlagen von Ronald Müller.

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LexPI Bd. 2 Hollywood 143

Hollywood
Hollywood ist die Hochburg der weltweiten Spiel-
filmindustrie
Die weltweit meisten Spielfilme werden seit vielen
Jahren in Indien gedreht – rund 900 jährlich, pro Tag
mehr als zwei, verglichen mit nur 400 jährlich in den
USA.
& Lit.: P. Robertson: Das neue Guinness Buch
Film, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 1 Holz 147

Holz
Holz schwimmt immer auf dem Wasser
Es gibt tropische Hölzer wie das Ebenholz
(1080g/cdm), das Pockholz (1280g/cdm) oder das
Veilchenholz (1300g/cdm), die, wenn man sie ins
Wasser wirft, sofort versinken. Am schwersten ist
wohl das Holz des von Holzfällern auch »Axtbre-
cher« genannten Quebrachobaums mit 1490 Gramm
pro Kubikdezimeter, der vor allem in Südamerika
wächst und dort als Bauholz und Rohstoff für Gerb-
mittel dient (Tannin).
& Lit.: William C. Vergara: Das Blaue vom Him-
mel herunter gefragt, Augsburg 1993.

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LexPI Bd. 2 Holzfreies Papier 144

Holzfreies Papier
Holzfreies Papier ist holzfrei
Holzfreies Papier enthält durchaus auch Holz; nur der
sogenannte Holzschliffanteil fehlt. »Holzschliff« ist
einer der sogenannten »Halbstoffe«, aus denen man
den »Ganzstoff«, das Material für das Papier, zusam-
menmischt; er wird aus kleingeraspelten Baumstäm-
men, in der Regel von Nadelbäumen, hergestellt. An-
dere »Halbstoffe« basieren auf Altpapier, Textilien
(»Hadern«) oder Stroh, aber auch aus Holz: neben
dem Holzschliff noch der Sulfidzellstoff, der in einem
Zellstoffkocher aus kleingehacktem Holz entsteht.
& Lit.: Stichwort »Papier« in Meyers Großes Ta-
schenlexikon, Band 16, Mannheim 1992; Stich-
wort vorgeschlagen von H. van Maanen.

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LexPI Bd. 2 Holzwurm 144

Holzwurm
Der Holzwurm ist ein Wurm
Der Holzwurm (Anobium pertinax) ist ein Käfer; an
Würmer erinnern allenfalls seine Larven, die in alten
Holzschnittwerken die bekannten Gänge hinterlassen.
& Lit.: W. Eigener: Großes Farbiges Tierlexikon,
Herrsching 1982; Stichwort vorgeschlagen von
Ursula Klein.

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LexPI Bd. 2 Hongkong 144

Hongkong
Es gibt eine Stadt namens Hongkong
Vielleicht in den USA, wo es ja auch Dutzende von
Moskaus, Wiens und Londons gibt, aber nicht in
Asien. In der ehemaligen britischen Kronkolonie
Hongkong gab und gibt es viele Städte und Gemein-
den, keine davon heißt Hongkong. Die Städte auf der
Insel Hongkong, von der die Ex-Kolonie den Namen
hat, heißen Victoria und Aberdeen, die Stadt auf dem
Festland gegenüber heißt Kowloon.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Hornissen 145

Hornissen
Ein Hornissenstich ist besonders gefährlich
Der Stich einer Hornisse (Vespa crabro) ist nicht ge-
fährlicher als der Stich einer Biene oder Wespe; der
Volksglaube, drei Hornissen könnten einen Menschen
töten, sieben gar ein Pferd, ist falsch. Entscheidend ist
allein, wohin die Hornisse sticht. Ein Stich in die
Zunge oder in die Lippe, in den Mund oder in ein
Blutgefäß ist immer gefährlich, aber dies gilt auch für
eine Biene oder Wespe. In jedem Fall ist der Stich
einer Hornisse wegen des hohen Anteils von Seroto-
nin, Acetylcholin und Histamin im Hornissengift be-
sonders schmerzhaft, und manche Menschen reagieren
auf das Gift allergisch.
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 2, Stuttgart 1969.

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LexPI Bd. 2 Hula-Hoop 145

Hula-Hoop
Die Hula-Hoop-Reifen sind ein neumodischer Fir-
lefanz
Der Hula-Hoop-Welle der späten 50er Jahre – allein
in den USA wurden in sechs Monaten 20 Millionen
Reifen verkauft – hatte ihre ersten Vorläufer schon in
der Antike: Um 1000 v. Chr. etwa legten sich Kinder
im Vorderen Orient Reifen aus Reblaub zum Kreisen
um die Hüften. Auch in Südamerika (Reifen aus Zuk-
kerrohr) oder im mittelalterlichen England gab es
schon lange vor dem 20. Jahrhundert viele Hula-Tän-
zer, die unter König Edward sogar eine regelrechte
Hula-Manie erzeugten; mehrere Menschen sollen vor
Überanstrengung gestorben sein. Die neuzeitlichen
Vermarkter brauchten diesen humanen Hüftschwung-
Urtrieb also nur noch wiederzuerwecken.
& Lit.: C. Panati: Universalgeschichte der ganz ge-
wöhnlichen Dinge, Frankfurt a.M. 1994.

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LexPI Bd. 1 Hummeln 147

Hummeln
Hummeln stechen nicht
Anders als Wespen oder gar Hornissen gelten Hum-
meln als eher gutartig; sie haben wie die Honigbienen
eine strenge soziale Hackordnung mit Königin, Droh-
nen und Arbeiterinnen; sie sammeln wie diese Nektar
aus den Blüten von Pflanzen. Anders als die Bienen
lassen sie sich auch, wenn man vorsichtig ist, mit der
Hand einfangen, ohne sich mit ihrem Stachel zu wehr-
en. Aber wenn sie sich ernsthaft bedroht fühlen, kön-
nen sie auch stechen.
& Lit.: Stichwortartikel »Bumblebee« in Encyclo-
paedia Britannica, Chicago 1985.

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LexPI Bd. 1 Hunde 147

Hunde
Hunde und Katzen vertragen sich nicht
Es gibt keine genetisch oder biologisch begründete
Feindschaft zwischen Hunden und Katzen. Natürlich
werden Aggressionen wach, wenn einer das Territo-
rium des anderen verletzt, auch Mißverständnisse der
Körpersprache kommen vor. Hebt etwa ein Hund die
Vorderpfote, heißt das »Ich will spielen«, hebt eine
Katze ihre Vorderpfote, heißt das »Hau ab, oder es
kracht«. Auch halten Hunde das Schnurren der Kat-
zen – ein Zeichen des Wohlbefindens – falsch für
Knurren und damit für das Gegenteil, was weitere
Mißverständnisse erzeugt. Aber mit etwas Übung
können sich Hunde und Katzen durchaus auf eine ge-
meinsame Sprache verständigen und problemlos mit-
einander leben.
& Lit.: Götz Weihman (Hrsg.): Gibt's das wirklich?
50 Fragen an die Wissenschaft, Stuttgart 1976.

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LexPI Bd. 2 Hunde 1 145

Hunde 1
Hunde sind die klügsten Haustiere
Das klügste Haustier ist das Schwein; es landet in
einer Liste der intelligentesten Säugetiere des Har-
vard-Zoologen E.O. Wilson hinter diversen Affen
(Menschen eingeschlossen), hinter dem Delphin und
dem Elefanten, aber noch vor dem Hund auf einem
ehrenvollen elften Platz.
Auch unter Hunden gibt es große Unterschiede.
Wenn es gilt, verstecktes Futter aufzufinden oder zu
bemerken, daß Herrchen oder Frauchen Gassi gehen
möchte, verstehen Border Collies, Pudel oder Schäfer-
hunde am schnellsten die Signale; am längsten brau-
chen die englische Bulldogge, der Basenji und beson-
ders der Afghane, der dümmste unter allen unseren
Hunden.
& Lit.: »Intelligenzbestien im Härtetest«, Focus
16/1994; S. Coren: The intelligence of dogs, New
York 1994.

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LexPI Bd. 2 Hunde 2 146

Hunde 2
Hunde, die bellen, beißen nicht
Hunde bellen aus den verschiedensten Gründen: um
zum Spielen aufzufordern, um Freude oder Langewei-
le auszudrücken, aber auch zur Abwehr und als Dro-
hung. Und wenn man diese Drohung ignoriert, dann
wird nach dem Bellen auch gebissen.
& Lit.: F. Ohl: »Ontogenese der Lautäußerung bei
Haushunden«, Diplomarbeit, Fachbereich Biolo-
gie, Universität Kiel 1994; »Wehe, wenn er drei-
mal bellt«, Focus 11/1994.

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LexPI Bd. 2 Hunde 3 146

Hunde 3
Der Ausdruck »vor die Hunde gehen« hat etwas
mit Hunden zu tun
Wenn in alten Zeiten ein Bergmann schlecht gearbei-
tet hatte, mußte er zur Strafe den Transportkarren, die
sogenannte Hunte ziehen; so kam jeder, den das Er-
denglück verlassen hatte, »vor die Hunte«.
& Lit.: Vitus B. Dröscher: Sie turteln wie die Tau-
ben, Hamburg 1988; Stichwort vorgeschlagen
von Jürgen Kloppenburg.

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LexPI Bd. 2 Hundertjähriger Kalender 146

Hundertjähriger Kalender
Der Hundertjährige Kalender hilft bei der Wet-
terprognose
Die Prognosen des Hundertjährigen Kalenders und
das wahre Wetter sind völlig unabhängig voneinan-
der; wie zahlreiche Vergleiche immer wieder zeigen,
haben das tatsächliche Wetter und der Hundertjährige
Kalender miteinander nichts gemein. Der Hundertjäh-
rige Kalender wurde von einem Abt des Klosters
Langheim namens Moritz Knauer im 17. Jahrhundert
aufgestellt. Knauer glaubte, die sieben »Planeten« re-
gierten unser Wetter: Saturn, Jupiter, Mars, Sonne,
Venus, Merkur und Mond; diese wechselten ihren
Einfluß in festem Rhythmus ab. Saturn: kalt und
feucht; Jupiter: warm und trocken; Mars: trocken,
heiße Sommer; Sonne: mäßig warm und trocken;
Venus: warm und schwül; Merkur: kalt und trocken;
Mond: kalt und feucht, aber mit warmen Sommern.
Und dann das Ganze von vorne, immer wieder ...
Das Jahr 1998 gehört dem Merkur. Die Prognosen
sind:
»Januaris continuiert die Kälte, den 8. Schnee, 9.
kalt bis 14.; da es gelinde schneit. Es regnet bis den
23., da es gelinde wird. Februaris fängt trüb an, den
5. schön, darauf unlustig. Den 9. fällt große Kälte ein,
den 10. ein sehr kalter Tag, dergleichen in vielen Jah-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Hundertjähriger Kalender 147

ren nicht gewesen ist« usw.


Damit kann jeder Leser die Korrektheit dieser
Prophezeiung selber überprüfen.
& Lit.: P. Bisolli: »Eintrittswahrscheinlichkeit und
statistische Charakteristika der Witterungsfälle in
der Bundesrepublik Deutschland und West-Ber-
lin«, Institut für Meteorologie und Geophysik,
Universität Frankfurt a.M. 1991; H. Malberg:
Bauernregeln aus meteorologischer Sicht, Berlin
1993.

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LexPI Bd. 1 Hundertjähriger Krieg 148

Hundertjähriger Krieg
Der Hundertjährige Krieg dauerte hundert Jahre
Der sogenannte Hundertjährige Krieg, den sich die
Franzosen und Engländer im Mittelalter lieferten,
dauerte in Wahrheit 114 Jahre, von 1339 bis 1453. Er
begann, als die französische Königsfamilie der Kape-
tinger ausstarb und der englische König Eduard III.,
den vakanten Thron reklamierend, Frankreich Eng-
land einverleibte. Die Franzosen wehrten sich, und
nach wechselvollen Kämpfen mußten sich die Englän-
der bis 1453 vollständig zurückziehen, sie behielten
nur die Kanalinseln und Calais (bis 1558 englisch).
& Lit.: Stichwort »Hundertjähriger Krieg« in Brock-
haus Enzyklopädie, 19. Auflage, Mannheim
1990.

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LexPI Bd. 1 Hundstage 148

Hundstage
Die Hundstage heißen so, nicht weil es selbst Hunden
zu heiß wird, sondern weil um diese Zeit des Jahres
der Sirius, der Hundestern, mit der Sonne zusammen
aufgeht. In der Antike glaubte man, daß dieser Stern
noch zusätzliche Hitze brächte.
& Lit.: Stichwort »Hundstage« in Brockhaus Enzy-
klopädie, 19. Auflage, Mannheim 1990.

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LexPI Bd. 2 Hünengräber 147

Hünengräber
Hünengräber sind Gräber für Hünen
Die sogenannten Dolmen- oder Hünengräber, wie
man sie oft in der Bretagne, aber auch in anderen Re-
gionen Frankreichs wie auch Deutschlands findet,
sind zwar Gräber, aber nicht für Hünen. Ihre überpro-
portionalen Ausmaße – bis drei Meter lang, zwei
Meter breit, rechts und links und obenauf ein riesiger,
massiver Stein – erklären sich einfach daraus, daß in
einer einzigen solchen Grabstätte mehrere Dutzend
Männer, Frauen und Kinder auf einmal ihre letzte
Ruhe fanden.
& Stichwort vorgeschlagen von Heidi Wettich.

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LexPI Bd. 1 Hunger 148

Hunger
Hungersnöte entstehen durch ein Defizit an Nah-
rungsmitteln
Nur wenige Hungerkatastrophen entstehen durch ein
Defizit an Nahrungsmitteln. Bei den meisten Hun-
gersnöten dieses Jahrhunderts und vergangener Jahr-
hunderte waren sowohl weltweit als auch in den be-
troffenen Regionen der Erde selber reichlich Brot und
Reis vorhanden.
Während der großen 1974er Hungersnot in Bangla-
desch z.B. gab es dort mehr Reis pro Kopf als in
jedem anderen Jahr von 1971 bis 1976. Während der
Hungersnot in Äthiopien 1973 war die örtliche Nah-
rungsmittelproduktion nur minimal gesunken, und
auch bei anderen großen Hunger-Katastrophen wie
der in Irland 1845 stellt man immer wieder fest, daß
es eigentlich genug zu essen gab. (Damals starben in
Irland rund eine Million Menschen; andere wanderten
aus, die Bevölkerung ging von 8 auf 5 Millionen
Menschen zurück, aber dennoch wurden Tausende
von Tonnen Fleisch und Weizen von Irland nach Eng-
land exportiert.)
Das eigentliche Problem bei Hungerkatastrophen,
so der Harvard-Wirtschaftsprofessor Amartya Sen, ist
nicht die Menge der Nahrungsmittel, sondern die Ver-
teilung: Obwohl es prinzipiell für alle ausreichend zu
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Hunger 149

essen gibt, bleiben die Brotkörbe oder Reisschüsseln


vieler Menschen leer – die Lebensmittel finden nicht
den Weg zum Endverbraucher, Brot und Reis verrot-
ten in den Lagerhäusern. Die große Hungersnot in
Bangladesh im Jahr 1974 z.B. entstand vor allem
durch die Massenarbeitslosigkeit im Herbst: Durch
riesige Überschwemmungen im Sommer kam die
Landwirtschaft in großen Teilen des Landes zum Er-
liegen, Hunderttausende von Tagelöhnern verloren
ihre Arbeit und damit die Mittel, Reis zu kaufen; ob-
wohl es noch genug Reis aus der Ernte des Vorjahres
gab und auch die aktuelle Ernte durch die Über-
schwemmungen nur marginal betroffen war, sind Tau-
sende von Menschen vor Hunger umgekommen.
Das beste Mittel gegen Hunger, so Sen, ist nicht
eine direkte Lebensmittelhilfe; diese beruhigt im wes-
entlichen nur das westliche Gewissen (und reduziert
ganz nebenbei auch unsere Butter-, Fleisch- und Wei-
zenberge), entmutigt aber die lokale Produktion und
macht so die Lage letzten Endes nur noch schlimmer.
Das beste Mittel gegen Hunger ist Bargeld für die
Hungernden. Dann können sie sich ihr Essen ganz
einfach wieder an der nächsten Ecke kaufen.
& Lit.: Amartya Sen: Poverty and Famines, Oxford
1981; Amartya Sen: »The economics of life and
death«, Scientific American, Mai 1993, S. 18–25;
»Famine? What Famine?«, The Economist,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Hunger 149

24.6.1995; »Bis zur letzten Kartoffel«, Frankfur-


ter Allgemeine Zeitung, 30.6.1995.

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LexPI Bd. 2 Hyänen 148

Hyänen
Hyänen sind feige Aasfresser (s.a. ð »Löwen 2«)
Hyänen sind weder feige, noch fressen sie ausschließ-
lich Aas. Der holländische Verhaltensforscher Hans
Kruuk hat mehrere Jahre das Leben der afrikanischen
Hyänen beobachtet und dabei verschiedene überra-
schende Entdeckungen gemacht. Z.B. daß Hyänen
eher gesunde, erwachsene Tiere jagen als alte oder
kranke, und daß Hyänen Aas nur essen, wenn sie per
Zufall welches finden. Im großen und ganzen aber
töten Hyänen ihre Beute selbst.
Eine einzige Hyäne jagt ein großes, gesundes Gnu
oft viele Kilometer weit. »Dann verbeißt sie sich mit
starken Kiefern schnell so tief in das Gnu, daß es in
Sekunden vom Schock gelähmt ist. Die Hyäne tötet
rasch und macht sich dann über ihr Opfer her.«
»Doch nichts widerspricht den üblichen Vorstel-
lungen, die wir bisher von den Hyänen hatten, so sehr
wie ihre Methoden bei der Zebrajagd«, lesen wir bei
Rensberger. »Sie sind ein sehr guter Beweis sowohl
für die komplexe soziale Struktur, innerhalb derer die
Hyänen leben, als auch für ihre erstaunlichen Leistun-
gen als Jäger.« Denn Zebras wissen sich durchaus zu
wehren, eine einzelne Hyäne hätte gegen die Hufe
eines Zebras keine Chance. Deshalb schließen sich
die Hyänen zur Zebrajagd zusammen, sie umkreisen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Hyänen 148

und verfolgen diese, versuchen, einzelne Tiere von der


Herde abzudrängen, dabei immer auf der Flucht vor
starken Zebrahengsten, die die Hyänen beißen und mit
Hufen treten. Dann: »Plötzlich faßte ein Hyäne ein
junges Zebra, während der Hengst eine andere Hyäne
jagte. Dieses Fohlen blieb etwas zurück, und in weni-
gen Sekunden hatten sich 12 Hyänen auf das Tier ge-
stürzt. Innerhalb von 30 Sekunden hatten sie das Ze-
brafohlen zu Boden gerissen, während die anderen
Zebras langsam weiterliefen. (...) Zehn Minuten,
nachdem das Zebra gerissen worden war, lief die letz-
te Hyäne mit dem Kopf des Fohlens davon, und an
der Stelle, wo es gelegen hatte, sah man nur noch
einen dunklen Fleck ...«
Auf diese Weise jagen Hyänen auch andere große
Tiere. Aber diese Jagd geschieht oft nachts, wenn die
Verhaltensforscher und Touristen schlafen. Beim
Morgengrauen sieht man dann den Löwen bei der
Beute, die Hyänen abwartend dahinter. Aber nicht der
Löwe hat das Tier getötet, während die Hyänen feige
auf die Reste warten, in Wahrheit hat der feige Löwe
seine Beute den Hyänen weggenommen.
& Lit.: Hans Kruuk: The spotted Hyena, New York
1972; Jan van Lawick-Goodall und Hugo van
Lawick: Unschuldige Mörder. Bei den Raubtieren
der Serengeti, Reinbek 1974; B. Rensberger: Der
Kult mit der Wildnis, Berlin 1980; J.D. Scott:
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Hyänen 149

»Von feigen Löwen und mutigen Hyänen«, Das


Beste, März 1997.
¤ Streifenhyänen

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


I 150

»Gegen eine Dummheit, die gerade in Mode ist,


kommt keine Klugheit auf.«
Theodor Fontane

»Die Menschen können nicht sagen,


wie sich eine Sache zugetragen,
sondern nur wie sie meinen,
daß sie sich zugetragen hätte.«
Georg Christoph Lichtenberg

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LexPI Bd. 2 »Ich schau dir in die Augen, Kleines!« 150

»Ich schau dir in die Augen, Kleines!« (s.a. ð


»Play it again, Sam!« in Band 1)
Offenbar fühlen sich viele Falschübersetzer durch das
Trio Bogart-Casablanca-Bergman ganz besonders an-
gezogen. Eine korrekte Übersetzung des Bogartschen
»Here's looking at you, kid!« – oben mit »Ich schau
dir in die Augen, Kleines!« übersetzt – wäre z.B. »Na
dann Prost!«
Die Floskel »Here's looking at you« geht auf alte
englische Wirtshausbräuche zurück. Damals mußte
man beim Trinken Angst vor stehlenden Kumpanen
haben; besonders gefährlich war dabei das Heben und
Leeren des Bierkruges, da dann für kurze Zeit die
Sicht auf potentielle Taschendiebe unterbrochen
wurde; um diese abzuschrecken, pflegte man beim
Heben des Bierkruges zu sagen: »Versuch's erst gar
nicht, ich habe dich im Blick« – »Here's looking at
you«. Historisch inkorrekt sind daher auch die folgen-
den von H. Metes und T. Rubinowitz erfundenen Ver-
sprecher:
1. Ich schau dir in die Augen, Großes
2. Ich schau dir in die Ohren, Kleines.
3. Ich schau dir in die Augen, Ingrid.
4. Ich ruf dich an. Blödsinn!
5. Ich schau dir Ingrid Ausschnitt, Klei – Mist!
6. Ich klau dir was vom Aufschnitt, Reiner.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 »Ich schau dir in die Augen, Kleines!« 150

& Lit.: R. Hanewald: Spaß mit Sprachen, Bielefeld


1984; Stichwort vorgeschlagen von Christian
Kleiber und Osman Sankoh.

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LexPI Bd. 1 »Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen« 150

»Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen


kämen« (siehe auch ð »Waterloo«)
So soll Wellington vor Waterloo gesprochen haben,
aber diesen Ausspruch hat er nie getan. Als Welling-
ton vor der Schlacht mit seinen Generälen zum letzten
Mal zusammensaß, sagte er nur: »Unser Plan ist ganz
einfach: die Preußen oder die Nacht.« Mit anderen
Worten, Wellington setzte darauf, daß sich die Fran-
zosen beim ständigen Anrennen gegen die Engländer
erschöpfen würden; diese bräuchten dann nur zu war-
ten, bis es entweder dunkel würde oder die Preußen
kämen.
Und so geschah es auch: Die Franzosen rannten an
bis es dunkel wurde, dann kamen die Preußen.
& Lit.: William Lewis Hertslet: Der Treppenwitz
der Weltgeschichte, 11. Auflage, Berlin 1965.

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LexPI Bd. 1 Iglu 150

Iglu
Eskimos leben in Iglus
»Iglu« heißt in der Eskimosprache ganz einfach
»Haus«; in diesem Sinn wohnen die Eskimos natür-
lich so wie wir in Iglus. Aber wenn wir mit »Iglu« die
typischen Schneehäuser meinen, die wir alle instinktiv
mit »Eskimo« verbinden, dann ist dieser Satz ganz si-
cher falsch.
Von den rund 30000 Eskimos, die heute in Kanada
und Grönland leben, haben mehr als die Hälfte noch
nie in ihrem Leben einen Schnee-Iglu gesehen, ge-
schweige denn darin gewohnt. Nur einige wenige ka-
nadische Eskimo-Stämme leben in diesen »echten«
Iglus, das auch nur im Winter, und auch nur, wenn sie
keine anderen Materialien für ihre Quartiere finden.
Die übrigen Eskimos kennen Schnee-Iglus allenfalls
als temporäre Jagdquartiere.
& Lit.: Stichwort »Inuit« im Microsoft CD-ROM
Encyclopädie Encarta.

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LexPI Bd. 2 Importe 151

Importe
Deutschland importiert aus Frankreich vor allem
Mode, Käse und Kosmetik
Deutschland importiert aus Frankreich, seinem welt-
weit größten Lieferanten (Importwert jährlich über 70
Milliarden DM) in erster Linie Autos, gefolgt von
Flugzeugen, Kühlschränken und Waschmaschinen
sowie Chemie- und Eisenwaren. Erst dann kommen
Lebensmittel und Textilien.
Auch die wertmäßig wichtigsten Importe aus ande-
ren Ländern entsprechen vielfach nicht den populären
Vorurteilen: Aus Italien importieren wir vor allem
Maschinen, Autos und Elektrowaren, aus Großbritan-
nien Autos und Büromaschinen, aus Griechenland
Textilien, aus Holland Öl und Erdgas, aus Schweden
Maschinen und Papier.
& Lit.: Fachserie 7 (»Außenhandel«) des Statisti-
schen Bundesamtes, Wiesbaden.

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LexPI Bd. 1 Indianer 151

Indianer
Indianer haben rote Haut (s.a. ð »China«)
Als die ersten europäischen Siedler nach Nordamerika
kamen, nannten sie die Ureinwohner nicht »Rothäu-
te«; sie nannten sie »Indianer«, »Wilde« oder »Hei-
den«.
Der Mythos von den »Rothäuten« geht vermutlich
auf den schwedischen Naturforscher Karl Linné
zurück; Linné hatte im 18. Jahrhundert die Menschen
in »homo europaeus albescens, homo americanus ru-
bescens, homo asiaticus fuscus, homo africanus
niger« eingeteilt, hatte dabei aber übersehen, daß die
manchmal rötliche Gesichtsfarbe der nordamerikani-
schen Indianer allein der Schminke zu verdanken war,
mit der sich diese einzureiben pflegten. Die natürliche
Hautfarbe der Indianer ist ein blasses Braun.
Nichtsdestoweniger wurde in den späteren Aufla-
gen der Linnéschen Werke aus »rubescens = rötlich«
sogar ein »rufus = fuchsrot«, vermutlich angeregt
durch die gleichen Schreibtischgelehrten, die auch die
Chinesen per Ferndiagnose zu Gelben machten; als
dann sogar der große Immanuel Kant, der wohl nie im
Leben einen Indianer von Angesicht gesehen hatte,
deren Hautfarbe als »kupferfarbig = roth« bezeichne-
te, waren die Indianer im westlichen Bewußtsein ein
für allemal als Rothäute verankert.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Indianer 151

& Lit.: Immanuel Kant: »Von den verschiedenen


Racen der Menschen« in: Kants gesammelte
Schriften, 1. Abt., Berlin 1902–1983, Band 1/2,
S. 427ff; Urs Bitterli: Die »Wilden« und die »Zi-
vilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kultur-
geschichte der europäisch-überseeischen Begeg-
nung, München 1976.

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LexPI Bd. 2 Inflation 151

Inflation
Die deutsche Hyperinflation von 1923 war absolu-
ter Weltrekord
Im Januar 1923 kostete ein Dollar in Deutschland
17.000 Mark, im Juni 4 Millionen Mark und zum
Höhepunkt der Inflation im November 4000 Milliar-
den Mark; ein Pfund Brot kostete im November 1923
250 Milliarden, ein Pfund Fleisch 3000 Milliarden
Mark; Briefmarken wurden im November 1923 in
Deutschland ohne Aufdruck hergestellt – der Post-
beamte übertrug den aktuellen Preis von Hand, und
für die Ersparnisse eines ganzen Lebens konnte sich
ein Universitätsprofessor noch nicht einmal ein Bröt-
chen kaufen.
Aber das ist nicht der Weltrekord: In Ungarn koste-
te ein Dollar im Jahr 1946 4 x 1030 Pengös (die da-
malige ungarische Währung), das ist 10 Trillionen
mal soviel wie das Alter der Erde, in Sekunden seit
dem Urknall ausgedrückt.
& Lit.: B. Nagaro: A short treatise on money and
monetary systems, London 1949; Chronik des 20.
Jahrhunderts, Dortmund 1988.

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LexPI Bd. 2 Inquisition 152

Inquisition
Die Inquisition war eine kirchliche Terrororgani-
sation (s.a. ð »Flache Scheibe« und ð »Jus pri-
mae noctis« sowie in Band 1 ð »Don Carlos«, ð
»Galilei«, ð »Hexen« und ð »Kopernikus«)
Wohl zu keinem Aspekt der menschlichen Geschichte
klaffen Wahrheit und Folklore so weit auseinander
wie in Religions- und Glaubensdingen. Und wohl
keine Epoche der Menschheitsgeschichte hat eine der-
art konzentrierte Falschberichterstattung angezogen
wie das Mittelalter.
Bei dem Stichwort »Inquisition« treffen beide Feh-
lerquellen – das aufgeklärte Schablonendenken in
allen Dingen, die Religion betreffen, und die moderne
Geringschätzung des Mittelalters – sich verstärkend
aufeinander. Und sie produzieren eine geradezu gro-
teske Fehleinschätzung. Denn anders als uns Hunder-
te von Büchern oder Filmen glauben machen wollen,
waren die Inquisitoren des Mittelalters vergleichswei-
se warmherzige, ernsthaft um Gerechtigkeit und Recht
bemühte Leute (»among their contemporaries, the in-
quisitors generally had a reputation for justice and
mercy« – MS Microsoft Enzyklopädie Encarta); zu-
mindest in den Anfangsjahren sahen sie ihre Haupt-
aufgabe eher darin, nicht die Menschen mit Gewalt zu
ihrem Seelenheil zu zwingen, sondern die Menschen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Inquisition 152

vor Gewalt zu schützen.


Vor der Einsetzung der Inquisition durch Papst In-
nozenz III. regierte in Glaubensdingen das gesunde
Volksempfinden; aufgebrachte Gläubige pflegten als
Ketzer verdächtige Personen kurzerhand zu lynchen,
an geordnete Verfahren war in solchen Fällen nicht zu
denken: »Daraufhin reisten wir zum Konzil in Beau-
vais, um die Bischöfe zu befragen, was zu tun sei«,
berichtet der als »unbequemer, selbständig denkender
Kritiker« bekannte Guibert von Nogent, als mehrere
seiner Schutzbefohlenen wegen Ketzerei verleumdet
worden waren. »Inzwischen aber fürchtete das gläubi-
ge Volk die Nachgiebigkeit der Kleriker, lief beim
Gefängnis zusammen, riß die Häretiker heraus, legte
ihnen draußen vor der Stadt Feuer unter und ver-
brannte sie.«
Um dergleichen Übergriffe zu verhindern, verlangte
Papst Innozenz III. Anfang des 13. Jahrhunderts vor
jeder Verurteilung eine genaue Untersuchung (eben
eine »Inquisition«). Mindestens zwei Zeugen waren
beizubringen, die Beschuldigten waren zu hören und
wurden, wenn sie bereuten, ohne großen Schaden wie-
der freigelassen – verglichen mit der Willkür und der
Lynchjustiz davor ein großer Schritt in Richtung auf-
geklärtes Rechtsverständnis. Todesurteile wurden nur
sehr selten, vor allem gegen »Mehrfachtäter« ausge-
sprochen: Von den insgesamt 930 Urteilen, die der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Inquisition 153

bekannte Inquisitor Bernard Gui zwischen 1308 und


1332 gegen Ketzer fällte, lauteten 9 auf Wallfahrt, 22
auf Wüstung des Hauses, 69 auf Ausgrabung schon
verstorbener Ketzer, 132 auf das Tragen von Bußge-
wändern, 143 auf Dienst im Heiligen Land, 307 auf
Kerkerhaft und 132 auf Freispruch; nur in 42 Fällen
erkannte Gui auf Verbrennen. Von den insgesamt 114
Angeklagten, gegen die der Inquisitor und Bischof
von Pamiers, Jaques Fournier, verhandelte (der späte-
re Papst Benedikt XII.), dessen Wirken Emmanuel
LeRoy Ladurie in seinem Klassiker »Montaillou« so
plastisch nachgezeichnet hat, landeten nur fünf auf
einem Scheiterhaufen, und Folterungen hat es in den
von Fournier geleiteten Prozessen anders als in weltli-
chen Verfahren nicht gegeben: »Im übrigen ließ Jac-
ques Fournier seine Gefangenen nicht foltern, um Ge-
ständnisse zu erpressen. Er verstand es, im Gespräch
vor Gericht hinter die Geheimnisse der Vorgeladenen
zu kommen: mit viel Spürsinn und viel Geduld. Wo
er Widersprüche in der Aussage eines Zeugen ent-
deckte, oder zwischen den Aussagen verschiedener
Zeugen Widersprüche fand, ruhte er nicht, bis er sich
diese Widersprüche zu seiner Zufriedenheit erklärt
hatte; und er war anspruchsvoll, denn er wollte die
Wahrheit wissen« (LeRoy Ladurie).
Selbst die vielgeschmähte spanische Inquisition
hob sich in vielfacher Weise positiv von ihrem Um-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Inquisition 153

feld ab; die meisten spanischen Inquisitoren, »unter


ihnen feinsinnige, beredte, weltkluge Juristen«, wid-
meten sich der von der Krone gestellten Aufgabe, die
Religion und die religiöse Praxis zu schützen, »mit
dem gebührenden Ernst, auch mit dem dafür notwen-
digen Eifer, doch bekümmert darüber, daß ihre Tätig-
keit dringend erforderlich sei« (E. Straub). Hexenpro-
zesse, im »freien« England oder Holland an der Ta-
gesordnung, waren für die spanische Inquisition kein
Thema, genausowenig wie sexuell abweichendes Ver-
halten, und auch die Zensur gefährlicher Schriften
wurde von der Inquisition nur kurzfristig aus Angst
vor protestantischen Einflüssen energisch betrieben.
»Schon unter Philipp II. begnügte man sich mit harm-
losen Eingriffen. Wer irrige Meinungen widerlegen
mochte, mußte sich mit ihnen vertraut machen kön-
nen. Das war der aufgeklärte Standpunkt der [spani-
schen] Inquisition, den nur wenige in Europa teilten.
Die Bibliothek des Escorial verfügte über eine stattli-
che Sammlung verbotener Schriften für den wissen-
schaftlichen Gebrauch. Höchst kontroverse Erörterun-
gen, etwa über das Recht, sich die Neue Welt anzu-
eignen, konnten damals nur in Spanien geführt wer-
den.«
Im damaligen England hätte man solche Dissiden-
ten einfach aufgeknüpft.

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LexPI Bd. 2 Inquisition 155

& Lit.: O. Pfister: Calvins Eingreifen in die Hexer-


und Hexenprozesse in Peney, Zürich 1947; J. Du-
vernoy: Le registre d'inquisition de Jacques Four-
nier, Toulouse 1965; A. Miller: Hexenjagd,
Frankfurt a.M. 1997; E. LeRoy Ladurie: Montail-
lou – Ein Dorf vor dem Inquisitor, Frankfurt a.M.
1989; Stichwort »Inquisition« in der MS Micro-
soft Enzyklopädie Encarta, 1994; A. Zimmer-
mann: »Finsteres Mittelalter – Bemerkungen zu
einem Schlagwort«, Miscellanea Medievala 23,
1995, S. 1–19; R. Lemm: Die Spanische Inquisi-
tion – Geschichte und Legende, München 1996;
E. Straub: »Gnade! Robert Lemm rettet die Inqui-
sition«, Frankfurter Allgemeine Zeitung,
1.10.1996; A. Angenendt: Geschichte der Reli-
giosität im Mittelalter, Darmstadt 1997.

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LexPI Bd. 1 Intellektuelle 151

Intellektuelle
Die Intellektuellen sind das moralische Gewissen
einer Nation
Intellektuelle, also Leute, die ihren Lebensunterhalt
mit Schreiben und Reden bestreiten bzw. gerne be-
streiten würden, sind, wenn wir die letzten hundert
Jahre als ein Zeugnis nehmen, eher leichter denn
schwerer als »normale« Menschen weltanschaulich zu
verführen.
Hier ist als ein Beispiel von vielen eine Ode des
obersten DDR-Intellektuellen Johannes R. Becher an
den 10millionfachen Massenmörder Josef Stalin:

Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken.


In jeder Stadt steht Stalins Monument.
Dort wird er sein, wo sich die Reben ranken,
und dort in Kiel erkennt ihn ein Student.

Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte


der Apfelbäume an dem Bodensee,
und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,
und winkt zu sich heran ein Reh.

Wenn sich vor Freude rot die Wangen färben,


dankt man dir, Stalin, und sagt nichts als: »Du!«
Ein Armer flüstert »Stalin« noch im Sterben

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LexPI Bd. 1 Intellektuelle 152

und Stalins Hand drückt ihm die Augen zu.

Jetzt könnte man vielleicht einwenden: Der arme Be-


cher konnte nicht anders, er war DDR-Kulturminister.
Aber andere Intellektuelle jauchzten auch ganz ohne
Zwang: »Als Stalins Herz zu schlagen aufhörte, fühl-
ten sich Millionen Menschen verwaist« (Anna Seg-
hers); »Wir Kunstschaffenden Deutschlands geloben,
in unserer Arbeit die Lehren Stalins zu verwirklichen
und ihm, dem Genius des Friedens, die Treue zu hal-
ten« (Brecht); »Ruhe in Frieden, Josef Stalin« (Ar-
nold Zweig); »Stalin ist der hohe Mittag – der Men-
schen und der Völker Reife« (Pablo Neruda), und so
weiter und so fort.
Und Stalin ist kein Einzelfall; von Mao über Ca-
stro bis zu Ho Chi Minh, ja sogar Pol-Pot und Sad-
dam Hussein, gibt es kaum einen Diktator auf der
Welt, der sich nicht mit einer stattlichen Schar west-
licher Intellektuellen-Groupies schmücken konnte.
Einzige Bedingung: Der Diktator muß den Intellektu-
ellen schmeicheln. Dann aber ist die Einäugigkeit die-
ser Wahrheitssucher nicht zu übertreffen. Der unbe-
stechliche Sozialkritiker George Bernard Shaw z.B.
warf auf seiner Rußlandreise 1930, als gerade Milli-
onen Russen Hungers starben, seine mitgebrachten
Lebensmittel aus dem Fenster seines Zuges – wer
braucht ins Paradies noch Brot und Butter mitzubrin-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Intellektuelle 152

gen! (nachzulesen bei Paul Hollander). »Ich bin noch


nie im Leben so luxuriös gereist«, schreibt André
Gide aus Rußland 1938, zur Zeit der großen Säuber-
ungen. »Immer das beste Abteil im Zug, das beste
Zimmer im Hotel, das beste Essen, das man sich nur
denken kann. Und was für ein Empfang! Was für eine
Aufmerksamkeit! Alles applaudierte, feierte.«
Dieser Applaus ist Chloroform für die sonst so ag-
gressive Kritikfähigkeit so mancher moderner Litera-
ten; solange man ihnen applaudiert, sehen sie die
Welt vor allem durch die Augen derer, die sie loben.
Schriftsteller und Fernsehmacher, die in Frankfurt,
London oder Kopenhagen jeden Obdachlosen wachen
Auges registrieren würden, lassen sich durch die
Elendsviertel Moskaus oder Pekings fahren und sehen
nichts als glückliche Gesichter. (Oder um mit einem
bei Paul Hollander zitierten Rußlandreisenden der
30er Jahre zu sprechen: »Anderswo ist Dreck und
Unrat irgendwie deprimierend, aber hier erschien er
uns so romantisch proletarisch«). Jean Paul Sarte war
entzückt von Fidel Castro – dieser hatte anders als de
Gaulle den Literaten fast als Staatsgast aufgenommen.
(Was bedeutet dagegen schon die Tatsache, daß die
Kubaner unter Castro zu einem der ärmsten Völker
dieser Welt verkommen sind.) Salman Rushdie und
Franz Xaver Kroetz dichten Hymnen auf die Diktato-
ren Nicaraguas – dort wird man anders als in
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Intellektuelle 153

Deutschland oder England vom Kulturminister einge-


laden (daß zur gleichen Zeit ein staatlich organisierter
Massenmord an Indianern stattfand, ist dagegen eher
nebensächlich), und Graham Greene berichtet mit
Tränen in den Augen von einer Rede des Generalse-
kretärs der KPdSU.
Da kann auch die Ausrede nur wenig überzeugen,
man habe, wenn auch spät, das wahre Gesicht der
einstmals verehrten Lichtgestalten durchaus gesehen;
denn die nächste Lichtgestalt ist schon gefunden.
Gegen diese Masse kollektiver Blindheit sind die
wirklich kritischen Intellektuellen wie Hans-Magnus
Enzensberger, George Orwell oder Bertrand Russell
an den Fingern von zwei Händen abzuzählen.
& Lit.: Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die ande-
ren, München 1977; Paul Hollander: Political Pil-
grims, Oxford 1981; Paul Johnson: Intellectuals,
London 1988; Gerd Koenen: Die großen Gesän-
ge, 2. Aufl., Frankfurt 1992.

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LexPI Bd. 2 Interpol 155

Interpol
Interpol jagt internationale Kriminelle
Die als »Interpol« (korrekt IKPO für »Internationale
kriminalpolizeiliche Organisation«) bekannte Behör-
de jagt keine Kriminelle, sie ist eher eine Postvertei-
lerstelle. Die Pariser Interpol-Zentrale tauscht Infor-
mationen aus und leitet Amtshilfeersuchen weiter, sie
ist besetzt mit Fernmeldetechnikern, Schreibkräften,
Übersetzern, auch Juristen, aber keinen Detektiven;
einen Jerry Cotton oder James Bond sucht man bei In-
terpol vergeblich, so etwas wie »Interpol-Agenten«,
die Leute ausfragen und verhaften dürfen, gibt es
nicht.
Diese eigentliche kriminalistische Arbeit obliegt
den sogenannten »Nationalen Zentralbüros« – dem
Bundeskriminalamt in Deutschland, der Generaldirek-
tion für öffentliche Sicherheit in Österreich, dem
Schweizerischen Zentralen Polizeibüro und den ver-
gleichbaren Behörden anderswo. Und diese Ämter
würden sich nicht wenig wundern, wenn ihnen ein In-
terpol-Agent bei ihrer Arbeit helfen wollte.
& Lit.: Stichwort »Interpol« in der Brockhaus Enzy-
klopädie, Wiesbaden 1990; Stichwort vorgeschla-
gen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Irish coffee 155

Irish coffee
Irish coffee kommt aus Irland
Der als »Irish coffee« bekannte Trank aus Kaffee,
Whisky, Sahne, Zucker war bis weit über die Mitte
des 20. Jahrhunderts in Irland völlig unbekannt.
»Irish coffee« wurde quasi in der Luft geboren: Zur
Zeit der ersten mit Passagieren beladenen Transatlan-
tikflüge, als es noch keine geheizten Kabinen und
wenig Wärmendes auf dem Weg von den USA nach
Europa gab, wurde dieses Gemisch den durchgefrore-
nen Passagieren bei der damals noch nötigen Zwi-
schenlandung angeboten. Und diese Zwischenlandung
fand rein zufällig in Irland statt.
& Lit.: »The story of Irish Coffee«, über die Inter-
net-Adresse http://www.classiccalmus.com/
bmgclassics/promotion/irish/irishcoffeestory.html.

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LexPI Bd. 2 Isolierglas 156

Isolierglas
Isolierglasfenster haben ein Vakuum zwischen
den Scheiben
In DIN 1259 Teil 2 »Glas, Begriffe für Glaserzeug-
nisse« ist zum Thema »Isolierglas« folgendes zu
lesen: »Mehrscheiben-Isolierglas ist eine Vergla-
sungseinheit, hergestellt aus zwei oder mehreren
Glasscheiben (Fensterglas, Spiegelglas, Gußglas,
Flachglas), die durch einen oder mehrere luft- bzw.
gasgefüllte Zwischenräume voneinander getrennt
sind.«
Also kein Vakuum. Das wäre auch rein physika-
lisch sehr schwer möglich – ohne Druck im Innern
würden Innen- und Außenscheibe sofort zusammen-
gepreßt, der Schalldämpf- und Isoliereffekt ginge
vollständig verloren.
& Lit.: E. Achenbach: Glas. Moderner Werkstoff für
Fenster und Fassade, Verlag Wegra, 1995; Stich-
wort vorgeschlagen von Klaus Meier.

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LexPI Bd. 2 Italien 156

Italien
Italiener geben viel Geld für Kleidung aus
Nicht, wenn wir der Zeitschrift Prospect glauben dür-
fen (Ausgabe Dezember 1996, S. 5). Danach sind
unter allen europäischen Nationen die Holländer die
größten Kleiderkäufer – 13 Prozent des Haushalts-
gelds entfallen auf die Kleidung. Bei den Italienern
beträgt dieser Anteil 9 Prozent, bei den Engländern
und Franzosen 6 Prozent (die Deutschen werden nicht
genannt).

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LexPI Bd. 2 Iwo Jima 157

Iwo Jima
Das berühmte Foto mit der Fahne zeigt amerika-
nische Soldaten im Kampf um Iwo Jima
Die Eroberung der Insel Iwo Jima Anfang 1945 war
für die Amerikaner eine der verlustreichsten Operatio-
nen des Zweiten Weltkriegs; das berühmte Foto, das
vier amerikanische Soldaten mitten im Kampf beim
Hissen der Stars 'n Stripes auf einem Berg der Insel
zeigt, wurde allerdings erst nach den Kämpfen für die
Presse nachgestellt.
& Lit.: Stichwort »Iwo Jima, Battle of« in der MS
Microsoft Enzyklopädie Encarta, 1994.

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J 158

»Die Wahrheit ist für den Dummen wie eine


Fackel, die den Nebel erleuchtet, ohne ihn zu
vertreiben.«
Helvetius: Vom Menschen ...

»Hoffentlich unterläuft dem Irrtum ein Fehler.


Dann kommt alles von selbst in Ordnung.«
Stanislaw Jerzy Lec,
Das große Buch der unfrisierten Gedanken

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LexPI Bd. 2 Jahr 158

Jahr
Ein Jahr hat immer 365 oder 366 Tage (s.a. ð
»Schaltjahr«)
Das Jahr 1582 bestand nur aus 355 Tagen – anläßlich
der Einführung des Gregorianischen Kalenders wur-
den der 5. bis 14. Oktober ausgelassen.
Solche verschieden langen Jahre gab es auch schon
bei den Römern – sie zählten das Jahr zu 355 Tagen
entsprechend 12 Umläufen des Mondes; alle paar
Jahre wurde dann zum Ausgleich ein Extra-Monat
eingeschoben. Diesem Flickwerk machte Cäsar im
Jahr 46 v. Chr. mit seinem Julianischen Kalender ein
Ende: Hinfort hatte ein »normales« Jahr 365 Tage,
ein Schaltjahr 366 Tage. Aber auch diese Rechnung
war noch ungenau: Es kamen langfristig mehr Tage
zusammen, als den gezählten Umläufen um die Sonne
entsprachen. Deshalb wird seit 1582 bei jedem vollen
Jahrhundert der Schalttag ausgelassen (ausgenommen
solche, die durch 400 teilbar sind; das Jahr 2.000 ist
also ein Schaltjahr); die bis dato zuviel gezählten
Tage wurden im Oktober 1582 eingespart.
& Lit.: K.G. Irwin: The 365 days: the story of the
calendar, Crowell 1963.

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LexPI Bd. 1 Jahr Null 154

Jahr Null
In der Zeitrechnung der Menschheit gibt es kein Jahr
Null. Wir zählen die Jahre vor Christus rückwärts,
also 1 vor Christus, 2 vor Christus und so weiter, und
die Jahre nach Christus vorwärts, also 1 nach Chri-
stus, 2 nach Christus und so weiter. Dabei ist »2 nach
Christus« im Sinn von 2 A.D., also »Anno Domini
Nr. 2«, »im zweiten Jahr des Herrn« zu lesen, so daß
kein »Nulltes Jahr des Herrn« existiert. Mit anderen
Worten, die Jahreszählung springt bei der Zeitenwen-
de gleich von -1 auf +1.
Ein Herrscher wie Augustus, der vom Jahr -31 bis
zum Jahr +14 regierte, war also nicht 31 + 1 + 14 =
46, sondern nur 45 Jahre auf dem Thron (wenn wir
einmal der Einfachheit halber annehmen, daß die Re-
gierungsjahre des Augustus von Anfang -31 bis Ende
+14 zählen).
& Lit.: Konradin Ferrari d'Occhieppo: Der Stern von
Bethlehem in astronomischer Sicht, Gießen 1994
(besonders der Abschnitt »Zeitrechnung und Ka-
lenderwesen« auf den Seiten 96ff.).

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LexPI Bd. 1 Jahrtausendwende 154

Jahrtausendwende
Das dritte Jahrtausend beginnt um Mitternacht
des letzten Tages 1999
Das dritte Jahrtausend beginnt nicht am 1. Januar
2000, sondern am 1. Januar 2001. Denn vom 1.
Januar des Jahres 1 bis zum 31. Dezember des Jahres
1999 sind erst 1999 Jahre vergangen. Damit ist das
Jahr 2000 das 2000. Jahr der modernen Zeitrechnung;
erst wenn dieses Jahr vorüber ist, beginnt Jahrtausend
Nr. 3.

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LexPI Bd. 2 Januar 158

Januar
Je frostiger der Januar, desto freundlicher das
ganze Jahr (s.a. ð »Frühling«, ð »Martinstag«
und ð »Siebenschläfer«)
Diese alte Bauernregel konnte durch moderne meteo-
rologische Kontrollen nicht bestätigt werden: Der
Wetterforscher Horst Malberg hat aus 80 Jahren Ber-
liner Wetterdaten herausgefunden, daß die jährliche
Sonnenscheindauer wie auch die jährlichen Nieder-
schläge, die auf einen kalten Januar folgen, den lang-
jährigen Durchschnitt genauso oft unter- wie über-
schreiten.
Ebenso treffsicher (nämlich gar nicht) ist auch die
verwandte Regel »Im Hornung (Februar) Schnee und
Eis, macht den Sommer lang und heiß«.
& Lit.: P. Bisolli: »Eintrittswahrscheinlichkeit und
statistische Charakteristika der Witterungsfälle in
der Bundesrepublik Deutschland und West-Ber-
lin«, Institut für Meteorologie und Geophysik,
Universität Frankfurt a.M. 1991; H. Malberg:
Bauernregeln aus meteorologischer Sicht, Berlin
1993.

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LexPI Bd. 2 Jefferson 159

Jefferson
Thomas Jefferson war ein »gewaltiger Apostel für
die Demokratie« (s.a. ð »Sklaven 1« in Band 1)
So schrieb Tocqueville über den dritten Präsidenten
der Vereinigten Staaten, seitdem gilt dieser als Muster
des frühen US-Menschenfreunds und Humanisten.
In Wahrheit war Jefferson ein notorischer Sklaven-
treiber; er hielt Farbige für rassisch minderwertig, und
anders als George Washington ließ Jefferson seine
Sklaven niemals frei; sie wurden bis auf fünf nach sei-
nem Tod versteigert.
Nach Jefferson sind Schwarze faul und dümmer als
die Weißen; sie seien, so Jefferson, notorische Schür-
zenjäger, unstet, einer starken Führungshand bedürf-
tig: »Ich vermute daher, daß Schwarze, ob wegen der
Verschiedenheit der Rasse oder wegen Verschieden-
heit der Umstände und der Erziehung, den Weißen so-
wohl körperlich wie geistig unterlegen sind« (P.
Smith, S. 154, Übersetzung von uns).
Anderslautende Ansichten wurden von Jefferson
nicht gern gesehen. »Mein Buch gegen die Sklaverei
ist in Madrid nicht verboten«, klagte Alexander von
Humboldt über die Bemühungen seines Freundes Jef-
ferson, seine – Humboldts – kritische Thesen zur
Sklaverei in den USA zu unterdrücken, »und hat in
den Vereinigten Staaten, die Sie die ›Republik vor-
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LexPI Bd. 2 Jefferson 160

nehmer Leute‹ nennen, nur mit Weglassung all des-


sen, was die Leiden der farbigen, nach meiner politi-
schen Ansicht zum Genusse jeder Freiheit berechtig-
ten Mitmenschen betrifft, kaufbar werden können.«
Verglichen mit den meisten seiner Landsleute war
Thomas Jefferson trotzdem ein aufgeklärter, um so-
zialen Fortschritt ernst bemühter Mensch; nach mo-
dernen Maßstäben war er aber ein Rassist.
& Lit.: P. Smith: Jefferson – a revealing biography,
New York 1976; A. Wasser: »Wir halten den
Wolf an den Ohren ... Thomas Jefferson und das
Institut der Sklaverei«, Amerikastudien 41, 1996;
A. Kosfeld: »Thomas Jefferson und die Sklaverei:
Fehlbarer Apostel«, Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 15.1.1997.
¤ Der »fehlbare Apostel«: Thomas Jefferson, zweiter
von links

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LexPI Bd. 1 Jerusalem 155

Jerusalem
Von der Vertreibung der Juden aus Palästina
durch die Römer bis zur Gründung Israels war
Jerusalem eine überwiegend arabische Stadt
Anders als manche Araber uns gerne glauben machen
würden, haben schon lange vor 1948 in Jerusalem
mehr Juden als Araber gelebt:
Bevölkerung Jerusalems
Jahr Juden Moslems Christen
1844 7120 5000 3390
1876 12000 7560 5470
1896 28112 9560 8748
1922 33971 13413 14699
1931 51222 19894 19335
1948 100000 40000 25000
1967 195700 54963 12646
1970 215000 61600 11500
1983 300000 105000 15000

Diese Zahlen stammen aus der Encyclopaedia Britan-


nica (1844), dem französischen »Indicateur de la
Terre-Sainte« (1876), dem »Palästinensischen Kalen-
der« (1896) sowie aus amtlichen und halbamtlichen
Volkszählungen in Jerusalem und Umgebung; sie
sind teilweise verdächtig genau, und sicher nicht mit
modernen Zählergebnissen zu vergleichen. Aber sie
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LexPI Bd. 1 Jerusalem 155

widerlegen doch die häufige arabische Behauptung,


erst durch die Gründung Israels wäre das bis dahin
vorwiegend arabische Jerusalem zu einer Stadt der
Juden geworden.
& Lit.: Leonard J. Davis: Myths and facts, 1985: A
concise record of the Arab-Israeli conflict, Wa-
shington 1985.

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LexPI Bd. 1 Jesus Christus 155

Jesus Christus
Jesus wurde im Jahr 0 bzw. 1 geboren (s.a. ð
»Jahr Null« und ð »Stern von Bethlehem«)
Nach unserer Zeitrechnung gibt es kein Jahr Null.
Das Geburtsjahr von Jesus Christus ist vielmehr das
Jahr 1.
Vermutlich war Jesus allerdings im Jahre 1 schon 5
bis 7 Jahre alt. Denn wenn er während der Regierung
des Königs Herodes geboren worden ist, kann er nicht
nach dessen Tod geboren worden sein. Und König
Herodes starb mit großer Wahrscheinlichkeit im
Frühjahr des Jahres 4 vor Christus.
Die große Volkszählung des Augustus, wegen
derer sich Maria und Joseph nach Bethlehem bega-
ben, fand im Jahr 8 vor Christus statt. Auch die ver-
schiedenen Interpretationen des Sterns von Bethle-
hem – seien es Planeten, Kometen oder Supernovae –
deuten auf eine Geburt von Jesus ein paar Jahre vor
der Zeitenwende hin: Es gab eine Nova im April des
Jahres -4, einen Kometen zwischen März und Mai des
Jahres -5 und, was viele für das wahrscheinlichste
Original des Sternes halten, eine Dreifach-Konjunkti-
on von Saturn und Jupiter im Jahre -7. Um die Jahre -
1 und +1 dagegen war der Sternenhimmel Palästinas
ruhig.
Das Geburtsjahr 1 wurde Jesus erst viel später, im
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Jesus Christus 156

6. Jahrhundert, zugeschrieben; da waren viele Quellen


und alle Zeitgenossen längst zu Staub zerfallen. Es
entspricht dem Jahr 754 römischer Zeitrechnung, und
wie viele Historiker glauben, hat sich der Mönch Dio-
nysius Exiguus, der diese Rechnung im Auftrag des
Papstes durchführte, dabei um 4 Jahre verrechnet.
Nach seiner eigenen Logik hätte er das Jahr 750 römi-
scher Zeitrechnung ermitteln müssen, nach christli-
cher Zeitrechnung also das Jahr -4. Auch diese Rech-
nung spricht daher für eine Geburt von Jesus vor der
Zeitenwende.
Es gibt aber auch Argumente für eine Geburt im
Jahre 1. Laut Evangelium des Lukas war Jesus bei
seiner Taufe durch Johannes »etwa« 30 Jahre alt.
Diese Taufe fand statt im 16. Jahr der Herrschaft des
Kaisers Tiberius (wiederum nach Lukas), die Geburt
damit 14 Jahre vor Beginn der Herrschaft, d.h. im
Jahr 1 (wenn wir die 30 Jahre wörtlich nehmen).
Um die Debatte nochmals zu verkomplizieren,
kann man aber auch Argumente für eine Geburt im
Jahre 7 nach Christus finden. Denn nach dem Evange-
lium des Lukas hieß der Statthalter Roms in Syrien
zur Zeit der Volkszählung Quirinius, und Quirinius
war Statthalter von 6 bis 7 nach Christus.
& Lit.: H. Conzelmann und A. Lindemann: Arbeits-
buch zum Neuen Testament (9. Aufl.), Tübingen
1988; Konradin Ferrari d'Occhieppo: Der Stern
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LexPI Bd. 1 Jesus Christus 156

von Bethlehem in astronomischer Sicht, Gießen


1994.

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LexPI Bd. 1 Jodeln 156

Jodeln
Nur in Bayern wird gejodelt
Das als Jodeln bekannte Singen mit dem charakteri-
stischen, schnellen Wechsel von Brust- und Kopf-
stimme ist weit über Bayern hinaus verbreitet, etwa in
Polen, Finnland und Rumänien. Außerhalb Europas
kennt man es unter anderem in China, Thailand und
Kambodscha. Besonders beliebt ist das Jodeln auch
in den USA und Kanada – den Weltrekord im Jodeln
mit sieben Stunden 29 Minuten hält der Kanadier
Don Reynolds (27. November 1976 in Brampton,
Ontario).
& Lit.: Roland Michael: Wie, Was, Warum? Augs-
burg 1990.

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LexPI Bd. 1 Journalisten 157

Journalisten
Journalisten berichten neutral und unabhängig
Wir wissen alle, Journalisten sind auch nur Men-
schen; daher berichten sie nie neutral. Verblüffend ist
allein das Ausmaß, mit dem die eigenen Meinungen
und Vorurteile in die verbreiteten Nachrichten einge-
hen. Eine Umfrage des Instituts für Publizistik der
Universität Mainz hat diese Voreingenommenheit ein-
mal an einem konkreten Beispiel festgenagelt: »Der
Ministerpräsident X soll für seine Partei Gelder in
Höhe von etwa 100000 Mark beschafft haben«, diese
fiktive Meldung wurde rund 140 deutschen Zeitungs-
redakteuren vorgelegt. »Aus den Informationen über
den Vorgang geht nicht klar hervor, ob die Geldbe-
schaffung rechtmäßig oder rechtswidrig war.« Bei der
einen Hälfte der Journalisten stand für X der Name
»Strauß«, bei der anderen Hälfte »Rau«. Außerdem
wurden die Journalisten aufgefordert, ihre Sympathien
für Rau oder Strauß auf einer Skala von -3 bis +3 an-
zugeben.
Das Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Redakteure
würden bei einem ihnen unsympathischen Minister-
präsidenten noch vor Abschluß der amtlichen Ermitt-
lungen einen Bericht oder Kommentar des Inhalts
schreiben, daß sie sein Verhalten für rechtswidrig
hielten. Bei einem ihnen sympathischen Ministerprä-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Journalisten 157

sidenten würden das nur 29% der Redakteure tun.


»Die Rechtfertigung der journalistischen Eingriffe in
das Persönlichkeitsrecht, nämlich eine öffentliche
Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit wahrzuneh-
men, hält nach den vorliegenden Ergebnissen einer
empirischen Überprüfung nicht stand«, wird daher in
der Studie konstatiert. »Die öffentliche Aufgabe im
Dienst der Allgemeinheit erhält in einem solchen Fall
vorwiegend eine Art Alibifunktion für publizistische
Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht eines Politikers,
die letztlich zumindest überwiegend von den Eigenin-
teressen der Presse und ihrer Mitarbeiter motiviert
sind.«
& Lit.: Matthias Rosenthal: Der Einfluß von Sympa-
thie oder Antipathie auf das journalistische Ver-
halten von Tageszeitungsredakteuren bei Kon-
flikten um Politiker, Magisterarbeit, Institut für
Publizistik, Universität Mainz, 1987.

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LexPI Bd. 2 Juden 160

Juden
Juden leben mehrheitlich in Israel
Von den rund 16 Millionen Juden auf der Welt leben
6 Millionen in den USA, nur 4 Millionen leben in
Israel.
& Lit.: Das Guinness Buch der Rekorde, ohne Ort,
verschiedene Jahre.

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LexPI Bd. 1 Jungen 1 158

Jungen 1
Es werden im Durchschnitt genausoviele Jungen
wie Mädchen geboren
Jungen- und Mädchengeburten sind nicht gleich wahr-
scheinlich. Seitdem zu diesem Thema offizielle Zah-
len existieren, also seit etwa drei- bis vierhundert Jah-
ren, werden quer durch Zeit und Raum immer mehr
Jungen- als Mädchengeburten registriert.
Die folgende Tabelle teilt einmal alle Geburten in
Deutschland (alte Bundesländer) von 1950 bis 1990
nach Geschlechtern auf:
Jahr Lebendgeboren Lebendgeboren Jungen auf 100
ingesamt männlich Mädchen
1950 812835 420944 107.4
1951 795608 410582 106.6
1952 799080 413043 107.0
1953 796096 410184 106.3
1954 816028 420866 106.5
1955 820128 423235 106.6
1956 855887 441115 106.4
1957 892228 460820 106.8
1958 904465 466861 106.7
1959 951442 490791 106.5
1960 968629 498182 105.9
1961 1012687 520590 105.8
1962 1018552 523801 105.9
1963 1054123 541812 105.8
1964 1065437 547979 105.9
1965 1044328 536930 105.8
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Jungen 1 158

1966 1050345 539492 105.6


1967 1019459 523634 105.6
1968 969825 498202 105.6
1969 903456 464430 105.8
1970 810808 416321 105.5
1971 778526 400423 105.9
1972 701214 360337 105.7
1973 635633 326181 105.4
1974 626373 321480 105.4
1975 600512 309135 106.1
1976 602851 309385 105.4
1977 582344 299735 106.1
1978 576486 296348 105.8
1979 581984 298175 105.1
1980 620657 318490 105.4
1981 624557 320633 105.5
1982 621173 319293 105.8
1983 594177 305255 105.7
1984 584157 300120 105.7
1985 586155 300053 104.9
1986 625963 321184 105.4
1987 642010 330659 106.2
1988 677259 348138 105.8
1989 681537 349179 105.1
1990 727199 373727 105.7

Ähnliche Zahlen wurden schon im alten Preußen, im


London des 17. Jahrhunderts oder im Paris
Napoleons ermittelt: Immer war und ist die Anzahl
Jungen pro 100 Mädchen um die 105 bis 106.
Bei näherer Betrachtung gibt es aber große Unter-
schiede. Schon der berühmte Charles Babbage, einer
der Väter des Computers, hatte Anfang des 19. Jahr-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Jungen 1 159

hunderts festgestellt, daß die Anzahl Jungen pro 100


Mädchen bei ehelichen verglichen mit unehelichen
Geburten immer größer ist. Aber auch das Alter der
Mutter (je älter, desto mehr Mädchen), die Rangfolge
des Kindes (Mädchenanteil bei Erstgeborenen am
kleinsten) und ganz besonders die Hautfarbe, der
Beruf und das Einkommen der Eltern haben einen
Einfluß darauf, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein
Kind ein Junge bzw. ein Mädchen wird. So beobach-
tet man überall auf der Welt bei Farbigen einen höhe-
ren Mädchenanteil als bei Weißen, oder hatten Fami-
lien mit hohem Einkommen in Deutschland 1989 (alte
Bundesländer) 112 Jungen pro 100 Mädchen, Famili-
en mit niedrigem Einkommen (weniger als DM
4000,-Brutto/Monat) aber nur 104.
Natürlich sind alle diese Faktoren nicht die eigent-
lichen Ursachen. Aber sie können helfen, den wahren
Gründen auf die Spur zu kommen. Wenn es zum Bei-
spiel stimmt, wie manche Mediziner glauben, daß
zum Zeitpunkt der Befruchtung der Anteil Jungen
sogar nochmals höher liegt, männliche Embryos aber
eher tot- bzw. fehlgeboren werden, würde das mehrere
der obigen Sachverhalte auf einen Schlag erklären:
reiche Mütter können sich während der Schwanger-
schaft mehr schonen (und so eher die Fehlgeburt eines
männlichen Embryos verhindern). Außerdem sind sie
meist verheiratet und weiß.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Jungen 1 160

& Lit.: Manuela Müller: »Determinanten der sekun-


dären Sexualproportion und Verteilung der Ge-
schlechter in Familien«, Diplomarbeit, Fachbe-
reich Statistik, Universität Dortmund, September
1992.

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LexPI Bd. 1 Jungen 2 160

Jungen 2
Man kann den Männeranteil der Bevölkerung er-
höhen, wenn jedes Ehepaar mindestens einen
Jungen haben muß
Paradoxerweise kann eine bewußte Familienplanung
die Verteilung der Geschlechter nicht berühren. In
dem Umfang etwa, wie heute immer noch Jungen be-
vorzugt werden, könnten Familien, wenn das erste
Kind ein Junge ist, eher auf weitere Kinder verzichten
und so, wie manche glauben, die Balance der Ge-
schlechter durcheinander bringen.
Aller Emanzipation zum Trotz scheint nämlich
genau das, also eine Bevorzugung männlichen Nach-
wuchses, auch in Deutschland immer noch der Fall zu
sein. So ist etwa unter Kindern aus Ein-Kind-Famili-
en der Jungenanteil mit Abstand am größten (vergli-
chen mit Kindern aus größeren Familien) – nicht not-
wendigerweise, weil das erste Kind so oft ein Junge
ist, sondern genau umgekehrt: weil Jungen oft Ein-
Kind-Familien generieren. Ist erst mal ein Junge da,
ist die Familienplanung abgeschlossen.
Solche Verhaltensweisen können aber, so paradox
das auf den ersten Blick auch scheint, allenfalls die
Zahl der Kinder pro Familie, nicht aber den Jungen-
oder Mädchenanteil bei den Geburten insgesamt be-
rühren. Selbst in dem Extremfall einer Orwell-Dikta-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Jungen 2 160

tur, wo jede Familie solange Kinder zeugen muß, bis


ein Junge darunter ist (also Ein-Kind-Familien per
Konstruktion nur Jungen haben können), bleibt, wie
man mit einer kleinen Anleihe bei der Wahrschein-
lichkeitsrechnung zeigen kann, das Verhältnis Jung-
en-Mädchen davon völlig unberührt: wenn etwa auf
»normale« Weise auf 100 Mädchen 105 Jungen kom-
men, so bleibt dieses Verhältnis völlig unverändert,
wenn jede Familie mindestens einen Jungen haben
muß. Gegen Naturgesetze rennt selbst der Große Bru-
der vergeblich an.
Wer das nicht glaubt, hier ist ein Zahlenbeispiel:
Angenommen, die Wahrscheinlichkeit für Junge wie
für Mädchen wäre genau 1/2, und jede Familie hört
mit dem Kinderkriegen auf, sobald ein Junge da ist.
Dann hat die Hälfte der Familien gerade ein Kind,
nämlich einen Jungen. Von der anderen Hälfte hat
wiederum die Hälfte zwei Kinder (Mädchen-Junge),
die Hälfte mehr als zwei Kinder (aber mindesten zwei
Mädchen). Diese restliche Hälfte von der Hälfte mit
den mindestens zwei Mädchen teilt sich wiederum in
zwei Hälften, eine mit genau drei Kindern (Mädchen-
Mädchen-Junge), und eine mit mehr als drei Kindern,
davon die ersten drei nur Mädchen, und so weiter. Je
mehr Kinder eine Familie hat, desto mehr Mädchen
hat sie auch, und gleicht damit die Ein-Kind-Familien
mit nur Jungen aus. Zählt man dann alle Kinder zu-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Jungen 2 161

sammen, sind am Ende genausoviele Mädchen wie


Jungen darunter, trotz aller Jungen-Vorzugspolitik.
& Lit.: Christian Seidl: »The desire for a son is the
father of many daughters: A sex ratio paradox«,
Journal of Population Economics 8, 1995,
185–204.

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LexPI Bd. 2 Jus primae noctis 160

Jus primae noctis


Es gab einmal ein »Recht der ersten Nacht«
Ein »Privileg des Grundherrn auf Beiwohnung in der
Brautnacht einer Grundhörigen«, so das »Handwör-
terbuch zur deutschen Rechtsgeschichte«, hat niemals
existiert; trotz verschiedentlicher Erwähnung in diver-
sen alten Schriften fehlt es völlig an Beweisen, die
einschlägigen Quellen sind inzwischen als Fälschun-
gen, Fehlinterpretationen oder Dorflegenden nachge-
wiesen, der ganze Mythos hat sich unter der Lupe mo-
derner Historiker ins Nichts verflüchtigt.
In den Rechtsbüchern des Mittelalters wie der Neu-
zeit, in den Dorfordnungen und sogenannten »Wei-
stümern« (Sammlungen von Gewohnheitsrecht) des
14. bis 17. Jahrhunderts wird nirgendwo von einem
»Recht der ersten Nacht« gesprochen; als die Bauern
bei ihrem Aufstand 1525 die Abschaffung von allen
möglichen Mißständen verlangten, ist dieser nicht
dabei. Allenfalls ein Passus in einem Schweizer Wei-
stum von 1543 könnte als Indiz gewertet werden –
»und so die Hochzeit vergat, so sol der brütgam den
meyer by sim wib lassen ligen die ersten nacht, oder
er sol sy lösen mit 5 Schilling 4 Pfg« –, aber das war
eher als Erinnerung an die »Ablösesumme« zu verste-
hen, die ein leibeigener Brautwerber für Frauen aus
dem Herrschaftsgebiet eines anderen Leibesherrn zu
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Jus primae noctis 161

zahlen hatte; wer diese nicht aufbringen konnte,


bekam auch keine Frau, die Drohung mit dem Bei-
schlaf durch den »meyer« war wie vieles in diesen
alten Weisbüchern als Scherz zu lesen.
Genauso entpuppen sich auch verschiedene Erwäh-
nungen des Rechtes der ersten Nacht in französischen
und spanischen Quellen beim näheren Hinsehen als
Satiren oder absichtliche Verleumdungen: Indem er
etwa den Landadeligen derartige Perversitäten unter-
stellte, konnte der französische König diese besser
unterdrücken, stand sogar selbst noch als der Hüter
von Moral und Ordnung da. Und auch Beaumarchais
benutzte diese Legende in seinem Lustspiel »Le ma-
riage du Figaro« (die Grundlage für Mozarts Oper)
aus offen politischen Motiven: Um die antiaristokrati-
sche Stimmung der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts
anzuheizen, läßt er den Figaro dem Grafen danken,
weil dieser auf sein Recht der ersten Nacht verzichtet
habe.
In einer von der Kirche und der Religion dominier-
ten Gesellschaft wie dem Mittelalter oder auch der
frühen Neuzeit, die Jungfräulichkeit als hohes Gut
verehrte und Männer verachtete, die ein »gefallenes«
Mädchen heiraten mußten, wäre eine Einrichtung wie
das Recht der ersten Nacht völlig undenkbar gewesen;
jeder auf diesem Recht bestehende »meyer«, Pfarrer
oder Ritter hätte sich am nächsten Morgen auf dem
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Jus primae noctis 161

Scheiterhaufen vorgefunden.
& Lit.: E.A. Osenbrüggen: Deutsche Rechtsalterthü-
mer aus der Schweiz, Zürich 1858 (besonders Ka-
pitel 12: »Das ius primae noctis«); Otto Gierke:
Der Humor im deutschen Recht, Berlin 1871; K.
Schmidt: Jus primae noctis. Eine geschichtliche
Untersuchung, Freiburg 1881; W. Schmidt-Bleib-
treu: Jus primae noctis im Widerstreit der Mein-
ungen. Eine historische Untersuchung über das
Recht der ersten Nacht, Bonn 1988; R. Kunz:
»Das angebliche Recht der ersten Nacht«, Genea-
logie, Heft 1–2/1996; A. Boureau: Das Recht der
ersten Nacht – Zur Geschichte einer Fiktion, Düs-
seldorf 1996; Stichwort angeregt von Bernd Hu-
esmann.

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K 162

»Unsichtbar wird die Dummheit, wenn sie


genügend große Ausmaße angenommen hat.«
Bertolt Brecht

»An nichts muß man mehr zweifeln als an


Sätzen, die zur Mode geworden sind.«
Georg Christoph Lichtenberg

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LexPI Bd. 2 Kaffee 162

Kaffee
Kaffeetrinken fördert Herzinfarkte
Kaffee und Herzinfarkt, so die bisher umfangreichste
Studie zu diesem kontroversen Thema (Willett u.a.,
1996), haben miteinander nichts zu tun: Unter 87.000
amerikanischen Krankenschwestern, viermal zwi-
schen 1980 und 1990 zu Kaffeekonsum und Herzlei-
den befragt, zeigten sich trotz großer Differenzen
beim Konsum von Kaffee bezüglich Herzkrankheiten
keine Unterschiede: 20 Prozent der Frauen tranken
überhaupt keinen Kaffee, 10 Prozent mehr als fünf
Tassen täglich (der Rest hatte einen Konsum irgend-
wo dazwischen), aber der koronaren Herzkrankheit
war das egal. Die insgesamt 748 in dieser Dekade bei
den untersuchten Frauen aufgetretenen Herzinfarkte
z.B. waren über Kaffeefreunde und Kaffeefeinde
gleichmäßig verteilt. (Die Studie beschränkte sich auf
Frauen, weil bis dato vor allem Männerkollektive be-
trachtet worden waren.)
& Lit.: »Kein Herzinfarkt durch Kaffeetrinken«, Der
Tagesspiegel, 12.5.1996: W. Willett u.a.: »Coffee
consumption and coronary heart disease in
women«, Journal of the American Medical Asso-
ciation 275, 1996.

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LexPI Bd. 2 Kain und Abel 162

Kain und Abel


Adam und Eva hatten nur die Söhne Kain und
Abel
Nach der Ermordung Abels kam Eva nochmals nie-
der: »Sie gebar einen Sohn und nannte ihn Set (Setz-
ling); denn sie sagte: Gott setzte mir anderen Nach-
wuchs ein, weil ihn Kain erschlug« (Genesis 4,25).
Danach lebte Adam laut Bibel noch 800 Jahre »und
zeugte [weitere] Söhne und Töchter«.
& Lit.: Die Bibel – Einheitsübersetzung, Stuttgart
1980.

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LexPI Bd. 1 Kainsmal 162

Kainsmal
Ein Kainsmal brandmarkt einen Mörder
Anders als viele glauben, die lange nicht die Bibel ge-
lesen haben, wollte Gott den Brudermörder Kain mit
diesem Mal nicht strafen, sondern ganz im Gegenteil
beschützen. Als Kain nämlich nach der Ermordung
Abels Reue zeigte und verzweifelt ausrief: »Rastlos
und ruhelos werde ich auf Erden sein, und wer mich
findet, wird mich erschlagen«, versicherte ihm Gott,
niemand würde ihm zu nahe treten, und »machte ...
dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der
ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ
sich im Land Nod nieder, östlich von Eden.«

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LexPI Bd. 1 Kaiserschnitt 162

Kaiserschnitt
Kaiserschnitt kommt von Kaiser = Caesar
Vermutlich hat der Kaiserschnitt seinen Namen von
der sogenannten »lex regia« oder »lex caesarea« (von
caedere = ausschneiden), ein römisches Gesetz, wo-
nach schwangeren, vor der Geburt verstorbenen Frau-
en das Kind aus dem Bauch geschnitten werden soll-
te, weniger um es zu retten, als um es getrennt von
seiner Mutter zu begraben. Anders als viele in Anleh-
nung an den römischen Schriftsteller Plinius glauben,
der den Namen Caesar als »den aus dem Mutterleib
geschnittenen« erklärte, wurde der große Julius Cae-
sar daher auch nicht als erster Mensch per Kaiser-
schnitt geboren, denn seine Mutter hat die Geburt um
viele Jahre überlebt.
Die ersten Kaiserschnitte an lebenden Müttern gab
es im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert. So soll
ein Schweinschneider Nufer aus dem Schweizer Kan-
ton Thurgau um das Jahr 1500 in letzter Verzweif-
lung sein eigenes Kind per Kaiserschnitt von seiner
lebenden Frau entbunden haben. Der erste in Deutsch-
land an einer lebenden Mutter ausgeführte Kaiser-
schnitt geschah um 1610 in Wittenberg.
& Lit.: Michael Grant: Caesar, München 1985; Karl
Sudhoff: Kurzes Handbuch der Geschichte der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kaiserschnitt 162

Medizin, Leipzig 1922.

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LexPI Bd. 1 Kalauer 163

Kalauer
Kalauer kommen von der Stadt Calau
Die als Kalauer bekannten Wortplattheiten haben
ihren Namen von dem französischen »Calembour« (=
Wortspiel); dieser Ausdruck wurde dann im Deut-
schen »in lautlicher Anlehnung an die Stadt Calau bei
Cottbus volksetymologisch nachgebildet«.
& Lit.: Das große Deutsche Wörterbuch, München
1985.

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LexPI Bd. 1 Kalbsleberwurst 163

Kalbsleberwurst
Kalbsleberwurst muß Kalbsleber enthalten
Eine Kalbsleberwurst muß keine Kalbsleber enthal-
ten. Die deutschen »Leitsätze für Fleisch- und
Fleischerzeugnisse« verlangen nur, daß ein als
»Kalbsleberwurst« deklariertes Nahrungsmittel sog.
»grob entsehntes« Kalb- oder Jungrindfleisch enthält;
zur Herkunft der Leber, die in der Kalbsleberwurst
natürlich auch enthalten ist, schreiben diese Leitsätze
überhaupt nichts vor.
Die Bezeichnung »Kalbsleberwurst« meint daher
eine Leberwurst, die Kalbfleisch enthält. Woher die
Leber kommt, wird dadurch nicht gesagt. Und in der
Tat enthält Kalbsleberwurst in aller Regel Schweine-
leber – Kalbsleber schmeckt den meisten Menschen
viel zu bitter.
& Lit.: Deutsches Lebensmittelbuch, Bundesanzei-
ger, 1992, S. 90–91.

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LexPI Bd. 1 Kalkutta 163

Kalkutta
Vico Torriani hat nur teilweise recht mit seinem
Schlager:

Kalkutta liegt am Ganges


Paris liegt an der Seine,
doch daß ich so verliebt bin,
das liegt an Madeleine.

Wenn Kalkutta am Ganges liegt, dann liegt Frankfurt


am Rhein – Kalkutta ist rund 100 km vom Ganges
entfernt.
¤ Kalkutta und Umgebung – der Ganges fließt weit
im Nordosten an der Stadt vorbei

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LexPI Bd. 1 Kalorien 164

Kalorien
Eine Kalorie macht ein Gramm Wasser ein Grad
wärmer
Die folgende, unter Biertrinkern weit verbreitete
Theorie ist leider falsch: Einen Liter Bier von 10
Grad Celsius auf die Körpertemperatur von 37 Grad
Celsius zu erwärmen, kostet den Körper 37 minus 10
mal 1000 = 27000 Kalorien. Ein Liter Bier enthält
selbst aber nur 400 Kalorien, d.h. das Aufwärmen des
Bieres braucht mehr Kalorien auf als das Bier uns zu-
führt – man nimmt durch das Trinken eisgekühlten
Bieres ab.
Diese Rechnung ist falsch, weil es sich bei den be-
kannten Kalorienangaben bei Nahrungsmitteln nicht
um Kalorien, sondern um Kilokalorien handelt. Eine
Kalorie in Sinne der Physik ist diejenige Energiemen-
ge, die nötig ist, um ein Gramm Wasser ein Grad zu
erwärmen (und zwar, wenn man es genau wissen will,
von 14,5 auf 15,5 Grad Celsius). Eine Kalorie im
Sinn der meisten Diätbücher und Energietabellen ist
dagegen diejenige Energiemenge, die nötig ist, 1000
Gramm Wasser, als die tausendfache Menge, um ein
Grad zu erwärmen. Der korrekte Ausdruck dafür wäre
Kilokalorie, aber aus Gründen, die im Dunkel der Hi-
storie verschwimmen, spart man diese zwei Extrasil-
ben gerne ein.
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LexPI Bd. 1 Kalorien 164

Wenn wir also lesen: ein Gramm Fett enthält 9 Ka-


lorien, so heißt das: Kilokalorien. Und 27000 »nor-
male« Kalorien sind nur 27 Kilokalorien, und damit
verbleiben von den 400 Kilokalorien in einem Liter
kaltem Bier immer noch 373 übrig, um den Bierbauch
weiter vorzutreiben.
& Lit.: Rolf Fischer und Klaus Vogelsang: Größen
und Einheiten in Physik und Technik, 6. Auflage,
Berlin 1993.

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LexPI Bd. 2 Kamel 163

Kamel
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein
Reicher in das Himmelreich (s.a. ð »Reichtum 1«
in Band 1)
Diese bekannte Bibelstelle aus Matthäus 19,24 und
Markus 10,25 beruht auf einem Übersetzungsfehler:
Das aramäische Originalwort »gamta« (= Seil oder
Tau) wurde mit »gamla« (= Kamel) verwechselt. Ge-
meint war also: Eher geht ein Schiffstau durch ein
Nadelöhr, als ein Reicher in den Himmel. Das ist zu-
gegebenermaßen auch nicht einfach, aber nicht mehr
ganz so ausgeschlossen wie die gleiche Übung mit
Kamel.
Vermutlich wären ohne diesen Übersetzungsfehler
auch nicht so viele sogenannte »Anti-Zitate« erfunden
worden, die sich auf dieses Kamel beziehen:
– »Eher geht ein Jaguar durch den TÜV als ein Kamel
durchs Nadelöhr.« (Werner Mitsch)
– »Nur Kamele gehen durchs Nadelöhr.« (Bert Ber-
kenstätter)
– »Kein Reicher geht durch ein Nadelöhr, aber es
kommen viele Kamele in den Himmel.« (Gottfried
Edel)
– »Ein Fachidiot ist ein Kamel, welches durch ein
Nadelöhr guckt.« (Gerhard Uhlenbruck)
– »Zynismus: Wenn das Kamel nicht durchs Nadelöhr
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LexPI Bd. 2 Kamel 163

geht und man zu ihm sagt, es solle die Sache nicht


so eng sehen.« (Roland Michael)
– »Numerus clausus: Ein Nadelöhr, das auch für Ka-
mele durchgängig ist.« (Gerhard Uhlenbruck)
– »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß
es etwas Gescheites einfädelt.« (Gerhard
Uhlenbruck)
– »Eher kommt ein Kamel in den Zoo als ein Reicher
in des Teufels Küche.« (Werner Mitsch)
– »Ein reiches Kamel geht durch Helsingör.« (Ulrich
Erckenbrecht)
& Lit.: Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig über-
setzt?, 3. Auflage, Gütersloh 1989; Eckhard Hen-
scheid, Gerhard Henschel und Brigitte Kronauer:
Kulturgeschichte der Mißverständnisse, Stuttgart
1997 (besonders der Abschnitt »Gott und die
Bibel«); Wolfgang Mieder: Verkehrte Worte,
Wiesbaden 1997; Stichwort vorgeschlagen von
Marc Schuhmacher.

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LexPI Bd. 1 Kamele 164

Kamele
Kamele speichern Wasser in den Höckern
Kamele speichern Fett, nicht Wasser, in den Höckern.
Daß sie so lange ohne Wasser überleben können – bis
zu einer Woche bei aktiver Arbeit und bis zu zwei
Wochen, wenn sie ruhen –, liegt vor allem daran, daß
Kamele wenig schwitzen (ihre Körpertemperatur kann
auf 40 Grad ansteigen, bevor sie schwitzen) und daß
sie die Feuchtigkeit ihrer ausgeatmeten Luft zum Teil
zurückgewinnen: Nachts, wenn die Kamele schlafen,
saugen ihre Nasenhöhlen das Wasser aus der Atem-
luft.
Außerdem haben Kamele ein kluges Kühlsystem:
dichte Haare auf dem Rücken, die vor Sonne schüt-
zen, und dünne Haare auf dem Bauch, durch welche
die Körperwärme nach unten in den Schatten strahlt.

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LexPI Bd. 1 Kanada 165

Kanada
Kanada liegt nördlicher als Deutschland
Die meisten Kanadier leben auf der Höhe von Italien:
Toronto liegt südlicher als Mailand, und selbst das
kalte Montreal liegt südlicher als alle deutschen Städ-
te; insgesamt leben rund 20 Millionen der 27 Million-
en Kanadier südlicher als der Bodensee.
Daß wir dennoch »Kanada« gern mit »kalt« verbin-
den, liegt daran, daß es dort trotz aller südlichen Brei-
tengrade im Winter weitaus kälter werden kann als
hierzulande, und daß ein großer Teil der Landesfläche
in sehr nördliche Regionen reicht; aber dort leben nur
sehr wenige Menschen.

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LexPI Bd. 1 Kanarische Inseln 165

Kanarische Inseln
Die Kanarischen Inseln haben ihren Namen von
den Kanarienvögeln
Die Kanarischen Inseln haben ihren Namen von dem
lateinischen canis = Hund. In den ersten überlieferten
Berichten zu diesen Inseln, die auf den römischen Ge-
lehrten Plinius zurückgehen, ist von wilden Hunden
die Rede, die dort in großen Mengen anzutreffen
seien, deshalb nannte man die Inseln allgemein »Ca-
naria«. Die Kanarienvögel haben ihren Namen von
den Kanarischen Inseln, und nicht umgekehrt.
& Lit.: Stichwort »Canarys« im Microsoft CD-ROM
Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Kannibalismus 165

Kannibalismus
Kannibalen verspeisen ihre Opfer aus Hunger
(s.a. ð »Du bist was du ißt«)
Der unter fast allen Naturvölkern der Erde verbreitete
Kannibalismus (auch »Anthropophagie« genannt, von
griechisch »Genuß von Menschenfleisch«) dient nicht
der Ernährung; vielmehr sollen die Seele und die
Kraft des Opfers in den Esser übergehen.
Die aus vielen Witzblättern bekannten Missionare,
die in den Kochtöpfen der Kannibalen schmoren, sind
also historisch inkorrekt: Kein Kannibale hätte mit
diesen Gestalten tauschen oder ihre Seelen überneh-
men wollen.
& Lit.: Stichwort »Kannibalismus« in Brockhaus
Enzyklopädie, Mannheim 1970.

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LexPI Bd. 1 Kap der Guten Hoffnung 166

Kap der Guten Hoffnung


Das Kap der Guten Hoffnung ist der südlichste
Punkt des afrikanischen Kontinents
Das Kap der Guten Hoffnung ist nicht der südlichste
Punkt Afrikas. Etwa 160 Kilometer östlich und 65
Kilometer südlich vom Kap der Guten Hoffnung liegt
noch das sogenannte Nadelkap (Cap Agulhas).
Genausowenig ist das Kap Hoorn der südlichste
Punkt des amerikanischen Kontinents. Anders als
beim Kap der Guten Hoffnung kommt zwar weiter
südlich nichts mehr nach, aber Kap Hoorn liegt nicht
auf dem Festland; es ist nur die Südspitze der Insel
Hornos im Feuerland-Archipel. Der südlichste Punkt
des Festlands ist die Halbinsel Brunswick 260 Kilo-
meter weiter nördlich.

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LexPI Bd. 2 Kap Horn 164

Kap Horn
Das Kap Horn sieht aus wie ein Horn
Das Kap Horn (auch Kap Hoorn), die südlichste Spit-
ze Südamerikas, hat seinen Namen nicht von seiner
äußeren Erscheinung, sondern von der Heimatstadt
Hoorn des Holländers Willem Schouten, der 1616 an-
geblich als erster dieses Kap umsegelte.
In Wahrheit war vermutlich der Engländer Francis
Drake schon 30 Jahre früher um das Kap gesegelt; je-
doch habe Elisabeth I. die Entdeckung zum Staatsge-
heimnis erklärt, so die Londoner Times; man glaubte
damals, daß der Pazifik vom Atlantik nur durch die
von Spanien kontrollierte Magellanstraße weiter
nördlich zu erreichen wäre. Und die zweite Route
weiter südlich wollte man in England natürlich kei-
nem Ausländer verraten ...
& Lit.: »Kap Hoorn war Elisabeths Staatsgeheim-
nis«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.8.1997.

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LexPI Bd. 2 Kapitän 164

Kapitän
Der Kapitän verläßt ein sinkendes Schiff zuletzt
Bei einer Totalhavarie auf See gilt das Gesetz: Rette
sich, wer kann. Das gilt auch für den Kapitän. Nach
internationalem Seerecht macht sich also ein Kapitän
in keiner Weise strafbar, der bei sinkendem Schiff als
erster in die Rettungsboote steigt. Zwar gilt das unge-
schriebene Gesetz, daß die Mannschaft und natürlich
auch der Kapitän dabei den Passagieren und speziell
den Frauen oder Kindern einen Vortritt läßt, aber wie
diverse Vorfälle mit italienischen Passagierdampfern
der letzten Jahre zeigen, darf man auf diese Tradition
nicht immer bauen.
& Lit.: Schriftliche Auskunft der Wirtschaftsbehörde
der Freien und Hansestadt Hamburg, Abteilung
Hafen und Luftverkehr, 1997.

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LexPI Bd. 2 Karies 164

Karies
Karies entsteht durch Zucker
Nach neueren Studien entsteht Karies an unseren Zäh-
nen nicht in erster Linie durch Zucker, so wie bisher
angenommen, sondern durch gekochte Stärke: Karies
entsteht, wenn Bakterien in den Zahnbelägen Säure
produzieren, und wie amerikanische Forscher heraus-
gefunden haben, ist diese Säureproduktion nur unmit-
telbar nach dem Verzehr von süßen Speisen am
höchsten. »Während die zuckerhaltigen Produkte die
Mundhöhle verhältnismäßig schnell verlassen und die
Säureproduktion damit deutlich abnimmt, haben Le-
bensmittel, die gekochte Stärke enthalten, eine relati-
ve lange Verweildauer.« Die gekochte Stärke wird im
Mund allmählich zu Glukose, und diese fördert die
Säureproduktion und damit das Entstehen von Karies
viel nachhaltiger als der längst verschwundene Zuk-
ker.
& Lit.: dpa-Wissenschaftsdienst, 6.2.1998; »Süß
und unschuldig«, Forschung und Lehre 4/1998, S.
203.

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LexPI Bd. 1 Karl der Große 166

Karl der Große


Karl der Große hat bei Verden an der Aller 4000
Sachsen abgeschlachtet
Diese Horrorgeschichte, die man immer wieder in
Biographien und Geschichtsbüchern liest, beruht ver-
mutlich auf einem historischen Mißverständnis. Wahr
ist, daß die Sachsen Karl dem Großen mehr als andere
zu schaffen machten und daß beide Seiten in diesem
Kampf auf Leben und Tod nicht allzu zimperlich zu
Werke gingen. Aber daß Karl gleich 4000 gefangenen
Sachsen auf einmal die Köpfe abschlagen ließ, wäre
selbst nach damaligen Maßstäben ein unentschuldbar-
er Exzeß gewesen.
Wir wissen von diesem angeblichen Gemetzel vor
allem aus den um 1100, also mehr als 300 Jahre spät-
er geschriebenen Aufzeichnungen des Erzbischofs
Jean Turpin aus Reims. Und wie leicht aus 40 Toten
in der Überlieferung 400 und dann 4000 Tote werden,
ist auch aus anderen Zusammenhängen nur zu gut be-
kannt. Vielleicht hat aber auch nur ein nachlässiger
Kopist aus delocati (= umgesiedelt) ein decollati (=
hingerichtet) werden lassen. Denn daß Karl wie vor
ihm schon die Römer aufsässige Barbarenstämme ein-
fach umsiedelte statt sie umzubringen, ist eine weitere
Erklärung. Noch heute zeugen Ortsnamen wie Sach-
senhausen bei Frankfurt oder Sachsen bei Ansbach
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LexPI Bd. 1 Karl der Große 166

von der Herkunft der Menschen, die dort wohnen.


& Lit.: William Lewis Hertslet: Der Treppenwitz
der Weltgeschichte, 11. Auflage, Berlin 1965.

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LexPI Bd. 1 Karotten 167

Karotten
Karotten sind gut für die Augen
Karotten enthalten Karotin, den Rohstoff für das
wichtige Vitamin A, und weil der Mensch ohne Vita-
min A im Halbdunkel schlecht sieht (bei vollständiger
Dunkelheit sieht keiner etwas, mit oder ohne Vitami-
ne), gelten Karotten oft als gutes Mittel gegen
schlechtes Sehen allgemein.
In Wahrheit haben Vitamine – von dieser schlech-
ten Sicht im Halbdunkel einmal abgesehen – mit den
Augen nichts zu tun. Und selbst für eine gute Sicht
bei Dämmerung sind Extra-Karotten überflüssig,
denn die normale Alltagskost enthält Vitamin A
genug.

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LexPI Bd. 2 Kartoffeln 1 165

Kartoffeln 1
Es schickt sich nicht, Kartoffeln mit dem Messer
zu zerteilen (s.a. ð »Eier 2«)
Diese Regel stammt noch aus den Zeiten, als die
Schneiden der Messer noch aus Eisen oder rostanfälli-
gem Stahl gefertigt waren. Auch in Silberbestecken
waren zumindest die Messerschneiden in der Regel
weiterhin aus Eisen, dieses Eisen verband sich che-
misch mit der Stärke der Kartoffeln, das ergab einen
üblen Beigeschmack und deshalb schnitt man Kartof-
feln niemals mit dem Messer. Mit modernen Chrom-
Mangan-Bestecken kann das aber nicht passieren,
man darf also die Kartoffeln heute ruhigen Gewissens
mit dem Messer schneiden.
& Stichwort vorgeschlagen von Maria Krämer.

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LexPI Bd. 2 Kartoffeln 2 165

Kartoffeln 2
Die meisten Nährstoffe der Kartoffel befinden
sich in oder direkt unterhalb der Schale
Wahr ist: Die mehr als 200 Inhaltsstoffe der Kartoffel
verteilen sich recht ungleichmäßig auf die Knolle.
Stärke, Zucker und Proteine finden sich vorzugsweise
in der Mitte, Vitamine und Mineralien wie Magne-
sium, Natrium, Kalium oder Calcium mehr am Rand.
In der Schale sammeln sich heute vor allem Dünge-
mittel und Pestizide; sie ist auf keinen Fall das
Filetstück der Knolle. (Allenfalls ist sie als Schutz
gegen das Auslaugen der Wirkstoffe beim Kochen zu
gebrauchen; man hat nachgewiesen, daß gekochte
Pellkartoffeln einen höheren Vitamin- und Mineral-
stoffanteil haben als Kartoffeln, die erst nach dem
Schälen gekocht worden sind).
Aber anders als viele glauben, konzentriert sich
insbesondere das in der Kartoffel enthaltene Vitamin
C nicht in der Schale oder in der Schicht direkt darun-
ter, sondern nochmals ein paar Millimeter tiefer; es
geht also durch Schälen nicht verloren. Allenfalls
muß man beim Schälen mit einem Schwund an B-Vi-
taminen rechnen, aber dieser wird von Lebensmittel-
chemikern angesichts der verbleibenden Nährstoffe
als akzeptabel angesehen. Die folgende Tabelle von
Wirths (1996) stellt die in 100 g geschälten und un-
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LexPI Bd. 2 Kartoffeln 2 166

geschälten Kartoffeln enthaltenen Mineralien und Vi-


tamine gegenüber:
Mit Schalen Ohne Schalen
Natrium 3 mg 3 mg
Kalium 330 mg 410 mg
Calcium 5 mg 6 mg
Phosphor 40 mg 50 mg
Magnesium 16 mg 20 mg
Eisen 0,3 mg 0,4 mg
Fluorid 8 μg 10 μg
Carotin 4 μg 10 μg
Vitamin E 0,1 mg 0,1 mg
Vitamin B1 0,08 mg 0,10 mg
Vitamin B2 0,38 mg 0,05 mg
Niacin 1,0 mg 1,2 mg
Vitamin B6 0,25 mg 0,20 mg
Vitamin C 14 mg 17 mg

& Lit.: L. Acker u.a. (Hrsg.): Handbuch der Lebens-


mittelchemie, Berlin 1968; Katalyse Umweltgrup-
pe Köln e.V. (Hrsg.): Chemie in Nahrungsmit-
teln, Frankfurt a.M. 1981; R. Grunnenel und F.
Persch: Rund um die Kartoffel, Leipzig 1985; W.
Ternes: Naturwissenschaftliche Grundlagen der
Lebensmittelzubereitung, Hamburg 1994; W.
Wirths: Kleine Nährwert-Tabelle der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung, 39. Auflage, Frank-
furt a.M. 1996.
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LexPI Bd. 1 Käse 167

Käse
Mäuse essen ganz besonders gerne Käse
Mäuse essen viele Dinge – Butter, Haferflocken,
Schokolade, Schinken, alles was sie in der Küche fin-
den. Eine besondere Vorliebe für Käse haben sie nach
Meinung der meisten Zoologen nicht. Die Vermutung
entstand vermutlich dadurch, daß früher wohl vor
allem Käse ohne Schutz und Aufsicht in Küchen und
Vorratsräumen liegenblieb, und deshalb besonders oft
zur Mäusebeute wurde.

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LexPI Bd. 2 Kaspar Hauser 167

Kaspar Hauser
Kaspar Hauser war ein badischer Fürstensohn
Diese Legende ist nach einer vom Spiegel und von
der Stadt Ansbach veranlaßten DNS-Analyse des Blu-
tes an Kaspar Hausers Kleidern falsch.
Das Findelkind unbekannter Herkunft Kaspar Hau-
ser war 1828 in Nürnberg im Alter von 16 Jahren auf-
gegriffen worden; er konnte kaum sprechen, benahm
sich seltsam, war – so sagte er dann schließlich – fern
von den Menschen in einem dunklen Keller aufge-
wachsen, und zwar als ein aus dem Weg geräumter,
angeblich bei der Geburt verstorbener Erbprinz von
Baden, wie die Leute schon bald anfingen zu trat-
schen.
Nach diesen bis zu den Spiegel-Analysen 1996 viel
geglaubten Tratsch-Geschichten war Kaspar Hauser
ein Opfer der Gräfin Hochberg, zweite Ehefrau des
Markgrafen Friedrich von Baden, die lieber einen
ihrer eigenen Söhne auf dem Fürstenthron gesehen
hätte. Aber dazu mußten zunächst einmal alle männli-
chen Nachkommen aus der ersten Ehe ihres Mannes
sterben, was diese auch der Reihe nach dann taten:
Der Erbprinz selber starb bei einem Unfall, sein älte-
ster Enkel zwei Wochen nach der Geburt (angeblich
war es dieser Prinz, der, im Kindbett mit einem toten
Säugling vertauscht, später als Kaspar Hauser wieder-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Kaspar Hauser 167

auferstand), ein weiterer Enkel starb im Alter von


einem Jahr »an den Folgen eines beschwerlichen
Zahnausbruches«, und die zwei Söhne des Erbprinzen
selber starben ebenfalls kurz hintereinander im Alter
von knapp 30 Jahren. Damit war der Weg für den äl-
testen Sohn der Gräfin Hochberg frei, der dann auch
wie vorgesehen nach dem Tod Karl-Friedrichs 1830
den Herzogsthron bestieg.
Bei so vielen für die Gräfin günstigen unwahr-
scheinlichen Ereignissen hintereinander kann man es
den Menschen und den Medien nicht verübeln, wenn
sie hier nicht an Zufall glauben und hinter allem ein
System vermuten (zumal Karl-Friedrich selbst auf
dem Sterbebett geäußert haben soll, er selbst und
seine Söhne seien vergiftet worden, und bereits ein er-
ster Anschlag auf Kaspar Hauser 1829 alle Hobbyde-
tektive Deutschlands inklusive des Königs von Bay-
ern auf den Plan gerufen hatte, der 500 Gulden Beloh-
nung für die Ergreifung des Attentäters zur Verfügung
stellte). Als daher Kaspar Hauser nach einem zweiten
geheimnisvollen und von keinem Zeugen beobachte-
ten Anschlag 1833 an den Folgen einer Stichverlet-
zung stirbt, ist allen Zeitgenossen sonnenklar, daß
hier ein unbequemer Thronfolger beseitigt werden
sollte.
Aber welcher Art auch immer die Intrigen waren,
mit denen damals Thronfolgen geregelt wurden – Ka-
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LexPI Bd. 2 Kaspar Hauser 168

spar Hauser hatte damit nichts zu tun. Wie zwei par-


allele Analysen des forensischen Dienstes des briti-
schen Innenministeriums und des Instituts für Rechts-
medizin der Universität München übereinstimmend
und zweifelsfrei ergeben haben, können die bis heute
sichtbaren Blutreste an Kaspar Hausers Kleidern
nicht von einem Nachkommen des Erbprinzen von
Baden stammen.
& Lit.: »Kaspar Hauser – der entzauberte Prinz«,
Der Spiegel 48/1996.
¤ Doch kein Fürstensohn – der berühmte Findling
zeitgenössisch dargestellt

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LexPI Bd. 1 Kasseler Rippespeer 167

Kasseler Rippespeer
Kasseler Rippespeer kommt aus Kassel
Kasseler Rippenspeer oder Rippespeer ist geräucher-
tes Schweinerippenfleisch, hat aber mit dem hessi-
schen Kassel vermutlich nichts zu tun. Stattdessen
geht der Name auf einen Fleischermeister Kassel,
Cassel oder Casel aus Berlin zurück, der als erster
den bis dahin nur gepökelten Schweinerippenspeer
geräuchert angeboten haben soll.
Allerdings gibt es für diese Version keine schriftli-
chen Quellen; sie ist nur mündlich überliefert, so daß
auch die hier als falsch zitierte Herkunft nicht ganz
auszuschließen ist.
& Lit.: Fritz C. Müller: Wer steckt dahinter, Eltville
1964.

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LexPI Bd. 2 Katakomben 1 168

Katakomben 1
Die frühen Christen nannten ihre unterirdischen
Begräbnisstätten »Katakomben«
Die frühen Christen nannten ihre unterirdischen Be-
gräbnisstätten »coemeteria« – Plätze der Ruhe. Das
Wort »Katakomben« kommt von dem Flurstück »ad
catacumbas« an der Via Appia, wo sich eine dieser
mehr als 40 »coemeteria« befand; es wurde erst viel
später zum Sammelbegriff für unterirdische Begräb-
nisstätten überhaupt.
Diese Katakomben sind ferner weder eine Erfin-
dung der frühen Christen, noch auf Rom beschränkt:
Die Sitte, Tote in unterirdischen Felskammern zu be-
statten, war überall in der Antike weit verbreitet, es
gibt Katakomben auf Malta und Sizilien, in Tunesien,
im Libanon und in Ägypten; auch die Juden kannten
Katakomben.
& Lit.: Stichwort »catacomb« in der Encyclopaedia
Britannica, 15. Auflage, Chicago 1994.

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LexPI Bd. 2 Katakomben 2 169

Katakomben 2
Die römischen Katakomben waren ein beliebter
Zufluchtsort der ersten Christen
Die römischen Katakomben waren als Verstecke wie
auch als Stätten der Begegnung viel zu klein. Sie
waren ab der Mitte des 2. nachchristlichen Jahrhun-
derts von den frühen Christen als reine Begräbnisstät-
ten ausgehoben worden; zuweilen traf man sich auch
an den Gräbern von Märtyrern, um »in Freude und
Fröhlichkeit (...) die Wiederkehr des Tages seines
Martyriums zu feiern«, aber für »reguläre« Gottes-
dienste oder als Verstecke wurden Katakomben nie
genutzt (ihre Lage war den Behörden wohlbekannt, es
gab nur wenige Aus- und Eingänge, die Christen hät-
ten wie die Mäuse in der Falle festgesessen).
& Lit.: J. Stevenson: Im Schattenreich der Katakom-
ben, Bergisch Gladbach 1980.

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LexPI Bd. 2 Katerfrühstück 169

Katerfrühstück
Ein »Katerfrühstück« hat etwas mit Katern zu
tun (s.a. ð »Muskelkater«)
»Kater« war Mitte des 19. Jahrhunderts unter den
Studenten der Universität Leipzig ein flapsiger Aus-
druck für »Katarrh«; ein »Katerfrühstück« war ein
Frühstück nach einem ganz besonderen »Katarrh« –
einen, den man sich bei Auerbach im »Keller« holte.
& Lit.: Vitus B. Dröscher: Sie turteln wie die Tau-
ben, Hamburg 1988; Stichwort vorgeschlagen
von Jürgen Kloppenburg.

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LexPI Bd. 2 Katharer 169

Katharer
Die Katharerbewegung ist im Süden Frankreichs
entstanden
Die im Südfrankreich des 12. und 13. Jahrhunderts so
mächtige Bewegung der Katharer hatte ihre Wurzeln
in einer ganz anderen Gegend als da, wo heute die
Ruinen ihrer Burgen stehen: im deutschen Köln am
Rhein. Als »Catharos, id est mundos« – »Katharer,
das heißt Reine« gaben sich gewisse, am 5. August
des Jahres 1163 im Dom zu Köln verhörte »Ketzer«
aus (»Ketzer« ist eine Verballhornung von »Katha-
rer«).
Die Katharer lehnten den Pomp der etablierten Kir-
che ab; von allen religiösen Schriften respektierten sie
allein das Evangelium des Johannes, sie hielten alles
Weltliche für böse (inklusive ihren eigenen Körper,
den sie durch übertriebenes Fasten und vegetarische
Ernährung quälten), sie sahen diese Erde als ein Jam-
mertal, das es möglichst schnell in Richtung Seelen-
heil zu überwinden gelte. Diese nach der Jahrtausend-
wende quer durch Europa weit verbreitete Geisteshal-
tung hatte zwar ihre Hochburg im Süden Frankreichs
um Toulouse, geboren wurde sie jedoch zu Köln am
Rhein.
& Lit.: E. LeRoy Ladurie: Montaillou – Ein Dorf
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LexPI Bd. 2 Katharer 170

vor dem Inquisitor, Frankfurt a.M. 1989.

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LexPI Bd. 2 Katzen 1 170

Katzen 1
Katzen trinken gerne Milch
Längst nicht alle Katzen lieben Milch; die meisten
trinken lieber Wasser. Manchen Katzen fehlt auch ein
zur Verdauung der Milch nötiges Enzym, sie bekom-
men nach jedem Schluck Milch regelrechte Darmbe-
schwerden. Nur wenn nichts anderes zu haben ist,
nippen solche Katzen auch an Milch.
Falsch ist auch, daß Katzen gerne Mäuse fressen –
Katzen jagen Mäuse vor allem, um damit zu spielen
(inklusive umzubringen). Aber das bedeutet nicht,
daß sie die Mäuse dann auch fressen. Viel lieber fres-
sen Katzen, wenn sie können, Hasen, Heuschrecken
und Regenwürmer, die erlegten Mäuse aber lassen sie
oft liegen.
& Stichwort vorgeschlagen von Judith Sievers.

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LexPI Bd. 2 Katzen 2 170

Katzen 2
Katzen sind wasserscheu
Es gibt Katzenarten wie etwa die türkische Van-
Katze, die für ihr Leben gerne schwimmen. Auch nor-
male deutsche Hauskatzen haben weit weniger Angst
vor Wasser, als die meisten glauben, sie lassen sich
nur ungern von uns Menschen darin untertauchen.
& Stichwort vorgeschlagen von Judith Sievers.

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LexPI Bd. 2 Katzen 3 171

Katzen 3
Das Schnurren bei Katzen bedeutet gute Laune
Katzen schnurren auch dann, wenn sie sich fürchten
oder wenn sie Schmerzen haben – das Schnurren soll
nur heißen: Hier ist eine Katze! Auf diese Weise la-
ssen z.B. neugeborene und noch blinde Katzenbabys,
wenn sie sich verlaufen haben, ihre Mütter wissen, wo
sie nach dem Kind zu suchen haben.
& Stichwort vorgeschlagen von Judith Sievers.

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LexPI Bd. 2 Katzen 4 171

Katzen 4
Katzen können auch im Dunklen sehen
Katzen sehen bei schlechtem Licht weit besser als
z.B. Menschen, aber bei völliger Dunkelheit sind sie
genauso blind wie wir. Das überlegene Sehvermögen
bei Dämmerlicht verdankt die Katze der Größe ihrer
Augen und vor allem dem Aufbau ihres Augenhinter-
grundes: Sie hat hinter der Netzhaut eine Gewebe-
schicht (Tapetum lucidum), die wie ein Spiegel das
eintretende Licht reflektiert. So trifft das Licht gleich
zweimal auf die Netzhaut, von vorne und von hinten,
und kann so effizienter wirken. Auch die Netzhaut
selber ist entsprechend ausgerüstet, es finden sich dort
weit mehr Stäbchen (verantwortlich für die Sehstärke)
als Zapfen (verantwortlich für Farben).
& Lit.: Ulrich Klever: Knaurs großes Katzenbuch,
München 1985; Stichwort vorgeschlagen von Ju-
dith Sievers.

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LexPI Bd. 2 Kauen 171

Kauen
Gut gekaut ist halb verdaut
»Nun, wie sieht's aus?« läßt Javier Marias in »Mor-
gen in der Schlacht denk an mich« einen Hofschran-
zen nach dem Befinden des spanischen Königs fra-
gen.
»Ich weiß nicht, Señor Tello. Bei Ihrem Eintreffen
war er noch damit beschäftigt, sein Müsli zu fletcheri-
sieren.«
Offenbar war der König wie viele andere auf einen
amerikanischen Arzt namens Fletcher hereingefallen,
der um die Zeit des Ersten Weltkriegs das ausführli-
che Kauen unserer Nahrung als Mittel gegen alle
Übel dieser Erde angepriesen hatte.
In Wahrheit hätte der König sein Müsli genausogut
auch ungekaut herunterwürgen können. Auch wenn
die Verdauung unseres Essens schon im Mund be-
ginnt (während wir kauen, beginnt der Speichel, ge-
wisse Kohlenhydrate zu zersetzen, siehe Stichwort ð
»Karies«), eigentlich verdaut wird erst in Darm und
Magen, und zwar unabhängig davon, wie das Essen
dort ankommt – ob in großen oder in kleinen Stücken,
alles wird gleichermaßen chemisch zerlegt und aufbe-
reitet und im Stoffwechsel verwertet.
Gutes Kauen kann also bestenfalls verhindern, daß
wir an einem Schinken oder einem Lammfilet erstik-
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LexPI Bd. 2 Kauen 172

ken; für den Nährstoffhaushalt ist das Kauen unerheb-


lich.
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991.

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LexPI Bd. 1 Kaugummi 168

Kaugummi
Kaugummi kommt aus den USA (s.a. ð »Ketch-
up«)
Schon die alten Griechen haben Kaugummi gekannt –
das Harz des Mastixbaumes (Pistazienbaumes), das
sie zum Zähneputzen und für einen frischen Atem
kauten. Die amerikanischen Indianer kauten Fichten-
harz, und der Chiclegummi (eingedickter Milchsaft
des mittelamerikanischen Sapotillbaumes), die Basis
vieler neuzeitlicher Kaugummis, wurde ebenfalls
schon lange vor den ersten weißen Amerikanern von
den Mayas sehr als Kaugummi geschätzt.
& Lit.: Stichwort »Chewing Gum« in Encyclopaedia
Britannica, 15. Auflage, Chicago 1976.

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LexPI Bd. 2 Kaviar 1 172

Kaviar 1
Der beste Kaviar kommt aus Rußland
Der beste und teuerste Kaviar kommt aus dem Iran.
An dem zu Persien gehörenden südlichen Rand des
Kaspischen Meeres ist das Wasser tiefer und sauberer
als in den ehemals sowjetischen, heute russischen,
turkmenischen, aserbaidschanischen und kasachischen
Gewässern weiter nördlich, und die Verarbeitung
wird besser kontrolliert.
Außer im Kaspischen Meer wird Kaviar auch noch
im Asowschen Meer und im Schwarzen Meer ge-
fischt. Aber nach Aussagen von Profi-Köchen soll
diese Ware nicht die Qualität des Kaviars aus Persien
erreichen.

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LexPI Bd. 2 Kaviar 2 172

Kaviar 2
Der beste Kaviar ist der schwarze mit den kleinen
Körnern
Das ist nach Aussage von Kennern so nicht richtig.
Genausowenig wie man einen guten Burgunder mit
einem guten Bordeaux vergleichen könne, sei ein Ver-
gleich zwischen einem guten »Sewruga« (der mit den
kleinen grauen oder schwarzen Körnern), »Schip«
(der mit den mittelgroßen bräunlich-gelben) und
einem »Beluga« (der mit den großen grauen oder
schwarzen Körnern) möglich. Was zählt, ist allein die
Verarbeitung und die Herkunft der Fische, die diese
Eier produzieren.
& Lit.: E.-M. Zizia: »Caviar: veillez au grain«, Le
Figaro, 4.4.1997.

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LexPI Bd. 2 Kelten 173

Kelten
Die Kelten waren kulturlose Barbaren
Dieser Ruf, der den Kelten seit 2000 Jahren anhängt,
besteht nicht ganz zu Recht, wenn man der modernen
Forschung glauben darf. Auch wenn Aristoteles den
Kelten jegliche »Denkfähigkeit und Kunstfertigkeit«
abspricht und die bekannten Kelten Asterix und Obe-
lix zuweilen bei den Tischmanieren sparen: Das Volk
der Kelten, das vor 2500 Jahren das Herz Europas
von Paris bis Wien besiedelte, hatte nach neueren
Ausgrabungen weit mehr Kultur, als bisher angenom-
men. Keltische Handwerker waren Meister der Glas-
verarbeitung, sie hielten die »gesamteuropäische Spit-
zenstellung im Wagenbau« (so der Kieler Archäologe
Alfred Haffner), ihre Metallhelme und Kettenpanzer
gehörten zu den besten Waffen, die es damals in Eu-
ropa gab, »zumindest auf technisch-ökonomischem
Gebiet hoben sich die keltischen Menschen damit
leuchtend von ihren nördlichen Nachbarn, den Ger-
manen, ab« (Schulz).
& Lit.: G. Herm: Die Kelten, Düsseldorf 1975; M.
Schulz: »Fahndung im Druidenland«, Der Spiegel
31/1997.

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LexPI Bd. 1 Kernkraftwerke 168

Kernkraftwerke
Kernkraftwerke sind die größten Strahlenemit-
tenten (s.a. ð »Radioaktivität«)
Unsere alltägliche Strahlenbelastung schwankt von
Tag zu Tag und Ort und zu Ort. Im Durchschnitt be-
trägt sie zwischen 100 und 200 Millirem pro Kopf
und Jahr, davon ein bis zwei Millirem aus Kernkraft-
werken. Der Rest ist Höhenstrahlung (auf Meereshö-
he 30 Millirem pro Jahr, auf dem Feldberg im
Schwarzwald 80 Millirem), Erdstrahlung (Radon)
und die Strahlenbelastung durch Röntgen- und CT-
Untersuchungen, die im Durchschnitt weitere 30 Mil-
lirem pro Kopf und Jahr beträgt.
& Lit.: Robert Gerwin: So ist das mit der Kernener-
gie, Düsseldorf 1978; »Wo die Erde strahlt«, Test
4/94, S. 394ff.

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LexPI Bd. 1 Ketchup 168

Ketchup
Ketchup ist eine amerikanische Erfindung (s.a. ð
»Chop Suey« und ð »Kaugummi«)
Diese Tomatensoße kam als »Ke-tsiap« mit chinesi-
schen Einwanderern nach Amerika. Dort entdeckte sie
1869 ein 25-jähriger Nachkomme deutscher Immi-
granten aus der Pfalz mit Namen Henry John Heinz
und machte sie durch raffinierte Werbung und indu-
strielle Massenproduktion zu dem urtypischen ameri-
kanischen Produkt, das wir heute alle kennen.
Wir haben hier also das Spiegelbild zum Chop
Suey: Das eine gilt als echt chinesisch, kommt aber
aus den USA, das andere gilt als uramerikanisch,
kommt aber in Wahrheit aus dem Fernen Osten.
& Lit.: »Importgeschichten: Ketchup«, Fernsehsen-
dung WDR III, 8.9.1995.

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LexPI Bd. 2 Keuschheitsgürtel 1 173

Keuschheitsgürtel 1
Der Keuschheitsgürtel ist eine Erfindung des Mit-
telalters
Der angeblich seit den Kreuzzügen gebrauchte mittel-
alterliche Keuschheitsgürtel, auch »Florentiner Gür-
tel« oder »Venusgürtel«, ist »ein reines Phantasiepro-
dukt des letzten Jahrhunderts« (de Gregorio). Im Mit-
telalter gab es diese Dinge nicht; die ältesten Abbil-
dungen stammen aus dem 15. Jahrhundert. Boccaccio,
der in seinem »Decameron« aus dem 14. Jahrhundert
keine Gelegenheit zu erotischen Anspielungen vor-
überziehen ließ, erwähnt keine Keuschheitsgürtel, die
Geschichten von den wackeren Kreuzrittern, die der-
art die Treue ihrer zurückgelassenen Frauen sichern
wollten, sind von späteren Historikern und Dichtern
frei erfunden worden ...
Wie man heute mit chemischen Analysen nachwei-
sen kann, stammen die meisten »mittelalterlichen«
Keuschheitsgürtel in westlichen Museen aus dem frü-
hen 19. Jahrhundert; sie wurden vor allem in engli-
schen Fabriken hergestellt und sind deshalb heute in
seriösen Museen auch nicht mehr zu sehen – im
Musée de Cluny in Paris, im Germanischen National-
museum in Nürnberg oder im British Museum in
London, die unter ihren Exponaten früher solche
»mittelalterlichen« Stücke liegen hatten, sind diese
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LexPI Bd. 2 Keuschheitsgürtel 1 174

heute aus den Auslagen verschwunden.


& Lit.: (auch zum nächsten Stichwort): J. Faucon-
ney: La ceinture de chasteté: son histoire, son em-
ploi, autrefois et aujourd'hui, Paris 1904; E.J.
Dingwall: The girdle of chastity, London 1931;
J.J. Brunner: Der Schlüssel im Lauf der Zeit, Bern
1988; H. van Maanen: Kleine encyclopedie van
misvattingen, Amsterdam 1994; Stichwort
»Keuschheitsgürtel« in der Brockhaus Enzyklopä-
die, Wiesbaden 1990; Walter de Gregorio: »Die
rostende Mär von der frommen Unterwäsche«,
Sonntagszeitung, 1.9.1996; Stichwort vorgeschla-
gen von Wolfgang Polasek.

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LexPI Bd. 2 Keuschheitsgürtel 2 174

Keuschheitsgürtel 2
Mit Keuschheitsgürteln wollten Männer die
Treue ihrer Frauen erzwingen
Viele der in England Anfang des 19. Jahrhunderts
hergestellten Keuschheitsgürtel wurden von Dienst-
mädchen getragen, um sich vor zudringlichen Dienst-
herren zu schützen. Andere dienten dem Schutz der
jungen Männer vor sich selbst: Die meisten Keusch-
heitsgürtel wurden jungen Männern zwecks Verhinde-
rung von Onanie verordnet.
Falsch ist auch, daß Keuschheitsgürtel immer sexu-
elle Lust erschweren sollten: diverse der in den engli-
schen Fabriken des frühen 19. Jahrhunderts herge-
stellten Keuschheitsgürtel waren »mit Anus- und Va-
ginastöpsel und allerlei Nägeln und Nieten« (de Gre-
gorio) als luststeigerndes Werkzeug für sadomasochi-
stische Praktiken versehen.

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LexPI Bd. 2 Kind und Kegel 175

Kind und Kegel


»Kind und Kegel« hat etwas mit Kegeln zu tun
Wenn einer »mit Kind und Kegel« eine Reise tut,
dann nimmt er außer seinen ehelichen Kindern nicht
seine Kegel, sondern seine Nebenfrauen alias »Kebs-
weiber« und die mit diesen gezeugten Kinder alias
»Kegel« mit.
& Stichwort vorgeschlagen von Friedrich von Ey-
nern.

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LexPI Bd. 1 Kindermord 169

Kindermord
Der Kindermord von Bethlehem hat wirklich
stattgefunden
Die Legende vom Kindermord zu Bethlehem ist
genau das: eine Legende. Denn das berüchtigte Ma-
ssenmorden, bei dem König Herodes angeblich alle
Bethlehemer Kinder unter zwei Jahren niedermetzeln
ließ, hat niemals stattgefunden.
Die einzige Quelle für diese Greueltat ist das
Evangelium des Matthäus. Danach kamen, als Jesus
geboren wurde, drei morgenländische Weise nach Je-
rusalem und fragten nach dem neugeborenen König
der Juden, um ihn anzubeten. Davon hörend und »not
amused«, wie moderne Blaublüter zu sagen pflegen,
läßt der aktuelle König, also Herodes, die drei Weisen
zu sich kommen und erfährt, daß sein Nachfolger und
Konkurrent in Bethlehem geboren sei.
Um diesen Konkurrenten schnellstmöglich zu be-
seitigen, schickt Herodes die Weisen mit dem Ver-
sprechen von dannen, auch ihn, Herodes, dem nächst-
en König zuzuführen, sobald sie ihn gefunden hätten.
»Ziehet hin und forschet fleißig nach dem Kindlein;
und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, daß ich
auch komme und es anbete«, kann man bei Matthäus
lesen.
Jedoch werden die Weisen durch einen Engel des
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LexPI Bd. 1 Kindermord 169

Herrn gewarnt; sie ziehen nach Hause, ohne Herodes


zu informieren. Und auch Josef und Maria werden ge-
warnt; sie fliehen mit ihrem Kind nach Ägypten – ge-
rade noch rechtzeitig, denn Herodes, voller Zorn über
den Wortbruch der drei Weisen, hat schon seine Hen-
ker losgeschickt »und ließ alle Kinder zu Bethlehem
töten und an ihren Grenzen, die da zweijährig und
darunter waren, nach der Zeit, die er mit Fleiß von
den Weisen erlernet hatte«.
Soweit Matthäus. Die anderen Evangelisten erwäh-
nen davon nichts, und auch in sonstigen zeitgenössi-
schen Chroniken und Quellen ist diese selbst für da-
malige Zeiten ungewöhnliche Barbarei nicht aufge-
führt. Auch der jüdische Geschichtsschreiber Flavius
Josephus, der rund 100 Jahre später lebte und in sei-
ner vielbändigen Geschichte des jüdischen Volkes
kaum ein gutes Haar an Herodes läßt, erwähnt die
Morde nicht.
Aber das sind nicht die einzigen Gründe, die Dar-
stellung von Matthäus anzuzweiflen. Herodes starb
im Jahr -4 unserer Zeitrechnung, und auch wenn wir
zugestehen, daß Jesus nicht im Jahr 0 geboren wurde
(s.a. ð »Jahr Null«), war Herodes damals doch schon
an die 70 Jahre alt; vor neugeborenen Säuglingen
hatte er vermutlich wenig Angst. Außerdem war er
kein unumschränkter Herrscher, sondern Vasall des
Kaisers Augustus, und dieser behielt sich die Bestäti-
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LexPI Bd. 1 Kindermord 170

gung aller Todesurteile vor. Und Exzesse wie den


Kindermord in Bethlehem hätte Augustus nie gedul-
det – 10 Jahre nach dem Tod des Herodes setzte er
dessen Nachfolger wegen weitaus geringerer Verge-
hen einfach ab.
Matthäus hat diese Mordgeschichte also höchst-
wahrscheinlich frei erfunden, vermutlich, um die Be-
deutung des Messias zu betonen. Denn solche
mißglückten Attentate werden seit jeher vielen Gro-
ßen der Weltgeschichte im nachhinein gern angedich-
tet. Genauso soll etwa der durch einen Hellseher ge-
warnte römische Senat aus Angst vor einer neuen Kö-
nigsherrschaft beschlossen haben, alle Jungen des Ge-
burtsjahrganges von Augustus umzubringen (was nur
dadurch verhindert wurde, so die Sage, daß alle Sena-
toren mit schwangeren Frauen diesen Beschluß hinter-
trieben, in der Hoffung, ihr eigener Sprößling könnte
der künftige König sein), oder ist auch der große
Moses nur knapp einem ähnlichen Massenmord ent-
kommen: »Alle Söhne, die geboren werden, werft ins
Wasser«, sprach der Pharao, und nur durch ein Wun-
der konnte Moses überleben (seine Mutter setzte ihn
auf eine Art Floß in den Nil, wo niemand anderer als
die Tochter des Pharao ihn dann später fand).
Solche Anekdoten wurden schon in der Antike
nicht für bare Münze, sondern vor allem als literari-
sche Umschreibung für die Bedeutung des intendier-
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LexPI Bd. 1 Kindermord 170

ten Opfers genommen, und genau in diesem Licht ist


wohl auch der Bethlehemer Kindermord zu sehen: um
die Bedeutung des Messias zu unterstreichen, ließ ihn
Matthäus auf wundersame Weise einem fingierten
Massenmord entgehen.
& Lit.: Abraham Schalit: König Herodes – der
Mann und sein Werk, Berlin 1969; Gerhard
Prause: Herodes der Große – König der Juden,
Hamburg 1977.
¤ Matteo di Giovanni: Bethlehemitischer Kinder-
mord, 1488

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LexPI Bd. 1 Kinn 170

Kinn
Ein fliehendes Kinn bedeutet Willensschwäche
Ein fliehendes Kinn läßt genausowenig auf den Cha-
rakter eines Menschen schließen wie eine Glatze oder
wie ein Hühnerauge. Es gab zu allen Zeiten sehr wil-
lensstarke Menschen mit sehr schwachem Kinn
(Friedrich der Große ist ein gutes Beispiel), genauso
wie sehr willensschwache Menschen mit sehr starkem
Kinn (die aber mangels Durchsetzungsvermögen nie
berühmt geworden sind, daher auch keine Beispiele).
Obwohl diese Tatsache allein noch nicht beweist, daß
kein Zusammenhang besteht, sind doch die modernen
Psychologen fast einhellig der Meinung, daß die Phy-
siognomie, also die »Wissenschaft« von dem Zusam-
menhang zwischen äußerem Erscheinen und innerem
Charakter, zum größten Teil auf Aberglauben beruht.
Wenn zum Beispiel viele Chinesen und andere
Asiaten glauben, daß lange und dicke Ohrläppchen
auf große innere Werte deuten (falls Sie sich jemals
über die riesigen Ohrlappen der Buddha-Statuen ge-
wundert haben – jetzt wissen Sie den Grund) oder daß
die Augenbrauen eines Menschen Auskunft über
Glück im Leben geben (allerdings nur bis zum Alter
35; danach ist das Glück an der Nase abzulesen) oder
daß unser Mund mit unseren Nieren in Verbindung
stehe (wenn das eine sich entzündet, entzündet sich
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LexPI Bd. 1 Kinn 171

auch das andere), so ist das wissenschaftlich kaum zu


halten. Allenfalls können gewisse Gesichtsmuskeln,
die Gefühle oder Stimmungen ausdrücken und die bei
verschiedenen Menschen verschieden stark entwickelt
sind, über ihren Träger etwas verraten; aber die de-
taillierten Rückschlüsse vom Äußeren auf das Innere,
wie sie die Physiognomen treiben, sind kaum mehr als
Kaffeesatz- und Handlinienleserei.
¤ Friedrich der Große alias der alte Fritz: ein schwa-
ches Kinn und große Willensstärke

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LexPI Bd. 2 Kinsey Report 175

Kinsey Report
Der Kinsey Report hat ein wahres Bild der Se-
xualmoral gezeichnet (s.a. ð »Geldbörsen« und
ð »Umfragen«)
Die meisten Thesen, die Alfred Kinsey in seinen be-
rühmten Büchern »Sexual Behaviour in the Human
Male« (New York 1948) und »Sexual Behaviour in
the Human Female« (New York 1953) vertritt, sind
entweder erfunden oder wissenschaftlich unseriös ge-
wonnen; nach modernen Maßstäben müßten seine Re-
sultate heute als Betrug gewertet werden.
Nach Kinsey haben die Hälfte aller Männer und ein
Viertel aller Frauen Geschlechtsverkehr auch außer-
halb der Ehe (vor 50 Jahren absolut tabu), haben 69
Prozent aller Männer Erfahrungen mit Prostituierten,
haben zehn von hundert Männern homosexuelle Er-
lebnisse, haben fast die Hälfte aller auf Farmen aufge-
wachsenen Jungen Geschlechtsverkehr mit Tieren
usw. Diese Zahlen schlugen wie eine Bombe in den
Was-sind-wir-doch-für-liebe-Leute-Pudding des da-
maligen gesellschaftlichen Selbstverständnisses, sie
torpedierten die gesamte amerikanische und damit in-
direkt auch europäische Nachkriegs-Sozialmoral.
Denn was fast alle machen, das kann doch nicht ver-
boten oder unmoralisch sein ...
Vermutlich war genau das auch Kinseys Absicht –
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LexPI Bd. 2 Kinsey Report 176

die westliche Sicht von Sexualität und vom Verhältnis


der Geschlechter, so wie sie noch vor 50 Jahren
herrschte, durch seine Bücher umzustoßen. Und das
ist ihm auch gelungen. Aber nicht, indem er Fakten
zeigte, sondern indem er Fakten künstlich fabrizierte:
Kinseys Stichproben waren verzerrt, seine Auswer-
tungsmethoden dilettantisch und die meisten seiner
Ergebnisse schon zu Beginn der Untersuchung festge-
legt. »Für Mut und Überzeugungstreue würde ich den
Werken Kinseys eine 1 vergeben«, hören wir heute
einen Harvard-Psychologieprofessor zu dieser Vor-
gangsweise sagen, »für die Qualität der Wissenschaft
nur eine 4.«
Wenn wir einen Psychiater fragen: »Wie viele
Menschen sind verrückt?« und der Psychiater sieht
sich nur in seiner Praxis um, so sagt er: »80 Prozent.«
Ähnlich ist Kinsey vorgegangen, er fragte vorzugs-
weise Prostituierte, Pädophile oder Kriminelle. Auf
diese Weise könnten wir auch zeigen, etwa indem wir
die Insassen einer Trinkerheilanstalt oder eines Frau-
enhauses fragen, daß alle Bayern saufen oder daß alle
Hamburger ihre Frauen schlagen, oder daß man in
Deutschland vornehmlich an Leberleiden stirbt – der-
gleichen »wissenschaftliche« Erhebungen sind wie die
Werke Kinseys am besten im Papierkorb aufgehoben.
& Lit.: R. Degen: »Wissenschaftlicher Pfusch auf
der Couch des Analytikers«, Die Welt,
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LexPI Bd. 2 Kinsey Report 176

23.8.1996; R. Wildavski: »Sex, lies, and the Kin-


sey Reports«, Reader's Digest 4/1997; W. Krä-
mer: So lügt man mit Statistik, 7. Auflage, Frank-
furt a.M. 1997.

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LexPI Bd. 2 Kiwis 1 176

Kiwis 1
Kiwis kommen aus Neuseeland
Die ersten den Europäern bekannten Kiwi-Früchte
wurden Mitte des 19. Jahrhunderts am Jangtsekiang
in China gefunden; die Gleichung »Kiwi = Neusee-
land« entstand erst später. Im Jahr 1906 kamen die
ersten Kiwi-Pflanzen auf die Insel. Sie wurden, da im
dortigen Klima schnell wachsend und reich tragend,
bald in großen Mengen angepflanzt, so daß in der Tat
die meisten der heute weltweit konsumierten Kiwis
aus Neuseeland kommen.
& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987; Stichwort »Kiwi Fruit« in
der MS Microsoft Enzyklopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Kiwis 2 177

Kiwis 2
Kiwis heißen schon seit jeher Kiwis
Kiwis (die Früchte) heißen erst seit 1959 Kiwis; vor-
her hießen sie je nach Land und Leuten anders,
»Yangtao« in ihrer Heimat China, »Chinese goose-
berry« in England und »Chinesische Stachelbeere« in
Deutschland.
Mit der Umbenennung in »Kiwi« wollten die Neu-
seeländer den Export der Früchte fördern: Da der
Vogel namens Kiwi allgemein als Wahr- und Kenn-
zeichen Neuseelands galt (dieser flugunfähige, bis 35
cm große Laufvogel der Familie Apterygidae kommt
weltweit nur in Neuseeland und auf einigen benach-
barten Inseln vor), hoffte man, durch diese Namensge-
bung auch die Frucht auf immer mit Neuseeland zu
verbinden. Und diese Rechnung ist ganz offensicht-
lich aufgegangen.
& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987; Stichwort »Kiwi« in der
Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 1 Kleopatra 171

Kleopatra
Kleopatra war eine große Schönheit
Die antiken Historiker wie Cassius Dio, die Kleopatra
als »die schönste aller Frauen« priesen, hatten das
Objekt ihrer Bewunderung nie gesehen (Cassius Dio
lebte mehr als hundert Jahre später).
In Wahrheit war Kleopatra nicht besonders schön,
zumindest nicht im Sinn moderner Mannequin-Ideale.
Sie soll eine viel zu lange Nase gehabt und »eher ma-
jestätisch denn schön« ausgesehen haben, zumindest
nach zeitgenössischen Portraits zu urteilen; ihre Erfol-
ge bei den Männern, als Geliebte Cäsars und Marc
Antons hatte sie vor allem ihrem Charme und ihrer
Klugheit zu verdanken.
Des weiteren war Kleopatra von Herkunft nicht
Ägypterin; das Herrscherhaus der Ptolemäer, als
deren letzte Vertreterin sie nach der Niederlage bei
Actium und nach dem Tod des Marcus Antonius
Selbstmord beging, stammt ursprünglich aus Mazedo-
nien.
& Lit.: Francois Chamoux: Marcus Antonius,
Gernsbach 1989.
¤ Guido Reni: Kleopatra

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LexPI Bd. 2 Knacken in der Leitung 177

Knacken in der Leitung


Beim Abhören von Telefongesprächen knackt es
in der Leitung
Vielleicht einmal zu Zeiten Mata Haris. Heute knackt
es nirgends, wenn Profis hören wollen, was wir alles
so am Telefon besprechen. Und das geschieht trotz
unseres grundgesetzlich garantierten Post- und Fern-
meldegeheimnisses öfter als wir denken.
Die für die Lauscher ungefährlichste Methode, da
überhaupt nicht nachzuweisen, ist das Abhören von
Funkgesprächen. Denn längst nicht alle Telefonges-
präche verlaufen von A bis Z durch Draht, bei großen
Distanzen geht ein Teil der Strecke oft auch durch die
Luft. Und hier klinken sich diverse Geheimdienste
wie etwa der amerikanische NSA (National Security
Agency) ganz gerne ein. So wurden etwa diverse Te-
lefonate der deutschen Firma Imhausen-Chemie mit
Libyen von einem amerikanischen Schiff im Mittel-
meer abgefangen; sie förderten die Komplizenschaft
der Firma beim Bau von Giftgasfabriken in Libyen
zutage.
& Lit.: J. Bamford: NSA – Amerikas geheimster
Nachrichtendienst, Zürich 1986; G. Yost: Spy-
Tech, Ann Arbor 1989; »Freund hört mit«, Titel-
geschichte, Der Spiegel 8/1989; Stichwort vorge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Knacken in der Leitung 177

schlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Kneipp 172

Kneipp
Die Kneippkur ist eine Erfindung des Pfarrers
Kneipp
Die von dem Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897)
in Wörishofen eingeführten Kuren mit kalten Wasser-
güssen waren schon im Altertum bekannt, u.a. bei As-
syrern und Babyloniern. Auch Hippokrates (460–377
v.Chr.) und Galen (130–199) empfahlen schon kalte
Wassergüsse.
& Lit.: Fritz C. Müller: Wer steckt dahinter, Eltville
1964.

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LexPI Bd. 1 Knigge 172

Knigge
Der Freiherr Adolf Knigge hat seinen Zeitgenos-
sen Tischmanieren beigebracht
Der Name »Knigge« steht heute stellvertretend für
eher konservative Kompendien von Tischmanieren
und Verhaltensregeln, aber damit tun wir dem guten
Adolf Freiherr Knigge (1751–1796) großes Unrecht
an. Denn in Wahrheit war der Freiherr alles andere als
konservativ, und auch an Tischmanieren wenig inte-
ressiert. Sein Werk Ȇber den Umgang mit Men-
schen« war eher als ein Appell an die Damen und
Herren von Stand zu verstehen, auch andere Men-
schen als Menschen ernst zu nehmen; mit
Garderobentips und Tischmanieren hat es nichts zu
tun.
Diese Sympathien mit dem »kleinen Mann«, wie
auch seine kaum verhehlte Bewunderung der Franzö-
sischen Revolution, kosteten den Freiherrn dann auch
sein Amt als Oberhauptmann der Bremer Domkirche
und -schule; er mußte nach Stade in die Verbannung
ziehen. Ein Zeremonienmeister der besseren Klassen
ist er nie gewesen.
& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-
serwisser, München 1986 (besonders den Ab-
schnitt »Knigge: Tischsitten waren für den Baron
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LexPI Bd. 1 Knigge 172

kein Thema«); Stichwort »Knigge« in: Das Große


Personenlexikon, Dortmund 1988. Hans Christian
Meiser: Über den Umgang mit Knigge, Frankfurt
1995.

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LexPI Bd. 2 Knoblauch 178

Knoblauch
Knoblauch riecht
Es ist nicht der Knoblauch, der nach einem gut ge-
würzten Essen den bekannten Geruch verursacht.
Knoblauch regt nur den Abbau bestimmter Stoffe an,
die dann den notorischen Geruch verbreiten. Wie Me-
diziner durch die Untersuchung der Atemluft in den
nächsten 30 Stunden nach Knoblauchgenuß herausge-
funden haben, geht der Anteil an stark riechenden sog.
Sulfiden und Disulfiden in unserem Atem, die aus der
frischen Knoblauchknolle stammen, schon wenige
Stunden nach dem Essen stark zurück. Andere sehr
geruchsintensive Substanzen wie Allylmethylsulfid,
Dimethylsulfid oder Aceton dagegen erreichen ihre
höchste Konzentration in der Atemluft erst viel später
und sind auch noch viel länger nach dem Essen nach-
zuweisen. Deshalb können diese Gerüche auch nicht
direkt aus der Knoblauchknolle kommen, sie entste-
hen vielmehr indirekt aus den durch Knoblauch ange-
regten Stoffwechselprodukten.
& Lit.: D. Bradley: »The good thing about garlic
breath«, New Scientist, 25.1.1997.

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LexPI Bd. 1 Knoblauch 1 173

Knoblauch 1
Knoblauch reinigt die Blutgefäße
Die meisten heilsamen Wirkungen des Knoblauchs
bestehen nur in unserer Einbildung. Weder reinigt
Knoblauch die Blutgefäße, noch ist er geeignet, »der
allgemeinen Arterienverkalkung gleichzeitig von
mehreren Seiten entgegenzuwirken und die körperli-
che Leistungskraft und geistige Vitalität bis ins Alter
zu erhalten«, wie man in der Werbung öfter liest.
Knoblauch senkt – in sehr hohen Dosen – den Cho-
lesterinspiegel bei Ratten und Kaninchen; in dem
Umfang, wie Gleiches auch für Menschen gilt, und
wie ein hoher Cholesterinspiegel das Risiko für Her-
zinfarkt erhöht, ist er also auch für Menschen eine
Medizin. Auch konnte man in Experimenten zeigen,
daß der in Knoblauch enthaltene Inhaltstoff Allicin
gewisse Bakterien und Pilze tötet. Ansonsten aber
wurde allen hundertjährigen kaukasischen Jugend-
wundern zum Trotz, die auf diversen Verpackungen
von dieser Wurzel künden, bisher keine einzige der
dem Knoblauch zugeschriebenen Wirkungen wirklich
wissenschaftlich nachgewiesen. Weder Pest noch
Krebs noch Hautkrankheiten lassen sich von Knob-
lauch nachweisbar beeindrucken, genausowenig wie
Vampire oder Kühe, die angeblich in Skandinavien
zum Schutz gegen böse Geister mit knoblauchge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Knoblauch 1 173

tränkten Händen gemolken werden, und auch die Hin-


weise auf die von der Knoblauch-Werbung gern als
Ersatz-Autoritäten zitierten alten Römer oder Grie-
chen, die aus verschiedenen Gründen – etwa um
Wahnsinn oder Impotenz zu heilen – Knoblauch sehr
in Ehren hielten, können wenig überzeugen – schließ-
lich haben die alten Römer auch die Leber für den
Motor des Blutkreislaufs und den Körperschweiß für
ein Abfallprodukt der Verdauung gehalten.
Wir selber essen Knoblauch gerne wegen des Ge-
schmacks. Außerdem hat man danach in der Straßen-
bahn mehr Platz. Die anderen Wunderwirkungen ge-
hören in ein Märchenbuch.
& Lit.: »Garlic wards off undead bacteria«, New
Scientist, 14.5.1994.

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LexPI Bd. 1 Knoblauch 2 173

Knoblauch 2
Man riecht nach Knoblauch aus dem Magen
Der unvermeidliche Knoblauchgeruch, der unseren
Mitmenschen verrät, daß wir am Abend vorher gut
gegessen haben, kommt nicht, wie viele glauben, aus
dem Magen; er kommt aus der Lunge (und zum Teil
auch durch die Haut). Nachdem der Knoblauch den
Magen verlassen hat, wird er im Darm wie jede ande-
re Nahrung auch zerlegt und in den Körper aufgenom-
men, wobei gewisse Schwefelverbindungen, die bei
der Verdauung des Knoblauchs entstehen, über den
Blutkreislauf die Lunge und die Atemluft erreichen.
Dieser Weg zur Lunge muß übrigens nicht immer
durch die Därme gehen. Man kann auch, wenn man
sich die Füße mit Knoblauch einreibt (zugegeben
leicht pervers) danach aus dem Mund nach Knob-
lauch riechen.
& Lit.: Mary Murray: »Kiss bad breath good-bye«,
Readers Digest 9/94, 89–93.

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LexPI Bd. 2 Knöpfe 178

Knöpfe
Knöpfe sind zum Knöpfen da
Die ersten, schon um 2000 v. Chr. nachgewiesenen
Knöpfe hatten keine Nutzfunktion; sie waren nur als
Schmuck gedacht, und diese Rolle als reine
Schmuckstücke behielten die Knöpfe über mehr als
3000 Jahre. Die Griechen und Römer, die Bewohner
des alten Indien und die Germanen auf ihren Völker-
wanderungen schmückten Togen, Tuniken und Um-
hänge mit reich verzierten Knochen-, Elfenbein- und
Muschelknöpfen, »doch nirgendwo findet sich auch
nur der geringste Hinweis, daß in der Antike ein
Schneider auf die Idee gekommen wäre, einen Knopf
zum Knöpfen zu benutzen und zu diesem Zweck ein
Knopfloch vorzusehen«. (Wegen dieser ursprüngli-
chen Funktion als reines Schmuckstück tragen streng-
gläubige Christen wie die Amish im amerikanischen
Pennsylvania bis heute keine Knöpfe.)
Knöpfe zum Knöpfen gibt es erst seit rund 700
Jahren, als ausgangs des Mittelalters die bis dato üb-
lichen weiten sackartigen Gewänder einer neuen, en-
geren Mode weichen mußten. Da die wegen besserer
Spinn- und Webtechniken immer feineren Stoffe
durch die bisher zum Zusammenhalten benutzten Na-
deln und Spangen Schaden nehmen konnten, erfand
ein unbekannter Schneider, ein Bill Gates des 13.
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LexPI Bd. 2 Knöpfe 179

Jahrhunderts, Löcher zu den Knöpfen, und wie viele


lange aufgestaute Innovationen überschwemmte auch
diese sintflutartig alles, was ihr in die Quere kam. So
gut wie jedes Kleidungsstück erhielt nun Knopflöcher
und Knöpfe, auch da, wo keine nötig waren; manche
Kleider hatten mehr als hundert Knöpfe, man schnitt
Kleider nur deshalb in Stücke, um sie wieder zuzu-
knöpfen, und König Franz I. von Frankreich bestellte
bei seinem Juwelier für einen einzigen schwarzen
Samtanzug mehr als 10.000 Knöpfe.
& Lit.: C. Panati: Universalgeschichte der ganz ge-
wöhnlichen Dinge, Frankfurt a.M. 1994 (beson-
ders das Kapitel »Knopf«); Stichwort vorgeschla-
gen von Doris Krämer.
¤ Heinrich VIII. voller Stolz auf seine zu den Ringen
passenden Knöpfe

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LexPI Bd. 1 Koalabär 174

Koalabär
Der Koala ist ein Bär
Der Koalabär (Phascolarctos cinereus) ist ein Beutel-
tier, kein Bär. Anders als Bären kommen Beuteltiere
als nur wenige Zentimeter große Keimlinge zur Welt
und müssen danach noch mehr oder weniger lange im
Brustbeutel der Mutter leben.
Koalas werden rund einen halben Meter groß; sie
leben im östlichen Australien und ernähren sich vor
allem von den Knospen und den jungen Trieben der
Eukalyptusbäume. Früher wurden sie wegen ihres
weichen Fells so intensiv gejagt, daß man ihr Ausster-
ben befürchten mußte. Heute stehen die Koalas unter
Naturschutz und beginnen sich wieder weiter auszu-
breiten.
& Lit.: Hätten Sie's gewußt? Zürich 1992.

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LexPI Bd. 1 Kohldampf 174

Kohldampf
Kohldampf schieben hat etwas mit Kohl und
Dampf zu tun
Dieser Ausdruck aus der Gaunersprache ist mit großer
Wahrscheinlichkeit aus dem rotwelschen »Kohler« =
»Hunger« hervorgegangen, welches wiederum aus
dem zigeunerischen »kalo« = schwarz, arm, ohne
Geld entstand. Auch das »Dampf« in »Kohldampf«
heißt auf Rotwelsch Hunger, so daß »Kohldampf«
streng genommen Hunger-Hunger heißt.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 1 Kolonien 1 174

Kolonien 1
Nur Europa hatte Kolonien
Kolonien hat es schon immer gegeben – Länder und
Regionen, die gegen ihren Willen anderen Mächten
unterworfen waren, sind so alt wie die Menschheit
selbst, und dabei hält Europa weder bezüglich Dauer
noch bezüglich Umfang noch bezüglich Anfang den
Rekord.
Weit länger als die Europäer, nämlich fünf Jahr-
hunderte, vom 16. bis 11. Jahrhundert vor Christus,
hielten etwa die alten Ägypter viele fremde Völker
unter ihrer Fuchtel; auch das persische Kolonialreich
mit drei und das römische mit vier Jahrhunderten
haben länger überlebt als die Kolonien der Spanier,
Engländer, Franzosen, Portugiesen.
Auch relativ zur Bevölkerung des Stammlandes
waren die europäischen Kolonialreiche alles andere
als extraordinär: Selbst auf dem Zenit der europäi-
schen Kolonialherrlichkeit, also in den Jahren vor
dem Ersten Weltkrieg, lebten in den europäischen Ko-
lonien nur rund anderthalbmal soviel Menschen wie
in den Stammländern, während etwa die Türken zu
ihren besten Zeiten über dreimal soviel Menschen
herrschten als in ihrem Stammland lebten (ganz zu
schweigen von den Römern, die das bis heute wohl
größte Kolonialreich – relativ gesehen – aller Zeiten
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kolonien 1 175

hatten).
Daß die außereuropäischen Kolonialreiche nie die
räumliche Ausdehnung etwa des britischen Empire er-
reichten, lag weniger am Wollen als am Können:
Ohne Straßen und wetterfeste Handelsflotte stießen
die Perser, Mayas, Inkas und Chinesen bald an Gren-
zen ihrer Expansionsgelüste – man kann entfernte
Völker schlecht kontrollieren, wenn ein Brief vier
Jahre mit der Maultierstaffel braucht. Hätten die Chi-
nesen und Japaner und nicht die Europäer den Kom-
paß und das Segeln gegen den Wind erfunden, viel-
leicht würden wir heute Tribute an Mongolenkaiser
zahlen und nicht zu Jesus, sondern Buddha beten.

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LexPI Bd. 1 Kolonien 2 175

Kolonien 2
Die westlichen Kolonialmächte waren auf die
Rohstoffe ihrer Kolonien angewiesen
Die westlichen Industrienationen waren nie auf die
Rohstoffe ihrer Kolonien angewiesen. Der Handel mit
Zucker, Erdöl, Kohle, Weizen, Gummi und Bananen
und all den anderen nützlichen Dingen, die wir heute
aus Entwicklungsländern kaufen, ist ein noch junges
Phänomen; diesen Handel hat es mit den Kolonien
nicht gegeben. Die europäischen Eroberer sind für
Gold und Seide, nicht für Öl und Wolle aufgebro-
chen; sie hatten weder Lust in ihren Herzen noch
Platz auf ihren Schiffen, sich mit Rohstoffen und
Massengütern zu befassen.
In den Anfängen des europäischen Kolonialismus
beschränkte sich der Überseehandel vor allem auf Lu-
xusgüter bzw. was man damals dafür hielt. Zwar
wurde mit dem Aufkommen der Dampfschiffe auch
zunehmend mit Rohstoffen gehandelt, aber dann vor
allem untereinander, von einer Kolonialmacht zur an-
deren, nicht von Kolonie zu Mutterland: Kohle von
England nach Frankreich, Eisen von Schweden nach
Deutschland, Holz von Norwegen nach England usw.
Verglichen mit diesem Rohstoffhandel untereinander
spielten die Importe aus den Kolonien und Entwick-
lungsländern allein schon wegen der Entfernungen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kolonien 2 176

und Kosten keine große Rolle.


Zu Anfang des Jahrhunderts betrug die Autarkiera-
te der westlichen Industrienationen bei Eisen, Kupfer,
Blei, Zink, Mangan, Bauxit und anderen Mineralien
fast 100 Prozent, und gewisse Rohstoffe wie etwa
Kohle wurden sogar netto exportiert: im Jahresdurch-
schnitt rund 20 Millionen Tonnen von 500 Millionen
geförderten Tonnen insgesamt. Die einzige schon da-
mals auf Rohstoffimporte angewiesene Industrienati-
on war Japan, aber Japan hatte keine Kolonien.
Und selbst bei den wenigen Rohstoffen wie Baum-
wolle, Gummi oder Phosphor, wo eine gewisse Ab-
hängigkeit bestand, war diese, falls nötig, leicht zu
überwinden, wie die Erfahrung des Deutschen Rei-
ches im Ersten Weltkrieg zeigt: Nach dem Wegfall
dieser Rohstoffe durch die englische Seeblockade
hatte man in kurzer Zeit Ersatzprodukte aufgetrieben.
Erst seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der
westlichen Kolonialherrschaft, aber nicht früher,
haben die Importe, speziell die Energieimporte der
Ersten aus der Dritten Welt, beträchtlich zugenom-
men, aber immer noch nicht deshalb, weil wir diese
Rohstoffe so dringend bräuchten: Öl ist einfach billi-
ger, zumindest noch im Augenblick, als die bis dato
wichtigste Energiequelle, die Kohle, und vor allem
deshalb wird Öl durch Industrienationen importiert.
Die westlichen Kohlevorräte sind noch längst nicht
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kolonien 2 176

aufgebraucht; sie warten nur auf die nächste Ölkrise,


und genauso hängen wir auch bei anderen Rohstoffen
vom Rest der Welt viel weniger ab als manche glau-
ben.
& Lit.: P. Yates: Forty years of foreign trade, Lon-
don 1959; P. Bairoch und B. Etemal: Commodity
structure of Third World exports 1830–1937,
Genf 1985.

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LexPI Bd. 1 Kolonien 3 176

Kolonien 3
Die westlichen Kolonialmächte brauchten die Ko-
lonien als Absatzmärkte
Entgegen einem populären Mythos waren die Kolo-
nien zu keiner Zeit als Absatzmarkt von großem Inte-
resse. Von 1800 bis 1937 gingen nur 17 Prozent aller
europäischen Exporte in die Dritte Welt, davon wie-
derum war die Hälfte, zwischen 8 und 9 Prozent, in
die Kolonien. Wenn man außerdem auch noch be-
denkt, daß weniger als ein Zehntel des Sozialprodukts
überhaupt für den Export produziert wurde, ging also
nur ein verschwindend kleiner Anteil der europäi-
schen Wirtschaftsleistung in die Kolonien. Selbst
wenn also die Exporte nach den Kolonien von einem
Tag auf den anderen vollkommen unterbunden wor-
den wären, die meisten Produzenten hätten davon
nichts gemerkt.
Die wichtigste Ausnahme ist England, das rund 40
Prozent seiner Gesamtexporte in die Dritte Welt
verschickte. Aber gemessen am Sozialprodukt betrug
auch hier der Export in die Dritte Welt nur 5 Prozent,
soviel wie heute die Wirtschaft in zwei Jahren wächst.
Mit anderen Worten, selbst in England hätten zwei
Jahre Wirtschaftswachstum völlig ausgereicht, um
den Ausfall dieser Märkte ohne Folgen zu verkraften.
Daß trotzdem heute viele Menschen diese Sache so
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kolonien 3 177

viel anders sehen, liegt allein an einer anderen Per-


spektive: Auch wenn die Exporte etwa von Dampfma-
schinen von den USA nach Kuba nur einen ver-
schwindenden Teil der amerikanischen Dampfmaschi-
nenexporte ausmachen: für einen Kubaner kommen
scheinbar alle Dampfmaschinen aus den USA. Er
fühlt sich dominiert und eingeschüchtert, und glaubt
dann leicht, daß diese Dominanz für andere den glei-
chen Stellenwert wie für ihn selbst besäße.
& Lit.: Paul Bairoch: »The geographical structure
and trade balance of European foreign trade from
1800 to 1970«, Journal of European Economic
History 1974, 557–608.

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LexPI Bd. 1 Kolonien 4 177

Kolonien 4
Die westlichen Kolonialmächte profitierten von
den Kolonien durch ein beschleunigtes Wirt-
schaftswachstum
Kolonien waren für das westliche Wirtschaftswach-
stum weit weniger wichtig, als die meisten glauben.
Unter den reichsten Ländern der Gegenwart tauchen
Spanien und Portugal, die größten Kolonialmächte
der frühen Neuzeit, überhaupt nicht auf. Die Spitzen-
reiter bezüglich Wohlstand – Deutschland, Japan,
USA, Schweiz, Norwegen, Schweden, Finnland, Lu-
xemburg – haben nie oder nur am Anfang ihrer Ent-
wicklung Kolonien besessen, und Länder wie Eng-
land oder Frankreich können sich in der Spitzengrup-
pe halten, nicht weil, sondern obwohl sie Kolonial-
mächte gewesen sind.
Ein gutes Beispiel ist Belgien, im 19. Jahrhundert
eines der Wirtschaftswunderländer in Europa. Dann
erwarb man Kolonien (Kongo) – und fiel ins Hinter-
feld zurück. Oder nehmen wir das Deutsche Reich,
das nach dem Verlust seiner Kolonien im Vertrag von
Versailles die Kolonialmächte Frankreich und Eng-
land mühelos ökonomisch überholte. Oder die Nie-
derlande, die erst nach dem Verlust ihrer indonesi-
schen Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg zu ech-
ter wirtschaftlicher Blüte kamen. Wo man auch hin-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kolonien 4 178

schaut, zwischen Wirtschaftswachstum und Größe der


Kolonien gibt es »eine fast perfekte Korrelation«, wie
der Wirtschaftshistoriker Paul Bairuch konstatiert,
und zwar eine negative Korrelation: Je mehr Kolo-
nien, desto schwächer ist die Wirtschaft, je weniger
Kolonien, desto stärker.
Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren
(Verschwendung unternehmerischer Energien? Illusi-
onärer Größenwahn? Einschläferung von Innovations-
zwang?), fest steht nur, es ist nun einmal so. Kolonien
waren im großen und ganzen für ihre Stammländer
weniger ein Katalysator denn ein Klotz am Bein, eine
einzige Bremse des wirtschaftlichen Fortschritts; sie
waren vielleicht nützlich als Militärstützpunkte oder
zur Beschäftigung von redundanten Bürokraten, aber
gesamtökonomisch betrachtet waren sie ein einziges
Verlustgeschäft.
Auch ein Ansporn für die Industrialisierung sind
die Kolonien nie gewesen, denn die Ausbreitung der
englischen und französischen Kolonialreiche war
keine Bedingung, sondern eine Folge der industriellen
Revolution: Als das britische Empire gegen Ende des
18. Jahrhunderts mit der Eroberung Indiens seine
große Expansionsphase begann, war die erste indu-
strielle Revolution in England schon vorüber, und ge-
nauso haben sich mehrere Jahrzehnte später auch die
Franzosen über Afrika verbreitet, nicht bevor, son-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kolonien 4 178

dern nachdem Dampfmaschine und mechanischer


Webstuhl, chemische Düngemittel und industrielle
Arbeitsteilung die Volkswirtschaften von Grund auf
umgekrempelt hatten.
& Lit.: Paul Bairoch: Economics and world history:
Myths and paradoxes, New York 1993.

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LexPI Bd. 1 Kolumbus 178

Kolumbus
Kolumbus wurde am portugiesischen Königshof
ob seines Glaubens an die Kugelform der Erde
ausgelacht
Niemand hat Kolumbus ausgelacht. Wie Gerhard
Prause in seinem gleichnamigen Buch von 1986 fest-
hält, ist die immer wieder gern erzählte Legende von
dem mutigen, von den geistig beschränkten Notabeln
am portugiesischen Königshof ob seiner Theorie von
der Kugelgestalt der Erde ausgelachten Entdecker nur
eine nachträgliche Erfindung.
Auch daß Kolumbus dann am Hof des Königspaars
von Aragon-Kastilien auf das gleiche Unverständnis
gestoßen sei, ist falsch: Sein Plan, das reiche Indien
nicht wie bis dato ostwärts, sondern westwärts, quasi
um die Kugel herum durch die Hintertür zu suchen,
wäre als Verrücktheit abgeschmettert worden: weil
man dann von der Erdscheibe herunterfiele.
In Wahrheit war die Kugelgestalt der Erde damals
schon kein Thema mehr. Alle Seefahrer und Geogra-
phen, aber auch die Könige von Spanien und Portu-
gal, hatten daran keinen Zweifel. Die Debatte ging
nicht um die Existenz, sie ging nur noch um die
Größe dieser Kugel; je größer, desto länger muß man
bis nach Indien westwärts segeln. Und hier waren
nicht die Gegner des Kolumbus, hier war dieser selbst
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kolumbus 179

von Irrtümern befangen. Denn Kolumbus schätzte den


Umfang der Erdkugel, gestützt auf den antiken Astro-
nomen Ptolemäus, auf rund 28000 Kilometer, und
damit 12000 Kilometer zu kurz, (und glaubte deshalb
bis an sein Lebensende, er hätte Indien erreicht, wäh-
rend er in Wahrheit nur die Hälfte der Strecke bis
nach Indien überwunden hatte). Die Experten an den
Königshöfen dagegen schätzen, gestützt auf ein Gut-
achten des Florentiner Mathematikers Paolo Toscan-
elli, den Erdumfang weitaus exakter, nämlich auf
39000 Kilometer, also (bis auf 1000 Kilometer) so,
wie er tatsächlich ist. Damit war aber die konvention-
elle Reise nach Indien »linksherum« kürzer als die
von Kolumbus geplante Route »rechtsherum«, und
das Projekt völlig zu Recht als überflüssig abzuleh-
nen. Denn daß zwischen Europa und Indien noch ein
ganzer Kontinent im Wege lag, konnte damals nie-
mand ahnen ...
& Lit.: Salvador de Madariaga: Kolumbus, Mün-
chen 1975; Gerhard Prause: Niemand hat Kolum-
bus ausgelacht, Düsseldorf 1986.

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LexPI Bd. 1 Kompaß 179

Kompaß
Die Kompaßnadel zeigt nach Norden
Da der magnetische Nordpol und der »wahre« Nord-
pol, also der Punkt auf dem Globus, wo die Drehach-
se die Erdkugel durchstößt, um mehr als 3000 Kilo-
meter auseinanderliegen, zeigt eine Kompaßnadel nie
genau nach Norden. Die Verzerrung wird immer grö-
ßer, je weiter wir nach Norden kommen; zwischen
dem magnetischen und dem wahren Nordpol zeigt die
Kompaßnadel sogar genau nach Süden. Diese Verzer-
rung ist seit langem wohlbekannt und heißt unter See-
fahrern auch »Deklination«.
Aber auch von dieser Unart abgesehen zeigt die
Kompaßnadel nie genau nach Norden, also zum ma-
gnetischen Nordpol hin; sie zeigt nur die Richtung
des örtlichen Magnetfelds an. Und die Kraftlinien
dieses Magnetfeldes sind durchaus nicht immer gera-
de. Wer also immer der Kompaßnadel folgend gegen
Norden reist, kommt irgendwann am magnetischen
Nordpol an – aber nicht notwendig auf dem kürzesten
Weg.
& Lit.: Jeremy Bloxham und David Gubbins: »The
evolution of the earth's magnetic field«, Scientific
American, Dez. 1989.

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LexPI Bd. 2 Königsberg 180

Königsberg
Königsberg hat seinen Namen von den Königen
von Preußen
Königsberg hat seinen Namen nicht von den Königen
von Preußen, sondern von den Königen von Böhmen,
konkret: von Ottokar II., mütterlicherseits ein Enkel
Kaiser Barbarossas, väterlicherseits ein Abkömmling
des tschechischen Königsgeschlechts der Przemysli-
den. »Der Przemyslide war es, der die Ordensritter
nach ihrem Rückzug aus dem Heiligen Land und dem
Burzenland (Siebenbürgen) auf die neuen Aufgaben
im Osten verwies und sie bei zwei Kreuzfahrten auch
kräftig unterstützte. Ihm zu Ehren erhielt die Anlage
am Pregel den Namen Königsberg« (Bednarz).
& Lit.: Christian Graf von Krockow: Begegnungen
mit Ostpreußen, München 1988; Klaus Bednarz:
Fernes Neues Land, Hamburg 1992; Stichwort
beigetragen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Konservendosen 1 180

Konservendosen 1
Konservendosen werden vor allem wegen der bes-
seren Wärmeleitung gern im Wasserbad erhitzt
Konservendosen werden im Wasserbad erhitzt, damit
sie nicht explodieren. Wer sich etwa schnell eine Por-
tion Bohnen wärmen will, und die geschlossene Dose
ungeöffnet auf die Herdplatte stellt, wird dieses Prin-
zip nach kurzer Zeit sehr schnell begreifen: Durch den
steigenden Dampfdruck in der Dose steigt die Siede-
temperatur des Wassers, damit wiederum der Dampf-
druck in der Dose, und so im Zick-Zack immer weiter,
bis die Dose platzt.
Das kann beim Erwärmen im offenen Wasser nicht
passieren – hier bleibt der Druck über der Wasserflä-
che immer 1 atü, und damit bleibt auch die Siedetem-
peratur im Wasser wie innerhalb der Dose stets bei
100°.

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LexPI Bd. 1 Konservendosen 2 180

Konservendosen 2
Man darf Lebensmittel nicht in geöffneten Kon-
servendosen stehen lassen
Dieser Mythos wurde vermutlich von Tupperware-
Verkäufern in die Welt gesetzt: nie halb gegessene
Portionen Ravioli, Würstchen, Sauerkraut in den
Konservendosen liegen lassen; stattdessen umfüllen,
dann wird der Rest nicht schlecht.
In Wahrheit verderben Lebensmittel in Blech ge-
nauso schnell bzw. langsam wie in Plastik; ist die
Verpackung erst einmal geöffnet, kommt es nur noch
auf die Kühlung an.

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LexPI Bd. 2 Konservenobst 180

Konservenobst
Konservenobst enthält weniger Vitamin C als fri-
sches
Je nach Verarbeitung enthält Konservenobst mehr Vi-
tamin C als frisches. Denn »frisches« Obst oder Ge-
müse ist auf seiner Reise von Feld und Baum zur La-
dentheke zahlreichen Vitamindieben wie Licht, Luft,
Sauerstoff und Wärme ausgesetzt, die tage- oder wo-
chenlang an den Beständen zehren. Konserven dage-
gen, sofern unmittelbar nach der Ernte verarbeitet,
konservieren auch den Vitamingehalt. Tiefgefrorene
Bohnen etwa enthalten pro 100 Gramm doppelt so-
viel Vitamin C wie frische aus dem Laden, die dort
schon einige Tage herumgelegen haben.

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LexPI Bd. 1 Konservierungsmittel 180

Konservierungsmittel
Künstliche Konservierungsmittel sind ungesün-
der als natürliche
»Dem Glauben, daß traditionell konservierte Nahrung
bekömmlich, modern-chemisch konservierte hingegen
gefährlich sei, kann nur der anhängen, der die Krebs-
gefährdung durch die Räucher- und Pökelverfahren
unserer Vorfahren gering schätzt, weil er nicht be-
denkt, daß diese in aller Regel starben, bevor sich ein
Tumor entwickeln konnte.« (Hubert Markl, Präsident
der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in der Zeit
vom 6.12.1991, S. 94).

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LexPI Bd. 2 Konvergenz 180

Konvergenz
Die Lebensstandards der Regionen und Nationen
dieser Erde konvergieren
Das ist die zentrale Aussage der sogenannten Konver-
genztheorie: Unterschiedlich reiche Volkswirtschaften
hätten demnach die Tendenz, sich anzugleichen; auch
wenn die Reichen immer reicher würden, die Armen
würden schneller reicher, sie holten irgendwann die
Reichen ein.
Vorläufige Daten scheinen dieser These Recht zu
geben: »Mit Freude konnte sie [die EU-Kommission]
daher zur Kenntnis nehmen, daß in jüngerer Vergan-
genheit ärmere Regionen schneller wachsen als rei-
che«, sieht man das Institut der Deutschen Wirtschaft
diese frohe Botschaft feiern. »Zwischen 1980 und
1995 konnten Irland, Spanien, Portugal und Grie-
chenland ihr Bruttoinlandsprodukt je Einwohner von
67 Prozent auf 73 Prozent des EU-Durchschnitts stei-
gern.« Und so weiter auch außerhalb Europas: Die an
Volkseinkommen ärmsten Länder dieser Erde wach-
sen im Durchschnitt schneller als die an Volksein-
kommen reichsten.
Leider zeugt dieses Extra-Wachstum armer Länder
und Regionen nicht notwendig für die Konvergenz-
theorie: Auch bei ewig gleichen relativen Unterschie-
den zwischen arm und reich ist ein Extra-Wachstum
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Konvergenz 181

der armen Länder nicht nur möglich, es ist geradezu


zwangsläufig zu erwarten. Der englische Statistiker
Sir Francis Galton hatte schon Ende des 19. Jahrhun-
derts darauf hingewiesen, daß große (im Sinn von
lange) Männer oft nicht ganz so große Söhne haben;
kleine Männer dagegen haben oft Söhne, die größer
sind als ihre Väter. Mit anderen Worten, die Körper-
größe wächst in »kleinen« Familien schneller als in
»großen« (bzw. sie nimmt in »großen« Familien
sogar ab). Aber trotzdem bleibt die Verteilung der
Körpergröße wie auch die Verteilung der Volksein-
kommen im Zeitverlauf im wesentlichen gleich (weil
nämlich aus dem Mittelfeld hinreichend viele Länder
sowohl absteigen wie aufsteigen und damit dafür sor-
gen, daß die relativ Reichen und die relativ Armen
niemals aussterben).
& Lit.: D. Quah: »Galton's fallacy and tests of the
convergence hypothesis«, Discussion Paper Nr.
820, Center for Economic Policy Research, Lon-
don 1993; »Angleichung im Schneckentempo«,
Informationsdienst des Instituts der Deutschen
Wirtschaft 16/1997.

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LexPI Bd. 1 Kopernikus 181

Kopernikus
Nikolaus Kopernikus hat seine Lehre vom Kreis-
en der Erde um die Sonne aus Angst vor der Kir-
che zurückgehalten (s.a. ð »Galilei« u. ð »Und
sie bewegt sich doch!«)
Wie Galileo Galilei gilt auch Nikolaus Kopernikus
(1473–1543) als ein Opfer des Klerus und der Kir-
che. Und genau wie Galilei spielt auch Kopernikus
hier eine falsche Heldenrolle.
Die Hauptfeinde des Kopernikus, die ihn so ein-
schüchterten, daß er mit der Publikation seines
Hauptwerkes De revolutionibus orbium coelestium
fast vierzig Jahre wartete, waren wie bei Galilei weni-
ger die geistlichen als die weltlichen Prediger, weni-
ger die Mönche auf den Kanzeln als die Professoren
hinter den Kathedern. Vor allem aus Angst, von die-
sen verknöcherten Anhängern des ptolemäischen
Weltbildes ausgelacht zu werden, hat Kopernikus das
Buch erst wenige Monate vor seinem Tode zur Ver-
öffentlichung freigegeben.
Diese Veröffentlichung geschah auf ausdrückliches
Drängen seiner geistlichen Vorgesetzten; diese waren
an den Ideen des Kopernikus durchaus interessiert
und baten ihn »höchst nachdrücklich«, seine »Entdek-
kungen der gelehrten Welt zugänglich zu machen«.
Daß das Buch viel später trotzdem für vier Jahre
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kopernikus 181

(von 1616 bis 1620), auf den Index der verbotenen


Schriften kam, lag weniger an der Verstockheit des
Papstes als an der Arroganz des Kopernikus-Nachfol-
gers Galilei, der völlig unwissenschaftlich neben sei-
ner eigenen keine anderen Theorien gelten lassen
wollte. Mit der Fortschrittsfeindlichkeit der Kirche
hat dies alles nichts zu tun.
& Lit.: Arthur Koestler: Die Nachtwandler. Das
Bild des Universums im Wandel der Zeit, Bern
1959.

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LexPI Bd. 2 Korallen 181

Korallen
Korallen sind Pflanzen
Korallen sind Tiere. Sie gehören zur Klasse der Hohl-
tiere (Anthozoa) und leben als Einzelpolypen oder in
Kolonien (Korallenriffe) gern in tropischen Gewäs-
sern; ihre Kalkskelette bilden die bekannten Riffe.
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 1, Zürich 1971; G.
Czihak et al. (Hrsg.): Biologie, Berlin 1990.

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LexPI Bd. 1 Korrelation 181

Korrelation
Korrelation bedeutet Kausalität
Korrelation bedeutet nicht notwendig Kausalität.
Zwei Variable heißen korreliert (genauer: positiv kor-
reliert), wenn hohe Werte der einen typischerweise
mit hohen Werten der anderen auftreten und umge-
kehrt. Ein Beispiel sind Körpergröße und Gewicht:
Große Menschen wiegen in der Regel mehr als kleine,
und ein Mann von 60 Kilo ist meistens, wenn auch
nicht immer, kleiner als einer von 90.
Eine solche Korrelation muß aber nicht bedeuten,
daß die eine Variable die Ursache der anderen ist. Oft
entsteht eine Korrelation zweier Variablen auch durch
gemeinsame Verwandte im Hintergrund, wie bei der
Körpergröße von Geschwistern, den Börsenkursen
von VW und Daimler-Benz (und zwischen den Kur-
sen und Renditen vieler anderer Aktiengesellschaften
ebenso), den Niederschlägen in Mainz und Wiesba-
den, den Wasserständen von Rhein und Donau, den
Inflationsraten in Bayern und Baden-Württemberg,
den Preisen von Benzin und Heizöl und vielen ande-
ren Variablenpaaren mehr. In allen diesen Fällen geht
die Korrelation auf eine Kausalbeziehung, aber weni-
ger zwischen den Variablen selbst, als zwischen die-
sen und einer gemeinsamen Ursache wie dem Wetter
oder der allgemeinen Wirtschaftslage im Hintergrund
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Korrelation 182

zurück. Solche Korrelationen sind die wohl häufig-


sten überhaupt.
Es ist also falsch, aus Korrelation auf Kausalität zu
schließen, wie das folgende Schaubild der Geburten
und Klapperstörche im Landkreis Hannover sehr
schön zeigt: eine fast perfekte Korrelation, aber nicht,
weil der Storch die Kinder bringt, sondern weil in die-
ser Zeit sowohl die Geburten als auch die Storchen-
paare aus jeweils eigenen Gründen zugenommen
haben ...

Eine hohe positive Korrelation: viele Störche = viele


Geburten, wenige Störche = wenige Geburten

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LexPI Bd. 1 Korrelation 183

Und selbst wenn eine Kausalität besteht, wirkt


diese oft anders als man denkt, wie bei der bekannten
negativen Korrelation zwischen Körpertemperatur
und Läusen auf dem Kopf, wie sie, so der amerikani-
sche Statistiker Darell Huff, den Bewohnern der
Neuen Hebriden im südlichen Pazifik aufgefallen ist.
Diese haben daraus dann den Schluß gezogen, daß
Läuse, da das Fieber senkend, gut für die Gesundheit
sind.
In Wahrheit verläuft die Kausalrichtung natürlich
genau umgekehrt: Hohes Fieber vertreibt die Läuse,
d.h. die Ursache ist die Temperatur und die Wirkung
sind die Läuse auf dem Kopf.
& Lit.: Walter Krämer: Statistik verstehen, Frank-
furt 1992.

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LexPI Bd. 1 Kraken 183

Kraken
Kraken greifen Menschen an (s.a. ð »Haie«)
Kraken sind scheu; sie greifen von sich aus niemals
Menschen an. Zumindest ist bisher kein einziger Fall
belegt, bei dem ein Schwimmer oder Taucher von
einem Kraken erwürgt oder in die Tiefe gezogen wor-
den wäre.
Auch die Legende von den angeblich existierenden
Riesenkraken, die sogar Schiffen zum Verhängnis ge-
worden sein sollen, wurde kürzlich als ein Hirnge-
spinst entlarvt. Sie beruht auf einem 20 Tonnen
schweren, zu einem nicht identifizierbaren toten Tier
gehörenden Gewebestück, das vor hundert Jahren an
der amerikanischen Küste bei Saint Augustine in Flo-
rida gefunden wurde und in dem viele den Kadaver
einer Riesenkrake sahen. »An noch vorhandenen Re-
sten des Fleischbrockens hat jetzt der Biochemiker
Sidney Pierce von der University of Maryland die Le-
gende vom Menschen und Schiffe bedrohenden Mee-
resungeheuer widerlegt«, kann man dazu im »Spie-
gel« lesen. »Analysen und Untersuchungen mit einem
Elektronenmikroskop zeigten, daß es sich um ein rei-
nes Kollagen handelt, eine Eiweißsubstanz ohne be-
stimmte Zellstruktur. Wahrscheinlich, so schreiben
Pierce und seine Kollegen im ›Biological Bulletin‹,
waren es die Überreste eines Wals, der wochenlang
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kraken 183

tot in der See geschwommen war. Seine Knochen


waren zu Boden gesunken, andere Meerestiere und
Bakterien hatten alles verzehrt bis auf das harte, un-
verdauliche Kollagen aus der Walhaut.«
& Lit.: »Legende vom Monster«, DER SPIEGEL
8/1995.

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LexPI Bd. 1 Krankenkassen 184

Krankenkassen
Die Krankenkassen vertreten die Interessen der
Versicherten
Die deutschen Krankenkassen vertreten in erster Linie
ihre eigenen Interessen: möglichst hohe Gehälter für
die Funktionäre, und möglichst viele Mitglieder, die
diese Gehälter zahlen. Die Interessen bzw. der Geld-
beutel der Patienten sind einer deutschen Krankenkas-
se einerlei.
Nur durch die aktive und mitgliederfeindliche Un-
terstützung der deutschen Krankenkassen konnte
unser Gesundheitswesen zu dem großen Finanzdesa-
ster werden, das es unbestreitbar heute ist. Angefan-
gen bei den Wucherpreisen, die unsere Krankenhäuser
für fast alles zahlen, was sie brauchen, vom Putzlap-
pen bis zum Röntgenapparat, über die Raubritterge-
bühren unserer Rettungsdienste bis zu den gerichtsno-
torischen Überschußmilliarden für Blutgerinnungs-
präparate – wann immer im deutschen Gesundheits-
wesen gutes Geld zum Fenster hinausgeworfen wird,
die Krankenkassen helfen fleißig mit. Nicht von unge-
fähr wurde der große Herzklappenskandal nicht von
den Krankenkassen, sondern im wesentlichen von
Bonner Gesundheitsbürokraten aufgedeckt, oder
gehen Anzeigen wegen Abrechnungsschwindel und
Rezeptbetrug nur selten von den Krankenkassen aus
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LexPI Bd. 1 Krankenkassen 184

(die ganz im Gegenteil selbst notorische Betrüger


noch oft decken). Ohne zu murren bezahlen deutsche
Krankenkassen jede noch so schäbige Dienstleistung
der Anbieter, jedes noch so sinnlose Rezept; sie finan-
zieren Fahrradwochenenden, Bauchtanzkurse, Bade-
kuren, sie schicken ihre Funktionäre auf Kongresse
nach Tokio und Acapulco, leisten sich exklusive
Büros in den teuersten Lauflagen unserer Städte und
gehen ganz allgemein mit dem Geld ihrer Versicher-
ten um, als hätten sie es selbst gedruckt. Statt in guten
Zeiten Beiträge zu senken, blähen sie Verwaltungs-
wasserköpfe auf (pro Jahr verschlingt die Verwaltung
unserer Krankenkassen mehr als zehn Milliarden
Mark), statt den Anbietern auf die Finger zu sehen,
kollaborieren sie mit ihnen wo sie können, statt die
Interessen der Patienten zu vertreten, stecken sie mit
deren monetären Kontrahenten unter einer Decke.
Einzelne Ausnahmen wie die Betriebskrankenkas-
sen bestätigen diese Regel nur. Auch ist durch die
Seehofersche Strukturreform mit ihrem Risikoaus-
gleich das Umschmeicheln guter Risiken nicht mehr
so attraktiv wie früher. Aber das alles sollte nieman-
den darüber täuschen, daß die Krankenkassen über
lange Jahre die Korruption und Mißwirtschaft im
deutschen Medizinbetrieb nach besten Kräften ange-
feuert haben.

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LexPI Bd. 1 Krankenkassen 184

& Lit.: Walter Krämer: »Die Geldfresser«, Die


Woche, 16.6.1994; »Zehn Jahre Korruption und
Mißwirtschaft«, unveröffentlichte Dokumentation,
zu beziehen über Lehrstuhl Wirtschafts- und So-
zialstatistik, Universität Dortmund, 44227 Dort-
mund.

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LexPI Bd. 1 Krebs 1 185

Krebs 1
Die Krebsgefahr nimmt zu
Die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, hat un-
bestritten in den letzten Jahren und Jahrzehnten zuge-
nommen. Das heißt aber nicht, daß der Krebs gefähr-
licher geworden ist; genau das Gegenteil ist wahr. Die
folgende Tabelle zeigt getrennt für verschiedene Al-
tersklassen, einmal für 1970 und einmal für 1995,
wieviele von je hunderttausend Männern einer Alters-
gruppe in Deutschland (alte Bundesländer) an Krebs
gestorben sind. Und wie wir sehen, hat quer durch
fast alle Altersklassen die Gefahr, an Krebs zu ster-
ben, abgenommen!
Soviele von hunderttausend Männern einer
Altersgruppe sind an Krebs gestorben:
1970 1995
1–4 7,7 3,5
5–9 7,4 3,2
10–14 5,4 2,2
15–19 8,0 4,1
20–24 10,4 5,8
25–29 14,8 7,9
30–34 20,3 11,3
35–39 29,8 24,2
40–44 80,2 58,9
45–49 111,1 117,5
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Krebs 1 185

50–54 210,6 230,4


55–59 380,5 376,1
60–64 670,1 608,8
65–69 1087,1 948,3
70–74 1549,4 1346,2
75–79 1968,4 1856,2
80–84 2295,2 2502,2
85–90 2458,1 3288,7

Die nächste Tabelle zeigt die gleichen Zahlen für die


Frauen. Auch hier hat quer durch fast alle Altersklas-
sen die Gefahr, an Krebs zu sterben, abgenommen.
Soviele von hunderttausend Frauen einer
Altersgruppe sind an Krebs gestorben:
1970 1995
1–4 7,3 2,6
5–9 5,8 3,1
10–14 4,2 2,2
15–19 6,4 3,8
20–24 7,7 4,2
25–29 12,3 7,4
30–34 21,4 15,4
35–39 44,5 32,4
40–44 84,1 66,2
45–49 144,1 109,9
50–54 219,2 182,4
55–59 304,7 244,2
60–64 414,9 369,2
65–69 601,0 505,2
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Krebs 1 186

70–74 850,1 718,9


75–79 1183,3 967,2
80–84 1643,6 1372,9
85–90 1758,1 1800,8

Werfen wir aber alle Alterklassen in den gleichen


Topf, so hat bei Männern wie bei Frauen die Wahr-
scheinlichkeit, an Krebs zu sterben, in diesen 25 Jah-
ren zugenommen. Aber nicht, weil Krebs als solcher
gefährlicher geworden wäre, sondern weil wir immer
älter werden, weil in der vom Krebs besonders stark
bedrohten Klasse der über 85jährigen 1970 in
Deutschland (alte Bundesländer) nur 300000 Men-
schen lebten, 1995 dagegen 950000, mehr als dreimal
soviel, und vor allem deshalb, und nicht weil wir uns
durch Atomkraftwerke oder Chemikalien selbst ver-
giften, sterben heute so viel Menschen mehr an Krebs.
& Lit.: Statistisches Bundesamt: Fachserie 12: Ge-
sundheitswesen, Reihe 4: Todesursachen (ver-
schiedene Jahre); W. Krämer: Denkste! Das
Lottoglück und andere Trugschlüsse aus dem
Reich des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt 1995.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Krebs 2 187

Krebs 2
Ohne Krebs würden wir viel länger leben (s.a. ð
»Lebenserwartung«)
Viele Menschen glauben zu Unrecht, sie würden ohne
Krebs viel länger leben. Wenn wir einmal hypothe-
tisch fragen: »Um wieviel würde unsere Lebenserwar-
tung steigen, wenn es keinen Krebs mehr gäbe?«, so
erhalten wir als Antwort: noch nicht einmal drei
Jahre.
Diese Zahl kommt so zustande, daß wir uns die Ri-
siken, die uns nach dem Leben trachten, wie Krebs,
Herzkrankheiten, Unfälle, Mord und Totschlag,
AIDS, Alzheimer etc., einmal als Spieler denken, die
um unser Leben würfeln. Sie werfen einen Würfel mit
100 Seiten (stellvertretend für die 100 Jahre, die wir
höchstens leben; die paar über 100-jährigen vergessen
wir einmal), die kleinste Zahl gewinnt. Angenommen
etwa, Krebs würfelt 49, Mord und Totschlag 25, Un-
fall 80, Herz-Kreislauf 75 und AIDS 58. Dann wer-
den wir mit 25 durch Mord und Totschlag sterben.
Würden wir nicht ermordet, stürben wir mit 49 an
Krebs, und fällt auch diese Ursache aus, dann mit 58
an AIDS, dann mit 75 an einem Herzleiden und
schließlich mit 80 durch einen Verkehrsunfall.
Das Alter, das wir erreichen bevor wir sterben, ist
also die bei diesem makabren Spiel erzielte minimale
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Krebs 2 187

Augenzahl. Die Ursache, an der wir sterben, ist das


Risiko, welches diese Zahl gewürfelt hat. So gesehen
können wir also unsere Ausgangsfrage wie folgt
etwas anders stellen: »Um wieviel steigt der mittlere
Wert des Minimums in diesem Spiel, wenn das Risi-
ko ›Krebs‹ vom Würfeln ausgeschlossen wird?«
Diese Frage beantwortet die Theorie der sog. »kon-
kurrierenden Risiken«, und zwar leider so wie oben
schon gesagt: im Durchschnitt wird das Minimum nur
um rund drei Jahre größer.
Bei der Elimination anderer Krankheiten bzw. Ri-
siken steigt die Lebenserwartung sogar noch weniger:
7 Monate bei Wegfall aller Krankheiten der Atemwe-
ge, 7 Monate bei Wegfall aller Krankheiten der
Verdauungsorgane, 5 Monate bei Wegfall aller Ver-
kehrsunfälle etc. Am größten, rund 7 Jahre, wäre der
Anstieg der Lebenserwartung bei der Elimination von
Herzkrankheiten, aber sterben müßten wir in jedem
Fall auch dann.
& Lit.: Klaus Kern und Werner Braun: »Einfluß
wichtiger Todesursachen auf die Sterblichkeit und
die Lebenserwartung«, Wirtschaft und Statistik
1985, 233–240; Krämer: Statistik verstehen,
Frankfurt 1992 (besonders Kap. 11: Mortalität
und Lebenserwartung).

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Krebs 3 188

Krebs 3
Eine hohe Sterblichkeit an Krebs ist ein Zeichen
für schlechte medizinische Versorgung
Eine hohe Sterblichkeit an Krebs ist keine Schande
für ein Land und ein Gesundheitswesen; sie ist eher
als ein Kompliment zu sehen – je mehr Menschen in
einer Gegend dieser Erde an Krebs sterben, desto bes-
ser ist dort in aller Regel die Umwelt und die medizi-
nische Versorgung.
Wie die folgende Tabelle zeigt, ist die Krebssterb-
lichkeit in Deutschland in den letzten 90 Jahren von
unter 4 auf über 20 Prozent der Todesfälle angestie-
gen. Aber nicht weil wir immer kränker, sonderen
weil wir immer älter werden. Schon immer starben
Menschen mit wachsendem Alter häufiger an Krebs.
Nur wurden sie früher eben nicht so alt.
Todesursachen in Deutschland 1905 und 1995
1905 1995
Krebs 3,7% 21,5%
Herz-Kreislauf 10,4% 50,7%
Tbc 10,3% 0,2%
Altersschwäche 9,7% 1,0%
Unfälle und Selbstmord 3,0% 5,2%
Sonstige Ursachen 62,9% 21,4%

Der beste Indikator für Umweltqualität und medizini-


Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Krebs 3 188

sche Versorgung ist die Lebenserwartung – je länger


wir leben, desto gesünder die Umwelt, desto besser
die Medizin. Und je höher die Lebenserwartung,
desto höher auch die Krebsmortalität. So haben etwa
japanische Männer die höchste Lebenserwartung (74
Jahre), aber auch die höchste Krebssterblichkeit der
Welt (25%). Auf der anderen Seite sterben in den
armen, medizinisch schlecht versorgten Ländern die-
ser Erde nur 5 bis 10 Prozent der Menschen an Krebs,
aber nicht, weil sie so gesund, sondern weil sie so mi-
serabel leben.
Diesen Effekt beobachten wir selbst innerhalb der
Bundesrepublik: Wo die Krebssterblichkeit am
höchsten ist, leben die Menschen am längsten. Die
höchste Krebsmortalität, verbunden mit Spitzenplät-
zen bei der Lebenserwartung, haben wir hier in Bre-
men (23,5%) und Schleswig-Holstein (23,4% aller
Verstorbenen im Durchschnitt der Jahre 1980 bis
1985). Im Saarland und in Berlin dagegen, wo im re-
gionalen Vergleich die wenigsten Menschen an Krebs
sterben (21,8% und 19,9%), sterben die Menschen im
Durchschnitt ein Jahr früher.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.

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LexPI Bd. 1 Krebs 4 189

Krebs 4
Je weniger Krebskranke, desto besser das Ge-
sundheitswesen
Nicht nur die Zahl der in einem Jahr an Krebs verstor-
benen, auch die Zahl der zu einem gegebenen Zeit-
punkt an Krebs leidenden Menschen führt, was die
Qualität der Medizin betrifft, leicht in die Irre. Hier
gilt: je mehr Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt
an Krebs leiden, desto besser ist die Medizin, und je
weniger Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt an
Krebs leiden, desto schlechter ist die Medizin.
Es gibt nämlich vor allem deshalb vergleichsweise
wenig Krebskranke in Deutschland (an einem gegebe-
nen Stichtag rund 150000, verglichen mit mehr als
zwei Millionen Menschen, die an Herz-Kreislauf-Be-
schwerden leiden), weil so viele von ihnen heute noch
nach kurzem Leiden sterben. Die Zahl der Krebstoten
pro Jahr ist regelmäßig höher als die Zahl der Krebs-
kranken an einem Stichtag (im Fachjargon der Epide-
miologen: Hohe Inzidenz bei geringer Prävalenz),
weil ein Krebskranker vom Zeitpunkt der Diagnose
an im Durchschnitt kein Jahr mehr lebt.
Angenommen nun, alle rund 200000 Krebstoten
eines Jahres wären wie die Pestkranken des Mittelal-
ters kurz nach Ausbruch der Krankheit verstorben, im
Extremfall noch am gleichen Tag. Erfolgloser kann
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Krebs 4 189

ein Heilversuch kaum sein. Gerade bei Krebs haben


wir uns ja angewöhnt, den Therapieerfolg an der
Überlebensdauer zu messen, und eine Überlebensdau-
er von nur einem Tag bedeutet damit den Gipfel der
Unfähigkeit. Trotzdem wären an einem gegebenen
Stichtag sehr viel weniger Menschen an Krebs er-
krankt. 200000 an Krebs verstorbene im Jahr ergäben
548 Verstorbene pro Tag, und genausoviele und nicht
mehr wären auch an einem beliebig ausgewählten
Stichtag krank, ein Bruchteil nur der aktuellen Zahl.
Wer will, kann dieses Spiel noch weiter treiben und
fragen, wieviele Kranke wir hätten, wenn alle schon
nach einer Stunde oder zehn Minuten stürben. Je kür-
zer jedenfalls die Überlebenszeit, desto freundlicher
die Morbiditätsstatistik.
Wenn es dagegen auf der anderen Seite gelänge,
alle Krebskranken von der Diagnose ab gerechnet
noch zehn Jahre am Leben zu halten, sei es durch Be-
strahlung, Chemotherapie oder eine andere heute noch
unbekannte Methode, was wäre dann? Wohl jeder
würde dies als großen Erfolg bewerten.
Dennoch würde die Zahl der diagnostizierten
Krebskranken stetig zunehmen und nach einer gewis-
sen Anlaufzeit sogar die Millionengrenze überschrei-
ten.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.
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LexPI Bd. 2 Kreml 182

Kreml
Nur in Moskau gibt es einen Kreml (s.a. ð
»Akropolis« in Band 1)
»Kreml« ist das russische Wort für »Zitadelle«; einen
solchen Kreml gibt es auch in Novgorod, Smolensk
oder Kazan. Der in Moskau ist nur der bekannteste
und größte.
& Stichwort vorgeschlagen von H. van Maanen.

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LexPI Bd. 2 Kreuzritter 182

Kreuzritter
Kreuzritter gab es nur im Mittelalter
Kreuzritter sind Ritter bzw. Soldaten, die im Auftrag
und mit dem Segen des Papstes kämpfen. Dergleichen
Kämpfer gab es noch lange nach dem Mittelalter, die
letzten, die Johanniter auf der Insel Malta, mußten
erst 1798 ihren Abschied nehmen, als Napoleon die
Insel eingenommen hatte.

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LexPI Bd. 2 Kreuzzüge 1 182

Kreuzzüge 1
Die Kreuzzüge waren reine Religionskriege und
führten mehrheitlich nach Palästina
Die meisten Kreuzzüge haben Europa nie verlassen,
und längst nicht alle galten Ketzern oder Heiden. Es
gab Kreuzzüge gegen die Mauren in Spanien, gegen
die Katharer in Südfrankreich, gegen die Hussiten in
Böhmen, gegen die Wenden im Baltikum und gegen
die Protestanten in England (die spanische Armada ist
als Kreuzzug gegen England ausgelaufen).
»Kreuzzug« hieß: Diese Kriegsfahrt zählte als
»Wallfahrt«, mit all den Privilegien wie Ablaß der
Sünden, Schutz des heimatlichen Eigentums usw., die
Wallfahrer einstmals reklamieren durften; Kreuzzüge
durften daher nur mit dem Segen und mit der Erlaub-
nis des Papstes unternommen werden. Aber diese bil-
lige Methode, Heere gegen seine Feinde auszurüsten,
brachte die Päpste bald auf den Gedanken, Kreuzzüge
auch gegen rein politische Gegner auszurufen, ob Ka-
tholiken, Ketzer, Moslems oder Protestanten; im 13.
Jahrhundert verkündeten sie z.B. einen Kreuzzug
gegen Friedrich II. in Sizilien, danach einen weiteren
gegen dessen Erben, einen weiteren gegen die Ghibel-
linen in Norditalien, und später, aus dem Exil in Avi-
gnon, verkündeten die Päpste Kreuzzüge gegen fast
jedes Herrscherhaus, das es damals in Italien gab.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Kreuzzüge 1 183

& Lit.: Stichwort »Kreuzzüge« in Theologische


Realenzyklopädie, Band 20, Berlin 1990.

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LexPI Bd. 2 Kreuzzüge 2 183

Kreuzzüge 2
Die Kreuzzüge waren ein Vorbote des westlichen
Imperialismus
Die ersten Kreuzzüge stehen weniger für westlichen
als für östlichen Imperialismus; sie reagierten vor
allem auf mehrere hundert Jahre Expansion der Tür-
ken und der Mauren. Als Papst Urban II. am 27. No-
vember 1095 auf einer Wiese vor den Toren von Cler-
mont in Frankreich zum ersten Kreuzzug aufruft, will
er Jerusalem befreien, nicht erobern. Bis weit über die
Hälfte des 1. Jahrtausends hatte Jerusalem unter der
Herrschaft des christlichen Kaisers von Byzanz ge-
standen; hätten die Muslims ihren Aggressionsfeldzug
gezügelt, hätte es auch keine Kreuzzüge gegeben.
Genausowenig waren die Kreuzzüge schwerpunkt-
mäßig kommerzielle Unternehmen; ihre Teilnehmer
dachten weit weniger an persönlichen Gewinn und
materiellen Reichtum, als viele Historiker ihnen spät-
er unterstellten; sie mußten sich vielfach hoch ver-
schulden, um an einem Kreuzzug teilzunehmen, sie
sahen einen Kreuzzug weniger als Quelle für ihre Ein-
nahmen denn als Buße für ihre Sünden, anders als die
späteren spanischen Konquistadoren oder die engli-
schen Ostindienfahrer, die aus rein kommerziellen In-
teressen ihre Fahrten unternahmen, sind sie eher mit
modernen religiösen Selbstmord-Attentätern zu ver-
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LexPI Bd. 2 Kreuzzüge 2 183

gleichen.
& Lit.: Jonathan Riley-Smith: »Reinterpreting the
crusades«, The Economist, 23.12.1995.

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LexPI Bd. 1 Krieg 190

Krieg
»Ich führe den Krieg mit den Lebenden und nicht
mit den Toten«
So soll Kaiser Karl V. nach der Eroberung von Wit-
tenberg den Herzog von Alba beschieden haben, als
der die Leiche des verhaßten Martin Luther ausgraben
und nachträglich aufhängen wollte. Dergleichen noble
Gesten – eine so erfunden wie die andere – werden
siegreichen Feldherren seit der Antike angedichtet.
Mit fast den gleichen Worten erlaubt schon der kar-
thagische Feldherr Hamilkar Barkas den Römern, ihre
gefallenen Soldaten zu bestatten.
& Lit.: William Lewis Hertslet: Der Treppenwitz
der Weltgeschichte, 11. Auflage, Berlin 1965.

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LexPI Bd. 2 Krieg 1 183

Krieg 1
Bertolt Brecht schrieb: »Stell dir vor, es ist Krieg,
und keiner geht hin.« (s.a. ð »Freiheit«)
Diese von den Gegnern der Nachrüstung 1982 ausge-
grabene Brecht-Parole ist erfunden; sie wurde seinem
Gedicht »Wer zu Hause bleibt« posthum angeheftet.
Der Originaltext von Brecht lautet so: »Wer zu Hause
bleibt, wenn der Kampf beginnt, / Und läßt andere
kämpfen für seine Sache, / Der muß sich vorsehen,
denn: / Wer den Kampf nicht geteilt hat, / Wird teilen
die Niederlage. / Nicht einmal den Kampf vermeidet, /
Wer den Kampf vermeiden will: denn / Es wird
kämpfen für die Sache des Feindes, / Wer für seine ei-
gene Sache nicht gekämpft hat.«
Diesem Text, in dem insgesamt siebenmal vom
Kämpfen die Rede ist, wurde in den 70er Jahren von
unbekannter Hand das obige Friedensmotto vorange-
stellt; es verkehrt die Aussage des Brecht-Textes ins
Gegenteil.
& Lit.: Josef Nyary: »Vom Umgang mit Roten und
Rothäuten«, Welt am Sonntag, 15.2.1998; Stich-
wort beigetragen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Krieg 2 184

Krieg 2
Clausewitz schrieb: »Der Krieg ist nichts anderes
als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mit-
teln.«
In »Vom Kriege« (11. Auflage 1832, S. 640) schreibt
Clausewitz genau: »Der Krieg ist nichts als eine Fort-
setzung des politischen Verkehrs mit Einmischung
anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß
dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht
aufhört, nicht in etwas anderes verwandelt wird, son-
dern daß er in seinem Wesen fortbesteht, wie auch die
Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich bedient.«

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LexPI Bd. 1 Krokodilstränen 190

Krokodilstränen
Wenn Krokodile große Brocken Fleisch verschlingen,
scheinen sie zu weinen. Aber nicht aus Trauer oder
Reue, sondern weil sie in ihrer Freßgier oft viel grö-
ßere Stücke schlucken als in ihren Rachen passen.
Dann schnappen sie hektisch nach Luft, das drückt
auf die Tränendrüsen; so scheinen Krokodile dann zu
weinen, wenn sie ihre Opfer fressen.
Vermutlich war der römische Historiker Plinius der
erste, der die Tränen auf diese Weise in seiner Histo-
ria Naturalis mißgedeutet hat. Seitdem gelten sie als
ein Symbol für vorgetäuschte, falsche Reue, aber in
Wahrheit sind sie nur ein einfacher Reflex.

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LexPI Bd. 2 Kronzeuge 184

Kronzeuge
Ein Kronzeuge heißt so, weil er der wichtigste
Zeuge ist
Ein Kronzeuge ist ein Krimineller, der seine Mittäter
belastet. Das Wort kommt aus dem anglo-amerikani-
schen Strafrecht, welches Strafverfahren so wie Zivil-
verfahren als Parteiprozesse führt (zwischen der
»Krone« alias dem Staat und dem Beschuldigten); ein
aussagebereiter Mittäter ist also der Zeuge »für die
Krone«.
& Lit.: Stichwort »Kronzeuge« in Meyers Enzyklo-
pädisches Lexikon, Mannheim 1975; Stichwort
vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Kropf 185

Kropf
Kröpfe entstehen durch Mangel an Jod
Ein Kropf, d.h. eine krankhafte Vergrößerung der
Schilddrüse, kann durch alles mögliche entstehen: Vi-
taminmangel, Nitrate im Trinkwasser, Unkrautvertil-
ger, Zigaretten, Blei ...
Eher selten entsteht ein Kropf auch durch ein Defi-
zit an Jod; wahrscheinlicher ist dagegen, daß man
durch Jodzusätze in der Nahrung überhaupt erst einen
Kropf bekommt: In mehreren Regionen unseres Pla-
neten haben die Kröpfe nach der Beigabe von Jod in
Lebensmitteln zugenommen ...
Die Jod-Theorie geht auf die ungleiche regionale
Verteilung der Kröpfe zurück: In Gegenden mit jodar-
mer Ernährung treten sie häufiger auf als anderswo.
Aber diese Korrelation hat viele Wurzeln. Zum Bei-
spiel gibt es in den notorischen Kropfgebieten der
Alpen immer wieder Bauernfamilien, die bei gleicher
Jodversorgung anders als ihre Nachbarn nie vom
Kropf betroffen werden. Der Grund: die Bauern aus
den »Kropfhäusern« haben schlechte, schattenreiche
Weiden, die Bauern aus den jodfreien Häusern dage-
gen lassen ihre Kühe in der Sonne weiden. Dadurch
enthält deren Milch mehr Vitamin A, und dieser un-
terschiedliche Vitamin-A-Gehalt und nicht das Jod er-
klärt dann auch die Kröpfe.
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LexPI Bd. 2 Kropf 185

& Lit.: U. Pollmer et al.: Prost Mahlzeit! Krank


durch gesunde Ernährung, Köln 1994; Stichwort
vorgeschlagen von Sonja Berghoff.

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LexPI Bd. 2 Kröte 185

Kröte
»Ein paar Kröten« steht für »wenig Geld«, weil
Kröten vergleichsweise wertlos sind
Die »Kröten« in den »paar Kröten« kommen nicht
von den Tieren gleichen Namens, sondern von »Gro-
schen« oder »Groten«. »Ein paar Kröten« heißt also
»Ein paar Groschen«.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 1 Kuchen 190

Kuchen
»Dann sollen sie doch Kuchen essen«
So patzig soll Marie-Antoinette die Klagen ihrer Un-
tertanen, sie hätten kein Brot zu essen, abgewiesen
haben. Aber wie so viele berühmte Worte ist auch
dieser Ausspruch nie gefallen, weder aus dem Mund
der Marie-Antoinette noch sonst einer Person.
Im französischen Original heißt der Satz: »Qu'ils
mangent de la brioche!« Diese Worte sind erfunden,
und zwar schon 1760 von Jean-Jacques Rousseau, als
Marie-Antoinette gerade erst geboren war (und als
Österreicherin ganz sicher kein Französisch konnte).
Rousseau hatte sie in seinen Confessions einer anony-
men »großen Fürstin«, vermutlich der Herzogin der
Toskana, in den Mund gelegt. Später wurden sie dann
Marie-Antoinette zugeschrieben – nicht weil sie sie
wirklich gesagt hätte, sondern weil sie sie hätte sagen
können, und um das Gewissen ihrer Mörder etwas zu
besänftigen.
& Lit.: Hermann Schreiber: Marie-Antoinette, Mün-
chen 1990.

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LexPI Bd. 1 Kugel 191

Kugel
Die Erde ist eine Kugel
Die Erde ist keine Kugel, sondern ein sogenanntes
»abgeplattetes Rotationsellipsoid«: sie ist an den
Polen etwas abgeplattet und am Äquator etwas ausge-
buchtet. Am Äquator ist der Meeresspiegel 21 Kilo-
meter weiter vom Mittelpunkt der Erde entfernt als
am Nordpol.
& Lit.: Isaac Asimov: Das Wissen unserer Zeit,
München 1991.

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LexPI Bd. 1 Kühlschrank 191

Kühlschrank
Durch Öffnen des Kühlschranks sinkt die Tempe-
ratur in einem Zimmer
Wer an einem heißen Sommertag den Einfall haben
sollte, zum Abkühlen des Zimmers die Kühlschrank-
tür zu öffnen, wird eine Überraschung erleben: die
Temperatur geht nicht zurück, sie steigt vielmehr wei-
ter an. Zwar kann die Kühlschrankluft zunächst für
etwas Kühlung sorgen, aber dann erzeugt der durch
die wärmere Luft im Kühlschrank selbst bewirkte
Hochbetrieb der Kühlaggregate eine stetige Aufhei-
zung des Zimmers. Denn diese Kühlaggregate ver-
brauchen Energie, die in Wärme umgewandelt wird
und so die Netto-Wärmebilanz des Zimmers erhöht.
Theoretisch könnte man mit einem Kühlschrank in
einem wärmeisolierten Zimmer sogar Wüstenklima
schaffen.
& Lit.: Klaus Freyer u.a.: Gut gedacht ist halb ge-
löst, Leipzig 1972.

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LexPI Bd. 2 Kummerbund 186

Kummerbund
Männer mit einem Kummerbund haben Kum-
mer mit ihrer Figur
Mag sein, aber die als »Kummerbund« bekannte, von
Frackträgern um den Bauch geschlungene Schärpe hat
mit Kummer nichts zu tun; sie hat den Namen vom
persischen »Hamarband« (= Hüftgürtel) und heißt
auch im englischen »cummerbund«.

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LexPI Bd. 1 Kunst 191

Kunst
Kunst ist eine gute Geldanlage
Anfang der 90er Jahre druckte der englische Econo-
mist die folgende Hitliste für Geldanlagen (durch-
schnittliche Rendite der letzten 20 Jahre):
amerikanische Münzen 17,3%
chinesische Keramik 14,4%
Aktien 12,7%
Gemälde alter Meister 12,5%
Gold 12,1%
Diamanten 11,0%
festverzinsliche Wertpapiere 9,1%
Immobilien 7,5%
Silber 5,4%

Kunst und Antiquitäten scheinen damit eine gute


Geldanlage; sie machen den Besitzer reicher als Geld,
Gold oder Aktien, und sind außerdem auch noch er-
freulich anzusehen.
Das ist aber in aller Regel falsch, zumindest was
den ersten Teil betrifft. Denn die Stichprobe der
Kunstwerke, mittels derer obige Renditen errechnet
wurden, ist ganz extrem »verzerrt«, wie die Experten
sagen: da aus naheliegenden Gründen nicht alle Jahre
alle Kunstwerke der Welt bewertet werden können,
gehen vor allem solche Stücke in die obige Statistik
ein, die erfolgreich auf Auktionen umgeschlagen wer-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kunst 192

den. Mit anderen Worten, Ladenhüter bleiben außen


vor. Es erscheint daher durchaus die »Landschaft mit
aufgehender Sonne« von van Gogh, gekauft für 9,9
Millionen Dollar 1984, verkauft für 50 Millionen
Dollar 1989, während Ihr für DM 20000 sensationell
günstig erstandenes, heute unverkäufliches Frühwerk
»Tintenklecks auf Bettuch« aus der paranoiden Perio-
de von Joseph Beuys total verleugnet wird – solche
Fehlinvestitionen gehen nicht mit einem Verlust von
DM 20000, sondern überhaupt nicht in den Durch-
schnitt ein. Daß dann natürlich alte Meister jedes Jahr
um 12% an Wert gewinnen (von Juni 1989 bis Juni
1990, als ein Gemälde von van Gogh für mehr als 80
Millionen Dollar den Besitzer wechselte, sogar durch-
schnittlich um 44,5%), braucht niemanden zu wun-
dern.
& Lit.: Horst Wagenführ: Kunst als Kapitalanlage,
Stuttgart 1965; The Economist, 23.-29. Juni
1990, S. 140 (Economic and financial indicators);
Godfrey Barker: »Kunstwerke sind keine Aktien –
Ein Index soll Sammlern helfen«, Welt am Sonn-
tag, 25. Juli 1993 (Kulturbeilage); hier wird auch
der Kunstindex DT Art 100 näher vorgestellt (ab-
rufbar bei: Robin Duty, Art Market Research, 85
Stoke Newington Church Street, London N16
OAS, Tel. 071-2498071, FAX 071-2545619);
Bruno S. Frey und Reiner Eichenberger: »On the
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Kunst 192

rate of return in the art market: survey and evalua-


tion«, European Economic Review 39, 1995,
528–537.

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LexPI Bd. 2 Künstliche Beatmung 186

Künstliche Beatmung
Die Medizin kann erst seit kurzem Menschen
künstlich beatmen
Wenn man modernen Anästhesisten glauben darf,
wurden schon vor 5000 Jahren Menschen, die keine
Luft mehr bekamen, künstlich beatmet: Die seltsamen
Haken, die man zuweilen in Ägypten in Gräbern und
auf Bildern findet, wären demnach ein Vorfahr des
modernen Laryngoskops gewesen, mit dem heute Pa-
tienten mit Atemstillstand behandelt werden – damit
wird der Weg zur Luftröhre gebahnt und dem Intuba-
tionsschlauch Platz gemacht. So hätten ägyptische
Ärzte z.B. Patienten, deren Atem etwa nach Schlan-
genbissen stillstand, bis zum Wiederbeginn der At-
mung künstlich zwangsbeatmet.
& Lit.: A. Ocklitz: »Kardiopulmonale Reanimation
vor 5000 Jahren«, Vortrag auf dem »Internationa-
len Anästhesistenkongreß«, Hamburg 1997;
»Haken im Hals«, Der Spiegel 17/1997.

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LexPI Bd. 2 Künstliche Befruchtung 186

Künstliche Befruchtung
Künstliche Befruchtung gibt es erst seit wenigen
Jahrzehnten
Künstliche Befruchtung, d.h. das ohne Hilfe männ-
licher Geschlechtsorgane vollzogene Einsetzen männ-
licher Spermien in den weiblichen Eileiter zwecks Er-
zeugung neuer Lebewesen, gab es schon im 18. Jahr-
hundert. Zunächst bei Tieren, wenig später auch bei
Menschen, wurden schon vor mehr als 200 Jahren
männliche Spermien mit geeigneten Instrumenten in
die weibliche Gebärmutter verbracht. Auf diese Weise
soll etwa ein englischer Arzt namens William Hunter
einem französischen Ehepaar, dessen männliche Hälf-
te wegen Penisverkrümmung zum Geschlechtsverkehr
nicht fähig war, zu Kinderglück verholfen haben ...
Diese Technik wurde sehr diskret verwendet, man
sprach öffentlich nicht gern darüber; einschlägige Ar-
beiten wurden von der Fachwelt wenig freundlich auf-
genommen (noch 1885 wurde ein Buch eines Joseph
Gerard zur Theorie und Praxis dieser Technik öffent-
lich verbrannt).
& Lit.: L. Gavarini: »Fécondation artificielle: un
débat centenaire«, La Recherche 213, Sep. 1989.

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LexPI Bd. 2 Kupfermünzen 187

Kupfermünzen
Das Kupfer in unseren Kupfermünzen ist mehr
wert als die Münzen selbst
Richtig ist: Unsere Ein- und Zweipfennigstücke ko-
sten in der Herstellung rund 3 Pfennig – der Staat
wird also mit jeder dieser Münzen ärmer. Aber dieser
Preis kommt weniger durch das Material als durch die
Herstellung zustande; unsere Pfennigmünzen bestehen
aus einem Stahlkern, der mit einer Kupferauflage ver-
sehen ist; das reine Material hat einen Wert von weni-
ger als einem Pfennig.
& Lit.: Christoph Drösser: »Bare Münze«, Die Zeit,
13.3.1998; Stichwort vorgeschlagen von Christi-
an Kleiber.

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LexPI Bd. 2 Küssen 187

Küssen
Beim Küssen kann man sich erkälten (s.a. ð »Er-
kältungen« in Band 1)
Diese Aussage ist nach moderner Medizinermeinung
eher unwahrscheinlich. Denn die Viren, die Erkältun-
gen übertragen, fühlen sich in unserem Mund nicht
wohl – sie leben lieber in der Nase, da ist es wärmer,
und deshalb können sie sich auch durch Küssen nicht
verbreiten.
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991.

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L 188

»Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende,


was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt.«
Goethe, Torquato Tasso

»Der gesunde Menschenverstand, wenn er eine


Sache beurteilen will, schießt nicht so sehr fehl
wie die halbe Gelehrsamkeit.«
Immanuel Kant

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LexPI Bd. 1 »L'état c'est moi!« 196

»L'état c'est moi!«


»L'état c'est moi« – »Der Staat bin ich«, diese be-
rühmten Worte des französischen Sonnenkönigs Lud-
wig XIV. sind aus dem Munde dieses Herrschers nie
gefallen, zumindest wenn man seinem Biographen
Sieburg glauben darf: »Zwar ist es längst wahrschein-
lich geworden, daß er diesen Ausspruch nie getan hat,
der auch seiner Staatsauffassung nicht entsprochen
hätte. Aber die Praxis, nach der der allgewaltige Mon-
arch sein Land regierte, kam einer Identifikation des
Königs mit dem Staat doch so nahe, daß der gleich-
sam abstrakte Absolutismus, den Richelieu entwickelt
hatte, unter Ludwig XIV. durchaus persönliche Züge
annehmen konnte.«
Wir haben hier den gleichen Mechanismus, mittels
dessen auch Marie Antoinette (»Dann sollen sie doch
Kuchen essen«) und viele andere historische Persön-
lichkeiten mit gewissen geflügelten Worten verheira-
tet wurden: nicht weil sie sie wirklich gesagt hätten,
sondern weil sie sie hätten sagen können.
& Lit.: Heinz Otto Sieburg: Geschichte Frankreichs,
2. Aufl., Stuttgart 1977.

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LexPI Bd. 2 Lamm 188

Lamm
»Belämmert« kommt von Lamm
Die genaue Herkunft von »belämmert« ist umstritten;
einige meinen, es sei aus dem hebräischen »b'li emor«
(= sprachlos) über das Jiddische ins Deutsche gekom-
men, andere halten die Herkunft von dem niederländi-
schen »belemmern« (= verhindern, hemmen) für
wahrscheinlicher, wieder andere sehen die Wurzel in
dem ebenfalls niederländischen »Lammel« (= be-
schmutzter Rocksaum). Von den Lämmern kommt
»belämmert« aber sicher nicht.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960;
Bernd-Lutz Lange: Dämmerschoppen, Köln 1997
(besonders das Kapitel »Sprachdenkmäler«).

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LexPI Bd. 2 Landauer 188

Landauer
Die als »Landauer« bekannten Kutschen kamen
aus Landau
»Und so kam auch zurück mit seinen Töchtern
gefahren
Rasch an die andere Seite des Marktes der begüterte
Nachbar,
An sein erneuertes Haus, der erste Kaufmann des
Ortes,
Im geöffneten Wagen (er war in Landau verfertigt).«

So schreibt Goethe in »Hermann und Dorothea«.


Aber anders als Goethe glaubte, hat das Wort »Land-
auer« für eine leichte, offene Kutsche mit der pfälzi-
schen Stadt Landau nichts zu tun. Es ist vielmehr aus
dem arabischen »landul« abgeleitet, das über das spa-
nische »lado« (ein leichter, mit Maultier bespannter
viersitziger Wagen) und das englische »landau«
schließlich zum deutschen Landauer geworden ist.
& Lit.: Nabil Osman: Kleines Lexikon deutscher
Wörter arabischer Herkunft, München 1993; Eck-
hard Henscheid, Gerhard Henschel und Brigitte
Kronauer: Kulturgeschichte der Mißverständnis-
se, Stuttgart 1997 (besonders der Abschnitt »Ety-
mologie auf dem Holzweg«).

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LexPI Bd. 2 Langemarck 189

Langemarck
Bei Langemarck sind deutsche Kriegsfreiwillige
das Deutschlandlied singend gegen Engländer
und Franzosen vorgestoßen
Das Dorf Langemarck in Flandern, auch Langemark
geschrieben, 8 km nördlich von Ypern gelegen und
heute Teil der Gemeinde Langemarck-Poelkapelle,
war keinesfalls der Ort der legendären jugendlichen
Heldentaten, den wir aus der deutschen Weltkrieg-I-
Folklore kennen. »Westlich Langemarck brachen
junge Regimenter unter dem Gesange ›Deutschland,
Deutschland über alles‹ gegen die erste Linie der
feindlichen Soldaten vor und nahmen sie«, verkündet
die Oberste Deutsche Heeresleitung am 14. Novem-
ber 1914. »Etwa 2000 Mann französischer Linienin-
fanterie wurden gefangengenommen und sechs Ma-
schinengewehre erbeutet.«
Diese Meldung war aber in vielen Teilen falsch.
Erstens fand der Angriff 5 km westlich von
Langemarck bei einem Dorf namens Bixschote statt
(aber wie klingt »Bixschote« gegen »Langemarck«);
zweitens bestanden die dort angreifenden deutschen
Freiwilligenregimenter nach großen vorangegangenen
Verlusten zum überwiegenden Teil aus älteren Ersatz-
reservisten und Landsturmjahrgängen, und drittens
hat von diesen niemand beim Angriff das Deutsch-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Langemarck 189

landlied gesungen. »Unter den Mannschaften erweck-


te der Sturmbefehl nicht die geringste Begeisterung«,
heißt es in der Geschichte eines damals beteiligten
Reserve-Infanterieregiments. »Es war keine Hurra-
stimmung, mit der die Männer (...) in den Tod gin-
gen.«
Diese Hurrastimmung kam erst lange nach den
Kämpfen auf. »Aus der Ferne aber drangen die Klän-
ge eines Liedes an unser Ohr und kamen immer näher
und näher«, schreibt Adolf Hitler in »Mein Kampf«.
Sie »sprangen über von Kompagnie zu Kompagnie,
und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in
unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und
wir gaben es nun weiter: Deutschland, Deutschland
über alles, über alles in der Welt«.
Aufgrund solcher und ähnlicher, größtenteils erfun-
dener bzw. nachträglich geschönter Erinnerungen
gründeten deutsche Studenten einen »Langemarck-
Ausschuß Hochschule und Heer«, wurde 1932 in
Langemarck ein »Studentenfriedhof« eingeweiht, und
haben noch 50 Jahre nach den fraglichen Ereignissen
neue deutsche Nazis an diesen Gräbern Feiern abge-
halten – Langemarck als Symbol eines alle Ketten
sprengenden pan-teutonischen Opfergeists und Hel-
dentums.
Vermutlich wollte die Oberste Deutsche Heereslei-
tung mit ihren markigen Sprüchen genau diesen Op-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Langemarck 190

fergeist beschwören, vielleicht auch nur die Aus-


sichtslosigkeit der Lage an diesem Teil der Flandern-
front verbergen. Denn alle Versuche, von Lille aus bis
zur Nordsee und von der Küste aus nach Ypern
durchzubrechen, waren unter großen Verlusten ge-
scheitert (die sog. »Erste große Schlacht in Flandern«
vom 20. Oktober bis 3. November 1914), »die in
aller Eile aufgestellten vier Reservekorps der 4.
Armee (...) erleiden bei Langemarck und Ypern in
dem dichtbesiedelten, von zahlreichen Gräben und
Kanälen durchzogenen sumpfigen Gelände an der
Yser verheerende Verluste« (Piekalkiewicz). »Zehn-
tausende dieser ungenügend ausgebildeten und von
älteren Reserveoffizieren ohne Fronterfahrung geführ-
ten jungen [sic] Soldaten werden hier als Kanonenfut-
ter in den Tod gejagt.«
Die einzigen überlieferten Anlässe, bei denen diese
Kanonenfutter-Regimenter damals das Deutschland-
lied gesungen haben, waren Ruhepausen zwischen
Kämpfen oder Nachtmärsche, während derer man sich
durch das Singen Mut zu machen suchte und die an-
deren in der Gegend herumirrenden deutschen Solda-
ten davon abhalten wollte, ihre eigenen Kameraden
totzuschießen.
& Lit.: K. Unruh: Langemarck – Legende und Wirk-
lichkeit, Koblenz 1986; J. Piekalkiewicz: Der
Erste Weltkrieg, Düsseldorf 1988; M. Vasold:
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LexPI Bd. 2 Langemarck 190

»Langemarck«, in: W. Benz (Hrsg.): Legenden,


Lügen, Vorurteile, München 1995.

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LexPI Bd. 2 Lappen 191

Lappen
»Durch die Lappen gehen« hat etwas mit Lappen
zu tun (s.a. ð »Schönes Wetter«)
Wie so vielen Redewendungen liegt auch dieser ein
Hörfehler zugrunde: In alten Zeiten pflegten Gerber
und Färber ihre Textilien und Felle in fließendem Ge-
wässer zu spülen, dabei schwammen diese öfters weg.
Handelte es sich bei dem Gewässer um einen künst-
lich gestauten, sogenannten »Vorfluter« oberhalb
eines sogenannten »Nadelwehrs« (hier wird der
Durchfluß durch Hochstellen oder Herunterklappen
einzelner Nadeln bzw. »Latten« reguliert), so blieben
die entwischten Stücke mit etwas Glück in den Latten
hängen. Fehlte das Glück, dann gingen die Stücke
eben »durch die Latten«.
& Stichwort vorgeschlagen von Volker Klein.

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LexPI Bd. 2 Lebensborn 1 191

Lebensborn 1
Der »Lebensborn« der Nazis war ein verkappter
Bordellverein
Die Nazis hätten das ehemals von Thomas Mann be-
wohnte Haus in München in ein »zum ›Lebensborn‹
genanntes Arier-Bordell umfunktioniert«, schreibt
Fritz J. Raddatz in der Zeit.
Aber ganz so war es nicht. Der 1935 von Heinrich
Himmler gegründete Verein »Lebensborn e.V.« sollte
zunächst einmal die »nordische« Rasse fördern, die
Abtreibung bekämpfen und für Militär und Wirtschaft
Nachwuchs produzieren. (Erst als Himmler dem an-
fänglich wenig begeisterten Hitler 400.000 stramme
Soldaten extra binnen 25 Jahren avisierte, war dieser
für den »Lebensborn« gewonnen.) Laut Satzung von
1938 hatte der Verein »den Kinderreichtum in der SS
zu unterstützen, jede Mutter guten Blutes zu schützen
und zu betreuen und für hilfsbedürftige Mütter und
Kinder guten Blutes zu sorgen«.
Aber eben nicht durch eine Art Bordellbetrieb, das
hätte die Spießermoral der Nazis niemals ausgehalten.
Auch wenn zuweilen offen zur Zeugung von Kindern
auch außerhalb der Ehe aufgerufen wurde – das
Ganze blieb immer in der bürgerlichen Sexualmoral
verankert; Sex und Wollust waren in der Dienstvor-
schrift nicht vorgesehen. »Im tiefsten sittlichen Ernst«
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Lebensborn 1 191

erging etwa in dem Rundschreiben »SS für ein Groß-


germanien, III Folge, Schwert und Wiege« die Anord-
nung an die deutschen Besatzungstruppen in Norwe-
gen, »daß deutsche Soldaten so viele Kinder wie
möglich zeugen, egal, ob ehelich oder unehelich«, die
Mütter sollten dann die Kinder freiwillig in deutsche
Obhut geben.
& Lit.: G. Lilienthal: Der Lebensborn e.V., Stuttgart
1985; H. Auerbauch: »Lebensborn«, in: W. Benz
(Hrsg.): Legenden, Lügen, Vorurteile, München
1995; Stichwort vorgeschlagen von Richard M.
Müller.

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LexPI Bd. 2 Lebensborn 2 192

Lebensborn 2
Der meiste Nazi-Nachwuchs kam im Lebensborn
zur Welt
Von den mehr als 15 Millionen Deutschen, die im
Dritten Reich geboren wurden, erblickten nur 10.000,
weniger als 1 Promille, in einem Entbindungsheim
des Lebensborns das Licht der Welt; selbst von die-
sen stammten fast die Hälfte aus bürgerlichen Ehen.

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LexPI Bd. 2 Lebensborn 3 192

Lebensborn 3
Mit dem Ende des Dritten Reiches endete auch
der Lebensborn
Dieser unselige Verein wurde in gewisser Weise erst
nach dem Abtreten seiner Gründer wirklich wirksam:
als Reservoir für Westspione in der DDR. Entweder
warb man in der DDR lebende Kinder aus den Hei-
men des Lebensborns, die einen Anspruch auf den
Paß des Landes ihrer Mutter hatten (Norweger etwa),
direkt als Spione an, oder aber man stülpte professi-
onellen Spionen die Biographien von Lebensborn-ge-
zeugten Kindern über. Deren Lebenswege waren, da
in Nazi-Heimen begonnen, für die westlichen Ge-
heimdienste kaum zu kontrollieren, also auch nur
schwer als falsch erkennbar; die »echten« Kinder blie-
ben unter Aufsicht hinter dem eisernen Vorhang, ihre
Doppelgänger gingen derweil auf dessen anderer Seite
ihren Geschäften nach.
»Die genaue Zahl der Spione mit gestohlenen Bio-
graphien ist unbekannt, die meisten Akten sind ver-
nichtet. Sicher ist: Noch immer laufen im vereinten
Deutschland und anderswo Agenten unerkannt und
unbehelligt herum, die irgendwo einen Doppelgänger
haben.«
& Lit.: »Kinder für Führer und Stasi«, Der Spiegel
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Lebensborn 3 192

25/1997.

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LexPI Bd. 1 Lebenserwartung 193

Lebenserwartung
Die Lebenserwartung sagt uns, wie alt wir im
Durchschnitt werden
Die »offizielle« Lebenserwartung beträgt in Deutsch-
land 73 Jahre für Männer und 79 Jahre für Frauen.
Anders als viele glauben, sagt sie uns nicht, wie lange
wir im Durchschnitt auf dieser schönen Erde leben.
Daß einige von uns früher, andere später sterben,
ist ohnehin bekannt, aber auch als Durchschnitt sind
diese Zahlen falsch – sie sind mit großer Wahrschein-
lichkeit zu klein: wenn nicht ein Dritter Weltkrieg
oder der Halleysche Komet dazwischen kommen, wer-
den wir im Mittel sogar noch länger leben, als das
Statistische Bundesamt uns glauben machen will.
Die Lebenserwartung einer Gruppe von Menschen
(einer Kohorte, wie die Demographen sagen) ist
nichts anderes als die durchschnittliche Zeit, die ein
Mitglied dieser Gruppe auf dieser Erde lebt. Und um
diesen Durchschnitt auszurechnen, muß man natürlich
warten, bis alle gestorben sind. Dann addiert man die
verschiedenen Lebensalter zusammen, teilt durch die
Anzahl der Gruppenmitglieder – und das Ergebnis ist
die mittlere Lebensdauer alias Lebenserwartung die-
ser Gruppe.
Da aber weder das Statistische Bundesamt noch
sonst jemand auf der Erde heute weiß, wann die letz-
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LexPI Bd. 1 Lebenserwartung 193

ten der heute lebenden Deutschen einmal sterben wer-


den, hat man diese Daten aus historischen Überle-
benswahrscheinlichkeiten geschätzt: man hat unter-
stellt, daß auch in Zukunft genausoviele 40-jährige
vor ihrem 50. Geburtstag, und 60-jährige vor ihrem
70. Geburtstag sterben werden wie gehabt, also daß
die sogenannte »Sterbetafel«, die den obigen Leben-
serwartungen zugrundeliegt, auch in der Zukunft
weitergilt, und das ist durch die wahren Todesfälle
nicht gedeckt. Nach aller historischen Erfahrung sind
diese in die Zukunft fortgeschriebenen Sterberaten
vielmehr viel zu groß, und die daraus abgeleiteten
Überlebensraten viel zu klein. Denn durch bessere
Medizin, Ernährung und Hygiene gelingt es uns in
allen Altersklassen immer öfter, dem Sensenmann die
Tür zu weisen, so daß von den Menschen einer Al-
tersklasse immer mehr das nächste Jahr erleben, und
die deutschen Jungen und Mädchen des Geburtsjahr-
ganges 1989 (das ist das Jahr, aus dem die obigen Le-
benserwartungen stammen) im Durchschnitt weit län-
ger als 73 bzw. 79 Jahre leben werden.
& Lit.: Walter Krämer: Statistik verstehen, Frank-
furt 1992, vor allem Kapitel 11: »Mortalität und
Lebenserwartung«.

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LexPI Bd. 1 Leberflecken 194

Leberflecken
Leberflecken haben etwas mit der Leber zu tun
Leberflecken haben ihren Namen von der Farbe, die
in der Tat der Farbe der Leber ähnelt. Aber die Ent-
stehung dieser Pigmenthäufungen hat mit unserer
Leber nichts zu tun.

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LexPI Bd. 1 Leberkäse 194

Leberkäse
Leberkäse enthält Leber (s.a. ð »Kalbsleber-
wurst«)
Der echte bayerische Leberkäse enthält in aller Regel
kein Gramm Leber. Die »Leber« in »Leberkäse«
kommt vielleicht von »Laib«, da Leberkäse oft in
einer Art Brotform gebacken wird.
Außerhalb Bayerns enthält Leberkäse
– grob entsehntes Rindfleisch
– sehnenreiches Rindfleisch
– Fettgewebe
– Leber (5%)
Zur besseren Unterscheidung heißt der »echte«, d.h.
leberlose Leberkäse daher auch »bayerischer Leberkä-
se«.
& Lit.: Deutsches Lebensmittelbuch, Bundesanzei-
ger 1992, S.80.

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LexPI Bd. 1 Leicht 1 194

Leicht 1
»Leichte« Lebensmittel sind grundsätzlich kalo-
rienarm
Die verkaufsfördernde Umschreibung »leicht« bzw.
neudeutsch »light« bei Lebensmitteln garantiert nicht
automatisch wenig Kalorien. Nach deutschem Recht
darf ein »leichtes« oder auf amtsdeutsch »kalorienre-
duziertes« Nahrungsmittel pro Gramm oder Kilo ma-
ximal 60 Prozent der Kalorien eines vergleichbaren
»normalen« Produktes enthalten. Wenn also ein
Frischkäse nur 15 Prozent Fett statt 25 Prozent wie
die anderen enthält, ist er nach dieser Deutung
»leicht«. Ein »normaler« Quark mit 10 Prozent Fett
dagegen ist nicht »leicht«.
Leichte Lebensmittel, die auch absolut gesehen
leicht sind, heißen »kalorienarm«. Ein kalorienarmes
(im Gegensatz zu kalorienreduziertes) Lebensmittel
darf pro 100 Gramm höchstens 50 Kilokalorien ent-
halten (bei Getränken: pro Liter maximal 200 Kiloka-
lorien). Mit anderen Worten, es gibt leichte, aber
nicht kalorienarme Lebensmittel, wie »leichte« Käse
oder »leichte« Wurst, und kalorienarme, aber nicht
»leichte« Lebensmittel, wie die meisten Salate, Säfte
und Gemüse, denn diese hatten schon immer von
Natur aus wenig Kalorien.
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LexPI Bd. 1 Leicht 1 195

& Lit.: »Ernährung/Light-Produkte: Ein schwerer


Bluff?« Test 6/1993.

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LexPI Bd. 1 Leicht 2 195

Leicht 2
»Leichte« Lebensmittel enthalten weniger Fremd-
stoffe als andere
Viele Menschen glauben, daß »leichte« Lebensmittel,
da kalorienärmer als »normale«, deshalb auch weni-
ger Fremdstoffe enthalten, und das ist eine weitere Il-
lusion. In der Regel ist genau das Gegenteil der Fall.
Denn mit Fett und Zucker werden nicht nur Kalorien,
sondern auch Geschmacks- und Konservierungsmittel
ausgeschaltet, die irgendwie, und das heißt in aller
Regel künstlich, zu ersetzen sind. »Leicht-Produkte
gehören so mit zu den am stärksten bearbeiteten Le-
bensmitteln«, schreibt die Zeitschrift Test.
& Lit.: »Ernährung/Light-Produkte: Ein schwerer
Bluff?« Test 6/1993.

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LexPI Bd. 1 Leidenschaft 195

Leidenschaft
»Leidenschaft« ist ein altes deutsches Wort
Die Wörter »Leidenschaft« und »leidenschaftlich«
sind relativ moderne Kunstprodukte; sie wurden Mitte
des 17. Jahrhunderts von Philipp von Zesen in die
deutsche Sprache eingeführt – vorher sagte man »Pa-
ssion«. Weder in der Luther-Bibel noch im »Simpli-
zius Simplizissismus« noch in anderen deutschen
Texten vor 1650 kann man »Leidenschaft« und »lei-
denschaftlich« finden.
Nicht durchgesetzt haben sich dagegen »Aus-
übung« für »Praxis«, »Selbstigkeit« für »Egoismus«
oder »Stülper« für »Pullover«.
& Lit.: Ludwig Reiners: Stilkunst, München 1964.

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LexPI Bd. 2 Leipzig 193

Leipzig
Goethe wollte mit »Mein Leipzig lob' ich mir« die
Stadt Leipzig loben
Keine Frage: die einstmals und nun wieder schöne
Metropole Leipzig darf man durchaus loben; aber
Goethe meinte mit »mein Leipzig lob' ich mir« das
Gegenteil. In »Faust 1«, in Auerbachs Keller, läßt er
den Bürger Brander, als Faust und Mephisto das
Lokal betreten, sagen:
Die kommen eben von der Reise,
Man sieht's an ihrer wunderlichen Weise;
Sie sind nicht eine Stunde hier.

Daraufhin meint Bürger Frosch, das seinerzeitige


Äquivalent des Ekels Alfred:
Wahrhaftig, du hast Recht!
Mein Leipzig lob' ich mir.
Es ist ein klein Paris, und bildet seine Leute.

Indem er diesen Antisympathicus die Stadt Leipzig


loben läßt, sagt Goethe indirekt, was er selber von ihr
hält; seine wahre Meinung über Leipzig legt er eher
Mephisto in den Mund:
Dem Volk hier wird jeder Tag ein Fest.
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LexPI Bd. 2 Leipzig 193

Mit wenig Witz und viel Behagen


Dreht jeder sich im engen Zirkeltanz
Wie junge Katzen mit dem Schwanz.
Wenn sie nicht über Kopfweh klagen,
So lang der Wirt nur weiter borgt,
Sind sie vergnügt und unbesorgt.

Diesen »vergnügten und unbesorgten« Leuten mit


»wenig Witz« hat Goethe hier besonders Verehrung
zugetragen.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Lemminge 196

Lemminge
Lemminge stürzen sich selbstmörderisch ins
Meer
Die zur Familie der Wühlmäuse gehörenden Lemmin-
ge sind dafür bekannt, sich nach Zeiten starker Ver-
mehrung massenhaft ins Meer zu stürzen. Aber nicht,
um Selbstmord zu begehen (etwa um den verbleiben-
den Lemmingen mehr Platz und Futter zu verschaf-
fen), sondern weil sie sich verrechnet haben, quasi als
Folge eines Navigationsfehlers: Bei ihrem Auszug
aus der alten Heimat, der alle drei bis vier Jahre durch
Übervölkerung nötig wird, schwimmen die Lemminge
auch durch Flüsse oder Seen, und am Meer angelangt,
halten sie dieses nur für einen weiteren Fluß oder für
einen See, also für ein Hindernis auf dem Weg in
ihren neuen Lebensraum. Und diesen Irrtum erkennen
sie zu spät ...
Ein weiteres Argument gegen die Selbstmordtheo-
rie: Andere Lemmingherden ziehen bei Übervölke-
rung auch bergauf.
& Lit.: N.C. Stensetts und R. Anker (Hrsg.): The
biology of lemmings, New York 1994.

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LexPI Bd. 2 Lemon sole 194

Lemon sole
Lemon sole hat seinen Namen von Zitronen
»Lemon sole« kommt von dem französischen »liman-
de« (= Rotzunge, spanisch »mendo limon«, italie-
nisch »sogliola limanda«); damit meint man in en-
glischsprachigen Ländern in der Regel eine Scholle,
die der teureren Seezunge (»sole«) sehr ähnlich sieht.
Mit »lemon« (= Zitrone) hat das nichts zu tun. (Nur
in Australien meint man mit »lemon-sole« einen fla-
chen Fisch von zitronengelber Farbe.)
& Lit.: The Oxford English Dictionary, Oxford
1963;
http://www.starchefs.com/Dburke
lemon-sole.html.

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LexPI Bd. 2 Leonardo da Vinci 194

Leonardo da Vinci
Leonardo da Vinci hat das Fahrrad erfunden
Leonardo da Vinci hat viele Dinge erfunden oder
vorausgeahnt (den Hubschrauber oder den Fallschirm
etwa), das moderne Fahrrad aber nicht; die berühmte,
1974 auf der Rückseite eines Leonardo-Manuskripts
entdeckte Skizze eines Zweirads, komplett mit Kette
und Pedalen, wurde bei einer Restaurierung des Ma-
nuskriptes in den 60er Jahren von einem Witzbold
nachträglich hineingezeichnet.
Das fragliche Manuskript war ursprünglich gefaltet
und verklebt – die Rückseite des Blattes war verbor-
gen, vermutlich wegen einiger erotischer Zeichnun-
gen, die Leonardo oder einer seiner Schüler auf das
Blatt geworfen hatte. Wenn man das Blatt gegen das
Licht hielt, konnte man aber die Zeichnungen erken-
nen, und noch 1961 waren auf dem Skizzenblatt
außer besagten Zeichnungen nur zwei Kreise zu
sehen, aber keine Pedale und auch keine Speichen;
diese sind also nachträglich dazugekommen. Auf der
internationalen Fahrradgeschichte-Konferenz in Glas-
gow 1997 wurde daher der deutsche Forstmeister Karl
von Drais, der 1817 eine hölzerne Laufmaschine vor-
geschlagen hatte, als der wahre Urheber des Zweirad-
fahrens rehabilitiert.
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LexPI Bd. 2 Leonardo da Vinci 195

& Lit.: Jonathan Knight: »On yer bike, Leonardo –


The Renaissance genius was not the father of cy-
cling«, New Scientist, 18.10.1997, S. 28; Stich-
wort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg und H.
van Maanen.
¤ Das berühmte Fahrrad von Leonardo da Vinci – in
Wahrheit ein Aprilscherz eines neuzeitlichen Klo-
sterbruders

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LexPI Bd. 1 Lesen bei Dämmerlicht 196

Lesen bei Dämmerlicht


Lesen bei Dämmerlicht schadet den Augen
Das Lesen bei Dämmerlicht schadet den Augen ge-
nauso wie das Fotografieren bei Dämmerlicht einer
Kamera schadet – nämlich überhaupt nicht. Natürlich
müssen wir unsre Augen beim Lesen im Dunkeln
mehr anstrengen, wovon vielleicht der eine oder ande-
re Kopfschmerzen bekommt, aber den Augen selber –
so die Mehrheitsmeinung aller Augenärzte – schadet
dieses angestrengte Sehen nicht.

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LexPI Bd. 1 Letzte Worte 197

Letzte Worte
Die meisten sogenannten »letzten Worte«, die die
Großen dieser Erde derselben hinterlassen haben, sind
so wie überliefert nie gefallen. Hier sind einige davon:
»Mehr Licht!«
Auch wenn Goethe nicht, wie Witzbolde behaupten,
in guter Frankfurter Mundart hatte sagen wollen:
»Mer liecht hier so schlecht ...«, wobei dann der Sen-
senmann dazwischentrat – diese Abschiedsworte wur-
den dem großen Dichter einfach angedichtet, vermut-
lich weil sie so gut zum »Image« des Olympiers und
großen Meisters passen.
In Wahrheit ist dieses Licht-Ersuchen Goethes
durchaus wörtlich aufzufassen. »Macht doch den
zweiten Fensterladen auf, damit mehr Licht herein-
komme«, soll er kurz vor seinem Ende angeordnet
haben.
»Auch du, mein Sohn Brutus!«
Klingt ebenfalls sehr gut als letztes Wort, ist aber
höchstwahrscheinlich ebenfalls erdacht. Laut Augen-
zeugen hat Cäsar bei seiner Ermordung überhaupt
nichts gesagt (wäre auch schwer gewesen, mit so viel-
en Messern im Leib).
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LexPI Bd. 1 Letzte Worte 197

»Welch ein Künstler stirbt mit mir!«


Mit diesen Worten soll Nero geendet haben, der sich
in der Tat für einen großen Künstler hielt. Vermutlich
hat der römische Chronist Sueton ihm deshalb diesen
Abschied angedichtet.
In Wahrheit hat Nero nur allerhand wirres Zeug ge-
redet, als die Abgesandten des römischen Senats den
abgesetzten, für vogelfrei erklärten und durch einen
Selbstmordversuch geschwächten Kaiser endlich ein-
gefangen hatten. Nach Aussage eines Biographen soll
er mit den Worten »Das ist Treue!« endgültig ver-
schieden sein, als der Chef des Polizeikommandos
den Dolch aus Neros selbst beigebrachter Wunde riß
und seinen Mantel auf die Wunde preßte, um das Blut
zu stillen. Nero wußte nicht, daß der Centurio nur den
Auftrag hatte, den Kaiser möglichst lebend vor Ge-
richt zu bringen.
»Ich bin es müde, über Sklaven zu herrschen.«
Diese angeblich letzten Worte Friedrichs des Großen
sind vermutlich einem kurz vor Friedrichs Tod ergan-
genen Schreiben an den Freiherrn von Goltz in Kö-
nigsberg entlehnt, in dem der König die
Trockenlegung eines Sumpfes anordnet und verlangt:
»Die Bauern, die da angesetzt werden, müssen ihre
Güter alle eigentümlich haben, weil sie keine Sklaven
sein sollen.«
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LexPI Bd. 1 Letzte Worte 198

»Oh mein Vaterland! Wie verlasse ich mein Vater-


land!«
Mit diesen Worten soll William Pitt der Jüngere ge-
storben sein, gramgebeugt nach der für England kata-
strophalen Schlacht von Austerlitz. In Wahrheit sagte
er jedoch (und zwar zu einem alten Diener, der für
Pitts leibliches Wohl zu sorgen hatte): »Ich denke, ich
könnte noch eine von Bellamys Pasteten essen ....«
»Von allen meinen Schülern hat mich nur er verstan-
den – und er hat mich falsch verstanden.«
Das sind die angeblich letzten Worte des teutonischen
Oberphilosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel;
man bezieht sie gewöhnlich auf den heute fast verges-
senen Philosophen und Hegel-Schüler Georg Andreas
Gabler (1786–1853). Vermutlich wurden sie jedoch,
da so gut zum Bild des tiefen deutschen Denkers pa-
ssend, von Hegels Anhängern erfunden. Hegels Ehe-
frau, die bei seinem Tod zugegen war und in einem
Brief an Hegels Schwester dessen Sterben schildert,
erwähnt von diesen Worten nichts.
»Ich habe 18 Gläser Whisky pur getrunken. Ich glau-
be, das ist der Rekord.«
Mit diesen Worten soll der große Dichter Dylan Tho-
mas uns verlassen haben. Und tatsächlich hat er das
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Letzte Worte 198

auch so behauptet, wenn auch nicht am Tage seines


Todes, sondern nachdem er, todkrank, nach einer letz-
ten Sauftour in das Chelsea Hotel in New York, wo er
damals residierte, zurückgekommen war. Bis er dann
wirklich an den Folgen seiner Trunksucht starb, soll-
ten noch mehrere Tage vergehen.
& Lit.: William Lewis Hertslet: Der Treppenwitz
der Weltgeschichte, 11. Auflage, Berlin 1965;
Bill Read: Dylan Thomas, Hamburg 1968; Phi-
lipp Vandenberg: Nero, München 1981; Georg
Büchmann: Geflügelte Worte, Ausgabe Ex Libris,
6. Auflage, Frankfurt 1991.

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LexPI Bd. 2 Leukämie 195

Leukämie
Leukämie entsteht durch Kernkraftwerke (s.a. ð
»Tschernobyl 2« sowie in Band 1 ð »Radioakti-
vität«)
Es ist bekannt und nachgewiesen, daß radioaktive
Strahlung Krebs erzeugt: In Deutschland gehen z.B.
mehrere Tausend Fälle von Lungenkrebs pro Jahr auf
das radioaktive, in der Natur in großen Mengen vor-
kommende Edelgas Radon zurück, das sich in bun-
desdeutschen Häuserkellern sammelt. Auch der in der
Ukraine und im Ural nach den dortigen Kernkraftun-
fällen beobachtete Anstieg von Leukämie und Schild-
drüsenkrebs ist ohne Zweifel eine Folge der Bestrah-
lung.
Bekannt ist aber auch, daß die Wahrscheinlichkeit
für eine Krebserkrankung mit der Dosis steigt: Je
höher die in Millirem (heute Sievers) gemessene Be-
lastung, desto häufiger tritt später eine Krebserkran-
kung auf. Und da selbst in unmittelbarer Nähe von
Kernkraftwerken die zusätzliche Belastung von ein
bis zwei Millirem pro Jahr gegenüber der »natürli-
chen« Strahlenbelastung von 200 bis 400 Millirem
pro Jahr aus Radon, Höhenstrahlung oder natürlicher
Radioaktivität etwa in unserem Essen kaum nachzu-
weisen ist, kann ein normal funktionierendes Kern-
kraftwerk auch nicht der Grund für hohe Krebsvor-
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LexPI Bd. 2 Leukämie 196

kommen sein.
Selbst die Kernkraftgegner, die dem Kraftwerk
Krümmel in der Elbmarsch die Schuld an den dort ge-
häuft auftretenden Leukämieerkrankungen bei Kin-
dern geben (sechs Fälle von 1989 bis 1991), räumen
die Ungefährlichkeit bei Normalbetrieb des Kraft-
werks ein; sie führen die Häufung auf einen angeblich
vertuschten Störfall mit einer Strahlendosis bis zum
500fachen der jährlichen natürlichen Bestrahlung
zurück.
Ein solcher Störfall in der Größenordnung einer
Atombombenexplosion ist in Deutschland anders als
in Rußland aber nicht vertuschbar, unter allen denk-
baren Gründen für die Häufung der Leukämiefälle in
der Elbmarsch ist er der mit Abstand unwahrschein-
lichste. Denn solche Häufungen treten auch an Orten
auf, wo man ein Kernkraftwerk erst plant, aber auch
in anderen »Zuwanderungsregionen«, auch in dicht
besiedelten städtischen Gebieten: In einem Vorort von
Chicago zählte man binnen vier Jahren in einem Ra-
dius von einer Meile acht Fälle von Leukämie (in der
medizinischen Fachliteratur als »Niles-Cluster« be-
kannt), im Zentrum dieses Kreises stand die katholi-
sche Kirche von St. Johns Babeuf ...
& Lit.: J. Michaelis, B. Keller, G. Haaf und P.
Katsch: »Incidence of childhood malignancies in
the vicinity of West German nuclear power
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LexPI Bd. 2 Leukämie 196

plants«, Cancer causes and control 3, 1992, S.


255–264; T. Kinzelmann: »Strahlenbelastung und
kindliche Leukämieerkrankungen in der Umge-
bung von Kernkraftwerken«, UMED-INFO 2,
Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg,
Stuttgart 1994; Stichwort vorgeschlagen von T.
Kinzelmann.

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LexPI Bd. 1 Libellen 199

Libellen
Libellen stechen
Die Libellen sind Insekten der Ordnung Odonata; kei-
nes dieser Tiere sticht.

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LexPI Bd. 2 Licht am Tag 196

Licht am Tag
Die Verkehrssicherheit steigt, wenn Autos auch
tagsüber mit eingeschaltetem Abblendlicht fahren
müssen
Mit diesem Argument ist in manchen Ländern das
Einschalten des Abblendlichts auch tagsüber vorge-
schrieben; anderswo, etwa in Österreich, wird eine
analoge Vorschrift derzeit diskutiert. Aber nach
Mehrheitsmeinung von Verkehrsexperten nimmt die
Sicherheit dadurch nicht zu; sie geht sogar zurück:
Fußgänger oder Radfahrer werden leichter übersehen,
und selbst die mit Licht fahrenden Autos fallen, wenn
alle mit Licht fahren, nicht mehr besonders auf. Damit
ist aber auch das Argument »Lichtfahrer sind sicht-
barer« nicht mehr zu halten, die Empfehlung »Macht
Licht bei Tage, dann seht ihr mehr« ist von dem glei-
chen Kaliber wie »Macht mehr Lärm, dann hört ihr
mehr«.
& Lit.: Fritz Sacher: »Verkehrssicherheit – Licht am
Tag«, Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik
10/1996.

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LexPI Bd. 2 Lichtgeschwindigkeit 1 197

Lichtgeschwindigkeit 1
Licht verbreitet sich mit Lichtgeschwindigkeit
Licht verbreitet sich je nach Medium mit verschiede-
nen Geschwindigkeiten – im Vakuum mit 299.792
km pro Sekunde, in der Luft mit 299.705 km pro Se-
kunde und in Glas je nach Sorte mit nur rund 200.000
km pro Sekunde. Mit anderen Worten, die Lichtge-
schwindigkeit gibt es nicht, meistens ist mit diesem
Wort die Geschwindigkeit im Vakuum gemeint, hier
verbreitet sich das Licht am schnellsten.
& Lit.: A. Recknagel: Physik – Optik, 13. Auflage,
Berlin 1990.

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LexPI Bd. 2 Lichtgeschwindigkeit 2 197

Lichtgeschwindigkeit 2
Nichts bewegt sich schneller als das Licht
Nach der Einsteinschen Relativitätstheorie darf es
durchaus Dinge geben, die sich schneller bewegen als
das Licht. Voraussetzung ist allein, daß sie sich nie
langsamer bewegen als das Licht. Mit anderen Wor-
ten: die Lichtgeschwindigkeit (im Sinn der Geschwin-
digkeit im Vakuum; siehe oben) ist eine doppelte Bar-
riere – sie begrenzt die Teilchen nach oben und nach
unten; die einen bewegen sich immer langsamer als
das Licht, die anderen immer schneller, es gibt keine
Teilchen, die sich sowohl langsamer als auch schnell-
er als das Licht bewegen können.
Bisher existieren diese überlichtschnellen Teilchen,
die sog. Tachyonen, nur in der Theorie; noch keinem
Physiker ist es gelungen, eines wirklich aufzufinden.
Aber grundsätzlich ist ihr Dasein mit den Gesetzen
der Physik durchaus verträglich.
& Lit.: Paul Davies: Die Unsterblichkeit der Zeit,
Bern 1996.

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LexPI Bd. 1 Limburger 199

Limburger
Der Limburger hat seinen Namen von Limburg
an der Lahn
Der als »Limburger« bekannte Käse kommt nicht aus
Limburg an der Lahn, sondern aus der Provinz Lim-
burg in Belgien.
& Lit.: Walter Zerlett-Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 1 Lindbergh 199

Lindbergh
Charles Lindbergh hat als erster den Atlantik
überflogen
Der amerikanische Postflieger Charles Lindbergh
(1902–1974) war nicht der erste, sondern der 67.
Mensch, der den Atlantik überflogen hat.
Der erste Transatlantikflug, in einem NC-4 Was-
serflugzeug namens »Lame Duck« (lahme Ente), ge-
lang dem amerikanischen Fliegeroffizier Albert C.
Read mit fünf Besatzungsmitgliedern im Mai 1919.
Read war in 57 Stunden von Rockport im amerikani-
schen Bundesstaat New York nach Plymouth im
Süden Englands geflogen, allerdings mit
Zwischenstops in Massachusetts, Neuschottland (Ka-
nada), Neufundland, den Azoren, Portugal und Spa-
nien; die eigentliche rund 1200 Seemeilen weite At-
lantiküberquerung dauerte dabei 15 Stunden. Der
erste Nonstop-Flug, von St. Johns in Neufundland
nach Clifden, Irland, gelang den Engländern John Al-
cock und Arthur Whitton Brown im Juni 1919; später
wurden sie für diese Tat geadelt. Der erste Transatlan-
tikflug mit einem Zeppelin, von Schottland nach New
York, gelang dem englischen Luftschiff R-34 mit 31
Mann Besatzung einen Monat später, und der erste
Transatlantikflug eines deutschen Zeppelins, ZR-3
von Friedrichshafen nach Lakehurst, geschah 1924.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lindbergh 200

Alles in allem hatten 1927, als sich Charles


Lindbergh mit seinem »Spirit of St. Louis« von New
York nach Paris auf die Reise machte, schon 66 Män-
ner den Atlantik überflogen (keine Frauen).
Der einzige Rekord, den Lindbergh reklamieren
kann, ist der erste Alleinflug von West nach Ost, von
Kontinent zu Kontinent. Aber das hätte wohl kaum
für seinen großen Nachruhm ausgereicht; den hat er
vor allem den Medien und der Tatsache zu danken,
daß er nicht in Plymouth, sondern in Paris gelandet
ist.
& Lit.: David Wallechinsky, Irving Wallace und
Amy Wallace: The book of lists, New York 1977;
Stichwort »Aviation« im Microsoft CD-ROM En-
cyclopädie Encarta, 1994.
¤ John Alcock und Arthur W. Brown.
Diese Männer haben als erste nonstop den Atlantik
überflogen

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LexPI Bd. 1 Linkshändigkeit 1 200

Linkshändigkeit 1
Linkshändigkeit ist nicht normal
Warum weltweit rund 80 Prozent aller Menschen die
rechte und nur 20 Prozent die linke Hand bevorzugen,
ist noch immer ungeklärt. Fest steht allein, daß Links-
händigkeit rein medizinisch »nicht negativ« zu werten
ist, wie ein Leitartikel in der Münchener Medizini-
schen Wochenschrift formuliert, und daß die in ver-
schiedenen Studien festgestellte höhere Anfälligkeit
für Unfälle sowie die geringere Lebenserwartung von
Linkshändern andere Gründe hat als die Linkshändig-
keit an sich.
Ein sofort ins Auge springender Grund für die hö-
here Unfallhäufigkeit bei Linkshändern ist etwa die
immer noch auf Rechtshänder ausgerichtete Arbeits-
welt, und die Tatsache, daß »geborene«, aber auf
Rechtshändigkeit umtrainierte Linkshänder notwendig
etwas ungeschickt mit Werkzeugen hantieren. Zu-
gleich erklärt diese erzwungene Rechtshändigkeit
auch einen großen Teil der vermeintlich kleineren Le-
benserwartung von Linkshändern: Auf diese kleinere
Lebenserwartung wurde nämlich aus dem mit wach-
sendem Alter abnehmenden Anteil der Linkshänder in
der Bevölkerung quasi indirekt zurückgeschlossen (in
den USA z.B. umfassen die Linkshänder 15% aller
zehnjährigen, aber nur 5% aller Fünfzigjährigen, und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Linkshändigkeit 1 201

bei den Achtzigjährigen sinkt der Anteil der Links-


händer sogar auf 1%), aber wenn mit wachsendem
Alter immer mehr Menschen ihre angeborene Links-
händigkeit ablegen, so muß es in den höheren Alters-
klassen natürlich prozentual immer weniger »offiziel-
le« Linkshänder geben. Aber nicht, weil sie früher
sterben, sondern weil sie ihre wahre »Händigkeit«
verleugnen.
& Lit.: Marianne Regard: »Nicht regelkonform, aber
nicht negativ zu werten«, Münchener Medizini-
sche Wochenschrift 135, 1993, S. 286; Marian
Annett: »The fallacy of the argument for reduced
longevity in lefthanders«, Perceptual and Motor
Skills 76, 1993, 295–298; »Lefties live just as
long«, Chance 2/1993, S. 6.

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LexPI Bd. 1 Linkshändigkeit 2 201

Linkshändigkeit 2
Linkshändigkeit ist genetisch programmiert
Die meisten Menschen entwickeln kurz nach der Ge-
burt eine Vorliebe für die linke oder rechte Hand, aber
diese Vorliebe ist nach neueren Erkenntnissen nicht
durch die Gene festgelegt. Z.B. findet man unter ein-
eiigen Zwillingen, die die gleichen Gene haben, oft
sowohl Links- wie Rechtshänder; unter eineiigen
Zwillingspaaren kommen Linkshänder-Rechtshänder-
Kombinationen genauso häufig vor wie unter anderen
Geschwisterpaaren auch. Sollte also die Vorliebe
schon bei der Geburt bestehen, kann es nicht an den
Genen liegen.
& Lit.: »Sinister evolution«, The Economist,
26.8.1995, S. 73.

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LexPI Bd. 2 Linksverkehr 198

Linksverkehr
Großbritannien ist das letzte Land mit Linksver-
kehr
Außer in Großbritannien fährt man heute noch in In-
dien und in Japan links, um nur die beiden bevölke-
rungsreichsten Linksfahrerländer zu nennen. Weitere
Länder mit Linksverkehr sind Australien, Indonesien,
Irland, Malaysia, Nigeria, Neuseeland, Thailand und
Südafrika.

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LexPI Bd. 1 Lizenzen 201

Lizenzen
Lizenzen schützen den Verbraucher
Die Schranken vor allen möglichen Berufen, ob Prüf-
ungen, Diplome, Erlaubnisscheine oder Lizenzen,
werden seit jeher genauso monoton wie falsch mit
dem Schutz des Publikums begründet. Wenn etwa der
Zentralverband der Fußpfleger Deutschlands auf
strenge Gesetze für die Berufsausübung der Fußpfle-
ger drängt, so offiziell, um uns vor unqualifizierten
Fußpflegern zu schützen, und weil es »beschämend
[sei], daß man in diesem Land mit einer miesen Aus-
bildung am menschlichen Körper arbeiten darf«;
wenn der deutsche Zentralverband der Krankengym-
nasten mindestens drei Ausbildungsjahre für alle Be-
rufsanfänger fordert, dann allein »im Interesse der
krankengymnastisch zu betreuenden Patienten«. Von
Frisören über Immobilienmakler und Taxifahrer bis
zu Rechtsanwälten und Schornsteinfegern: wenn es
darum geht, das Publikum vor Scharlatanen und
Nichtskönnern zu schützen, kennen unsere Standes-
funktionäre keine Gnade.
Wie aber die Indizien zeigen, ist dieser Schutz des
Kunden immer nur vorgeschoben; in Wahrheit geht es
einzig und allein um die Interessen der etablierten An-
bieter, die sich »ihre Honorarsuppe nicht verdünnen«
lassen wollen, wie ein deutscher Ärztefunktionär das
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lizenzen 202

einmal in seltener Offenheit formulierte. Denn diese


Qualitätskontrollen werden immer nur für Neulinge
gefordert; ist ein Arzt, Apotheker, Anwalt, Schorn-
steinfeger erst einmal in Amt und Würden, kann er
machen was er will.
Ein weiteres Indiz: Es sind immer die Anbieter sel-
ber, nie die Kunden, die Lizenzen und Berufsbarrieren
fordern, und damit ist auch klar, wen diese Schutz-
maßnahmen wirklich schützen: Selten das allgemeine
Publikum, immer aber die, die diese Forderung erhe-
ben. »Die offizielle Rechtfertigung ist immer die glei-
che«, schreibt Wirtschafts-Nobelpreisträger Milton
Friedman, »nämlich den Konsumenten zu schützen.
Die wahren Motive werden aber durch die Lobbies
deutlich, die in den gesetzgebenden Körperschaften
für Zulassungsbeschränkungen kämpfen. Denn diese
Lobbyisten sind unweigerlich Vertreter der jeweiligen
Anbietergruppe selbst und nie deren Kunden. Natür-
lich wissen Klempner besser als andere, vor was ihre
Kunden zu schützen sind. Trotzdem fällt es nicht
leicht, nur altruistische Motive in den Bestrebungen
dieser Berufsgruppe zu sehen, zu bestimmen, wer ein
Klempner sein darf und wer nicht.«
& Lit.: Milton Friedman: Capitalism and freedom,
Chicago 1982 (besonders das Kapitel »Occupati-
onal licensure«); Walter Krämer: Wir kurieren
uns zu Tode, Frankfurt 1993 (besonders das Ka-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lizenzen 202

pitel »Geschlossene Gesellschaft«).

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LexPI Bd. 1 Lloyd's 202

Lloyd's
Lloyd's versichert alles
Der als »Lloyd's of London« bekannte Verband von
Versicherungsgesellschaften, von dem es heißt, er
würde jedes Risiko versichern, versichert längst nicht
alles. Z.B. bietet Lloyd's i.a. keine Lebensversiche-
rungen an.
& Lit.: Stichwortartikel »Lloyd's« in Encyclopaedia
Britannica Chicago 1994.

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LexPI Bd. 2 Lohnquote 198

Lohnquote
Eine sinkende Lohnquote bedeutet eine Ver-
schlechterung von Arbeitnehmerpositionen
Die Lohnquote ist der Anteil der Einkommen aus ab-
hängiger Arbeit am gesamten Volkseinkommen; sie
betrug 1996 in der Bundesrepublik Deutschland
71,1%, verglichen mit 72,3% im ersten vollen Rech-
nungsjahr nach der Wiedervereinigung 1991; seither
geht die Lohnquote monoton zurück, im ersten Halb-
jahr 1997 ist sie nochmals um mehr als zwei Prozent-
punkte gesunken.
Anders als man von Gewerkschaften und Arbeit-
nehmerseite immer wieder hört, zeigt dieser Rük-
kgang der Lohnquote aber keine Umverteilung Rich-
tung Arbeitgeber; er ist sowohl mit einem steigenden
wie mit einem fallenden Anteil der Arbeitnehmer am
Volkseinkommen kompatibel, die Lohnquote als
Monoindikator kann die Verteilungsgerechtigkeit
nicht messen.
Zunächst einmal zeigt die Lohnquote nur die Ver-
teilung des Einkommens auf Einkommensarten auf;
welches die Personen sind, die diese Einkommen be-
ziehen, bleibt dabei offen. So zählen etwa die Zinsein-
künfte eines Rentnerehepaares genauso zum Einkom-
men aus Unternehmertätigkeit und Vermögen wie die
Dividenden der immer zahlreicheren Volksaktionäre
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Lohnquote 198

oder wie die kalkulatorische Miete eines Eigenheim-


besitzers; rund die Hälfte aller deutschen Arbeitneh-
merhaushalte besitzen heute Immobilien, und deren
Erträge werden grundsätzlich den Unternehmen ange-
rechnet.
Auch die Einkommen von Landwirten und anderen
kleinen Selbständigen, die man gemeinhin nicht zu
den Kapitalisten unseres Landes rechnet, fließen in
den Topf der Unternehmer. Die Lohnquote in der
deutschen Landwirtschaft z.B. liegt unter 30%, von
den rund einer Million Menschen, die dort immer
noch ihr Brot verdienen, haben nur ein Fünftel Arbeit-
nehmerstatus; der Rest sind Selbständige oder mithel-
fende Familienangehörige, ihr Einkommen wird den
Unternehmen zugeschlagen.
Die mehreren Millionen DM Gehalt pro Jahr dage-
gen, die verschiedene Vorstandsmitglieder deutscher
Aktiengesellschaften als Kontraktgehalt beziehen,
sind Einkommen aus unselbständiger Beschäftigung,
sie werden der Lohnquote zugerechnet.
Das Steigen und Fallen der Lohnquote kann also
viele Gründe haben. Mit dem Wachstum des Vermö-
gens quer durch alle Bevölkerungsschichten (Stich-
wort »Erbengeneration«) nehmen auch die Einkom-
men aus Vermögen quer durch alle Schichten zu;
noch 1970 stammten weniger als 5% des deutschen
Volkseinkommens aus Vermögen, 1995 bereits mehr
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Lohnquote 199

als 10% (Tendenz steigend); damit nimmt die Lohn-


quote zwangsläufig ab. Auch das Wachstum des
Dienstleistungssektors mit seinem traditionell hohen
Anteil an Selbständigen muß die Lohnquote drücken:
Die Einkommen von Gastwirten, Ärzten, Beratern
aller Art und selbständigen Taxifahrern gehen der
Lohnquote verloren.
Umgekehrt nimmt die Lohnquote in Zeiten steigen-
der Anteile abhängig Beschäftigter natürlich zu; von
1960 bis 1990 ist die Lohnquote in den alten Bundes-
ländern von 60% auf 74% gestiegen. Aber genauso-
wenig wie man diesen Anstieg als einen Sieg der Ar-
beitnehmer feiern durfte, darf man den aktuellen Rük-
kgang als Verlust beweinen.
& Lit.: P. von der Lippe: Wirtschaftsstatistik, 5.
Auflage, Stuttgart 1996.

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LexPI Bd. 2 Loreley 199

Loreley
Die schöne Fee Loreley gab dem gleichnamigen
Felsen seinen Namen
Die berühmte Loreley, so wie sie in der Phantasiege-
stalt der »Lore Lay« aus der gleichnamigen Ballade
von Clemens Brentano, vor allem aber in der verfüh-
rerischen, die Schiffer ins Verderben ziehenden Was-
serfrau aus dem bekannten Gedicht von Heinrich
Heine weiterlebt, hat ihren Namen von dem gleichna-
migen Felsen und nicht umgekehrt. »Lei« heißt mit-
telhochdeutsch Schiefer oder Fels, »lure« bedeutet
hinterlistig, also ist der Loreley der Böse Berg. Und
das war er früher auch tatsächlich: In der kaum hun-
dert Meter breiten Rheinenge sind schon viele Schif-
fer umgekommen.
Alternativ kann »lur« auch »tönen« heißen, »Lur-
lei« wäre damit der tönende Fels, ein Fels, der ein be-
sonders gutes Echo gibt. Früher hielt man dieses Echo
für Geisterstimmen aus dem Inneren des Felsens, oder
man dachte sich den Felsen hohl, mit einer Hexe in
der Mitte. Wie auch immer, der Name für den Felsen
kam zuerst, danach der Name für die Fee von Heine.
& Lit.: W. Wadepuhl: Heinrich Heine – sein Leben,
seine Werke, Köln 1974; Stichwort »Lorelei« in
der Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden 1990;
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Loreley 200

Stichwort vorgeschlagen von Richarda Langner-


Fröhlecke.
¤ Loreley – »Ich glaube, die Wellen verschlingen«
(Heinrich Heine)

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LexPI Bd. 1 Lotto 203

Lotto
Lottospielen lohnt sich nicht (s.a. ð »Gesetz der
Großen Zahl«)
Anders als viele glauben, kann man beim Lotto auch
auf lange Sicht gewinnen – also nicht allein durch
pures Glück, durch einen Zufallstreffer sozusagen,
sondern auch im Durchschnitt über viele Spiele.
Das klingt zunächst paradox, weil ja die Hälfte
aller Einsätze an den Staat bzw. an die Lottogesell-
schaft gehen. Damit verbleiben für die Spieler nur 50
Pfennig von jeder eingesetzten Mark. Aber das bedeu-
tet eben nicht, wie viele glauben, daß wir, ganz gleich
wie wir auch tippen, auf lange Sicht auf jeden Fall die
Hälfte unseres Einsatzes verlieren. Denn die übliche
Berechnung des mittleren Verlustes funktioniert nur
bei Lotterien mit festen Gewinnen: Sechs Richtige
bringen sagen wir 3 Millionen Mark, fünf Richtige
mit Zusatzzahl bringen 100000 Mark etc. So waren
die Vorgänger des modernen Lotto konstruiert, etwa
die berühmte Genueser Zahlenlotterie »5 aus 90« aus
dem 16. Jahrhundert, die es noch heute in Italien gibt.
Hier brachte schon eine einzige richtige Zahl dem Ge-
winner das 14fache des Einsatzes, zwei Richtige
brachten das 240fache, drei Richtige das 4800fache
und vier Richtige das 60000fache (auf fünf Richtige
wurden keine Wetten angenommen, weil kein Buch-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lotto 203

macher den Gewinner hätte ausbezahlen können).


Bei solchen Lotterien berechnet man den mittleren
alias »erwarteten« Gewinn, indem man die möglichen
Gewinne mit den zugehörigen Wahrscheinlichkeiten
malnimmt, dann das Ganze aufaddiert. Diesen erwar-
teten Gewinn vergleicht man mit dem Einsatz und
weiß, was man auf lange Sicht verliert.
So funktioniert das moderne Lotto aber nicht. Er-
stens ist die Auswahlmenge kleiner (49 statt 90 Zah-
len in Deutschland, 45 Zahlen in Österreich und der
Schweiz), und zweitens sind die Gewinne für drei-
vier-fünf-sechs Richtige alles andere als fest. Sie rich-
ten sich vielmehr ganz entscheidend nach den Mit-
spielern, nach den Einsätzen und Tips der anderen,
und das unterscheidet das Lotto des deutschen, öster-
reichischen und Schweizer Typs ganz wesentlich von
anderen Lotterien.
Nehmen wir das alte deutsche Zahlenlotto »6 aus
49«. Hier gab es bis Ende 1991 die folgenden Ge-
winnklassen: 6 Richtige, 5 Richtige plus Zusatzzahl,
5 Richtige, 4 Richtige, 3 Richtige. Aber wer jetzt
denkt: »6 Richtige! Also ab in die Bahamas!« kann
sich – wie etwa die Hauptgewinner am 18. Juni
1977 – ganz gewaltig irren. Damals gab es für 6
Richtige ganze 31000 Mark. Denn im deutschen, öst-
erreichischen und Schweizer Lotto wird der für jede
Gewinnklasse vorgesehene Gesamtgewinn unter allen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lotto 204

Gewinnern aufgeteilt, und wenn es viele Gewinner


gibt – an jenem denkwürdigen Samstag des Jahres
1977 waren es allein in der höchsten Gewinnklasse
über 200 – gewinnt der einzelne eben weniger.
Das ist für die Spieler sowohl gut wie schlecht. Es
ist schlecht für Spieler, die so tippen wie viele andere.
Es ist gut für Spieler, die so tippen wie wenige ande-
re. Denn wer so tippt wie viele andere, muß seinen
Gewinn, falls er gewinnt, mit vielen teilen; wer so
tippt wie wenige andere, hat den Gewinn, falls er ge-
winnt, für sich allein. Und deshalb können diese Spie-
ler auf lange Sicht durchaus ihren Einsatz zurük-
kholen – und vielleicht noch mehr.
Denn das ist das Besondere am Zahlenlotto: hier
spielt man nicht nur gegen den Zufall und die Lotto-
gesellschaft, hier spielt man auch gegen die anderen
Lottospieler! Die Lottogesellschaft kassiert auf jeden
Fall die Hälfte aller Einsätze, aber um die andere
Hälfte dürfen sich die Lottospieler raufen. Und dabei
können die Klugen durchaus von den Dummen profi-
tieren.
Wenn die Gewinne in den verschiedenen Klassen
(die sogenannten Quoten) nicht vorher feststehen,
sondern von der Anzahl der Gewinner abhängen, än-
dert sich die Formel für den mittleren alias erwarteten
Gewinn; beim deutschen Zahlenlotto etwas müssen
wir jetzt die Wahrscheinlichkeiten für die insgesamt
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lotto 204

sechs Gewinnklassen, von »6 Richtige plus Super-


zahl« bis »3 Richtige«, mit den jeweiligen Quoten
malnehmen, und diese Quoten sind nicht fest, sie hän-
gen von unserem Tipverhalten ab.
Den Wahrscheinlichkeiten in dieser Formel sind
wir hilflos ausgeliefert; sie beträgt etwa für 6 Richtige
plus Superzahl 1:139 Millionen, und damit weit we-
niger als die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen
oder zum Papst gewählt zu werden (für männliche
Katholiken). Aber die übrigen Zutaten in dieser For-
mel, also die Quoten alias die Gewinne, falls gewon-
nen wird, haben wir als Spieler durchaus in der Hand.
Denn indem wir populäre Tips vermeiden, können wir
zwar die Gewinnwahrscheinlichkeit nicht verbes-
sern – aber wir können den Gewinn verbessern, falls
wir überhaupt gewinnen. Und das hat für den erwarte-
ten Gewinn den gleichen Effekt, als würde die Wahr-
scheinlichkeit erhöht.
Wenn wir dagegen populäre Zahlen wählen, verlie-
ren wir langfristig sogar mehr als die Hälfte des Ein-
satzes: Der erwartete Gewinn beträgt nicht 50 Pfennig
pro eingesetzte Mark, sondern weniger. Sehr beliebt
sind etwa Kombinationen, die früher oder andernorts
bereits gezogen worden sind: die 200 Hauptgewinner
an jenem Samstag 1977 hatten etwa die holländischen
Lottozahlen der Vorwoche getippt. Gern getippt wer-
den ferner auch Geburtstage, weswegen die Zahl 19
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lotto 205

regelmäßig den Gewinn verdirbt. Sehr beliebt sind


auch Muster, wie die Zahlen 1 bis 6, oder Diagonalen
und andere regelmäßige Figuren auf dem Tippfeld so
wie rechts:
¤ Diese Muster werden im deutschen Samstagslotto
mehr als 30000 mal getippt
Solche geometrischen Muster garantieren also
nur Verluste. Je nach dem Arrangement der Zahlen,
ob quadratisch wie in den meisten Bundesländern
oder in einer einzigen langen Zeile wie in Nordrhein-
Westfalen angeordnet, ändern sich dabei die populä-
ren Muster – am besten meidet man sie alle miteinan-
der. Denn sollte eines Samstag abends wirklich eines
dieser Muster aus der Lottotrommel rollen, wird der
bisherige Rekord von 200 Hauptgewinnern noch be-
trächtlich übertroffen.
Am leichtesten kann man den »Normalspieler«
schlagen, also die Waisenkinder unter den 13983816
möglichen 6-aus-49-Kombinationen finden, indem
man an den Zufall appelliert: Die Zahlen 1 bis 49 auf
Papierschnitzel geschrieben, gut durchgemischt, und
6 Zahlen zufällig gezogen. So arbeiten grob gesagt
die bekannten Spielgemeinschaften wie Faber etc., die
im Prinzip nichts anderes sind als Waisenkinder-De-
tektive (und ihren Mitgliedern tatsächlich in dem Um-
fang, wie sie unbespielte Zahlenmuster finden, auf
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lotto 205

Dauer höhere Gewinne garantieren).


Diese Strategie hat natürlich nur dann Erfolg, wenn
weiterhin die meisten Tipper die bekannten Muster
produzieren. Kreuzen alle Lottospieler ihre Zahlen
mittels Zufall an, dann ist auch der erwartete Gewinn
für alle wieder gleich, nämlich genau 50 Pfennig für
jede eingesetzte Mark.
& Lit.: Klaus Lange: Zahlenlotto, Ravensburg 1980;
Hans Riedwyl: Zahlenlotto: Wie man mehr ge-
winnt, Bern 1990; Karl Bosch: Lotto und andere
Zufälle, Braunschweig 1994; Walter Krämer:
Denkste! Trugschlüsse aus der Welt des Zufalls
und der Zahlen, Frankfurt 1995.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Lotto. 200

Lotto
Zweimal die gleichen Lottozahlen sind ein äu-
ßerst ungewöhnliches Ereignis (s.a. ð »Zufall« in
Band 1)
Die Wahrscheinlichkeit, daß in 40 Jahren Lotto ein
und dieselbe 6er-Reihe ein zweites Mal gezogen wird,
ist größer als 25%. Deshalb wäre auch die in den Me-
dien als Sensation gefeierte Ziehung A beim Mitt-
wochslotto vom 21. Juni 1995, als eine am 20. De-
zember 1986 bereits gezogene Kombination ein zwei-
tes Mal gezogen wurde, kein Gramm Druckerschwär-
ze wert gewesen; daß dergleichen in 40 Jahren Lotto
vorkommt, ist so wahrscheinlich wie zwei Mädchen
bei vier Kindern (da ruft auch niemand die Bild-Zei-
tung).
Lotto gibt es in Deutschland seit 1955. Bis zum
21. Juni 1995 gab es im Mittwochs- und Samstags-
lotto zusammen 3016 Ziehungen; daß zwei bestimmte
davon die gleiche 6er-Reihe produzieren, ist natürlich
äußerst unwahrscheinlich. Aber daß zwei von drei
Ziehungen die gleiche 6er-Reihe produzieren, ist
schon etwas wahrscheinlicher (wenn auch immer noch
sehr unwahrscheinlich), daß zwei von vier Ziehungen
zwei gleiche Reihen produzieren, ist nochmals leicht
wahrscheinlicher usw. Die folgende Tabelle (nach
Henze, 1995) zeigt, mit welcher Wahrscheinlichkeit
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Lotto. 200

nach spätesten so-und-soviel Versuchen eine solche


Übereinstimmung auftritt; wie wir sehen, erreicht
diese Wahrscheinlichkeit bei 3000 Ziehungen den
Wert 27,5%, bei 6000 Ziehungen sogar 72,4% und
bei 10.000 Ziehungen ist die Wahrscheinlichkeit fast
eins.
Anzahl Wahrscheinlichkeit, daß zwei
der Ziehungen Ziehungen identisch sind
500 0,9%
1000 3,5%
2000 13,3%
3000 27,5%
4000 43,6%
5000 29,1%
6000 72,4%
7000 82,7%
8000 89,8%
9000 94,5%
10.000 97,2%

& Lit.: N. Henze: »Erstmals im Lotto dieselbe Zah-


lenreihe – eine Sensation?«, Der Mathematische
und Naturwissenschaftliche Unterricht 48, 1995,
S. 456–457; Stichwort vorgeschlagen von Nor-
bert Henze.

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LexPI Bd. 2 Löwen 1 201

Löwen 1
Der Löwe ist der König der Wüste
Der Löwe ist der König der Steppe. In der Wüste gibt
es keine Löwen.

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LexPI Bd. 2 Löwen 2 201

Löwen 2
Löwen haben ein Löwenherz (s.a. ð »Hyänen«)
Löwen sind vergleichsweise feige. Sie verbringen
»viel Zeit damit, den Himmel nach kreisenden Geiern
abzusuchen«, wie ein Zoologe einmal formulierte, sie
nehmen lieber anderen Tieren Beute weg, als selber
Beute zu erjagen; in manchen Gegenden Afrikas be-
steht mehr als die Hälfte der Löwennahrung aus der
Beute anderer Räuber oder aus Tieren, die von selbst
gestorben sind.
Wie Verhaltensbiologen durch Experimente her-
ausgefunden haben, versuchen sich Löwen so gut es
geht vor Kampf zu drücken: Wenn man am Rand der
streng abgegrenzten, gegen Eindringlinge zu verteidi-
genden Jagdreviere, in denen die Löwen rudelweise
leben, das Gebrüll von Einzelgängern von einem Ton-
band laufen läßt, der in dieses Revier einzudringen
sucht, so stürzen sich längst nicht alle Tiere auf den
Aggressor. »Bei der Verteidigung ihres Reviers, so
die gängige Theorie, sollen die Tiere in hohem Maße
kooperieren. Doch manchen von ihnen fehlt der
sprichwörtliche Löwenmut: Sie drückten sich nach
Kräften.« Während einige Tiere sofort auf die ver-
meintlichen Eindringlinge zustürzten, hielten sich an-
dere vorsichtig im Hintergrund, andere wagten den
Angriff nur, wenn der Lautsprecher maximal zwei
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Löwen 2 202

Eindringlinge simulierte, wieder andere überlegten


erst ein Weilchen, ob sie den Helden nun wirklich
helfen sollten.
Wenn es allerdings an das Verteilen einer Beute
geht, fressen diese »Feiglinge« genausoviel wie alle
anderen ...
& Lit.: B. Rensberger: The cult of the wild, New
York 1977; J.D. Scott: »Von feigen Löwen und
mutigen Hyänen«, Das Beste, März 1979; »Kö-
niglicher Feigling«, Focus 38/1995.

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LexPI Bd. 1 Lucifer 206

Lucifer
Lucifer ist ein Name für den Teufel
Dieser Name für den Teufel kommt in der Bibel nir-
gends vor. In der Antike war Lucifer ein Name für
den Morgenstern, für den Planeten Venus; er hatte mit
dem Teufel nichts zu tun.
Vermutlich beruht die Gleichung »Lucifer = Teu-
fel« auf Jesaja 14,12; dort heißt es mit Bezug auf den
König von Babylon: »Ach, du bist vom Himmel ge-
fallen, du strahlender Sohn der Morgenröte. Zu Boden
bist du geschmettert, du Bezwinger der Völker.«
Darin haben dann die Kirchenväter eine Anspielung
auf den »echten« Satan gesehen, sie haben »Satan =
König von Babylon = Sohn der Morgenröte = Mor-
genstern = Lucifer« gesetzt.
& Lit.: Die Bibel – Einheitsübersetzung, Stuttgart
1980; Stichwort »Lucifer« im Microsoft CD-
ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Lückenbüßer 202

Lückenbüßer
Ein Lückenbüßer muß für etwas büßen
Ein Lückenbüßer ist ein Lückenschließer (vom mit-
telhochdeutschen »büezen« = ausbessern, verschlie-
ßen, flicken).
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 1 Lucrezia Borgia 206

Lucrezia Borgia
Lucrezia Borgia war eine männermordende,
herzlose Tyrannin
Wie viele historische Figuren erscheint uns auch die
berühmte Lucrezia Borgia (1480–1519) heute in
einem falschen Licht (nämlich als der neuzeitliche In-
begriff von Inzest, Maß- und Zügellosigkeit).
Diesen schlechten Ruf hat sie vermutlich aber nicht
verdient, sie hat ihn quasi in Sippenhaft von ihrem
Vater, dem spanischen Kardinal Rodrigo Borgia und
nachmaligem Papst Alexander VI., und ihrem Bruder
Cesare Borgia, zwei selbst für damalige Verhältnisse
ungewöhnlichen Wüstlingen und Machtmenschen
mitbekommen, die Lucrezia als weiblichen Bauern
auf dem politischen Schachbrett Italiens, ohne sie zu
fragen, hin- und hergeschoben hatten, mal mit diesem,
mal mit jenem Edelmann verlobten, zum ersten Mal,
als Lucrezia gerade elf Jahre zählte, und so den
schlechten Ruf Lucrezias begründeten.
Schon mit der ersten Heirat fing die Legende von
der wüsten Lucrezia an, denn ihr erster Ehemann, des-
sen Beistand gegen den König von Neapel sich Bru-
der und Vater mit dieser Heirat erkaufen wollten,
wechselte bald die Fronten und wäre Lucrezia gerne
losgeworden. Er ließ die Ehe annullieren, und weil er
dafür Gründe brauchte, fing er an, Lucrezia zu ver-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lucrezia Borgia 207

leumden und ihr Inzest mit dem Vater nachzusagen.


Und auch mit dem nächsten Gatten hatte Lucrezia
kein Glück – dieser wurde wegen eines weiteren
Frontwechsels, diesmal des Papstes, selber inopport-
un und den damaligen Sitten entsprechend von
päpstlichen Mördern umgebracht (Lucrezia soll
davon nichts gewußt und lange um ihren Mann ge-
trauert haben). Erst mit dem dritten und letzten Ehe-
mann, dem Herzog von Ferrara, lebte Lucrezia dann
glücklich und zufrieden 19 Jahre lang, wenn man
ihrem Mann und anderen zeitgenössischen Quellen
glauben darf, bis sie mit 39 Jahren als Mutter von 8
Kindern, zurückgezogen auf dem Land und tief be-
trauert von allen, die sie kannten, starb.
& Lit.: Stichwortartikel »Borgia, Lucretia« in: Per-
sonenlexikon, Dortmund 1988.
¤ Lucrezia Borgia – Hausfrau und Mutter

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LexPI Bd. 1 Luftverschmutzung 207

Luftverschmutzung
Unsere Luft ist heute schlechter als vor 20 Jahren
Die folgende Tabelle aus dem Statistischen Jahrbuch
für die Bundesrepublik Deutschland zeigt die Emissi-
on der wichtigsten Luftverunreiniger in der Bundesre-
publik (alte Bundesländer, in Millionen Tonnen):
1970 1990
Kohlendioxyd 757,0 727,0
Kohlenmonoxyd 14,6 7,3
Schwefeldioxyd 3,8 1,0
Methan 3,8 3,1
Stickstoffoxyde 2,6 2,6
flüchtige org. Verb. 2,7 2,3
Staub 1,3 0,5
Ammoniak 0,5 0,6

Der Schadstoffausstoß hat also querbeet abgenom-


men; nur Stickstoffoxyde und Ammoniak haben 1990
die Luft genauso stark verpestet wie 1970. Bei allen
anderen Schadstoffen lag die Belastung zum Teil
deutlich tiefer.
Inzwischen sind nochmals einige Jahre vergangen,
und wie jeder Leser sich durch einen Blick in das Sta-
tistische Jahrbuch selber überzeugen kann, ist unsere
Luft seit 1990 nochmals sauberer geworden.
& Lit.: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepu-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Luftverschmutzung 208

blik Deutschland, verschiedene Jahre; Umwelt-


Bundesamt: Daten zur Umwelt 1992/1993, Berlin
1994.

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LexPI Bd. 1 Lusitania 208

Lusitania
Die Versenkung der Lusitania durch deutsche U-
Boote war ein reiner Terrorakt
Am 7. Mai 1915 um halb drei Uhr nachmittags ver-
senkt ein deutsches U-Boot den englischen Passagier-
dampfer »Lusitania«. Mehr als 1000 Passagiere er-
trinken, darunter auch 128 Amerikaner; beinahe
wären die USA deshalb schon 1915 gegen Deutsch-
land in den Krieg getreten (der letztendliche Kriegs-
eintritt der USA geschah erst zwei Jahre später, im
Juni 1917).
Anders, als die durchaus verständliche Propaganda
der Engländer behauptete, war die Lusitania aber kein
reines Passagierschiff; sie transportierte heimlich auch
noch Munition, und war nach internationalem Recht
daher als Kriegsschiff einzustufen.
Der Beweis ist allerdings nicht leicht zu führen,
denn für die letzte Reise der Lusitania existieren vier
verschiedene Fassungen der Ladepapiere, davon drei
auf jeden Fall gefälscht, vermutlich aber alle vier – da
neutrale Staaten nach internationalem Recht kein
Kriegsmaterial an die kriegführenden Parteien liefern
durften, mußten solche Lieferungen so gut es geht
verschleiert werden. Zu diesem Zweck waren alle bri-
tischen Handels- und Passagierschiffe, auch die Lusi-
tania, verpflichtet, auf Anforderung des Kriegsmini-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Lusitania 209

sters auch militärische Frachten mitzuführen, die dann


als harmlose Konsumgüter getarnt an bestochenen
Hafenmeistern und oft auch an der ahnungslosen Be-
satzung vorbei nach England kamen.
Im Fall der Lusitania waren vermutlich mehrere
Tonnen Dynamit an Bord, denn nur so läßt sich die
ungewöhnlich heftige Detonation nach dem Torpedo-
treffer erklären.
Die deutsche Botschaft in Washington wußte von
dieser Fracht und warnte mehrfach, daß solche Schiffe
ohne Warnung angegriffen würden. Jedoch hielt der
Kapitän der Lusitania sein Schiff für schnell genug,
den U-Booten auszuweichen – ein Irrtum, wie sich
dann erwies, den mehr als tausend Menschen mit dem
Leben büßen mußten.
& Lit.: Wie geschah es wirklich? Stuttgart 1990;
Stichwortartikel »Lusitania« in Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1884.
¤ Die Lusitania: Neben Passagierschiff auch noch
Munitionstransporter

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LexPI Bd. 1 Luther 209

Luther
Martin Luther hat seine Thesen an eine Kirchen-
tür angeschlagen (s.a. ð »Ablaß«)
»Nur wenige Säulen der Allgemeinbildung scheinen
so unverrückbar festzustehen wie Luthers Anschlag
der 95 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg«,
schreibt der Historiker Gerhard Prause. Aber wie so
viele Säulen unserer Allgemeinbildung steht auch
diese auf sehr wackeligen Füßen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit hat dieses denkwür-
dige Ereignis nämlich niemals stattgefunden. Augen-
zeugen gibt es keine, Luther selbst hat niemals etwas
derartiges behauptet, und auch andere Zeitgenossen
können sich an diesen Thesenanschlag nicht erinnern.
Einziges Zeugnis ist ein lateinisch abgefaßter, hand-
schriftlicher Bericht von Luthers Famulus Agricola,
der lange falsch übersetzt und mißverstanden wurde
und korrekt so heißt: »Im Jahre 1517 legte Luther in
Wittenberg an der Elbe nach altem Universitätsbrauch
gewisse Sätze zur Disputation vor, jedoch in beschei-
dener Weise und ohne damit jemanden beschimpfen
oder beleidigen zu wollen.«
Von einem Anschlag an die Kirchentür ist weder
hier noch in irgendeinem anderen zeitgenössischen
Schriftstück die Rede; auch Luther selber hat an kei-
ner Stelle seines eigenen umfangreichen Werkes je-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Luther 210

mals darauf Bezug genommen – daß er seine Thesen


so dramatisch präsentiert hätte, dieser i-Punkt ist erst
weitaus später aufgekommen.
Vermutlich hat der Humanist und Reformator Phi-
lipp Melanchthon diese Legende in die Welt gesetzt,
als er kurz nach Luthers Tod in der Vorrede zum
zweiten Band von dessen Werken schrieb: »Luther,
brennend von Eifer für die rechte Frömmigkeit, gab
Ablaßthesen heraus ... Diese hat er öffentlich an der
Kirche in der Nähe des Wittenberger Schlosses am
Vortage des Festes Allerheiligen 1517 angeschlagen.«
Über die Quelle dieses Fehlers können wir nur
mutmaßen. Zum Zeitpunkt des fraglichen Ereignisses
wohnte Melanchthon in Tübingen, und so ist denn
diese Behauptung in den gleichen Topf zu werfen wie
die vielen anderen Fehler, die Melanchthon in dieser
Vorrede unterlaufen sind (etwa, der Ablaßprediger
Tetzel habe Luthers Thesen öffentlich verbrannt, oder
Luther hätte Vorlesungen über Physik gehalten, oder
er sei 1511 in Rom gewesen).
In Wahrheit hat Luther seine Thesen auf dem ganz
normalen »Dienstweg« vorgetragen; handgeschrieben,
nicht gedruckt und mit durchaus ehrerbietigen Erläu-
terungen versehen: an den Erzbischof von Mainz, der
für die in Luthers Thesen angegriffenen Praktiken der
Ablaßprediger verantwortlich war, sowie an den Bi-
schof von Brandenburg, Luthers klerikalen Vorge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Luther 210

setzten. Erst später, im Januar 1518, ließen Freunde


Luthers diese Thesen drucken; so konnte sie auch au-
ßerhalb des klerikalen Dienstwegs Leser finden.
Aber auch nach dieser Drucklegung ist von einem
Anschlag an die Kirchenpforten keine Rede; daß ein
Professor der Wittenberger Universität eigenhändig
Flugblätter an Kirchentüren nagelt, wäre dem durch-
aus auf »law and order« bedachten Martin Luther nie-
mals in den Sinn gekommen.
& Lit.: Gerhard Ritter: Luther, Frankfurt 1985; Ger-
hard Prause: Niemand hat Kolumbus ausgelacht,
Düsseldorf 1986 (besonders das Kapitel »Luthers
Thesenanschlag ist eine Legende«).

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


M 211

»Die sogenannten Wahrheiten habe ich doch ein


wenig im Verdacht der Unbeständigkeit.«
Wilhelm Busch

»Vorurteile ablegen, heißt vereinsamen.«


Emanuel Wertheimer

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LexPI Bd. 1 Machiavelli 211

Machiavelli
Machiavelli predigte Zynismus und Menschen-
verachtung
Der italienische Schriftsteller und Staatstheoretiker
Niccolò Machiavelli (1469–1527) teilt mit vielen an-
deren historischen Figuren einen unverdienten
schlechten Ruf.
Wenn man den historischen Quellen glauben darf,
war Machiavelli ein warmherziger und um das Ge-
meinwohl tief besorgter Mensch, der sich in einer un-
ruhigen und kriegerischen Zeit nach einem geeinten
und starken Land als Garant für Sicherheit und Frie-
den sehnte. Und da er die Menschen so sah, wie sie
sind, nicht wie sie sein sollen, und als Florentiner Di-
plomat schon früh erkennen mußte, daß diese Ziele
durch moralische Appelle nicht erreichbar waren, riet
er u.a. auch zu Methoden, die in unserer aufgeklärten
Neuzeit Stirnrunzeln erzeugen, aber unter den damali-
gen Umständen wohl das kleinere von verschiedenen
Übeln waren; es schien keine andere Wahl zu geben.
Und außerdem hat Machiavelli diese Mittel immer
nur als Medizin und nie als Selbstzweck angesehen.
Aber Medizin hin oder her – auf jeden Fall wider-
sprechen Machiavellis Ansichten den eher moralba-
sierten Staatstheorien sowohl mittelalterlicher wie
moderner Utopisten, und diese Zweifel an das letzt-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Machiavelli 211

endlich Gute im Menschen haben ihm beide Lager bis


heute nicht verziehen.
& Lit.: George Bull: Einleitung zu The Prince, Lon-
don 1961; M. Brion: Machiavelli und seine Zeit,
Düsseldorf 1957, Thomas Macauly: Machiavelli,
Heidelberg 1994.

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LexPI Bd. 1 Made in Germany 211

Made in Germany
»Made in Germany« ist seit jeher als Qualitäts-
siegel bekannt gewesen
Das Siegel »Made in Germany« war ursprünglich zur
Kennzeichnung minderwertiger Produkte vorgesehen,
so wie heute etwa »Made in China«; es geht auf den
englischen »Merchandise Marks Act« von 1887
zurück, nach dem alle ausländischen Waren eine deut-
liche Bezeichnung des Herkunftslandes tragen muß-
ten, um sie besser von englischen Qualitätsprodukten
zu unterscheiden.
Daß deutsche Waren damals keine Qualitätspro-
dukte waren, bezeugt etwa der deutsche Ingenieur und
Maschinenbauer Franz Reuleaux, der als Direktor der
Berliner Gewerbeakademie in der Jury der Weltaus-
stellung in Philadelphia 1876 saß: »Billig und
schlecht« sei fast alles, was aus Deutschland zu der
Ausstellung geliefert werde (siehe seine im gleichen
Jahr veröffentlichten »Briefe aus Philadelphia«).
Unter anderem auch aufgrund dieser Berichte von
Reuleaux setzte dann in den Fabriken und Betrieben
des Deutschen Reiches eine landesweite Qualitäts-
kampagne ein, die mit der Zeit auch sehr erfolgreich
war. Aber bis deutsche Produkte auf den Weltmärkten
allein schon wegen ihrer Herkunft einen Bonus hatten,
sollten noch mehrere Jahrzehnte vergehen.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Made in Germany 212

& Lit.: Georg Büchmann: Geflügelte Worte, Mün-


chen 1977.

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LexPI Bd. 2 Magengeschwüre 203

Magengeschwüre
Magengeschwüre entstehen durch Streß
Daß Magengeschwüre nicht wie bisher angenommen
durch zuviel Magensäure, sondern durch Bakterien
entstehen, wird heute in der Medizin kaum noch be-
stritten. Seit der australische Mediziner Robin Warren
1983 in einem Selbstversuch mehrere Milliarden
»Helicobakter pylori«-Bakterien verschluckte und
fünf Tage später eine ausgewachsene Gastritis hatte,
ist der wahre Übeltäter mitsamt Übeltaten aufgedeckt:
Der Helicobakter pylori, von dem jeder dritte Bundes-
bürger befallen ist, der sich gerne durch die Magen-
schleimhaut bis zur Magenwand durchbohrt und sich
dann auf den darunterliegenden Epithelzellen festsetzt
und diese schließlich auffrißt. Auch die meisten
Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre gehen auf
dieses kaum zwei Tausendstel Millimeter große Bak-
terium zurück – es nistet sich auch außerhalb des Ma-
gens gern in unseren Gedärmen ein, bohrt sich fest,
die Eingeweide wehren sich, und man hat eine Ent-
zündung.
Bei mehr als einer Million Bundesbürgern jährlich
zeigen sich akute Symptome, die je nach genetischer
Veranlagung und Robustheit des körpereigenen Im-
munsystems einmal zu Geschwüren führen und ein-
mal nicht. Der wahre oder eingebildete Streß, dem der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Magengeschwüre 204

Eigentümer dieses Magens unterliegt, hat damit aber


kaum etwas zu tun: »Es handelt sich um eine Infekti-
onskrankheit, und dementsprechend sollten Magenge-
schwüre auch behandelt werden«, erklärten die füh-
renden medizinischen Experten auf der »Digestive
Desease Week« im Mai 1997 in New York.
& Lit.: J.B. Warren und B. Marshall: »Unidentified
curved bacilli on gastric ephtelium in active chro-
nic gastritis«, Lancet, 1983, S. 1273–1275; T.
Boren et al.: »Attachment of helicobacter pylori to
human gastric ephtelium mediated by blood group
antigens«, Science 262, 1993, S. 1892–1895;
»Jagd auf den Teufel im Magen«, TK aktuell
1/1997; R.F. Doolittle: »A bug with excess ga-
stric activity«, Nature 388, August 1997; »Sto-
mach turning«, The Economist, 18.8.1997; Stich-
wort angeregt von Doris Krämer.

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LexPI Bd. 1 Magnetfeld 212

Magnetfeld
Das Magnetfeld der Erde zeigt seit jeher in die
gleiche Richtung (s.a. ð »Kompaß«)
Das Magnetfeld der Erde hat nicht immer seine aktu-
elle Richtung von Süden nach Norden gehabt. In den
letzten 4 Millionen Jahren hat es mindestens neunmal
seine Richtung gewechselt, das letzte Mal vor 730000
Jahren; das kann man etwa aus Eisenpartikeln in er-
starrter Lava sehen. Mit anderen Worten, wäre da-
mals ein Seefahrer stur der Kompaßnadel nachgefolgt,
wäre er genau am Südpol angekommen.
Auch heute steht der magnetische Nordpol alles an-
dere als still – allein in diesem Jahrhundert hat er sich
rund 500 Kilometer Richtung Westen (von Europa
aus gesehen) fortbewegt.
& Lit.: Allan Cox u.a.: »Reversals of the earth's ma-
gnetic field«, Scientific American, Febr. 1967.

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LexPI Bd. 2 Mais 204

Mais
Mais ist ein Gemüse
Mais ist kein Gemüse, sondern so wie Roggen, Wei-
zen, Hafer, Reis und Gerste ein Getreide, d.h. eine
Pflanze aus der Familie der Gräser. Unter »Gemüse«
und »Obst« versteht man die übrigen als Nahrungs-
mittel genutzten Pflanzen (Erbsen, Möhren, Rüben
usw.), wobei aber auch hier die Einteilung nicht
immer unumstritten ist. Bekannt sind etwa die Tricks
der alten DDR-Statistik, zu Zeiten von Gemüse-
knappheit die schweren und reichlich vorhandenen
Melonen statt dem Obst dem Gemüse zuzurechnen.
& Lit.: W. Krämer: So lügt man mit Statistik, 7.
Auflage, Frankfurt a.M. 1997; Stichwort vorge-
schlagen von Christelle Gelzus.

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LexPI Bd. 1 Makrobiotische Ernährung 212

Makrobiotische Ernährung
Makrobiotische Ernährung ist gesund (s.a. ð
»Reis«)
Die makrobiotische Ernährung überträgt das Yin und
Yang des Zen-Buddhismus auf das Essen. Nach die-
ser Lehre ist das Verhältnis von Yin und Yang in un-
serer »normalen« Nahrung viel zu wenig ausgewogen.
Optimal ist es allein in Reis und Vollkorngetreide;
diese Nahrungsmittel bilden deshalb die Grundlage
der makrobiotischen Küche.
Entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung ist
diese Ernährung aber alles andere als gesund. »Als
Dauerernährung ist eine radikal durchgeführte Makro-
biotik gesundheitlich bedenklich und deshalb abzu-
lehnen«, schreibt die Stiftung Warentest. Und wer den
makrobiotischen Speiseplan buchstabengetreu erfüllt,
riskiert sogar sein Leben. »Dies betrifft vor allem die
Eiweißversorgung, ... es betrifft die Mineralstoffe
Calcium, Magnesium, Eisen und Zink, deren Aufnah-
me zum Teil durch den hohen Phytingehalt der extrem
reichlich bemessenen Getreidekost behindert wird«,
so Warentest. »Es betrifft auch bestimmte Vitamine:
Vitamin B12 und D, die sich nur in tierischen Pro-
dukten finden, und Vitamin C.«
& Lit.: Michio Kushi: Der makrobiotische Weg,
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LexPI Bd. 1 Makrobiotische Ernährung 213

München 1990; Stiftung Warentest: Test Spezial


Ernährung, 1993.

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LexPI Bd. 2 Managerkrankheit 205

Managerkrankheit
Manager erleiden öfter als andere einen Herzin-
farkt
»Diese Theorie muß man ad acta legen«, sagen Epi-
demiologen. »In den 50er Jahren war das vielleicht
richtig. Damals gehörte es fast schon zum guten Ton,
viel zu essen und viel zu rauchen; darum hatten Ange-
hörige höherer sozialer Schichten ein größeres Risiko
als die Durchschnittsbürger. Heute ist es genau umge-
kehrt.«
Wie die sogenannte MONICA-Studie zu Herz-
Kreislauf-Krankheiten in Deutschland zeigt, nimmt
das Risiko für Herzinfarkt mit wachsendem sozialen
Status ab; es ist für Fließbandarbeiter fast doppelt so
hoch wie für höhere Angestellte und Beamte. Je bes-
ser die Ausbildung, je mehr Kontrolle über Arbeit
und Beruf ein Mensch besitzt, desto seltener droht
ihm (droht ihr) ein Herzinfarkt.
& Lit.: »Mythos Managerkrankheit«, Focus
38/1997.

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LexPI Bd. 2 Mandelbrot-Menge 205

Mandelbrot-Menge
Die Mandelbrot-Menge ist das geistige Kind von
Benoit Mandelbrot
Die Mandelbrot-Menge, dieser seltsam gezackte und
verwirbelte Teil der zweidimensionalen Ebene, gehört
zusammen mit anderen sogenannten Fraktalen zu den
seltenen Kopfgeburten der Mathematik, die auch bei
mathematischen Laien Interesse finden:
Schneeflocken, Blutgefäße, Wolken, Bäume, Küsten-
linien – sie alle gleichen, wenn man Ausschnitte ver-
größert, wiederum sich selber, mit zum Teil verblüf-
fenden Konsequenzen (Beispiel: Die Länge der deut-
schen Nordseeküste ist weder theoretisch noch prak-
tisch jemals zu bestimmen; je genauer man sie zu
messen versucht, desto verzweigter und damit länger
wird die Küstenlinie).
Jedoch geht die Mandelbrot-Menge nicht auf Be-
noit Mandelbrot zurück – die Formel, mittels derer
man bestimmen kann, ob ein Punkt der Ebene dazu-
gehört oder nicht, war schon vor Mandelbrot bekannt.
& Lit.: S.G. Krantz: »Fractal geometry«, The Ma-
thematical Intelligencer 11, 1989, S. 12–16; C.
Pöppe: »Hat Mandelbrot die Mandelbrot-Menge
entdeckt?«, Spektrum der Wissenschaft, August
1990, S. 38–41.
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LexPI Bd. 2 Mandelbrot-Menge 206

¤ Die Mandelbrot-Menge: schon vor Mandelbrot be-


kannt

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LexPI Bd. 2 Marathonlauf 206

Marathonlauf
Der Marathonlauf ist so lang wie der Weg von
Marathon nach Athen
Der Weg vom Schlachtfeld von Marathon zum
Marktplatz von Athen mißt weniger als 40 km, des-
halb waren die ersten Marathonstrecken immer 25
Meilen oder 39 km lang. Erst bei den Olympischen
Spielen 1908 in London verlängerte man die Strecke
auf 26 Meilen 385 Yards bzw. 41 km 947 m, um der
englischen Königsfamilie ein bequemes Zuschauen
von Schloß Windsor aus zu ermöglichen. Und bei
dieser Länge ist es dann geblieben.
& Lit.: Stichwort »Marathon« (Sport) in der MS Mi-
crosoft Enzyklopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Marco Polo 206

Marco Polo
Marco Polo war in China
Der einzige Zeuge für diese Behauptung ist Marco
Polo selber; in Wahrheit, und anders als wir es aus
Dutzenden von Büchern oder Filmen kennen, ist
Marco Polo vermutlich nie über Konstantinopel und
das Schwarze Meer hinausgekommen; er hat nie den
Kublai Khan gesehen, ist nie dessen Statthalter und
Gouverneur gewesen, er war weder im Karakorum
noch in Peking noch in den meisten anderen Städten,
die er in seiner »Beschreibung der Welt« gesehen
haben will. So lautet eine unter modernen Sinologen
ernsthaft diskutierte These. Mit anderen Worten,
Marco Polo hätte den Großteil seines Buches abge-
schrieben oder frei erfunden (bzw. einem Mitgefange-
nen in einem Kerker in Genua diktiert, wo er als
Kriegsgefangener vier Jahre Zeit zum Fabulieren
hatte).
Diese These gründet sich auf folgende Indizien:
(1.) All die Dinge, die Marco Polo nicht berichtet.
Wer mehr als zehn Jahre in China herumgereist sein
will, hat natürlich die Große Mauer gesehen (und in
der Tat muß Marco Polo, wenn man seine angebliche
Reiseroute nachvollzieht, mindestens einmal diese
Mauer überwunden haben). Aber Marco Polo erwähnt
die Mauer mit keinem Wort, genausowenig wie die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marco Polo 207

damals in China schon wohlbekannte und weitver-


breitete Buchdruckkunst: »Die Märkte der von Marco
Polo beschriebenen Städte müssen voll gewesen sein
mit kleinen Bücherständen, auf denen billig gedruckte
populäre Handbücher und fiktionale Werke, viele
davon mit Illustrationen, feilgeboten wurden«
(Wood). Auch die typischen chinesischen Sitten des
Teetrinkens oder des Essens mit den Stäbchen oder
des Einbindens der Füße bei den Frauen bleiben
unerwähnt – sehr ungewöhnlich für einen Reisenden,
der jahrelang in dieser Gegend und unter diesen Men-
schen gelebt haben will. (2.) Das Fehlen jeglicher
Hinweise auf Marco Polo in chinesischen Quellen
selbst. Immerhin will Marco Polo ja ein bedeutender
Gesandter und Statthalter des Herrschers gewesen
sein; eine solche Figur verschwindet nicht ohne alle
Spuren aus der Geschichte eines Landes. (3.) Die
Schwierigkeiten, die angebliche Reiseroute nachzu-
fahren. »Zwar gibt es auch heute noch Expeditionen,
die sich rühmen, den ›Fußstapfen Marco Polos‹ ge-
folgt zu sein, doch namhafte Forschungsreisende
geben zu, daß es nicht möglich ist, über die Grenzen
Persiens hinaus Marco Polos Route Schritt für Schritt
nachzuvollziehen« (Wood). (4.) Die seltsam unper-
sönliche Beschreibung fremder Sitten, Städte oder
Länder: »Kamul ist eine Landschaft, die zu der gro-
ßen Provinz Tanguth gehört; sie hat viele Städte und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marco Polo 207

Burgen und ist dem Großkhan untertan.« Und so wei-


ter über Hunderte von Seiten: »Tenduk (...) ist eine
östliche Provinz mit vielen Städten und Schlössern.
(...) Sungui ist eine große und prächtige Stadt von
einem Umfang von zwanzig Meilen« usw. So schreibt
man nicht über selbst Erlebtes, so schreibt man über
Dinge, die man aus fremden Quellen abgeschrieben
hat. (5.) Das Fehlen der Person des Marco Polo im
größten Teil des Buches. Passend zu der unpersönli-
chen Schilderung der Landschaften und Städte ist
nämlich von Marco Polo selbst in Marco Polos Rei-
sen kaum die Rede. In der Regel erscheint er, falls
überhaupt, nur in der dritten Person oder in der ersten
Person Mehrzahl: »Messer Marco ist lange in Indien
gewesen. (...) Wenn der Reisende die Stadt verläßt,
reitet er sieben Tage über flaches Land. (...) Wir ver-
lassen nun Sengui und kommen zu einer anderen
Stadt« usw. (6.) Der Aufbau des Reiseberichtes sel-
ber. Auch wenn manche Übersetzungen »Die Reisen
des Marco Polo« heißen – das Buch ist alles andere
als ein Bericht einer Reise, eher ein Zettelkasten aus
Anekdoten, Fakten, zugetragenen Geschichten. Der
Hauptteil des Textes beginnt mit einer ziemlich
sprunghaften Chronik des Mittleren Ostens, aus der
man einiges über die dort gehandelten Waren und die
dort lebenden Menschen, aber nichts über die konkre-
ten Fahrten Marco Polos von einer Stadt zur anderen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marco Polo 208

erfährt. Es folgen geographische, ökonomische oder


sozialpsychologische Exkurse, wie sie für aus frem-
den Quellen und aus Erzählungen von anderen zusam-
mengeschriebene Bücher typisch sind.
& Lit.: Herbert Franke: »Sino-western relations
under the Mongol empire«, Journal of the Royal
Asiatic Society 6, 1966, S. 49–72; Hans Eckart
Rübsamen: Die Reisen des Venezianers Marco
Polo, München 1993; Frances Wood: Marco Polo
kam nicht bis China, München 1996.

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LexPI Bd. 2 Margarine 208

Margarine
Margarine ist gesünder und kalorienärmer als
Butter
Beides ist falsch. Einhundert Gramm Margarine ent-
halten genauso viele Kalorien wie einhundert Gramm
Butter – jeweils rund 750 Kilokalorien. Und gesünder
ist Margarine auch nicht: In der auch schon zum
Stichwort »Kaffee« zitierten »Nurses health study«
wurden auch die Eßgewohnheiten der über 80.000 in
dieser Studie erfaßten Krankenschwestern notiert.
Diejenigen, die täglich vier oder mehr Teelöffel Mar-
garine aßen, hatten ein um zwei Drittel höheres In-
farktrisiko als diejenigen, die nur einmal im Monat
Margarine oder grundsätzlich lieber Butter aßen.
& Lit.: W. Willett u.a.: »The Nurses health study«,
Lancet 341, 1993, S. 581ff.; Stichwort vorge-
schlagen von Max Dienel und Alfred Obermeyer.

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LexPI Bd. 1 Mark Twain 213

Mark Twain
»Mark Twain« ist das Originalpseudonym des
Autors von »Tom Sawyer« und »Huckleberry
Finn«
Der als »Mark Twain« bekannte Autor von Tom Sa-
wyer und Huckleberry Finn hat dieses Pseudonym
nicht selbst erfunden. Vor ihm gab es schon einen an-
deren Mark Twain, einen Mississippi-Lotsen namens
Isaiah Seller, der unter diesem Künstlernamen allerlei
Historien aus seinem Lotsen-Leben publizierte. Diese
hatte der als Samuel Clemens geborene nachmalige
zweite Mark Twain in einer Zeitung parodiert (sie
sollen es verdient haben), worauf der erste Mark
Twain nie wieder etwas publizierte. Vielleicht wollte
der zweite Mark Twain als eine Art Wiedergutma-
chung zumindest den Namen seines Opfers weiterle-
ben lassen.
& Lit.: Frank Muir: The Oxford book of humorous
prose, Oxford 1990.

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LexPI Bd. 2 Marseillaise 208

Marseillaise
Die Marseillaise kommt aus Marseille
Die Marseillaise kommt nicht aus Marseille, sondern
aus Straßburg; dort wurde sie in der Nacht vom 25.
auf den 26. April des Jahres 1792 von einem Haupt-
mann Rouget als »Chant de guerre pour l'armée du
Rhin« anläßlich der Kriegserklärung Frankreichs an
das Deutsche Reich sowohl gedichtet wie auch kom-
poniert.
Die Nachricht von der Kriegserklärung war gerade
aus Paris mit Eilstafetten angekommen, der Bürger-
meister und die Bürger Straßburgs jubeln, feiern,
schwenken Fahnen, abends lädt Bürgermeister Diet-
rich die lokalen Offiziere, die demnächst ins Feld
marschieren würden, zu einer vorgezogenen Sieges-
feier zu sich nach Hause. »Plötzlich, mitten im Reden
und Toastieren, wendet sich der Bürgermeister Diet-
rich einem jungen Hauptmann vom Festungskorps,
namens Rouget, zu, der an seiner Seite sitzt. Er hat
sich erinnert, daß dieser nette, nicht gerade hübsche,
aber sympathische Offizier vor einem halben Jahr an-
läßlich der Proklamierung der Konstitution eine recht
nette Hymne an die Freiheit geschrieben hat, die der
Regimentsmusikus Pleyel gleich vertonte. Die an-
spruchslose Arbeit hatte sich sangbar erwiesen, die
Militärkapelle hatte sie eingelernt, man hatte sie am
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marseillaise 209

öffentlichen Platz gespielt und im Chor gesungen.


Wären jetzt die Kriegserklärung und der Abmarsch
nicht gegebener Anlaß, eine ähnliche Feier zu insze-
nieren? So fragt Bürgermeister Dietrich ganz lässig,
wie man eben einen guten Bekannten um eine Gefäl-
ligkeit bittet, den Kapitän Rouget (der sich völlig un-
berechtigterweise selbst geadelt hat und Rouget de
Lisle nennt), ob er nicht den patriotischen Anlaß
wahrnehmen wolle und für die ausmarschierenden
Truppen etwas dichten, ein Kriegslied für die Rhein-
armee, die morgen gegen den Feind ausrücken soll.«
Und Rouget komponiert und dichtet und liefert gleich
am nächsten Morgen seine Verse nebst Vertonung ab.
Die Resonanz ist freundlich, aber nicht begeistert.
»Nicht ein einziger der Generäle der Rheinarmee
denkt daran, die neue Weise beim Vormarsch wirk-
lich spielen oder singen zu lassen, und so scheint, wie
alle bisherigen Versuche Rougets, der Salonerfolg des
›Allons, enfants de la patrie‹ eine Eintagserfolg, eine
Provinzialangelegenheit zu bleiben und als solche
vergessen zu werden.«
Aber dann, zwei Monate später, findet eine Kopie
des Lieds den Weg nach Marseille; auf einer ähnli-
chen Abschiedsfeier für ausrückende Freiwillige wird
es von einem der Teilnehmer, dem nichts Besseres
einfällt, als Lückenbüßer vorgetragen, und genauso,
wie manche Karnevalsschlager nur in Mainz und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marseillaise 209

nicht in Düsseldorf gefallen, schlägt das Lied in Mar-


seille auf Anhieb ein, am nächsten Morgen singt es
gleich die ganze Stadt: »Allons, enfants de la pa-
trie ...« Und seither heißt das Lied nur noch »die Mar-
seillaise«.
& Lit.: Stefan Zweig: »Das Genie einer Nacht. Die
Marseillaise, 25. April 1792«, Sternstunden der
Menschheit, Frankfurt a.M. 1962.

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LexPI Bd. 2 Marshallplan 1 210

Marshallplan 1
Der Marshallplan war als Erste Hilfe für das ge-
schwächte Nachkriegsdeutschland ausersehen
Der Marshallplan – eigentlich »European Recovery
Program (ERP) – war seinem offiziellen Namen ent-
sprechend als gesamteuropäische Aktion gedacht, als
Versuch der Amerikaner, den gesamteuropäischen
wirtschaftlichen Scherbenhaufen, den sie sich als die
Sieger des Zweiten Weltkriegs eingehandelt hatten,
möglichst kostengünstig zu entsorgen. Die Deutschen
spielten hier nur eine Nebenrolle; von den insgesamt
14 Milliarden den Europäern zugeteilten Dollars er-
hielten sie nur 1,4 Milliarden oder 10%; nach Eng-
land flossen dagegen mehr als 3 Milliarden, in das
kaum vom Krieg zerstörte Frankreich 2,8 Milliarden,
selbst die Iren oder Portugiesen, ja sogar die Isländer
erhielten durch den Marshallplan pro Kopf mehr Geld
als die Einwohner der Bundesrepublik.
Von weit größerer Bedeutung für das Überleben
der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg waren die
im Rahmen des sogenannten GORIOA-Programms
(»Government and Relief in Occupied Areas«) gelie-
ferten Hilfsgüter wie Nahrungsmittel, Saatgut, Treib-
stoff oder Dünger; diese hatten einen Wert von insge-
samt 1,6 Milliarden Dollar, mehr als der gesamte auf
Deutschland entfallende Teil des Marshallplans.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marshallplan 1 211

& Lit.: H.-J. Schröder (Hrsg.): Marshallplan und


Wiederaufbau in Westdeutschland, Stuttgart
1990; George C. Marshall: »Against hunger, de-
speration and chaos«, Foreign Affairs 76, 1997,
S. 160–162 (ein abgekürzter Nachdruck von
Marshalls Rede in Harvard vom 5. Juni 1947).
Stichwort vorgeschlagen von Richard M. Müller.
¤ George Marshall, 1947

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LexPI Bd. 2 Marshallplan 2 211

Marshallplan 2
Der Marshallplan war der Geburtshelfer des
deutschen Wirtschaftswunders (s.a. ð »Bomben-
schäden«)
Der Marshallplan hat weit weniger zum deutschen
Wirtschaftswunder beigetragen, als die meisten glau-
ben; sowohl sein Zeitplan als auch die gezahlten Gel-
der (siehe oben) als auch die Natur der Güter, die ge-
liefert wurden, machen ihn als Auslöser des Wirt-
schaftswunders äußerst unwahrscheinlich. Als die er-
sten Marshall-Mittel 1948 in die westlichen Besat-
zungszonen flossen, war der Wiederaufbau schon in
vollem Gange. Die deutsche Wirtschaft, weit weniger
durch den Krieg getroffen als im allgemeinen ange-
nommen, verfügte allen alliierten Bomben und De-
montagen zum Trotz schon 1948 über höhere Kapazi-
täten als 1939, sie hatte Anfang 1948 schon über die
Hälfte der Vorkriegsproduktion erreicht, und mit der
Währungsreform vom Juni 1948 waren die Weichen
unumkehrbar auf Erfolg gestellt – das Wirtschafts-
wunder wäre mit oder ohne Marshallplan in jedem
Fall gekommen. (Rund die Hälfte der Güter selber,
die im Rahmen des Marshallplans nach Deutschland
flossen, waren Dünger oder Lebensmittel. Industrie-
rohstoffe oder Maschinen dagegen waren in eher be-
scheidenem Umfang vertreten, selbst die Ausgaben
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marshallplan 2 211

für Frachten – 120 Millionen Dollar – waren dreimal


größer als der Gesamtwert sämtlicher Fahrzeuge und
Maschinen, die im Rahmen des Marshallplans nach
Deutschland kamen.)
Die eigentliche Bedeutung des Marshallplans war
nicht wirtschaftlicher, sondern politischer Natur: Der
Marshallplan signalisierte die Abkehr der Amerikaner
von der Morgenthau-Philosophie des Jahres 1944, er
zeigte aller Welt das amerikanische Interesse am Fort-
bestand eines selbständigen und wirtschaftlich gesun-
den deutschen Staates (nicht allein aus Menschenlie-
be – im aufkommenden Kalten Krieg war eine stabile
Bundesrepublik als Frontstaat/Bollwerk sehr will-
kommen, sehr zum Verdruß der Engländer und ganz
besonders der Franzosen, die diese Politik wo immer
möglich zu blockieren suchten), und schließlich
machte es der Marshallplan den deutschen Politikern
und Wirtschaftsführern möglich, in den zu seiner
Koordinierung gegründeten Gremien wie in dem Pari-
ser »Committee of European Economic Cooperation«
(CEEC) erstmals wieder auf der internationalen
Bühne aufzutreten.
Der Marshallplan war gewissermaßen die politi-
sche Taufe für das freie Nachkriegsdeutschland, er hat
die entstehende Bundesrepublik fest in den Westen
eingewoben und wurde auch von den Deutschen sel-
ber genau in diesem Sinn gesehen. Wie man in den
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marshallplan 2 212

Verhandlungen des 1. Deutschen Bundestages, beson-


ders im Umfeld der Ratifizierungsdebatte zum bilate-
ralen ERP-Abkommen vom 15. Dezember 1949,
nachlesen kann, symbolisierte er das Bekenntnis zum
Westen und zur westlichen Sozial- und Wirtschafts-
ordnung, und durch das fortwährende Betonen dieser
Rolle haben die damals maßgebenden deutschen
Wirtschafts- und Außenpolitiker selbst den Grund-
stein für die Legende von der Hebammenfunktion des
Marshallplans gelegt, die bis heute in unseren Köpfen
weiterlebt.
& Lit.: J. Gimbel: The Origins of the Marshall Plan,
Stanford 1976; W. Abelshauser: Wirtschaftsge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland, Frank-
furt a.M. 1983; W. Bührer: »Auftakt in Paris. Der
Marshall-Plan und die deutsche Rückkehr auf die
internationale Bühne 1948/49«, Vierteljahreshefte
für Zeitgeschichte, 1988; G. Hardach: Der Mar-
shall-Plan, München 1994; »50 Jahre Marshall-
Plan«, Sonderbeilage der Süddeutschen Zeitung,
5.6.1997.

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LexPI Bd. 2 Marshallplan 3 212

Marshallplan 3
Die Marshall-Gelder waren Schenkungen der
Amerikaner
Der Marshallplan verteilte keine Almosen, der größte
Teil der Lieferungen erfolgte auf Kredit. Als einziges
Zugeständnis konnten die deutschen Importeure ihre
Schulden in deutscher Währung abbezahlen; diese
Gelder wurden auf Sonderkonten eingesammelt, von
wo sie nach ursprünglicher Planung in die USA ge-
langen sollten.
& Lit.: H.-J. Schröder (Hrsg.): Marshallplan und
Wiederaufbau in Westdeutschland, Stuttgart
1990.

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LexPI Bd. 2 Marskanäle 213

Marskanäle
Die Astronomen des 19. Jahrhunderts glaubten,
künstliche Kanäle auf dem Mars zu sehen
Dieser Irrtum lebt von einem Übersetzungsfehler. Als
der italienische Astronom Angelo Secchi Mitte des
19. Jahrhunderts auf dem Mars gewisse Rinnen oder
Furchen auszumachen glaubte, nannte er diese Gräben
»canale«. Die korrekte englische Übersetzung wäre
»chanell« – ein natürlich entstandener Graben. Statt
dessen übersetzte man »canale« mit »canal«, und das
heißt »künstlicher Kanal«. Dieses Mißverständnis
wurde dann auch von anderen Sprachen übernommen
(auch im Deutschen hat ja das Wort »Kanal« einen
starken Hauch des menschlich Hergestellten). Und so
sprossen bald die wildesten Theorien über intelligente
Marsbewohner, die wegen chronischen Wasserman-
gels ein gigantisches Kanalsystem zur Ableitung des
Schmelzwassers an den Polen ausgegraben hätten.
In Wahrheit gibt es weder natürliche noch künstli-
che Marskanäle; die von den Astronomen des 19.
Jahrhunderts ausgemachten Linien auf der Oberfläche
des Planeten sind durch kleine Unebenheiten an der
Grenze des damals Wahrnehmbaren erzeugte optische
Täuschungen, denen eine völlig überhöhte Bedeutung
beigemessen wurde.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Marskanäle 213

& Lit.: Wilhelm Meyer: Bewohnte Welten, Leipzig


1907; Horst W. Köhler: Der Mars, Braunschweig
1978; Jürgen Blunck: Der Rote Planet im Karten-
bild, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 2 Martinstag 213

Martinstag
An Martini Sonnenschein, tritt ein kalter Winter
ein (s.a. ð »Frühling«, ð »Januar« und ð »Sie-
benschläfer«)
Das ist eine der vielen falschen Bauernregeln, die das
Wetter am 11. November, dem Martinstag, mit dem
Winterwetter in Verbindung bringen. Andere fast in-
haltsgleiche Regeln sind: »Ist Martini klar und rein,
bricht der Winter bald herein« oder »Hat Martini
einen weißen Bart, wird der Winter lang und hart«.
Wie nämlich moderne Wetterforscher zeigen, haben
Sonne oder Rauhreif am Martinstag mit der Winter-
kälte nichts zu tun – nach einem sonnigen Martinstag
wird der folgende Winter mit der gleichen Wahr-
scheinlichkeit kälter oder wärmer als normal.
Als durchaus begründet hat sich dagegen die Bau-
ernregel erwiesen, nach einem feuchten oder nebeligen
Martinstag einen warmen Winter zu erwarten (»Ist
Martini trüb und feucht, wird gewiß der Winter
leicht«): Nach einem feucht-trüben Martinstag folgt
mit 75prozentiger Wahrscheinlichkeit ein insgesamt
zu milder Winter.
& Lit.: P. Bisolli: »Eintrittswahrscheinlichkeit und
statistische Charakteristika der Witterungsfälle in
der Bundesrepublik Deutschland und West-Ber-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Martinstag 214

lin«, Institut für Meteorologie und Geophysik,


Universität Frankfurt a.M. 1991; H. Malberg:
Bauernregeln aus meteorologischer Sicht, Berlin
1993.

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LexPI Bd. 2 Marylin Monroe 214

Marylin Monroe
Marylin Monroe war eine Naturblondine
Marylin Monroe war von Natur brünett.
& Stichwort vorgeschlagen von Judith Sievers.

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LexPI Bd. 1 Massage 213

Massage
Massagen können Fettzellen aufbrechen
Auch wenn die amerikanische Filmschauspielerin
Linda Evans in ihrem Schönheitsbuch das Gegenteil
behauptet: Massagen können keine Fettzellen aufbre-
chen (die dann, so Frau Evans, mit der Verdauung
ausgeschieden würden). Fettzellen, die der Körper
einmal hat, behält er auch. Wir können sie zwar
wachsen oder schrumpfen, aber niemals mehr ver-
schwinden lassen.

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LexPI Bd. 2 Maulaffe 215

Maulaffe
Maulaffe hat etwas mit Affen zu tun
»Maulaffen feilhalten« kommt vom plattdeutschen
»dat Mul apen halten«. Weil wir den Mund vor allem
dann weit aufreißen, wenn wir etwas Ungewöhnliches
oder Erschreckendes sehen, hörte man früher die Ord-
nungskräfte öfters sagen, die Leute sollten nicht
Maulaffen feilhalten, sondern weitergehen ...
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 2 Maulwurf 215

Maulwurf
Der Maulwurf wirft die Erde mit dem Maul
Der Maulwurf hat seinen Namen vom althochdeut-
schen »Moltewurf«. Molte bedeutet Erde, d.h. der
Maulwurf wirft Erde auf (der alte Kern »Maul« steckt
auch in den Wörtern »Müll« und »Mull«).
Falsch ist auch die These mancher Hobbygärtner,
daß Maulwürfe die Wurzeln von Salaten fräßen:
Maulwürfe leben vor allem von Insektenlarven, En-
gerlingen, Regenwürmern, gelegentlich auch von Aas.
Vegetarisch essen sie nur in der allergrößten Not.
Und falsch ist auch die Unterstellung Shakespeares,
daß Maulwürfe nicht sehen könnten: »Ich flehe Euch
an, tretet sanft auf, damit der blinde Maulwurf keinen
Schritt hört« (»Pray you, tread softly, that the blind
mole may not hear a foot fall«), flüstert Caliban sei-
nen Gefährten Stephano und Trinculo in »Sturm« auf
dem Weg zu Prosperos Zelle zu. In Wahrheit können
zumindest junge Maulwürfe gut sehen, erst bei älteren
läßt das Sehvermögen mangels Übung nach.
& Lit.: Ernst Wasserzieher: Woher? Ableitendes
Wörterbuch der deutschen Sprache, Bonn 1966;
Grzimeks Tierleben, Bd. 10, Stuttgart 1967.

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LexPI Bd. 2 Mauser 215

Mauser
Vögeln mausern sich, um abgenutzte Federn zu
ersetzen (s.a. ð »Vögel 2«)
Eine ausgewachsene Vogelfeder ist tot; sie ist vom
Kiel her nicht mehr zu erneuern und nutzt sich durch
das Fliegen, aber auch durch Wind und Wetter stän-
dig ab, und deshalb, so die konventionelle, aber fal-
sche Theorie, muß ab und zu ein neues Gefieder her.
Die neue Feder drückt die alte sozusagen aus den Fel-
gen, mit neuen Reifen geht das Jagen weiter.
Nach Meinung des Münchner Zoologen Josef
Reichholf ist diese Inspektion des Gefieders aber nur
ein Nebeneffekt; eigentlich mausern Vögel aus ganz
anderen Gründen, nämlich um die überschüssigen, bei
ihrem Stoffwechsel anfallenden schwefelhaltigen
Aminosäuren abzustoßen, die sie mit ihrer Insekten-
nahrung zu sich nehmen. Da ein Ausscheiden über die
Verdauung (als Schwefelwasserstoff) wegen Vergif-
tungsgefahr nicht in großem Umfang möglich ist, lan-
det dieser Abfall in der Federdeponie; ist diese voll,
wird ausgewechselt. Daß dabei auch alte, abgenutzte
Federn weggeworfen werden, ist nach Reichholf nur
ein Nebenzweck – der eigentliche Grund der Mauser
ist die Müllentsorgung.
& Lit.: J. Reichholf: »Die Feder, die Mauser und der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Mauser 216

Ursprung der Vögel«, Archaeopterix 14, 1996.

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LexPI Bd. 2 Medicare 216

Medicare
Das amerikanische Medicare-System ist sozial
ausgewogen (s.a. ð »Studiengebühren«)
Wie die meisten sogenannten »sozialen« Errungen-
schaften der Neuzeit ist auch das amerikanische Me-
dicare-System, d.h. die »kostenlose« medizinische
Versorgung für alle Amerikaner über 65, ein Instru-
ment der Ausbeutung der Armen durch die Reichen.
Denn dieses System ist natürlich nicht kostenlos, zah-
len müssen (über Steuern) alle. Da die Reichen mehr
Steuern zahlen (sollten) als die Armen, scheint dieses
System auch auf den ersten Blick sozial durchaus ge-
recht. Beim zweiten Hinsehen zeigt sich aber, daß die
Reichen in der Tat mehr zahlen, aber noch mehr profi-
tieren: Erstens leben sie länger, können also länger
diese »kostenlose« Versorgung nutzen, und zweitens
reklamieren sie, solange sie leben, so viel mehr Medi-
care-Mittel als die Armen, daß etwa die reichsten
10% der Amerikaner aus diesem System durchschnitt-
lich 1000 Dollar mehr herausholen, als sie im Lauf
ihres Lebens über Steuern beigetragen haben.
& Lit.: M. McClellan und J. Skinner: »The inciden-
ce of medicare«, National Bureau of Economic
Research Working Paper, 1977; »Unto him that
hath ...«, The Economist, 2.8.1997.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Medizin 1 214

Medizin 1
Die Medizin war schon immer ein Segen für die
Menschheit
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die typi-
schen Ärzte für ihre Patienten gefährlicher als die
meisten Krankheiten. Erst um das Jahr 1910 herum,
so meinen Medizinhistoriker, wurde die Wahrschein-
lichkeit größer als 50 Prozent, daß ein zufällig ausge-
wählter Kranker durch einen ebenfalls zufällig ausge-
wählten Arzt gesundheitlich profitiert – bis dahin hät-
ten Ärzte also im Durchschnitt mehr Schaden als
Nutzen angerichtet (kein Wunder, wenn man noch
tausend Jahre nach Hippokrates die Leber für das
Zentrum des Blutkreislaufs und das Händewaschen
vor einer Operation für eine Zumutung gehalten hat).
Bis weit in die Neuzeit haben daher nur Roßnatur-
en die Wohltaten der Medizin überlebt. Wer heute auf
alten Bildern den Barbieren und Feldschern früherer
Zeiten bei der Arbeit zusieht, erkennt auf einmal,
warum »Kunstfehler« eine Wortschöpfung des 20.
Jahrhunderts ist – entweder war man früher nach der
Behandlung tot, oder der Körper half sich selbst und
der Patient war bald auch ohne Medizin gesund.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.
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LexPI Bd. 1 Medizin 2 214

Medizin 2
Mediziner werden heute im Vergleich zu früher
schlechter ausgebildet
Mit diesem Argument versuchen etablierte Ärzte
schon seit langem, den Numerus clausus an den Me-
dizinischen Fakultäten zu verschärfen. Aber in Wahr-
heit war die Ausbildung zum Mediziner vermutlich
noch nie so gut und gründlich wie gerade heute.
Wahr ist: Bei steigenden Studentenzahlen und bei
einer Konstante aller anderen Faktoren muß die Qua-
lität der Ausbildung natürlich sinken. Jeder Volks-
schullehrer weiß, welchen Unterschied es macht, ob er
10 oder 20 Schüler in der Klasse hat, und genauso
wäre auch die Medizinerausbildung zu verbessern,
müßten unsere Professoren nur halb so viele oder am
besten gar nur einen einzigen Studenten unterrichten.
Offenbar ist das aber eine müßige Spekulation,
denn eine Ausbildung, ganz gleich wozu, ist nie so
gut, wie sie theoretisch sein könnte. Wenn wir statt-
dessen fragen, ob die Medizinerausbildung heute
schlechter ist als früher, heißt die Antwort aber eher
nein. Denn in den vergangenen Jahrzehnten sind ja
nicht nur die Studentenzahlen in der Medizin gestie-
gen – auch die Zahl der Professoren und wissenschaft-
lichen Mitarbeiter ist gewaltig angewachsen. Wenn es
heute also sehr viel mehr Studenten gibt, so gibt es
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Medizin 2 215

auch sehr viel mehr Lehrkräfte, die sich um sie küm-


mern. Bei nur 7 Prozent der Studienplätze (verglichen
mit mehr als 30 Prozent vor 100 Jahren) kamen der
Medizin in Deutschland etwa 30 Prozent, seit Mitte
der 70er Jahre sogar mehr als 40 Prozent der Gesam-
tinvestitionen im Hochschulbau zugute, und wenn
heute in der deutschen Hochschullandschaft von Spa-
ren geredet wird, so bleiben die medizinischen Fakul-
täten in der Regel ausgenommen. Kein anderes akade-
misches Ausbildungsfach wird von unseren Bildungs-
politikern so verwöhnt wie die Medizin, nirgends flie-
ßen Personal und Sachmittel für Lehre und Forschung
so ungehemmt wie hier. Trotz vereinzelter Engpässe,
etwa bei geeigneten Patienten für gewisse Abschnitte
der klinischen Ausbildung, fällt es also schwer, an
einen Niveauverlust der Ausbildung zu glauben. Un-
sere Medizinerausbildung ist sicher nicht so gut, wie
sie theoretisch sein könnte (das gilt für die Ausbil-
dung unserer Lehrer, Busfahrer, Piloten oder Fluglot-
sen ebenso), aber genauso sicher auch nicht schlechter
als vor 10 oder 20 Jahren.
Auch die Sorge von Bundesärztekammer-Präsident
Vilmar, im Kielwasser eines »erbarmungslosen Kon-
kurrenzkampfes« im Gesundheitswesen könnte ein
»revolutionäres Potential« heranwachsen, das unser
freiheitliches Gesellschaftssystem »tiefgreifend verän-
dern«, ja »die Grundfesten unseres Staates ins Wan-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Medizin 2 215

ken bringen« könne, ist nicht ganz ernst zu nehmen.


Offenbar hat Herr Vilmar noch nie im Lebensmittel-
Einzelhandel oder im Taxi-Gewerbe gearbeitet, wo
»erbarmungsloser Konkurrenzkampf« seit jeher zum
Alltag der Anbieter gehört, ohne daß unser Land
daran zugrunde geht. Konkurrenz und Wettbewerb,
vor denen Ärzte sich so fürchten wie der Teufel vor
dem Weihwasser, sind ganz im Gegenteil das Leben-
selixier jeder freien Gesellschaftsordnung, und es ist
allerhöchste Zeit, daß auch der Medizinbetrieb selbst
einen Schluck von dieser Medizin erhält.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.

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LexPI Bd. 1 Medizin 3 215

Medizin 3
Gute Mediziner therapieren gleiche Leiden auf
die gleiche Weise
Viele Menschen halten gute Medizin für international
identisch – was in Deutschland richtig ist, ist auch in
Frankreich, England und Italien richtig, und das weiß
ein guter Arzt, und danach handelt er.
In Wahrheit differieren Therapien für identische
Beschwerden aber ganz beträchtlich, auch zwischen
Ländern mit ansonsten vergleichbarem Sozialgefüge;
diese Unterschiede sind zum Teil so groß, daß eine
Behandlungsmethode, die in einem Land zum Stan-
dard zählt, im Nachbarland womöglich als Behand-
lungsfehler gilt. Aggressive Chemotherapie bei Krebs
gilt hier als zwingend vorgeschrieben und da als grau-
sam gegen den Patienten, ein in Amerika als zu hoch
diagnostizierter Blutdruck gilt in England vielfach als
normal, oder eines der gängigsten Arzneimittel in
Frankreich, ein Medikament zur Erweiterung der
Blutgefäße, wird in Amerika für wirkungslos gehal-
ten.
Auf der anderen Seite müßten viele Patienten auf
amerikanischen Operationstischen anderswo noch
längst nicht unters Messer (Blinddarm ausgenommen,
wo deutsche Mediziner weltweit führend sind), oder
verschreiben deutsche Ärzte sechs- bis siebenmal so-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Medizin 3 216

viel Digitalis wie ihre Kollegen in England, dafür


aber viel weniger Antibiotika, während französische
Ärzte siebenmal häufiger als amerikanische Arzneien
in Zäpfchenform verordnen (letztere Darreichungs-
form ist in Amerika so ungewohnt, daß man immer
wieder Anekdoten hört, wie Amerikaner auf Europa-
reise ihre Zäpfchen essen).
Und selbst in ein- und derselben Gesellschaft
variieren Therapien je nach Kunde ganz beträchtlich.
Nach einer Statistik des Gesundheitsamtes des
Schweizer Kantons Tessin z.B. werden nicht mit
einem Arzt verwandte Patienten 46 Prozent öfter an
den Mandeln, 53 Prozent öfter wegen Leistenbrüchen,
83 Prozent öfter wegen Hämorrhoiden und 84 Prozent
häufiger an der Gallenblase operiert; nur eine einzige
Berufsgruppe, nämlich die Juristen, kommt genauso
selten unter das Messer wie die Ärzte selbst.
»Trotz weltweit immer engerer Kommunikation«,
schreibt dazu der »Spiegel«, »ist die vermeintlich
längst standardisierte Medizin in Wahrheit ein ver-
wirrendes Flickwerk geblieben, gleichsam ein Sie-
chenhaus mit vielen Sälen, in denen die Heiler hart-
näckig ihren jeweils kulturbedingten Vorlieben frö-
nen.«
& Lit.: Lynn Payer: Andere Länder, andere Leiden,
Frankfurt 1993.
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LexPI Bd. 2 Meeresspiegel 217

Meeresspiegel
Der Meeresspiegel hat von den Gezeiten abgese-
hen überall die gleiche Höhe
Wie Satellitenmessungen zeigen, ragt die Wasserflä-
che des Ozeans nordöstlich von Australien rund 85
Meter über den Durchschnittswert empor; im Indi-
schen Ozean liegt sie stellenweise mehr als 100 Meter
tiefer.
Auch von den Abplattungen an den Polen abgese-
hen (siehe Band 1, Stichwort ð »Kugel«) ist die Ob-
erfläche unserer Ozeane keinesfalls ein Teil einer per-
fekten Kugel; der Meeresspiegel folgt vielmehr einem
sogenannten »Geoid«, einer Fläche mit mehr oder we-
niger deutlichen Beulen und Dellen. Die Dellen ent-
stehen über relativ kühlen Teilen des Erdmantels, dort
ist das Magma dichter, es zieht das Wasser an. Die
Beulen entstehen über relativ heißen Teilen des Erd-
mantels, dort ist das Magma dünner und die Schwer-
kraft schwächer.
Die »Normal-Null« als Standard für die Höhen-
messung ist also alles andere als normal ...
& Lit.: »Der verbeulte Globus«, Geo 1/1995; Chri-
stian Friedl: »Die Erde ist eine Kartoffel«, Hanno-
versche Allgemeine Zeitung, 18.5.1996; Stich-
wort vorgeschlagen von Jürgen Kloppenburg.
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LexPI Bd. 2 Meersalz 217

Meersalz
Meersalz ist gesünder und nahrhafter als her-
kömmliches Tafelsalz
So war und ist immer noch in verschiedenen Gesund-
heitsmagazinen nachzulesen. Meersalz sei dem her-
kömmlichen Tafelsalz vorzuziehen, weil es a) nicht
raffiniert würde und daher »natürlicher« als dieses sei,
b) mehr nahrhafte Mineralstoffe enthielte und c) auch
intensiver schmecke.
Dazu Robert Wolke: »a) Unsinn, b) Unsinn, c) Un-
sinn«.
Das in Bioläden und Supermärkten verkaufte
Meersalz ist im allgemeinen weder mineralstoffhalti-
ger noch weniger verfeinert als das herkömmliche Ta-
felsalz, und es schmeckt auch völlig gleich. Denn
auch das »normale« Steinsalz aus der Erde, das heute
in unterirdischen Stollen abgebaut und dann vermark-
tet wird, stammt aus dem Meer; es ist entstanden, als
vor Millionen Jahren große Salzwasserflächen aus-
trockneten und von Sedimenten überlagert wurden;
insofern ist es bezüglich Rohstoff dem modernen
Meersalz völlig gleich.
Wahr ist, daß bei dem Verdunsten von Meerwasser
außer Salz (= Natriumchlorid), dem mit rund 78%
wichtigsten Anteil, auch noch Magnesium- und Cal-
ciumverbindungen übrigbleiben (die restlichen 22%),
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Meersalz 218

plus kleinste Mengen an über 70 weiteren chemischen


Stoffen wie Phosphor oder Eisen. Aber diese Stoffe
sind für die Ernährung unerheblich. Um etwa die Ei-
senmenge aufzunehmen, die in einer einzigen Wein-
traube enthalten ist, müßte man ein Viertelpfund die-
ser sogenannten »Meeresfeststoffe« essen. Wegen des
hohen Gehalts an Magnesium- und Calciumverbin-
dungen wird der Meeresfeststoff ferner genauso
gründlich raffiniert wie jedes andere Salz, damit am
Schluß die gesetzlich geforderten 97,5% Natrium-
chlorid zustande kommen (Ausnahme: Meersalz aus
Frankreich; hier ist der Natriumchlorid-Prozentsatz
kleiner). Und der vermeintlich intensivere
Salzgeschmack des Meersalzes ist nichts als eine sen-
sorische Täuschung: Wegen der Flockenform der
Meersalzkristalle lösen sich diese in Wasser schneller
auf als die Würfelkristalle des herkömmlichen Tafels-
alzes, erscheinen uns also salziger, wenn sie auf der
Zunge zergehen, obwohl in Wahrheit überhaupt kein
Unterschied besteht.
& Lit.: Robert L. Wolke: Woher weiß die Seife, was
der Schmutz ist? Kluge Antworten auf alltägliche
Fragen, München 1998 (besonders das Kapitel
»Des Kaisers neues Salz«).

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LexPI Bd. 2 Meerwasser 218

Meerwasser
Wenn man Meerwasser trinkt, wird man
verrückt
Schiffbrüchige werden wahnsinnig vor Hunger oder
Durst; da Meerwasser das Durstgefühl verstärkt, kann
es dieses Wahnsinnigwerden allenfalls beschleunigen,
aber nicht verursachen. (Man kann übrigens dem nor-
malen Trinkwasser bis zu 25% Meerwasser beigeben,
ohne daß es der Gesundheit schadet.)

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LexPI Bd. 1 Mehltau 216

Mehltau
Mehltau hat etwas mit Mehl zu tun
Dieser schimmelartige, weiße Überzug auf Pflanzen-
blättern sieht zwar aus wie Mehl, hat seinen Namen
aber von dem mittelhochdeutschen »miltou«, wobei
die erste Silbe von »melit« = Honig stammt. Auf Eng-
lisch heißt Mehltau »mildew«.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 1 »Mens sana in corpore sano« 217

»Mens sana in corpore sano«


Diese Worte des römischen Dichters Juvenal werden
oft mit »In einem gesunden Körper wohnt ein gesun-
der Geist« übersetzt und haben so Generationen von
teutonischen Turnfeldwebeln als Lizenz gedient, ihre
Schüler mit vormilitärischen Übungen zu traktieren.
In Wahrheit hat Juvenal aber etwas ganz anderes
gemeint. In seinen Satiren, aus denen der obige
Spruch nur unvollständig übernommen ist, schreibt er
ausführlicher: »Orandum est ut sit mens sana in cor-
pore sano«, oder auf deutsch: »Es wäre zu wünschen,
daß in einem gesunden Körper auch ein gesunder
Geist stecken möge.« Das war aber nicht als Lobes-
hymne, sondern eher als Angriff auf den damaligen,
von Juvenal zutiefst mißbilligten Kult um körperliche
Fitness zu verstehen. In moderner Umgangssprache
wäre sein Kommentar zu den gesalbten Gladiatoren-
muskeln der Römerzeit etwa wie folgt zu lesen: »Ach
wie wäre es doch schön, wenn diese Muskelaffen
auch noch denken könnten.«
& Lit.: Georg Büchmann: Geflügelte Worte, Ausga-
be Ex Libris, 6. Auflage, Frankfurt 1991.

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LexPI Bd. 2 Mesner 219

Mesner
Ein Mesner ist jemand, der dem Pfarrer bei der
Messe hilft
Der Mesner ist der »mansionarius«, der »Aufseher
des Gotteshauses«. Er kann und darf zwar auch bei
Messen helfen, aber sein Name hat mit Gottesdiensten
nichts zu tun.

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LexPI Bd. 2 Metalle 219

Metalle
Metalle sind schwerer als Wasser
Die Metalle Lithium (0,53g/cm3), Kalium
(0,86g/cm3) und Natrium (0,97g/cm3) sind leichter
als Wasser; wenn sie nicht sofort mit diesem che-
misch reagieren würden (Lithium wird zu
Lithiumhydroxid, Kalium wird zu Kaliumhydroxid,
Natrium wird zu Natriumhydroxid), könnten sie auf
Wasser schwimmen.
& Lit.: Charles E. Mortimer: Chemie, 6. Auflage,
Stuttgart 1996.

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LexPI Bd. 2 Meter 219

Meter
Ein Meter mißt einen Meter
Der Meter ist definiert als der Abstand vom Nordpol
zum Äquator, geteilt durch 10 Millionen. In diesem
Sinn wurde der Meter im Jahr 1799 in Frankreich ein-
geführt und dann durch Napoleon im übrigen Europa
verbreitet.
Allerdings hatten die Erfinder des Meters die Ent-
fernung zwischen Nordpol und Äquator geringfügig
unterschätzt – das Pariser Urmeter paßt nicht 10 Mil-
lionen mal, sondern 10 Millionen und 2000 mal hin-
ein. Deshalb mißt ein Meter etwas weniger, als er
nach seiner ursprünglichen Begriffsbestimmung mes-
sen müßte.
Seit 1983 ist der Meter daher anders definiert,
nämlich als die Entfernung, die das Licht im Vakuum
in einer Zeit von 1/299792458 Sekunden zurücklegt.
& Lit.: Hätten Sie's gewußt?, Stuttgart 1992 (beson-
ders der Abschnitt »Der Meter – länger als ge-
dacht«).

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LexPI Bd. 1 Meuterei auf der Bounty 217

Meuterei auf der Bounty


Der Kapitän der Bounty war ein alter Miesepeter
Die meisten Menschen denken bei dem Stichwort
»Meuterei« und »Bounty«, falls überhaupt an irgen-
detwas, an Fletcher Christian alias Marlon Brando
und an seinen unausstehlichen Kapitän, den miesepe-
trigen, am Ende einer strapaziösen Südseereise von
seiner Mannschaft entmachteten und mit ein paar Ge-
treuen ausgesetzten alten William Bligh, dessen Kar-
riere mit dieser Meuterei zu Ende war.
An dieser Legende sind aber mindestens drei Dinge
falsch. Erstens war Bligh nur Leutnant und nicht Ka-
pitän, zweitens war er zur Zeit der Meuterei erst 33
Jahre alt und damit keineswegs der alte verknöcherte
Miesepeter, wie wir ihn in Filmen immer wieder
sehen, und drittens war seine Karriere mit dieser Meu-
terei durchaus noch nicht zu Ende (diese Meuterei war
die erste von mindestens dreien, an denen er passiv
beteiligt war).
Nach seiner ersten Meuterei, der auf der Bounty,
erreichte Bligh mit seiner Barkasse, in der ihn die
Meuterer ausgesetzt hatten, mitsamt einigen Getreuen
die Insel Timor (soviel wissen wir noch aus dem
Kino) und wird offiziell zum Kapitän ernannt (das er-
fährt man meistens nicht). Diese Fahrt in einer Nuß-
schale quer über den halben Pazifik dauerte sechs
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Meuterei auf der Bounty 218

Wochen und gilt als eine der größten nautischen Lei-


stungen aller Zeiten. Obwohl bald danach bei einer
anderen Meuterei nochmals an Land gesetzt, werden
die Bligh anvertrauten Schiffe immer größer; er wird
Kommandant des Doppeldeckers »Glatton« und
nimmt unter Nelson an der Seeschlacht von Kopenha-
gen teil. Dann wird er im Jahr 1805 in Sydney, wo
heute noch ein Denkmal für ihn steht, Gouverneur
von New South Wales. Als auch die Siedler in
Sydney meutern und Bligh in Ketten nach England
schicken, kann er die englische Regierung von den
üblen Motiven der Meuterer überzeugen und wird
zum Admiral befördert. Und als Admiral Bligh ist er
dann auch am 7. Dezember 1817 in London gestor-
ben.
& Lit.: Stichwortartikel »Bligh, William« in Ency-
clopaedia Britannica, Ausgabe 1968; Günter
Sachse: Die Meuterei auf der Bounty, München
1989.
¤ Grabstätte William Blighs in Lambeth, London

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LexPI Bd. 2 Micky Maus 220

Micky Maus
Die Micky Maus ist eine Schöpfung von Walt Dis-
ney
Der als Vater der Micky Maus gefeierte Walt Disney
ist allenfalls ihr Pate; er hat ihren Weg begleitet und
geebnet, aber nicht die Maus erfunden. Im Jahr 1927,
als die Micky Maus entstand, hatte Disney das Zeich-
nen und Entwerfen schon seinen Mitarbeitern überlas-
sen; er selber kümmerte sich vor allem um die Pro-
duktion und die Vermarktung. Gezeichnet wurde die
erste Micky Maus von Disneys Star-Trickzeichner Ub
Iwerks, ihren Namen erhielt sie von Disneys Frau Lil-
lian (Disney selber hatte eher an »Mortimer« ge-
dacht).
Nur die Grundidee zu dieser neuen Figur kam von
Walt Disney selber, nachdem ihm die Verwertungs-
rechte an seiner bis dato erfolgreichsten Figur »Os-
wald the lucky rabbit« weggenommen worden waren.
»Micky mußte vor allem als Figur einfach sein«, er-
klärte Disney später. »Da wir alle zwei Wochen 200
Meter Film abzuliefern hatten, konnten wir uns nicht
mit einer komplizierten Figur abgeben. Der Kopf be-
stand aus einem Kreis mit einem Oval für das
Schnäuzchen. Die Ohren waren auch Kreise, so daß
sie immer in gleicher Weise gezeichnet werden konn-
ten. (...) Die Beine glichen Röhren. (...) Micky sollte
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Micky Maus 220

wie ein Junge in den Schuhen seines Vater aussehen.«


Daß dann diese zunächst nur als Ersatz für das
glückliche Kaninchen erdachte schlaue Maus (die
dem glücklichen Kaninchen übrigens verdächtig äh-
nelte) ihr Vorbild in der Gunst des Publikums bald so
deutlich übertreffen würde, hatte Disney vermutlich
weder so geahnt noch so geplant.
& Lit.: Christopher Finch: Walt Disney, Stuttgart
1984; Persönliche Mitteilung von Marion Egen-
berger (Egmont Ehapa Verlag).

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LexPI Bd. 1 Midlife-Crisis 218

Midlife-Crisis
Jeder Mensch hat seine Midlife-Crisis
Viele Psychologen halten die sogenannte »Midlife
Crisis« für ein Hirngespinst; statt einer Zeit der Unsi-
cherheit und des Zweifels sehen sie heute in der Le-
bensmitte eher eine »Periode des Aufblühens«, einen
kompetenteren Umgang mit dem Lebenspartner, einen
mit der Einsicht in die eigenen Grenzen einhergehen-
den Abbau von Streß und Arbeitswut, den Beginn
eines weniger von Illusionen getrübten bewußten
zweiten Lebens.
Die Legende von der Krise in der Lebensmitte kam
durch eine Forschungsstrategie zustande, bei der die
Autoren eine Stichprobe vom Umfang 1 – sich
selbst – zum Ausgang ihrer Analyse nahmen (siehe
etwa Alexander Mitscherlichs Begründung seiner
These, daß »der Übergang in die zweite Lebenshälfte
notwendig krisenhaft« verlaufe: »Ich habe das selber
durchgemacht«).
In Wahrheit machen nur rund fünf Prozent der
Menschen beim Übergang in die zweite Lebenshälfte
eine Krise durch – einerseits die besonders aggressi-
ven, die das Leben »nach kriegswissenschaftlichen
Methoden« angehen und dann merken, daß sie immer
noch nicht Vorstandschef von Daimler-Benz gewor-
den sind, und andererseits die Überängstlichen, die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Midlife-Crisis 219

gerne alle Schwierigkeiten weiträumig umgehen und


irgendwann vor diesen Schwierigkeiten nicht mehr
weiter fliehen können. »Gemeinsam ist den beiden
Typen,« so der amerikanische Psychologe Ronald
Kessler, »daß sie zu einer realistischen Wirklichkeits-
wahrnehmung und einer Verhaltensanpassung an die
Gegebenheiten unfähig sind ... Im Alter zwischen 40
und 50 steht solch ein Mensch schließlich vor einem
ganzen Berg von Schwierigkeiten, und dann hat er
seine Krise.«
Die anderen 95 Prozent der Bevölkerung, die sich
nicht so überschätzen oder nicht so vor Problemen
fliehen, haben dann auch keine Krise.
& Lit.: »Krise in der Lebensmitte«, Spiegel-Titelge-
schichte, Nr. 30/1976; »Middle and late life tran-
sitions«, Themenheft der »Annals of the American
Academy of Political and Social Science«, Nov.
1982; »Heilsamer Knick: War die berüchtigte
Midlife-Crisis nur eine Erfindung?« Spiegel
24/1993.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Mieterschutz 219

Mieterschutz
Der Mieterschutz schützt den Mieter (s.a. ð
»Wohnraummangel«)
Wenn man eine Stadt gründlich zerstören will, gibt es
laut Wirtschafts-Nobelpreisträger Gunnar Myrdal
zwei Möglichkeiten: eine Atombombe darauf zu wer-
fen, oder die Mieten einzufrieren ...
Im Jahr 1992 legte die American Economic Asso-
ciation ihren Mitgliedern verschiedene Thesen zur Zu-
stimmung bzw. Ablehnung vor, um zu sehen, ob diese
notorisch uneinige Zunft nicht vielleicht doch zu ir-
gendetwas einer Meinung wäre, und danach sind sich
rund 94% der professionellen amerikanischen Ökono-
men sicher, »daß Mietpreiskontrollen sowohl die
Qualität wie die Quantität des Wohnungsangebotes
reduzieren«. Das war die höchste Zustimmungsrate
unter allen vorgelegten Thesen.
Der beste Schutz des Mieters, so die Mehrheitsmei-
nung aller Ökonomen auch außerhalb Amerikas, ist
ein großes Wohnungsangebot, und dieses große Woh-
nungsangebot wird durch Mietkontrollen und Kündi-
gungsschutzgesetze gleich zweifach ausgehebelt und
behindert: potentielle Wohnungen bleiben aus Man-
gel an Erträgen ungebaut, und bereits fertige Wohn-
ungen und Häuser werden aus Furcht vor Mietern, die
man nicht mehr loswird, nicht vermietet; sie stehen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Mieterschutz 220

stattdessen leer. Die Autoren dieses Wörterbuches


haben schon in manchen Ländern zur Miete ge-
wohnt – in Deutschland, in Österreich, in England, in
den USA, in Australien und in Kanada. Am schwer-
sten zu finden und am teuersten zu bezahlen sind
bzw. waren die Wohnungen da, wo man die Mieter
am konsequentesten »beschützt«, in Deutschland und
in Österreich. Am leichtesten zu finden und am preis-
wertesten waren die Wohnungen da, wo man das
Wort »Mieterschutz« nicht kennt, in den USA und
Kanada. Dort wurden wir auf die Annonce »Familie
mit Kind sucht preiswertes Haus in Uni-Nähe« mit
Angeboten nur so zugeschüttet.
Ein konsequenter Mieterschutz schützt allenfalls
die Mieter, die schon eine Wohnung haben, und selbst
die nur auf sehr kurze Sicht. Denn auf Dauer richten
sich die Mieten nach Angebot und Nachfrage: Je
höher das Angebot, desto niedriger die Mieten; je
niedriger das Angebot, desto höher die Mieten. Das
wissen die Anbieter auf anderen Märkten, unsere
Bauern, Galeristen, Taxifahrer, Rechtsanwälte, aber
auch internationale Großkonzerne wie der Diamanten-
produzent DeBeers in Südafrika seit langem. Denn
DeBeers hält seine riesigen Bestände nicht ohne Ab-
sicht gut verschlossen hinter dicken Türen in den Kel-
lern. Käme dieses Angebot zum Tragen, würden die
Diamantenpreise drastisch fallen, und genauso wür-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Mieterschutz 220

den bei einem steigenden Angebot an Wohnraum


auch die Mieten fallen (wie das ja auch schon mehr-
fach in verschiedenen deutschen Städten in Zeiten
hohen Angebots beobachtet werden konnte).
Aber dieses steigende Angebot wird durch den
Mieterschutz verhindert. Wenn wir also aktuell in
Deutschland mit die höchsten Wohnungskosten auf
dem ganzen Globus zahlen, so können wir uns dafür
auch bei unserem Mieterschutz bedanken.
& Lit.: J. Eekhoff: »Zur Kontroverse um die ökono-
mischen Auswirkungen des zweiten Wohnraum-
kündigungsgesetzes«, Zeitschrift für die gesamte
Staatswissenschaft 137, 1981, 62–77; Frankfurter
Institut für wirtschaftspolitische Forschung: Mehr
Markt im Wohnungswesen, Bad Homburg 1984;
Robert Schwager: »On the West German tenant's
protection legislation: a comment«, Zeitschrift für
die gesamte Staatswissenschaft 150, 1994,
411–418; »Surely not rent controls?« The Econo-
mist, 8.4.1995, S. 94.

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LexPI Bd. 2 Mikrowelle 220

Mikrowelle
Mikrowellen sind Vitaminkiller
Gerade beim Kochen mit der Mikrowelle bleiben Vi-
tamine – und zwar wegen des kürzeren Erhitzens –
besonders gut erhalten.

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LexPI Bd. 1 Milch 1 221

Milch 1
Milch wird durch Gewitter sauer (s.a. ð »Korre-
lation«)
Dieser Aberglaube folgt aus dem Trugschluß, daß von
zwei Ereignissen, die immer zusammen auftreten,
eines das andere verursachen müsse. Und da saure
Milch nur schwer für Blitz und Donner sorgen kann,
bleibt hier nur die andere Kausalbeziehung übrig.
Der wahre Grund für die saure Milch ist die feucht-
warme Luft; diese fördert säureproduzierende Bakteri-
en, gleichzeitig aber auch die elektrische Spannung
zwischen Erdboden und Atmosphäre, die dann
schließlich zu Gewittern führt. Wir haben hier ein
weiteres Musterbeispiel für einen falschen Schluß von
Korrelation auf Kausalität: keine der beiden Varia-
blen beeinflußt die andere, vielmehr hängen beide von
einer dritten Variablen ab.

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LexPI Bd. 1 Milch 2 221

Milch 2
Milch im Badewasser macht weiche Haut
Auch wenn Kleopatra und Sophia Loren etwas ande-
res behaupten: Milch im Badewasser macht die Haut
nicht weich. Zwar mag das Badewasser dadurch
durchaus weicher werden – unsere Haut aber ganz si-
cher nicht.

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LexPI Bd. 2 Milchmädchenrechnung 221

Milchmädchenrechnung
Milchmädchen können nicht rechnen
In der Fabel »La laitière et le pot au lait« von La Fon-
taine bringt Perrette, die Bauernmagd, einen Topf mit
Milch zum Markt; sie berechnet, wie sie dafür ein
Huhn erhält, das Eier legt, und wie sie aus dem Ge-
winn des Eierverkaufs ein Schwein und eine Kuh be-
zahlt. Darüber gerät sie ins Träumen, stolpert und
fällt hin, der Topf läuft aus, und ihre Rechnung
stimmt nicht mehr.
Eine Milchmädchenrechnung scheitert also nicht an
ihrer Logik, sondern an externen Mißgeschicken;
Milchmädchen können sehr gut rechnen, aber gegen
Schicksalsschläge sind sie machtlos wie wir alle.
& Lit.: La Fontaine: Œuvres complètes, Band 1: Fa-
bles, contes et nouvelles, Paris 1954; Johann
Knobloch: »Etymologische Beobachtungen zum
deutschen Wortschatz«, Muttersprache 107,
1997, S. 240–242.; Stichwort vorgeschlagen von
Alfredo Grünberg.
¤ Luftschlösser des Milchmädchens: Sie hüpft
vergnügt, der Topf, er fällt... Adieu, Kalb, Kuh,
Schwein, Hühner, Geld!

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LexPI Bd. 1 Mindestlöhne 221

Mindestlöhne
Mindestlöhne sichern den Verdienst von ungel-
ernten Arbeitskräften
Mindestlöhne sind Jobkiller. Sie sichern nur die
Löhne derjenigen, die ihren Job behalten; die anderen
Löhne drücken sie auf Null. Denn in einer Marktwirt-
schaft kann ein Unternehmen nur dann überleben,
wenn seine Beschäftigten mehr erwirtschaften als sie
kosten, und das hat für Arbeitsverhältnisse an der
Grenze zur ökonomischen Rentabilität gewisse Kon-
sequenzen: Hier heißen die Alternativen nicht: »Min-
destlohn oder weniger als Mindestlohn«, sondern
»weniger als Mindestlohn oder gar kein Lohn«. So-
lange Unternehmen nicht gezwungen werden können,
Arbeitskräfte einzustellen, können und werden sie auf
lange Sicht nur solche Arbeitskräfte halten, die mehr
produzieren als sie kosten. Und wenn die Kosten
künstlich hoch gehalten werden, heißt das eben, auf
Kräfte an der Rentabilitätsgrenze zu verzichten.
Diese Problematik ist vor allem in den USA akut,
wo es seit jeher staatlich festgesetzte Mindestlöhne
gibt, die vor allem das große Heer der ungelernten
Aushilfskräfte in diversen Dienstleistungsbetrieben
schützen sollen (Putzkolonnen, Fast-Food-Ketten
etc.). Nach Ansicht der meisten Ökonomen haben
diese Mindestlöhne zwar die Verdienste der nicht ent-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Mindestlöhne 222

lassenen Arbeitskräfte aufgebessert, auf der anderen


Seite aber Hunderttausenden von Aushilfs-Arbeits-
kräften ihren Job gekostet, die entweder entlassen
oder gar nicht erst beschäftigt worden sind.
& Lit.: Ch. Brown et al.: »The effect of the mini-
mum wage on employment and unemployment«,
Journal of Economic Literature 20, 1982,
487–528; D. Card und A. Krueger: »Minimum
wages and unemployment«, American Economic
Review 84, 1994, 772–793.

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LexPI Bd. 2 Mineraltabletten 221

Mineraltabletten
Mineraltabletten nützen der Gesundheit (s.a. ð
»Vitamine« in Band 1)
Mineraltabletten nützen der Gesundheit eher selten;
der Großteil der mehr als eine Milliarde Mark, die die
Deutschen jährlich für Mineraltabletten ausgeben, ist
medizinisch nutzlos, oft sogar gefährlich.
Wahr ist: Unser Körper braucht Mineralien und
Spurenelemente wie Magnesium, Kalium, Calcium,
Eisen, Zink, Mangan oder Selen. Diese Stoffe sind so-
zusagen die Hilfsarbeiter in der Chemiefabrik namens
Menschenkörper; sie erzeugen selber keine Energie,
helfen aber unseren Organen, Nerven oder Muskeln
bei der Energieerzeugung. Wenn sie fehlen, kommt es
zu Krämpfen, Erschöpfung, Kopfschmerzen (Eisen),
Herzrhythmusstörungen (Kalium), Zahnschäden oder
Knochenschwund (Calcium) bis hin zu Haarausfall
bei einem Defizit an Zink. Und da diese Stoffe über
Haut, Darm oder Nieren ständig ausgeschieden wer-
den, ist ständig Nachschub zuzuführen.
Falsch ist aber, daß wir für diesen Nachschub
künstliche Tabletten brauchen. Anders als die Anbie-
ter von Mineraltabletten uns gerne glauben machen
wollen, ist dieser Nachschub in der »normalen« Nah-
rung in aller Regel mehr als ausreichend vorhanden.
Milch, Gemüse, Eier, Hülsenfrüchte, Vollkornbrot
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Mineraltabletten 222

und Fleisch enthalten alles, was wir an diesen Stoffen


brauchen; wer »richtig« ißt, braucht keine Mineralta-
bletten. Da es ferner bei Mineralien wie bei vielen an-
deren Stoffen auch auf die Dosis ankommt, sind Mi-
neralien im Überfluß sogar aktiv gesundheitsschäd-
lich; mit einer Überdosis Magnesium kann man sich
regelrecht vergiften. Zuviel Calcium führt zur Verkal-
kung von Gelenken und Gefäßen, zuviel Natrium zu
Bluthochdruck, eine Überdosis Eisen blockiert even-
tuell die Aufnahme von Zink (beide Metalle benutzen
dasselbe biochemische Transportmittel vom Darm zur
Leber), dann fallen einem mangels Zink die Haare
aus.
& Lit.: G. Wolfram und M. Kirchgeßner: Spurenele-
mente und Ernährung, Stuttgart 1990; U. Pollmer
u.a.: Prost Mahlzeit – Krank durch gesunde Er-
nährung, Köln 1994; »Vorsicht Mineralien«, Ti-
telgeschichte, Stern 8/1996; Stichwort vorge-
schlagen von Sonja Berghoff.

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LexPI Bd. 2 Miniaturen 222

Miniaturen
Miniaturmalereien sind kleine Bilder
Miniaturen sind Malereien oder Zeichnungen in alten
Büchern; ihren Namen haben sie von »Mennige« (auf
lateinisch »minium«), der roten Zinnoberfarbe, mit
der man einstmals in alten Handschriften die Über-
schriften, Randleisten und Initialen färbte. Die zweite
Bedeutung als »Bildnismalerei im Kleinformat« kam
erst später dazu, weil in Büchern nun mal keine Mon-
umentalgemälde darzustellen sind.
& Lit.: Stichwort »Miniaturmalerei« in der Brock-
haus Enzyklopädie, Wiesbaden 1990; Stichwort
vorgeschlagen von Josef Stern.

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LexPI Bd. 2 Mohr 222

Mohr
Schiller schrieb »Der Mohr hat seine Schuldigkeit
getan, der Mohr kann gehn«
Gemeint ist damit Muley Hassan, der Mohr von Tunis
(»Ein konfiszierter Mohrenkopf. Die Physiognomie
eine originelle Mischung von Spitzbüberei und
Laune«, so Schiller bei der Vorstellung der Personen
seines Stückes »Die Verschwörung des Fiesco zu
Genua«), den der Verschwörer Fiesco, von Hassan
über die neuesten Intrigen informiert, beim Kommen
seiner Mitverschwörer etwas barsch mit den Worten
»Geh ins Vorzimmer, bis ich läute« abserviert.
Auch auf die Gefahr, als unverbesserliche Ober-
lehrer dazustehen: die obige viel zitierte Zeile kommt
so in dem Stück nicht vor, sie heißt im Original:
Mohr (im Abgehen): Der Mohr hat seine Arbeit
getan, der Mohr kann gehn. (Ab.)

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LexPI Bd. 2 »Moin, Moin« 223

»Moin, Moin«
Das friesische »Moin, Moin« heißt auf Hoch-
deutsch »guten Morgen«
»Moin« ist die friesische Abkürzung für »moien Dag«
(= guten Tag); man kann also in Friesland auch noch
abends seinen Nachbarn mit »Moin, Moin« begrüßen.
& Stichwort vorgeschlagen von Jan Sylvester.

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LexPI Bd. 2 Molotowcocktail 223

Molotowcocktail
Der Molotowcocktail ist eine russische Erfindung
Die Russen warfen nicht als erste mit diesen Dingern,
sie wurden als erste selbst damit beworfen – im rus-
sisch-finnischen Winterkrieg 1939/40. Die Finnen
tauften die benzingefüllten und mit einem brennenden
Stoffetzen versehenen Flaschen, die sie den russischen
Eindringlingen vor die Füße warfen, nach dem dama-
ligen sowjetischen Außenminister, den sie für die In-
vasion verantwortlich machten.
& Lit.: Graeme Donald: Things you didn't know you
didn't know, London 1992.

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LexPI Bd. 1 Mona Lisa 222

Mona Lisa
Die Mona Lisa im Pariser Louvre zeigt die Mona
Lisa del Giocondo
Die Mona Lisa von Leonardo da Vinci ist kein Por-
trait der Mona Lisa del Giocondo. Wenn man den In-
dizien und der Mehrheit der modernen Kunsthistori-
ker glauben darf, zeigt das Bild die Herzogin Isabella
von Aragon, Enkelin des Königs von Neapel und
Witwe des Herzogs von Mailand, die wie Leonardo
selbst gegen Ende des 15. Jahrhunderts am Hof von
Mailand lebte.
Seinen heutigen und, wie wir jetzt wissen, falschen
Namen hat das Bild vermutlich von dem italienischen
Kunsthistoriker Vasari, der um 1550, 30 Jahre nach
Leonardos Tod, zum ersten Mal davon berichtet:
Leonardo habe ein wunderschönes Portrait der Frau
des Kaufmanns Francesco del Giocondo gemalt, wel-
ches sich nunmehr im Besitz des Königs von Frank-
reich befinde, ein Bild von solcher Ausdruckskraft,
daß kein anderer Maler jemals hoffen dürfe, zu sol-
chen Höhen aufzusteigen.
Nun hat Leonardo tatsächlich den Kaufmann del
Giocondo porträtiert (das Bild ist heute verschollen),
vermutlich bei dieser Gelegenheit auch dessen schöne
junge Frau gemalt, aber dieses Bild ist ebenfalls ver-
schollen; mit der Mona Lisa aus dem Louvre ist es
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LexPI Bd. 1 Mona Lisa 222

nicht identisch. Allein schon die weitere Beschrei-


bung, die Vasari von der Mona Lisa gibt, läßt vermu-
ten, daß er von einem ganz anderen Gemälde spricht:
ausdrucksvolle Augenbrauen (fehlen auf dem Bild im
Louvre), der halbfertige Zustand des Gemäldes (das
Bild im Louvre ist alles andere als halbfertig), das
paßt kaum zu dem Bild wie wir es heute kennen, ganz
abgesehen von den Dingen, die Vasari nicht erwähnt,
wie die wunderschön gefalteten Hände oder den selt-
samen Kontrast des weichen Frauengesichts mit den
harten Bergen im Hintergrund. Vielleicht hat Vasari
das Objekt seiner Bewunderung nie selbst gesehen,
vielleicht auch zwei Beschreibungen verwechselt,
vielleicht ein wenig phantasiert – auf jeden Fall hat er
Gemälde und Person sehr fahrlässig und falsch einan-
der zugeordnet.
Denn die Indizien sprechen für Isabella von Ara-
gon. Leonardo lebte jahrelang in ihrer Nähe, zeitweise
sogar im gleichen Schloß, und es wäre mehr als unge-
wöhnlich gewesen, hätte er als Hofmaler nicht auch
die Herzogin gemalt. Vermutlich hat er das sogar
mehrfach getan, denn es existieren mindestens zwei
Vorstudien für das Bild, das heute im Louvre hängt,
beide einige Jahre älter, und es ist kaum anzunehmen,
daß Leonardo in allen Fällen immer die gleiche Kauf-
mannsfrau aus dem fernen Florenz gemalt haben soll-
te. Nimmt man dann noch die Ähnlichkeit der Mona
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LexPI Bd. 1 Mona Lisa 223

Lisa mit anderen, eindeutig identifizierten Porträts der


Isabella hinzu, bleibt nur die Konsequenz, daß diese
Mona Lisa eben kein Bild der Mona Lisa del Giocon-
do ist.
& Lit.: Robert Payne: Leonardo, New York 1978.
¤ Leonardo da Vinci: Mona Lisa, 1503–1505

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LexPI Bd. 2 Mondlandung 223

Mondlandung
Die erste Mondlandung war »ein kleiner Schritt
für einen Menschen, aber ein großer Schritt für
die Menschheit«
Das hätte laut Drehbuch Astronaut Neil Armstrong
sagen sollen, als er am 20. Juli 1969 als erster
Mensch der Welt den Mond betrat. Aber dann hat er
sich versprochen und ein Wort ausgelassen: »That's
one small step for man, one giant leap for mankind«.
»Man« und »Mankind« meinen beide »Menschheit«;
es fehlt das »a« vor »man«.
& Lit.: H. van Maanen: Kleine encyclopedie van
misvattingen, Amsterdam 1994.

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LexPI Bd. 2 Montblanc 224

Montblanc
Der Montblanc ist der höchste Berg Europas (s.a.
ð »Mount Everest«)
Je nachdem, wo Europa aufhört und Asien anfängt.
Zählt man alle westlich des Ural gelegenen ehemali-
gen GUS-Staaten zu Europa, so ist dessen höchster
Berg mit 5642 Metern Höhe über Meeresspiegel der
Elbrus in Georgien; der Montblanc mit seinen 4808
Metern ist mehr als einen halben Kilometer kleiner.
& Stichwort vorgeschlagen von H. van Maanen.

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LexPI Bd. 1 Mord und Totschlag 223

Mord und Totschlag


Die meisten Morde gibt es in den USA
Die Wahrscheinlichkeit, durch Mord und Totschlag
umzukommen, ist am größten auf den Bahamas; sie
führen mit rund 500 Morden pro Jahr und eine Milli-
on Einwohner die Tabelle der Nationen an. Es folgen
die Philippinen mit 300, Guatemala mit 280, und ir-
gendwo im Mittelfeld die USA mit 100. Noch sicher-
er lebt man in Deutschland, Österreich oder in der
Schweiz mit 10 bis 20 Morden pro eine Million Ein-
wohner und Jahr.
& Lit.: »Salvage Operation«, The Economist,
7.5.1994.

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LexPI Bd. 2 Mord und Totschlag. 224

Mord und Totschlag


Unter den Primaten bringen sich nur die Men-
schen gegenseitig um
Dieser Mythos gehört spätestens seit den Entdeckun-
gen der legendären Schimpansenforscherin Jane Goo-
dall zu den Akten, die mehrfach Zeuge wurde, wie
sich Menschenaffen gegenseitig massakrierten: »Das
Opfer wurde von fünf Männchen angegriffen. Sie
schlugen es, traten und bissen es 20 Minuten lang und
ließen es dann schwer blutend liegen.« Kurz später
war das Opfer tot.
Schimpansen verteidigen ihre Reviere mit Zähnen
und Klauen gegen alle möglichen Eindringlinge, auch
gegen andere Schimpansen; wie die Menschen
schrecken sie dabei auch nicht vor Mord zurück.
& Lit.: Jane Goodall: In the shadow of the mist,
Glasgow 1974; »Krieg der Affen«, Der Spiegel
22/1997; Stichwort vorgeschlagen von Werner
Güth.

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LexPI Bd. 1 Morsetelegraph 223

Morsetelegraph
Der Morsetelegraph ist eine Erfindung von Sa-
muel Morse (s.a. ð »Zeppelin«)
Wie viele andere Erfindungen trägt auch der Morsete-
legraph seinen Namen nicht zu Recht. Denn der be-
rühmte Samuel Morse (1791–1872) hat weder das
Morsealphabet noch den Morsetelegraphen erfun-
den – dazu hatte er als Professor für Literatur und
Kunst an der Universität von New York weder Talent
noch Zeit. Er hat nur zwei Ingenieuren, Joseph Henry
und Alfred Vail, von einem gerade in Europa erfunde-
nen Apparat erzählt, in dem eine Spule aus Kupfer-
draht aus der Ferne elektrisch magnetisiert wird und
so Impulse überträgt; dann beauftragte er die beiden,
daraus einen »Fernschreiber« zu entwickeln. Weder
wußte Morse mit elektrischem Strom und Stromim-
pulsen umzugehen noch diese Impulse in irgendwel-
che Zeichen umzuwandeln. Die Idee mit den bekann-
ten Punkten und Strichen kam von Vail, und auch die
konkrete Konstruktion des ersten Telegraphen, der
1845 zwischen Washington und Baltimore zum Ein-
satz kam, geschah weitgehend ohne Morse; er war
eher indirekt als Organisator und Geldgeber beteiligt.
Aber das Patent für diesen Telegraphen erhielt er ganz
alleine, und so trägt der Apparat noch heute seinen
Namen.
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LexPI Bd. 1 Morsetelegraph 224

& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-


serwisser, München 1986 (besonders der Ab-
schnitt: »Morse: Den Telegraphen ließ er sich er-
finden«); Stichwort »Morse« in Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Moses 225

Moses
Immer wenn Moses von Gott zurückkam, trug er
Hörner
Dieser Irrtum folgt aus einem Übersetzungsfehler:
Das hebräische »keren« bedeutet sowohl Horn wie
Strahl. In neueren Übersetzungen der einschlägigen
Bibelstelle (Exodus 34,35) ist dieser Irrtum korri-
giert: »Wenn die Israeliten das Gesicht des Moses
sahen und merkten, daß die Haut seines Gesichtes
Licht ausstrahlte, legte er den Schleier über sein Ge-
sicht, bis er wieder hinaufging, um mit dem Herrn zu
reden.«
& Lit.: Die Bibel – Einheitsübersetzung, Stuttgart
1980; Linda Massey: Michelangelo: sein Leben,
sein Werk, seine Zeit, Stuttgart 1985; Stichwort
vorgeschlagen von Josef Stern.
¤ Der »Moses« von Michelangelo: Sein Schöpfer ist
auf eine falsche Übersetzung hereingefallen

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LexPI Bd. 2 Motorradfahrer 225

Motorradfahrer
Motorradfahrer sind die größten Bruchpiloten
»Motorradfahrer sind offenbar besser als ihr Ruf«,
schreibt die Süddeutsche Zeitung. »Nach einer Studie
des Büros für Kraftfahrzeug-Technik des Verbandes
der Schadensversicherer (VdS) sind die Zweiradfahrer
nur an rund einem Drittel aller Unfälle zwischen Mo-
torrad und PKW schuld.« Das Vorurteil, daß Motor-
radfahrer unvorsichtig fahren, kommt möglicherweise
durch die vergleichsweise hohe Verletzungshäufigkeit
zustande: Während nur 40% der an einschlägigen Un-
fällen beteiligten Autofahrer körperliche Schäden er-
leiden, sind die in der Mehrzahl unschuldigen Motor-
radfahrer fast immer hinterher verletzt (die Verlet-
zungswahrscheinlichkeit bei Unfall beträgt für Motor-
radfahrer 98%).
Die größte Gefahr für Motorradfahrer sind Einfahr-
ten und Kreuzungen – die Motorradfahrer werden hier
ganz einfach übersehen.
& Lit.: »Mehr Rücksicht, weniger Unfälle«, Süd-
deutsche Zeitung, 41/1996.

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LexPI Bd. 1 Motten 224

Motten
Motten fressen Löcher in Textilien
Nur Mottenlarven fressen Kleider; ausgewachsene
Motten sind für Textilien völlig ungefährlich.

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LexPI Bd. 2 Mount Everest 226

Mount Everest
Der Mount Everest ist der höchste Berg der Welt
(s.a. ð »Montblanc«)
Je nachdem. Vom Meeresspiegel aus gemessen ragt
der Mount Everest 8848 Meter in die Höhe, das ist
Weltrekord. Aber warum sollte man die Höhe eines
Berges von einer so willkürlichen Marke wie dem
Meeresspiegel messen? Denn dieser Meeresspiegel
schwankt im Lauf der Jahrmillionen um Hunderte von
Metern; selbst zu einem gegebenen Zeitpunkt hat er
Beulen und Dellen von bis zu hundert Metern Höhe
oder Tiefe (siehe auch den Stichwortartikel ð »Mee-
resspiegel« weiter oben).
Mißt man aber die Höhe unserer Berge von einem
festen Punkt, etwa von dem Mittelpunkt der Erde,
dann ist der höchste Berg der Welt der südamerikani-
sche Andengipfel Chimborazo. Da die Erde keine per-
fekte Kugel, sondern an den Polen abgeplattet und am
Äquator ausgewulstet ist (an den Polen ist der Ab-
stand zum Erdmittelpunkt 21 Kilometer kleiner als
am Äquator), haben Berge in der Nähe des Äquators
einen Vorteil. Der Chimborazo mißt zwar vom Mee-
resspiegel aus nur 6267 Meter, liegt aber weniger als
200 km vom Äquator entfernt und ist damit 2500
Meter weiter weg vom Mittelpunkt der Erde als der
zwischen dem 29. und 30. nördlichen Breitengrad ge-
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LexPI Bd. 2 Mount Everest 226

legene Mount Everest.


Bei nochmals anderen Kriterien sind die Ränge
wiederum anders. Mißt man die Höhe eines Berges
als die Differenz von Gipfel und festem Umland, so
gewinnt der Mouna Loa auf Hawaii – er türmt sich
mehr als 9000 Meter über den benachbarten Meeres-
boden. Und wenn man die Größe eines Berges nicht
durch seine Höhe, sondern durch die Masse mißt, ge-
winnt der Kilimandscharo in Afrika – seine mehr als
10.000 Kubikkilometer Stein und Erde werden von
keinem anderen Berg der Erde übertroffen.
& Lit.: E. Heyn: Die Rekorde der Erde: Vom
höchsten Berg zum tiefsten Graben, München
1981; Stichwort vorgeschlagen von Jürgen Klop-
penburg.

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LexPI Bd. 2 Mozart 227

Mozart
Mozart war ein Österreicher
Mozarts Vater wurde in Augsburg und Mozart selber
in Salzburg geboren – beides Städte, die zu Mozarts
Lebenszeiten nie zu Österreich gehörten. (Erst 1816
und damit 15 Jahre nach Mozarts Tod fiel das Erzbis-
tum Salzburg wieder an Österreich zurück.) Zwar
wird Mozart damit postum nicht zum Deutschen,
denn Deutschland gab es damals nicht, aber Österrei-
cher ist er genausowenig je gewesen.
& Stichwort vorgeschlagen von Paul Gockel.

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LexPI Bd. 1 Mozart 1 224

Mozart 1
Mozart hieß mit Vornamen Wolfgang Amadeus
Mozart erhielt bei seiner Taufe die Vornamen Johan-
nes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus. Das grie-
chische »Theophilus« heißt auf deutsch Gottlieb und
auf lateinisch Amadeus; das klingt von allen dreien
noch am besten, deshalb hat Mozart später die lateini-
sche (bzw. die französische Variante Amadé) Version
bevorzugt.

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LexPI Bd. 1 Mozart 2 224

Mozart 2
Mozart trug einen Mozartzopf
Zur Zeit Mozarts gab es weder Mozartkugeln noch
Mozartzöpfe. Dieser dicke, von Frauen im Nacken
getragene Zopf kam erst um 1900 auf. Mozart selbst
trug einen kurzen weißen Perückenzopf, wie er auch
bei Soldaten der preußischen und französischen Ar-
meen üblich war.
& Lit.: Fritz C. Müller: Wer steckt dahinter, Eltville
1964.

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LexPI Bd. 1 Mozart 3 225

Mozart 3
Mozart war ein armer Schlucker
Mozart war alles andere als ein armer Schlucker. Er
gilt zwar vielen als klassisches Beispiel, wie große
Künstler von den Herrschenden ausgebeutet, schlecht
bezahlt und schließlich fallengelassen werden, aber
diese Legende hält den Tatsachen nicht stand.
Nach heutigen Maßstäben war Mozart ganz im Ge-
genteil ein Großverdiener. Er berechnete für eine Kla-
vierstunde zwei Gulden Honorar (zum Vergleich:
Mozarts Magd bekam 12 Gulden für das ganze Jahr);
für einen öffentlichen Auftritt als Pianist bekam er
nach eigenen Angaben »wenigstens 1000 Gulden«,
was bei durchschnittlich 6 Auftritten pro Jahr zusam-
men mit seinen anderen Einkünften ein Jahreseinkom-
men von rund 10000 Gulden ergab, nach heutiger
Kaufkraft etwa eine Viertelmillion Mark.
Daß er dennoch oft in Geldverlegenheiten steckte
und Bettelbriefe schreiben mußte, lag einfach daran,
daß er zwar viel einnahm, aber noch mehr ausgab,
von seiner Frau Constanze bestens unterstützt. Die
Mozarts hielten sich in guten Zeiten ein Dienstmäd-
chen, eine Köchin und einen eigenen Friseur, und
wenn Mozart bei seinem Tod so hohe Schulden hatte,
daß seine Frau das Erbe ausschlug und ihren Mann in
einem Armengrab bestatten ließ, so war das nicht die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Mozart 3 225

Schuld des Kaisers oder anderer böswilliger Nota-


beln, es war vor allem eine Folge seiner eigenen häus-
lichen Mißwirtschaft, gepaart mit einer Leidenschaft
für Kartenspiel und Billard, wo er vermutlich (denn er
war ein schlechter Billardspieler) mehr Geld verlor
als er durch seine Musik verdienen konnte.
& Lit.: Uwe Kraemer: »Wer hat Mozart verhungern
lassen?«, Musica, Heft 3, 1976.

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LexPI Bd. 1 Müll 225

Müll
Das Sortieren von Hausmüll ist ökonomisch und
ökologisch immer sinnvoll
Das moderne Sortieren von Haushaltsabfällen (Nor-
malmüll, Biomüll, Kunststoff, Papier, Buntglas,
Weißglas, ...) ist nach Meinung vieler Experten weit
weniger sinnvoll, zumindest in der exzessiven Weise,
wie es manche Umweltfreunde heutzutage praktizie-
ren, als die meisten Müllsortierer glauben. Es kostet
oft mehr Geld als es einbringt, spart, falls überhaupt,
Ressourcen an der falschen Stelle, beruhigt aber trotz-
dem unser Umweltgewissen und hat so direkt und in-
direkt, wie ein amerikanischer Umweltschützer einmal
formulierte, »der Umweltbewegung mehr geschadet
als alles andere, an was ich denken kann«.
Was moderne Umweltfreunde oft vergessen: Das
Wiederverwerten von Abfällen ist keine Tugend an
sich. Es ist ein Mittel, die begrenzten Ressourcen un-
seres Planeten besser zu verwalten, und wenn die
Hausmülltrennung dazu beiträgt, sollten wir den
Hausmüll trennen. Wenn nicht, dann nicht. Denn
wenn statt einem Müll-Lastwagen auf einmal vier
oder fünf den Verkehr aufhalten und mit ihren Abga-
sen die Luft verpesten, dann ist das ebenfalls ein Um-
weltschaden, der gegen den gesparten Deponieraum
aufgerechnet werden muß, genauso wie die Extragel-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Müll 226

der für die Müllabfuhr, mit denen man vielleicht bes-


ser eine Kläranlage oder einen Kraftwerkfilter hätte
bauen können (um nur einige der indirekten Kosten
der Hausmülltrennung aufzulisten). Aber von einer
solchen Umwelt-Gesamtrechnung sind wir noch weit
entfernt.
& Lit.: Jeff Bailey: »The recycling myth: How a se-
ries of misperceptions snowballed into a costly
national delusion«, The Wall Street Journal,
19.1.1995.

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LexPI Bd. 2 Müll. 227

Müll
Das Sortieren von Hausmüll ist eine Errungen-
schaft des späten 20. Jahrhunderts
Seit dem 1.4.1907 wurde in Berlin-Charlottenburg
der Hausmüll dreigeteilt entsorgt, »getrennt nach sei-
nen Bestandteilen, nämlich einmal Asche und Keh-
richt, ferner Speisereste und Abfälle von zubereiteten
und unzubereiteten Nahrungsmitteln, wie solche in
Haushaltsküchen usw. anfallen, schließlich sind auch
die übrigen Bestandteile wie Papier, Lumpen, Metall,
Flaschen, Konservenbüchsen, Felle, Bekleidungsstük-
ke usw. (...) ebenfalls getrennt zu sammeln.«
& Lit.: C. Dörr: Hausmüll und Strassenkehricht,
Leipzig 1912; F.J. Brüggemeier und M. Toyka-
Seid (Hrsg.): Industrie-Natur. Lesebuch zur Ge-
schichte der Umwelt im 19. Jahrhundert, Frank-
furt a.M. 1995.

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LexPI Bd. 1 München 226

München
In München wird das meiste Bier gebraut
Die Bierhauptstadt Deutschlands ist nicht München,
sondern Dortmund. Pro Jahr werden dort rund 6 Mil-
lionen Hektoliter Bier gebraut, verglichen mit 5,5
Millionen Hektolitern in München. Damit hält Dort-
mund den Rekord nicht nur in Deutschland, sondern
in ganz Europa.
Inzwischen (seit 1991) hat das Sauerland (War-
steiner) mit mehr als 8 Millionen Hektoliter sowohl
Dortmund als auch München abgehängt. Allerdings
kommt das sauerländische Bier nicht aus einem einzi-
gen Ort.
& Lit.: Statistisches Jahrbuch für das Land Nord-
rhein-Westfalen, verschiedene Jahre.

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LexPI Bd. 2 Muskelkater 227

Muskelkater
Vom Bergaufsteigen bekommt man Muskelkater
Muskelkater bekommt man eher vom Abstieg als vom
Aufstieg eines Berges. Wie Forscher vom Zentrum für
biomedizinische Technik in Melbourne herausgefun-
den haben, reagieren Muskelfasern besonders dann
empfindlich, nicht wenn sie harte Arbeit leisten, son-
dern wenn sie als Bremse dienen müssen – die Fasern
können dabei reißen, und beim Ersetzen dieses nutz-
losen Gewebes kommt es zu den bekannten Muskel-
schmerzen.
& Lit.: Tim Thwaites: »Running ragged«, New
Scientist, 16.8.1997.

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LexPI Bd. 2 Mütter 228

Mütter
Berufstätige Mütter kümmern sich nicht um ihre
Kinder
Nach einer englischen Statistik verbrachten voll be-
rufstätige Mütter 1995 mehr Zeit mit ihren Kindern
als »Nur-Hausfrauen« 1961. Die Gründe für diese
Zunahme der Zuwendung zu Kindern sind: (1.) Die
»offiziellen« Wochenarbeitszeiten werden kürzer; (2.)
Kochen, Waschen, Putzen ist heute großteils Sache
von Maschinen; (3.) man geht öfter auswärts essen,
und (4.) am wichtigsten: auch die Männer, ob berufs-
tätig oder nicht, helfen weit mehr als 1961 bei den
»Hausarbeiten« mit.
& Lit.: J. Gershuny: »Time for the family«, Pro-
spect, Januar 1997, S. 56–57; »Beruf hat Priori-
tät«, Informationsdienst des Instituts der Deut-
schen Wirtschaft 33/1997.

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LexPI Bd. 2 Mutter Courage 228

Mutter Courage
Die »Mutter Courage« von Bertolt Brecht war
eine couragierte Mutter und Gegnerin des Krie-
ges
So scheinen alle die zu denken, die in den beliebten
Fragebögen unter »Lieblingsheld der Dichtung« gerne
die »Mutter Courage« als eine Leitfigur des coura-
gierten Pazifismus nennen, eine Insel von Vernunft
und Menschlichkeit inmitten der Schrecken des Drei-
ßigjährigen Krieges, eine Petra Kelly des 17. Jahrhun-
derts.
In Wahrheit ist Brechts »Mutter Courage« weder
besonders couragiert noch pazifistisch. Sie will zwar
ihre Kinder vor dem Krieg beschützen, braucht aber
andererseits den Krieg zum Geldverdienen; wenn Ge-
schäfte locken, kennt ihr Opportunismus keine Gren-
zen, dann überläßt sie ihre Kinder auch den
schrecklichsten Gefahren (die Kinder gehen dann
auch im Krieg zugrunde, während die geschäftstüchti-
ge Mutter, ohne aus dem Desaster viel gelernt zu
haben, überlebt: »Ich muß wieder in Handel kom-
men«, ist eine ihrer zentralen Lehren aus der Tragö-
die). Wie eine solche »Hyäne des Schlachtfelds« zur
Lichtgestalt der deutschen Bildungsspießer werden
konnte, muß wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben
(oder auch nicht, denn die meisten, die so pflichtbe-
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LexPI Bd. 2 Mutter Courage 228

wußt die »Mutter Courage« als ihre Lieblingsheldin


ankreuzen, haben nie das Stück gesehen).
& Lit.: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Band
4, Dortmund 1989; Eckhard Henscheid, Gerhard
Henschel und Brigitte Kronauer: Kulturgeschichte
der Mißverständnisse, Stuttgart 1997 (besonders
der Abschnitt »Mutter Courage et alt. tutti frut-
ti«).

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LexPI Bd. 2 Muttermilch 229

Muttermilch
Die Muttermilch hat alles, was ein Säugling
braucht
Wahr ist: Muttermilch ist in mancher Hinsicht besser
als Kuhmilch an die Bedürfnisse von Säuglingen an-
gepaßt (bessere Mischung von Fett und Kohlehydra-
ten; Eisen aus Muttermilch wird besser als Eisen aus
Kuhmilch von den Babys aufgenommen usw.). Aber
die perfekte Nahrung ist Muttermilch deswegen den-
noch nicht: Sie enthält z.B. kein Vitamin D, daher be-
kommen ausschließlich mit Muttermilch ernährte
Kinder oft Rachitis.
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991.

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LexPI Bd. 2 Muttertag 229

Muttertag
Der Muttertag wurde von den Nazis eingeführt
Der Muttertag wurde erstmals 1914 in den USA ein
offizieller Feiertag; die Muttertagsbewegung wurde
vor allem von Feministinnen wie der Predigerstochter
Ann Jarvis (1864–1948) angetrieben, die am zweiten
Maisonntag des Jahres 1907, dem zweiten Jahrestag
des Todes ihrer eigenen Mutter, eine erste, noch inof-
fizielle Muttertagsfeier organisierte. Danach verbrei-
tete sich diese Sitte rasch, schon 1912 wurde der Mut-
tertag ein »offizieller« Feiertag der amerikanischen
Methodisten, und durch ein eigenes »Muttertagsge-
setz« von 1914 dann auch ein Feiertag für alle Ameri-
kaner.
Nach Deutschland dagegen kam der Muttertag erst
1923, vor allem auf Betreiben des »Verbandes deut-
scher Blumengeschäftsinhaber«.
Natürlich wurde neben diesem kommerziellen auch
das ideologische Potential des Feiertages bald er-
kannt, man konnte ihn, in völliger Umkehrung der
Absichten von Ann Jarvis, gut als Kontrapunkt zur
Frauenemanzipation verwenden, auch politisch vor
ganz andere als den ursprünglich gedachten Karren
spannen: Die Nazis machten 1939 aus dem Muttertag
den »Tag der deutschen Mutter«, inklusive Ehren-
kreuzverleihung usw., vor allem deshalb ist er nach
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Muttertag 229

dem Krieg so in Verruf geraten.


& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987; Stichwort »Muttertag« in
der Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden 1990;
»Kauft Blumen! Gebärt Kinder!« Die Welt,
9.5.1995.

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N 230

»Die einen möchten das begreifen, was sie glauben,


und die anderen das glauben, was sie begreifen.«
Stanisław Jerzy Lec,
Das große Buch der unfrisierten Gedanken

»Das Falsche hat den Vorteil,


daß man immer darüber schwätzen kann.«
Goethe, Maximen und Reflexionen

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LexPI Bd. 2 Nächstenliebe 230

Nächstenliebe
Das Neue Testament fordert unbedingte Nächst-
enliebe (s.a. ð »Freiheit«)
Das Neue Testament fordert zunächst einmal die
Christen auf, sich gegenseitig beizustehen: Wann
immer in den Evangelien und Apostelbriefen von
Nächstenliebe die Rede ist, sind zunächst einmal die
Brüder und Schwestern der eigenen Gemeinde ange-
sprochen – Andersgläubige dagegen sind mehr oder
weniger deutlich ausgenommen. »Helft den Heiligen
[= Glaubensbrüdern; W.K.], wenn sie in Not sind; ge-
währt jederzeit Gastfreundschaft«, fordert Paulus
(Römer 12,13); die anderen, die »Verfolger«, sind le-
diglich zu »segnen«, d.h. nicht zu verfluchen, aber
auch nicht zu lieben oder sonstwie mit den Glaubens-
brüdern gleichzusetzen. Auch Johannes, der nach
Paulus einflußreichste Theologe des Neuen Testa-
ments, läßt nur wenig Zweifel, wem die Liebe der
Christen zu gelten habe: vor allem den Gemeinde-
schwestern und Gemeindebrüdern. »Liebt nicht die
Welt und was in der Welt ist!« (1. Johannes 2,15)
»Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben hin-
übergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer
nicht liebt, bleibt im Tod. Jeder, der seinen Bruder
haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat
ewiges Leben, das in ihm bleibt. Daran haben wir die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nächstenliebe 230

Liebe erkannt, daß Er sein Leben für uns hingegeben.


So müssen auch wir für die Brüder das Leben hinge-
ben.« (3,14–16).
Selbst bei Jesus, dem vermeintlichen Begründer der
universellen Menschenliebe, ist dieser Universalismus
weit weniger ausgeprägt, als viele glauben: Wie
schon sein Vorläufer Johannes der Täufer konzentriert
auch Jesus sein Wirken vornehmlich auf Israel, auf
das Gottesvolk des Alten Testaments; Heiden werden,
falls überhaupt, nur am Rand und eher zufällig beach-
tet, und das in der Bergpredigt aufgestellte Gebot der
Feindesliebe kann auch als Forderung zur Versöh-
nung innerhalb des auserwählten Volkes verstanden
werden. »Liest man [die einschlägigen Texte] unter
dem Augenmerk, daß der Adressat des Wirkens Jesu
nur Israel war, kann schwerlich aus den Texten heraus
bewiesen oder entgegengehalten werden, daß Jesus
mit diesen Worten eine universelle Öffnung der Liebe
wollte bis hin zum politischen oder religiösen Feind,
der die Volks- und Religionsgemeinschaft Israels
heimsuchte« (Miller).
& Lit.: K. Barth: »Die Lehre von der Versöhnung«,
Die kirchliche Dogmatik 1955; E. Käsemann:
Jesu letzter Wille nach Johannes, Tübingen 1980;
Hans Josef Miller: »Nächstenliebe im Neuen Te-
stament: Gruppenegoismus oder universales
Menschheitsethos«, in: T. Heck (Hrsg.): Das
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nächstenliebe 231

Prinzip Egoismus, Tübingen 1994, S. 94–100.

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LexPI Bd. 1 Nachtigall 227

Nachtigall
Nachtigallen singen nachts
Nachtigallen singen tags wie nachts. Aber wegen der
geringeren Konkurrenz bei Dunkelheit fällt ihr Ge-
sang dann eher auf.
& Lit.: R. Gerlach: Wie die Vögel singen, Frankfurt
1965.

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LexPI Bd. 1 Nachtwache 227

Nachtwache
Rembrandts »Nachtwache« zeigt eine Nachtwa-
che
Dieses berühmteste aller Rembrandtschen Gemälde
war zunächst als »Die Gesellschaft des Frans Ban-
ning Cocq« bekannt; es zeigt dessen Schützenkompa-
gnie im hellen Mittagslicht, beim Aufbruch zu einer
Parade oder zu einem Schützenfest.
Zur »Nachtwache« ist das Bild erst am Kamin des
Amsterdamer Rathauses geworden, wo es lange Jahre
hing und durch den Rauch und Ruß des Feuers seinen
vom Künstler keineswegs gewollten nächtlich-düste-
ren Gesamteindruck erwarb.
Heute hängt das Bild im Rijksmuseum Amsterdam.
¤ Rembrandts »Nachtwache«: In Wahrheit ein Aus-
zug der Soldaten im hellen Mittagslicht

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LexPI Bd. 1 Napoleon 228

Napoleon
Napoleons Rußlandfeldzug wurde vor allem
durch den harten Winter zu einer großen Kata-
strophe
Napoleon hat seinen Rußlandfeldzug nicht durch den
harten Winter, sondern durch seine eigenen Fehler
verloren; seine bekannte Entschuldigung für das De-
saster – »Unser Untergang war der Winter; wir sind
das Opfer des Klimas«, war nur ein Versuch, das ei-
gene Versagen zu bemänteln.
In Wahrheit war das Wetter über den größten Teil
des Feldzuges kaum kälter als üblich, eher wärmer.
Wie überlieferte Wetterdaten zeigen, betrug die mitt-
lere Temperatur in Kiew und Warschau im Oktober,
zu Beginn des Rückzugs, zehn Grad plus, in Reval
und Riga sieben Grad plus; selbst Ende November,
beim berühmten Übergang über die angeblich eisstar-
rende Beresina, war der Fluß noch überhaupt nicht
zugefroren; die bekannten Bilder von schneeverweh-
ten, mit gewaltigen Eisschollen kämpfenden französi-
schen Soldaten sind reine Erfindungen. Wenn der Na-
poleon-Biograph André Maurois von russischen Gra-
naten schreibt, die das Eis des Flusses aufgerissen
hätten, ist er dabei dem Kaiser genauso auf den Leim
gegangen wie der Rest der Welt.
»Die Kälte nahm plötzlich zu«, behauptet Napo-
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LexPI Bd. 1 Napoleon 228

leon in seinem Bulletin vom 3. Dezember, »und in der


Nacht vom 14. auf den 15. [November] zeigte das
Thermometer 16 bis 18 Grad unter dem Gefrierpunkt.
Die Wege waren mit Glatteis überdeckt; die Kavalle-
rie, Artillerie und Trainpferde fielen jede Nacht in
Menge um, nicht zu Hunderten, sondern zu Tausen-
den ... Wir mußten einen großen Teil unserer Kano-
nen im Stich lassen und zerstören, sowie einen großen
Teil unseres Kriegs- und Mundvorrats ...«
In Wahrheit hatte die Kälte tatsächlich zugenom-
men, aber erst viel später. Die enormen Materialverlu-
ste auf dem Rückweg waren vor allem schlechter Pla-
nung und nicht der Kälte zuzuschreiben. Beim Auf-
bruch aus Moskau hatte die Armee nur Pferdefutter
für eine Woche, und vor allem deshalb, also aus Fut-
termangel, und nicht des Frostes wegen »fielen die
Trainpferde jede Nacht zu Tausenden«. Selbst im No-
vember betrugen die mittleren Temperaturen in Kiew
noch plus zwei Grad, wie einschlägige Aufzeichnun-
gen zeigen, und selbst die kälteste überlieferte No-
vembernacht, mit minus 8 Grad bei Smolensk, liegt
noch weit über den Horrorfrösten, von denen Napo-
leon berichtet hat.
Daß seine Märchen trotzdem geglaubt wurden,
liegt an der großen Kälte, die dann schließlich wirk-
lich ausbrach, wenn auch erst im Dezember, lange
nach der eigentlichen Katastrophe. Die wenigen
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LexPI Bd. 1 Napoleon 229

Heimkehrer, die u.a. auch von klirrendem Frost auf


dem Rückweg berichteten, schienen Napoleons Aus-
rede zu bestätigen; daß dieser Frost erst nach dem Un-
tergang der »Grande Armee« ausbrach, wurde dabei
übersehen.
& Lit.: Vincent Cronin: Napoleon, Frankfurt 1975;
Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Besser-
wisser, München 1986 (vor allem das Kapitel
»Nicht der Winter verursachte die Rußland-Kata-
strophe«).

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LexPI Bd. 2 Napoleon. 231

Napoleon
Napoleon war ein Mann von kräftiger Statur (s.a.
ð »Attila«)
Daß Napoleon kein Riese war, ist wohlbekannt – mit
169 cm Körpergröße entsprach er dem französischen
Durchschnitt seiner Jahre. Aber daß er sogar ein re-
gelrechter Schwächling war, wird viele überraschen.
Nach Ansicht seines Biographen Cronin hätte Napo-
leon bei keiner anderen Waffengattung als der Artille-
rie, die mehr technisches Können als körperliche Fit-
neß fordert, reüssieren können: »Er konnte beispiels-
weise ein Pferd nicht kräftig genug zwischen die
Schenkel nehmen, saß im Sattel wie ein Sack Kartof-
feln, mußte sich weit vornüber lehnen, um das Gleich-
gewicht zu halten, und wurde bei der Jagd oft abge-
worfen« (S. 193). Wie so oft hat man auch bei Napo-
leon mentale Eigenschaften zu Unrecht auf den Kör-
per übertragen.
& Lit.: V. Cronin: Napoleon, Frankfurt a.M. 1975.
¤ Jacques-Louis David: Napoleon überquert die
Alpen

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LexPI Bd. 2 Nasenbluten 231

Nasenbluten
Bei Nasenbluten hilft es, den Kopf in den Nacken
zu legen
Davon raten Ärzte heute eher ab. Bei zurückgelegtem
Kopf fließt das Blut über den Rachen in den Magen,
es können Übelkeit oder Erbrechen folgen. Außerdem
ist die Menge des abfließenden Blutes nicht abzu-
schätzen, gefährliche Blutungen werden leichter über-
sehen (man kann an Nasenbluten sterben). Statt den
Kopf in den Nacken zu legen, sollte man die Nasen-
flügel aneinanderpressen, den Kopf nach vorne neigen
und, wenn das Bluten nach 20 Minuten nicht aufhört,
einen Arzt rufen.
Richtig ist dagegen der kalt-feuchte Lappen im
Nacken – er läßt die Blutgefäße schrumpfen und
bremst den Fluß des Blutes in die Nase.
& Lit.: »Bei Nasenbluten den Kopf nicht in den
Nacken legen«, Hannoversche Allgemeine Zei-
tung, 20.6.1996.

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LexPI Bd. 2 Nassauer 232

Nassauer
Ein Nassauer kommt aus Nassau (s.a. ð »Apfel«,
ð »Guter Rutsch« und ð »Sauregurkenzeit«)
Der Ausdruck »Nassauer« für jemand, der gerne auf
Kosten anderer ißt und trinkt, hat mit dem schönen
deutschen Städtchen Nassau nichts zu tun; das Wort
kommt aus dem hebräischen »nasson« für geben oder
schenken; es soll jemanden benennen, der lieber
nimmt als gibt.
& Lit.: Bernd-Lutz Lange: Dämmerschoppen, Köln
1997 (besonders das Kapitel »Sprachdenkmä-
ler«).

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LexPI Bd. 2 Nationalhymnen 1 232

Nationalhymnen 1
Es gibt eine deutsche Nationalhymne (s.a. ð
»Deutschlandlied«)
Es gibt eine englische, französische und amerikani-
sche Nationalhymne, aber keine deutsche. Zumindest
streiten hier noch die Juristen: Nach dem Zweiten
Weltkrieg hatte die alliierte Militärregierung alle nati-
onalsozialistischen Lieder verboten, u.a. auch das
(vermeintlich) nationalsozialistische Deutschlandlied;
der Antrag mehrerer Abgeordneter des 1. Deutschen
Bundestages, dieses Lied als nationale Hymne wieder
einzuführen, wurde seinerzeit zurückgestellt.
Statt dessen gab Theodor Heuss, der erste Bundes-
präsident, der das Deutschlandlied nicht mochte, bei
dem Dichter Rudolf Alexander Schröder und dem
Komponisten Hermann Reuter eine neue National-
hymne in Auftrag (die sog. »Hymne an Deutsch-
land«), die aber trotz regelmäßigen Abspielens im
Nordwestdeutschen Rundfunk niemanden so recht er-
wärmen konnte. Deshalb schrieb Konrad Adenauer
den folgenden Brief an Heuss:
Bonn, 29.4.1952
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Die Frage einer »National-Hymne« ist in den ver-
gangenen zwei Jahren wiederholt zwischen uns be-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nationalhymnen 1 233

sprochen worden. Ich achtete, wenn auch im Zwei-


fel an dem Gelingen, Ihren Versuch, durch einen
neuen Text und durch eine neue Melodie über die
unliebsamen Zwischenfälle hinwegzukommen, die
bei der Wiedergabe oder bei dem Absingen des
»Deutschland-Liedes« sich ereignet haben; es sollte
vermieden werden, hier einen neuen Streit in unser
Volk zu tragen.
Sie haben mir selber gelegentlich zum Ausdruck
gebracht, daß Sie dieses Bemühen als gescheitert
betrachten müssen. Die Gründe mögen jetzt uner-
örtert bleiben. Als das Kabinett Sie vor Monaten
durch mich bitten ließ, sich für die dritte Strophe
des Deutschlandliedes zu entscheiden, gab ich zu,
daß Ihre damalige Gegenargumentation eine innere
Berechtigung besaß.
Inzwischen ist nun die Frage dringend geworden,
und ich muß den Wunsch der Bundesregierung
darum pflichtgemäß wiederholen. Sie wissen selber
um die Lage, in der bei amtlichen Veranstaltungen
unsere ausländischen Vertretungen sich befinden.
Ich will in diesem Augenblick die innerdeutschen
Gefühlsmomente, deren Gewicht von uns beiden
gleich hoch gewertet wird, gar nicht in Anschlag
bringen. Es ist wesentlich der außenpolitische Rea-
lismus, der uns, Ihnen wie mir, nahelegen muß, die
Entscheidung nicht weiter hinauszuzögern. Ich
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nationalhymnen 1 233

möchte auch hoffen dürfen und glaube, dazu Grund


zu haben, daß die innenpolitischen Vorbehalte, die
sich auf den Mißbrauch des »Deutschland-Liedes«
durch die Vernichter des alten Deutschlands bezie-
hen, an Schärfe verloren haben – war es doch der
Reichspräsident Friedrich Ebert, der das »Deutsch-
land-Lied« durch eine staatsmännische Entschei-
dung zur Nationalhymne erklärte.
Daher die erneute Bitte der Bundesregierung, das
Hoffmann-Haydn'sche Lied als Nationalhymne an-
zuerkennen. Bei staatlichen Veranstaltungen soll
die dritte Strophe gesungen werden.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr gez. Adenauer
Die Antwort von Heuss begann mit den Worten
»Sie haben recht«; ab da wurde bei offiziellen Anläs-
sen das Deutschlandlied gesungen, so wie es Richard
von Weizsäcker und Helmut Kohl in einem weiteren
Briefwechsel 1991 nochmals bestätigt haben. Aber in
keinem einzigen »offiziellen« Dokument oder Gesetz
wurde je das Deutschlandlied zur Nationalhymne er-
koren.
Anders die DDR: Gleich nach der Staatsgründung
wurde durch einen Beschluß des Ministerrates vom
November 1949 das bekannte »Auferstanden aus Rui-
nen« von Johannes R. Becher und Hanns Eisler zum
Nationalgesang erklärt. (Da nach dem Mauerbau
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nationalhymnen 1 234

1961 das häufige »Deutschland« im Text politisch


nicht mehr paßte, wurde dieses Lied aber nur noch ge-
spielt, nicht mehr gesungen.)
Wie auch immer, nach dem Ende der DDR stehen
wir nun völlig ohne »offizielle« Hymne da.
& Lit.: H. Trümmler: Deutschland über alles – Zur
Geschichte und Problematik unserer National-
hymne, Köln 1979; G. Spendel: »Zum Deutsch-
land-Lied als Nationalhymne«, Juristen-Zeitung
1988, S. 744ff.; B. Riedel: »Symbol der (Un-)Ei-
nigkeit?«, Hannoversche Allgemeine Zeitung,
11.8.1997.

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LexPI Bd. 2 Nationalhymnen 2 234

Nationalhymnen 2
Nationalhymnen gibt es erst seit dem 19. Jahr-
hundert (s.a. ð »Marseillaise«)
Auch wenn der Brockhaus anderes behauptet: Nation-
alhymnen gab es schon lange vor dem 19. Jahrhun-
dert. Etwa die Volkshymne der Niederländer, kompo-
niert und gedichtet im Freiheitskampf gegen die Spa-
nier 1568, Henry Carey's »God save the king« in
England 1743, die »Marseillaise« von 1792 ...
& Lit.: U. Ragozat: Die Nationalhymnen der Welt,
Freiburg 1982.

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LexPI Bd. 2 Nationalsozialismus 234

Nationalsozialismus
Deutschland war das Zentrum des Nationalsozia-
lismus
Die Hochburg der Nazis war die »Ostmark«, also
Österreich. Österreich stellte mit weniger als einem
Zehntel der Bevölkerung des Nazi-Reiches fast die
Hälfte aller Nazi-Obermörder: Rund 3 Millionen der
6 Millionen von den Nazis umgebrachten Juden wur-
den unter dem Kommando von Österreichern getötet –
neben Adolf Eichmann selber auch die Kommandan-
ten von Treblinka, Flossenbürg, Theresienstadt, Sobi-
bor und Belzec, genauso wie die Kommandanten des
Warschauer, Rigaer und Wilnaer Ghettos, von Adolf
Hitler selber und seinen engen Mitarbeitern Kalten-
brunner (Chef der Gestapo) und Seyß-Inquart (der
»Arisierer« der Niederlande) und den Hunderttausen-
den von kleinen Kriminellen ganz zu schweigen.
»Kaum ein Konzentrationslager, in dem nicht an lei-
tender Stelle Österreicher saßen, kaum eine Sonder-
einsatztruppe, zu der sich nicht Österreicher freiwillig
gemeldet hatten« (Haslinger).
& Lit.: Erika Weinzierl: Zu wenig Gerechte: Öster-
reicher und Judenverfolgung 1938–1945, Graz
1985; Fritz Molden: Die Österreicher, München
1987; Josef Haslinger: Politik der Gefühle: Ein
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nationalsozialismus 235

Essay über Österreich, Frankfurt a.M. 1995.

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LexPI Bd. 2 Neandertaler 235

Neandertaler
Wir sind alle fortentwickelte Neandertaler
Nach neueren Forschungen sind die Neandertaler (und
mit ihnen die anderen Urmenschen, die bis vor 20.000
Jahren den europäischen Kontinent beherrschten) al-
lenfalls die Vettern, aber nicht die Väter der moder-
nen Europäer. Demnach entwickelte sich der moderne
Mensch, so wie er heute sechsmilliardenfach den Glo-
bus bevölkert, erst vor rund 200.000 Jahren in einer
noch zu bestimmenden Region im Osten Afrikas. Von
dort verbreitete er sich zunächst über Afrika, dann
weiter über die Straße von Gibraltar nach Europa, wo
es ihm (und natürlich auch ihr) aufgrund überlegener
Intelligenz und körperlicher Geschicklichkeit gelang,
die eingesessenen, grobschlächtigen und nicht ganz so
cleveren Urmenschen vom Typus des Neandertalers
zu verdrängen (d.h. auszurotten).
Diese These des englischen Paläontologen Chris
Stringer war lange umstritten; die heutigen Menschen
hätten vielmehr schon vor ein bis zwei Millionen Jah-
ren den Erdkreis überzogen, auch aus Afrika, aber
schon viel früher, und aus diesem Urahn, dem »homo
erectus«, seien dann quasi parallel auf allen Kontinen-
ten die heutigen Rassen und Menschen entstanden. Je-
doch steht diese Theorie im Widerspruch zur Gen-
struktur der Menschen, wie sie heute leben; der in sei-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Neandertaler 236

ner vergangenen Existenz durchaus unbestrittene


»homo erectus« kann nicht der Vorfahr des modernen
Menschen sein: »Alle genetischen Daten deuten dar-
auf hin, daß 99 Prozent der gesamten Erbsubstanz des
modernen Menschen von einer [einzigen] Gruppe
stammen, die Afrika vor nicht langer Zeit verlassen
hat, vor rund 20.000 Jahren.« Alle damals außerdem
noch lebenden Menschenrassen wären damit heute
ausgestorben.
& Lit.: Chris Stringer und Robin McKie: Afrika –
Wiege der Menschheit: Die Entstehung, Entwick-
lung und Ausbreitung des Homo sapiens, Mün-
chen 1996; »Homo sapiens kam erst vor 20000
Jahren aus Afrika«, Welt am Sonntag 26/1996; J.
Blech: »Sind wir alle Afrikaner?«, Die Zeit
41/1996; R. Leakey: Die ersten Spuren. Über den
Ursprung des Menschen, München 1997; Mat-
thias Krings u.a.: »Neandertal DNA sequences
and the origin of modern humans«, Cell 90, 1997,
S. 19–30; Stichwort vorgeschlagen von Claudia
Rexhaus.

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LexPI Bd. 1 Nero 229

Nero
Kaiser Nero hat seine eigene Hauptstadt Rom in
Brand gesetzt
Von allen römischen Kaisern hat Lucius Domitius
Ahenobarbus, besser bekannt als Nero, heute die
schlechteste Presse. Zusammen mit Hitler, Stalin und
Pol Pot wird er gern dem Spitzenquartett humaner
Monster zugerechnet – ein hemmungsloser Lüstling,
Mutter-, Vater-, Frauen-, Brudermörder, Christenver-
folger, Brandstifter, Sadist, ein einziger Ausbund an
Scheußlichkeit und Perversion.
Nicht daß Nero an diesem Image schuldlos wäre –
nach heutigen Maßstäben von Menschlichkeit und
gutem Benehmen gehörte er zweifellos in einen Zoo.
Aber nicht alles, was man ihm heute zuschreibt, hat er
wirklich auch getan. Und verglichen mit seinen Vor-
gängern Caligula, Tiberius, Augustus und Cäsar war
Nero eher ein harmloser Idiot.
Insbesondere ist der große Brand von Rom im Jahr
64 nach Christus, die bis dahin und wohl auch für alle
Zeiten größte Katastrophe der römischen Stadtge-
schichte, entgegen allen Gerüchten und Legenden ver-
mutlich doch nicht Neros Werk gewesen. Damals leb-
ten in Rom, der größten Stadt der Erde, über eine
Million Menschen, dichtgedrängt in Holzbaracken
oder Mietskasernen, so wie heute in Hongkong oder
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Nero 229

in Rio de Janeiro; Zehntausende verloren alles was sie


hatten. Fünf Tage und fünf Nächte wütete das Feuer,
zehn von damals vierzehn Stadtbezirken wurden an-
gegriffen, drei komplett vernichtet, Chaos, Durchein-
ander ohnegleichen. »Dazu das Wehgeschrei der ver-
ängstigten Frauen, die schwachen Greise und die klei-
nen Kinder, dazu die Leute, die sich selbst und ande-
ren helfen wollten, die Kranke wegschleppten oder
auf sie warteten, das Zögern der einen, die Eile der
anderen«, lesen wir bei Tacitus. »Oft wurden Leute,
die nach rückwärts schauten, von den Flammen von
der Seite oder von vorne umzingelt. Und man floh nur
bis in die nächsten Gassen, so wurden auch diese vom
Feuer ergriffen. Selbst auf Straßen, von denen man
glaubte, sie seien sicher, lauerte plötzlich dieselbe
Gefahr. Schließlich wußte keiner mehr, wo es gefähr-
lich, wo noch einigermaßen sicher war. Menschenma-
ssen füllten die Straßen, andere warfen sich auf den
Feldern hin. Manche hatten ihre ganze Habe verloren
und nicht einmal für einen Tag zu essen.«
Eine solche Katastrophe braucht natürlich einen
Schuldigen, und so begann man schon bald nach dem
Brand zu tuscheln, Nero selber hätte ihn gelegt, aus
architektonischem Größenwahn, um Platz für einen
neuen Palast zu schaffen. »Nero behauptete, der An-
blick der häßlichen alten Häuser und der engen ge-
wundenen Straßen beleidige sein Auge, und ließ dar-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Nero 230

aufhin die Stadt in Brand stecken« (Sueton). »Nero


schickte unter der Hand einige Leute aus, die sich be-
trunken stellten oder so, als wollten sie irgendeinen
schlechten Streich ausführen. Diese legten dann das
Feuer, die einen da, die anderen dort ...« (Cassius
Dio). Diese und ähnliche Gerüchte machten schnell
die Runde.
Jedoch wurden diese Verdächtigungen von Ken-
nern der Szene niemals richtig ernst genommen. Denn
Nero hatte durch dieses Feuer mehr als jeder andere
verloren: seinen eigenen Palast, seine geliebte Kunst-
sammlung, und sehr viel Bargeld obendrein, denn er
war als Kaiser für Obdach und Ernährung seiner Un-
tertanen höchstpersönlich selbst verantwortlich –
nach dem Brand war Nero finanziell fast völlig rui-
niert. »Wir können heute davon ausgehen, daß die
Brandstiftertheorie von Sueton in die Welt gesetzt
wurde, einem Autor, der nicht Geschichte aufzeichne-
te, sondern Geschichten, und mitunter unkritisch Ge-
rüchte und Anekdoten kolportierte, die ihm zu Ohren
kamen«, schreibt der Nero-Biograph Philipp Vanden-
berg.
Auch die in verschiedenen Hollywood-Filmen vere-
wigte Legende, Nero hätte sogar, das brennende Rom
zu Füßen, dramatische Gesänge vorgetragen, ist
höchstwahrscheinlich frei erfunden. Zwar hielt sich
Nero in der Tat für einen großen Sänger und hatte
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Nero 231

vielleicht in seiner Vorliebe für Griechenland und


alles Griechische im brennenden Rom das brennende
Troja aus der Ilias des Homer gesehen, aber singend
vorgetragen hat er diese Gedanken sicher nicht, allein
schon deshalb, weil fast alle später gern zitierten Vor-
tragsstätten selbst in hellen Flammen standen (oder
von dort das brennende Rom überhaupt nicht sichtbar
war).
»Die ersten frühchristlichen Autoren hätten gute
Gründe gehabt, die Brandstiftung durch Nero zu er-
wähnen, aber offensichtlich waren sie selbst nicht von
Suetons Darstellung überzeugt«, schreibt Vanden-
berg. »Erst mit wachsendem zeitlichen Abstand
kamen im vierten Jahrhundert Legenden um die Mär-
tyrer der Urchristen auf. Und dazu brauchte man Nero
als mutwilligen Brandstifter, der die Verantwortung
anschließend auf die Christen abschob.«
Denn ein Schuldiger mußte gefunden werden, und
dazu eignet sich am besten eine unbeliebte Minder-
heit – damals zufällig die Christen. Falsche Ankläger
und Denunzianten waren ohne Schwierigkeiten aufzu-
treiben, es gab die ersten Märtyrer, und damit war
Neros Nachruhm unausweichlich ruiniert; diese Ver-
folgungen hat ihm das siegreiche Christentum niemals
mehr verziehen.
Obwohl also Nero – »für römische Verhältnisse im
ersten Jahrhundert eigentlich ungewöhnlich normal«
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Nero 231

Vandenberg – zur Zeit der Christenprozesse gerade


Griechenland bereiste und von den Verfolgungen
unter Umständen überhaupt nichts wußte, obwohl vor
ihm und nach ihm andere Imperatoren weit schlimmer
wüteten, weit mehr Gesetze mißachteten, und weit
mehr unschuldige Menschen auf dem Gewissen hat-
ten, obwohl Nero seine Rolle als römischer Kaiser
weit weniger mißbrauchte als viele andere vor ihm
und nach ihm, stand er von nun an reichlich unver-
dient als größtes Monster der Geschichte da.
& Lit.: Philipp Vandenberg: Nero: Kaiser und Gott,
Künstler und Narr, München 1981. Die wichtig-
sten Originalquellen sind die antiken Historiker
Tacitus (55–116 n.Chr.), Sueton (70–150 n.Chr.)
und Cassius Dio (150–235 n.Chr.), die Nero vor
allem als abschreckendes Beispiel herausstellen
und damit neben der christlichen Kirche nicht un-
wesentlich zu seinem verzerrten Nachruf beigetra-
gen haben.

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LexPI Bd. 1 Neumond 232

Neumond
Der Neumond entsteht durch den Schatten der
Erde
Man sollte es nicht glauben, aber wenn man seine
Freunde und Bekannten fragt: »Wie kommt es, daß
man den Mond manchmal total (Vollmond), nur zur
Hälfte (Halbmond) oder gar nicht (Neumond) sieht?«,
so erhält man oft die Antwort: »Das hängt mit dem
Erdschatten zusammen (oder so ähnlich).«
In Wahrheit entstehen die Mondphasen natürlich
dadurch, daß wir immer nur den von der Sonne ange-
strahlten Teil der uns zugekehrten Mondseite sehen.
Steht der Mond genau zwischen Erde und Sonne,
haben wir Neumond – die Sonne strahlt den Mond
von hinten an (von der Erde aus gesehen). Bei Halb-
mond bilden die Linien Erde-Mond und Mond-Sonne
einen rechten Winkel, die Sonne beleuchtet gerade
eine Hälfte der uns zugewandten Seite des Mondes,
und bei Vollmond liegen Sonne, Mond und Erde un-
gefähr auf einer Linie, die Sonne strahlt die volle uns
zugewandte Seite des Mondes an (daß dabei zuweilen
die Erde dazwischentritt und einen Schatten wirft,
steht auf einem anderen Blatt; eine derartige Mondfin-
sternis kommt auch zuweilen vor, hat aber mit dem
Neumond nichts zu tun).
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LexPI Bd. 2 New York 236

New York
New York ist ein gefährliches Pflaster
New York ist heute eine der sichersten Städte in den
USA. »Jogger im Central Park müssen nicht mehr um
Leib und Leben fürchten, und aufdringliche Bettler,
die manchmal drohend und erpresserisch die Touri-
sten um eine ›freiwillige Spende‹ baten, sind aus dem
Straßenbild verschwunden.«
Die amerikanischen Spitzenreiter bezüglich Mord
und Totschlag sind heute New Orleans und Washing-
ton (85 bzw. 70 Morde pro 100.000 Einwohner und
Jahr), verglichen mit 21 in New York, und auch bei
anderen Verbrechen liegt New York heute weit
zurück:
Der Platz von New York unter allen amerikanischen
Großstädten
Mord 63.
Vergewaltigung 141.
Autodiebstahl 99.
Raubüberfälle 27.
Einbrüche 162.

& Lit.: Statistical Abstract of the United States


1996; »New York – aber sicher«, Stern 15/1997;
http://www. geocities.com/sotto/lofts/5551/
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 New York 236

crime.htm; Stichwort vorgeschlagen von Doris


Krämer.

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LexPI Bd. 1 New York 1 232

New York 1
New York ist die Hauptstadt von New York
Die Hauptstadt des US-amerikanischen Bundesstaates
New York heißt Albany. Sie hat 115000 Einwohner
und liegt 200 km nördlich von der Stadt New York.

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LexPI Bd. 1 New York 2 233

New York 2
In New York steht die Freiheitsstatue
Die berühmte Freiheitsstatue im Hafen von New York
steht nicht auf New Yorker Boden, weder dem der
Stadt noch dem des Staates; ihr Standort (das Liberty
Island, vormals Bedloe's Island) gehört zum Bundes-
staat New Jersey.
Die Freiheitsstatue heißt auch nicht »Statue of Li-
berty«, sondern offiziell »Liberty enlightening the
world.« (Zumindest wurde sie von den Franzosen, die
sie 1885 den Amerikanern schenkten, so genannt).
& Lit.: Stichwort »Statue of Liberty« in Encyclopae-
dia Britannica, 15. Auflage, Chicago 1976.

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LexPI Bd. 1 New York 3 233

New York 3
In New York leben Alligatoren im Kanalsystem
So war etwa im »Spiegel« nachzulesen. Aber weder
in New York noch sonstwo auf der Erde wurde jemals
ein Alligator im Kanalsystem entdeckt.
Dieser Irrtum gehört zur Klasse der sogenannten
»Großstadtmythen«; er taucht wie andere Anekdoten
dieser Klasse periodisch auf den Seiten »Vermisch-
tes« und »Aus aller Welt« in unserer Presse auf. Der
Dauerbrenner unter diesen Phantasie-Geschichten ist
die entführte Oma-Leiche: Der Freund eines Freundes
ist mit Familie und Oma auf Urlaub in Spanien unter-
wegs. Fürchterliche Hitze im Auto, und dann -Hitz-
schlag – stirbt auch noch die Großmutter. Die Familie
steht mitten auf der Landstraße, kein Mensch weit
und breit, also ab in die nächste Stadt, einen Toten-
schein besorgen, um die arme Frau zu beerdigen.
Doch den Kindern ist die Tote auf dem Rücksitz un-
heimlich – sie wollen nicht daneben sitzen bleiben.
Man berät und überlegt, schließlich wickelt man die
tote Oma in eine Zeltplane und legt sie auf das Dach
zum Dachgepäck.
In der Stadt angekommen, geht der Freund des
Freundes auf die Wache, um die Sache zu erklären. Es
dauert und dauert – der Freund des Freundes kann
kein Spanisch, die Polizei kein Deutsch, und die Frau
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 New York 3 233

geht mit den Kindern los, ein Eis zu kaufen. Doch als
sie zurückkommt, ist das Auto weg – gestohlen, mit
Gepäck und toter Großmutter! Und weder das Auto
noch die Großmutter sind jemals wieder aufgetaucht.
Und weil die Großmutter nicht offiziell gestorben
ist, kann die Familie auch das Erbe nicht antreten, das
nebenbei bemerkt nicht unbeträchtlich ist ...
Diese »wahre Begebenheit« war oft in Zeitungen
zu lesen; sie kursiert in Dutzenden von Varianten auf
allen Kontinenten dieser Erde. Einmal muß ein Per-
serteppich, einmal eine Mahagonikiste, einmal der
Kofferraum zum Transport der armen Oma dienen.
Das Auto verschwindet vor einer Polizeiwache, auf
einer Autobahnraststätte oder bei der Grenzkontrolle,
während die Familie en bloc kurz auf die Toilette
muß. Zuweilen wird auch nicht das ganze Auto, son-
dern nur der Teppich mit der Großmutter gestohlen,
oder liegt die Schwieger- statt die Großmutter darin.
Die Ratte in der Pizza, der Pudel in der Mikrowel-
le, die Spinne in der Yucca-Palme: Hier kommen
Wünsche, Ängste oder Aggressionen ungestraft ans
Tageslicht, hier können wir unseren heimlichen Ge-
fühlsschrott scheinbar ganz legal entladen. Indem wir
solche Erzählungen anhören und verbreiten, können
wir ohne schlechtes Gewissen und ohne Angst, dem
offiziellen Zeitgeist hinterherzuhinken, unser Unbeha-
gen gegen Ausländer, unsere Frustration mit einer viel
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 New York 3 234

zu gutmütigen Justiz, unseren Widerwillen gegen lok-


kere Moralbegriffe oder auch nur Neid und Schaden-
freude formulieren, ohne daß wir deshalb den Hütern
des korrekten Umgangstones eine Angriffsfläche
böten: Ein erboster Bauer kippt seine Mistfuhre in ein
seinen Feldweg versperrendes Ferrari-Cabrio (Neid).
Oder die Freundin einer Freundin, die einen nagelneu-
en Mikrowellenherd am Straßenrand entdeckt (Scha-
denfreude): Sie packt ihn in den Kofferraum und
denkt sich noch: Wer wirft nur solche Sachen weg,
bis tatü-tata eine Polizeistreife sie einholt und die Mi-
krowelle wiederhaben will. Weil es nämlich gar keine
Mikrowelle, sondern eine Radarfalle ist ...
So erfüllt auch die gestohlene Großmutter eine
sinnvolle Funktion: kein Platz für alte Menschen in
der Kleinfamilie, was soll man nur tun? Da kommt
der Diebstahl gerade recht, der einen geheimen
Wunsch erfüllt, ohne daß die Angehörigen sich des-
halb etwas vorzuwerfen haben. Denn schließlich wird
die Oma ja gestohlen ...
& Lit.: Bengt af Klingberg: Die Ratte in der Pizza,
Kiel 1990; Rolf Wilhelm Brednich: Die Spinne in
der Yucca-Palme, München 1990; Achim
Schwarze: Das Krokodil auf dem Rastplatz,
Frankfurt 1993. Eine Spezialsammlung mit mehr
als 60 wahren Begebenheiten, nur mit gestohlenen
toten Großmüttern, liefert die Volkskundlerin
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 New York 3 234

Linda Degh in ihrem Aufsatz »The runaway


grandmother« in Indiana Folklore 1968, Seite
46–77.

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LexPI Bd. 2 Nilpferde 237

Nilpferde
Nilpferde sind Pferde (s.a. ð »Präriehunde«)
Nilpferde sind Schweine, keine Pferde. Das Nilpferd
(auch Flußpferd oder Hippopotamus) ist wie das
Schwein ein sogenannter Paarhufer und bildet mit die-
sem die Unterordnung der Nichtwiederkäuer (Non-
ruminantia); Pferde sind Unpaarhufer und Angehörige
der gleichen Ordnung wie etwa Nashörner und Tapi-
re.
& Lit.: W. Eigener: Großes Farbiges Tierlexikon,
Herrsching 1992.

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LexPI Bd. 2 Nissenhütte 237

Nissenhütte
Die Nissenhütte hat ihren Namen von den
Läuseeiern namens Nissen
Die Nissenhütte hat ihren Namen nicht von den Läu-
sen, die angeblich in diesen Unterkünften gut gedei-
hen, sondern von dem kanadischen Bergbauingenieur
Peter Norman Nissen (1871–1930), der nach dem Er-
sten Weltkrieg vorgeschlagen hatte, zur Linderung der
Wohnungsknappheit stabile, halbzylinderförmige No-
tunterkünfte aus Wellblech herzustellen. Bei dieser
Bauart bilden Dach und Wände eine Einheit; sie kön-
nen Wind und Wetter besser trotzen, sie sind auch
mangels Ecken oder Kanten leicht zu säubern und
damit alles andere als ein Eldorado für die Läuse und
die Nissen.
& Lit.: Fritz C. Müller: Wer steckt dahinter, Eltville
1964.
¤ So lebten viele Deutsche noch vor 50 Jahren

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LexPI Bd. 1 Nitroglyzerin 235

Nitroglyzerin
Dieser Sprengstoff wurde nicht, wie die Legende be-
richtet, von dem Schweden Alfred Nobel
(1833–1896), sondern von dem Italiener Sobrero in
Paris erfunden. Damals war Nobel gerade 14 Jahre
alt.
Später, nach einer Ausbildung zum Ingenieur, ver-
suchte Nobel das Nitroglycerin zum Sprengen zu be-
nutzen, wobei er durch Zufall entdeckte, daß Nitrogly-
zerin mit Kieselgur ein relativ ungefährliches trans-
portfähiges Gemisch bildet, das eine kontrollierte De-
tonation ermöglicht – Dynamit. Die Möglichkeiten
dieses neuen Sprengstoffs wurden schnell erkannt, zu-
nächst für friedliche Zwecke beim Bau von Straßen,
Tunneln und Kanälen, bald aber auch für das Militär.
Nobel wurde durch seine Entdeckung zum reichen
Mann und stiftete dann, um diese ungewollten Konse-
quenzen seiner Erfindung zumindest teilweise zu mil-
dern, die begehrten Nobelpreise mit dem Friedensno-
belpreis an der Spitze. Aber der eigentliche Spreng-
stoff in seinem Dynamit stammt nicht von ihm.
& Lit.: Tad Tulleja: Fabulous Fallacies, New York
1982.

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LexPI Bd. 2 Nobelpreise 238

Nobelpreise
Alfred Nobel wollte seine Preise jedes Jahr verge-
ben
Die von Alfred Nobel gestifteten und aus seinem Ver-
mögen finanzierten Preise waren nach Nobels eigenen
Vorstellungen weder jährlich noch ewig zu vergeben.
Drei Jahre vor seinem Tod 1896 schrieb Nobel an
Bertha von Suttner, daß ein von ihm gestifteter Preis
alle fünf Jahre verteilt werden solle, höchstens aber
sechsmal. Wenn es nach diesen 6 x 5 = 30 Jahren
nicht gelänge, das »gegenwärtige System« grundle-
gend anders zu gestalten, dann könnten solche Preise
daran auch nichts ändern.
& Lit.: Brockhaus – Wie es nicht im Lexikon steht,
Mannheim 1996.

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LexPI Bd. 2 Nobler Wilder 1 238

Nobler Wilder 1
Der »noble Wilde« ist eine Wortschöpfung von
Jean-Jacques Rousseau
Schon im Jahr 1700, zwölf Jahre vor Rousseaus Ge-
burt, dichtete der Engländer John Dryden
(1631–1700): »When wild in the woods the noble sa-
vage ran ...«
& Stichwort vorgeschlagen von H. van Maanen.

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LexPI Bd. 2 Nobler Wilder 2 238

Nobler Wilder 2
Naturvölker gehen mit Natur und Umwelt pflegli-
cher um als »zivilisierte« Menschen
Naturvölker ruinieren, wenn sie können, ihre Umwelt
genauso gründlich wie so manche entwickelten Natio-
nen. So haben etwa die vor 12.000 Jahren über die
Beringstraße nach Amerika eingewanderten Vorfah-
ren der heutigen Indianer die Großwild-Fauna Norda-
merikas durch rücksichtsloses Jagen binnen weniger
Jahrhunderte fast völlig ausgerottet. Wilde Kamele,
Pferde, Lamas, Antilopen, Tiger, Rehe, Hirsche –
Dutzende von Säugetieren, die vor der Ankunft der
noblen Wilden den amerikanischen Kontinent bevöl-
kerten, waren wenige hundert Jahre später nicht mehr
da; über 75% aller großen nordamerikanischen Säu-
getiere sind durch die Vorfahren der heutigen Indianer
ohne Rücksicht auf Verluste ausgerottet worden.
Die Prozedur war einfach: Diese Tiere waren Men-
schen nicht gewohnt, sie liefen nicht weg und waren
mühelos mit Stöcken und mit Speeren totzuschlagen.
Auf die gleiche Weise, nämlich indem sie die an
menschliche Jäger nicht gewöhnten Tiere ohne Mühe
fingen und verspeisten, haben auch die ersten Siedler
auf den Inseln des Pazifik deren Fauna rigoros ge-
plündert. Auf Hawaii z.B. gab es vor der Ankunft der
ersten Ureinwohner um 300 n. Chr. 300 rund Arten
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nobler Wilder 2 239

von Vögeln, viele davon groß und flugunfähig; im


Jahr 400 n. Chr. war die Hälfte davon ein für allemal
verschwunden, und tausend Jahre später brachten es
die Vorfahren der Maoris in Neuseeland sogar fertig,
sämtliche Arten der sog. »Moas«, große, fluguntaugli-
che Vögel mit einem Gewicht von bis zu einer Vier-
teltonne, restlos zu verspeisen. Und so zieht sich eine
Riesenspur von Öko-Terror durch alle Länder dieser
Erde, in denen noble Wilde eine Möglichkeit besa-
ßen, ihren Jagdtrieb auszuleben.
Und was ist mit der berühmten nachhaltigen wilden
Lebensweise? Wo bleibt die so oft zitierte Rede des
Indianerhäuptlings Chief Seattle aus der Mitte des 19.
Jahrhunderts: »Every part of this earth is sacred to my
people (...) the earth does not belong to man, man be-
longs to earth ...« usw.? Antwort: Die naturschonende
Lebensweise mancher wilder Völker ist ein Gebot der
Not und nicht der Tugend (man würde die Natur
gerne ausbeuten, wenn man nur könnte), und die Rede
von Chief Seattle wurde von einem amerikanischen
Drehbuchautor frei erfunden.
& Lit.: Matt Ridley: »Ice age politics. Why did the
big mammals suddenly die out in America?«, Pro-
spect, Juni 1996, S. 30–33.

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LexPI Bd. 2 Nordpol 240

Nordpol
Der Amerikaner Robert Peary hat als erster
Mensch den Nordpol erreicht
Bekanntlich wird die Tat des amerikanischen Piloten
Richard E. Byrd, der laut Lexikon im Jahr 1926 als
erster Mensch den Nordpol überflogen haben soll, seit
neuestem bezweifelt: Byrd soll sich beim Navigieren
verrechnet haben wie die jüngst ausgewerteten Auf-
zeichnungen des Piloten selber zeigen, ist sein An-
spruch »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit« nicht durch Fakten zu begründen.
Weniger bekannt ist, daß auch Robert Peary, der
erste Fußgänger am Nordpol, diesen Ehrenkranz zu
Unrecht trägt. Zwar kam Peary dem Nordpol rekord-
verdächtig nahe, aber ganz erreicht hat er diesen
Punkt des Erdballs, an dem sich alle Längengrade
treffen, 90 Grad nördlicher Breite, nach Lage der In-
dizien vermutlich nicht. »Endlich der Pol!« notierte
Peary zwar am 6. April 1909 in sein Tagebuch, aber
entweder hatte sich Peary so wie Byrd verrechnet (der
Nordpol liegt unter Treibeis und Peary war von seiner
geplanten Route abgedriftet), oder er hatte, wohl wis-
send, daß er nicht den Pol getroffen hatte, seinen Zeit-
genossen einen Bären aufgebunden. Für letzteres
spricht Pearys z.B. ungewöhnlich exakte Ortsbestim-
mung: 89 Grad, 57 Minuten und 11 Sekunden nörd-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nordpol 240

licher Breite, rund 5 km vom Pol entfernt, was für alle


praktischen Zwecke als Volltreffer zählt und wohl
auch zur Erzeugung dieser Illusion geplant war. In
Wahrheit konnte Peary seine Position unmöglich bis
auf 30 Meter genau bestimmen (darauf laufen die 11
Bogensekunden hinaus). Selbst mit moderner Satelli-
tennavigation wäre das ein Meisterstück; zu Pearys
Zeiten war eine derart präzise Ortsbestimmung abso-
lut unmöglich.
Mit diesem Trick, nämlich mittels überexakter
Ortsangaben eine imaginäre Leistung vorzutäuschen,
hatte ein Jahr vor Peary schon sein Landsmann Cook
die Welt genarrt: Indem er fast jeden Meter seiner
Reise mit erfundenen Längen- und Breitengraden gar-
nierte, konnte er sich mehrere Monate als der erste
Mensch am Nordpol feiern lassen.
& Lit.: R.B. Downs: Scientific Enigmas, Littleton
1987 (besonders das Kapitel »North pole disco-
very«); W. Herbert: »Did Peary reach the pole?«,
National Geographic, September 1988; P. Wal-
lich: »Polar heat: an argument continues over an
explorer's good name«, Scientific American, März
1990; »Zweifel am Flugrekord zum Nordpol«,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.5.1996; Ro-
bert M. Bryce: Cook and Peary: the polar contro-
versy, resolved, Mechanicsburg 1997.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nostradamus 241

Nostradamus
Nostradamus konnte in die Zukunft sehen (s.a. ð
»Titanic 3«, ð »Bibel« sowie in Band 1 ð »Tode-
sträume«)
Der französische Literat und Mediziner Michel de
Nostradamus (1503–1566) war als Hobbykomiker
begabter als in seinem Brotberuf als Arzt. Sein Re-
zept war einfach. Man verfasse tausend Kurzgedichte
der Art:

Früher oder später wird großes Unheil über ...


(undeutlich schreiben) kommen;
es wird regnen Hunde und Katzen,
die (undeutlich schreiben) werden fressen ihre
Kinder,
und der große Fürst des Morgenlandes, usw.

So hat Nostradamus die Atombombe, den Zweiten


Weltkrieg, das Space-Shuttle-Desaster, die Berliner
Mauer, die Scheidung von Prince Charles und Lady
Di und natürlich auch den Unfalltod von Lady Di vor-
hergesehen. Für alle diese Ereignisse und Dramen
gibt es irgendwo in Nostradamus' Schriften einen Ab-
satz, der hinreichend deutlich dazu paßt. Hier eine ty-
pische Beispielstrophe; zunächst das französische
Original:
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nostradamus 241

Avant conflit le grand mur tombera,


Le Grand à mort, mort trop subite et plainte.
Nef imparfait la plus part nagera,
Auprès du fleuve de sang la terre sainte.

Offensichtlich – so die Übersetzung von John Charles


de Fontbrune – handelt es sich hier um den Sturm auf
die Bastille und die Hinrichtung Ludwigs XVI.:

Vor dem Kriege wird die große Mauer einstürzen,


der König wird hingerichtet werden;
sein Tod wird zu plötzlich sein und beklagt
werden.
Bevor er seine Herrschaft abgeschlossen hat,
werden die meisten (Wachen) im Blut schwimmen;
nahe dem Fluß (der Seine) wird der Boden von
Blut befleckt sein.

In der Übersetzung von Alexander Centurio lauten die


gleichen Verse dagegen so:

Vor dem Konflikt wird der Große stürzen,


Der Große kommt zu Tode und erleidet einen
plötzlichen und
beklagenswerten Tod:
die Flottenausrüstung ist unfertig, der größte Teil
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nostradamus 242

wird ertrinken,
Die Ufer am Strom sind mit Blut gefärbt.

Gemeint ist jetzt der Erste Weltkrieg und das Attentat


von Sarajevo, die halbfertige deutsche Flotte und die
Schlacht von Tannenberg, in deren Verlauf viele der
geschlagenen Russen in den Masurischen Seen ertrun-
ken sind. Wieder andere Interpreten sehen in den obi-
gen Zeilen die Kubakrise und das Attentat auf Kenne-
dy, wieder andere die chinesische Kulturrevolution,
und wer will, kann hier auch den tragischen Tod sei-
nes Lieblings-Bademeisters in einem Baggersee er-
kennen. Hier eine weitere gern zitierte
Nostradamus-Prophezeiung:

Le tiers premier pis que ne fit Neron


Vuider vaillant que sang humain repandre:
rédifier fera le forneron
Siècle d'or mort, nouveau Roy grand esclandre.

Das heißt in der Übersetzung von Alexander Centu-


rio:

Der Dritte Stand wird zum ersten,


aber er wird schlimmere Taten vollbringen als
Nero.
Seht nur, wieviel Blut von tapferen Menschen er
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nostradamus 242

vergießt.
Er wird die Öfen (das Tuilerienschloß) neu erbauen
lassen,
das goldene Zeitalter ist tot,
eine neue Dynastie kommt, die in einem großen
Skandal endet.

Nach Centurio hat Nostradamus hier die Französische


Revolution und die Guillotine vorausgesehen, in der
Nähe der Tuilerien, »wo einst die Ziegelöfen lagen«.
Damit endet das goldene Zeitalter, es kommt die Dy-
nastie Napoleons, die mit den allseits bekannten
Skandalen endet. Schon lange vor der Französischen
Revolution hatte allerdings Théophile de Garancières
in diesen Versen den französischen König Charles
IX. (1550–1574) wiedergefunden, während wieder
andere hier die russische Oktoberrevolution und deren
Folgen für die Weltgeschichte (Dimde), nochmals an-
dere aber Hitler und die Nazis wittern (de Fontbrune):

Der Erste des Dritten (Reiches) wird noch


Schlimmeres tun als Nero.
Er wird besonders tapfer sein, wenn es darum geht,
Menschenblut zu vergießen.
Er wird Öfen (Krematorien) errichten lassen.
Das goldene Zeitalter wird ein Ende haben,
und der neue König (Führer) wird einen großen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nostradamus 243

Skandalverursachen.

Und so weiter durch Hunderte von ähnlichen Vierzei-


lern, die Nostradamus insgesamt der Nachwelt hinter-
lassen hat. Der »chemin des montagnes cavées«, der
in einem der Nostradamus-Verse auftaucht, ist den
einen der St.-Gotthard-Tunnel und den anderen eine
»Straße der hohlen Gebirge«, also der von Wolken-
kratzern (hohlen Gebirgen) gesäumte Broadway in
New York. Erwähnt Nostradamus eine Rose, sehen
die einen eine Anspielung auf Roosevelt, die anderen
ein Sinnbild für den Sozialismus, wieder andere den
Rosenkranz, und ein gewisser »chef rouge«, der in
einem der Vierzeiler vorkommt, ist je nach Bedarf als
Kardinal Mazarin, Kardinal Richelieu (bzw. wegen
der roten Kardinalsgewänder als jeder andere Kardin-
al), aber auch als Mao Zedong oder Robespierre zu
lesen, und die in den Versen des Nostradamus häufig
auftretenden unspezifizierten Seuchen und Naturdesa-
ster passen auf alles von Aids bis Kinderlähmung,
von »Global Warming« bis zur letzten Überschwem-
mung an der deutschen Nordseeküste.
& Lit.: Théophile de Garencières: The true prophe-
cies of Michael Nostradamus, London 1672; Ale-
xander Centurio: Nostradamus. Prophetische
Weltgeschichte, München 1977; John Charles de
Fontbrune: Nostradamus, Historiker und Prophet,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Nostradamus 244

Wien 1991; Manfred Dimde: Nostradamus total,


Essen 1994; S. Capel: Die Prophezeiungen des
Nostradamus, Erlangen 1995; Walter Krämer und
Michael Schmidt: Das Buch der Listen, Frankfurt
a.M. 1997 (besonders das 29. Kapitel »Blick
nach vorne ...«, woraus auch die obigen Pseudo-
Nostradamus-Verse übernommen sind); Eckhard
Henscheid, Gerhard Henschel und Brigitte Kron-
auer: Kulturgeschichte der Mißverständnisse,
Stuttgart 1997 (besonders der Abschnitt »Nostra-
damus total verrückt«).

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O 245

»Ich habe das schon oft bemerkt, die Leute von


Profession wissen oft das beste nicht.«
Georg Christoph Lichtenberg

»Je populärer eine Idee, desto


weniger denkt man über sie nach,
und desto wichtiger ist es also,
ihre Grenzen zu untersuchen.«
Johann Christoph Lichtenberg

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LexPI Bd. 2 O.k. 246

O.k.
»O.k.« kommt von »Oberkommando«
Weil ein für die Amerikaner kämpfender deutscher
General im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg
seine Dokumente derart abgestempelt habe, so eine
alte Überlieferung, wäre das Kürzel »OK« in das
Englische gekommen.
Dieser Mythos ist nur einer von vielen falschen Ab-
leitungen, welche diese beiden Buchstaben umgeben.
Andere von Sprachforschern als falsch entlarvte Ge-
burtsgeschichten sind: OK als telegraphisches Signal
für »Open Key« (= empfangsbereit), OK als indiani-
sches »okeh« = ja, OK als Abkürzung der Keksfabrik
O. Kendall & Sons, die ihre Produkte mit diesen In-
itialen schmückte, oder OK als Abkürzung für den
notorischen deutschen Qualitätsinspektor Oskar
Kandler (Otto Kleinschmidt, Oswald Krummbein
usw.), der so den von ihm für gut befundenen Waren
seinen Stempel mitgegeben haben solle.
In Wahrheit ist OK vermutlich als eine Kurzform
des verballhornten englischen Ausdrucks »oll correct«
entstanden. Derartige Abkürzungen von bewußt
falsch geschriebenen englischen Wörtern waren in
den USA um 1840 große Mode: KG für »Know go«
(= no go = geht nicht), KY für »Know yuse« (= no
use = nutzlos) usw. Die meisten dieser Moden ver-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 O.k. 246

schwanden genauso schnell, wie sie gekommen


waren; da OK sich aber so vortrefflich für alle mögli-
chen Anspielungen im damals gerade ablaufenden
Präsidentenwahlkampf eignete (der demokratische
Kandidat Martin van Buren hatte nach seinem Ge-
burtsort Kinderhook im Staat New York den Spitzna-
men »Old Kinderhook«), blieb von allen diesen
Scherzen nur OK am Leben.
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's?«, Die Zeit,
29.8.1997.

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LexPI Bd. 1 Obst 236

Obst
Nach dem Genuß von Obst soll man kein Wasser
trinken
So haben wir als Kind von unserer Mutter oft gehört:
»Junge, nicht immer nach dem Apfel so viel Wasser
trinken, davon kriegst du Bauchweh!«.
Diese Warnung ist aber überholt, wenn wir der
Bundesforschungsanstalt für Ernährung glauben dür-
fen. Denn Wasser als solches ist mit Obst durchaus
verträglich. Früher enthielt unser Trinkwasser auch
noch alle möglichen Keime, die brachten die Früchte
im Magen zum Gären, mit den bekannten Folgen
Bauchweh, Blähungen und Durchfall. Das ist aber bei
dem weitgehend keimfreien modernen Trinkwasser
nahezu ausgeschlossen.

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LexPI Bd. 2 Öffentlicher Personennahverkehr 245

Öffentlicher Personennahverkehr
Der Öffentliche Personennahverkehr wird in den
USA seit jeher kleingeschrieben
Es ist heute kaum zu glauben, aber ausgerechnet die
USA, das Mekka der Individualisten und des indivi-
duellen Autos, unterhielten einstmals den am besten
ausgebauten öffentlichen Nahverkehr der Welt. Um
die Wende zum 20. Jahrhundert hatte kein Land der
Erde mehr Straßenbahnen als die USA; die deutsche
Reichshauptstadt Berlin, die damals unter allen euro-
päischen Metropolen das längste Netz von öffentli-
chen Straßenbahnen hatte, wäre in den USA nicht
unter die ersten 20 Städte gekommen, und im Spitzen-
jahr 1923 gab es in den USA mehr als 20.000 Kilo-
meter öffentliche Straßenbahnen, die meisten in der
modernen Autobahnzentrale Los Angeles.
Aber von da an ging es bergab. Aus den Straßen-
bahnen wurden Busse (nicht ohne tatkräftige Nachhil-
fe der US-Automobilkonzerne), aus den Bussen wur-
den Autos, und heute kommt man in einer typischen
amerikanischen Großstadt ohne eigenen fahrbaren
Untersatz kaum noch um die nächste Straßenecke.
& Lit.: »Survey of America«, The Economist,
26.10.1991; B. Bryson: Made in America, Lon-
don 1995; Stichwort vorgeschlagen von Dietrich
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Öffentlicher Personennahverkehr 245

Groh.

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LexPI Bd. 1 Ohrwurm 1 236

Ohrwurm 1
Ohrwürmer sind Würmer
Ohrwürmer sind Insekten, keine Würmer.
¤ Männchen des großen Ohrwurms (Forficula gigan-
tea) und des gemeinen Ohrwurms (Forficula auri-
cularia) in fliegender Stellung

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LexPI Bd. 1 Ohrwurm 2 236

Ohrwurm 2
Der Ohrwurm verkriecht sich gern in unseren
Ohren
Ohrwürmer (englisch »earwig«, französich »perce-or-
eille«, spanisch »gusano del oido«) kriechen niemals
freiwillig in unsere Ohren – sie können unser bitteres
Ohrschmalz nicht vertragen und würden auch in den
Ohren der Menschen nichts zu fressen finden (sie
leben von Blättern und anderen Insekten). Ihren
Namen haben sie von ihren Hinterflügeln, die einem
Menschenohr sehr ähnlich sehen.
& Lit.: Stichwort »Earwig« in Microsoft CD-ROM
Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Öko-Bewußtsein 237

Öko-Bewußtsein
Grün-Wähler sind besonders umweltbewußt
Über 26 Prozent der Grün-Wähler starteten 1992 mit
dem Flugzeug in den Urlaub, in der Gesamtbevölke-
rung nur 23 Prozent. 7 Prozent der Anhänger der Grü-
nen kennen die Karibik, in der Gesamtbevölkerung
nur 4 Prozent. 20 Prozent der Leser von »Natur« be-
stellen in Restaurants häufig Menus für über 75
Mark, in der Gesamtbevölkerung nur 13 Prozent. Und
fast ein Drittel der Leser dieses Umweltmagazins be-
kennen sich dazu, »auch unnötige Dinge zu kaufen«,
in der Gesamtbevölkerung nur 26 Prozent.
Diese »unnötigen Dinge«, diese Reisen in die Kari-
bik, die pro Person mehr Treibstoff kosten als ein
Manta-Fahrer auf 10000 Autobahnkilometern
braucht, diese Feinschmeckermenus in Luxusrestau-
rants, die inklusive des kostspieligen Antransports der
Zutaten die Umwelt weitaus stärker belasten als Dut-
zende von Big Mac's bei McDonald's, diese Extras,
die sich Grün-Wähler aufgrund ihres höheren Ein-
kommens öfter als andere gerne gönnen und gönnen
können, gleichen die Pinkeltaste auf der Toilette und
den Dreiwegkatalysator im Familienauto mehr als
aus.
PS: Über 50 Prozent der Grün-Wähler in unserem
persönlichen Bekanntenkreis fahren Autos mit sechs
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LexPI Bd. 1 Öko-Bewußtsein 237

Zylindern oder mehr.


& Lit.: Gunnar Sohn: Die Öko-Pharisäer, Frankfurt
1995.

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LexPI Bd. 2 Öko-Diesel 246

Öko-Diesel
Der Öko-Diesel ist besonders umweltfreundlich
Der Öko-Diesel fährt mit Treibstoff, der auf Feldern
wächst, mit Rapsölmethylester (RME) genaugenom-
men; außerdem setzt er deutlich weniger Schwefeloxi-
de und Kohlenmonoxide als konventionelle Autos
frei.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Bei
anderen Abgasen wie etwa Stickoxiden liegt der Öko-
Diesel höher, und auch das Hauptargument der Öko-
Diesel-Freunde, daß nämlich durch die Verbrennung
des Treibstoffs nicht mehr Kohlendioxid frei würde,
als vorher durch den Rapsanbau gebunden wurde (mit
anderen Worten, der Öko-Diesel ist neutral bezüglich
dieses Treibhausgases), gilt inzwischen als erschüt-
tert: Die bei der Verarbeitung des Rapsöls anfallen-
den Kohlendioxide und sonstigen Schadstoffe sind ja
auch zu zählen, und es wird inzwischen nicht mehr
ausgeschlossen, daß der Öko-Diesel bei Einrechnung
aller indirekten Kosten die Umwelt netto mehr bela-
stet als ein normales Auto von der Stange.
& Lit.: »Der Öko-Diesel verdient seinen Namen
nicht«, Die Welt, 15.6.1995.

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LexPI Bd. 2 Ökosteuern 1 247

Ökosteuern 1
Die Besteuerung von Energie ist umweltfreund-
lich und schafft Arbeitsplätze
Nicht im nationalen Alleingang, und nicht, wenn pro-
duktiv genutzte Energie versteuert wird. Die vieldis-
kutierte These des Deutschen Instituts für Wirt-
schaftsforschung in Berlin (DIW), daß eine ökologi-
sche Steuerreform auch im nationalen Alleingang
wirtschaftsverträglich, ja sogar wirtschaftsfördernd
wäre, ist nach Mehrheitsmeinung deutscher wie auch
internationaler Ökonomen nicht zu halten.
Richtig und unter Ökonomen unbestritten ist: Jedes
Individuum und jedes Unternehmen hat im Idealfall
für die bei Konsum und Produktion verursachten
Schäden selber aufzukommen; nur so ist garantiert,
daß knappe Mittel effizient verwendet werden. Wer
seinen Mist in Nachbars Garten schütten darf, ohne
daß es direkt etwas kostet, produziert bzw. konsu-
miert nur scheinbar billig, die indirekten Kosten über-
steigen oft den Nutzen, das Ganze ist gesamtwirt-
schaftlich unrentabel.
Das Problem ist nur: Wie die Verschmutzer opti-
mal zur Kasse bitten?
Bei Haushalten ist die Sache einfach: Man verteu-
ert den Konsum (bestes Beispiel: Pfand auf Einweg-
flaschen oder Steuern auf Benzin). Bei Unternehmen
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LexPI Bd. 2 Ökosteuern 1 247

ist die Sache aber komplizierter, hier sind die vieldis-


kutierten Ökosteuern mit ihrem Schwerpunkt auf der
Besteuerung des Energieverbrauchs in ihrer Wirkung
sehr umstritten. Anders als Steuern auf den internati-
onal immobilen und angebotsunelastischen Produkti-
onsfaktor Arbeit können z.B. Unternehmen Steuern
auf den international mobilen und angebotselastischen
Produktionsfaktor Energie, sofern nur isoliert erho-
ben, sehr leicht unterlaufen: Sie verlagern ihre Pro-
duktion ins Ausland – Einkommen, Produktion und
Arbeitsmarkt des Steuerlandes leiden, die Umwelt
profitiert wenn überhaupt nur minimal, denn der
Energieverbrauch nimmt ja nicht ab, er findet nur wo-
anders statt.
Anders als viele Befürworter eines nationalen Al-
leingangs bei der Energiebesteuerung glauben, läßt
sich dieser negative Effekt für Produktion und Ar-
beitsplätze auch nicht durch gleichzeitige Senkung
der Lohnnebenkosten in gleicher Höhe unterbinden.
Wie sich durch einen Appell an das sog. »Produkti-
onsmöglichkeitentheorem« beweisen läßt, bleibt auch
dann die Besteuerung der Arbeit effizienter, es ist
grundsätzlich immer eine Besteuerung desjenigen
Produktionsfaktors vorzuziehen, dessen Angebot auf
die Besteuerung am wenigsten elastisch reagiert, des-
sen Besteuerung also die geringsten Ausweichhand-
lungen und damit auch die geringsten durch diese
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Ökosteuern 1 248

Ausweichhandlungen erzeugten Zusatzlasten produ-


ziert.
Ökosteuern auf industriell genutzte Energie sind
nur im internationalen Gleichschritt sinnvoll; nationa-
le Alleingänge provozieren Ausweichmanöver zu La-
sten von Produktion und Arbeitsplätzen, ohne daß die
Umwelt dadurch netto weniger belastet wird.
& Lit.: K. Krebs und D. Reiche: Der mühsame Weg
zu einer ökologischen Steuerreform, Frankfurt
a.M. 1996; W. Richter: Ȇber die Ineffizienz
einer nationalen Energiesteuer«, WiSt 3/1997; W.
Richter und W. Wiegard: »Die Ökosteuer in der
Waagschale der Ökonomie«, Frankfurter Allge-
meine Zeitung, 3.3.1997; »Ökosteuer: Ernüchte-
rung bei den Anhängern höherer Energieabga-
ben«, Der Spiegel 22/1997; Stichwort vorgeschla-
gen von Wolfram Richter.

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LexPI Bd. 2 Ökosteuern 2 248

Ökosteuern 2
Mit Ökosteuern kann man simultan den Staats-
haushalt bestreiten und der Umwelt helfen
Man kann mit Ökosteuern nicht zugleich der Umwelt
und dem Fiskus helfen, diese Ziele widersprechen
sich. Entweder fallen Steuern an – das setzt aber vor-
aus, daß vorher die Umwelt belastet wurde –, oder die
Umwelt wird nicht belastet, dann kassiert der Fiskus
aber auch keine Steuern. Wenn alle Menschen Um-
weltengel würden, fiele das Steueraufkommen gegen
Null. Mit anderen Worten, der Staat wird auch in Zu-
kunft seine Einnahmen zum größten Teil aus anderen
Quellen als aus Ökosteuern schöpfen müssen.
»Es mag sein, daß Umweltabgaben umweltpoli-
tisch vorteilhaft sind«, schreibt der Wissenschaftliche
Beirat beim Bundesministerium der Finanzen. »Sie
würden diesen Vorteil auch aus ökonomischer und
speziell finanzwissenschaftlicher Sicht nicht einbü-
ßen, wenn sie in wohl austarierter Weise das Steuer-
system ergänzten. Vom oft geforderten dramatischen
ökologischen Umbau des Steuersystems ist hingegen
abzuraten. Als tragende Säule des Steuersystems sind
Umweltsteuern nicht geeignet.«
& Lit.: Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.):
Umweltsteuern aus finanzwissenschaftlicher
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Ökosteuern 2 249

Sicht – Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats


beim Bundesministerium der Finanzen, Bonn
1997.

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LexPI Bd. 2 Oktoberrevolution 1 249

Oktoberrevolution 1
Die Oktoberrevolution war im Oktober
Die russische Oktoberrevolution fand am 7. Novem-
ber 1917 statt. Aber nach dem damals in Rußland
gültigen Kalender war das der 25. Oktober.

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LexPI Bd. 2 Oktoberrevolution 2 249

Oktoberrevolution 2
Die Oktoberrevolution war eine blutige Affäre
(s.a. ð »Winterpalais«)
Die russische Oktoberrevolution war einer der unblu-
tigsten Regierungswechsel der gesamten Weltge-
schichte – an einem normalen Wochenende kommen
in einem deutschen Bundesland mehr Menschen durch
Gewalt und Unfälle ums Leben als in ganz Rußland
während der Oktoberrevolution des Jahres 1917.
Zunächst einmal dauerte die Oktoberrevolution nur
24 Stunden: Am 25. Oktober (laut russischem Kalen-
der) gegen zwei Uhr morgens besetzen bolschewisti-
sche Matrosen und Soldaten, ohne auf Widerstand zu
stoßen, die Petrograder Bahnhöfe und Telegraphen-
ämter, im weiteren Verlauf der Nacht und des frühen
Morgens auch wichtige Banken, Brücken und Regie-
rungsbauten. Den Wachmannschaften, falls vorhand-
en, sagte man, sie sollten nach Hause gehen. Die Bol-
schewiki »traten ein und nahmen Platz, während die-
jenigen, die dort saßen, sich erhoben und weggingen.
(...) Es wurde kein Widerstand geleistet, und nirgends
fiel ein Schuß«.
Am Abend wird dann noch das Winterpalais, der
Sitz der provisorischen Regierung Kerenski, »ge-
stürmt«, und nachts verkündet Trotzki: »Die Regie-
rung ist gestürzt.« Bis dahin hatte es weniger als ein
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Oktoberrevolution 2 250

Dutzend Tote gegeben, die meisten davon im Dunkeln


von ihren eigenen Genossen erschossen. Daß wir den-
noch mit der Oktoberrevolution die Vorstellung eines
gewaltsamen Aufbegehrens gegen großen Widerstand
verbinden, liegt einmal an der geschickten Propagan-
da der Bolschewisten und an ihrer Medien-Lobby
weiter westlich, zum anderen an den tatsächlichen
Greueln, die dann folgen sollten. Die Machtergreifung
selbst jedoch fand weitestgehend ohne Mord und Tot-
schlag statt.
& Lit.: Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund
1988; Peter Preis: Die Russische Revolution, Ber-
lin 1992.

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LexPI Bd. 2 Olivenöl 250

Olivenöl
Olivenöl ist das gesündeste Speisefett
»Unbestritten ist, daß die Mittelmeerküche auf der
Basis von Olivenöl vor Arteriosklerose und Herzin-
farkt besser schützt als die Verwendung tierischer
Fette«, schreibt Bild der Wissenschaft. »Verantwort-
lich dafür ist der hohe Anteil ungesättigter Fettsäuren
im Olivenöl. Noch gesünder für Herz und Kreislauf
sind aber Distel-, Sonnenblumen- und Sojaöl mit
ihrem hohen Gehalt an mehrfach ungesättigten Fett-
säuren. Außerdem sind mehrfach ungesättigte Fettsäu-
ren wichtige Ausgangspunkte zur Stärkung des Im-
munsystems. Aber auch tierische Fette können hohe
Anteile ungesättigter Fettsäuren enthalten: so ist das
vielgeschmähte Gänseschmalz dem Olivenöl in die-
sem Punkt fast ebenbürtig.«
& Lit.: »Fünf Vorurteile übers Essen«, Bild der
Wissenschaft 1/1997, S. 68; Stichwort vorge-
schlagen von Henning Thielemann.
¤ Anteile gesättigter sowie einfach und mehrfach un-
gesättigter Fettsäuren in ausgewählten Speisefet-
ten: Mit Abstand am ungesündesten – in diesem
Sinn – ist unsere »gute« Butter.

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LexPI Bd. 1 Ölkrise 237

Ölkrise
Die Ölkrise der 70er Jahre war eine historische
Premiere
Die Ölkrise der 70er Jahre war weder die erste noch
die letzte Rohstoffkrise auf der Erde; solche Krisen
begleiten die Menschen, seit es Menschen gibt.
Nehmen wir die große Holzkrise im England des
16. Jahrhunderts; damals war Holz wie heute Öl die
wichtigste Energie- und Rohstoffquelle überhaupt;
man heizte mit Holz, man baute mit Holz, man lebte
mit Holz, und als das Holz zu Ende ging, schien das
Ende der englischen Volkswirtschaft gekommen.
Oder die große Bronzeknappheit im vor-antiken Grie-
chenland, der komplette kriegsbedingte Ausfall von
Rohstoffen wie Salpeter oder Kautschuk im Deutsch-
land des ersten und im Amerika des zweiten Welt-
kriegs, oder die bisher größte Rohstoffkrise aller Zei-
ten: die große Nahrungsknappheit vor rund 10.000
Jahren, als prozentual mehr Menschen weltweit Hun-
gers starben als jemals vorher oder nachher auf der
Erde.
Aber genau wie die Ölkrise wurden auch diese Kri-
sen durch neue Produktionsmethoden (Ackerbau und
Viehzucht statt Jagen und Sammeln, Eisen statt Bron-
ze, Kohle statt Holz, Kunstdünger statt Salpeter etc.)
ohne große Mühen überstanden.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ölkrise 238

& Lit.: Charles Maurice und Charles W. Smithson:


The doomsday myth: 10.000 years of economic
crisis, Stanford 1984.

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LexPI Bd. 2 Olympiade 251

Olympiade
Olympiade ist ein anderes Wort für die Olympi-
schen Spiele
Die einen wissen es, die anderen, wie Präsident Rea-
gan, wissen es nicht: Als er 1984 die »23. Olympia-
de« in Los Angeles eröffnete, meinte er die 23. Olym-
pischen Spiele, sprach aber von der Zeit danach: die
Olympiade ist der Zeitraum zwischen zwei Olympi-
schen Spielen.
& Stichwort vorgeschlagen von Peter Hofman und
Brigitte Morgenroth.

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LexPI Bd. 1 Olympische Spiele 238

Olympische Spiele
Die Olympischen Spiele der Neuzeit wurden zur
Förderung des Spitzensports ins Leben gerufen
Die modernen Olympischen Spiele waren bei ihrer
Gründung nur indirekt dem Spitzensport gewidmet,
trotz ihres Mottos »Citius, Altius, Fortius« (lateinisch
für »schneller, höher, stärker«), waren sie, zumindest
nach den Plänen ihres Gründers, in erster Linie zur
Förderung des Breitensports gedacht.
Als Pierre de Coubertin die moderne olympische
Bewegung 1894 auf einem Kongreß an der Pariser
Sorbonne ins Leben rief (sehr zur Überraschung der
übrigen Kongreßteilnehmer übrigens, die vor allem
zwecks Diskussion von Amateurstatuten angereist
waren und von den Plänen Coubertins nichts ahnten),
wollte er die Olympischen Spiele vor allem als An-
sporn für den Sport der breiten Masse sehen: »Ihr
Zweck ist die Ehrung und Hervorhebung der Athleten,
deren außergewöhnliche Leistungen den für allgemei-
ne sportliche Betätigungen nötigen Ehrgeiz und Wet-
teifer nähren.« Denn »um zu erreichen, daß hundert
sich den Leibesübungen widmen, müssen fünfzig
Sport treiben. Damit fünfzig Sport treiben, müssen
zwanzig sich spezialisieren. Damit zwanzig sich spe-
zialisieren, müssen fünf erstaunlicher Leistungen
fähig sein.«
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LexPI Bd. 1 Olympische Spiele 238

Auch die Aufgabe des Internationalen Olympischen


Komitees sah Coubertin in erster Linie darin, mög-
lichst viele Menschen hin zum Sport zu führen: »Wir
müssen daran arbeiten, den Sport im Alltag zu er-
leichtern, die günstigen, den einzelnen anregenden
Gelegenheiten zu vermehren, unnütze Hindernisse aus
dem Weg zu räumen und komplizierte Regeln zu ver-
einfachen. Laßt uns überall das Sportgerät in Sicht-
weite aufstellen, seiner Vervollkommnung wie seiner
billigen Herstellung unsere Aufmerksamkeit schen-
ken.«
Den Lärm, »der wegen gewisser Champions ge-
macht wird«, hat Coubertin dagegen von Anfang an
mit Mißtrauen verfolgt; nach den ersten Spielen
schreibt er einem Freund: »Ich kann von mir kaum
sagen, daß ich zufrieden bin. Der Glanz der Olympi-
schen Spiele blendet mich ganz und gar nicht.« Tief
enttäuscht vom Rummel um die Spitzensportler trat er
deshalb 1925 als Präsident des IOC zurück.
& Lit.: Willi Daume: »Die Olympischen Spiele:
Idee und Wirklichkeit«, Meyers Enzyklopädisches
Lexikon, Mannheim 1976, Band 17, 641–644.

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LexPI Bd. 2 Olympische Spiele. 251

Olympische Spiele
Bei den Olympischen Spielen der Antike war die
Fairneß großgeschrieben
Die antiken Olympioniken waren weder unbezahlte
(siehe Band 1 ð »Olympische Spiele«) noch beson-
ders faire Sportler: Beim sogenannten »Pankration«
zum Beispiel, einer Mischung aus Boxen und Ringen,
war außer Beißen alles erlaubt, auch Fußtritte in den
Unterleib.

»Linksher zerschlug Polydeuk ihm den Mund, daß


die Zähne erklirrten,
Und jetzt, heftiger dreschend, verwüstete er jenem
das Antlitz, bis er umher ihm die Wange zermalm-
te.«
So lesen wir bei J. Zahn. »Man durfte Glieder verren-
ken oder brechen, Augen ausdrücken, würgen, Knie in
die Kehle stoßen, auf dem – gleich wie – zu Boden
gezwungenen Gegner sitzen, dem so recht Hilflosen
erbarmungslos ins Gesicht schlagen, auf ihm herum-
trampeln. Wer am Allkampf teilnahm, mußte damit
rechnen, schwer verletzt oder zu den Göttern ge-
schickt zu werden ...«
Und das ist nach verbürgten Überlieferungen auch
tatsächlich öfters vorgekommen. Ein Held z.B.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Olympische Spiele. 252

»schlug mit ausgestreckten Fingern und langen Fin-


gernägeln so wild auf seinen Gegner ein, daß diesem
die Eingeweide herausgezogen wurden ...«
& Lit.: W. Durant: Kulturgeschichte der Mensch-
heit, Band 2, Köln 1963; J. Zahn: Nichts Neues
mehr seit Babylon, Hamburg 1979; Stichwort
vorgeschlagen von Sonja Hellweg.

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LexPI Bd. 2 Onkel 252

Onkel
»Über den großen Onkel laufen« hat etwas mit
Großonkel zu tun
Der »große Onkel« ist der französische »grand
ongle«, von »ongle« = Nagel, Klaue, Kralle, Huf.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 2 Opium 253

Opium
Opium kommt aus Asien
Einige der größten Opiumplantagen unseres Planeten
liegen ganz in unserer Nähe, links des Rheins bei un-
seren Nachbarn, den Franzosen: In ausgedehnten Fel-
dern zwischen Soulogne, Tourraine und Champagne
wachsen, blühen und gedeihen vermutlich mehr Pflan-
zen der Gattung Papaver somniferum – der Mohn, aus
dessen Blütensaft das Opium gewonnen wird – als in
manch anderen Ländern dieser Erde, die gemeinhin
als die Schwerpunkte des Opiumhandels gelten.
Opium ist Rohstoff für legale wie für illegale Dro-
gen (Morphium); weltweit werden zu legalen
Zwecken rund 700 Tonnen Opium pro Jahr ge-
braucht, ein großer Teil davon wird in Frankreich an-
gebaut, auch wenn man die Felder in keinem Reise-
führer findet (verständlicherweise hängen unsere
Nachbarn dieses Agrarprodukt nicht gerne an die
große Glocke). Ein anderer deutscher Nachbar, der
mit Opium viel Geld verdient, ist Tschechien.
& Lit.: Gustav Hegi: Illustrierte Flora von Mitteleu-
ropa, Berlin 1986; Stichwort »Opium« in der MS
Microsoft Enzyklopädie Encarta, 1994; G.
Badou: »Pavot: Le ›Triangle d'or‹ français«,
L'Express, 18.5.1997.
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LexPI Bd. 2 Opiumkrieg 253

Opiumkrieg
Der Opiumkrieg in China 1839–1843 sollte den
chinesischen Export von Opium bremsen
Der große Opiumkrieg zwischen England und China
brach aus, nicht um die Chinesen an der Ausfuhr ihres
eigenen Opiums zu hindern, sondern um sie zur Ein-
fuhr von fremdem Opium zu zwingen; um sie zu
zwingen, in Indien angebautes englisches Opium im
Austausch gegen Seide, Tee und Porzellan zu kaufen.
Bekanntlich haben die Chinesen diesen Krieg ver-
loren, darauf überschwemmte englisches Opium das
Land, und China wurde eine Nation von
Opiumrauchern: Ende des 19. Jahrhunderts rauchten
die Chinesen rund 20.000 Tonnen Opium pro Jahr; in
manchen Provinzen rauchten mehr als die Hälfte aller
Männer regelmäßig Opium, auf tausend Einwohner
kam eine Opiumhöhle ...
& Lit.: J.H. Lowinson u.a.: Substance abuse: a com-
prehensive textbook, Baltimore 1992.

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LexPI Bd. 1 Optionen 239

Optionen
Das Put/Call-Verhältnis ist ein gutes Börsenbaro-
meter
Wer oft die Börsensendungen des Deutschen Fernse-
hens sieht (Telebörse, n-tv, 3Sat Börse etc.), be-
kommt viel ungereimtes Zeug zu hören. Insbesondere
scheint vielen Moderatoren nicht recht klar zu sein,
welche Botschaften in den Umsätzen zu Puts und
Calls verborgen sind.
Ein Put alias eine Verkaufsoption ist ein Wertpa-
pier, welches dem Besitzer das Recht einräumt, eine
bestimmte Aktie zu einem bestimmten Preis bis zu
einem bestimmten Tag zu verkaufen. Solche Papiere
werden gern von Anlegern gekauft, die einen Kursver-
fall befürchten – falls die Kurse dann tatsächlich fal-
len, muß der Geschäftspartner – der sog. Stillhalter –
die Aktien zu dem vorher garantierten Preis abneh-
men. In diesem Sinn sind Verkaufsoptionen also eine
Versicherung gegen den Verfall der Kurse.
Ein Call alias eine Kaufoption dagegen verbrieft
das Recht, eine bestimmte Aktie bis zu einem be-
stimmten Tag zu einem bestimmten Kurs (dem Basis-
kurs) zu kaufen. Er wird gern von Anlegern erworben,
die einen Kursanstieg erwarten. Falls die Kurse dann
tatsächlich steigen, muß der Partner die Papiere zu
dem vorher festgelegten Preis abgeben, und der Käu-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Optionen 240

fer macht einen entsprechenden Gewinn. In diesem


Sinn ist eine Kaufoption also eine Versicherung
gegen das Verpassen einer Hausse.
Wie bei fast allen Börsengeschäften kann auch hier
immer nur einer der Partner gewinnen. Der Käufer
eines Calls gewinnt, wenn die Kurse steigen, der Ver-
käufer (der sogenannte »Stillhalter«), wenn die Kurse
fallen. Dito Puts: Der Käufer gewinnt, wenn die
Kurse fallen, der Verkäufer, wenn die Kurse steigen.
Mit anderen Worten, bei jedem Optionsgeschäft, ob
Put ob Call, ist immer einer der Partner Optimist, der
andere Pessimist. Beim Call glaubt der Käufer, daß
die Kurse steigen, der Verkäufer, daß sie fallen, beim
Put ist es umgekehrt. Auf jeden Fall gehört zu jedem
Optimisten immer genau ein Pessimist, und damit
gibt es von jeder Sorte auch genau gleich viel.
Damit wollen wir nicht behaupten, daß Options-
märkte und was dort geschieht keine Rückschlüsse
auf die Stimmung der Börsenteilnehmer erlauben.
Aber ganz so einfach, wie manche Journalisten glau-
ben, ist die Sache leider nicht ...
& Lit.: Walter Krämer: »Black-Scholes-Formel«, in:
Börsenlexikon, München 1995.

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LexPI Bd. 1 Optische Täuschungen 239

Optische Täuschungen
Daß man sich nicht allein durch Denken, sondern
auch durch Sehen täuschen kann, beweisen die zahl-
reichen optischen Illusionen, die uns per Umweg über
die Augen an der Nase herumführen (wenn diese
semi-mißglückte Metapher hier einmal gestattet ist).
Hier sind drei davon:
& Lit.: Walter Krämer: So überzeugt man mit Stati-
stik, Frankfurt 1994
¤ Beide Figuren sind gleich groß, aber die rechte er-
scheint größer
¤ Beide Grautöne sind gleich, aber der rechte er-
scheint heller
¤ Beide Strecken sind gleich lang, aber die obere er-
scheint länger (sog. »Müller-Lyer-Längenillusi-
on«)

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LexPI Bd. 2 Organhandel 254

Organhandel
In Südamerika werden »Ersatzteilkinder« als Or-
ganbanken gehalten
So hört und liest man immer wieder, und weil man
das immer wieder hört und liest, fängt man am Ende
selber an, daran zu glauben, die Autoren dieses Bu-
ches eingeschlossen: In »Wir kurieren uns zu Tode«
haben wir dergleichen Horrorgeschichten mit viel zu
wenig Skepsis selber nachgebetet.
Nicht, daß die moderne Medizin nichts zu verber-
gen hätte, sie treibt viele Kapriolen, und viele der
guten Geister, die unsere Ärzte rufen oder riefen, zei-
gen heute immer krasser ihre Schattenseiten. Beispiel
Transplantationsmedizin: Eine ebenso triviale wie
von den Medizinern gern vertuschte Schattenseite die-
ser modernen Wundertaten ist, daß für jeden Patien-
ten, der davon profitieren will, zuerst ein anderer Pat-
ient zu sterben hat (oder zumindest ein Organ verlie-
ren muß). Und wenn er oder sie das nicht aus freien
Stücken tut, könnte man ja auch daran denken, dem
Ganzen etwas nachzuhelfen. Und weil das so sein
könnte, denken manche Journalisten, daß es so sein
muß. Und wenn dazu Beweise fehlen, dann kann man
auch Beweise fälschen ...
Die bekannteste, auch in der ARD gesendete
Falschmeldung (29. Oktober 1993) hat ihrer Urhebe-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Organhandel 254

rin, der französischen Journalistin Marie-Monique


Robin, mehrere Auszeichnungen und Gehaltserhöhun-
gen beschert: Ein vier Monate altes, unterernährtes
Baby wird Mitte der 80er Jahre mit verschiedenen Be-
schwerden, darunter eine eitrige Hornhautentzündung,
in die Universitätsklinik der kolumbianischen Haupt-
stadt Bogotá gebracht; kurz später kommt der kleine
Yeison Vargas ohne Augen wieder nach Hause, die
Augen hatte man ihm zwecks Transplantation heraus-
genommen.
So glaubte seine Mutter, und so glaubten auch die
Journalisten. Bis dann 1995 drei als unabhängige Ex-
perten hinzugezogene Pariser Augenärzte einstimmig
feststellen, daß der kleine Yeison zwar im frühen Kin-
desalter an beidseitiger Augeninfektion erblindet sei
(dieses Schicksal teilt Yeison mit Tausenden anderer
Kinder in Entwicklungsländern), daß aber »das von
uns untersuchte Kind noch seine Augäpfel besitzt und
daß diese während des gesamten Verlaufs seiner
Krankheit zu keinem Zeitpunkt herausgenommen
wurden«.
Das eigentlich Gruselige an diesen Medienmärchen
ist, daß alles hätte so geschehen können: Es gibt welt-
weit einen riesigen Bedarf an menschlichen Organen,
es gibt Menschen, die bereit sind, für eine neue Niere,
für eine neue Hornhaut, für ein neues Herz fast jede
Summe auszugeben, und es gibt professionelle Zwi-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Organhandel 255

schenhändler, die bei diesen Transaktionen helfen.


Aber gerade weil diese Organbeschaffer Profis sind,
erscheinen die immer wieder nachgedruckten Meldun-
gen über das Ausschlachten von Kindern reichlich un-
wahrscheinlich. Warum auf solche krummen Touren
kommen, wenn man sich den »Nachschub« auch legal
bzw. weniger riskant beschaffen kann? In Kolumbien
etwa sterben jährlich 40.000 Menschen durch Gewalt
und durch Verbrechen, jeder Verstorbene gilt bis zum
Beweis des Gegenteils als freiwilliger Organspender,
das Land ist »mit transplantierbaren Hornhäuten jeder
gewünschten Art und Qualität recht gut versorgt«
(Müller-Ullrich). Und auch bei Nieren, Herzen oder
Lungen gibt es andere Methoden: Nieren kann man in
manchen Ländern von den Spendern selber kaufen,
Herzen oder Lungen werden auf Bestellung von der
staatlichen Justiz geliefert (in der Volksrepublik
China werden viele Todeskandidaten auf Bestellung
hingerichtet). Das alles ist für sich alleine grausig
genug, aber mit dem Ausschlachten von adoptierten
oder entführten Kindern hat es nun wirklich nichts zu
tun. Vermutlich speisen sich diese Legenden aus den
gleichen Quellen, aus denen auch viele andere moder-
ne Großstadtmythen fließen: die Voodoo-Kulte Süda-
merikas, die Hänsel-und-Gretel-Urfurcht vieler Men-
schen, als kleine Kinder aufgefressen zu werden, die
Angst oder die Unfähigkeit von Kranken wie auch
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Organhandel 255

von Gesunden, auch die Nebenwirkungen des Fort-


schritts in der Medizin zu akzeptieren, und natürlich
auch das verbreitete Mißtrauen gegen Geld und Ei-
gennutz als Motive unsere Handelns – das alles gut
geschüttelt und gemischt, eine aus dritter Hand gehör-
te Anekdote zugegeben, und schon haben Monitor
und Schreinemakers etwas zu erzählen ...
& Lit.: W. Krämer: Wir kurieren uns zu Tode, Ber-
lin 1996; 12 Jahre Korruption und Mißwirtschaft,
unveröff. Dokumentation, erhältlich über das In-
stitut für Wirtschafts- und Sozialstatistik, Univer-
sität Dortmund 1998; B. Müller-Ullrich: Medien-
märchen: Gesinnungstäter im Journalismus, Mün-
chen 1996 (besonders das Kapitel »Ersatzteilkin-
der – die Legende vom Organraub«); »Hornhäute
für 9000 Mark – Chinesen-Mafia bot Organe von
Hingerichteten an«, Bild-Zeitung, 23.2.1998.

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LexPI Bd. 1 Organischer Dünger 240

Organischer Dünger
Organischer Dünger ist besser für die Pflanzen
(s.a. ð »Bio-Nahrungsmittel«)
Ohne damit etwas über die anderen Argumente pro
und contra biologisch-organischen Landbau auszusa-
gen (Pflanzengifte, Umweltschäden etc.): Unter dem
reinen Aspekt der Nährstoffzufuhr für die Pflanze gibt
es zwischen natürlichen und künstlichen Düngern
keine Unterschiede.
Anders als Tiere oder Menschen können Pflanzen
Kuhmist nicht von Kunstmist unterscheiden. Denn
alle Nährstoffe, die ein Pflanze aufnimmt, werden un-
abhängig von ihrer Herkunft zunächst chemisch
»gleichgeschaltet«; ihre Herkunft ist dann nicht mehr
festzustellen. In dieser Hinsicht sind also »organisch«
angebaute und gedüngte landwirtschaftliche Produkte
keinen Deut besser als synthetisch gedüngte. Und in
dem Umfang, wie die »hysterische Propagandakamp-
agne gegen chemische Düngemittel in der Landwirt-
schaft« (Nobelpreisträger Norman Borlaug) das Dün-
gen generell verhindert, kann man wie viele Ernäh-
rungswissenschaftler in dem obigen Irrtum sogar eine
regelrechte Gefahr für den Frieden und den Fortbe-
stand der Menschheit sehen.
& Lit.: Das Zitat des Nobelpreisträgers Borlaug ist
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Organischer Dünger 241

aus der Times vom 9.11.1971.

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LexPI Bd. 2 Orientexpreß 256

Orientexpreß
Der Orientexpreß endete in Istanbul
Der berühmte Orientexpreß des Belgiers Georges
Nagelmackers (derselbe, der auch den Liegewagen er-
funden und die Internationale Schlafwagengesell-
schaft begründet hatte), endete nie in Istanbul. Er fuhr
immer nur vom Pariser Gare de l'Est über Straßburg,
Stuttgart, München, Wien, Budapest und Bukarest
bis zum rumänischen Varna am Schwarzen Meer; von
da ab ging die Reise über Wasser weiter.
& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987;
http://www.sydneytravel.com.au/Railway/orient/
orientexpress.htm.

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LexPI Bd. 2 Osterinseln 256

Osterinseln
Die Osterinseln sind eine Inselgruppe im Pazifik
Es gibt nur eine einzige Osterinsel (spanisch Isla de
Pascua, englisch Easter Island). Sie ist 165 km2 groß,
liegt 4000 km vor Chile im Pazifik, wurde Ostern
1722 (daher der Name) von einem Holländer namens
Roggeveen entdeckt und bietet heute rund 1000 Men-
schen eine Heimat, die dort Landwirtschaft und Fi-
scherei betreiben.
& Lit.: Stichwort »Osterinsel« in der Brockhaus En-
zyklopädie, Wiesbaden 1990; Stichwort vorge-
schlagen von André Zentzis.

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LexPI Bd. 1 Österreich 241

Österreich
Die Österreicher sind die Weltmeister im Kaffee-
trinken
Auch wenn es in einem guten Wiener Kaffeehaus 15
Sorten Kaffee gibt – rein mengenmäßig trinkt man an-
derswo weit mehr davon: der Verbrauch an Bohnen-
kaffee ist am höchsten in Schweden und Finnland mit
jeweils mehr als 11 Kilogramm pro Kopf und Jahr.
Es folgen Holland, Norwegen und Dänemark mit
jeweils rund 10 Kilogramm, danach Deutschland und
Österreich mit jeweils 8.
& Lit.: Statistisches Jahrbuch der Vereinten Natio-
nen, New York 1990.

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LexPI Bd. 2 Österreich. 257

Österreich
Es gab nie eine österreichische Marine
Natürlich wissen alle Österreicher, daß dies eine Lüge
ist, aber viele Nicht-Österreicher werden überrascht
sein zu erfahren, daß Österreich im 19. und frühen 20.
Jahrhundert über eine beeindruckende Flotte von
Kreuzern, Schlachtschiffen und U-Booten verfügte.
Am 20. Juli 1866 z.B. besiegte diese Flotte bei der
Adria-Insel Lissa die überlegene Flotte Italiens (Ita-
lien war als Verbündeter der Preußen im Preußisch-
Österreichischen Krieg von 1866 darauf bedacht, sich
durch die Besetzung der zu Österreich gehörenden
Insel Lissa für die kommenden Friedensverhandlun-
gen ein Faustpfand zu sichern; als man gerade dabei
war, den Hauptort der Insel von See aus sturmreif zu
schießen, kam die österreichische Flotte und vertrieb
die Italiener).
Die Schweiz dagegen besitzt oder besaß keine Ma-
rine, auch wenn die Schweizer Seestreitkräfte anläß-
lich der Eröffnung des Panamakanals 1914 von den
Amerikanern eigens eingeladen wurden (nachdem das
für die Feier verantwortliche US-amerikanische Au-
ßenministerium den Lapsus bemerkt hatte, wurde die
Einladung zurückgezogen).
¤ Österreicher im Seegefecht: Schlacht von Lissa
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LexPI Bd. 2 Ostpreußen 258

Ostpreußen
Ostpreußen war ursprünglich slawisches Gebiet
Ostpreußen ist kein urslawisches Gebiet, in das dann
Germanen eingedrungen wären; die Germanen waren
vielmehr vor den Slawen da. Schon um 1000 v. Chr.
lebten Goten an der Weichselmündung, die bis Chri-
sti Geburt ganz Ost- und Westpreußen besiedelt hat-
ten, im Posener Land saßen die germanischen Bur-
gunder. Erst als diese Germanenstämme im Kielwas-
ser der Völkerwanderung von dannen zogen, also im
8. Jahrhundert n. Chr., folgten die ersten Slawen
nach, so daß die deutschen Ordensritter, die im späten
Mittelalter diese Gegend wieder mit Germanen füll-
ten, im wesentlichen nur ihr altes Eigentum besetzten.
& Lit.: Marion Gräfin Dönhoff: Kindheit in Ost-
preußen, Berlin 1988; Stichwort vorgeschlagen
von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Othello 258

Othello
Othello war ein Mohr
Die Figur des Othello in dem gleichnamigen Stück
von Shakespeare ist vermutlich dem durchaus weißen,
im 16. Jahrhundert auf dem Balkan tätigen veneziani-
schen Söldnerführer Maurizio Othello nachgebildet.
Dessen Vorname wurde in verschiedenen Quellen
nicht ganz richtig mit »Mor« abgekürzt, daher die
Gleichsetzung mit einem »Mohren«.
Ein zweiter, in Filmen und Theaterstücken ewig
fortgeführter Irrtum ist die Gleichsetzung von »Mohr«
und »Neger«. Ein »Mohr« war ursprünglich ein
Maure, d.h. ein Araber aus Spanien oder von der Süd-
küste des Mittelmeeres.
& Lit.: Graeme Donald: Things you didn't know you
didn't know, London 1992.
¤ Verdis Othello als Mohr

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LexPI Bd. 2 Ozon 258

Ozon
Ozon ist gesund (s.a. ð »Sauerstoff«)
Die bekannte Werbung mit der »gesunden, ozonhalti-
gen Luft«, mit der früher deutsche Kurorte die Kun-
den anzulocken suchten, beruht auf einem Mißver-
ständnis. Weil es im Wald und unter der Höhensonne
nach Ozon riecht, und weil Waldluft wie auch Höhen-
sonne der Gesundheit (vermeintlich) einen Dienst er-
weisen, glauben viele, daß dann auch Ozon für die
Gesundheit nützlich wäre.
In Wahrheit ist Ozon recht giftig; es ist ein soge-
nanntes Reizgas, das schon in geringen Mengen
Augen, Nasen, Lungen oder Rachen angreift. Außer-
dem bewirkt Ozon Veränderungen in den Genen und
hat bei Tierversuchen auch schon Krebs erzeugt.
Ab welchen Mengen wirklich die Alarmglocken zu
klingeln haben, ist zur Zeit noch offen. Die Wir-
kungsschwelle für die Reizeffekte liegt bei ungefähr
0,2 Milligramm pro Kubikmeter, ab wann für die
Gene oder für die sonstige Gesundheit Schäden dro-
hen, kann man nur vermuten. Sicher ist nur, daß wie
fast alle anderen Stoffe auch Ozon ab einer gewissen
Grenze uns weniger nützt als schadet.
& Lit.: H. Kappus: »Wirkung von Ozon auf den
Menschen«, BIA-Report 8/1995, S. 45–72; Stich-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Ozon 259

wort vorgeschlagen von Carsten Süling.

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LexPI Bd. 2 Ozonloch 259

Ozonloch
Das weltweit größte Ozonloch gibt es über der
Antarktis
Das weltweit größte Ozonloch gibt es über Sibirien –
15 Millionen Quadratkilometer, wenn man der Mos-
kauer Zeitung Obschtschaja Gazeta glauben darf,
also mehrere Millionen Quadratkilometer mehr als
das Ozonloch über der Antarktis; es wurde vor allem
mangels Meßstationen erst so spät entdeckt. »Bereits
ganz Sibirien ist eine Gefahrenzone, das gesamte Ge-
biet zwischen Ural und Fernem Osten«, warnen Kli-
maforscher. Aber auch über Murmansk und St. Pe-
tersburg sei die Ozonschicht schon um ein Viertel
zurückgegangen, das Loch dehne sich pulsierend
immer weiter aus, es bedrohe auch schon Norwegen
und bald vielleicht Zentraleuropa.
& Lit.: »Russen werden vor Sonnenbaden gewarnt«,
Die Welt, 30.4.1997.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


P 260

»Die meisten Glaubenslehrer verteidigen ihre


Sätze nicht, weil sie von der Wahrheit derselben
überzeugt sind, sondern weil sie diese Wahrheit
einmal behauptet haben.«
Georg Christoph Lichtenberg

»Die kürzesten Irrtümer sind immer die besten.«


Molière

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Panama-Hut 242

Panama-Hut
Panama-Hüte kommen aus Panama
Die echten Panama-Hüte kommen aus den Bergen des
südamerikanischen Staates Ecuador; dort werden sie
angeblich nur nachts aus Stroh gewebt (weil es dann
kühler ist und sich die Fäden dichter weben lassen).
In guten Hutgeschäften sind sie für tausend bis drei-
tausend Mark zu haben.
Über die Verbindung zu Panama gibt es mehrere
Theorien. Vermutlich haben Arbeiter und Ingenieure
nach dem Bau der Panama-Kanals einige Exemplare
nach Europa eingeführt. Vielleicht hat aber auch ein
Fabrikant gemeint, daß »Panama-Hut« besser klingt
als »Hut aus Ecuador«.
& Lit.: Peter Mayle: Expensive habits, London
1991.

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LexPI Bd. 1 Panama-Kanal 242

Panama-Kanal
Der Panama-Kanal verläuft von Ost nach West
Eine Reise durch den Panama-Kanal vom atlantischen
in den pazifischen Ozean führt nicht von Ost nach
West, sondern von West nach Ost. Vom Atlantik
führt der Kanal zunächst von Nord nach Süd, dann
nach Südost, so daß der Eintritt in den Pazifik östlich
vom Austritt aus dem Atlantik erfolgt. Genau an die-
ser Stelle macht nämlich die Landbrücke zwischen
Nord- und Südamerika einen Bogen, so daß Schiffe,
die vom Osten nach dem Westen wollen, einen Teil
des Weges ostwärts fahren müssen.
¤ Der Panama-Kanal: Die Reise vom Atlantik zum
Pazifik verläuft von West nach Ost

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LexPI Bd. 1 Papageien 243

Papageien
Papageien leben länger als Menschen
Eine bestimmte Papageienart, der Kakadu, wird tat-
sächlich bis zu 100 Jahre alt. Aber das sind immer
noch 20 Jahre weniger als der menschliche Rekord.
Der Vogel, dessen Alter noch am ehesten das des
Menschen erreicht, ist nicht der Papagei, sondern die
Krähe. Die einzigen Tiere, die länger leben als Men-
schen, sind die Riesenschildkröte und der Stör; beide
werden bis zu 150 Jahre alt.
& Lit.: The Guiness Book of Records.

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LexPI Bd. 2 Pappe 260

Pappe
»Das ist nicht von Pappe« hat etwas mit Pappe zu
tun
Die Pappe in »das ist nicht von Pappe« kommt von
dem »Papps« genannten weichen Kinderbrei.
Genauso ist auch »Pappenstiel« kein Stiel aus
Pappe, sondern der gemeine Löwenzahn, lateinisch
»pappus«, niederdeutsch auch »Papenblume«. Weil
so weit verbreitet und deswegen wenig wertvoll, ist
dieser »Pappenstiel« zum Sinnbild des Billigen
schlechthin geworden.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 2 Päpstin Johanna 260

Päpstin Johanna
Es gab einmal eine Päpstin Johanna (s.a. ð »Wil-
helm Tell« in Band 1)
So glaubte sogar die katholische Kirche selbst: Im
Jahr 855, so diese lang für wahr genommene Legen-
de, sei ein gewisser Johannes Angelicus zum Nachfol-
ger Papst Leos IV. gewählt worden, der bzw. die aber
in Wahrheit ein wegen ihrer Gelehrsamkeit berühmtes
Mädchen aus dem deutschen Mainz gewesen sei. Erst
zwei Jahre später, als Johanna alias Johannes bei
einer Prozession ein Kind entbunden habe, sei der
Schwindel aufgeflogen.
In dieser Form ist die Legende in der »Chronik der
Päpste und Kaiser« des polnischen Dominikanermön-
ches Martin von Troppau († 1297) nachzulesen; sie
wurde auch von Kirchenleuten für wahr genommen
und geglaubt. Andere Quellen, wie die zwischen 1240
und 1250 erschienene »Universalchronik von Metz«,
verlegen die Geschichte in das Jahr 1087: Eine be-
gabte Frau hätte es, als Mann verkleidet, in der römi-
schen Kurie vom Notar bis zum Kardinal gebracht
und wäre dann als Nachfolger Viktors III. Papst ge-
worden. Wie in der ersten Fassung gebar sie während
einer Prozession ein Kind.
Die Herkunft dieser Sage ist bis heute ungeklärt.
Vermutlich kamen eine Reihe von Umständen zusam-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Päpstin Johanna 261

men: die verdächtige Vermeidung einer gewissen


Straße bei Papstprozessionen (die Straße war vermut-
lich nur zu eng), eine dort aufgefundene rätselhafte
Statue, die eine Frau beim Stillen zeigt, eine ebenfalls
an dieser Stelle aufgefundene Inschrift hinreichend
vagen Inhalts, so daß sie auch auf die Johanna-Episo-
de paßt, und die tatsächliche, wenn auch indirekte Be-
herrschung der Kirche durch verschiedene geschichts-
notorische Frauen des 10. Jahrhunderts wie Theodora
die Ältere, Marozia und Theodora die Jüngere.
Aber allein daraus eine Päpstin abzuleiten, er-
scheint doch sehr gewagt. Alle Hinweise auf Johanna
finden sich erst lange nach den fraglichen Ereignissen,
es gibt für keines der angeblichen Pontifikate irgend-
welche Zeugen und Belege, eine Päpstin Johanna ist
mit keiner der bekannten Quellen dieser Zeiten unter
einen Hut zu bringen.
& Lit.: J. von Döllinger: Die Papstfabeln des Mittel-
alters, Stuttgart 1890; A. Boureau: La papesse
Jeanne, Paris 1988; J. Kelly: Reclams Lexikon
der Päpste, Stuttgart 1988; Donna W. Cross: Die
Päpstin, 15. Auflage, Berlin 1998.

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LexPI Bd. 2 »Pardon wird nicht gegeben« 261

»Pardon wird nicht gegeben«


Mit dieser Parole forderte Kaiser Wilhelm seine
Soldaten auf, kein Pardon zu geben
»Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht
gemacht«, so soll Wilhelm II. im Juli 1900 das deut-
sche Expeditionskorps angewiesen haben, das den
Engländern und Franzosen bei der Bekämpfung des
sogenannten »Boxeraufstands« in China helfen sollte.
In Wahrheit hatte Wilhelm II. in seiner berühmten
»Hunnenrede« folgendes erklärt: »Bewährt die alte
preußische Tüchtigkeit, zeigt Euch als Christen im
freudigen Ertragen von Leiden, möge Ehre und Ruhm
Euren Taten, Fahnen und Waffen folgen, gebt an
Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel.
Ihr wißt wohl, Ihr sollt fechten gegen einen verschla-
genen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind.
Kommt Ihr an ihn, so wißt, Pardon wird nicht gege-
ben, Gefangene werden nicht gemacht.«
Wir lesen diese Zeilen so, daß Wilhelm seine Sol-
daten vor den Boxern warnen wollte, und daß diese,
nicht die Deutschen, als Pardon-Verweigerer betrach-
tet werden müssen.
& Lit.: E.R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte
seit 1789, Stuttgart 1969 (besonders Band 4:
Struktur und Krisen des Kaiserreichs); Chronik
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 »Pardon wird nicht gegeben« 262

des 20. Jahrhunderts, Dortmund 1988; Stichwort


vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Parmesan 262

Parmesan
Parmesankäse muß aus Parma kommen (s.a. ð
»Schafskäse«)
Der in Deutschland als »Parmesan« verkaufte Hartkä-
se kann auch aus dem Allgäu kommen – nach deut-
schem Lebensmittelrecht heißt Parmesan nichts ande-
res als Hartkäse; er muß weder aus Italien kommen,
noch mittels der für Parma typischen Verfahren ge-
wonnen worden sein.
Der klassische Parmesan trägt die Markennamen
»Parmigiano Reggiano« oder »Grana padano«; der
Parmigiano Reggiano wird ausschließlich aus der
Milch von Kühen gewonnen, die nur auf Grünland
weiden; die Milch wird abends in die Molkerei ge-
bracht, wo sie über Nacht in offenen Kesseln stehen-
bleibt und erst am nächsten Morgen zum Käse-Roh-
ling weiterverarbeitet wird. Und nach weiteren zwölf
Monaten des Reifens kommt dann das Siegel »Parmi-
giano Reggiano« darauf.
Wer in einem deutschen Supermarkt eine Tüte ge-
riebenen Hartkäse mit der Bezeichnung »Parmesan«
ersteht, kann seinen Kopf verwetten, daß dieser Rei-
bekäse nicht auf diese Art entstanden ist.
& Lit.: »Kostprobe«, WDR Fernsehen, 2.2.1996
(siehe auch den Artikel »Etikettenschwindel bei
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Parmesan 262

Käsespezialitäten« in der zu dieser Sendung her-


ausgegebenen Informationsbroschüre).

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LexPI Bd. 2 Pazifisches Jahrhundert 262

Pazifisches Jahrhundert
Das 21. wird das pazifische Jahrhundert
Damit meinen viele, daß in den nächsten hundert Jah-
ren die asiatischen Länder am Westrand des Pazifiks
die Weltwirtschaft und damit auch die Politik der
Welt beherrschen werden.
Diese Furcht (bzw. diese Hoffnung, je nachdem
von welcher Seite man die Münze ansieht) ist unbe-
gründet. Wie schon die »Asienkrise« der Jahre
1997/98 zeigt, sind auch die Länder Südostasiens
gegen Wirtschaftskrisen nicht immun, und der in den
letzten Jahrzehnten erreichte Wohlstand fällt histo-
risch keinesfalls aus irgendeinem Rahmen: Die Län-
der Asiens erwirtschafteten schon vor hundert Jahren
ein Drittel des Welt-Sozialprodukts, genausoviel wie
heute, und ihr hohes Wirtschaftswachstum seit dem
Zweiten Weltkrieg ist kein Wunder, es ist von jedem
Land der Erde nachzumachen, das viel spart und inve-
stiert.
Das bis vor kurzem so erstaunliche Wirtschafts-
wachstum Chinas und der ostasiatischen Tigerländer
(Hongkong, Thailand, Taiwan, Singapur, Malaysia,
Südkorea, Indonesien) ist nur auf den ersten Blick er-
staunlich. Beim zweiten Hinsehen entpuppt es sich
als Frucht der gleichen Kräfte, die auch den Russen
vor und nach dem Zweiten Weltkrieg hohe Zuwachs-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Pazifisches Jahrhundert 263

raten brachten (zur Erinnerung: es galt in den 50er


Jahren als ausgemacht, daß die Sowjetunion die USA
über kurz oder lang ökonomisch überholen würde):
Sparen, Investieren, Blut, Schweiß und Tränen statt
Konsum, eine gewaltige Ausdehnung des Inputs in
die Produktionsprozesse. Daß dann auch der Output
zunimmt, sollte niemanden erstaunen.
Kurzfristig läßt sich in jedem Land der Welt durch
mehr Input von Kapital und Arbeit auch der Output
bzw. das Volkseinkommen steigern. Was aber lang-
fristig zählt, ist der Output pro Inputeinheit; nur wenn
auch dieser zunimmt, ist ein hohes Wirtschaftswach-
stum langfristig zu halten. Und hier gibt es keinen
Grund zu glauben, daß die Länder Asiens an Kreati-
vität und an der Fähigkeit, aus wenig mehr zu ma-
chen, die etablierten westlichen Nationen schlagen.
Beispiel Singapur: Zwischen 1966 und 1990 ist
das Sozialprodukt von Singapur um mehr als 8 Pro-
zent pro Jahr gewachsen, rund dreimal schneller als
das Sozialprodukt von Deutschland oder das der
USA. Aber der Grund ist der gleiche, der auch schon
das Wachstum des sowjetischen Sozialprodukts unter
Stalin und Chruschtschow angetrieben hat: eine ma-
ssive Mobilisierung von Arbeitskräften, eine Verdop-
pelung des Anteils der Erwerbsbevölkerung an der
Bevölkerung insgesamt, eine bessere Ausbildung und
Erziehung, Investieren statt Konsumieren (Singapur
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Pazifisches Jahrhundert 263

verzeichnete von 1966 bis 1990 einen Anstieg der In-


vestitionsquote von 10% auf 40% des Sozialpro-
dukts). Aber diese Triebkräfte sind nun erschöpft:
Eine nochmalige Verdoppelung der Erwerbsquote von
aktuell 51% auf 102% ist ausgeschlossen, genauso
wie eine Verdoppelung der Qualität der Erziehung
(nachdem fast alle Einwohner von Singapur das
Äquivalent der mittleren Reife besitzen, kann man
nicht erwarten, daß in 20 Jahren alle ihren Doktortitel
haben). Mit anderen Worten, von nun an wird auch
Singapur nicht schneller wachsen als die Länder We-
steuropas oder als die USA; es wird sich wie schon
früher Japan und wie bald auch China dem Geleitzug
der langsam dahindümpelnden entwickelten Industrie-
nationen anschließen, binnen weniger Jahrzehnte wer-
den die Wirtschaftswunderländer Asiens mit den glei-
chen, in der aktuellen Krise bereits anklingenden Sta-
gnationsproblemen kämpfen wie wir Westler auch.
& Lit.: Bill Emmott: The sun also sets – the limits
of Japan's economic power, New York 1991; L.
Lau und J.-I. Kim: »The sources of growth of the
East Asian newly industrialized countries«, Jour-
nal of the Japanese and International Economies
1994; P. Krugman: »The myth of Asia's miracle«,
Foreign Affairs 11/12 1994, S. 62–78; G. Segal:
»East Asian Myths«, Prospect, Juni 1996, S.
70–73; »Der Osten sieht rot«, Der Spiegel
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Pazifisches Jahrhundert 264

45/1997.

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LexPI Bd. 2 Pazifismus 264

Pazifismus
Der abendländische Pazifismus ist eine Erschei-
nung der letzten 100 Jahre
Schon im Mittelalter gab es Pazifisten: die Gottesfrie-
denbewegung im Frankreich des 10. Jahrhunderts, die
deutschen Reichslandfrieden im späten 11., die italie-
nische »Alleluja-Bewegung« im 13. Jahrhundert. Wie
ihre modernen Nachfolger, entstanden auch diese
Friedensbewegungen relativ spontan aus einem von
vielen Menschen seinerzeit geteilten Wunsch, gegen
die ewige Kriegerei des Mittelalters einen Kontra-
punkt zu setzen.
& Lit.: K. Arnold: Mittelalterliche Volksbewegun-
gen für den Frieden, Stuttgart 1996.

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LexPI Bd. 1 Peitsche 243

Peitsche
Eine Peitsche knallt durch die Reibung der Peit-
schenschnur
Beim Schlagen einer Peitsche erreicht das Ende der
Schnur Geschwindigkeiten von mehr als 1100 km/h;
das ist schneller als der Schall, und so, durch das
Durchbrechen der Schallmauer, entsteht der Peit-
schenknall.

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LexPI Bd. 2 Perlen 264

Perlen
Perlen sind perlweiß
Es gibt auch schwarze Perlen. Sie wachsen vor allem
um die Pazifikinseln von Französisch-Polynesien
(1996 rund eine Million Stück, für einen Gesamtpreis
von 200 bis 300 Millionen Mark) und sind seltener
und teurer als die weißen.
Wie die weißen Perlen entstehen auch die meisten
schwarzen unter Mitarbeit des Menschen. In eine
junge Auster – hier die schwarzlippige Pinctada mar-
garitefera – wird ein kleiner Muschelkern gepflanzt,
dann setzt man die Auster zurück ins Meer und wartet
drei Jahre, bis sich um diesen Kern genügend Perl-
mutt angelagert hat (oder auch nicht).
& Lit.: D. Doublitt: »Black pearls«, National Geo-
graphic, Juni 1997.

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LexPI Bd. 1 Perserkriege 243

Perserkriege
Die durch die Schlachten bei den Thermopylen, Ma-
rathon und Salamis bekannten Perserkriege werden
immer wieder als ein verzweifelter Abwehrkampf der
zahlenmäßig unterlegenen Griechen gegen riesige
Barbarenhorden aus dem Osten angesehen. (Laut
Auskunft des griechischen Geschichtsschreibers He-
rodot z.B. zählte das Heer des Perserkaisers Xerxes
exakt 5283220 Mann, und diese Angabe wurde in
vielen Geschichtsbüchern späterer Zeiten recht kritik-
los übernommen.)
In Wahrheit hat sich aber alles anders zugetragen.
Erstens ist die Zahl des Herodot viel zu genau; sie
soll vermutlich nur das Nichtwissen des Autors über-
tünchen, der diesen Bericht ein halbes Jahrhundert
nach den fraglichen Ereignissen niederschrieb und die
Perserkriege nur vom Hörensagen kannte. Und zwei-
tens hätte ein solches Heer gar nicht auf das Schlacht-
feld gepaßt, auf dem die Perser dann den Griechen ge-
genüberstanden. »Ich habe berechnet«, schreibt der
Historiker Hans Delbrück, »daß, wenn wir uns dieses
Landheer hintereinanderweg auf einer Straße mar-
schierend denken, der Zug 420 Meilen lang gewesen
wäre, d.h. daß, als die ersten vor Thermopylä anka-
men, die letzten gerade aus Susa ausmarschieren
konnten ...«
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LexPI Bd. 1 Perserkriege 244

In Wahrheit zählten die Perser rund 15000 Krieger,


wie Delbrück durch einfache Überlegungen zu Nach-
schub und Verpflegung ausgerechnet hat; sie waren in
beiden Perserkriegen den Griechen zahlenmäßig un-
terlegen.
& Lit.: Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst,
Berlin 1896.

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LexPI Bd. 2 Petersdom 265

Petersdom
Der Petersdom in Rom ist die größte Kirche der
Christenheit
Die größte Kirche der Christenheit ist die 1989 fertig-
gestellte »Basilika Notre-Dame de la Paix« in Ya-
moussoukro, der Hauptstadt der Elfenbeinküste; auf
einer Grundfläche von 30.000 m2 bietet sie mehr als
10.000 Menschen Platz, sie ist sowohl höher als auch
länger als auch breiter als der Petersdom in Rom.
(Zum Vergleich: Der Petersdom hat eine überbaute
Fläche von 15.000 m2, der Kölner Dom hat eine
überbaute Fläche von 8000 m2 und der Stefansdom in
Wien hat eine überbaute Fläche von 4000 m2.)
Alle diese Gebäude verblassen aber vor dem welt-
weit größten sakralen Bauwerk überhaupt, dem Ang-
kor Wat Tempel in Kambodscha, der mit Nebenge-
bäuden eine Fläche von mehr als einer Million Qua-
dratmetern bedeckt.
& Lit.: Das Guinness Buch der Rekorde, ohne Ort,
verschiedene Jahre; »Sterbende Stadt«, Der Spie-
gel 14/1997.

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LexPI Bd. 2 Pflanzen 265

Pflanzen
Pflanzen können nicht sprechen
Pflanzen können weder sehen noch hören, aber trotz-
dem können sie Signale senden, die von anderen
Pflanzen weiter weg verstanden werden. Manche
Pflanzen z.B. verströmen, um andere Pflanzen zu
warnen, flüchtige Stoffe wie Alkohole oder
Stickoxide, auf die dann die in Lee liegenden Empfän-
ger der Botschaft chemisch reagieren. Gewisse in
Afrika heimische Akazienarten etwa, die von Antilo-
pen oder Giraffen angeknabbert werden, senden ein
Signalgas aus, das, mit dem Wind getrieben, andere
Akazien vor den Blätterdieben warnt. Die gewarnten
Pflanzen erzeugen dann binnen weniger Minuten
große Mengen von – für die Antilopen und Giraffen –
hochgiftigem Tannin in ihren Blättern; sollten die
Tiere dennoch an den Blättern knabbern, müssen sie
nach wenigen Tagen an Leberversagen sterben.
Auch andere Pflanzen bleiben über dergleichen
chemische Kanäle in Kontakt. Ein überreifer Apfel
steckt andere Äpfel an; reife Tomaten sagen anderen
Tomaten: »Jetzt wird's Zeit«, und wenn im Herbst in
einem Laubwald alle Bäume gleichzeitig die Blätter
fallen lassen, ist das auch kein Zufall: Die Bäume
haben das im wahrsten Sinne miteinander abgespro-
chen ...
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Pflanzen 266

& Lit.: J.M. Pelt: Les langages secrets de la nature,


Paris 1996; »Sprache der Pflanzen ist chemischer
Natur«, Die Welt, 27.8.1997.

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LexPI Bd. 1 Pflanzenschutzmittel 244

Pflanzenschutzmittel
Chemische Pflanzenschutzmittel sind grundsätz-
lich schädlich
»Die Nebenwirkungen des DDT-Verbots haben mehr
Menschen das Leben gekostet als die DDT-Neben-
wirkungen« (Hubert Markl, Präsident der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, in der Zeit vom 6.12.1991,
S. 94).

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LexPI Bd. 2 Pflaster 266

Pflaster
Ein »teures Pflaster« hat etwas mit Straßenpfla-
ster zu tun
Das »teure Pflaster« hat seinen Namen von den Pfla-
stern, welche die Patienten vor den Bismarckschen
Sozialreformen selbst bezahlen mußten.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 2 Pharao 266

Pharao
Es gibt einen Fluch des Pharao (s.a. ð »Tode-
sträume« und ð »Zufall« in Band 1)
Es gibt keinen Fluch des Pharao. Als der Amateur-
Archäologe Howard Carter am 26. November 1922
das Grab des Tut-ench-Amun findet, ist weit und breit
kein Fluch zu hören und zu lesen. Die bekannten For-
meln »Wer dieses geheiligte Grab betritt, den werden
die Flügel des Todes treffen« (angeblich in Hiero-
glyphen auf der Tür des zweiten Schreins geschrie-
ben) oder »Die Hand, die sich gegen meinen Bau er-
hebt, möge verdorren« (angeblich am Grabeingang
auf einem Stein gefunden) wurden von den Medien
frei erfunden, Howard Carter selber geht in seinen Er-
innerungen mit keiner Zeile auf dergleichen Ver-
wünschungen ein. »Die Gerüchte um einen Fluch Tut-
ench-Amuns sind verleumderische Erfindungen«,
kommentierte er, direkt dazu gefragt.
Die Fluch-Legende kam zum ersten Mal beim Tod
von Lord Carnarvon auf, einem Geldgeber und Mitar-
beiter Carters, der als einer der ersten das Grab betre-
ten hatte und im April des Folgejahres an einem Mo-
skitostich verstarb; noch im gleichen Jahr begann man
in Berlin, den Film »Die Rache des Pharao« zu dre-
hen (das Projekt wurde nicht beendet, dafür entstand
1933 in England »Die Mumie« mit Boris Karloff, die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Pharao 267

sich an den Menschen, die sie stören, schrecklich


rächt). Kurz darauf starb auch der älteste Sohn Car-
narvons, ein Freund Carnarvons ertrank im Nil, ein
amerikanischer Millionärssohn, der das Grab besich-
tigt hatte, überlebte gleichfalls den Besuch nicht
lange, von den 20 bei der endgültigen Graböffnung
im Februar 1923 anwesenden Archäologen, Regie-
rungsbürokraten und Reportern waren nach fünf Jah-
ren 13 tot.
Als dann auch noch eine Reihe anderer nur mittel-
bar Beteiligter wie ein russischer Modeschöpfer, der
mit dem Pharao für seine »Isis-Kollektion« geworben,
oder ein Röntgenarzt, der den toten Pharao durch-
leuchtet hatte, ebenfalls unter mehr oder weniger my-
steriösen Umständen verstarben, fielen in den Medien
alle Fesseln. »Es ist ein tiefes Geheimnis und man
machte es sich zu leicht, wenn man es bezweifelt oder
ablehnt«, schrieb sogar die sonst so seriöse Times.
»Waren es Gifte, die Jahrtausende ihre Wirkung be-
hielten, Gifte, mit denen die unsterblich scheinenden
Pharaonen ihre ausgeweideten und vergoldeten Kör-
per vor menschlicher Berührung schützen wollten?
Waren es Strahlungen seltener chemischer Elemente
oder Metalle, die diese Halbgötter in ihren wie Palä-
ste ausgebauten Felsengräbern zu ihrem Schutz aus-
legten?« (Vandenberg) Wie immer, wenn wir etwas
nicht sofort erklären können, hatten wilde Theorien
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Pharao 267

große Konjunktur.
In Wahrheit braucht es zur Erklärung dieser Todes-
fälle keine Theorien; ein wenig Kenntnis der Wahr-
scheinlichkeit genügt. Dann sieht man nämlich, daß
13 Tote unter 20 Männern mittleren Alters alles ande-
re als selten sind. Daß in einer gegebenen Runde von
20 Männern im Alter um die 50 dreizehn nach fünf
Jahren nicht mehr leben, ist in der Tat sehr unwahr-
scheinlich. Daß aber in irgendeiner Runde von 20
Männern mittleren Alters nach fünf Jahren 13 nicht
mehr leben, ist weit größer: Wenn wir nur hinrei-
chend viele Kegelvereine à 20 Kegler nehmen, so sind
mit wachsender Wahrscheinlichkeit in mindestens
einem dieser Vereine fünf Jahre später 13 Kegler oder
mehr gestorben – und zwar ganz natürlich, ohne
Fluch und ohne alle Pharaonen. Aber dann erinnert
sich ein überlebender Kegelbruder, wie er seinerzeit
im Suff zu hören glaubte: »Wer mich umwirft,
stirbt ...«
So kam vermutlich auch der Fluch des Pharao zu-
stande.
& Lit.: G. Prause: Tratschkes Lexikon für Besser-
wisser, München 1986; P. Vandenberg: Der
Fluch der Pharaonen, Köln (ohne Jahr); David
Bernet: »Der Tod aus dem Tal der Könige«, Han-
noversche Allgemeine Zeitung, Wochenendbeila-
ge, 18.4.1998.
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LexPI Bd. 2 Pharisäer 268

Pharisäer
Pharisäer sind Pharisäer (s.a. ð »Zyniker«)
Die Pharisäer des Alten Testaments (vom hebräischen
»ha-perûschîm« = die Abgesonderten) waren alles an-
dere als Pharisäer (im Sinn von engstirnigen, selbst-
gerechten Heuchlern). Vielmehr hoben sie sich von
den konkurrierenden Glaubensrichtungen der Juden
wie den Sadduzäern durch ihre »lebensnahe, liberale
Interpretation des jüd. Gesetzes« (Brockhaus) ab.
Wegen ihrer Verehrung der alten Schriften müssen sie
sich vielleicht den Vorwurf der äußerlichen Gesetz-
lichkeit und Selbstgerechtigkeit gefallen lassen, aber
sie widersetzten sich weit weniger fanatisch als viele
andere Juden zur Zeit von Jesus Christus dem Fort-
schritt und dem Fremden; sie versuchten, aus dem
Durcheinander von römischer Besatzung, neuer grie-
chischer Kultur und alten Traditionen ein humanes
Judentum zu retten – Realpolitiker der Zeitenwende
sozusagen.
Gerade wegen dieser undogmatischen und realpoli-
tischen Einstellung hatten die Pharisäer natürlich bei
Fanatikern jedweder Sorte eine schlechte Presse.
& Lit.: J. Neusner: The rabbinic traditions about the
pharisees before 70, Leiden 1971; M. Pelletier:
Les Pharisiens. Histoire d'un parti méconnu, Paris
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Pharisäer 268

1990; Stichwort »Pharisäer« in der Brockhaus


Enzyklopädie, Wiesbaden 1990; Stichwort vorge-
schlagen von Josef Stern.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Piloten 244

Piloten
Flugzeugpiloten sterben früh
Nach einer Meldung in der Londoner Times sterben
60 Prozent aller zivilen Luftfahrtpiloten noch vor
ihrem 65. Lebensjahr.
Diese Meldung beruht vermutlich auf einem stati-
stischen Fehlschluß; mit großer Wahrscheinlichkeit
sterben Piloten im Durchschnitt nicht früher und auch
nicht später als andere Menschen. Für die obige Stati-
stik wurde einfach aufgezeichnet, wie alt alle bisher
verstorbenen Piloten geworden sind, aber das ist irre-
führend, wie man an einem anderem Beispiel sehr
schön sieht. Denn mit dieser Methode, also indem wir
allein das Alter derjenigen betrachten, die bisher be-
reits verstorben sind, können wir auch »beweisen«,
daß der Beruf des Bundesligafußballspielers noch
weit gefährlicher ist: von diesen sterben sogar 90 Pro-
zent vor ihrem 65. Lebensjahr.
Und wie könnte es auch anders sein. Die Fußball-
Bundesliga existiert seit 1963, so daß es heute erst
wenige alte Profikicker gibt. Wann immer also einer
davon stirbt, sei es durch Unfall, Krankheit oder
Mord, ist er in aller Regel nicht sehr alt. Vermutlich
liegt das Durchschnittsalter der bisher verstorbenen
noch unter 50.
Genausowenig aber, wie die Stichprobe der bisher
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Piloten 244

verstorbenen Fußballprofis einen Rückschluß auf die


Lebenserwartung aller Fußballprofis erlaubt, genau-
sowenig können wir aus der Stichprobe der bisher
verstorbenen Piloten auf die Lebenserwartung aller
Piloten schließen. Beide Stichproben sind extrem
»verzerrt«, wie die Experten sagen: sie sind kein Qu-
erschnitt der jeweils relevanten Menge von Personen,
sondern bevorzugen die früh verstorbenen und schlie-
ßen die lange lebenden grundsätzlich aus.
& Lit.: »Pilot death statistics provoke new study«,
The Times, 30.3.1990; Walter Krämer: So lügt
man mit Statistik, Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 1 Ping-Pong 245

Ping-Pong
Das Wort Ping-Pong kommt aus dem Chinesi-
schen
Die Bezeichnung Ping-Pong für Tischtennis wurde
um 1900 in England geprägt, und zwar in Anlehnung
an die typischen Geräusche, die bei der Ausübung
dieses Sports entstehen.
& Lit.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
2. Auflage, Berlin 1993.

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LexPI Bd. 2 Pippin der Kleine 269

Pippin der Kleine


Pippin der Kleine war klein
Der fränkische König Pippin III., geboren 715, ge-
storben 786, bekannt als »der Kleine« alias »der
Kurze«, war weder klein noch kurz; diese Beiworte
hat er von der Nachwelt wegen eines Übersetzungs-
fehlers angehängt bekommen: »Pippinus Minor«
heißt »Pippin der Jüngere«; so nannten ihn auch seine
Zeitgenossen, um ihn von den ersten beiden Pippins
abzuheben. Daß mit »minor« auch klein und kurz ge-
meint sein könnte, ist damals niemand in den Sinn ge-
kommen.
& Lit.: Das große Personenlexikon zur Weltge-
schichte (ohne Ort und Jahr); Stichwort vorge-
schlagen von Doris Krämer.

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LexPI Bd. 2 Piraten 269

Piraten
Piraten waren grausam und verschlagen
Dieser in ungezählten Kinderbüchern fortgepflanzte
Mythos hält den Erkenntnissen moderner Forschun-
gen nicht stand. Demnach waren die Piraten des spät-
en 17. und frühen 18. Jahrhunderts (das sog. »Gol-
dene Zeitalter des Piratenwesens«) alles andere als
rohe, ungehobelte und nur auf Raub und Mord verses-
sene Gesellen. Sie lebten zwar am Rande der Gesell-
schaft, das aber kollegial und solidarisch, mit »festen
sozialen und sogar ethischen Verhaltensregeln«; wer
im Gefecht verwundet und berufsuntauglich wurde,
durfte mit einer Abfindung rechnen (der Vorläufer der
Bismarckschen Invaliditätsrente), Witwen und Wai-
sen von gefallenen Piraten wurden von den Kamera-
den mitversorgt, Gefangene wurden meist human be-
handelt (allein schon, um sie lebendig gegen Lösegeld
zu tauschen).
Anders als der Rest der damaligen Gesellschaft
lebten die Piraten auch sehr demokratisch. »Die mei-
sten wichtigen Entscheidungen wie über Kursänder-
ungen oder Angriff wurden per Abstimmung von der
gesamten Crew getroffen. Der Kapitän wurde häufig
von der Mannschaft gewählt.« Die Beute wurde
gleichmäßig verteilt, es gab weder Diskriminierung
von Minderheiten noch Rassismus, es ist belegt, daß
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LexPI Bd. 2 Piraten 269

überwiegend weiße Piratenbanden einen Schwarzen


zu ihrem Kapitän wählten, das soziale Binnenleben
auf Piratenseglern hätte vor Gottes Auge vermutlich
eher Gnade gefunden als das in einem damaligen Klo-
ster.
Von diesen »echten« Piraten zu unterscheiden sind
die »ehrbaren« Kaufleute, die die Unsicherheiten der
damaligen internationalen Politik benutzten, um mit
dem Segen der einen Partei die Schiffe der anderen zu
kapern und zu plündern. Hier wurde durchaus auf die
Verzinsung des eingesetzten Kapitals geachtet, und
hier war die Welt der Buchhalter und Bürger noch in
Ordnung.
& Lit.: Frank T. Zumbach: William Kidd – Über
einen Erzpiraten, amerikanische Freibeuter und
korrupte Herren mit hohen Perücken, Mindelheim
1988; David Cordingly: Unter der schwarzen
Flagge: Romantik und Wirklichkeit im Leben der
Piraten, München 1997; »An Bord wurde demo-
kratisch abgestimmt«, Die Welt, 24.4.1998.

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LexPI Bd. 1 Planeten 1 245

Planeten 1
Die Planeten bewegen sich in Kreisen um die
Sonne
Die Planeten bewegen sich nicht in Kreisen, sondern
in Ellipsen um die Sonne (und auch das nicht perfekt:
die Bahnen sind nur annähernd Ellipsen). Die Entfer-
nung der Erde von der Sonne variiert z.B. zwischen
147 Millionen und 152 Millionen Kilometern. Noch
weiter schwanken die Abstände des Planeten Pluto:
zwischen 4,43 und 7,38 Milliarden Kilometern.

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LexPI Bd. 1 Planeten 2 245

Planeten 2
Von allen Planeten hat Pluto die größte Entfer-
nung zu der Sonne
Der Planet Pluto ist nicht immer der äußerste unter
den Planeten unserer Sonne. Während wir diese Zei-
len schreiben, befindet sich der Planet Pluto näher an
der Sonne als Neptun, und dieser Zustand wird noch
bis 1999 dauern (sich dann aber erst wieder von 2227
bis 2247 wiederholen).
Der Grund für Plutos aktuell größere Nähe zur
Sonne ist seine stark elliptische Umlaufbahn: Seine
Distanz zur Sonne schwankt von 4,43 Milliarden im
nächsten Punkt (dem sogenannten »Perihel«) bis zu
7,38 Milliarden Kilometer im entferntesten Punkt
(dem sogenannten »Aphel«). Neptun dagegen zieht
eine viel kreisförmigere Bahn mit einem Perihelab-
stand von 4,46 Milliarden Kilometern, 30 Millionen
Kilometer mehr als Pluto. Damit kommt Pluto period-
isch näher an die Sonne als Neptun; für diese Zeit
gibt Pluto die rote Laterne des letzten Planeten ab.
& Lit.: Isaac Asimov: Wenn die Wissenschaft
irrt ..., Bergisch-Gladbach 1990.
¤ Ein grobes Bild der Umlaufbahnen von Neptun
und Pluto: zuweilen ist Pluto näher an der Sonne
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LexPI Bd. 2 Platzangst 270

Platzangst
Platzangst ist die Furcht vor engen Räumen
Wer in engen Aufzügen vor Angst zu schwitzen an-
fängt, leidet unter Klaustrophobie, »der krankhaften
Angst, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten«
(Brockhaus Enzyklopädie). Mit Platzangst bzw. Ag-
arophobie meint die Medizin die Angst vor dem
Überschreiten freier Plätze, also genau das Gegenteil.
& Stichwort vorgeschlagen von Bernd Linnemann
und Alexander Kupfer.

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LexPI Bd. 1 »Play it again, Sam!« 246

»Play it again, Sam!«


Diesen berühmten Satz aus dem berühmten Spielfilm
»Casablanca« hat weder Humphrey Bogart noch eine
andere Figur in diesem Drama je gesagt. An einer
Stelle sagt Ingrid Bergman: »Play it once, Sam, for
old time's sake«, und an einer anderen sagt Bogart:
»You played it for her, you can play it for me. Play
it.« Aber so wie oben sucht man diesen Satz in die-
sem Film vergebens.
& Lit.: Nigel Rees: Quote ... Unquote, London
1978.

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LexPI Bd. 2 Pleitegeier 270

Pleitegeier
Der Pleitegeier ist ein Geier
Der »Geier« in der Pleite ist Jiddisch für »Geher«:
Pleitegeier = Pleitegeher.
& Lit.: Kurt Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensar-
ten – und was dahinter steckt, Wiesbaden 1960.

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LexPI Bd. 1 Plumpudding 246

Plumpudding
Der englische Plumpudding, wie auch die anderen
englischen Puddings, hat mit dem deutschen Pudding
nichts zu tun. Ein »black pudding« ist z.B. eine Blut-
wurst, ein »Yorkshire pudding« ist ein heißer Paste-
tenteig, den man als Beilage zu Fleischgerichten ißt,
und der berühmte Plumpudding ist eine Art Christ-
stollen aus Mehl, Nierenfett, Weißbrot, Eiern, Dörr-
obst, Nüssen sowie Sherry oder Kognak; er ist als tra-
ditionelles Weihnachtsdessert bekannt und wird oft
mit heißer Vanille- oder Himbeersoße gegessen,
manchmal vorher noch flambiert. Am besten soll er
einige Wochen nach dem Backen schmecken.
& Lit.: Paul Fischer und Geoffrey P. Burwell: Klei-
nes England Lexikon, München 1988.

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LexPI Bd. 1 Poker 247

Poker
Poker ist ein typisch amerikanisches Kartenspiel
Das Pokerspiel entstand nicht im amerikanischen
Wilden Westen, sondern 3000 Jahre früher im alten
Persien. Das Spiel hieß »As« und kannte schon die
meisten Blätter des modernen Poker wie Paar, Dril-
ling, Full House oder Vier von einer Sorte. Genauso
war auch das Bluffen, die eigentliche Würze des mo-
dernen Poker, damals schon bekannt. Mit den Kreuz-
fahrern kam dieses Spiel dann nach Europa; in Italien
hieß es »Primero«, in Frankreich »Boullotte«, und
von Frankreich kam das Spiel auch nach Amerika: es
wurde von französischen Kolonisten nach Louisiana
mitgenommen und verbreitete sich von dort entlang
des Mississippi schnell im ganzen Westen.
& Lit.: Le livre mondial des inventions, Paris 1982.

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LexPI Bd. 2 Polka 270

Polka
Die Polka kommt aus Polen
Die Polka hat nur indirekt mit Polen zu tun. Sie kam
1831 in Böhmen auf und erhielt ihren Namen zu
Ehren der damals von den Russen unterdrückten
Polen. Auch die Polonaise ist vermutlich außerhalb
von Polen (in Sachsen) entstanden.
& Lit.: Duden, Bd. 7, Herkunftswörterbuch, Mann-
heim 1989; Etymologisches Wörterbuch des
Deutschen, Berlin 1989.

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LexPI Bd. 2 Pomade 271

Pomade
Ein pomadiger Mensch ist schmierig
Ein pomadiger Mensch ist »po malu« – polnisch für
»langsam, gemächlich«; in diesem Sinn ist dieses
Wort in der Studentensprache des 17. Jahrhunderts
erstmals aufgekommen.
& Lit.: Ernst Wasserzieher: Woher? Ableitendes
Wörterbuch der deutschen Sprache, Bonn 1966.

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LexPI Bd. 1 Pompeji 247

Pompeji
Die Stadt Pompeji wurde unter den Lavamassen
des Vesuv begraben
Das antike Pompeji wurde nicht von der Lava, son-
dern von der Asche und anderem Explosionsgestein
des Vesuvs begraben, das bei dem großen Ausbruch
am 24. August des Jahres 79 in die Luft geschleudert
wurde. Seine Bewohner kamen auch nicht in erster
Linie durch die unmittelbare Gewalt des Vulkans,
sondern indirekt durch Atemnot oder giftige Gase zu
Tode, die bei diesem Ausbruch in großen Mengen
ausgestoßen wurden.
Wäre Pompeji so wie das benachbarte Hercula-
neum von heißer Lava zugeschüttet worden, hätte es
nicht so unbeschadet die 17 Jahrhunderte bis zu sei-
ner Wiederentdeckung überstanden. Aber unter einem
sieben bis acht Meter dicken Schutzmantel aus Asche,
die durch einen schweren Regen bald nach der Kata-
strophe fest zusammenpappte, wurde es für die Nach-
welt quasi zugeschweißt.

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LexPI Bd. 2 Posh 271

Posh
Posh steht für »Port out, starbord home« (s.a. ð
»Snob«)
Zu Königin Viktorias Zeiten hätten reiche Engländer
ihre Schiffsreisen nach Indien vorzugsweise auf der
linken (Port = Backbord-)Seite des Dampfers ge-
bucht, so sagt die Sage; dort war es kühler, diese
Seite lag häufiger im Schatten. Umgekehrt auf der
Rückreise: Jetzt war die rechte (Starbord = Steuerb-
ord-)Seite angenehmer, solche Leute waren »posh«.
In Wahrheit kosteten die Kabinen auf beiden Seiten
des Schiffes das gleiche; in den Unterlagen der P &
O-Line, die den Hauptverkehr nach Indien besorgte,
findet sich kein einziger Fall einer solchen Posh-Bele-
gung, und ab der Mittagszeit, also in der größten
Hitze, war die Seite des Schiffs, auf der sich die Kabi-
ne befand, für das Wohlergehen ohnehin kaum noch
erheblich.
Das Wort »posh« gab es schon zu Shakespeares
Zeiten, es meinte damals wie heute einen gutsituierten
Lebemann, und die obige Erklärung wurde nachträg-
lich hinzugedichtet.
& Lit.: Graeme Donald: Things you didn't know you
didn't know, London 1993.

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LexPI Bd. 2 Positives Denken 272

Positives Denken
Positives Denken fördert die Mentalhygiene
So behaupten verschiedene Bestsellerautoren, die mit
dieser These sehr viel Geld verdienen (der Titel
»Sorge dich nicht, lebe« von Dale Carnegie wurde al-
lein in Deutschland über 3 Millionen mal verkauft).
Dem Psychologen Günter Scheich zufolge führt zu-
viel positives Denken aber eher in die Krankheit hin-
ein als aus der Krankheit heraus: So utopische Ziele
wie ein vollkommen angstfreies Leben, ewige Harmo-
nie, natürlich zufallender Reichtum oder absolute Ge-
sundheit hätten kaum etwas mit der von vielen als
eher leidvoll erfahrenen Wirklichkeit zu tun; indem
aber die Positiv-Denker jedes Verfehlen dieser Ziele
einem Mangel an positivem Denken und damit indi-
rekt sich selber anlasteten, trieben sich diese Men-
schen nur noch tiefer in die Depression hinein. Ein
Speditionsangestellter z.B. versuchte sich mit den
Werken des auch in Deutschland vielgelesenen Reli-
gionswissenschaftlers Joseph Murphy von seinem
Waschzwang zu kurieren. »Aus den Büchern lernte
er, daß es von ihm selbst abhänge, wie er sich fühle.
Immer wieder zermarterte er sich den Kopf, ob er
wirklich eins sei mit dem Universum, wie es von
Murphy gefordert wurde. Als Ergebnis seiner Grübe-
leien stellte er fest, daß er viel zu unrein für das Univ-
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LexPI Bd. 2 Positives Denken 272

ersum sei. Die Konsequenz: Er wusch sich häufiger


denn je.«
& Lit.: Chris Thurman: Noch mehr Lügen, die wir
glauben, Aßlar 1997 (besonders das Kapitel »My-
thos Nr. 6: Man muß positiv denken«); Günter
Scheich: Positives Denken macht krank. Vom
Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen,
Frankfurt a.M. 1997; Jörg Zittlau: »Sorge dich
ruhig, lebe trotzdem«, Hannoversche Allgemeine
Zeitung, 13.1.1998.

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LexPI Bd. 1 Potemkinsche Dörfer 247

Potemkinsche Dörfer
Dieses Sinnbild für Lug und Trug tut dem russischen
Fürsten Gregor Alexandrowitsch Potemkin
(1739–1791), Feldmarschall aller russischen Streit-
kräfte, Großadmiral des Schwarzen Meeres und wich-
tigster Berater der Zarin Katharina, großes Unrecht
an. Auf einer Inspektionsreise durch die Krim soll Po-
temkin, so die Sage, seiner Zarin blühende Kulissen-
dörfer, wie man sie beim Film verwendet, als echte
Siedlungen vorgeführt haben, um seine Mißerfolge
bei der Besiedlung des Landes zu vertuschen.
Dieser Hofklatsch wurde von Feinden Potemkins in
St. Petersburg verbreitet, um den Günstling in Miß-
kredit zu bringen. Weder die Zarin selbst, die viel zu
clever war, um sich auf so plumpe Weise betrügen zu
lassen, noch andere Zeitgenossen haben jemals daran
geglaubt. Erst als ein sächsischer Diplomat namens
Helbig in seinen 1797 veröffentlichten Memoiren
davon als einer tatsächlichen Begebenheit sprach, hat
diese Anekdote ihren Weg auch in seriöse Geschichts-
bücher gefunden. Aber da waren die Zarin und Potem-
kin lange tot.
& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-
serwisser, München 1986 (besonders den Ab-
schnitt »Potemkin: Seine Dörfer waren keines-
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LexPI Bd. 1 Potemkinsche Dörfer 248

wegs aus Pappe«); Stichwort »Potemkin« in: Das


Große Personenlexikon, Dortmund 1988.

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LexPI Bd. 2 Präriehunde 272

Präriehunde
Präriehunde sind Hunde (s.a. ð »Nilpferde«)
Präriehunde (französisch »petit chien«, wissenschaft-
licher Name »Cynomys ludovicianus«) sind Murmel-
tiere; sie leben in mehreren Arten in Nordamerika und
heißen wegen ihrer bellenden Warnlaute dort auch
»barking squirrels«.
& Lit.: Brockhaus abc Biologie, Leipzig 1975; W.
Eigener: Großes Farbiges Tierlexikon, Herrsching
1982; Stichwort vorgeschlagen von Alfredo
Grünberg.
¤ Auch wenn er bellt – es ist kein Hund

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LexPI Bd. 1 Prävention 1 248

Prävention 1
Vorbeugen ist billiger als heilen (s.a. ð »Rau-
cher«)
Vorbeugen ist vielleicht besser, aber nicht billiger als
heilen. Von einer rein wirtschaftlichen Warte aus ge-
sehen, die ja die Verfechter der These »Vorbeugen ist
billiger als heilen« implizit immer einnehmen, ist der
größte Teil des immer wieder angemahnten Mehrauf-
wands für Prävention in unserem Gesundheitswesen
eine reine Geldverschwendung.
Der Grund ist so trivial wie unangenehm: Auch
Nichtraucher müssen sterben, genau wie Müsli-
Freunde oder Anti-Alkoholiker, und eine per Präven-
tion verhinderte Krankheit macht uns leider nicht un-
sterblich, wie viele Präventionsverliebte offenbar zu
glauben scheinen, sondern in erster Linie doch nur
Platz für eine andere Krankheit.
Die letztendliche Sterblichkeitsrate bleibt immer
100 Prozent, da kann die Medizin machen was sie
will. Sterben wir nicht an Krebs A, dann an Krebs B,
und sterben wir nicht an Krebs, dann an Alzheimer
und Herzinfarkt, und damit sind wir auch schon bei
den Kosten angelangt. Denn ob die erfolgreiche Vor-
beugung einer bestimmten Krankheit das Gesund-
heitsbudget entlastet oder nicht, hängt doch entschei-
dend davon ab, was billiger ist: die verhinderte
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Prävention 1 248

Krankheit oder die, die man stattdessen kriegt, und


diese »Ersatzkrankheit« wird in vielen Studien, die
der Prävention einen rein ökonomischen Nutzen be-
scheinigen, ganz einfach übersehen.
Das Musterbeispiel einer solchen Milchmädchen-
rechnung ist die folgende Werbung für Kreislauf-Prä-
ventivkuren aus dem Deutschen Ärzteblatt: Ein 45-
jähriger, leicht übergewichtiger Mann mit mäßig
überhöhtem Blutdruck, der täglich 20 Zigaretten
raucht, wird mit 32prozentiger Wahrscheinlichkeit in-
nerhalb der nächsten sechs Jahre einen Herzinfarkt er-
leiden (d.h. pro hundert Männer werden im Durch-
schnitt 32 Infarkte auftreten). An diesen Zahlen be-
steht leider kaum Anlaß zu zweifeln. Dieses Risiko,
so rechnen die Autoren, sänke nach einer 3000 Mark
teuren Präventivkur auf nur noch 4 Prozent. Bei hun-
dert Kuren folgen daraus Gesamtkosten von 300000
Mark. Dem stehen durchschnittlich 29 verhinderte
Herzinfarkte gegenüber, deren Therapie pro Fall rund
24000 Mark, zusammen also 29 mal 24000 =
696000 Mark verschlingen würde (wiederum nach
den Berechnungen der Autoren, die wir, obwohl in-
zwischen schon veraltet, als korrekt unterstellen wol-
len). Ergo sparen solche Kuren den Krankenkassen
Geld. Zumindest sieht das auf den ersten Blick so aus.
Hundert Kuren kosten 300000 Mark, ersparen aber
Kosten von 696000 Mark – ein scheinbarer Nettoge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Prävention 1 249

winn für die Krankenkassen von 396000 Mark.


In Wahrheit wird dieser Gewinn sehr schnell zu
heißer Luft, wenn wir an Ersatzkrankheiten denken.
Allein schon in den sechs Jahren, auf die sich die Kal-
kulation bezieht, und danach erst recht können die vor
Herzinfarkt bewahrten Männer alle möglichen ande-
ren Krankheiten bekommen, für die, wären sie am In-
farkt verstorben, die Kasse keinen Pfennig zahlen
müßte. Ein einziger AIDS-Fall unter den Geretteten,
und die Kassen legen netto zu ...
»Denn man darf nicht übersehen«, konstatiert
Hanns Peter Wolff, Vorsitzender des Wissenschaftli-
chen Beirats der Bundesärztekammer, im Deutschen
Ärzteblatt, »daß Kostenersparnis durch Prävention
eine Illusion ist, jedenfalls in diesem Jahrhundert,
denn Lebensverlängerung durch Gesundheitserzie-
hung und Früherkennung verlangen ihren ökonomi-
schen Preis, oft durch medikamentöse Langzeitbe-
handlung frühzeitig diagnostizierter Leiden, stets
durch Vermehrung der altersabhängigen Krankheits-
last.« Das Fazit einer Globalbetrachtung, die auch in-
direkte Effekte berücksichtigt, ist immer, so der Han-
noveraner Sozialmediziner F.W. Schwartz, ein vehe-
menter Verfechter von mehr Prävention, wenn auch
aus anderen Gründen als der Kostendämpfung, »daß
Prävention dann, wenn sie vorzeitige Sterblichkeit
vermeiden hilft, im wesentlichen nur zusätzliche Ko-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Prävention 1 249

sten und ansteigende Behinderungslast verursacht.«


Selbst in der Zahnmedizin, wo uns die Kostenargu-
mente noch am ehesten überzeugen, sind die pro-Ar-
gumente längst nicht so wasserdicht wie viele glau-
ben, denn die kurativen Eingriffe werden ja durch eif-
riges Zähneputzen nicht prinzipiell verhindert, son-
dern nur ein paar Jahre aufgeschoben. Statt mit 40 be-
kommt man dann sein Gebiß mit 70, aber zahlen muß
die Kasse so oder so.
Oft ist Prävention sogar selbst schon teurer als die
Behandlung, die man dadurch spart. So zweifelt Loui-
se Russell in ihrem Buch The economics of preventi-
on sogar den Spareffekt von Schutzimpfungen, aber
auch anderer Präventionsprogramme an, bei denen
man nicht vorher weiß, wer in der Risikogruppe die
jeweilige Krankheit ohne Prävention bekommen hätte.
Ungezählte Menschen werden nämlich geimpft, mit
blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt oder
durch Vorsorgeuntersuchungen aller Art geschleust,
die ohnehin die Krankheit nie bekommen hätten. Für
diese ist das Geld für die Prävention also gewisserma-
ßen zum Fenster hinausgeworfen. Bei akuten Fällen
dagegen wird der Aufwand wirklich nur dort getrie-
ben, wo er wirklich nötig ist. Wenn auch die Behand-
lung akuter Fälle pro Patient in der Regel teurer ist als
Vorbeugung, so ist doch die Fallzahl und oft allein
schon deshalb auch der Gesamtaufwand der Therapie,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Prävention 1 250

wie beispielhaft bei der Bekämpfung von Masern, er-


heblich kleiner. »Nur wenige Präventionsprogramme,
falls überhaupt welche, tragen zur Kostenreduktion
im Gesundheitswesen bei«, stellt Frau Russell daher
als Fazit ihrer Untersuchung fest.
& Lit.: G.B. Gori und Brian J. Richter
»Macroeconomics of disease prevention in the
United States«, Science 200, 1978, S.
1124–1129; Louise B. Russell: The economics of
prevention, Washington 1986; Michael Arnold,
Christian v. Ferber und Klaus-Dirk Henke
(Hrsg.): Ökonomie der Prävention, Gerlingen
1990; Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.

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LexPI Bd. 1 Prävention 2 250

Prävention 2
Mehr Prävention bringt mehr Gesundheit
Es ist eine Illusion, daß wir durch mehr Prävention im
Gesundheitswesen die Gesundheit nochmals wesent-
lich verbessern könnten. Wer das glaubt, wirft den
Nutzen und den Grenznutzen von Präventionsmaß-
nahmen im Gesundheitswesen durcheinander.
Fest steht: Durch bessere Hygiene und Ernährung,
aber auch durch die erfolgreiche Prävention von In-
fektionskrankheiten wie Typhus, Pocken, Cholera und
Pest, ist unsere Lebensspanne seit Anfang des Jahr-
hunderts von knapp 40 auf heute über 70 Jahre ange-
stiegen. Dieser Erfolg der Prävention ist unbestritten
klar.
Weit weniger klar ist aber die Wirkung zusätzli-
cher Präventionsmaßnahmen über das hinaus, was
wir derzeit schon an Vorbeugung und Früherkennung
treiben. Denn eine weitere Verdoppelung unserer Le-
benserwartung, von 70 bis 80 auf 140 bis 160 Jahre,
wäre auch bei einer (hypothetischen) Vorbeugung der
heutigen Menschheitskiller Krebs und Kreislaufleiden
völlig ausgeschlossen. Nach den leichten Siegen über
die Infektionskrankheiten der Vergangenheit muß die
Medizin für ihre Erfolge heute weitaus härter kämp-
fen, wobei es oft sowohl billiger wie für die Gesund-
heit besser ist, die Krankheit abzuwarten, als sie im
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Prävention 2 251

Vorfeld zu bekämpfen.
Billiger, weil Therapie im Idealfall nur da ange-
wendet wird, wo man sie wirklich braucht; bei Prä-
ventionsmaßnahmen dagegen werden ungezählte Per-
sonen untersucht, geröntgt, geimpft oder sonstwie
durch die Mühlen des modernen Medizinbetriebs ge-
schleust, die diesen Aufwand gar nicht brauchen. Für
die Gesundheit besser, weil auch Prävention nicht un-
gefährlich ist, von den Röntgenstrahlen angefangen
bis zur Blutdrucksenkung (manche Menschen bekom-
men davon Depressionen) oder bis zu manchen
Schutzimpfungen, die unter dem Strich mehr Schaden
als Nutzen stiften. Beispiele sind Impfungen gegen
Keuchhusten – wegen möglicher Nebenwirkungen
von vielen Kinderärzten nicht empfohlen, gegen Zek-
ken – manche Ärzte meinen, daß die Impfungen
gegen Zecken mehr Menschenleben fordern als die
Zecken selber, oder gegen die Malaria: »Die Gefahr
einer schweren gesundheitsschädlichen Nebenwirkung
durch das eingenommene Malaria-Medikament ist ge-
nauso groß wie die Gefahr, in diesen sogenannten
Low-Risk-Gebieten an Malaria schwer zu erkran-
ken«, warnt ein Tropenmediziner alle Reisenden in
nicht extrem gefährdete Gebiete. Besser sei es, sich
behandeln zu lassen, wenn Malaria-Symptome aufträ-
ten.
Natürlich kann man nicht das Riesenspektrum me-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Prävention 2 251

dizinischer Präventionsmaßnahmen über einen einzi-


gen Leisten schlagen; daß es auch viele sinnvolle Prä-
ventionsprogramme gibt, haben wir ja weiter oben
selbst gesagt. Aber das vermeintliche Wundermittel
gegen Krankheit und Kostenplage sind sie nun auch
wieder nicht.
& Lit.: Petr Skrabanek und James McCormick: Tor-
heiten und Trugschlüsse in der Medizin, Mainz
1991; Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993; James Le Fanu: Preventionitis –
the exaggerated claims of health promotion, Lon-
don 1994.

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LexPI Bd. 1 Präzise Zahlen 251

Präzise Zahlen
Präzise Zahlen garantieren Präzision
Viele Zahlen, die uns mit einem langen Gefolge von
Ziffern beeindrucken, sind in Wahrheit äußerst unprä-
zise. Wenn wir lesen: »Im Zweiten Weltkrieg sind
13165233 Zivilpersonen umgekommen« (wie in dem
Buch Fighting with Figures des englischen Statisti-
schen Zentralamts ausgewiesen), so ist keine einzige
der acht Ziffern dieser Zahl exakt: die im Zweiten
Weltkrieg umgekommenen Zivilpersonen sind weder
auf Millionen noch auf Tausend noch gar auf Hundert
Menschen sicher anzugeben.
Trotzdem vertrauen wir solchen vielziffrigen Zah-
len eher als runden, glatten Zahlen, wie: 20 Million-
en, 30 Millionen etc.; wir denken völlig richtig: eine
runde Zahl ist (fast) immer falsch, aber wir ziehen
daraus den falschen Umkehrschluß, daß jede nicht
runde Zahl exakt sein muß.
Weil viele moderne Datenhändler von diesem
Trugschluß wissen, präsentieren sie uns ihre Ware
gerne hinter einer dicken Schminke von Phantasiezif-
fern, hinter denen die eigene fundamentale Unkenntnis
verborgen werden soll: Die Kosten der Olympischen
Spiele in Barcelona (DM 2409196200), die Einwoh-
ner der Volksrepublik China (1151486981), der jähr-
liche Kalorienverbrauch des durchschnittlichen Bun-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Präzise Zahlen 252

desbürgers, die gestohlenen Fahrräder in der Bundes-


republik, das Alter der Erde, die Einfuhr von elektri-
schen Bügeleisen aus Hongkong und viele andere
Zahlen mehr werden uns gerne bis auf die Person, die
Mark, das Stück genau gemeldet, obwohl von allen
diesen Ziffernreihen bestenfalls die erste Ziffer – und
oft noch nicht einmal diese – richtig ist.
& Lit.: Walter Krämer: So lügt man mit Statistik,
Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 2 Preußen 1 273

Preußen 1
»So schnell schießen die Preußen nicht ...«
In den Schlachten des 18. und 19. Jahrhunderts schos-
sen die preußischen Soldaten eher schneller als die
Franzosen, Engländer und Österreicher, dafür sorgte
schon der Drill (bzw. die eisernen Ladestöcke, welche
die Preußen früher als die Engländer, Österreicher
und Franzosen statt der alten Holzmodelle nutzten).
Das Sprichwort von den langsamen preußischen
Schützen hat seinen Ursprung in der preußischen Mi-
litärgerichtsbarkeit: Anders als andere wurden preußi-
sche Soldaten, wenn sie desertierten, nicht so eilig
selber totgeschossen. In den Armeen Frankreichs oder
Englands war für das Desertieren die Todesstrafe ob-
ligatorisch, aber nicht in Preußen, hier wurde man im
allgemeinen »nur« verprügelt.
& Lit.: Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, 3.
Auflage, Hamburg 1979; Stichwort vorgeschla-
gen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Preußen 2 273

Preußen 2
Preußen bzw. Deutschland waren die kriegerisch-
sten Staaten in Europa
Frankreich und nicht Preußen/Deutschland war das
kriegerischste Land Europas, es war an 1136 der ins-
gesamt 2659 Landschlachten der Neuzeit (von 1480
bis 1940, da hört die Statistik auf) aktiv und mehr-
heitlich als Angreifer beteiligt (es folgen Österreich
mit 807, Preußen mit 616 und England mit 558).
Als Landschlacht (»battle«) zählt der amerikani-
sche Historiker Quincey Wright, dem wir hier folgen,
jedes kriegerische Treffen mit mehr als 1000 Todes-
opfern. Von 1480 bis 1940 gab es nur eine einzige
Dekade – von 1720 bis 1729 – ohne jedes derartige
Gemetzel, ansonsten befand sich immer irgendein
Land Europas mit irgendeinem anderen Land im
Krieg. Und am häufigsten war dabei Frankreich ein-
gebunden. Von 1700 bis 1940 hat es an 38 »offiziel-
len« Kriegen teilgenommen, Preußen an 23 und Öst-
erreich bzw. das Deutsche Reich an 27; in 24 der 100
Jahre des 19. Jahrhunderts befand sich Frankreich mit
mindestens einer anderen Nation im Kriegszustand,
Preußen nur in 17 und Österreich nur in 7 Jahren, und
auch im 18. Jahrhundert führte Frankreich die interna-
tionale Hitliste mit 26 Jahren kriegerischen Treibens
an.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Preußen 2 274

& Lit.: G. Bodart: Militär-historisches Kriegslexi-


kon, Leipzig 1908; Q. Wright: A study of war,
Chicago 1941.

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LexPI Bd. 1 Preußische Beamte 252

Preußische Beamte
Die Beamten im alten Preußen waren unbestech-
lich
Die Beamten im alten Preußen waren nach heutigen
Maßstäben recht korrupt; wenn wir an die höhere
Verwaltung im Preußen Friedrich Wilhelms oder
Friedrichs des Großen die gleichen Maßstäbe anlegen
wollten wie an höhere Regierungsbeamte heutzutage,
müßte wohl die Mehrzahl der seinerzeitigen Staats-
beamten posthum hinter Gitter kommen.
Angefangen bei der ersten Kammerzofe über den
königlichen Schloßverwalter bis hin zum ersten
Staatsminister, der sich nacheinander von England,
von Frankreich und schließlich im großen Stil vom
Wiener Hof bestechen ließ, haben viele hohe Beamte
in der Verwaltung des Soldatenkönigs Friedrich Wil-
helm gegen Bargeld ausländischen Mächten ausgehol-
fen, sein eigener Sohn, der spätere König Friedrich,
durchaus nicht ausgenommen. Denn um diverse
Schulden zu bezahlen, hatte Friedrich hinter dem
Rücken seines Vaters eine österreichische Jahrespen-
sion von 2500 Dukaten angenommen ...
Davon liest man in Geschichtsbüchern nur wenig,
vielleicht auch, weil durch die Reformen nach den
Napoleonischen Kriegen die preußische Verwaltung
tatsächlich ihrem modernen Ruf entsprechend sauber
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Preußische Beamte 253

wurde. Aber das sollte niemand darüber hinwegtäu-


schen, daß lange Jahre auch in Preußen durchaus Sit-
ten herrschten, die nach unseren Vorurteilen sonst vor
allem auf dem Balkan gelten.
& Lit.: Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19.
und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1958; Gerhard
Prause: Tratschkes Lexikon für Besserwisser,
München 1986 (besonders das Kapitel »Preußen:
nicht immer waren seine Beamten unbestech-
lich«).

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LexPI Bd. 2 Priamos 274

Priamos
Der Schatz des Priamos stammt aus der Zeit des
Priamos (s.a. ð »Troja«)
Der Schatz des Priamos, im Jahr 1873 von Heinrich
Schliemann in Troja ausgegraben, hat mit dem König
Priamos des Trojanischen Krieges nichts zu tun – die
Ruinen, aus denen Schliemann seine Kostbarkeiten
ausgrub, sind rund 1000 Jahre älter (sie stammen aus
der um 2300 v. Chr. entstandenen Schicht Troja 2,
das Troja des Trojanischen Krieges ist das 1000 Jahre
jüngere Troja 7).
& Lit.: »Der Schatz des Priamos«, Stern 15/1996;
Brigitte Brandau: Troja – Eine Stadt und ihr My-
thos, Bergisch Gladbach 1997.

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LexPI Bd. 1 Protektionismus 253

Protektionismus
Protektionismus sichert Arbeitsplätze
Protektionismus sichert nach aller Erfahrung der letz-
ten Jahre keine Arbeitsplätze. Ein Land, das durch
Zölle oder andere Importschranken gewisse seiner In-
dustrien schützt, schadet so indirekt in aller Regel
vielen anderen, mit einer Nettobilanz, die meistens
rote Zahlen zeigt. Nach Schätzung amerikanischer
Ökonomen hat die Reagan-Regierung mit ihren Zöl-
len auf ausländische Stahlimporte rund 17000 Ar-
beitsplätze in der amerikanischen Stahlindustrie geret-
tet, gleichzeitig aber rund 53000 Arbeitsplätze in
stahlverarbeitenden Industrien vernichtet, die wegen
dieser Zölle mehr als sonst für Stahl bezahlen muß-
ten – netto ein Verlust von 36000 Arbeitsplätzen.
Wenn also weltweit alle möglichen Anbietergrup-
pen, von Autoproduzenten über Elektronikfirmen bis
zu Zigarettenfabrikanten, mit dem Argument der Ar-
beitsplätze auf Schutz vor ausländischen Billiganbie-
tern pochen, sollten wir sehr skeptisch sein: Schutz
der Arbeitsplätze in der geschützten Industrie viel-
leicht – Schutz der Arbeitsplätze in der Volkswirt-
schaft als ganzes sicher nicht. Denn jeder Schutz
eines inländischen Anbieters macht die Inlandspreise
teurer, sowohl direkt als auch indirekt, durch die Ver-
teuerung der Einkaufspreise anderer Unternehmen,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Protektionismus 253

und schadet so der Wirtschaft. So zahlen etwa japani-


sche Konsumenten rund das doppelte für Kleider und
Textilien als sie müßten, und für Brot und Reis das
Drei- bzw. Siebenfache, von den Nahrungsmittel-
Wahnsinnspreisen in Europa ganz zu schweigen, und
diese hohen Konsumgutpreise, die sich in hohen Löh-
nen niederschlagen, treiben zusammen mit den unnö-
tig hohen Materialkosten die inländischen Güter aus
dem Markt.
Wenn also deutsche Autos heute außerhalb der
Landesgrenzen immer schwerer zu verkaufen sind, so
auch deshalb, weil VW und Daimler Benz das Dop-
pelte bis Dreifache für Stahl und Energie bezahlen
müssen wie die Konkurrenz in anderen Ländern,
deren Bergleute und Stahlarbeiter nicht so hermetisch
vor Auslandskonkurrenz gesichert sind, und wenn die
nächsten Entlassungswellen bei Ford und Opel über
der Belegschaft zusammenbrechen, dann können sich
diejenigen, die dann auf der Straße stehen, teilweise
auch beim deutschen Zoll bedanken.
& Lit.: Walter E. Williams: »What trade laws cost
you«, Readers Digest, Mai 1993; Hannelore Wek-
k-Hannemann: »Paradoxon des Protektionismus«,
Wirtschaftsstudium, Juni 1993; Paul Krugman:
»The narrow and broad arguments for free trade«,
American Economic Review, Mai 1993.
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LexPI Bd. 1 Puritaner 254

Puritaner
Die Puritaner waren schon immer puritanisch
Die Puritaner, die im 17. Jahrhundert aus England
nach Amerika zogen, lebten in ihrer neuen Heimat
weit weniger puritanisch als wir heute meinen. Wenn
wir dem Historiker Carl Degler glauben dürfen, der
das Leben dieser frühen Amerikaner einmal auf seine
sozusagen außerdienstlichen Aspekte abgeleuchtet
hat, wußten diese die wenigen Sonnenseiten ihres kar-
gen Lebens durchaus zu genießen. Die frühen Purita-
ner hatten an Sinnenfreuden, auch sexuellen, weltan-
schaulich wenig auszusetzen und sahen den Sinn des
Lebens eher darin, sich in der Schöpfung Gottes zu
bewähren, statt sich daraus auszuklinken.
Den modernen Ruf der Kostverächter erwarben
sich die Puritaner erst im 19. Jahrhundert, als diese
Gründerjahre in Vergessenheit gerieten und man mehr
Zeit zum Frommsein und zum Beten hatte; erst jetzt
wurden Sinnenfreuden und weltliche Genüsse zu den
Stolpersteinen auf dem Weg ins Paradies, als die sie
viele Puritaner auch noch heute sehen.
& Lit.: Carl Degler: »Were the puritans puritani-
cal?« in: N. Cords und P. Gerster: Myth and the
American experience, Glencoe 1978.

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LexPI Bd. 2 Pyramiden 274

Pyramiden
Die Cheops-Pyramide wurde von mehr als
100.000 Arbeitern geschaffen
So sagte der griechische Geschichtsschreiber Herodot,
und so glaubt man oft noch heute.
Moderne Archäologen halten diese Zahlen wie so
viele Zahlen Herodots jedoch für übertrieben (siehe
den Stichwortartikel ð »Perserkriege« in Band 1).
Um sämtliche 2,5 Millionen Steinblöcke der Cheops-
Pyramide mit ihrem Gesamtgewicht von sieben Milli-
onen Tonnen an ihren Platz zu wuchten, braucht man
Energie von rund zweieinhalb Milliarden Kilojoule.
Ein Arbeiter leistet an einem Tag rund 240 Kilojoule
(entsprechend 50 Zentner Kohlen in den dritten Stock
zu schleppen), also waren für das reine Aufschichten
der Steine rund 29.000 Mannjahre Arbeit nötig, und
dafür braucht man bei den insgesamt 8400 Tagen der
Regierung des Cheops pro Tag gerade einmal 1250
Mann.
Natürlich mußten die Steinquader auch herbeige-
schleppt und zugehauen werden, damit steigt auch der
Bedarf an Arbeitskräften. Dazu kamen noch Köche,
Priester oder Putzkolonnen, aber auch nach Einrech-
nen aller dieser Zusatzhelfer kommt man niemals auf
die Zahlen Herodots; nach Meinung moderner Histo-
riker waren für den Bau der Cheops-Pyramide höchst-
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LexPI Bd. 2 Pyramiden 275

ens 15.000 Männer nötig (und auch das nur in der


Anfangsphase).
& Lit.: »Langwieriger Pyramiden-Bau«, Hannover-
sche Allgemeine Zeitung, 5.9.1996; »Und Hero-
dot schwindelte doch«, Geo 12/1996.

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LexPI Bd. 1 Pyramiden 1 254

Pyramiden 1
Die größten Pyramiden gibt es in Ägypten
Die größte Pyramide der Welt steht in Mexiko, bei
Cholula de Rivadabia, 100 km südöstlich von Mexi-
ko City. Sie wurde zwischen dem zweiten und sech-
sten Jahrhundert nach Christus zu Ehren des Azteken-
gottes Quetzalcoatl gebaut und hat mit 18 Hektar
Grundfläche und 54 Meter Höhe einen Rauminhalt
von 3,3 Millionen Kubikmetern, fast eine Million Ku-
bikmeter mehr als die Cheops-Pyramide in Ägypten.
& Lit.: The Guinness book of records.

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LexPI Bd. 1 Pyramiden 2 255

Pyramiden 2
»Von diesen Pyramiden schauen vierzig Jahrhun-
derte auf euch herab« hat Napoleon seinen Solda-
ten vor der Schlacht bei den Pyramiden zugeru-
fen
Nach den Aussagen von Zeitgenossen hat Napoleon
vor der Schlacht bei den Pyramiden keine Ansprache
gehalten; den obigen Satz hat er zwanzig Jahre später,
beim Diktieren seiner Memoiren auf St. Helena, dazu-
gedichtet.
& Lit.: William Lewis Hertslet: Der Treppenwitz
der Weltgeschichte, 11. Auflage, Berlin 1965.

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LexPI Bd. 2 Pythagoras 275

Pythagoras
Der Satz des Pythagoras stammt von Pythagoras
Die berühmte Formel a2 + b2 = c2 war bei der Ge-
burt des Pythagoras im 6. Jahrhundert v. Chr. längst
bekannt; schon die Ägypter nutzten sie zur Konstruk-
tion der Pyramiden.
¤ In einem rechtwinkligen Dreieck sind die Quadrate
der beiden kleineren Seiten zusammen immer ge-
nauso groß wie das Quadrat der größten Seite

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R 276

»If you give up drinking,


smoking and sex, you don't live longer.
It just seems like it.«
Anonymus

»Einen Wahn verlieren macht weiser als eine


Wahrheit finden.«
Ludwig Börne, Fragmente und Aphorismen

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LexPI Bd. 1 Radioaktivität 256

Radioaktivität
Die moderne Strahlenbelastung ist vor allem
Menschenwerk
Die moderne Strahlenbelastung, der wir von der
Wiege bis zur Bahre unterliegen, ist weder modern
noch Menschenwerk – es gab sie immer schon, und
zwar in der Natur.
Die mit Abstand größte Strahlenquelle ist seit jeher
das radioaktive, fast überall im Gesteinsmantel der
Erde vorkommende Edelgas Radon; zusammen mit
anderen Erdstrahlen ist es für durchschnittlich 50 Mil-
lirem Strahlenbelastung pro Jahr und Bundesbürger
zuständig. Aus der anderen Richtung, nämlich aus
dem Weltall, kommen nochmals 30 Millirem per
annum auf uns zu (im Gebirge und bei Flugreisen
noch weit mehr), und mit unserer Nahrung, etwa über
natürliches radioaktives Kalium, setzen wir uns noch-
mals 30 Millirem Belastung aus. Verglichen damit ist
die hausgemachte Belastung etwa durch Röntgengerä-
te, Farbfernseher und erst recht durch Atomkraftwerke
minimal: die Strahlenbelastung für Anrainer von
Atomkraftwerken liegt unter einem Millirem pro Jahr.
& Lit.: Robert Gerwin: So ist das mit der Kernener-
gie (2. Aufl.), Düsseldorf 1978; Stichwortartikel
»Radiation« in Microsoft CD-ROM Encyclopädie
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Radioaktivität 256

Encarta, 1994; »Wo die Erde strahlt«, Test 4/94,


S. 82–83.

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LexPI Bd. 2 Random Walk 276

Random Walk
Ein »Random Walk« kennt keine Regeln
Ein sogenannter »Random Walk« ist eine Folge zu-
fälliger Zahlen, wie sie beim Würfeln oder Münzwer-
fen entsteht: Zwei Spieler werfen eine Münze, bei
»Kopf« gewinnt der erste, bei »Zahl« der zweite, der
Gewinner erhält vom Verlierer eine Mark. Dann bil-
den die Gesamtgewinne eines jeden Spielers einen
»Random Walk«: Bei jeder Spielrunde geht es mit
Wahrscheinlichkeit ein halb um eins nach oben und
mit Wahrscheinlichkeit ein halb um eins nach unten,
und die hintereinanderfolgenden Auf- bzw. Abwärts-
schritte sind unabhängig voneinander.
Solche »Random Walks« sind lupenreine Kinder
blinden Zufalls. Dennoch verblüffen sie durch eine
ganze Reihe von Regelmäßigkeiten: Zum Beispiel ist
die Wahrscheinlichkeit, daß ein »Random Walk«
nach z.B. genau zehn Schritten zum erstenmal wieder
zum Ausgangspunkt Null zurückkehrt, exakt genauso
groß wie die Wahrscheinlichkeit, daß er in zehn
Schritten niemals zur Null zurückkehrt, und dito für
zwanzig, dreißig, hundert oder tausend Schritte. Oder
man kann zeigen, daß ein »Random Walk« vor der er-
sten Rückkehr zur Null jede beliebige Grenze im
Durchschnitt genau einmal überschreitet, und andere
seltsame Eigenschaften mehr, die solche »Random
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Random Walk 276

Walks« zu einem der faszinierendsten Objekte ma-


chen, welche die moderne Mathematik zu bieten hat.
& Lit.: William Feller: An introduction to probabili-
ty theory and its applications, 2 Bände, New York
1957 und 1966 (immer noch eines der weltweit
besten Lehrbücher der Wahrscheinlichkeitstheo-
rie; für mathematisch Interessierte).

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LexPI Bd. 2 Rauchen 277

Rauchen
Die Schikanen gegen öffentliche Raucher sind
eine neumodische Sitte aus Amerika
Das öffentliche Rauchen wurde früher weit stärker an-
gefeindet, als es heute zum guten Ton gehört – im 17.
Jahrhundert etwa mußte man als öffentlicher Raucher
vielerorten mit der Todesstrafe rechnen. Auch wenn
damals nicht unsere Gesundheit, sondern die Feuerge-
fahr im Verein mit einer verbreiteten kalvinistischen
Verzichtsmoral und einem allgemeinen Mißtrauen
gegen Raucher hinter den Verboten stand (wer rauch-
te, galt zu allem fähig): das Naserümpfen ihrer Nach-
barn hatten Raucher nicht erst im 20. Jahrhundert
auszuhalten.
In Preußen wurde das Recht zum Rauchen in der
Öffentlichkeit erst in der 1848er Revolution erstritten.
Als die Volksmassen sich anschickten, das Berliner
Schloß zu stürmen, ließ ein Emissär des Königs seine
Bürger wissen, alle ihre Forderungen seien angenom-
men. »Ooch det Roochen?« fragte ein Demonstrant.
»Ja, auch das Rauchen«, antwortete der Sprecher des
Königs. »Ooch im Tiergarten?« – »Ja, auch im Tier-
garten darf geraucht werden, meine Herren.«
Das war einer der wenigen bleibenden Erfolge der
Revolution von 1848.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Rauchen 277

& Lit.: Karl Pawek: »Raucher, hört die Signale«,


Die Zeit, 19.9.1997; Stichwort vorgeschlagen von
Sabine Warschburger.

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LexPI Bd. 1 Raucher 1 256

Raucher 1
Raucher machen das Gesundheitswesen teurer
Um eines gleich zu Anfang klarzustellen: keiner der
Verfasser dieses Buches raucht (von einer gelegentli-
chen Zigarre nach dem Abendessen abgesehen). Gen-
ausowenig haben wir jemals Honorare von der Taba-
kindustrie bekommen, und deshalb erlauben wir uns,
ohne rot zu werden, hier einmal deutlich auf die gern
verdrängte Wahrheit hinzuweisen, daß Raucher unser
Gesundheitswesen nicht verteuern, wie man ihnen
immer nachsagt, sondern unter dem Strich mit großer
Wahrscheinlichkeit verbilligen: die Extra-Kosten
während eines durchschnittlichen Raucherlebens wer-
den durch die eingesparten Ausgaben aufgrund des
frühen Todes mehr als aufgewogen, stellt man die ge-
samten Ausgaben für Gesundheit über das ganze
Leben eines Rauchers und eines Nichtrauchers neben-
einander, hat der Nichtraucher im allgemeinen mehr
gekostet.
Zunächst ist klar: Raucher sind im Durchschnitt
kränker und kosten ihre Krankenkassen pro Jahr ge-
rechnet mehr als Nichtraucher – verglichen mit einem
gleichaltrigen Nichtraucher kostet ein Raucher, der
täglich 25 Zigaretten inhaliert, seine Krankenkasse
pro Jahr mehr als tausend DM zusätzlich, wenn man
verschiedenen einschlägigen Studien glauben darf. Er
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 257

oder sie hat zweimal häufiger ein Herz- oder Leberlei-


den, dreimal häufiger ein Magengeschwür, und sechs-
mal häufiger Bronchitis als ein Nichtraucher, um nur
einige der Krankheiten herauszugreifen, an denen die
Freunde des Nikotins heute mehr als andere zu leiden
haben. Das Rauchen macht pro Jahr rund 100000
Bundesbürger zu Frühinvaliden, verursacht ein Drittel
aller Krebsgeschwüre in Europa, bei Lungenkrebs
sogar noch weitaus mehr, und ist heute mit großem
Abstand vor Unfällen und Selbstmord die vermeidba-
re Todesursache Nummer eins.
Ein totales Rauchverbot hätte damit die folgenden
Effekte (von der Arbeitslosigkeit für die 20000 Be-
schäftigten der deutschen Tabakindustrie einmal ab-
gesehen):
Erstens: Die Menschen lebten im Durchschnitt ge-
sünder. Wenn die oben zitierten Statistiken stimmen –
und trotz der einen oder anderen pädagogischen Über-
treibung besteht leider wenig Anlaß, die grundsätzli-
che Gefahr des Rauchens anzuzweifeln –, würden in
jeder Altersklasse weniger Menschen krank.
Zweitens: Die Menschen lebten im Durchschnitt
länger. Auch wenn die Meinungen zum Umfang der
möglichen Verlängerung des Lebens hier etwas aus-
einandergehen: Es scheint ohne Zweifel festzustehen,
daß umso mehr Lebensjahre verlorengehen, je früher
im Leben ein Raucher mit dem Rauchen beginnt, je
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 257

mehr Zigaretten er täglich raucht, je tiefer er inhaliert


und je nikotin- und teerhaltiger die Zigaretten sind.
Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitli-
che Aufklärung liegt die Lebenserwartung eines 30-
jährigen Rauchers mit einem täglichen Tabakkonsum
von ein bis zwei Päckchen Zigaretten 6 Jahre unter
der eines Nichtrauchers, und das Wissenschaftliche
Institut der Ortskrankenkasse schätzt die durch-
schnittliche Lebensverkürzung eines starken Zigaret-
tenrauchers sogar auf mehr als 12 Jahre, d.h. um so-
viel könnte die vormalige Risikogruppe bei einem to-
talen Rauchverbot langfristig länger leben.
Drittens und letztens: Die Krankheitskosten. Offen-
bar sind hier zwei gegenläufige Tendenzen auseinan-
der zu halten. Auf der einen Seite gehen die Kosten
pro Kopf und Jahr wegen der besseren Gesundheit
mehr oder weniger zurück, aber auf der anderen Seite
fallen in den zusätzlichen Lebensjahren auch zusätzli-
che Kosten an. Ein Raucher auf dem Friedhof kostet
seine Krankenkasse nichts (oder um mit Woody Allen
zu sprechen: »Death is a great way to cut down on ex-
penses«), und wenn der Tod wie heute üblich erst im
Rentenalter eintritt, gehen der Sozialversicherung
auch keine Beiträge verloren. Nichtraucher dagegen
liegen viele Jahre länger ihrer Krankenkasse auf der
Tasche.
»Für die gesetzlichen Krankenkassen sieht die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 258

Rechnung beim Rauchen makaber günstig aus«, for-


muliert denn auch der Hannoveraner Sozialmediziner
und Mitglied im Sachverständigenrat für die Konzer-
tierte Aktion im Gesundheitswesen F.W. Schwartz.
»Die Raucher sterben so viel früher, daß sie den Ka-
ssen wieder jene Kosten ersparen, die sie zuvor für
die Behandlung von Gefäßverschlüssen, Infarkten,
Krebs und Bronchitis gekostet haben.«
Ein konsequenter Nichtraucher wird doch nicht wie
Jesus Christus oder die Jungfrau Maria am Ende sei-
ner oder ihrer Tage einfach in den Himmel schweben,
sondern statt an Lungenkrebs mit großer Wahrschein-
lichkeit an einem dreimal so teuren Herzleiden sterben
(so wie umgekehrt die Hälfte aller Herztoten sonst an
Krebs gestorben wären). Die Zeiten sind lange vorbei,
da wir Menschen uns am Abend ins Bett legten und
am nächsten Morgen nicht mehr aufwachten; stattdes-
sen wird in aller Regel vor dem Tod der Medizinbe-
trieb bemüht, fallen in aller Regel gerade in den letz-
ten Lebensjahren die größten Gesundheitskosten an
und heißt die Frage nicht: Kosten ja oder nein, son-
dern: Kosten jetzt oder später, so daß wir uns von
einer nikotinfreien Gesellschaft vielleicht mehr Le-
bensjahre, aber auf keinen Fall weniger Gesundheits-
kosten versprechen dürfen.
Die Schweizer Ökonomen Robert Leu und Thomas
Schaub haben diese Effekte für ihr Heimatland einmal
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 258

in Schweizer Franken ausgerechnet, mit dem Ergeb-


nis, daß die im Laufe eines Jahres geborenen Schwei-
zer und Schweizerinnen im Laufe ihres Lebens, bis
der letzte gestorben ist, immer die in etwa gleiche
Menge an Gesundheitsgütern brauchen, ob sie nun
rauchen oder nicht. Im ersten Fall verbrauchen sie
mehr pro Lebensjahr, leben aber kürzer, im zweiten
Fall verbrauchen sie weniger pro Lebensjahr und
leben dafür länger. »Diese Resultate zeigen daher«,
fassen Leu und Schaub ihre Untersuchung zusammen,
»daß Rauchen die Gesundheitsausgaben nicht erhöht
und daß man daher von einer Reduktion des Rauchens
auch keine Reduktion der Ausgaben erwarten darf.«
Das ist eine Tatsache, die einfach einmal sine ira et
studio als solche festgehalten werden muß. Die Alter-
native heißt doch nicht: hier Rauchen, dort Unsterb-
lichkeit, sondern: hier Rauchen, mit dem Risiko eines
verfrühten Todes, dort Nichtrauchen, mit der Option
auf ein paar Extralebensjahre. Aber sterben müssen
Nichtraucher wie Raucher gleichermaßen.
Im engeren Bereich des Gesundheitswesens kann
man durch Verzicht auf Rauchen also keine Kosten
sparen. Das ist für viele Präventionsverliebte schon
unangenehm genug, aber eine noch viel unangeneh-
mere Tatsache haben wir bisher noch gar nicht ange-
sprochen: die Konsequenzen für die Renten. Würden
alle Raucher heute ihren Nikotingenuß beenden, wäre
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 259

unsere soziale Sicherung, so wie wir sie heute kennen,


binnen kurzem unbezahlbar, müßten wir entweder die
Renten drastisch senken oder die Beiträge drastisch
erhöhen, denn die zusätzlichen Renten für die nicht
gestorbenen Raucher würden unsere Gesetzliche Ren-
tenversicherung, so wie wir sie heute kennen, binnen
kurzem völlig ruinieren.
Die von Geschäftsleuten und nicht von Sozialuto-
pisten geleiteten privaten Rentenversicherer haben
dieses Faktum längst erkannt: »Wer sich durch neue
Verträge im Alter von 65 Jahren durch eine Einmal-
zahlung eine Rente sichern will, muß ... höhere Prä-
mien zahlen«, schreibt der Informationsdienst des In-
stituts der Deutschen Wirtschaft. »Wer als heute
35jähriger dreißig Jahre für eine Rente spart, muß
einen Zuschlag von fast 14 Prozent akzeptieren.«
Denn je länger die Rentner leben, desto teurer wird
die Rente, desto größer ist für den Versicherer das Ri-
siko.
In England, wo man anders als hierzulande seit
jeher gewöhnt ist, die Dinge so zu sehen wie sie sind,
bieten verschiedene Lebensversicherungen deshalb
heute schon für Raucher billigere Policen an: Wer
etwa bei der Firma »Stalward Assurance« eine Versi-
cherung abschließt, die ab einem gewissen Lebensal-
ter eine feste Summe jährlich ausschüttet (sog. »An-
nuitäten«), muß als Raucher 8% weniger als ein
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 259

gleichaltriger Nichtraucher bezahlen (die Versiche-


rung erwägt zur Zeit, auch Billigprämien für Säufer
und Übergewichtige anzubieten).
Das ganze Ausmaß dieser monetären Seite der
Raucher-Nichtraucher-Problematik wird am besten
deutlich, wenn wir einmal grob die Extrakosten über-
schlagen, die ein totaler Rauchverzicht für unsere
Rentenkassen bringen würden, und dabei eine Le-
benszeitverkürzung von fünf Jahren für durchschnitt-
liche Raucher und Raucherinnen unterstellen (das ist
eher weniger als die Anti-Raucher-Lobby sagt). Wenn
wir weiter unterstellen, daß rund die Hälfte der
900000 Menschen, die jährlich in Deutschland im
Rentenalter sterben, Raucher waren (bei den jungen
Menschen ist der Raucheranteil heute kleiner, aber für
die aktuelle Rentnergeneration ist das sicher keine
schlechte Schätzung), bedeutet das 5 x 450000 = 2,25
Millionen Menschen zusätzlich im Rentenalter, bei
aktuell rund 15 Millionen Rentnern und Rentnerinnen
in Deutschland also einen Zuwachs von 15 Prozent,
oder bei insgesamt rund 300 Milliarden DM Ausga-
ben für Renten jährlich (Stand Mitte der 90er Jahre)
jährliche Zusatzausgaben für Renten in Höhe von 45
Milliarden Mark.
Dabei sind die Pensionen für unsere Beamten
sowie Betriebsrenten noch nicht mitgezählt. Allein die
Beamtenpensionen würden vermutlich nochmals fünf
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 260

bis zehn Milliarden Extra-Mark verschlingen, so daß


wir alles in allem mehr als 50 Milliarden Mark Mehr-
ausgaben per annum nur für Renten und Pensionen
hätten.
Natürlich gäbe es auch zusätzliche Einnahmen,
nämlich durch die Extrabeiträge der bekehrten Rau-
cher, die ansonsten noch vor dem Rentenalter gestor-
ben wären und dann auch keine Beiträge geleistet hät-
ten, aber wenn wir einmal amerikanische Modellrech-
nungen auf Deutschland übertragen, fallen diese zu-
sätzlichen Einnahmen gegen die zusätzlichen Ausga-
ben kaum ins Gewicht – wie wir die Sache auch dre-
hen und wenden, eine nikotinfreie Gesellschaft muß
mit gewaltigen Mehrausgaben für ihre Renten und
Pensionen rechnen.
Diese Rechnung ist allerdings auf zweifache Weise
hypothetisch: erstens haben wir vorausgesetzt, alle
aktuellen Raucher hätten nie geraucht, und zweitens
sind wir davon ausgegangen, daß die Renten und Pen-
sionen gleich geblieben wären. Aber es ist natürlich
eine Illusion zu glauben, daß die Renten bei einem
solchen Zuwachs an Rentenempfängern ihre alte
Höhe halten könnten.
Und auch noch andere Dinge wären gegen unsere
grobe Überschlagsrechnung einzuwenden: daß nicht
der komplette Verlust an Lebenserwartung, den die
Raucher haben, dem Rauchen angelastet werden kann
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 260

(siehe dazu den nächsten Stichwortartikel), daß wir


nicht einfach unterstellen können, die Renten der be-
kehrten Raucher wären gleich der aktuellen Durch-
schnittsrente (Raucher haben im allgemeinen niedri-
gere Löhne und Gehälter als Nichtraucher und damit
später auch niedrigere Renten), oder daß wirklich die
Hälfte der pro Jahr verstorbenen Menschen in
Deutschland Raucher gewesen sind (wäre dieser Pro-
zentsatz kleiner, wäre auch der hypothetische Zu-
wachs an Rentnern und Rentnerinnen kleiner). Aber
als erster Anhaltspunkt für die versicherungstechni-
schen Folgen eines totalen Nikotinverzichts sollten
uns die obigen Zahlen doch zu denken geben.
& Lit.: A. Atkinson und J. Townsend: »Economic
aspects of reduced smoking«, Lancet, 3.9.1977,
492–495; Robert Leu und Thomas Schaub:
»Does smoking increase medical care expenditu-
res?« Social Science and Medicine 17,1983, S.
1907–1914; dieselben: »More on the impact of
smoking on medical care expenditures«, Social
Science and Medicine 21, 1985, S. 825–827; V.
Wright: »Will quitting smoking help medicare
solve its financial problems?« Inquiry 23, 1986,
S. 76–82; J.B. Shoven, O. Sundberg und J.P.
Bunker: »The social security cost of smoking« in:
D.A. Wise (Hrsg.): The economics of aging, Chi-
cago 1989, S. 231–253; »Life company has no ifs
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Raucher 1 261

or butts about smokers«, Financial Times,


8.8.1995; »Private Rentenversicherung: Längeres
Leben erhöht Risiken«, Informationsdienst des In-
stituts der Deutschen Wirtschaft, Nr. 22/1995, S.
8.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Raucher 2 261

Raucher 2
Raucher sterben wegen ihres Rauchens früher
Raucher sterben früher, aber nicht nur, weil sie rau-
chen. Raucher begehen auch häufiger Selbstmord als
Nichtraucher, sie werden häufiger ermordet, auch häu-
figer von Autos überfahren.
Nach Meinung von Psychologen gibt es so etwas
wie eine »Raucherpersönlichkeit«: Menschen, die in
vielfacher Hinsicht gefährlicher als andere leben; sie
würden auch ohne Tabak früher sterben. Diesen An-
teil der verlorenen Lebensjahre muß man also heraus-
rechnen, wenn man wissen will, wieviel Jahre uns der
Tabak als solcher kostet.
Die schon weiter oben zitierten Ökonomen Leu und
Schaub haben das für die Schweiz einmal getan und
kamen zu dem Ergebnis, daß Raucher (männlich) im
Durchschnitt 68, echte Nichtraucher 72 und »hypo-
thetische« Nichtraucher 71 Jahre leben (basierend auf
der seinerzeitigen und inzwischen überholten Schwei-
zer Sterbetafel). »Echte« Nichtraucher sind dabei Per-
sonen, die ohnehin nicht rauchen, »hypothetische«
Nichtraucher dagegen solche, die nur mangels Nikotin
nicht rauchen. Mit anderen Worten, ein Viertel der
verlorenen Lebensjahre der Raucher hat mit dem Rau-
chen nichts zu tun.
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LexPI Bd. 1 Raucher 2 261

& Lit.: Robert Leu und Thomas Schaub: »Der Ein-


fluß des Rauchens auf die Mortalität und die Le-
benserwartung der Schweizer Wohnbevölke-
rung«, Schweizerische Medizinische Wochen-
schrift 113, 1983, S. 3–14.

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LexPI Bd. 1 Raucher 3 261

Raucher 3
Rauchen ist grundsätzlich ungesund
Der Netto-Schaden des Rauchens für unsere Gesund-
heit ist allgemein bekannt (siehe die beiden letzten
Stichwörter). Dabei wird aber häufig übersehen, daß
Rauchen auch Krankheiten wie z.B. Parkinson und
Alzheimer verhindern kann. Wenn man einschlägigen
Studien glauben darf, beeinflußt Zigarettenrauch
möglicherweise den Alterungsprozeß der Gehirnzel-
len, und zwar positiv: sie sterben später ab als ohne
Nikotin.
Der konkrete Mechanismus hinter diesem Phäno-
men ist zur Zeit noch unbekannt. Man vermutet ein
Zusammenwirken zwischen dem Nikotin aus dem Zi-
garettenrauch und einer chemischen Substanz namens
Acetylcholin, welche elektrische Impulse von einer
Gehirnzelle zur anderen überträgt.
Damit ist natürlich noch nichts über den Nettoef-
fekt des Rauchens ausgesagt, der sicher weiter negativ
zu Buche schlägt. Aber das große Gesundheitsübel,
als das Rauchen immer wieder angefeindet wird, ist es
vielleicht doch nicht ganz.
& Lit.: Ian Mundell: »Peering through the smoke
screen«, The New Scientist, 9.10.1993.

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LexPI Bd. 1 Rechtsanwälte 262

Rechtsanwälte
Rechtsanwälte führen vor allem Prozesse
Nur rund 20 Prozent der Arbeit eines Rechtsanwaltes
entfällt auf das Führen von Prozessen (für die meisten
Anwälte übrigens ein Verlustgeschäft). Die restlichen
80 Prozent seiner Arbeitszeit verbringt ein Anwalt
mit Beratung und Ausarbeitung von Verträgen.
& Lit.: H. Weber: »Ein Meilenstein auf dem Weg
zum Discount-Juristen«, Forschung und Lehre
6/1995, 309–312.

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LexPI Bd. 2 Regen 1 277

Regen 1
Regentropfen haben die Gestalt von Tränen
Regentropfen haben verschiedene Gestalten; keine
davon ähnelt einer Träne.
Kleine Regentropfen mit weniger als 2 mm Durch-
messer sind kugelrund; größere Regentropfen sehen
eher aus wie Hamburger, der Luftdruck preßt den
Tropfen in die Breite. Und bei einem Durchmesser
von mehr als 8 mm erzeugt der Luftdruck sogar eine
Höhle in der Mitte, der Tropfen – sofern er nicht
schon vorher in viele kleine Tropfen auseinander-
fällt – schwebt wie ein Fallschirm Richtung Erde.
& Lit.: Hans R. Pruppacher und James D. Klett: Mi-
crophysics of clouds and precipitation, Boston
1978.
¤ So sehen Regentropfen jedenfalls nicht aus

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LexPI Bd. 2 Regen 2 278

Regen 2
»It never rains in Southern California«
»They say it never rains in Southern California«, singt
Albert Hammond; allerdings wird die Fortsetzung
nicht immer richtig wahrgenommen:

»But girl, let me warn ya


it pours, man, it pours!«

Zuweilen regnet es in Südkalifornien so heftig, daß


die Fluten ganze Häuser zum Pazifik schwemmen.
Anders als der Name vermuten lassen könnte (»ca-
liente forne« = spanisch »heißer Ofen«), ist Kalifor-
nien – vom Death Valley einmal abgesehen – auch
nicht der Hitzepol der USA; man kann noch im Mai
in Kalifornien frieren, auch das Baden ist im Frühjahr
wegen der Nord-Süd-Strömung des Pazifiks keine
reine Freude, im Mai ist es in New York wärmer als
in Los Angeles.
Der sonnigste und wärmste Staat der USA ist Ari-
zona.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Regen 3 279

Regen 3
Man kann auch mittags einen Regenbogen sehen
Man kann in der Mittagssonne nur Regenbögen
sehen, die durch Wasserfälle oder Springbrunnen ent-
stehen, »echte« Regenbögen aber nicht. Dazu darf die
Sonne den Horizont um nicht mehr als 40° überragen,
das geht nur morgens oder abends (oder im Winter,
aber da gibt es aus anderen Gründen keine Regenbö-
gen).
& Stichwort vorgeschlagen von Werner Helbig.

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LexPI Bd. 1 Regenwurm 262

Regenwurm
Bei einem zertrennten Regenwurm leben beide
Teile weiter
Bei einem in zwei gleich große Teile zertrennten Re-
genwurm kann nur der vordere Teil überleben. Der
hintere Teil bildet an der Schnittstelle einen zweiten
Schwanz, hat also dann zwei Schwänze, keinen Kopf,
und muß sterben, da er keine Nahrung zu sich nehmen
kann.
Wird dagegen nur einer kleiner Teil des
Vorderstückes abgetrennt, so stirbt das abgetrennte
Vorderstück, und der Rest bildet einen neuen Kopf.
Wichtig ist, daß die regenerativen Organe zusammen-
bleiben, die zwischen dem neunten und fünfzehnten
Segment des Regenwurmes liegen (insgesamt besteht
der Körper des Regenwurms aus bis zu 180 Segmen-
ten).
& Lit.: G. Dircksen: Tierkunde (Bd. II: Wirbellose
Tiere), Bayerischer Schulbuch Verlag, München,
1967.

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LexPI Bd. 2 Reichsacht 279

Reichsacht
Über Martin Luther wurde die Reichsacht ver-
hängt
So steht in vielen Biographien und Lexika zu lesen:
Weil Luther sich auf dem Reichstag zu Worms gewei-
gert hätte, auf die Kompromisse seiner Gegner einzu-
gehen, hätte Karl V. über ihn die Acht verhängt.
In Wahrheit konnte der Kaiser über Luther nicht
ohne Zustimmung des Reichstages die Acht verhän-
gen (d.h. den Geächteten für vogelfrei erklären); seine
einseitig nach Schluß des Wormser Reichstags 1521
gegen Luther erlassene sogenannte »Achtsentenz«
wurde in das Protokoll des Reichstages nicht aufge-
nommen und war damit illegal.
& Lit.: M. Lieberich: Deutsche Rechtsgeschichte,
München 1981; Stichwort vorgeschlagen von
Hans J. Orthmann.

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LexPI Bd. 2 Reichstagsbrand 279

Reichstagsbrand
Der Reichstag wurde von den Nazis selber ange-
zündet
So glaubten die Autoren dieses Buches selber noch
vor kurzem (siehe W. Krämer und M. Schmidt: »Das
Buch der Listen«, S. 462). Und nach dem Prinzip
»Cui bono?« läßt sich diese Theorie als Arbeitshypo-
these auch sehr gut vertreten: Der Brand des Reich-
stags am 27. Februar 1933 gab den frisch zur Macht
gelangten Nazis einen willkommenen Anlaß, die Bür-
gerrechte weiter einzuschränken, unliebsame Oppo-
nenten kostengünstig kaltzustellen, sich als Bollwerk
gegen Anarchie und Kommunismus aufzuspielen. Die
sofort am nächsten Tag erlassene Notverordnung
»Zum Schutz von Volk und Staat« bestärkte das
Nazi-Gewaltmonopol, das bald folgende Verbot der
angeblich als Drahtzieher im Hintergrund agierenden
KPD und die Verhaftung ihrer Funktionäre brachte
die aktivsten Nazi-Gegner hinter Gitter, und mit dem
»Ermächtigungsgesetz« vom 24. März 1933, kaum
einen Monat später, war die Nazi-Diktatur dann
vollends etabliert und eingerichtet.
Anders als fast die ganze Welt noch bis vor kurzem
glaubte, lief das alles aber nicht nach Nazi-Drehbuch
ab. Vielmehr hat die »Initialzündung« Reichstags-
brand die Nazis selber fast am meisten überrascht.
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LexPI Bd. 2 Reichstagsbrand 280

Nach einstimmiger Meinung aller neutralen Historiker


war der kurz nach dem Brand verhaftete Holländer
Marinus van der Lubbe tatsächlich ein von nieman-
dem gelenkter Einzeltäter; weder die Nazis noch die
Kommunisten waren bei der Brandstiftung beteiligt,
van der Lubbe hatte ohne es zu wollen dem verhaßten
Hitler einen großen Dienst erwiesen.
Diese Theorie, erstmals 1962 von Fritz Tobias auf-
gestellt, ist heute unumstritten. »Muß ich betonen,
daß es mir in persönlicher Hinsicht lieber gewesen
wäre, wenn Tobias unrecht hätte?« schreibt etwa der
holländische Historiker und Direktor des niederländi-
schen Instituts für Kriegsdokumentation de Jong.
»Darauf kommt es aber nicht an, sondern nur darauf,
was man für ›historische Wahrheiten‹ zu halten hat,
das heißt auf diejenige Darstellung des historischen
Geschehens, in der das Gesamtmaterial, soweit zuver-
lässig, sich reibungslos und ohne innere Gegensätze
einfügen läßt. Schlüsse, die Ewigkeitswert haben,
kennt die Geschichtswissenschaft nicht; dennoch kann
sie (...) bis auf weiteres davon ausgehen, daß der
Reichstagsbrand auch die Nazis völlig überrascht hat
und daß nur einer an der Brandstiftung beteiligt war:
van der Lubbe.«
Die Indizien lassen keine andere Deutung zu: Van
der Lubbe hat diese Tat wie auch drei weitere ver-
suchte Brandstiftungen im Neuköllner Wohlfahrt-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Reichstagsbrand 281

samt, im Roten Rathaus und im Berliner Schloß so-


fort eingestanden, er leugnete stets, von irgend jeman-
dem dazu ermuntert worden zu sein (als Motiv nannte
er nur den Wunsch, die deutschen Arbeiter zum
Kampf für die Freiheit aufzurütteln), die Rekonstruk-
tion seiner letzten Tage vor dem Reichstagsbrand läßt
keinen Raum für eine Konspiration mit wem auch
immer, ob mit Nazis oder Kommunisten.
Fast alle Zeugnisse und Dokumente, die eine Mittä-
terschaft der Kommunisten oder der Nazis zu bewei-
sen scheinen, sind inzwischen als manipuliert oder ge-
fälscht entlarvt; die berühmten »Braunbücher« von
1933 und 1934, in denen die Kommunisten die Nazis
als Drahtzieher hinzustellen suchten, haben sich im
Licht der nachfolgenden Forschung als reine Propa-
ganda erwiesen, und auch die Thesen des sogenannten
»Luxemburger Komitees« (»Internationales Komitee
zur wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen und
Folgen des Zweiten Weltkrieges«), welches ebenfalls
die Nazi-Täterschaft verficht, basieren auf »Fälschun-
gen am laufenden Band«; sie zeigen vor allem eines,
nämlich wie »angesehene Historiker, Politiker und an-
dere sich von einem gerissenen, aber auch unbeholfe-
nen Produzenten seines eigenen Beweismaterials (...)
an der Nase haben herumführen lassen.«
& Lit.: F. Tobias: Der Reichstagsbrand: Legende
und Wirklichkeit, Rastatt 1962; U. Backes u.a.:
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Reichstagsbrand 281

Reichstagsbrand – Aufklärung einer historischen


Legende, München 1986; U.v. Hehl: »Die Kon-
troverse um den Reichstagsbrand«, Vierteljahres-
hefte für Zeitgeschichte 1988; Werner Bührer:
»Reichstagsbrand«, in: W. Benz (Hrsg.): Legen-
den, Lügen, Vorurteile, München 1995.
¤ Endgültig bewiesen: Es war ein Einzelgänger

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LexPI Bd. 1 Reichtum 1 263

Reichtum 1
Schon in der Bibel wird Reichtum als ein Übel
angesehen
»Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein
Reicher in das Reich Gottes gelangt«, sagt Jesus in
der Bibel (Matthäus 19,24 und Markus 10,25); dar-
aus schließen viele übereinstimmend und falsch, daß
Reichtum in der Bibel generell als etwas Übles gelte.
In Wahrheit wird Reichtum in der Bibel durchweg
als eine eher wünschenswerte Sache, als eine Gabe
Gottes und als Lohn für Gottesfurcht und gutes Tun
geschildert. »Reichtum und Ehre sind bei mir, angese-
hener Besitz und Glück« (Sprüche 8,18), »Der Segen
des Herrn macht reich« (Sprüche 10,22), »Die Faulen
bringen es zu nichts, wer fleißig ist, kommt zu Reich-
tum« (Sprüche 11,16), »Der Lohn für Demut und
Gottesfurcht ist Reichtum, Ehre und Leben« (Sprüche
22,4), »Mancher wird reich, weil er sich plagt« (Si-
rach 11,18). Diese Bibelstellen haben am Reichtum
als solchem nicht viel auszusetzen.
Selbst Jesus hat in der vielzitierten Kamel-
Nadelöhr-Passage nicht den Reichtum selber, sondern
vor allem die Gefahren des Reichtums angegriffen;
vor denen warnen das Alte wie das Neue Testament
an vielen Stellen: Wer reich ist, trägt auch mehr Ver-
antwortung, ist größeren Versuchungen ausgesetzt,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Reichtum 1 263

sündigt leichter, er oder sie kommt deshalb schwerer


als ein Armer in den Himmel.
Ähnlich Paulus im ersten Brief an Timotheus (6,9):
»Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen
und Schlingen, er verfällt vielen sinnlosen und schäd-
lichen Begierden, die den Menschen ins Verderben
und in den Untergang stürzen.« Daß Reichtum als
solcher etwas Übles sei, wird in der Bibel nirgendwo
gesagt.
PS: Es heißt auch nicht: »Reichtum ist die Wurzel
allen Übels«, sondern: »Geiz ist die Wurzel allen
Übels« (1. Tim. 6,10).
& Lit.: Herbert Haag (Hrsg.): Bibel-Lexikon, Ein-
siedeln 1968; Die Bibel – Einheitsübersetzung,
Freiburg 1980.

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LexPI Bd. 1 Reichtum 2 263

Reichtum 2
Reich wird man durch harte Arbeit
Nur die wenigsten der wirklich Reichen dieser Erde
sind durch harte Arbeit reich geworden; diesbezüglich
ist die Bibel widerlegt. Denn anders als in der Bibel
führt der typische Weg zum Reichtum nicht über Got-
tesfurcht und harte Arbeit, sondern über Erbschaft
und vor allem über Glück (um uns auf legale Wege zu
beschränken).
Etwa die Hälfte aller großen Vermögen in der For-
tune-500-Liste der reichsten Amerikaner ist ererbt.
Die andere Hälfte gehört vor allem Neureichen wie
dem derzeit reichsten Amerikaner Bill Gates, Gründer
der Software-Firma Microsoft, die ihren Reichtum
allen möglichen glücklichen Zufällen verdanken.
Hätte etwa die Firma IBM, als sie noch marktbeherr-
schend war, ein anderes als das Microsoft-Betriebssy-
stem MS-DOS zum internationalen Standard erklärt,
so wäre Bill Gates heute ein mittelmäßig bezahlter
EDV-Berater oder würde wie die meisten seiner ehe-
maligen Kommilitonen von der Harvard-Universität
einen kleinen Software-Laden leiten. Diese folgen-
schwere Entscheidung der IBM hatte Herr Gates ge-
nauso seiner Tüchtigkeit zu danken wie ein Ölscheich
seiner Quelle – beide hatten einfach Glück.
Der Reichtum der meisten Super-Reichen beruht
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Reichtum 2 264

auf Glück, nicht Können. Das sieht man z.B. daran,


daß sie ihren ersten Erfolg in aller Regel niemals wie-
derholen können. »Wenn man sich die Fortune-Liste
ansieht«, schreibt der MIT-Professor Lester Thurow,
»so kann man niemanden finden, dessen Vermögen in
mehr als einem Riesenschritt gewachsen wäre; das ty-
pische Muster ist ein einziger und einmaliger großer
Sprung, gefolgt von einem normalen Wachstum wie
bei jeder normalen Geldanlage auf der Bank.«
Wir wollen den Reichen ihren Reichtum durchaus
gönnen; aber verdient haben sie ihn genauso wie ein
Lottokönig.
& Lit.: Arthur Louis: »The new rich«, Fortune 88,
Sept. 1973, S. 170; Lester C. Thurow: The zero-
sum society, New York 1981.

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LexPI Bd. 1 Reis 264

Reis
Natürlicher brauner Reis enthält alle Nährstoffe,
die wir brauchen
Manche Nachzügler der makrobiotischen Eßwelle der
60er und 70er Jahre schwören immer noch auf brau-
nen Reis. Brauner Reis, die Nahrung der siegreichen
Vietkong-Rebellen, galt damals und gilt vielen 68ern
noch heute als die Speise aller Speisen, als Vollwert-
Nahrung, die alle anderen Lebensmittel überflüssig
macht.
In Wahrheit ist brauner Reis als Solo-Nahrung eine
einzige Gefahr für Leib und Leben – die Vitamine A,
B12 und C fehlen völlig, und auch der Gehalt an
Eisen und Calcium ist so niedrig, daß ein Mensch ge-
waltige Mengen (»tremendous amounts« R.M.
Deutsch, S. 27) von braunem Reis verzehren müßte,
um den Bedarf daran zu decken.
Die Zeitschrift California's Health zitiert eine An-
hängerin des Makro-Biotik-Gurus George Ohsawa
und seiner strikten Brauner-Reis-Diät: »Lieber Dr.
Ohsawa«, schreibt die junge Dame, »ich bin 24 Jahre
alt ... Seit Februar befolge ich Ihre makrobiotischen
Anweisungen ... Diät Nr. 7 [brauner Reis] und etwas
Gemüse ... Heute liege ich im Bett. So geht das nun
schon drei Wochen ... ich habe 35 Pfund verloren ...
Meine Beine tun weh, ich kann nicht mehr laufen ...
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Reis 265

Aber ich bin sicher, bald geht es mir besser, und die
Schmerzen hören auf ... Über Ihren Rat würde ich
mich sehr freuen. Makrobiotik ist für mich der Weg
zu Freiheit, Glück und Gerechtigkeit. Ich bin Ihnen so
dankbar, daß Sie uns diesen wunderbaren Weg gewie-
sen haben.«
Wenig später war die junge Dame tot – nach neun
Monaten braunem Reis war sie an schwerer Skorbut
und anderen Mangelerscheinungen gestorben; sie
hatte 50 Pfund Gewicht verloren und war ein geistiges
wie körperliches Wrack. Ganz offensichtlich hatte das
wenige Gemüse, welches ihre Diät als einzigen Zu-
satz zum braunen Reis erlaubte, nicht für die nötigen
Vitamine und Minerale ausgereicht.
& Lit.: R.M. Deutsch: Realities of nutrition, Palo
Alto 1976 (bes. Kap. 2); E. Williams: »Macro-
biotics«, California's Health, Dezember 1971.

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LexPI Bd. 2 Reispapier 281

Reispapier
Reispapier wird aus Reisstroh hergestellt
Das bekannte chinesische Reispapier, das zuweilen
als Untergrund in der Aquarellmalerei, auch als Roh-
stoff für künstliche Blumen verwendet wird, trägt sei-
nen Namen zweifach zu Unrecht: Erstens wird es
nicht aus Reis gemacht, sondern in dünnen Scheiben
aus dem Mark des Reispapierbaumes geschält, den
man in Südchina und in Taiwan eigens für diese
Zwecke pflanzt, und zweitens sind diese dünnen, auf
Papierstärke zusammengepreßten Scheiben kein Pa-
pier.
& Lit.: Handbuch der Papier- und Pappfabrikation,
Niederwalluf 1971.

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LexPI Bd. 1 »Religion ist Opium für das Volk« 265

»Religion ist Opium für das Volk«


Dieses Bild ist von Novalis, nicht von Lenin oder
Marx, wie viele glauben: »Ihre sogenannte Religion
wirkt bloß wie ein Opiat: reizend, betäubend,
Schmerzen aus Schwäche stillend«, schreibt Novalis
1798.
Auch die meisten anderen geflügelten Worte, die
man heute den Marxisten zuschreibt, wurden in
Wahrheit von anderen geprägt: »Die Arbeiter haben
nichts zu verlieren als ihre Ketten« (geht ursprünglich
zurück auf den durch seine Badewanne berühmt ge-
wordenen Jean-Paul Marat), »Proletarier aller Länder,
vereinigt euch!« (Karl Schapper), »Die Diktatur des
Proletariats« (Blanqui), »Jeder nach seinen Fähigkei-
ten, jedem nach seinem Bedürfnissen« (Louis Blanc)
und verschiedene andere Sentenzen mehr.
& Lit.: Paul Johnson: Intellectuals, London 1988
(besonders das Kapitel über Karl Marx); Georg
Büchmann: Geflügelte Worte, Ausgabe Ex Libris,
6. Auflage, Frankfurt 1991.

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LexPI Bd. 1 Rhein 1 266

Rhein 1
Der Rhein mündet in die Nordsee
Strenggenommen gibt es keinen Fluß namens Rhein,
der in die Nordsee mündet – 30 km jenseits der deut-
schen Grenze gabelt sich der Rhein in den Waal und
in den Pannerdens Kanaal (später Neder-Rijn und
dann Lek genannt). Auch der Waal heißt später an-
ders, z.B. Merwede, Neue Maas (Rotterdam) und
Nieuwe Waterweg.

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LexPI Bd. 1 Rhein 2 266

Rhein 2
Der Rhein wird immer schmutziger
Seit 1960, als einer der Autoren dieser Sammlung im
Rhein bei Mainz das Schwimmen lernte, ist dieser
Fluß nur sauberer geworden. Durch Kläranlagen auf
der einen und Abwasservermeidung auf der anderen
Seite nimmt die Belastung durch Industrieabwässer
oder Schwermetalle (Quecksilber, Cadmium) seit den
70er Jahren ständig ab. Heute leben wieder 40 Arten
Fisch im Rhein, von Aal und Barsch bis Lachs und
Zander, und entspricht die Artenvielfalt wieder der
vor 100 Jahren.
& Lit.: Umweltbundesamt: Daten zur Umwelt
1992/93.

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LexPI Bd. 1 Ritter 266

Ritter
Ritter waren ritterlich
Ein mittelalterlicher Ritter ist für uns ein »Ritter«: ein
Mann zu Pferd, mit Helm und Panzer, Schwert und
Lanze, der Abenteuer sucht und Minnelieder singt, die
Witwen und die Waisen rettet und die Räuber straft.
In Wahrheit waren die meisten mittelalterlichen
Ritter selber Räuber; sie waren eine wahre Plage. Sie
schikanierten, tyrannisierten und massakrierten Jahr-
zehnte um Jahrzehnte und ungestört von jeder Obrig-
keit, sie beraubten so gut sie konnten die durchreisen-
den Kaufleute, plünderten Pilger aus, und statt ihren
Bauern die Neuerungen des Ackerbaues beizubringen,
»nehmen sie ihnen noch das letzte Saatgut weg«
(Maus).
Von höfischen Sitten und Gebräuchen keine Spur.
»Zumal die kleinen Herren hockten dumpf auf ihren
Burgen ohne jede Lebensart. Im Burghof Abfall und
Unrat, dazwischen Schweine und Hühner, vor den
Mauern Pferde und Rinder angepflockt – eine einzige
Kloake. Die Fenster sind mit Tierhäuten und Holzlä-
den verschlossen, geheizt wird mit qualmenden
Kohlebecken, geleuchtet mit Kienspänen.«
Erst mit dem »Allgemeinen Landfrieden« von Kai-
ser Barbarossa und mit den ersten Kreuzzügen bessert
sich das Bild. »Jetzt sollen Ritter werden, die vordem
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ritter 267

nur Räuber waren. Jetzt sollen mit Recht gegen die


Barbaren kämpfen, die zuvor gegen ihre Brüder und
Verwandten gekämpft haben«, ruft Papst Urban die
abendländischen Ritter auf. Und diese lassen hinfort
ihre Aggressionen statt an den eigenen Landsleuten an
den Barbaren des Morgenlandes aus.
& Lit.: Otto Borst: Alltagsleben im Mittelalter,
Frankfurt 1983; Hansjörg Maus: Kaiser Barba-
rossa – Mann des Friedens, Recklinghausen
1990.
¤ Ein deutscher Ritter – Witwen-/Waisenschänder
und Schmarotzer

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LexPI Bd. 2 Robinson 284

Robinson
Robinson Crusoe ist eine reine Romanfigur
Daniel Defoe hat seinen Robinson nicht frei erfunden,
sondern nach der wahren Geschichte eines gewissen
Alexander Selkirk ausgerichtet. »Lieber lebe ich auf
einer einsamen Insel als mit dir auf einem Schiff«,
habe er, Selkirk, einmal wütend seinem Kapitän ent-
gegnet, erzählte er Defoe. Darauf habe dieser ihn
beim Wort genommen und ihn auf einer Insel der
Gruppe Juan Fernández vor der chilenischen Pazifik-
küste abgesetzt, dort verbrachte Selkirk dann die
nächsten 15 Jahre seines Lebens.
& Lit.: Stichwort »Daniel Defoe« in der Encyclopae-
dia Britannica, 15. Auflage, Chicago 1994; Hör-
spiel »Robinson«, WDR, 6.10.1990; Brock-
haus – Wie es nicht im Lexikon steht, Mannheim
1996; Stichwort vorgeschlagen von Christian
Löbbe.

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LexPI Bd. 2 Rohstoffe 284

Rohstoffe
Rohstoffe und Ackerland begründen den Reich-
tum der Nationen (s.a. ð »Volk ohne Raum«)
Fast das Gegenteil ist wahr: Die ärmsten Länder die-
ser Erde sind zugleich die rohstoffreichsten, die reich-
sten Länder (Schweiz, Japan, Dänemark, Luxemburg)
sind zugleich die rohstoffärmsten.
Der Mythos von den fruchtbaren Böden und den
Rohstoffen als den Grundlagen des Reichtums der
Nationen entstand in den längst vergangenen Zeiten,
als noch 95 von 100 Menschen in der Landwirtschaft
beschäftigt waren, als arme Böden arme Leute hervor-
brachten, und aus den Anfangsjahren der industriellen
Revolution, als Kohle, Erze, weites Land und gutes
Klima den Reichtum der Nationen auszumachen
schienen. »Nordamerika ist im Sinne der Materialbe-
schaffung heute das glücklichste Land, denn es findet
fast alle Rohstoffe in seinem Schoße; Deutschland ist
im Verhältnis zur Ausdehnung seiner Industrie das
unglücklichste«, schrieb Walter Rathenau noch 1913,
aber schon damals war diese Wahrheit nur noch an-
satzweise richtig. Die durch das Sozialprodukt ge-
messene Leistung einer Volkswirtschaft und damit
über Umwege auch deren Wohlstand bemißt sich in
erster Linie durch den »Mehrwert«, den diese Wirt-
schaft aus dem, was sie vorfindet, herzustellen in der
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Rohstoffe 285

Lage ist, und das kann mitunter auf ein paar Quadrat-
kilometern Brachland (Hongkong, Singapur) viel effi-
zienter geschehen als auf Milliarden Hektar fruchtbar-
sten, rohstoffübersättigten Ackerlandes. Denn nach
diesen Kriterien müßte Rußland, ein mit Rohstoffen
aller Art und fruchtbaren Böden wohl versehenes
Land, eine der reichsten Regionen unseres Planeten
sein.
Ist es aber nicht. Denn in einer globalen Weltwirt-
schaft mit ihren dichten Handelsnetzen zählt weniger
das, was man hat, als das, was man macht; in diesem
globalen Supermarkt kann der oder die Fleißige und
Effiziente selbst auf einer kahlen Felseninsel glück-
lich und in Reichtum leben, während der oder die
Faule trotz bzw. gerade wegen allen ererbten oder ge-
fundener Reichtums immer ärmer wird. Die durch das
Aztekengold so schnell reich gewordenen Spanier
mußten schon wenig später den ökonomisch weit we-
niger verwöhnten Holländern und Engländern den
wirtschaftlichen Vortritt lassen, die aufgrund ihrer
fruchtbaren Böden vielleicht reichsten Länder des frü-
hen 20. Jahrhunderts – Argentinien und Neuseeland –
gehören mittlerweile längst nicht mehr zur Spitzen-
gruppe, und wenn sich heute Länder wie Saudi-Arabi-
en und Kuwait noch als reich bezeichnen dürfen, so
nicht weil, sondern obwohl sie so mit Öl gesegnet
sind (andere OPEC-Staaten wie Nigeria oder Vene-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Rohstoffe 285

zuela gehören heute allem Öl zum Trotz schon zu den


Armenhäusern dieser Erde).
Eine Studie amerikanischer Ökonomen zu Roh-
stoffen und Wirtschaftswachstum bei Entwicklungs-
ländern hat ergeben, daß Rohstoffreichtum klar das
Wachstum hindert: Unter den 18 Spitzenreitern der
Jahre 1971 bis 1989 hatten nur zwei – Malaysia und
Mauritius – nennenswerte natürliche Ressourcen auf-
zuweisen; alle anderen haben ihr Wirtschaftswunder
quasi aus dem Nichts durch Schweiß und Arbeit
selbst geschaffen.
Daß all dies unserer Intuition so widerspricht, liegt
daran, daß unter sonst gleichen Umständen eine reich-
liche Ausstattung mit natürlichen Ressourcen jedem
Individuum und jeder Volkswirtschaft natürlich einen
Startvorteil verschafft. Dabei übersehen wir aber
leicht, daß sich eben diese Umstände nicht immer
gleichen, und daß gerade der Rohstoff- und Ressour-
cenreichtum selber dazu führen, daß die Rahmenbe-
dingungen für die anfangs Reichen immer schlechter
werden, daß es der Reichtum selber ist, der die
Grundlagen für weiteren Reichtum unterhöhlt. Man
gebe zehn Menschen zusammen zehn Millionen
Mark, und die zehn Beschenkten werden sich den
Rest ihres Lebens, statt über die Vermehrung nachzu-
denken, über die Verteilung dieses Schatzes streiten.
Und genauso haben auch die von der Natur so reich
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Rohstoffe 286

beschenkten Ländern unseres Planeten den Sinn und


Zweck allen Wirtschaftens, nämlich aus dem Vorge-
fundenen mehr zu machen, als man vorgefunden hat,
im Gerangel um die Beute schnell vergessen.
& Lit.: W. Rathenau: Gesammelte Schriften in fünf
Bänden, Leipzig 1913; A. Gelb: Oil windfalls –
blessing or curse, Oxford 1988; »The natural re-
sources myth«, The Economist, 23.12.1995; J.
Sachs und A. Warner: Natural resource abundan-
ce and economic growth, Cambridge 1995.

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LexPI Bd. 1 Roland 267

Roland
Der Held des Rolandsliedes war ein junger Krie-
ger und Neffe Karls der Großen
Anders als manche Denkmäler und Heldensagen uns
glauben machen wollen, war der echte Roland weder
jung noch ein Verwandter Karls des Großen.
Als Karl der Große im Jahre 778 nach einem
mäßig erfolgreichen Feldzug gegen die Mauren über
die Pyrenäen heim nach Frankreich zieht, wird seine
Nachhut bei Roncevalles von Basken überfallen. In
der von Karls Sekretär und Minister Einhard verfaß-
ten Lebensbeschreibung des Kaisers heißt es dazu la-
pidar: »In diesem Kampf wurden der königliche Sene-
schall Eggibert, der Pfalzgraf Anshel, und Hruodland
(=Roland), der Präfekt der Bretagne, mit mehreren an-
deren getötet.«
Aus diesen dünnen Fäden hat dann ein phantasie-
begabter Dichter zwei bis drei Jahrhunderte später das
berühmte Rolandslied gesponnen, in dem der erfahre-
ne und deshalb wohl der Nachhut zugeteilte Präfekt
der Bretagne zum jungen Neffen des Kaisers, und das
vergleichsweise harmlose Scharmützel zu einem riesi-
gen Desaster wird. Auch der genaue Ort des Über-
falls, die Identität der Angreifer (im Rolandslied heid-
nische Mauren, in Wahrheit christliche Basken) sowie
das berühmte Horn, mit dem der sterbende Roland die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Roland 268

Hauptarmee zu Hilfe ruft, sind vermutlich frei erfun-


den.
In islamischen Quellen wird dieser Vorfall nirgend-
wo erwähnt, er dürfte daher bei den Mauren Spaniens
keinen großen Eindruck hinterlassen haben. Daß aus-
gerechnet ein bis dahin kaum hervorgetretener breto-
nischer Markgraf auf diese Weise Unsterblichkeit er-
langt und noch heute auf vielen Marktplätzen in
Deutschland als Hüter des Reiches zu bewundern ist,
gehört zu den zahlreichen Zufälligkeiten, mit denen
uns die Geschichte immer wieder überrascht.
& Lit.: Jacques D. de Bayac: Karl der Große: Leben
und Zeit, Herrsching 1986. Wie geschah es wirk-
lich? Stuttgart 1990.

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LexPI Bd. 1 Romadur 268

Romadur
Dieser Käse stammt aus einer Stadt mit gleichem
Namen
Ein Stadt oder ein Dorf »Romadur« gibt es in ganz
Frankreich nicht. Romadur bedeutet vielmehr: »wür-
ziges Aroma«; damit meint man einen Käse aus
Schafs- oder Ziegenmilch, den die Hirten in den Pyre-
näen erfunden haben und noch heute produzieren.
& Lit.: Walter Zerlett Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 2 Rosen 1 286

Rosen 1
Rosen haben Dornen
Rosen haben Stacheln, keine Dornen. Ein Dorn ist ein
»stechend spitzes Gebilde, das durch Umwandlung
eines Pflanzenorgans entsteht«. Ein Stachel ist ein
»aus Rindengewebe gebildetes, leicht ablösbares An-
hangsorgan der Sproßachse höherer Pflanzen«. Des-
halb haben Kakteen z.B. Dornen, Rosen aber Sta-
cheln.
& Lit.: Stichworte »Dorn« und »Stachel« in der
Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden 1990;
Stichwort vorgeschlagen von Sabine Ulrich und
Heinz Pangritz.

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LexPI Bd. 2 Rosen 2 287

Rosen 2
Die Bibel sagt »Es ist ein Ros' entsprungen«
Dieses Weihnachtslied entstammt einer Fehlüberset-
zung. Die Bibel sagt (Jesaia 11,1): »Es wird ein Reis
hervorgehen aus dem Stamme Isais und ein Zweig aus
seiner Wurzel wird Frucht bringen.« Wie aus diesem
»Reis« eine »Rose« wurde, weiß niemand so genau,
vielleicht ein Lesefehler, vielleicht ist auch nur die
Phantasie des mittelalterlichen Dichters mit dem
Autor durchgegangen.
& Lit.: Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig über-
setzt?, Gütersloh 1989.

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LexPI Bd. 2 Rosenkranz 287

Rosenkranz
Das Rosenkranzbeten ist eine typisch katholische
Erfindung
Schon 500 Jahre vor Jesus Christus pflegten indische
Priester ihre Gebete mit Knoten- oder Perlenschnüren
abzuzählen; als der heilige Domenikus, der Begründer
des Dominikanerordens, im 13. Jahrhundert das Beten
des Rosenkranzes als Mittel gegen Ketzerei und Sün-
den aller Art empfahl, stand er in einer langen Traditi-
on.
Nach vielen frühreligiösen Vorstellungen steigt die
Wirkung von Gebeten durch das Wiederholen; da
aber die meisten Menschen nicht zugleich beten und
zählen konnten, waren Gedächtnisstützen aller Art
seit alters her in vielen Religionen weit verbreitet.
& Lit.: C. Panati: Universalgeschichte der ganz ge-
wöhnlichen Dinge, Frankfurt a.M. 1994 (beson-
ders das Kapitel »Rosenkranz«).

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LexPI Bd. 2 Rot 287

Rot
Rote Autos fallen am stärksten ins Auge
Die »sicherste« Autofarbe ist mintgrün; sie wird bei
Dämmerlicht am besten wahrgenommen, da sie das
Auge reizt und so die größte Reflexion erzeugt. Die
beliebte Signalfarbe rot dagegen ist in der Dämme-
rung weit schlechter wahrzunehmen, sie sackt ins
Braune ab und hebt sich kaum noch von der Umwelt
ab; selbst Violett und Gelb sieht man im Dunkeln
besser.
& Lit.: Rudolf Cramer: »Das geht ins Auge«, Start
1/1996; Stichwort beigetragen von Marc Schuh-
macher.

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LexPI Bd. 1 Roter Platz 269

Roter Platz
Der rote Platz hat seinen Namen von den Bolsche-
wisten
Das russische Wort »krasniy« heißt sowohl »rot« wie
»schön«, und der rote bzw. schöne Platz in Moskau
hieß schon lange vor den Bolschewisten so. Deshalb
hat der Platz auch mit der roten Fahne oder der Parole
»Der Osten ist rot« nichts zu tun.

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LexPI Bd. 2 Rotes Fleisch 288

Rotes Fleisch
Rotes Fleisch ist rot durch Blut
Der rote Saft in einem kurz angebratenen Steak ist
kein Blut, sondern sogenanntes Myoglubin, ein hell-
roter Proteinsaft, der zur Zwischenlagerung des per
Blut den Muskeln zugeführten Sauerstoffes dient.
Beim Tod des Tieres verflüchtigt sich der Sauerstoff,
das Myoglubin verfärbt sich violett. Wird das ange-
bratene Fleisch dann aber auf dem Teller aufgeschnit-
ten, tritt wieder Sauerstoff hinzu, der Saft wird wieder
rot (es sei denn, das Fleisch wird lang bei über 60°C
gebraten, dann verliert das Myoglubin seine Sauer-
stoffaufnahmefähigkeit, es wird leicht braun bis grau).
Wegen des im Vergleich zu Rindfleisch niedrigeren
Myoglubingehalts von Schweinefleisch ist dieses
nicht so rot. Noch weniger Myoglubin enthalten die
Muskeln von Geflügel oder Fischen, daher ist deren
Fleisch fast weiß. Mit Blut hat das alles nichts zu tun;
nach dem Schlachten bleibt so oder so kein Gramm
davon im Fleisch zurück.
& Lit.: H. van Maanen, J.J.E. van Everdingen und
H.E. Fokke: Le coeur se situe à gauche – mille et
une idées reçues en matière de médecine, Amster-
dam 1995; Robert L. Wolke: Woher weiß die
Seife, was der Schmutz ist? Kluge Antworten auf
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Rotes Fleisch 288

alltägliche Fragen, München 1998.

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LexPI Bd. 2 Rotes Meer 288

Rotes Meer
Moses führte die Juden durch das Rote Meer
»Mose streckte seine Hand über das Meer aus, und
der Herr trieb die ganze Nacht das Meer durch einen
starken Ostwind fort. Er ließ das Meer austrocknen
und das Wasser spaltete sich. (...) Die Ägypter setzten
ihnen nach; alle Pferde des Pharao, seine Streitwagen
und Reiter zogen hinter ihnen ins Meer hinein« (Exo-
dus 14,21–23). Und dann geschah das, was wir alle
aus der Schule und dem Kino kennen: Nachdem die
Israeliten durchgezogen waren, versanken die sie ver-
folgenden Ägypter mit Mann und Maus im Meer.
Anders als in vielen Bibeln ausgewiesen, begab
sich dieses nicht am Roten Meer; im Original der
Bibel ist vom »Roten Meer« auch keine Rede, es
heißt nur »Schilfmeer« (englisch »see of reeds«) oder
einfach »Meer«. Gemeint ist damit vermutlich ein fla-
cher See nördlich von Suez oder auch das Mittelmeer.
Der in Exodus 14,2 genannte Ort Baal-Zefon (»Ge-
genüber von Baal-Zefon sollt ihr am Meer das Lager
aufschlagen«) könnte ein Hügel mit Tempel östlich
des Nildeltas, das »Meer« eine heute »Sirbonische
See« genannte und schon in der Antike als gefährlich
bekannte Lagune gewesen sein: »Da das Wasser nur
sehr schmal ist, einem Bande ähnlich, und große
Sandflächen ihn überall umgeben, so wird viel Sand
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Rotes Meer 289

hineingewirbelt, wenn anhaltende Südwinde wehen«,


schreibt der Grieche Diodot. »Der macht das Wasser
für das Auge unerkennbar und läßt den See unmerk-
lich ins Festland übergehen, so daß man ihn davon
gar nicht unterscheiden kann. So sind auch schon
viele von denen, die die Eigentümlichkeit der Gegend
nicht kannten, hier mit ganzen Heeren untergegan-
gen.«
Und zu denen, die hier »mit ganzen Heeren unter-
gegangen« waren, gehört vermutlich auch der die Is-
raeliten verfolgende Pharao.
& Lit.: Georg Fohrer: Geschichte Israels, Heidelberg
1977; Die Bibel – Einheitsübersetzung, Stuttgart
1980; Stichwort »Exodus« in der MS Microsoft
Enzyklopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Roulette 269

Roulette
Roulette ist ein vergleichsweise faires Glücksspiel
(s.a. ð »Zero«)
Ein europäisches Rouletterad hat 36 abwechselnd rote
und schwarze Fächer mit den Zahlen 1 bis 36, und ein
weiteres, in der Regel grünes Fach für die Zahl Null.
Damit beträgt die Wahrscheinlichkeit für eine be-
stimmte Zahl, etwa für »13«, genau 1/37, und da die
Bank bei einem Volltreffer das 36-fache des Einsatzes
auszahlt, beträgt der mittlere alias erwartete Gewinn
bei einem solchen Spiel »à plein« genau 36/37 des
Einsatzes. Zieht man davon noch den Einsatz selber
ab, verbleibt ein mittlerer Verlust pro Spiel von 1/37
für jede eingesetzte Mark.
»Verglichen mit 50 Prozent mittlerem Verlust beim
Lotto ist eine mittlerer Verlust von 1/37 oder 2,7 Pro-
zent doch eigentlich human«, sagen die Spielbanken.
»Roulette ist weitaus fairer zu den Spielern als alle
anderen Glücksspiele; bei keinem anderen Spiel ist
der Verlust der Spieler so gering.«
Dieses Argument ist aber falsch, wie man allein
schon an den Spielern und Spielerinnen sehen kann,
die abends die mittlerweile 26 offiziellen Spielkasinos
unserer Republik verlassen. Manche haben leicht ge-
wonnen, einige darunter sogar mehr als leicht, aber
die große Mehrzahl hat verloren, und zwar im Durch-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Roulette 269

schnitt mehr als 2,7 Prozent. Denn dieser mittlere


Verlust von 2,7 Prozent des Einsatzes bezieht sich
nur auf ein einziges Spiel, auf einen einzigen Wurf
der Kugel in den Kessel des Roulettes. Und welcher
Spieler setzt an einem Abend nur ein einziges Mal!
Setzt man immer nur den gleichen Einsatz auf eine
einzige Zahl, beträgt der mittlere Verlust nach zwei
Spielen schon 5,4 Prozent, nach 3 Spielen 8,1 Pro-
zent, und nach 20 Spielen schon 54 Prozent des Ein-
satzes – also nicht weniger als beim Lotto, sondern
mehr. Und nach 37 Spielen hat man den ganzen Ein-
satz eingebüßt.
Etwas länger dauert der Verlust des Einsatzes bei
den einfachen Chancen: gerade, ungerade, rot,
schwarz, manque (1–18), passe (19–36). Hier kas-
siert die Bank bei »Null« nicht alles, sondern nur die
Hälfte, entsprechend einem mittleren Verlust von
1/74 oder 1,35 Prozent. Wer also immer nur auf diese
Chancen wettet, braucht nicht 37, sondern 74 Spiele,
um auf Dauer seinen Einsatz einzubüßen.
Auch mit variablen Einsätzen, wie sie in Dutzen-
den von Spielsystemen angepriesen werden, läßt sich
auf Dauer kein Gewinn erzwingen. Das einfachste
dieser Systeme funktioniert so: »Setze einen festen
Einsatz auf eine einfache Chance, etwa rot. Kommt
rot, kassiere den Gewinn. Kommt schwarz, verdopple
den Einsatz. Kommt darauf rot, kassiere den Gewinn.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Roulette 270

Kommt wieder schwarz (was Gott verhüten möge),


verdopple nocheinmal den Einsatz. Kommt rot, kas-
siere den Gewinn. Kommt dummerweise nochmal
schwarz, verdopple wieder, und so weiter, bis irgend-
wann dann rot erscheint.«
Dieses System scheint idiotensicher: egal wann rot
erscheint – und mit Wahrscheinlichkeit 1 erscheint ir-
gendwann einmal rot –, der dann anfallende Gewinn
reicht immer aus, alle bis dato angefallenen Einsätze
zu decken, plus einen Nettogewinn in Höhe des Ein-
satzes beim ersten Spiel.
Leider scheitert dieses System jedoch an dem be-
grenzten Kapital des Spielers bzw. an dem Einsatz-
Maximum: Bei einem Ersteinsatz von 10 Mark und
einem Maximum von 1000 Mark z.B. wären wir
schon nach 7 Runden bei 640 Mark und könnten
daher nicht nochmals verdoppeln. Und selbst bei
einem Maximum von 10000 Mark wäre schon nach
10 Runden keine Verdoppelung des Einsatzes mehr
möglich. Daß so oft hintereinander schwarz oder rot
erscheint, ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber dafür
ist der dann aufgelaufene Verlust auch umso größer,
so daß unter dem Strich auch bei dieser Strategie ein
mittlerer Verlust verbleibt.
& Lit.: Walter Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus
der Welt des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt
1995.
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LexPI Bd. 1 Ruhrgebiet 272

Ruhrgebiet
Die Menschen an der Ruhr leben vor allem von
der Industrie
In Essen arbeiten 55000 von 250000 Beschäftigten in
Bergbau und Industrie, in Dortmund 63000 von
260000. Die wichtigsten Arbeitgeber in beiden Städ-
ten sind der Handel und der Öffentliche Dienst (in
Dortmund auch Versicherungen).
Im Sauerland arbeiten prozentual mehr Menschen
in der Industrie als im Ruhrgebiet – im Hochsauer-
landkreis 46000 von 120000, im Märkischen Kreis
sogar 113000 von 214000.
& Lit.: Statistisches Jahrbuch Nordrhein-Westfalen.

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LexPI Bd. 1 Russell 270

Russell
Bertrand Russell war immer ein konsequenter
Pazifist
Der große Philosoph und Mathematiker Bertrand
Russell, der allgemein als großer Pazifist und Feind
jeglicher Gewaltanwendung gilt, war durchaus nicht
immer ein Gegner von Gewalt: Kurz nach dem Zwei-
ten Weltkrieg hat Russell mehrfach in Wort und
Schrift gefordert, die Amerikaner sollten doch, um das
Gespenst des Kommunismus ein für allemal zu ban-
nen, die russische Militärmacht atomar vernichten.
Für Russell war Stalin gefahrlicher als Hitler, und die
amerikanische Atombombe erschien ihm wie die
»Letzte Chance der Menschheit« (»Humanity's last
chance«, so die Überschrift eines Artikels von Russell
in der Zeitschrift Cavalcade vom Oktober 1945).
Später, als Aushängeschild der Anti-Vietnam-Mar-
schierer, wollte Russell von diesen Thesen nichts
mehr wissen. Aber wer hinreichend Zeit und Muße
hat, kann sie noch heute in Zeitungsarchiven finden.
& Lit.: Paul Johnson: Intellectuals, London 1988
(besonders das Kapitel über Bertrand Russell).

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LexPI Bd. 1 Rütli-Schwur 271

Rütli-Schwur
Der Rütli-Schwur hat auf der Rütli-Wiese stattge-
funden (s.a. ð »Wilhelm Tell«)
Der Rütli-Schwur hat seinen Namen von der Rütli-
Wiese, jenem romantischen Fleckchen Erde am Urner
See in der Schweiz, wo Ausgangs des 13. Jahrhun-
derts die Eidgenossen ihren Bund besiegelt haben sol-
len. Aber anders als viele Schweizer noch heute gerne
glauben, hat diese Wiese mit dem Eid der Eidgenos-
sen nichts zu tun.
»Als Ort scheidet das zu romantische Rütli leider
aus«, schreibt der französische Historiker Bergier,
»auch wenn ich damit sensible Gemüter ebenso ent-
täuschen muß wie jene ganze Tradition, die seit Rous-
seau bis auf den heutigen Tag demokratische Gesin-
nung und erhebende Gebirgslandschaft in innigstem
Zusammenhang sieht.«
Für das Abfassen des berühmten Schweizer Bun-
desbriefes war der Ort ganz einfach ungeeignet: »Aus-
gehandelt, beschlossen und von einem Kleriker etwas
ungeschickt (oder zu flüchtig) in Latein und zu Perga-
ment gebracht wurde er an einem Ort, der sich besser
dazu eignete als eine offene Wiese: wahrscheinlich in
einem Haus in Brunnen, vielleicht auch in Schwyz,
Flüelen oder Altdorf.«
Ein weiterer Irrtum in diesem Kontext betrifft die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Rütli-Schwur 271

nachfolgende Erhebung gegen die Fremdherrschaft


der Habsburger. Diese war nämlich längst nicht so
friedlich und gewaltfrei wie die Legende wissen will.
»Hier gibt es bezeichnende Widersprüche in den Er-
zählungen«, schreibt Bergier. »Ihre späteren Version-
en ... betonen unermüdlich, die ersten Eidgenossen
seien in ihrem Kampf jeglichem Blutvergießen abhold
gewesen – lauter Pazifisten, Anhänger der Gewaltfrei-
heit.«
Doch dieser nachträglich aufgetragene Pazifismus
täuscht, »er kaschiert mehr schlecht als recht die
Wirklichkeit: Sie besteht aus einer ununterbrochenen
Kette von Mord, Hinterlist, Brachialgewalt und Parti-
sanenkampf, wo man ritterliche und höfische Sitten
vergeblich sucht.«
& Lit.: Jean-Francois Bergier: Wilhelm Tell: Reali-
tät und Mythos, München 1988.

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LexPI Bd. 2 Résistance 282

Résistance
Die französische »Résistance« war eine populäre
Massenbewegung
Die französische Résistance war stets nur eine Ange-
legenheit von Minderheiten, zur Massenbewegung
wurde sie erst nach der Invasion der Alliierten im
Sommer 1944.
Allen Denkmälern und »Musées de Résistance«
zum Trotz, die man dutzendweise heute überall in
Frankreich sieht: Die weitaus meisten Franzosen hat-
ten sich mit den Besatzern bestens eingerichtet, sie
bewunderten die deutsche Armee, sie waren ange-
nehm überrascht von der Disziplin der ihnen als Bar-
barenhorden angekündigten deutschen Soldaten, sie
waren mit den Deutschen zumindest anfangs durchaus
einverstanden. In keinem von den Deutschen besetz-
ten Land Europas floß die Hilfe für die Nazis so froh
und reichlich wie bei unseren Nachbarn links des
Rheines; die Wirtschaft machte prächtige Geschäfte,
die Männer mußten nicht mehr kämpfen, man konnte
ins Kino, ins Theater gehen, Zeitung lesen. In keinem
Land der Welt erschienen zwischen 1941 und 1944
mehr Bücher als in Frankreich (über 9000 Neuer-
scheinungen), es entstanden über 150 Filme, die Ka-
baretts, Theater, Nachtlokale hatten immer Gäste, die
Künste blühten; wenn die Franzosen nach England
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Résistance 282

oder auf den Balkan blickten, waren sie ganz froh,


daß sie selbst den Krieg nicht mehr zu führen brauch-
ten.
Selbst die französischen Kommunisten, die sich
gern als stets stramme Gegner Hitlers feiern lassen,
waren länger als ein Jahr auf Hitlers Seite: Als Mari-
onetten Stalins konnten sie aufgrund des Hitler-Stal-
in-Paktes von 1939 schlecht dem Freund ihres Freun-
des Böses wünschen.
Erst ab dem deutschen Überfall auf Rußland im
Juni 1941, als man sich des Schicksals Napoleons er-
innerte, und erst recht nach der deutschen Niederlage
bei Stalingrad im Winter 1942/43, begannen auch
Franzosen, ihre Fahnen in den neuen Wind zu hän-
gen. Aber nie so deutlich, daß es ihren bürgerlichen
Frieden hätte stören können, und nur ganz selten unter
Risiko für Leib und Leben: Die Zahl der aktiven Ré-
sistance-Mitarbeiter betrug nie mehr als 50.000, ein
Promille der französischen Bevölkerung, und selbst
1944, als die letztendliche Niederlage der Deutschen
schon für jeden klar zu sehen war, war auf aktiven
Massenwiderstand in Frankreich nicht zu hoffen. Als
die Alliierten de Gaulle fragten, ob die Franzosen die
geplante Invasion nicht durch zivilen Ungehorsam un-
terstützen könnten, meinte de Gaulle, dergleichen
könnte man vergessen.
Mangels Masse war die französische Résistance
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Résistance 283

auch militärisch immer unbedeutend; sie war nie eine


Gefahr für die Besatzer, die vereinzelten Anschläge
auf Eisenbahnen, Brücken und Kasernen wurden –
falls überhaupt – als Mückenstiche wahrgenommen.
Ein englischer Historiker hat die militärische Wir-
kung der Resistance einmal mit einer Hummel in der
Hose des deutschen Militärs verglichen: nicht eigent-
lich gefährlich, eine Ablenkung, die den Kämpfer
vielleicht irritiert, ihn aber auch am Kampf nicht
wirklich hindert – mit anderen Worten, die Kämpfe in
Europa wären auch ohne die Résistance am 8. Mai
1945 zu Ende gewesen.
& Lit.: Stichwort »Résistance« in der Brockhaus
Enzyklopädie, Wiesbaden 1990, und in der Ency-
clopaedia Britannica, 15. Auflage, Chicago 1994;
H. Noguères: Histoire de la Résistance en France,
5 Bände, Paris 1967–1981 (ein Musterbeispiel
für die ex post Glorifizierung einer gar nicht glor-
reichen Epoche); H. Amouroux: La grande histoi-
re des Français sous l'occupation, 5 Bände, Paris
1977 (besonders Band 2: Quarante millions de
pétainistes); F.W. Seidler: Die Kollaboration,
München 1995; G. Chauvy: Aubrac-Lyon 1943,
Paris 1997 (hier deckt ein Franzose selber eine ex
post Glorifizierung auf; gewisse Buchhändler in
Frankreich weigern sich daher in alter chauvinisti-
scher Franzosentradition, dieses Werk in ihrem
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Résistance 284

Laden zu verkaufen, siehe »Un libraire fait de la


résistance«, Le Figaro, 13.4.1997.

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S 284

»Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf


nicht ein.«
Arthur Schopenhauer

»Geistreich wirkende Irrtümer sind schwer zu


bekämpfen, weil ihr symbolischer Nutzen den
Mangel an faktischen Grundlagen verdeckt.«
G.K. Pullum

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LexPI Bd. 2 Sahara 290

Sahara
Die Sahara ist eine große Sandwüste
Die Sahara ist eine große Steinwüste; der Sand be-
deckt nur rund ein Fünftel ihrer Fläche.

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LexPI Bd. 1 Salome 273

Salome
Die Herodes-Tochter Salome hat den Tod von Jo-
hannes dem Täufer auf dem Gewissen
Hier sind gleich zwei Irrtümer auf einmal auszuräu-
men. Erstens kommt der Name »Salome« in der Bibel
im Kontext des Todes von Johannes nirgends vor.
»An seinem Geburtstag lud Herodes seine Hofbeam-
ten und Offiziere zusammen mit den vornehmsten
Bürgern von Galiläa zu einem Festmahl ein«, schreibt
der Evangelist Markus. »Da kam die Tochter der He-
rodias [die Frau des Herodes] und tanzte, und sie ge-
fiel dem Herodes und seinen Gästen so sehr, daß der
König zu ihr sagte: Wünsch dir, was du willst: ich
werde es dir geben, und wenn es die Hälfte meines
Reiches wäre. Sie ging hinaus und fragte ihre Mutter:
Was soll ich mir wünschen? Herodias antwortete:
Den Kopf des Täufers Johannes.«
Aber weder im Evangelium des Markus noch im
Evangelium des Matthäus, der einzigen weiteren ein-
schlägigen Quelle, wird der Name des Mädchens ge-
nannt: »Als aber der Geburtstag des Herodes gefeiert
wurde, da tanzte die Tochter der Herodias vor den
Gästen.« Auch hier keine Salome.
Zweitens ist es äußerst unwahrscheinlich, daß sich
Herodes von seiner Tochter, wie auch immer sie ge-
heißen haben mag, in seine Staatsgeschäfte hineinre-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Salome 273

den ließ. Daß Herodes den Johannes umbringen ließ,


ist zwar historisch einwandfrei gesichert, aber der
Grund war wohl kaum der Schleiertanz der Tochter,
sondern der gleiche, weswegen Diktatoren schon zu
allen Zeiten Aufwiegler ermordeten: um einen unbe-
quemen »trouble-maker« aus dem Weg zu räumen.
Daß dennoch dieses Salome-Motiv die Jahrhunder-
te überlebte und immer wieder Maler, Bildhauer und
Literaten zu neuen Interpretationen anregte (u.a. Ti-
zian, Picasso, Slevogt, Heine, Wilde und Stuck, um
nur eine kleine Auswahl aufzuzählen), liegt wohl an
der ewig fazinierenden Kombination von »Sex und
Crime«, der auch viele andere wahre und erfundene
Begebenheiten (Judith und das Haupt des Holofernes,
Maria Stuart, Mata Hari etc.) ihre konstante Frische
verdanken – dieses Gegenspiel von Tanz und Tod ist
ein Ventil für Tabus, verdrängte Ängste und uneinge-
standene Begierden, hier treten Leben, Liebe, Sterben,
also die Dinge, die uns wohl zutiefst am Herzen lie-
gen, quasi simultan auf eine Bühne, und diesen
Kunstgriff, um den Leser aufzuwecken, haben auch
die Evangelisten Markus und Matthäus schon ge-
kannt. Indem sie den Johannes nicht einfach als politi-
schen Gefangenen, sondern als Opfer einer Sex-Intri-
ge sterben ließen, haben sie den Tod des Täufers den
Christen für immer ins Gedächtnis eingegraben. Und
da dieses Eingraben noch weit besser funktioniert,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Salome 274

wenn alle Personen eines Dramas Namen haben, hat


man später die im Evangelium noch namenlose Toch-
ter des Herodes Salome getauft (Herodes soll tatsäch-
lich eine Tochter dieses Namens gehabt haben; zuwei-
len wurde die Tänzerin aber auch Herodias genannt,
das war Herodes' Frau).
& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-
serwisser, München 1986; Erika Wäcker: »Die
Darstellung der tanzenden Salome in der bilden-
den Kunst zwischen 1870 und 1920«, Disserta-
tion Berlin, 1993.
¤ Salome und der geköpfte Johannes – ein reines
Phantasieprodukt

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LexPI Bd. 2 Salz 290

Salz
Man kann Eis mit Salz zum Schmelzen bringen
So haben wir jahrelang geglaubt und im Winter Salz
auf Geh- und Torwege gestreut. In Wahrheit kann das
Salz das Eis aber nicht schmelzen, es löst es auf, und
das ist chemisch etwas völlig anderes. Beim Schmel-
zen wird ein Stoff erwärmt und dadurch flüssig, beim
Auflösen verändert sich der Stoff, und zwar im aktu-
ellen Fall zu Salzwasser. Dieses Salzwasser hat einen
niedrigeren Gefrierpunkt als normales Wasser, des-
halb entsteht aus Eis nach einer Weile eine große
Pfütze.
& Lit.: Robert L. Wolke: Woher weiß die Seife, was
der Schmutz ist? Kluge Antworten auf alltägliche
Fragen, München 1998.

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LexPI Bd. 1 Salz 1 274

Salz 1
Wer viel schwitzt, braucht viel Salz
»Ein Märchen, das böse Folgen haben kann«, schreibt
Michael Furmanek in der Hörzu. »Salz entzieht nach
Wasserverlust dem Körper noch zusätzlich Flüssig-
keit. Zuviel Salz unter solchen Bedingungen kann
sogar zum Hitzschlag führen.«
& Lit.: Michael Furmanek: »Die 15 großen Lügen
übers Essen«, Hörzu 31/1995.

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LexPI Bd. 1 Salz 2 275

Salz 2
Gefrorenes und dann aufgetautes Meerwasser ist
nicht trinkbar, weil es Salz enthält
Eis im Meerwasser besteht entweder aus Gletschertei-
len oder aus gefrorenem Meerwasser selbst. Da die
Gletscher aus Süßwasser entstanden sind, kann man
das Eis der ersten Sorte problemlos auftauen und
trinken. Was aber viele nicht wissen: auch Treibeis-
schollen aus Meerwasser kann man auftauen und
trinken.
Beim Abkühlen von nichtgesättigten Lösungen
unter ihren jeweiligen Gefrierpunkt wird das Lö-
sungsmittel abgeschieden – hier das Wasser. Voraus-
setzung ist nur, daß Salz und Lösungsmittel keine so-
genannten »Mischkristalle« bilden. Und da Wasser
eines dieser Lösungsmittel ohne Mischkristalle ist,
scheidet es sich beim Gefrieren ab; es kann ohne wei-
teres nach dem Auftauen getrunken werden.

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LexPI Bd. 2 Samoa 290

Samoa
Die Eingeborenen auf Samoa leben in sexueller
Freizügigkeit und Frieden miteinander
Das ist die berühmte These der berühmten Ethnologin
Margaret Mead: Auf Samoa, so Mead, herrsche eitel
Wonne und Sonnenschein, weil es keine sexuellen Ri-
valitäten gäbe, weil Mann und Frau und Kind in Ein-
tracht, ohne Hierarchie und Feindschaft, so wie die
Natur es will, zusammenlebten.
An dieser These ist nach neueren Erkenntnissen
fast alles falsch: Es gibt auf Samoa wie überall auf
Erden Gewalt auch in der Ehe, es gibt strikte Hierar-
chien, es gibt Arme und Reiche, und vor allem gibt es
keinen Spaß mit sexuellen Themen. Sex ist eines der
größten Tabus der ganzen Insel, er ist auf Samoa
weder freizügig, noch vor der Ehe leicht zu haben,
und wie in vielen anderen Kulturen ist auch auf
Samoa ein Mädchen nur als Jungfrau auf dem Hei-
ratsmarkt zu präsentieren.
Verschiedene Gastgeber von Frau Mead, die nach
deren Besuch Englisch gelernt hatten, glaubten ihren
Augen nicht zu trauen, als sie den Text ihres Gastes
zu lesen bekamen: Ihre wahre Einstellung zu Ehe und
Familie, zu Geld und Freundschaft, zu Gewalt und
Macht entsprach in vielen Teilen nicht den Thesen
aus Frau Meads Berichten. Wie der neuseeländische
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LexPI Bd. 2 Samoa 291

Anthropologe Derek Freeman nachweist, der 15 Jahre


nach Mead und sehr viel länger als diese mit den Ein-
geborenen zusammenlebte und anders als Mead auch
deren Sprache beherrschte, haben die Eingeborenen
die lästige Fragerin von jenseits des großen Wassers
einfach angeschwindelt; sie wollten ihre Ruhe haben
und erzählten deshalb, was Frau Mead am liebsten
hören wollte. Und da diese Lügen so gut in das vorge-
fertigte Gedankengebäude der Fragerin hineinpaßten
(Frau Mead wollte die Umwelt und die Erziehung,
nicht die Erbanlagen, als wichtigste Determinanten
unseres Verhaltens nachweisen), gab sich diese mit
den Lügen der Befragten gern zufrieden.
& Lit.: M. Mead: Coming of Age in Samoa, New
York 1928; M. Mead: Mann und Weib, Hamburg
1958; D. Freeman: Margaret Mead and Samoa:
The making and unmasking of an anthropological
myth, Cambridge 1983; F. Sulloway: Born to
rebel, London 1996 (besonders den Abschnitt
»Margaret Mead and Samoa« auf S. 159ff.);
Stichwort vorgeschlagen von Dietrich Groh und
Percy A. Rohde.

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LexPI Bd. 1 Sandwich 275

Sandwich
Das Sandwich ist eine Erfindung des Earl of
Sandwich
Diese beliebte Zwischenmahlzeit ist keine Erfindung
des vierten Earl of Sandwich (1718–1792), wie man
immer wieder liest. Zwar hatte der Earl als leiden-
schaftlicher Kartenspieler öfter keine Zeit bzw. keine
Lust gehabt, zum Essen den Spieltisch zu verlassen,
hatte stattdessen ohne das Spiel zu unterbrechen ein
zwischen zwei Brotscheiben eingeklemmtes Stück
kaltes Fleisch gegessen, aber das haben mehr als
1000 Jahre früher auch die Römer schon getan.
Daß diese Mahlzeit dennoch mit dem Earl of Sand-
wich eng verbunden blieb und heute seinen Namen
trägt, ist ein Zufall; vermutlich haben seine Spielkum-
pane diese Sitte übernommen und, wenn wegen
schlechter Manieren angegriffen, alles auf den Earl
geschoben.

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LexPI Bd. 2 Sardellen 292

Sardellen
Sardellen sind kleine Sardinen
Sardellen (Engraulis encrasicholus) und Sardinen
(Sardina pilchardus) sind verschiedene Fische, kon-
kret: verschiedene Arten von Heringsfischen. Auch
ausgewachsen erreichen Sardellen (15 cm) niemals
die Größe von Sardinen (bis zu 25 cm).
& Lit.: W. Eigener: Großes Farbiges Tierlexikon,
Herrsching 1982.

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LexPI Bd. 2 Sauerstoff 292

Sauerstoff
Die Luft im Wald enthält mehr Sauerstoff (s.a. ð
»Ozon«)
Der Sauerstoffgehalt der Luft ist innerhalb (bei aus-
reichender Belüftung) und außerhalb geschlossener
Gebäude, im Wald und auf der Heide wie in der
Großstadt stets der gleiche, nämlich rund 21%. Ob
am Südpol oder am Strand von Rimini, ob im Interci-
ty Frankfurt-Stuttgart oder auf dem Gipfel des Mount
Everest: Immer enthält unsere Atemluft rund ein
Fünftel Sauerstoff.
Daß viele Menschen dennoch im Wald, am Meer
oder in der Nähe eines Wasserfalles freier atmen, liegt
nicht an einem größeren Angebot an Sauerstoff an
sich, sondern an einer größeren Menge negativ gela-
dener Sauerstoffionen. Diese biologisch besonders ak-
tive Art von Sauerstoff, wie sie auch nach Gewittern
entsteht, wird von unserem Körper leichter als Sauer-
stoff mit positiver Ladung aufgenommen, deshalb er-
scheint die Luft uns frischer.
Umgekehrt bei überwiegend positiver Ladung:
Diese Luft, obwohl genauso sauerstoffhaltig, macht
uns schlaff und müde. Daher wird die Atemluft bei
modernen Sauerstofftherapien, wie auch in U-Booten
und Raumstationen, heute künstlich negativ geladen.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Sauerstoff 292

& Lit.: A. Varga: Biologische Wirkung von Luftion-


en, Heidelberg 1986; B. Ullrich: Sauerstoff-Inha-
lationen mit negativ ionisiertem Sauerstoff,
Fröndenberg 1997; Stichwort vorgeschlagen von
Heiner Gerke.

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LexPI Bd. 2 Sauregurkenzeit 293

Sauregurkenzeit
Die Sauregurkenzeit hat etwas mit sauer oder
Gurken zu tun (s.a. ð »Apfel«, ð »Guter
Rutsch« und ð »Nassauer«)
Man kann in der Sauregurkenzeit durchaus saure Gur-
ken essen, aber das Wort hat seinen Ursprung anders-
wo: in den hebräisch-jiddischen Wörtern »zarot« für
Sorgen und »jakrut« für Preisanstieg: In der Sauregur-
kenzeit sorgten sich die jüdischen Kaufleute über In-
flation und Preise.
& Lit.: Bernd-Lutz Lange: Dämmerschoppen, Köln
1997 (besonders das Kapitel »Sprachdenkmä-
ler«).

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LexPI Bd. 2 Schadstoffe 293

Schadstoffe
Schadstoffe reichern sich in den Lebewesen über
die Nahrungskette an
Nicht bei Fischen. Mit Ausnahme der Meeressäuger
und Wasservögel nehmen alle Wassertiere durch die
Haut und durch die Kiemen sowie durch das ständige
Schlucken soviel Wasser auf, daß sie sich der Schad-
stoffkonzentration ihrer Umgebung anpassen – bei
kleinen Fischen etwas schneller, bei größeren etwas
langsamer (kleinere Fische lagern wegen ihrer größe-
ren Wasser-Austauschrate schneller Schadstoffe an
und schwemmen sie auch schneller wieder aus; ausge-
nommen natürlich Schadstoffe, die sich schwer in
Wasser lösen wie etwa DDT; dieses Gift löst sich in
Fetten und sammelt sich daher im Fettgewebe von
allen möglichen Organismen an und kann über die
Nahrungskette auch in Fischen landen).
Ob also ein Hai zum Frühstück einen bleihaltigen
Tintenfisch oder eine schadstofffreie Riesengarnele
verspeist, dem Fleisch des Hais ist das egal; die darin
abgelagerten Schadstoffe richten sich mittelfristig al-
lein nach der Qualität des Wassers, in dem der Hai
sich fortbewegt.
& Lit.: L. Hafner und E. Phillip: Materialien für die
Sekundarstufe II, Hannover 1994 (in dem Band
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schadstoffe 293

»Ökologie« findet sich auf S. 105ff. ein Beispiel


für die obige falsche Behauptung); Stichwort vor-
geschlagen von Stefan Clemens.

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LexPI Bd. 2 Schafskäse 294

Schafskäse
Schafskäse wird aus Schafsmilch hergestellt (s.a.
ð »Parmesan«)
Ein großer Teil des Schafskäses, der in deutschen Re-
staurants verkauft wird, wird aus Kuhmilch herge-
stellt – rund ein Drittel, wie das chemische Untersu-
chungsamt in Hamm bei einer Kontrolle von 66 Re-
staurants und Imbißstuben herausgefunden hat.
Kuhmilch ist billiger, deshalb lohnt sich dieser Et-
ikettenschwindel. »Für den Verbraucher ist der Be-
trug nicht zu erkennen«, schreibt der WDR. »Denn
Molkereien können mit speziellen Labkulturen auch
aus Kuhmilch einen Käse mit charakteristischem
Schafsmilch-Aroma produzieren.«
Selbst bei verpacktem Käse kann man der Verpak-
kung nicht in jedem Fall vertrauen. Zwar scheuen die
Produzenten hier den direkten Betrug – der wäre che-
misch nachzuweisen und für die Hersteller zu teuer –,
aber man kann ja auch durch Bilder Illusionen wek-
ken. »Wer sich nicht die Mühe macht, den
kleingedruckten Text auf der Verpackung zu studie-
ren, kann leicht durch die optische Aufmachung ge-
täuscht werden. Denn bei einigen Produkten vermit-
teln naive Darstellungen von folkloristischen Schäfern
zunächst den Eindruck, es handele sich um Schafskä-
se. Doch bei genauem Hinsehen stellt sich dann her-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schafskäse 294

aus, daß der Schafhirte Kühe hütet.«


& Lit.: »Kostprobe«, WDR Fernsehen, 2.2.1996
(siehe auch den Artikel »Etikettenschwindel bei
Käsespezialitäten« in der zu dieser Sendung her-
ausgegebenen Informationsbroschüre).

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LexPI Bd. 2 Schallwellen 294

Schallwellen
Schallwellen pflanzen sich in fester Materie bes-
ser fort als in der Luft
An einer Eisenbahnschiene hört man einen fernen Zug
viel früher; das weiß jeder Leser von Karl May. Nur
die konventionelle Erklärung für diesen guten Schall-
transport ist falsch. Denn der Schall pflanzt sich in fe-
ster, flüssiger und gasförmiger Materie grundsätzlich
gleich gut fort (wenn auch nicht unbedingt gleich
schnell); anders als in der Luft werden aber die in
einer Eisenbahnschiene reisenden Schallwellen am
Rand der Schiene reflektiert, die Schiene wirkt damit
wie ein langes Rohr, und deshalb, nicht weil das
Eisen den Schall besser leitet, sind auch sehr ferne
Geräusche mit dem Ohr an einer Schiene noch gut
wahrzunehmen. Würde man aber statt der Eisenbahn-
schiene einen langen Gummischlauch verlegen,
könnte man auch so den Zug von weitem hören.

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LexPI Bd. 2 Schaltjahr 295

Schaltjahr
Jedes 4. Jahr ist ein Schaltjahr (s.a. ð »Jahre«)
Seit Einführung des Gregorianischen Kalenders 1582
fällt bei allen vollen Hundertern das Schaltjahr aus
(1900 war also kein Schaltjahr). Ausgenommen sind
die Jahre, die durch 400 zu teilen sind, wie 1600,
2000, 2400 usw. – hier findet ganz normal ein Schalt-
jahr statt.
& Lit.: K.G. Irwin: The 365 days: the story of the
calendar, Crowell 1963.

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LexPI Bd. 2 Schanze 295

Schanze
»Sein Leben in die Schanze schlagen« hat etwas
mit Schanzen zu tun
Wer sein Leben in die Schanze schlägt, setzt alles auf
eine Karte. »Schanze« im Zusammenhang mit »sein
Leben in die Schanze schlagen« kommt von dem la-
teinischen »cachentia« (= Fallen des Würfels); über
das altfranzösische »chéance« (= Glückswurf) ist es
ab 1200 dann auch im Mittelhochdeutschen als
»Schanze« nachzuweisen. Auf diese Wurzel verweist
auch noch die Redewendung »jemandem etwas zu-
schanzen« im Sinne von »jemandem einen unverdien-
ten Vorteil verschaffen«.
& Lit.: Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen
Redensarten, Freiburg 1973.

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LexPI Bd. 1 Schattenmorelle 275

Schattenmorelle
Schattenmorellen brauchen Schatten
Diese Sauerkirschenart braucht alles andere als Schat-
ten. Ihren Namen hat sie von »Château Moreille«, wo
sie zuerst gezüchtet wurde.
Nach anderen Quellen leitet sich das Wort Morelle
(engl. morello, ital. amarello) vom lateinischen »ama-
rus« (bitter) her.
& Lit.: Walter Zerlett-Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 2 Schimmel 295

Schimmel
Schimmelpferde werden mit einem weißen Fell
geboren
Weiß geborene Pferde sind Albinos. Schimmel wer-
den mit einem dunklen, fast schwarzen Fell geboren;
dieses wird dann bei den Milch- oder Weiß-Schim-
meln peu à peu immer heller, bis es im höheren
Pferdealter das bekannte Schimmel-Weiß erreicht.
Daneben gibt es auch noch Mohren-Schimmel (grau),
Braun-Schimmel (dunkelbraun), Grau-Schimmel
(gleichmäßige Verteilung weißer und schwarzer
Haare), Schwarzschimmel (vorwiegend schwarze
Haare), Apfel-Schimmel (weiß mit apfelgroßen wol-
kigen Flecken) oder Forellen-Schimmel (weiß mit
kleinen Tupfen) usw.
& Lit.: Großes Universal-Lexikon für die Familie,
Zug 1982; Stichwort vorgeschlagen von Günter
Hager.

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LexPI Bd. 2 Schinderhannes 296

Schinderhannes
Der edle Räuber Schinderhannes war ein Opfer
der Klassenjustiz des frühen 19. Jahrhunderts
So wurde er später gerne dargestellt: in der langen
Zeit der deutschfranzösischen Feindschaft
1815–1955, man feierte ihn wegen seiner angeblichen
Überfälle auf französische Armeetransporte als deut-
schen Che Guevara feierte, auch die Nazis verehrten
ihn wegen seiner vermeintlichen Judenfeindschaft
(unter den Opfern des Schinderhannes befanden sich
auch Juden).
In Wahrheit war der Räuber Schinderhannes genau
das: ein ganz normaler, wenn auch intelligenter und
am Ende seines Lebens erfolgreich auf Effekt bedach-
ter Krimineller. Er war weder Klassenkämpfer noch
Franzosenfresser, weder Witwentröster noch sozialer
Umverteiler, er wollte nur mit möglichst wenig Arbeit
möglichst billig überleben (ein Sozialschmarotzer so-
zusagen). Seine Bande bestand aus Hehlern, Hühner-
dieben und Erpressern; sie arbeitete, wenn es nötig
war, auch mit der Staatsgewalt zusammen – unter den
Angeklagten des Mainzer Prozesses befanden sich
auch bestochene Polizisten –, sie trieb Schutzgelder
ein und lebte von dem Geld und Gut der kleinen
Leute, so daß Robin Hood vor Scham gestorben wäre.
Der Prozeß gegen Schinderhannes und Konsorten
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schinderhannes 296

war ein für die damalige Zeit erstaunliches Muster


rechtsstaatlicher Vorgehensweise; es wurden mehrere
Hundert Zeugen gehört, es wurden Protokolle geführt,
es wurden die Protokolle den Angeklagten vorgelesen,
um diesen Möglichkeit zum Widerspruch zu geben.
Alle dem Schinderhannes zur Last gelegten Taten,
darunter mehrere Raubmorde, waren einwandfrei
durch Indizien, Zeugen und Geständnisse bewiesen –
nach den Usancen des frühen 19. Jahrhunderts wäre
keinem Richter auf der Erde eine andere Wahl geblie-
ben, als den Schinderhannes zusammen mit seinen
wichtigsten Komplizen auf die Guillotine zu beor-
dern.
Und so ist es auch geschehen: Am 21. November
1803 wird Johann Bückler, genannt Schinderhannes,
unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit zusam-
men mit 19 Mittätern enthauptet. Die Frau des Schin-
derhannes, sein Vater und die meisten anderen der
insgesamt 68 Angeklagten erhalten mehr oder weni-
ger lange Zuchthausstrafen, 20 Angeklagte werden
freigesprochen.
Den Heiligenschein, den ihnen die Folklore später
andichtete, haben Schinderhannes und Genossen
mehreren Umständen zu verdanken: daß die Gegend
links des Rheins und damit auch das Gericht zu
Mainz, vor dem sie zur Rechenschaft gezogen wur-
den, seinerzeit französisch waren (ein von den Fran-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schinderhannes 297

zosen verurteilter Deutscher ist automatisch ein Mär-


tyrer), daß Schinderhannes auf die Frauen einen guten
Eindruck machte und daß er, als das Spiel verloren
war, nicht die Schuld auf andere zu schieben suchte.
& Lit.: H. Mathy: »Edler Räuber oder Krimineller?
Legende und Wirklichkeit des Schinderhannes«,
in: U. Schultz (Hrsg.): Große Prozesse – Recht
und Gerechtigkeit in der Geschichte, München
1996; Erwin Schaaf: Festvortrag anläßlich der
Vorstellung des Buches »Der Fluch der bösen
Tat«, abgedruckt in: Der Prümer Landbote
1/1998.

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LexPI Bd. 2 Schlacht im Teutoburger Wald 297

Schlacht im Teutoburger Wald


Die Schlacht im Teutoburger Wald geschah im
Teutoburger Wald
Die berühmte Schlacht im Teutoburger Wald hat sich
mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Kalkrieser Senke
bei Bramsche nördlich Osnabrück ereignet, mehr als
100 km vom Hermannsdenkmal bei Detmold im Teu-
toburger Wald entfernt. Dort, am Fuß des Kalkrieser
Berges, wo sich heute der Mittellandkanal und die
Bundesstraße 218 drängen, hatten im Jahr 9 n. Chr.
die Germanen unter Hermann dem Cherusker den Rö-
mern unter P. Quinctilius Varus einen Hinterhalt ge-
legt; auf einem nur 100 m breiten Wegstreifen zwi-
schen Kalkrieser Berg und Hohem Moor gefangen,
konnten die Römer ihre Legionen und Hilfstruppen
nicht entfalten, ihre ansonsten überlegene Kampftak-
tik war hier nicht anzuwenden und der mehr als 10
km lange Heerwurm wurde in einem mehrtägigen Ge-
metzel von den zahlenmäßig unterlegenen Germanen
völlig aufgerieben. »Während sich die Römer in einer
derart verzweifelten Lage befanden, kreisten sie die
Barbaren, die ja alle Schleichwege kannten und un-
vermutet selbst aus den dichtesten Wäldern hervorka-
men, von allen Seiten zugleich ein«, berichtet der rö-
mische Historiker Cassius Dio. »Anfangs schossen
sie nur von weitem, dann aber, als sich keiner wehrte
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schlacht im Teutoburger Wald 298

und viele verwundet wurden, begannen sie den Nah-


kampf. Denn da die Römer nicht irgendwie geordnet,
vielmehr mitten zwischen den Wagen und dem unbe-
waffneten Troß marschierten, sich auch nicht so leicht
zusammenschließen konnten und so den immer wie-
der angreifenden Feinden jeweils an Zahl unterlegen
waren, erlitten sie viele Verluste, ohne selbst dagegen
irgend etwas auszurichten.«
»Nichts war blutiger als dieses Gemetzel in
Sümpfen und Wäldern, nichts war unerträglicher als
der Hohn der Barbaren« (L.A. Florus).
Von diesen Ereignissen des Jahres 9 n. Chr. zeugen
heute noch zahlreiche Knochenfunde, Münzen (alle
mit Prägedatum vor 9 n. Chr.), Lanzenspitzen,
Helme, Schwerter, Dolche, auch Schreibgeräte, Wür-
fel, Waagen und Gewichte, die seit 1987 in der Kal-
krieser Senke ausgegraben werden und die im »Infor-
mationszentrum Kalkriese, Archäologische Ausgra-
bungen« bei Bramsche besichtigt werden können
(Bahnreisende können auch den als »Varus-Expreß«
ausgeschilderten Bus ab Osnabrücker Hauptbahnhof
benutzen).
Die Legende vom Teutoburger Wald als Tatort
wurde per Ferndiagnose von römischen Historikern
(Tacitus) und deutschen Dichtern in die Welt gesetzt,
die das Desaster dahin verlegten, wo es ihrer Meinung
nach am besten hinpaßte: in eine Landschaft mit dich-
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LexPI Bd. 2 Schlacht im Teutoburger Wald 299

ten Wäldern, hohen Bergen, tiefen Flüssen, so wie


man sich eben in Rom das typische Germanien dach-
te:

In dem Teutoburger Walde,


Huh! Wie pfiff der Wind so kalte.
Raben flogen durch die Luft,
Und es war ein Moderduft,
Wie von Blut und Leichen,
Wie von Blut und Leichen.

dichtete J.V. Scheffel zur Enthüllung des Hermanns-


denkmals 1875.

Plötzlich aus des Waldes Duster


Brachen krampfhaft die Cherusker.
Mit Gott für Fürst und Vaterland
Stürzten sie sich wutentbrannt
Auf die Legionen,
Auf die Legionen.

Und so noch über 15 Strophen.


& Lit.: Wolfgang Schlüter: »Die Varus-Schlacht:
Neue Erkenntnisse zur Örtlichkeit«, Spektrum der
Wissenschaft 2/1992; Wolfgang Schlüter (Hrsg.):
Kalkriese – Römer im Osnabrücker Land, Bram-
sche 1993; Stichwort »Varusschlacht« in: K.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schlacht im Teutoburger Wald 299

Fuchs und G. Raab (Hrsg.): dtv Wörterbuch zur


Geschichte, 10. Auflage, München 1996; »Die
Tatsache stimmt, der Tatort nicht«, Der Tages-
spiegel, 12.5.1996; »Das Grab der Legionen«,
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 7.9.1996.
¤ Dieses Denkmal steht an der falschen Stelle

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LexPI Bd. 2 Schlaf 299

Schlaf
Der Mensch braucht pro Tag 8 Stunden Schlaf
Es gibt Menschen wie den Erfinder Edison, die mit 4
Stunden Schlaf pro Tag auskommen, andere brauchen
10 Stunden oder mehr. Dieses Schlafbedürfnis ist ge-
netisch programmiert; wenig schlafen kann man nicht
trainieren, und wer weniger schläft, als seinem »Typ«
entspricht, muß dafür mit Gesundheitsschäden büßen
(mehr zu schlafen ist dagegen ungefährlich).
& Lit.: A. Borbély: Das Geheimnis des Schlafs,
Stuttgart 1984; J.A. Hobson: Schlaf: Gehirnakti-
vitäten im Ruhestand, Heidelberg 1990; G. Hole
und V. Faust: Der gestörte Schlaf und seine Be-
handlung, Ulm 1994.

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LexPI Bd. 2 Schlangen 300

Schlangen
Schlangen hypnotisieren ihre Opfer
Schlangen können sehr schlecht sehen; für mögliche
Opfer ist es also eine gute Taktik, beim Nahen einer
Schlange zu erstarren – sie werden leichter übersehen.
Wenn also Ratten, Mäuse, Vögel oder Eidechsen vor
Schlangen in Erstarrung fallen, dann nicht in einer Art
Hypnose, sondern weil sie darin instinktiv ihre einzi-
ge Rettung sehen.
»In einem deutschen Zoo war ich Augenzeuge, wie
fünf Klapperschlangen mit lebenden weißen Labor-
Ratten gefüttert wurden«, schreibt Vitus B. Dröscher.
»Diese überzüchteten, total degenerierten Nagetiere
sahen in den Reptilien nicht mehr als sich bewegende
Äste. Da konnten die Klapperschlangen so viel zün-
geln, starren und ›hypnotisieren‹, wie sie wollten, die
Ratten kümmerten sich überhaupt nicht um sie und
trippelten ihnen arglos über die Leiber und Köpfe. Ei-
nige begannen sogar, hinten den Klapperschwanz an-
zunagen. Sie starben alle, ohne sich im geringsten
über die Gefahr im klaren gewesen zu sein, ohne Ver-
renkungen und ohne sich hypnotisieren zu lassen.«
Auf der anderen Seite, wenn sie glauben, es wäre
eine Schlange, erstarren Tiere auch vor
Gartenschläuchen. Vitus B. Dröscher: »Für den Am-
sterdamer Zoo waren im letzten Sommer drei Dutzend
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schlangen 300

Frösche gefangen und in einem Terrarium ausgesetzt


worden. Da nahm der Abteilungsleiter einen andert-
halb Meter langen Gartenschlauch und schlängelte ihn
mit einer Kohlenzange so über den Boden, daß der
tote Gummi-Gegenstand wie eine Ringelnatter wirkte.
Sofort erstarrten die eben noch munter umherhüpfen-
den Frösche zu ›Stein‹. Noch dramatischer verlief das
Experiment, als der Zoologe denselben Garten-
schlauch an einer Singvogel-Voliere außen empor-
schlängelte. Vor Schreck fielen die kleinen Vögel wie
reife Äpfel vom Ast und blieben am Boden bewe-
gungslos liegen.«
& Lit.: Vitus B. Dröscher: Mit den Wölfen heulen,
Düsseldorf 1978; Stichwort vorgeschlagen von
Evelin Kroh.

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LexPI Bd. 1 Schlangen 1 276

Schlangen 1
Schlangen wickeln sich um Äste oder Bäume
Schlangen wickeln sich nicht um Äste oder Bäume –
sie liegen obenauf. Die bekannten Szenen aus der
Verfilmung des Dschungelbuchs, die die böse Schlan-
ge Kaa um einen Ast herumgewickelt beim Bezirzen
des kleinen Mogli zeigen, entsprechen nicht dem
wirklichen Verhalten dieser Tiere.
& Lit.: Philip Ward: A dictionary of common falla-
cies, New York 1978.

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LexPI Bd. 1 Schlangen 2 276

Schlangen 2
Klapperschlangen klappern vor dem Beißen
Wenn Klapperschlangen klappern, wollen sie ihre
Feinde warnen: Hau ab, sonst ... Und wenn der Feind
dann wirklich Reißaus nimmt, wird die Klapper-
schlange auch nicht beißen.
& Lit.: Stichwort »Rattlesnake« in Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Schlangen 3 276

Schlangen 3
Riesenschlangen würgen ihre Opfer zu Tode
Riesenschlangen wie etwa die Boa Constrictor ver-
wenden auf das Erlegen ihrer Beute weit weniger
Kraft als viele glauben. Das Opfer wird nämlich zu-
nächst ganz locker umschlungen, wobei sich die
Schlinge bei jedem Atemzug der Beute mehr zusam-
menzieht, solange bis deren Blutkreislauf und At-
mung zum Stillstand kommen. Das geht aber alles
recht gemütlich vor sich und hat mit einem wilden
Gewürge nichts zu tun.

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LexPI Bd. 1 Schlangen 4 277

Schlangen 4
Schlangen züngeln, um zu drohen
Mit ihrer schnellen Zunge fächelt sich die Schlange
Luft zu – nicht zur Kühlung, sondern um besser rie-
chen zu können und damit ihre Beute besser zu erken-
nen. Schlangen haben keine Nase, sondern in einer
Vertiefung an der Vorderseite des Gaumens das soge-
nannte »Jacobsonsche Organ«, ein chemisch beson-
ders empfindliches sog. »Riechepithel«, und diesem
wedeln sie die Duftmoleküle durch das Züngeln
zwecks besseren Erkennens zu. In abgeschwächter
Form gibt es dieses Jacobsonsche Organ auch in den
Mundhöhlen von einigen Amphibien, Eidechsen und
Säugetieren.
& Lit.: Stichwortartikel »Jacobson's Organ« in En-
cyclopaedia Britannica, Chicago 1985.

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LexPI Bd. 1 Schlangen 5 277

Schlangen 5
Die meisten Schlangen sind giftig
Nur rund 400 der insgesamt rund 2500 bekannten
Schlangenarten sind giftig (mit Giftzähnen ausgestat-
tet). Davon wiederum kommen nur neun in Europa,
und nur zwei, die Kreuzotter und die Aspisviper, in
Deutschland vor.

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LexPI Bd. 1 Schlangen 6 277

Schlangen 6
Die Schlange des Schlangenbeschwörers hört die
Flötentöne ihres Meisters
Wenn ein Schlangenbeschwörer auf den Märkten Ara-
biens oder Indiens seinen Korb auf den Boden stellt,
den Deckel hebt und zu flöten beginnt, entrollt sich
die Schlange, hebt den Oberkörper aus dem Korb und
bewegt ihn aufgerichtet vor der Flöte hin und her. An-
ders als die meisten Zuschauer vermutlich glauben,
kann sie aber diese Flöte überhaupt nicht hören.
Schlangen haben kein Gehör; sie nehmen Schall-
wellen, falls überhaupt, nur indirekt über die Schwin-
gungen des Erdbodens auf, nie direkt durch die Luft –
sie können Töne höchstens »fühlen«. Mit ihrem Hin-
und Herbewegen begleitet die Schlange des Schlan-
genbeschwörers also nicht dessen Flötentöne – sie
verfolgt mit ihrem Kopf nur die Bewegungen der
Flöte.
& Lit.: Stichwort »Snake« in Microsoft CD-ROM
Encyclopädie Encarta, 1994.
¤ Brillenschlangen

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LexPI Bd. 2 Schlittschuhe 301

Schlittschuhe
Man kann auf Schlittschuhen so prächtig gleiten,
weil das Eis unter den Schlittschuhkufen durch
den Druck unseres Körpers schmilzt (s.a. ð
»Eis«)
So sagt eine populäre, aber falsche Theorie: Durch
den Druck der Kufen käme das Eis zum Schmelzen,
die Schlittschuhläufer glitten gleichsam auf einer dün-
nen und gleich wieder gefrierenden Wasserschicht
dahin.
In Wahrheit ist die Theorie des Eislaufs etwas
komplizierter. Es ist zwar richtig, daß das leichte
Gleiten durch eine hauchdünne Wasserschicht ermög-
licht wird, aber dieses Wasser entsteht durch Rei-
bungswärme und durch Veränderungen in der Mole-
külstruktur der Eises, nicht durch Druck. Um die
Schmelztemperatur um ein einziges Grad Celsius zu
senken, brauchte man einen Druck von mehr als 100
Atmosphären, und ein 75 Kilo schwerer Schlittschuh-
läufer mit 3 mm breiten und 20 cm langen Kufen er-
zeugt allenfalls einen Druck von 12 Atmosphären.
Nicht einmal ein Elefant auf Schlittschuhen könnte
durch den Kufendruck das Eis zum Schmelzen brin-
gen.
& Lit.: http://www.princeton.edu/lehmann/BadChe-
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LexPI Bd. 2 Schlittschuhe 301

mistry.html'Skating; Robert L. Wolke: Woher


weiß die Seife, was der Schmutz ist? Kluge Ant-
worten auf alltägliche Fragen, München 1998.

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LexPI Bd. 2 Schnaps 301

Schnaps
Ein Schnaps nach dem Essen fördert die
Verdauung
Von diesem Irrtum leben ganze Industrien. Vermut-
lich kam er durch die Beobachtung zustande, daß man
Fettflecken mit Alkohol entfernt; daher glauben viele,
daß Alkohol auch ein fettes Essen verdünne und bes-
ser verdaulich mache. In Wahrheit aber verdünnt der
Alkohol weniger das Fett im Essen als die Säuren in
unserem Magen, die das Fett zerlegen; er ist also
beim Verdauen keine Hilfe, sondern eher eine Brem-
se.

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LexPI Bd. 2 Schnee 302

Schnee
Eskimos haben hundert Wörter für Schnee
Die Eskimos haben nur zwei Wörter für Schnee:
»quanik« für Schnee, der liegt, und »aput« für
Schnee, der fällt. Die übrigen Wörter sind Ableitun-
gen dieser Stämme (so wie »Pulverschnee«, »Tief-
schnee«, »Schneeregen«, »Schneewehe«,
»Schneeflocke«, »Schneematsch« oder »Schneetrei-
ben« alle vom gleichen deutschen Wortstamm
»Schnee« abgeleitet sind) oder Übersetzungsfehler:
Das Eskimowort »igluksak«, angeblich »Schnee zum
Bauen eines Iglus«, ist eine einfache Zusammenset-
zung von »iglu« (= Haus) und »ksak« (= Material); es
heißt also richtig »Material zum Bau eines Hauses«
und kann außer Schnee auch Holz und Stein bedeuten
(die meisten Eskimos leben in Holz- und Steinhäu-
sern, nicht in Iglus, siehe auch das Stichwort ð
»Iglu« in Band 1). Genauso heißt das Eskimowort
»saumavag«, angeblich »schneebedeckt«, in Wahrheit
einfach nur »bedeckt«, ob mit Sand, Kuhmist oder
Schnee spielt dabei keine Rolle.
Inklusive aller Wörter, die irgendwie mit Schnee zu
tun haben, kommt man in der Eskimosprache auf rund
ein Dutzend unterschiedlicher Begriffe, ungefähr so
viele wie im Deutschen.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schnee 302

& Lit.: B.L. Wharf: Sprache-Denken-Wirklichkeit,


Reinbek 1963; G.P. Pullum: »The great eskimo
vocabulary hoax«, Natural Language and Lingui-
stic Theory 1989 (deutsche Übersetzung in: Welt-
woche, März 1996); G.A. Miller: Wörter – Streif-
züge durch die Psycholinguistik, Heidelberg
1993; Stichwort vorgeschlagen von Regina Bolz
und Ernst-Peter Fischer.

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LexPI Bd. 1 Schokolade 1 278

Schokolade 1
Schokolade macht süchtig
Schokolade macht nicht süchtig. Sie enthält zwar ge-
wisse Stoffe wie Theobromin oder Methylxantin, die
auch in Tee und Kaffee vorkommen und die durchaus
eine Aufputschwirkung haben können; bei den winzi-
gen Mengen in der Schokolade müßte man von letz-
terer aber schon ganze Berge essen, um diese Wir-
kung zu verspüren. Und das schafft niemand, denn
lange vorher wird es uns von solchen Mengen Scho-
kolade schlicht und einfach schlecht.
Der große Reiz der Schokolade liegt in ihrer in ge-
wisser Weise optimalen Mischung von Fett und Zuk-
ker, weswegen sie den meisten Menschen so gut
schmeckt. Zugleich gilt sie aber als Dickmacher, so
daß wir beim Schokoladenessen oft ein schlechtes Ge-
wissen haben. Und wie jeder Amateurpsychologe
weiß, vergrößert das die Lust darauf – manche Men-
schen haben das Gefühl, sie müßten dauernd Schoko-
lade essen. Aber anders als bei echten Suchtmitteln
geht dieses Verlangen, wenn man ihm ohne Schuldge-
fühle nachgibt, bald zurück.
& Lit.: M. Schuman et al.: »Sweets, chocolate, and
atypical depressive traits«, Journal of nervous and
mental disease 175, 1987, 491–495.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Schokolade 2 278

Schokolade 2
Die Kalorien in der Schokolade kommen aus dem
Zucker
Die Kalorien in der Schokolade kommen zum größten
Teil aus Fett, nämlich zu mehr als 50 Prozent, und
nur zu 40 Prozent aus Zucker.

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LexPI Bd. 1 Schokolade 3 278

Schokolade 3
Schokolade hat keinen Nährwert
Daß Schokolade reichlich Zucker, Fett und Kalorien
enthält, wissen wir sowieso. Daneben enthält sie aber
auch noch die Vitamine A, B1, B2, Eisen, Calcium,
Kalium und Phosphor, und zwar je nach Sorte mehr
als ein Apfel, ein Becher Yoghurt oder eine Portion
Hüttenkäse, also mehr als Lebensmittel, die ansonsten
als gesünder gelten.
& Lit.: Sandra Boynton: Chocolate: The consuming
passion, London 1982.

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LexPI Bd. 1 Schokolade 4 279

Schokolade 4
Schokolade ist schlecht für die Zähne
Auch daß Schokolade unsere Zähne schädigt, scheint
nicht ganz zu stimmen, wenn man einer Studie des
Massachusetts Institute of Technology glauben darf:
»Im Gegensatz zu populären Vorurteilen hat Kakaop-
ulver, wenn in Tierversuchen karieserzeugenden Sub-
stanzen zugesetzt, einen signifikanten kariesverhin-
dernden Effekt gezeigt.«
& Lit.: Vincent J. Paolino: »The effect of cocoa on
dextransucrose activity in Strep. Mutans«, Vor-
trag vor der International Association for Dental
Research 1978.

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LexPI Bd. 1 Schokolade 5 279

Schokolade 5
Von Schokolade bekommt man Pickel
Das ist wohl der am weitesten verbreitete Irrtum über
Schokolade. Daß es ein Irrtum ist, wurde Ende der
60er Jahre von dem amerikanischen Mediziner Fulton
und Kollegen in einer Studie nachgewiesen, in der sie
über mehrere Wochen Dutzende von Teenagern täg-
lich bis zum Erbrechen mit Schokolade fütterten – die
eine Hälfte mit echter Schokolade, die andere mit
einem Kunstprodukt, das genauso schmeckt und aus-
sieht, aber keine Schokolade ist.
Der Effekt bezüglich Akne: Null.
Damit ist nicht ausgeschlossen, daß gewisse Be-
standteile von Schokolade zusammen mit anderen
Chemikalien bei gewissen Personen Akne bilden kön-
nen, aber das sind Einzelfälle. Der große Pik-
kelmacher, als der die Schokolade und der Zucker
immer noch verschrieen werden, sind sie beide sicher
nicht.
& Lit.: J. Fulton et al: »Effect of chocolate on Acne
Vulgaris«, Journal of the American Medical As-
sociation 210, 1969, 2071–2074.

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LexPI Bd. 2 Schönes Wetter 302

Schönes Wetter
Wenn man seinen Teller aufißt, gibt es morgen
schönes Wetter
So hat man früher oft gehört: »Iß deinen Teller auf,
dann gibt es morgen schönes Wetter«. Aber dieser
Spruch entstand aus einem Mißverständnis: Wenn die
Landkinder früher traurig-zögerlich die letzten Reste
ihres guten Essens auf dem Teller hin- und herscho-
ben, sagte die Mutter zuweilen: Eßt ruhig alles auf,
morgen gibt es wieder etwas Schönes – morgen gibt
es Schönes »wedder«. Das hat denn ein Besucher aus
der Stadt ganz offensichtlich mißverstanden.
& Stichwort vorgeschlagen von Kristina Brodersen
und Otto F. Cords.

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LexPI Bd. 2 Schönheit 303

Schönheit
Schönheit liegt im Auge des Betrachters (s.a. ð
»Durchschnitt« in Band 1)
Wahr ist: Was uns heute schön und schick erscheint,
kommt unseren Enkeln morgen vielleicht seltsam vor.
Die drei Grazien von Rubens, die Susanne im Bad
von Tintoretto oder die Eva von Hans Holbein ent-
zücken heute nur noch wenige Betrachter, und wer in
São Paulo oder Singapur als schön und stattlich gilt,
muß nicht notwendig auch in München oder Hamburg
als Adonis oder Aphrodite Aufsehen erregen.
Wahr ist aber auch, daß jenseits von
Zeitgeschmack und Mode gewisse Invarianten existie-
ren, Eigenschaften, die einen Menschen quer durch
Raum und Zeit als attraktiv erscheinen lassen. Und
moderne Schönheitsforscher glauben auch zu wissen,
was das ist: die Symmetrie. Symmetrische Gesichts-
züge bzw. ganz allgemein ein symmetrischer Körper-
bau erscheinen uns attraktiv, wir halten das für schön,
und zwar in allen Epochen und Kulturen unseres Pla-
neten gleichermaßen.
Der Grund liegt aber eher in der Genetik denn in
der Ästhetik. Wir finden symmetrische Körper schön,
nicht weil diese Eigenschaften aus sich selbst heraus
entzückten, sondern weil unsere Gene das so wollen,
weil unsere Vorfahren im Urwald sich vorzugsweise
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schönheit 303

solche Partner suchten, die das Überleben der Familie


und der Kinder besser als andere garantieren konnten.
Und weil ein symmetrischer Körperbau für einen Ur-
waldaffen ein guter Indikator für die Fähigkeit zum
Überleben war (Symmetrie korreliert positiv mit kör-
perlicher Geschicklichkeit), haben vorzugsweise sol-
che Affen überlebt, die Symmetrie im Körperbau zu
schätzen wußten.
& Lit.: D. Perrett et al.: »Facial shape and judge-
ments of female attractiveness«, Nature 368,
1994, S. 239–242; K. Grammer und R. Thornhill:
»Human facial attractiveness and sexual selection:
the roles of avergaeness and symmetry«, Journal
of Comparative Psychology 108, 1994, S.
233–242; http://evolution.humb.univie.ac.at/insti-
tutes/urbanethology/beauty/beauty.html; Stich-
wort vorgeschlagen von Percy A. Rohde.

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LexPI Bd. 2 Schrift 304

Schrift
Die erste Schrift entstand aus Kultsymbolen
Vor etwa 5000 Jahren begannen die Menschen,
Worte und Zahlen mittels Zeichen festzuhalten –
Schriften zu erfinden. Ob die Sumerer mit ihrer Keil-
schrift oder die Ägypter mit ihren Hieroglyphen dabei
die ersten waren, ist zur Zeit noch nicht entschieden.
Entschieden ist aber, daß in beiden Fällen die jeweils
ersten überlieferten Schriftzeichen nicht göttlichen,
sondern kommerziellen Zwecken dienten: »von Simon
erhalten: sieben Sack Getreide« und so ähnlich ist auf
alten Scherben eingeritzt zu lesen.
& Lit.: H. Haarmann: Universalgeschichte der
Schrift, Frankfurt a.M. 1990; »Ökonomie war Ge-
burtshelfer der Schrift«, Antike Welt 5/1995, S.
484; Stichwort vorgeschlagen von Elke Sunder.

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LexPI Bd. 1 Schulden 279

Schulden
Männer haften für die Schulden ihrer Frauen
(s.a. ð »Zugewinngemeinschaft«)
Ehegatten haften grundsätzlich nicht für die Schulden
des anderen. Insofern sind also Annoncen des Inhalts
»Übernehme keine Haftung für die Schulden meiner
Frau, Fritz Meier« die man zuweilen in der lokalen
Presse liest, völlig überflüssig: Auch ohne diese An-
zeige müßte Fritz Meier die Schulden seiner Frau
nicht zahlen, noch Frau Meier die Schulden ihres
Mannes Fritz.
Nach deutschem Recht bleibt jeder Ehepartner Al-
leineigentümer seines Vermögens, ob während oder
vor der Ehe angeschafft, und zwar unabhängig davon,
ob bei der Eheschließung Gütertrennung vereinbart
wurde oder nicht. Deshalb haftet auch jeder allein für
alle Verbindlichkeiten, die er oder sie selbst in seinem
bzw. ihrem Namen eingegangen ist.
Ausgenommen sind allein Geschäfte, die zur sog.
»angemessenen Deckung des Lebensbedarfs« beitra-
gen, wie der Kauf von Lebensmitteln, Kleidern, Mö-
beln oder Fernsehapparaten. Hier geht der Gesetzge-
ber davon aus, daß solche Käufe mit Einverständnis
des Ehepartners geschehen und daß deshalb auch
beide Partner für eventuelle Schulden haften.
Was konkret unter »angemessener Deckung des
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Schulden 280

Lebensbedarfs« zu verstehen ist, hängt von den Ehe-


leuten ab. Wenn er oder sie regelmäßig mit Rolls-
Royce und Chauffeur zum Einkauf fährt, darf der
Feinkosthändler davon ausgehen, daß 10 Kisten
Champagner angemessen sind. Mit anderen Worten,
kann der Gatte nicht bezahlen, muß die Gattin seine
Schulden übernehmen. Geht jedoch die Import-Ex-
port-Firma der Gattin in Konkurs, darf der Gatte sei-
nen Rolls-Royce behalten: für Schulden aus Ge-
schäftsbeziehungen außerhalb der »angemessenen
Deckung des Lebensbedarfs« muß er nicht geradeste-
hen.
Die bekannten öffentlichen Erklärungen sind also
nur zum Schutz vor einem Ehepartner nötig, der seine
Verschwendungssucht bei Artikeln des »angemesse-
nen Lebensbedarfs« austobt. Dazu muß man sie in
das Güterrechtsregister des zuständigen Amtsgerich-
tes eintragen und im Mitteilungsblatt dieses Amtsge-
richtes – meistens die lokale Tageszeitung – publizie-
ren.
& Lit.: Michael Scheele und Reinhard Wetter: Rat-
geber Recht, 2. Auflage, München 1988.

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LexPI Bd. 2 Schule 304

Schule
Es gibt ein republikweit homogenes deutsches
Schulsystem
Das glaubt seit langem keiner mehr, aber jetzt ist es
sozusagen amtlich: Die »Third International Mathe-
matics and Science Study« (TIMSS) hat neben einem
im internationalen Vergleich eher durchschnittlichen
Abschneiden deutscher Schüler auch große regionale
Unterschiede festgestellt. Zum Beispiel hinken Schü-
ler der 8. Klasse in Nordrhein-Westfalen mit ihren
Leistungen den gleichaltrigen Schülern aus Bayern
rund anderthalb Jahre hinterher. Und wie viele Hoch-
schullehrer aus langer Lehrerfahrung wissen, erlaubt
nichts eine so gute Prognose über das Bestehen von
Anfänger-Klausuren wie die Kenntnis des Bundeslan-
des, in dem das Abitur erworben wurde: Die Studie-
renden aus länger Rot-Grün-regierten Ländern fallen
durch, die aus den anderen bestehen die Klausuren.
& Lit.: Jürgen Baumert und Rainer Lehmann:
TIMSS – Mathematisch-naturwissenschaftlicher
Unterricht im internationalen Vergleich, Leverku-
sen 1997.

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LexPI Bd. 2 Schwaches Geschlecht 305

Schwaches Geschlecht
Bei den meisten Tieren sind die Weibchen schwä-
cher als die Männchen
Bei drei Viertel aller heute bekannten Spezies – den
Insekten – sind die Weibchen stärker als die Männ-
chen; von wenigen Ausnahmen abgesehen (etwa Li-
bellen) sind sie den Männern kräftemäßig überlegen.
Besonders ausgeprägt ist die weibliche Überlegen-
heit bei den Spinnen. Weibliche Spinnen sind in der
Regel um die Hälfte, bei gewissen Arten sogar um das
Vierfache größer als die Männchen.
& Lit.: M. Gordon: »Little and large – why do most
female spider dwarf their mates?«, New Scientist,
28.6.1997.

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LexPI Bd. 1 Schwan 280

Schwan
Schwäne können singen
Schwäne können genausowenig singen wie andere
Vögel; ihr für menschliche Ohren wenig angenehmes
Krächzen und Zischen paßt gar nicht zu diesen anson-
sten schönen Tieren. Allenfalls der nordeuropäische
Singschwan und der Zwergschwan können hinsicht-
lich Stimme mit unseren Singvögeln konkurrieren.
Die Legende von den singenden Schwänen stammt
aus dem alten Griechenland; dort galten die Schwäne
als Geschöpfe Apolls, die beim Tod zu seinen Ehren
sängen. Apoll, der Gott der Musik, soll bei seinem
Tod in einen Schwan verwandelt worden sein. Und
Plato läßt in seinem Stück »Phaedo« den Helden So-
krates verkünden: Schwäne singen bei ihrem Tod
nicht vor Kummer und Leid, sondern weil sie von
Apoll inspiriert sind, und weil sie die schönen Dinge
vorausahnen, die ihr Gott für sie bereithält.
Diese Vorstellung wurde dann von neuzeitlichen
Künstlern übernommen, von Schriftstellern wie Sha-
kespeare (in »Der Kaufmann von Venedig« und »Die
Schändung der Lukretia«), Carlyle und Byron, aber
auch von Musikern wie Schubert, die alle gern und
ohne viel darüber nachzudenken das Bild des in
Würde sterbenden, singenden Schwans in ihren Wer-
ken für die Nachwelt festgehalten haben.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Schwan 281

& Lit.: Roland Michael: Wie, Was, Warum?, Augs-


burg 1994.

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LexPI Bd. 2 Schwarzarbeit 305

Schwarzarbeit
Schwarzarbeiter sind ein Schaden für Wirtschaft
und Gesellschaft
Die Schattenwirtschaft – die Produktion von Waren
und Dienstleistungen am Markt und am Finanzamt
vorbei, sei es legal durch Heimwerkerei oder illegal
durch Schwarzarbeit – schadet unserer »offiziellen«
Wirtschaft weit weniger, als viele glauben; vermutlich
ist sie netto gar ein Segen.
Bei der legalen Do-it-yourself-Bewegung ist das
auch leicht einzusehen – sie nimmt ja nicht nur dem
Handwerk Arbeitsplätze weg, sie schafft auch Ar-
beitsplätze (in den Baumärkten und deren Zulieferbe-
trieben). Daß aber selbst ein großer Teil der illegalen
Schwarzarbeit rein ökonomisch eher positv zu werten
ist, wie viele Ökonomen meinen, wird manche überra-
schen. Denn ein großer Teil dieser Schwarzarbeit tritt
ja nicht anstelle, sondern zusätzlich zur »offiziellen«
Arbeit auf den Plan – würden diese Arbeiten nicht
schwarz erledigt, dann fänden sie überhaupt nicht
statt. So heißt etwa die Frage für viele weniger be-
tuchte Bauherrn nicht: »baue ich schwarz oder
legal?«, sondern: »baue ich schwarz oder baue ich
überhaupt nicht?« und deshalb ist der schwarze Ar-
beitsmarkt in Deutschland auch kein Grund zur
Panik, sondern ein eher beruhigendes Zeichen dafür,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Schwarzarbeit 306

daß die Marktwirtschaft zumindest hier noch funktio-


niert.
& Lit.: C. Werner: Die Beschäftigungswirkungen
der Schattenwirtschaft, Pfaffenweiler 1990; J.
Merz: »Schattenwirtschaft und Arbeitsplatzschaf-
fung«, in: D. Sadowski und K. Pull (Hrsg.): Vor-
schläge jenseits der Lohnpolitik, Frankfurt a.M.
1997; F. Schneider: »Stellt das starke Anwachsen
der Schwarzarbeit (des Pfuschs) eine finanz- und
staatspolitische Herausforderung dar? Einige Ge-
danken aus volkswirtschaftlicher Sicht«, Unver-
öff. Manuskript, Universität Linz, September
1997.

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LexPI Bd. 1 Schwarzes Meer 281

Schwarzes Meer
Das Schwarze Meer hat seinen Namen von der
dunklen Farbe seines Wassers
Das Schwarze Meer hat seinen Namen von den hefti-
gen Stürmen und den dichten Nebelschwaden, die es
zuweilen zu einer sehr unfreundlichen Gegend ma-
chen – »schwarz« im Sinn von öde und bedrohlich.
Sein Wasser hat keine besondere Färbung und ist bei
Sonnenschein von schönstem Blau so wie das von an-
deren Meeren auch.
& Lit.: Stichwort »Schwarzes Meer« in Brockhaus
Enzyklopädie, 19. Auflage, Mannheim 1994.

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LexPI Bd. 1 Schwarzpulver 281

Schwarzpulver
Das Schwarzpulver hat seinen Namen von Bert-
hold Schwarz
Das Schwarzpulver hat seinen Namen von der
schwarzen Farbe.
Es mag zwar stimmen, daß »die chunst aus
püchsen zu schyessen« von einem Franziskaner na-
mens Berthold Schwarz (Bertoldus Niger) verbessert
worden ist (das soll um 1380 herum geschehen sein),
aber zu dieser Zeit kannten die Chinesen das Pulver
schon mehrere Jahrhunderte; auch in Europa waren
Feuergeschütze schon seit 1326 in Gebrauch.
& Lit.: Fritz G. Müller: Wer steckt dahinter?
Namen, die Begriffe wurden, Eltville 1964.

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LexPI Bd. 1 Schwein 282

Schwein
»Das kann kein Schwein lesen«
Diese Redensart hat mit Schweinen nichts zu tun. Sie
wird vielmehr der Familie Swyn aus dem Dithmar-
schischen zugeschrieben, deren Mitglieder durchaus
angesehene und kluge Leute waren. Hatte selbst ein
Swyn Probleme mit dem Entziffern eines
Schriftstücks, so hieß es bei den Bauern: »Dat kann
kein Swyn lesen«, woraus dann unser populärer
Spruch entstanden ist.
Die Redensart: »Der (oder die) hat ein Schwein«
im Sinne von Glück haben, geht auf einen Brauch bei
Schützenfesten zurück, dem schlechtesten Schützen
als Spottpreis ein Ferkel zu überreichen.
& Lit.: Walter Zerlett-Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 2 Schweinefleisch 306

Schweinefleisch
Araber und Juden essen seit jeher ungern
Schweinefleisch
Vor 5000 Jahren gab es im Nahen Osten große
Schweineherden, es wurde allenthalben fleißig
Schweinefleisch gegessen. Dann verschwanden rund
um das Mittelmeer die großen Wälder (zum Schiffe-
bauen abgeholzt) und damit auch die Lebensräume
für die Schweine. Außerdem konkurrierten die
Schweine jetzt mit Menschen um das knapp gewor-
dene Wasser, deshalb wurde in Mesopotamien und
Ägypten das Aufziehen von Schweinen kurzerhand
verboten. Aber nicht, wie viele glauben, aus gesund-
heitlichen oder religiösen, sondern aus handfesten
wirtschaftlichen Gründen.
& Lit.: Brockhaus – Wie es nicht im Lexikon steht,
Mannheim 1996.

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LexPI Bd. 2 Schweiß 1 306

Schweiß 1
Durchtrainierte Menschen schwitzen weniger als
weniger trainierte
Wahr ist, daß durchtrainierte Menschen, wenn sie
sich körperlich anstrengen, zunächst weniger schwit-
zen – der Körper ist Belastungen gewohnt, erhitzt
sich daher nicht so schnell und hat deshalb auch weni-
ger Bedarf an Schweiß zum Kühlen. Aber die allge-
meine, durch die Schweißverdunstung bewirkte Hitze-
regulierung unseres Körpers ist genetisch program-
miert und vom Trainingszustand unabhängig. Je mehr
wir uns erhitzen, desto heftiger werden wir auch im
allgemeinen schwitzen, und zwar Leistungssportler
wie Couchtomaten gleichermaßen.
& Lit.: Werner Gehrig: Handbuch der Zoologie,
Stuttgart 1990.

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LexPI Bd. 2 Schweiß 2 307

Schweiß 2
Schweiß riecht (s.a. ð »Deodorant«)
Frischer Schweiß riecht nicht. Erst Bakterien erzeu-
gen den typischen Schweißgeruch; da sie erst bei hö-
heren Temperaturen gedeihen, entwickelt ein Glas fri-
schen Schweißes im Kühlschrank keinerlei Gerüche.
& Lit.: Werner Gehrig: Handbuch der Zoologie,
Stuttgart 1990.

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LexPI Bd. 1 Schwerter zu Pflugscharen 282

Schwerter zu Pflugscharen
Dieser Appell hat nicht, wie viele glauben, seinen Ur-
sprung in der Bibel. Zwar heißt es in Jesaja 2,4:
»Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwer-
tern und Winzermesser aus ihren Lanzen«, aber hier
hat der Übersetzer das Original etwas vergewaltigt.
Als dieser Text mehrere Jahrhunderte vor Christus im
Nahen Osten geschrieben wurde, gab es in diesem
Teil der Erde überhaupt noch keine Pflüge.

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LexPI Bd. 2 Schwerter zu Pflugscharen. 307

Schwerter zu Pflugscharen
Die Bibel fordert zur Umwandlung von Schwer-
tern in Pflugscharen auf
Neben dem bekannten Appell zur Umwandlung von
Schwertern in Pflugscharen gibt es in der Bibel auch
die umgekehrte Mahnung: »Machet aus euren Pflug-
scharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße; der
Schwache spreche: ich bin stark.« (Joel 4,10).
& Stichwort vorgeschlagen von H. Bandemer.

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LexPI Bd. 2 Schwestern 307

Schwestern
Die Männer haben mehr Schwestern als die Frau-
en
Auf die Frage »Wie viele Brüder und Schwestern
haben Sie?« glauben Männer, sie hätten insgesamt
mehr Schwestern, und Frauen, sie hätten insgesamt
mehr Brüder. Aber wenn man dann nachzählt, haben
die Männer im Durchschnitt genauso viele Schwe-
stern wie die Frauen, und die Frauen haben im Durch-
schnitt genauso viele Brüder wie die Männer.
Bleiben wir bei Brüdern. Viele Menschen überle-
gen hier wie folgt: »Ein Mann kann nicht sein eigener
Bruder sein, also können die Frauen in einer gegebe-
nen Menge von Menschen ihre Brüder aus einer grö-
ßeren Menge schöpfen als die Männer, ergo haben die
Frauen mehr Brüder als die Männer.«
Das ist aber falsch. Wenn Jungen- wie Mädchenge-
burten gleich wahrscheinlich und unabhängig vonein-
ander sind, ist in einer Familie mit einem Kind ein
eventuelles zweites Kind mit der gleichen Wahr-
scheinlichkeit ein Junge wie ein Mädchen, und zwar
unabhängig vom Geschlecht des ersten Kindes. Dann
sind die folgenden Typen von Zwei-Kind-Familien
alle gleich wahrscheinlich und kommen daher auch
mit den gleichen relativen Häufigkeiten im wahren
Leben vor:
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LexPI Bd. 2 Schwestern 308

(Junge, Junge), (Junge, Mädchen), (Mädchen, Junge),


(Mädchen, Mädchen)
Und wie wir sehen, hat sowohl die Hälfte aller Jungen
(nämlich alle Jungen aus Familien mit zwei Jungen)
wie auch die Hälfte aller Mädchen (nämlich alle Mäd-
chen aus gemischten Familien) genau einen Bruder,
und die restlichen Jungen und Mädchen haben über-
haupt keinen – bei der Zahl der Brüder gibt es also
keine Unterschiede.
Das gleiche Argument gilt auch für Familien mit
drei Kindern. Wenn wir ein bestimmtes Kind auswäh-
len, kommen für die beiden übrigen Geschwister die
oben aufgeführten Muster in Frage, alle mit der glei-
chen Wahrscheinlichkeit. Mit anderen Worten, das
ausgewählte Kind, ob Junge oder Mädchen, hat mit
1/4 Wahrscheinlichkeit zwei Brüder, mit 1/2 Wahr-
scheinlichkeit einen Bruder und mit 1/4 Wahrschein-
lichkeit keinen Bruder. Auch hier ist also die Anzahl
der Brüder für Jungen wie für Mädchen gleich.
Und was für Familien mit zwei oder drei Kindern
gilt, gilt für größere Familien ebenso: Greifen wir ein
bestimmtes Kind heraus, so sind Jungen und Mäd-
chen unter deren Geschwistern im Durchschnitt mit
der gleichen Häufigkeit vertreten.
& Lit.: R. Falk: »Haben Männer mehr Schwestern
als Frauen?«, Stochastik in der Schule 1/1983, S.
21–23; W. Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus
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LexPI Bd. 2 Schwestern 308

der Welt des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt


a.M. 1995.

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LexPI Bd. 1 Schwimmen 282

Schwimmen
Es ist ungesund und gefährlich, nach dem Essen
zu schwimmen
Dieses Märchen wurde vor rund 50 Jahren durch das
Amerikanische Rote Kreuz geboren; in einer Bro-
schüre zu Schwimmen und Gesundheit hatte es vom
Schwimmen nach dem Essen abgeraten – man könnte
davon Magenkrämpfe bekommen und möglicherweise
ertrinken.
Es ist nicht bekannt, wie diese Theorie zustande-
kam; auf jeden Fall hält sie einer empirischen Über-
prüfung nicht stand, wenn wir dem amerikanischen
Sportarzt Arthur Steinhaus glauben dürfen. Steinhaus
hatte zahlreiche Schwimmer und Schwimmtrainer
nach Eßgewohnheiten und Training ausgefragt mit
dem Ergebnis, daß viele Leistungs- wie auch Hobby-
schwimmer regelmäßig auch nach schwerem Essen
schwimmen. Dabei wurde keine einziger Fall von
Magenkrampf beobachtet, und es ist auch noch nie-
mand wegen eines vollen Bauchs ertrunken. Die War-
nung vor dem Schwimmen nach dem Essen kommt
daher in neueren Broschüren des Roten Kreuzes nicht
mehr vor.
Natürlich kann angestrengtes Schwimmen nach
einem ausgiebigen Essen bei manchen Menschen eine
leichte Übelkeit erzeugen; aber das gilt für Treppen-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Schwimmen 283

steigen, Holzhacken und Dauerlaufen ebenso.


& Lit.: Arthur H. Steinhaus: »Evidence and opinions
related to swimming after meals,« Journal of
health, physical education and recreation, 1961.

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LexPI Bd. 2 Scotland Yard 1 308

Scotland Yard 1
»Scotland Yard« war einstmals eine
Polizeiadresse
Die als »Scotland Yard« bekannte englische Polizei-
behörde hatte ihre Dienstgebäude an den verschieden-
sten Stellen Londons, aber nie am Scotland Yard. Als
die von Robert Peel gegründete »Metropolitan Police
Force« im Jahr 1829 ihre Tätigkeit begann, residierte
sie in Whitehall Place; im Jahr 1890 übersiedelte sie
in das Victoria Embankment, und seit 1967 ist sie als
»New Scotland Yard« unter der Adresse Broadway
S.W.1 zu finden.
Mit »Scotland Yard« meinte man im alten London
das Grundstück neben dem Westminster Palast, das
den Königen von Schottland, die den Engländern zu
Tribut verpflichtet waren, während ihrer Pflichtbesu-
che zur freien Verfügung und Bebauung zugewiesen
wurde. Als dann die Könige von England in Persona-
lunion auch Könige von Schottland wurden und man
diese Nutzung nicht mehr brauchte, fanden in den Ge-
bäuden des »Scotland Yard« verschiedene Regie-
rungsämter eine neue Heimat, nie jedoch die Polizei.
& Lit.: http://www.open.gov.uk/police/mps/history/
mishist3.htm.

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LexPI Bd. 2 Scotland Yard 2 309

Scotland Yard 2
Scotland Yard hat erstmals Verbrechen mittels
Fingerabdruck aufgeklärt
Fingerabdrücke zur Überführung von Verbrechern
wurden erstmals im argentinischen La Plata einge-
setzt: Dort wurde 1892 ein Doppelmord mit Hilfe
eines Fingerabdrucks aufgeklärt. Von Scotland Yard
stammt allein die Klassifikation der Fingerabdrücke
nach dem sogenannten Galton-Henry-Verfahren;
damit wurde das routinemäßige Vergleichen eines ge-
gebenen Abdrucks mit Tausenden von anderen über-
haupt erst praktikabel.
& Lit.: Brockhaus – Wie es nicht im Lexikon steht,
Mannheim 1996.

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LexPI Bd. 2 Segeln 309

Segeln
Man kann nicht schneller segeln als der Wind
Doch, man kann; spezielle Hochgeschwindigkeitsseg-
ler wie Katamarane oder Trimarane können schneller
segeln als der Wind; Eisyachten, die den Widerstand
des Wassers nicht zu überwinden haben, segeln sogar
bis zu viermal schneller.
Das folgende Diagramm, nach Erik von Holst
(1925), zeigt, wie das funktioniert: Wenn wir den
Luft- und Reibungswiderstand einmal ignorieren,
legt, wenn der Wind die Strecke a durchmißt, das
Boot die Strecke b zurück:
& Lit.: A. Murchall-Viebrook: Seglers Handbuch,
Berlin 1889; Erik von Holst: Die Eisyacht, Berlin
1925; C.A. Marchaj: Aerodynamik und Hydrody-
namik des Segelns, Bielefeld 1982; Christoph
Drösser: »Stimmt's? Segelboote sind schneller als
der Wind«, Die Zeit, 10.10.1997; Stichwort vor-
geschlagen von Ulli Kuntze.
¤ Plan Eissegler

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LexPI Bd. 1 Selbstbeteiligung 283

Selbstbeteiligung
Die Selbstbeteiligung an den Krankheitskosten
trifft allein die Nachfrager nach Gesundheitsgü-
tern (s.a. ð »Arbeitgeberbeitrag«)
Manche Kritiker, die meinen, wir dürften den Versi-
cherten der Krankenkassen nicht auch noch eine
Selbstbeteiligung an den Krankheitskosten zumuten,
scheinen zu glauben, die rund 500 Milliarden Mark
im Jahr, die wir in Deutschland jährlich für die Ge-
sundheit ausgeben, würden von der UNO oder von
der OPEC überwiesen.
In Wahrheit wird jede Mark davon von uns selbst,
von den Versicherten getragen, sei es indirekt über
Beiträge, Prämien oder Steuern, sei es direkt in die
Kassen der Ärzte, Heilpraktiker oder Apotheker. Ob
wir für unsere Gesundheit direkt zahlen oder indirekt,
zahlen müssen wir auf jeden Fall. Wie schon der My-
thos vom sogenannten »Arbeitgeberbeitrag« dient
also auch dieser Mythos nur dazu, unsere wahre Bela-
stung zu vertuschen.
& Lit.: Walter Krämer: »Babylonische Sprachver-
wirrung«, Arbeit- und Sozialpolitik 42, 9/1988,
290–292;

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LexPI Bd. 1 Selbstmord 283

Selbstmord
Junge Menschen sind besonders selbstmordge-
fährdet
Die Zeit der ersten Liebe gilt für junge Menschen als
gefährlich: nicht erst seit Goethes Werther treibt eine
Enttäuschung viele in den Tod. Daraus wird dann oft
geschlossen, daß junge Menschen mehr als ältere zum
Selbstmord neigen.
In Wahrheit ist jedoch genau das Gegenteil der
Fall. Die Selbstmorde pro Jahr und Altersklasse stei-
gen monoton mit unserem Älterwerden an, von weni-
ger als 5 pro 100000 in der Gruppe der unter 20-jäh-
rigen bis auf fast 50 pro 100000 bei den über 70-jäh-
rigen. Je älter wir werden, desto eher scheiden wir aus
freien Stücken aus dem Leben, und zwar zu allen Zei-
ten und in allen Ländern.
Daß dennoch die Selbstmorde gerade bei Jugendli-
chen eine solch prominente Rolle spielen, liegt daran,
daß Jugendliche eben generell nur selten sterben. Sie
haben keinen Krebs und keine Kreislaufleiden, keine
Altersschwäche und kein Alzheimer, und auch
Schlaganfälle oder Leberschäden kommen unter Ju-
gendlichen selten vor. Mit anderen Worten, in diesen
Altersklassen sind Unfall, Mord und Selbstmord fast
die einzigen möglichen Todesursachen, so daß der
hohe Anteil von Selbstmord überhaupt nicht
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LexPI Bd. 1 Selbstmord 284

überrascht.
& Lit.: Helmut Swoboda: Knaurs Buch der moder-
nen Statistik, München 1971; Walter Krämer:
»Denkste! Trugschlüsse aus der Welt des Zufalls
und der Zahlen«, Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 2 Selbstmord. 311

Selbstmord
Selbstmord ist bei Armen häufiger als bei Rei-
chen
Dieses Vorurteil konnte in mehreren Studien zu
Selbstmord und sozialem Status nicht bestätigt wer-
den. Zwar variiert die Selbstmordrate sehr von Land
zu Land und innerhalb von Ländern (im Norden
Frankreichs etwa ist sie weitaus höher als im Süden),
auch wird sie bestimmt von Variablen wie Gesund-
heit, Alter, Religion, Beruf, Geschlecht und Familien-
stand, aber bei sonst gleichen sonstigen Variablen
scheint das Einkommen die Selbstmordneigung eher
unberührt zu lassen.
& Lit.: W. Schöny und A. Grausgruber: »Epidemio-
logical data on suicide in upper Austria
1977–1984«, Crisis 8, 1997; H.-L. Chuang und
W.-C. Huang: »Suicide rates in Taiwan«, Ameri-
can Journal of Economics and Sociology 55,
1996.

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LexPI Bd. 1 Sex 284

Sex
Sex vor Sport ist leistungshemmend
Dieser Irrtum geht vielleicht auf Sigmund Freud
zurück, der lehrte, daß wir Menschen nur ein gewisses
Quantum Energie besäßen (sehr vergröbert darge-
stellt) – was wir für den einen Zweck benutzen, muß
an anderer Stelle fehlen. Und natürlich haben auch so
manche Trainer an diesem Mythos mitgestrickt, der
ihnen das Kontrollieren der Athleten so viel leichter
machte.
In Wahrheit soll Geschlechtsverkehr vor Sportwett-
kämpfen unsere Fitness nicht beeinträchtigen, weder
die der Frauen noch die der Männer, wenn man den
wenigen seriösen Studien glauben darf, die es zu die-
sem Thema gibt. Wer nach einer langen Liebesnacht
am nächsten Morgen schlecht ausgeschlafen antritt
und deshalb unter seinem oder ihrem Leistungslimit
bleibt, sollte also diese schlechte Leistung nicht dem
Sexualverhalten in die Schuhe schieben.
& Lit.: J.L. McCary: Sexual myths and fallacies,
New York 1971; M.H. Anshel: »Effect of sexual
activity on athletic performance,« Physician and
Sportsmedicine 1981, 65–68.

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LexPI Bd. 2 Sibirischer Tiger 311

Sibirischer Tiger
Der Sibirische Tiger lebt in Sibirien
Abgesehen davon, daß die meisten Sibirischen Tiger
heute in europäischen und amerikanischen Zoogehe-
gen leben – auch die wenigen noch in freier Wildbahn
verbliebenen Exemplare leben nicht in Sibirien und
haben nie in Sibirien gelebt. Ihre Heimat ist das Fluß-
gebiet von Amur und Ussuri in der Grenzregion zwi-
schen Nordchina und Rußland.
& Stichwort vorgeschlagen von Michael Schmidt.

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LexPI Bd. 2 Sicherheit 311

Sicherheit
Sichere Autos oder Straßen machen das Autofah-
ren sicherer (s.a. ð »Sicherheitsgurte« in Band 1)
Sichere Autos oder Straßen machen das Autofahren
gefährlicher; in den USA z.B. hat man den ursprüng-
lichen Bonus für PKWs mit ABS inzwischen wieder
abgeschafft: ABS-bestückte Autos verursachen nicht
weniger Unfälle als Autos ohne ABS, sondern mehr.
Die Ursache ist die gleiche, die auch Sicherheits-
gurte oder Airbags nicht zu den uneingeschränkten
Wohltaten werden läßt, als die sie ihre Erfinder zwei-
fellos erfunden hatten: Die ureigene und nicht zu än-
dernde Angewohnheit fast aller Menschen, ihr Verhal-
ten an die äußeren Gegebenheiten anzupassen, das
Verhalten abzuändern, wenn die Umstände sich än-
dern. Genauso wie wir ein rohes Ei anders anfassen
als ein hartgekochtes, fahren wir in einem Daimler
Benz mit ABS und Airbag anders als in einem 2CV
(und zwar auch abseits aller Pferdestärken weit ris-
kanter); je sicherer wir uns fühlen, desto riskanter
wird das Verhalten. »Sicherheit verlockt zum Risiko«
(v. Cube).
Diese These wird durch zahlreiche Indizien bestä-
tigt. In den USA z.B. hatten verschiedene Bundes-
staaten Anfang der 70er Jahre die Helmpflicht für
Motorradfahrer abgeschafft. Ergebnis: die Unfallzah-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Sicherheit 312

len nahmen ab. (siehe Adams, S. 149). Genauso bei


den Autofahrern: Je größer und »sicherer« das Fahr-
zeug, desto häufiger wird es in Unfälle verwickelt.
Nach amerikanischen Statistiken verursachen Fahrer
von Luxuslimousinen (1800 kg) rund 50 Prozent
mehr Unfälle als Fahrer von Kleinwagen (900 kg). In
Schweden hat man festgestellt, daß Fahrzeuge mit
Spikes-Reifen erheblich schneller durch riskante Kur-
ven fahren als Autos ohne Spikes, und selbst die viel-
gelobten Sicherheitsgurte sind lange nicht so sicher,
wie die Zwangsbeglücker in unseren Verkehrsbehör-
den gerne glauben. Nach Adams (1995) sind die in
den 70er Jahren in vielen Ländern gesunkenen tödli-
chen Verkehrsunfälle vor allem eine Folge der Ölkrise
und einer sparsameren Fahrweise der Automobilisten,
nicht der vielerorts eingeführten Sicherheitsgurte;
durch diese hätte, für sich allein gesehen, die Sicher-
heit sogar netto abgenommen (vor allem für die Rad-
fahrer und Fußgänger, die seit der Einführung der Si-
cherheitsgurte immer häufiger zu Opfern schneller
Autos werden). Wie der folgende »Letter to the
Times« von 1908 beweist, galt diese Gleichung »Si-
cher = Unsicher« auch schon vor 90 Jahren:
Bevor Ihre Leser vielleicht auf den Gedanken kom-
men, so wie vom Sekretär des Automobilklubs vor-
geschlagen ihre Hecken kurzzuschneiden, sollten
sie vielleicht die Erfahrungen bedenken, die ich mit
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Sicherheit 312

dieser Sache hatte.


Vor vier Jahren habe ich meine 30 Yards vor einer
gefährlichen Kreuzung gelegene Hecke auf 4 Fuß
heruntergeschnitten. Es gab zwei Konsequenzen:
Im nächsten Sommer war mein ganzer Garten voll
von durch Autos aufgewirbeltem Staub, und die
Geschwindigkeit der Autos nahm beträchtlich zu.
Wenn die Polizei die Raser anhielt, sagten diese:
Man kann hier problemlos etwas schneller fahren,
die Kreuzung ist so übersichtlich. Das war mir eine
Lehre. Jetzt lasse ich die Hecke wieder wachsen ...
Hochachtungsvoll, Willoughby Werner.
& Lit.: W. Werner: »Letter to the times«, Times,
13.7.1908; K. Rumar u.a.: »Driver reaction to a
technical safety measure – studded tyres«, Human
Factors 18, 1976, S. 443–454; Felix von Cube:
Gefährliche Sicherheit, München 1990; John
Adams: Risk, London 1995.

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LexPI Bd. 1 Sicherheitsgurte 284

Sicherheitsgurte
Sicherheitsgurte retten Menschenleben
Damit wir uns nicht mißverstehen: Wer mit einem
Auto gegen eine Mauer fährt, ist ohne Gurt wahr-
scheinlich tot. Mit Sicherheitsgurt dagegen (oder noch
besser: mit Airbag) hätte er oder sie vielleicht den
Unfall überlebt. In diesem Sinn sind Gurte sicher Le-
bensretter ...
Darüber vergessen viele aber die Wahrscheinlich-
keit, überhaupt eine Mauer anzufahren. Diese Wahr-
scheinlichkeit wird nämlich mit Gurt in aller Regel
größer. Oder wie die Verhaltensforscher das ausdrük-
ken (die sogenannte Theorie der »Risiko-Homöosta-
sie«, siehe Wilde): Wir gleichen, ob bewußt oder un-
bewußt, unser Verhalten derart an geänderte Risiken
an, daß das gesamte Risiko sich nur wenig ändert.
Nehmen die Gefahren zu, nimmt auch unsere Vorsicht
zu, und nehmen die Gefahren ab, so nimmt auch unse-
re Vorsicht ab. Die Gesamtwahrscheinlichkeit, bei
einem Autounfall umzukommen, setzt sich also zu-
sammen aus der Wahrscheinlichkeit, überhaupt einen
Unfall zu erleiden, und der Wahrscheinlichkeit, bei
einem Unfall umzukommen, falls man einen Unfall
hat (die sogenannte bedingte Todeswahrscheinlich-
keit), wobei nur die zweite Komponente sich durch
Airbag, ABS und Gurte reduziert. Die erste Kompo-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Sicherheitsgurte 285

nente nimmt dagegen zu.


Wenn man etwa einschlägigen Untersuchungen aus
den USA vertrauen darf, werden die reduzierten To-
desfälle bei Unfall durch die erhöhte Zahl der Unfälle
im großen und ganzen aufgewogen, so daß die tödli-
chen Verkehrsunfälle insgesamt durch die Anschnall-
pflicht nicht abgenommen haben (für eine Teilmenge
aller Verkehrsteilnehmer, nämlich für die Radfahrer
und Fußgänger, haben sie sogar zugenommen). Dem-
nach wäre also der erfreuliche Rückgang der tödlichen
Verkehrsunfälle, den wir seit einigen Jahrzehnten in
fast allen westlichen Industrienationen beobachten,
nicht auf die Gurtpflicht, sondern auf andere Faktoren
wie etwa größere und stabilere Autos oder breitere
Straßen zurückzuführen ...
Der amerikanische Wirtschaftsprofessor Armen
Alchian von der Universität von Kalifornien hat die-
ses Prinzip der Risiko-Homöostasie einmal auf die
Spitze getrieben und vorgeschlagen, statt Airbags
spitze Speere in die Lenkkonsolen unserer Autos ein-
zubauen: bei jedem Aufprall ist der Fahrer sofort tot.
Nach Alchians Rechnung würde so die Zahl der Ver-
kehrsunfälle in den USA ganz drastisch sinken ...
& Lit.: Sam Peltzmann: »The effect of automobile
safety regulation«, The Journal of Political Econo-
my 83, 1975, 677–725; G. Wilde: »The theory of
risk homeostasis: implications for safety and
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Sicherheitsgurte 285

health«, Risk Analysis 2, 1983, 209–225; A.


Harvey und J. Durbin: »The effects of seat belt le-
gislation on british road casualties«, Journal of
the Royal Statistical Society A 149, 1986,
187–227; Steven E. Landsburg: The armchair
economist, New York 1993 (besonders Kapitel 1:
How seatbelts kill).

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LexPI Bd. 2 Siebenschläfer 313

Siebenschläfer
»Regnet es am Siebenschläfertag, es noch sieben
Wochen regnen mag« (s.a. ð »Frühling«, ð
»Januar« und ð »Martinstag«)
An dieser Bauernregel ist weniger die Regel als das
Datum (27. Juni) falsch. Vor der Einführung des Gre-
gorianischen Kalenders war der Siebenschläfertag am
5. Juli, und wie Metereologen herausgefunden haben,
kann man aus dem Wetter Anfang Juli in der Tat recht
gut auf das der nächsten sieben Wochen schließen.
& Lit.: F. Baur: Physikalisch-statistische Regeln als
Grundlage für Wetter- und Witterungsvorhersage,
Frankfurt a.M. 1956; Stichwort vorgeschlagen
von Heidi Caspari.

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LexPI Bd. 2 Signifikant 313

Signifikant
»Signifikant« bedeutet richtig oder wichtig
In der mathematischen Statistik heißen Beobachtun-
gen oder Daten »signifikant«, wenn sie einer Hypo-
these so sehr widersprechen, daß diese Abweichung
nicht mehr nur durch den Zufall zu erklären ist. Mit
anderen Worten, es muß eine systematische Begrün-
dung geben.
Mit der sachlichen Bedeutung hat das aber nur sehr
indirekt zu tun. Beispiel: Ein neues Medikament wird
an hundert Probanden getestet, sechzig davon geht es
nachher besser. In einer mit einem Placebo behandel-
ten gleich großen Kontrollgruppe geht es nur fünfzig
Personen besser. Wirkt das Medikament nun wirklich
besser als der Placebo, oder ist dieser Vorsprung nur
ein Zufall?
Dazu unterstellt man hypothetisch, das Medika-
ment wirke wirklich wie ein Placebo – würde also im
Durchschnitt bei der Hälfte der Kranken eine Besse-
rung bewirken und bei der anderen Hälfte nicht. Unter
dieser Annahme berechnet man dann die Wahrschein-
lichkeit, daß sechzig oder mehr von hundert Kranken
nur durch Zufall eine Besserung erfahren. Und wenn
diese Wahrscheinlichkeit einen bestimmten Grenz-
wert unterschreitet – traditionell fünf Prozent –,
schließt man den Zufall als Alleinursache aus und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Signifikant 314

verwirft so die Placebo-Hypothese.


Dieser Grenzwert von fünf Prozent, den diese Feh-
lerwahrscheinlichkeit nicht unterschreiten darf, heißt
auch »Irrtumswahrscheinlichkeit« oder »Signifikanz-
niveau« des Tests. Er sagt: »Wenn die Ausgangshy-
pothese zutrifft, wird sie mit einer Wahrscheinlichkeit
von maximal fünf Prozent dennoch verworfen.«
Diese Prozedur ist heute Standard quer durch alle
Wissenschaften und eine konstante Quelle von Irr-
tümern und Konfusionen. Denn selbst vielen Wissen-
schaftlern ist nicht klar, daß »signifikant« nur heißt,
daß ein bestimmtes Ergebnis unter der Ausgangshy-
pothese sehr unwahrscheinlich ist. Ob diese Aus-
gangshypothese falsch ist oder nicht, ob sie eklatant
verletzt ist oder nur ein wenig, oder ob die Abwei-
chung von der Ausgangshypothese in irgendeiner
Weise praktisch von Bedeutung ist, dazu sagt eine
signifikante Statistik für sich allein genommen über-
haupt nichts aus. So hängt etwa die Signifikanz einer
gegebenen Abweichung von der Ausgangshypothese
sehr von der Datenmenge ab. In unserem Medika-
ment-Placebo-Beispiel etwa braucht man bei zehn Pa-
tienten eine Erfolgsquote von 80%, bei hundert Pa-
tienten eine Erfolgsquote von 58%, bei tausend Pa-
tienten eine Erfolgsquote von 52,6% und bei zehntau-
send Patienten nur noch eine Erfolgsquote von 50,8%
für ein »signifikantes« Resultat. Mit anderen Worten,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Signifikant 314

bei großen Stichproben sind selbst kleinste Abwei-


chungen von der Ausgangshypothese schon »signifi-
kant«, bei kleinen Stichproben dagegen kann man
selbst grobe Verletzungen der Ausgangshypothese
noch dem Zufall in die Schuhe schieben.
Deshalb ist signifikant auch etwas anderes als
wichtig. Wenn das neue Medikament den Heilerfolg
von 50% auf 51% erhöht, so kann man das wohl
kaum als Sensation bezeichnen. Aber in einer hinrei-
chend großen Stichprobe wird die Verbesserung trotz-
dem »signifikant«, und das hat manchmal recht gro-
teske Konsequenzen. Nehmen wir eine Firma, die an-
geblich Frauen (oder Männer, Ausländer, Inländer,
Behinderte, Gesunde ...) diskriminiert. Die Firma
wird verklagt. Jetzt nehmen vor allem amerikanische
Gerichte oft die obige Signifikanzrhetorik auf und
verurteilen große Firmen schon bei minimalen Abwei-
chungen von der Norm als »signifikante« Diskrimi-
nierer, während Kleinbetriebe diskriminieren können,
wie sie wollen – es ist alles nicht »signifikant«.
& Lit.: Heinz Sahner: »Veröffentlichte empirische
Sozialforschung: eine Kumulation von Artefak-
ten?«, Zeitschrift für Soziologie 1979; A.K.
Dewdney: 200% of nothing, New York 1993 (in-
teressanterweise wurde in der deutschen Überset-
zung der Abschnitt über Manipulation bei der
»signifikanten« Gefährdung durch Atomkraftwer-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Signifikant 315

ke weggelassen); W. Krämer: Denkste! Trug-


schlüsse aus der Welt des Zufalls und der Zahlen,
Frankfurt a.M. 1995; W. Krämer: So lügt man
mit Statistik, 7. Auflage, Frankfurt a.M. 1997.

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LexPI Bd. 1 Silbergeld 285

Silbergeld
Unser Silbergeld enthält Silber
Die bundesdeutschen 1-Mark, 2-Mark und 5-Mark
Münzen enthalten kein Gramm Silber, und haben mit
Ausnahme der 5-Mark Münze auch niemals Silber
enthalten; letztere bestand von 1951 bis 1974 aus
62,5% Silber und 37,5% Kupfer. Alle anderen »Sil-
bermünzen« sind Kupfer-Nickel-Legierungen (i.d.R.
75% Kupfer, 25% Nickel).
Eine Ausnahme bilden die sogenannten Gedenk-
münzen, die den selben Silbergehalt wie die alten
5-DM-Stücke haben. Sie sind zwar anerkanntes Zah-
lungsmittel, haben aber eine derart beschränkte Aufla-
ge, daß sie de facto nur in den Alben der Münzsamm-
ler zu finden sind.
& Lit.: Deutsche Bundesbank: Münzen der Bundes-
republik Deutschland, Frankfurt a.M., 1991.

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LexPI Bd. 1 Silhouetten 286

Silhouetten
Scherenschnitte oder »Silhouetten« sind keine Erfin-
dung des französischen Grafen Etienne de Silhouette
(1709–1767). Schon lange vorher hatte man Profile
von Personen nach deren Schatten aufgezeichnet.
Die Verbindung des Grafen mit Scherenschnitten
kam auf andere Weise zustande: Silhouette war
nämlich auch oberster französischer Steuereintreiber;
dabei übertrieb er seine Ansprüche an die Geldbeutel
der Untertanen so sehr, daß man ihn entlassen mußte.
Später wurde dann der Name »Silhouette« zum Stell-
vertreter für das Reduzieren auf das Nötigste.

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LexPI Bd. 2 Sintflut 315

Sintflut
Die Sintflut ist ein biblisches Gleichnis ohne rea-
les Gegenstück
Auch wenn es die globale Sintflut, die wir aus der
Bibel kennen, nie gegeben hat: ganz ohne reales Vor-
bild sind die Sinflutsagen (außer in der Bibel auch in
vielen anderen antiken Texten) dennoch nicht gewe-
sen. Nach neueren Forschungen könnten dabei aber
nicht wie bisher meistens angenommen örtliche Über-
schwemmungen in Mesopotamien der Auslöser gewe-
sen sein, sondern weit gewaltigere, tatsächlich »sint-
flutartige« Katastrophen weiter nördlich: Vor 7500
Jahren sind rund 100.000 Quadratkilometer fruchtba-
ren Ackerlandes rund um das Schwarze Meer im Meer
versunken, der Wasserspiegel stieg in einem Jahr um
150 Meter. Das Schwarze Meer, bis dato ein Binnen-
see, hatte sich plötzlich über den Bosporus mit Was-
ser aus dem Mittelmeer gefüllt, eine Flut von nie ge-
kannten Dimensionen brach über die unglücklichen
Anrainer herein, Ländereien von der Größe ganzer
deutscher Bundesländer standen plötzlich unter Was-
ser.
Die Überlebenden dieser Katastrophe verteilten
sich auf andere Regionen Vorderasiens und brachten
so die Geschichte von der Sintflut auch zu den Auto-
ren unserer Bibel.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Sintflut 315

& Lit.: Stichwort »Sintflut« in der Brockhaus Enzy-


klopädie, Wiesbaden 1990; »Geologen rekon-
struieren die Sintflut«, Der Spiegel 1/1997.

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LexPI Bd. 1 Skalp 286

Skalp
Skalpieren ist eine Erfindung der Indianer
Die Kopfhaut als Trophäe des Triumphes war schon
im Altertum bekannt – schon die Skythen sollen ihren
Feinden die Kopfhaut abgeschnitten haben, wenn wir
dem griechischen Historiker Herodot vertrauen dür-
fen. Aber auch einige westsibirische Völker und die
Perser der Antike kannten diese Sitte.
Bei den amerikanischen Indianervölkern war das
Skalpieren dagegen weniger verbreitet; einige Histori-
ker bezweifeln sogar, daß die Indianer vor der An-
kunft des Weißen Mannes überhaupt von dieser Pra-
xis wußten. Denn es waren vor allem die Weißen,
nicht die Roten, die im frühen Wilden Westen ihren
Gegnern die Kopfhaut abgeschnitten haben (um die
für getötete Indianer ausgesetzte Prämie zu kassieren,
brauchte man den Skalp zum Beweis).
Anfangs war das Skalpieren nur im Osten der jetzi-
gen USA, am unteren St. Lorenzstrom und am Gran
Chaco in Südamerika bekannt; von dort verbreitete es
sich auf ganz Zentral- und Nordwest-Amerika. Für
die Indianer waren die erbeuteten Skalps Ausdruck
ihrer Kriegerwürde; sie wurden den Opfern oft noch
bei lebendigem Leibe entrissen. (Und wie die Gestalt
des Sam Hawkins in Karl Mays »Winnetou« zeigt,
haben verschiedene Opfer den Verlust ihrer Kopfhaut
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Skalp 287

sogar lebend überstanden.)


& Lit.: Stichwortartikel »Scalping« in Encyclopae-
dia Britannica, Chicago 1985.

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LexPI Bd. 1 Sklaven 1 287

Sklaven 1
Die Befreiung der Sklaven war der Anlaß des
amerikanischen Bürgerkrieges
Der Auslöser des amerikanischen Bürgerkrieges
(1861–1865) war nicht die Sklavenfrage, zumindest
nicht direkt. Der amerikanische Bürgerkrieg wurde
vor allem durch den eisernen Entschluß des Nordens
ausgelöst, die Vereinigten Staaten von Amerika intakt
zu halten und keine Abspalter zu dulden.
Zu Beginn des Krieges hatte Präsident Lincoln vor
allem eins im Sinn: die Einheit der Nation. An die
Befreiung der Sklaven in den abtrünnigen Südstaaten
dachte er dabei, falls überhaupt, nur ganz am Rand.
Es fällt heute nicht leicht, nachdem gerade eine andere
Staatengemeinschaft, die Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken, relativ friedlich zerfallen ist, diesen
Fanatismus zu begreifen, mit dem Lincoln an den
Vereinigten Staaten festhielt – dafür hätte er auch
Sklaverei geduldet. In seiner berühmten »House divi-
ded«-Rede von 1858 formulierte er das so: »Ein
Haus, das in sich selbst geteilt ist, kann nicht stehen.
Ich glaube, daß unser Regierungssystem – halb für
die Sklaverei, halb gegen sie – nicht von Dauer sein
kann. Ich erwarte nicht, daß die Union der Vereinig-
ten Staaten sich auflöst; ich erwarte nicht, daß das
Haus fallen wird. Aber ich erwarte, daß es aufhören
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Sklaven 1 287

wird, geteilt zu sein. Es wird ganz das eine sein oder


ganz das andere.«
Lincoln war durchaus kein Abolitionist, wie sich
die Skavenbefreier nannten. Mehrfach hat er den se-
parationswilligen Südstaaten versprochen, sich nicht
in deren Angelegenheiten einzumischen, auch nicht in
die Sklavenfrage; um die Einheit der Nation zu wahr-
en, garantierte er ihnen die Einhaltung der Sklaven-
fluchtgesetze auch im Norden, wo es keine Sklaverei
mehr gab. »In euren Händen, meine mißvergnügten
Landsleute, und nicht in meinen liegt die ungeheure
Frage eines Bürgerkrieges«, formulierte er in seiner
Antrittsrede. »Die Regierung wird euch nicht angrei-
fen. Ihr könnt keinen Kampf haben, ohne selbst der
Angreifer zu sein. Von euch kennt man im Himmel
keinen Eid, mit dem ihr euch verpflichtet hättet, die
Regierung zu zerstören, während ich den feierlichsten
Eid geleistet habe, sie zu erhalten, zu beschützen und
zu verteidigen.«
Und genau das, die Zentralregierung gegen regio-
nale Sonderinteressen zu verteidigen, sah Lincoln als
sein höchstes Ziel. Zwar war ihm Sklaverei zuwider,
aber deswegen hätte er nie Krieg geführt. Noch im
August 1862, ein Jahr nach Ausbruch des Bürgerkrie-
ges, schrieb er in einem Brief: »Könnte ich die Union
erhalten, ohne auch nur einen Sklaven zu befreien,
würde ich es tun, könnte ich sie erhalten, indem ich
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Sklaven 1 288

alle Sklaven befreite, würde ich es tun; und wenn ich


sie erhalten könnte, indem ich einige befreite und eini-
ge nicht, ich würde es gleichfalls tun. Alles, was ich
in Bezug auf die Sklaverei und die farbige Rasse un-
ternehme, tue ich, weil ich glaube, es könnte helfen,
die Union zu retten.«
Folgerichtig wurde die Sklavenbefreiung erst dann
zum Kriegsziel, als sich Lincoln davon einen Vorteil
für die Union versprach, nämlich Ende 1862, als klar
war, daß die abtrünnigen Südstaaten mit guten Wor-
ten nicht mehr heimzuholen waren. Um die Groß-
mächte Europas, die fast durchweg mit den Südstaat-
en sympathisierten, auf seine Seite zu ziehen, erließ
Lincoln eine Verordnung, nach der ab 1. Januar 1863
alle Sklaven in den Rebellenstaaten freie Leute waren.
Obwohl diese Verordnung nur für die Rebellenstaaten
galt, nicht jedoch für die loyalen Sklavenstaaten, die
nicht abgefallen waren, hatte Lincoln damit das Welt-
gewissen auf seiner Seite: keine europäische Macht
konnte es sich von da an leisten, mit dem Süden zu
paktieren, der Krieg war gewonnen.
& Lit.: Werner Richter: Geschichte der Vereinigten
Staaten, Frankfurt 1966; Marcus Junkelmann:
Der amerikanische Bürgerkrieg 1861–1865,
Augsburg 1992.

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LexPI Bd. 1 Sklaven 2 288

Sklaven 2
Die europäischen Kolonialmächte waren die
größten Sklavenhändler und -besitzer
Die größten Sklavenhändler und -besitzer der
Menschheitsgeschichte waren die Araber. Die Ver-
sklavung afrikanischer Neger durch die Araber hat
früher angefangen, länger angedauert und vor allem:
sie hat weit mehr Opfer gefordert als die vergleichba-
re Wüterei der Europäer. Der Sklavenhandel der Ara-
ber begann schon im 7. und endete erst im 19. Jahr-
hundert; insgesamt hat er nach Schätzung von Histo-
rikern zwischen 14 und 15 Millionen Opfer gefordert,
davon 8 bis 9 Millionen allein nach 1500.
Die Versklavung durch die Europäer begann später
und endete früher (das erste Sklavenschiff verließ
Afrika Anfang des 16. Jahrhunderts) und hat weit we-
niger Afrikaner die Freiheit gekostet (Historiker
schätzen 10 Millionen) als die Beutezüge der Araber.
Daß trotzdem heute die Europäer und nicht die Araber
weltweit als der Prototyp des Sklavenhalters gelten,
liegt paradoxerweise an der besseren Behandlung der
Sklaven durch die Europäer: weit mehr Sklaven haben
bei den Europäern überlebt. Während die geraubten
Neger von den Europäern allein schon aus Eigeninter-
esse vergleichsweise pfleglich behandelt wurden,
mußten sie in den arabischen Ländern früh und mei-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Sklaven 2 289

stens auch ohne Kinder sterben (viele männliche Skla-


ven wurden kastriert), so daß dort heute kaum noch
Nachkommen der Negersklaven leben.
& Lit.: B. Etemard: »L'ampleur de la traité
négrière«, Bulletin du Département d'Histoire
Economique, Genf 1989.

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LexPI Bd. 2 Snob 316

Snob
Ein Snob ist ein neureicher, konformistischer An-
geber
Im Englischen meint man mit »Snob« einen eher alt-
reichen, nonkonformistischen Exzentriker, der sich
wenig um die Meinung seiner Umwelt schert und des-
halb auch nicht angibt, »einer, der gleichsam toujours
à rebours mit weißem Seidenschal und im Abendan-
zug am Meeresstrand sitzt und nebeneinander Hegels
›Phänomenologie‹ und den Playboy liest« (Henscheid
u.a.).
Aber auch diese Bedeutung ist historisch inkorrekt.
Ursprünglich meinte »Snob« genau das Gegenteil: »a
person belonging to the lower classes of society, one
having no pretentions to rank or quality«. Das Wort
entstand in Oxford und Cambridge, als die neu einge-
schriebenen Studenten ihren Adelstitel anzugeben hat-
ten; solche ohne Titel schrieben »sine nobilitate«,
oder kurz nur »s.nob«.
& Lit.: P. Horstrup: »Zur Entstehung einer etymolo-
gischen Legende«, Zeitschrift für deutsche Wort-
forschung 1963; Eckhard Henscheid, Gerhard
Henschel und Brigitte Kronauer: Kulturgeschichte
der Mißverständnisse, Stuttgart 1997.

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LexPI Bd. 1 Sonne 289

Sonne
Die Sonne bewegt sich nicht
Natürlich bewegt sich die Sonne, genau wie alle ande-
ren Sterne – relativ zum Mittelpunkt der Milchstraße
z.B. mit rund 250 km pro Sekunde.
Was viele aber nicht wissen: die Sonne bewegt sich
zusätzlich auch noch um ihre eigene Achse; einmal in
27 Tagen am »Äquator« und einmal in 31 Tagen an
den Polen (diese Unterschiede entstehen dadurch, daß
die Sonne kein fester Körper à la Erde ist; sie dreht
sich am Äquator schneller).
& Lit.: Stichwort »Sun« in Microsoft CD-ROM En-
cyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Sonnenblumen 1 316

Sonnenblumen 1
Sonnenblumen drehen ihre Blüten nach der
Sonne
Sonnenblumen blicken stur nach Osten; nur solange
die Knospen noch nicht aufgebrochen sind, folgen sie
der Sonne. Steht die Pflanze aber voll in Blüte, ma-
chen die »tournesols« (französisch: Sonnendreher)
ihrem Namen keine Ehre, ihre Blüten blicken dann
konstant stets in die gleiche Richtung.
& Lit.: J.F. Carter: Sunflower science and technolo-
gy, Madison 1978; Stichwort vorgeschlagen von
H. van Maanen.

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LexPI Bd. 2 Sonnenblumen 2 316

Sonnenblumen 2
Sonnenblumen sind Blumen
Sonnenblumen sind sogenannte Korbblütler, sie
haben keine »Blüten« wie die der Rosen, Tulpen,
Veilchen oder Nelken, sie haben einen ganzen Kranz
von Blüten, alle eigenständig, die auf dem sogenann-
ten Blütenboden, einer Art Scheibe am Stengelende,
sitzen. Meint man also mit »Blume« eine Blüte, so
sind solche Korbblütler – neben Sonnenblumen auch
Margeriten, Chrysanthemen oder Astern – keine Blu-
men, sondern Blumensträuße.
& Lit.: Stichworte »Flower« und »Composite Flo-
wers« in der MS Microsoft Enzyklopädie Encarta,
1994.

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LexPI Bd. 2 Sonnenbrand 317

Sonnenbrand
Im Schatten kann man keinen Sonnenbrand be-
kommen
Doch, man kann. An hellen Sonnentagen kann das ul-
traviolette Licht, das sich im Sand und auf dem Was-
ser spiegelt, durchaus einen Sonnenbrand auch dann
erzeugen, wenn wir nie den Schatten unseres Sonnen-
schirms verlassen.
& Lit.: Carol Ann Rinzler: Feed a cold, starve a
fever – A dictionary of medical folklore, New
York 1991.

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LexPI Bd. 1 SOS 289

SOS
SOS steht für »Save our souls«
Der Notruf »SOS« steht weder für »Save our souls«
noch für »Save our ship« noch für »Stop other sig-
nals« noch für sonst irgendwelche Wörter, allein
schon deshalb, weil nicht alle potentiellen Helfer Eng-
lisch können. Man hat sich Anfang des Jahrhunderts
international auf diese Buchstaben geeinigt, weil sie
so leicht als Morsezeichen übertragbar
sind: ... – – – ... (dreimal kurz, dreimal lang und drei-
mal kurz).
& Lit.: William und Mary Morris: Dictionary of
word and phrase origins, New York 1962.

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LexPI Bd. 1 Sozialpolitik 290

Sozialpolitik
Eine »progressive« Sozialpolitik hilft vor allem
Kleinverdienern
Die größten Nutznießer der progressiven Sozialpoli-
tik der 70er Jahre waren die deutschen Zahnärzte: ihr
Einkommen hat sich von durchschnittlich 115000
Mark im Jahr 1972 auf durchschnittlich 230000 Mark
im Jahr 1982 exakt verdoppelt. In der gleichen Zeit
stieg das Einkommen eines Industriearbeiters von
durchschnittlich 18000 Mark auf durchschnittlich
33000 Mark im Jahr.
In den folgenden zehn Jahren, also während des
»Sozialabbaus« unter der Regierung Kohl, fiel das
Einkommen der Zahnärzte von 230000 Mark auf
durchschnittlich 206000 Mark im Jahr, das Einkom-
men der Industriearbeiter stieg von 33000 Mark auf
durchschnittlich 49000 Mark im Jahr.
& Lit.: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung:
»Das Einkommen der freiberuflich tätigen Zahn-
ärzte im alten und neuen Bundesgebiet 1992«,
Wochenbericht 5/1994; Statistisches Bundesamt:
Fachserie 14 (Finanzen und Steuern), Reihe 7.1:
Einkommensteuer; sowie Statistisches Jahrbuch
für die Bundesrepublik Deutschland, Tabelle
Löhne und Gehälter in der Industrie.
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LexPI Bd. 1 Sozialversicherung 290

Sozialversicherung
Die moderne Sozialversicherung wurde von
Reichskanzler Bismarck eingeführt
Als Geburtsstunde unseres modernen sozialen Netzes
gilt gemeinhin die sog. »Kaiserliche Botschaft« von
1881; sie empfahl dem Reichstag auf Veranlassung
von Bismarck die obligatorische Einführung einer
Kranken- und Unfallversicherung für alle Arbeiter.
Ob aus Nächstenliebe oder politischer Berechnung:
damit fing in Deutschland der Sozialstaat an.
Dabei wird aber häufig übersehen, daß es abseits
staatlicher Zwangsbeglückung schon lange vorher
Hilfsvereine und Versicherungen aller Art gegeben
hat, wie den Gesundheitspflegeverein der Deutschen
Arbeiterverbrüderung oder kirchliche (Ketteler) und
private Gruppen, die den Menschen bei sozialen
Nöten halfen. Die einzige von Bismarck eingeführte
Neuerung war die Überführung dieser Aufgaben in
die Hände des Staates, der sich bis dato aus solchen
Fragen herausgehalten hatte.
Die Leistungen der damaligen staatlichen Zwangs-
versicherung erscheinen aus heutiger Sicht auch recht
bescheiden: versichert waren zunächst nur Arbeiter,
und das auch nur gegen den Einkommensverlust bei
Krankheit, Invalidität und Unfall. Altersrenten waren
nicht vorgesehen. Nur weil man annahm, daß ein Ar-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Sozialversicherung 291

beiter mit 70 ohnehin nicht mehr arbeiten könne, wur-


den zur Vereinfachung der Verwaltung alle Arbeiter
über dieser Altersgrenze als invalide und damit ren-
tenberechtigt eingestuft. Daß jemand nur aus Alters-
gründen das Recht auf eine Rente haben könnte, ist
Bismarck niemals in den Sinn gekommen.

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LexPI Bd. 1 Spaghetti 291

Spaghetti
Spaghetti kommen aus Italien
Spaghetti wurden erst nach dem 13. Jahrhundert in
Italien populär. Ursprünglich stammen sie aus China;
von dort hatte sie Marco Polo auf einer seiner beiden
großen Reisen mitgebracht.

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LexPI Bd. 1 Spanferkel 291

Spanferkel
Spanferkel haben ihren Namen von den Holzspä-
nen, über denen sie gebraten werden
Das »Span« in »Spanferkel« hat mit einem Holzspan
nichts zu tun; es bezeichnet die Zitze einer Muttersau,
und »Spänen« ist auch ein anderes Wort für Säugen.
Werden Ferkel mit drei Monaten schlachtreif, saugen
sie noch am Span.
& Lit.: Walter Zerlett-Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 1 Spekulanten 1 291

Spekulanten 1
Spekulanten sind ein Destabilisierungsfaktor im
modernen Wirtschaftsleben (s.a. ð »Eigennutz«)
Spekulanten sind Menschen, die Güter oder Wertpa-
piere nicht um ihrer selbst willen, zum Konsumieren,
Produzieren bzw. wegen der Zinsen oder Dividenden
kaufen, sondern weil sie auf eine Steigerung des Prei-
ses hoffen; sie kaufen, weil sie glauben, irgend etwas
sei besonders billig und sie könnten das Gekaufte
später mit Gewinn veräußern. Wegen dieses Desinter-
esses an den Gütern und Wertpapieren selbst werden
Spekulanten oft als Parasiten und Störenfriede ange-
sehen, die sich erstens ohne eigene Leistung auf Ko-
sten anderer bereichern (dazu im nächsten Stichwort
mehr) und zweitens bei diesem Bereichern auch noch
den Gang der Wirtschaft durcheinanderbringen.
In Wahrheit sind Spekulanten durchaus nützliche
Geschöpfe; sie sind alles andere als Parasiten, die die
üblichen Schwankungen der Wirtschaft noch verstär-
ken, sondern sie sind ganz im Gegenteil ein ausglei-
chendes Element, eine Art Stoßdämpfer, der die Er-
schütterungen abschwächt und die Wirtschaft effizi-
enter laufen läßt als sie es ohne Spekulanten könnte.
»Auf einem gut organisierten Wettbewerbsmarkt
herrscht zu jeder Zeit und an jedem Ort ein einziger
Preis. Dies ist eine Folge der Aktivitäten professionel-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Spekulanten 1 292

ler Spekulanten oder ›Arbitrageure‹. Sie legen ihren


Finger an den Puls des Marktes, und sobald sie von
irgendwelchen Preisdifferenzen erfahren, kaufen sie
zum niedrigeren Preis und verkaufen zum höheren,
wobei sie selbst einen Gewinn erzielen und gleichzei-
tig zum Preisausgleich beitragen« (Wirtschafts-No-
belpreisträger Paul Samuelson).
Dieses durchaus unbeabsichtigte Ausbügeln von
Preisdifferenzen macht sich ganz besonders auch im
Zeitverlauf – bei den Preisen gestern, heute, morgen
für die Wirtschaft – positiv bemerkbar. Oder um mit
Wirtschafts-Nobelpreisträger Samuelson fortzufahren,
der das ganze an den Preisen für Getreide vorführt:
»Damit zu keinem Zeipunkt eine Phase der Entbeh-
rungen eintritt, muß sichergestellt werden, daß die
Ernteerträge das ganze Jahr über reichen. Da aber nie-
mand ein Gesetz zur Regelung der Getreidebevorra-
tung erläßt, erhebt sich die Frage, wie dieses erstre-
benswerte Ziel zu erreichen ist. Die Antwort lautet:
durch das Bestreben der Spekulanten, Gewinne zu
machen.«
Denn »wenn es keine Spekulanten gäbe, die genau
wissen, daß sie einen Gewinn erzielen können, wenn
sie (1) im Herbst einen Teil der Ernte zu niedrigen
Preisen aufkaufen, (2) ihn lagern und vom Markt fern-
halten und ihn (3) zu einem späteren Zeitpunkt, wenn
der Preis gestiegen ist, wieder an den Markt abgege-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Spekulanten 1 292

ben«, dann würden die Preise im Herbst noch stärker


fallen, »und wenn dann ein paar Monate später fast
kein Getreide mehr auf den Markt käme, würden die
Preise ins Unermeßliche steigen«.
& Lit.: Paul Samuelson und William Nordhaus:
Volkswirtschaftslehre, 8. deutsche Auflage, Köln
1987.

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LexPI Bd. 1 Spekulanten 2 292

Spekulanten 2
Spekulanten leben auf Kosten anderer Leute
Spekulanten beziehen ihre Gewinne in aller Regel von
anderen Spekulanten – das Geschäft mit der Unsicher-
heit ist, wie die Experten sagen, ein »Nullsummen-
spiel«: was die einen gewinnen, müssen die anderen
verlieren, und umgekehrt. Unter dem Strich bleibt
alles in der Familie.
Die Gelder, die dennoch netto aus dem Rest der
Wirtschaft auf das Konto der Spekulanten fließen, la-
ssen sich als Honorar für die Bereitschaft deuten, die-
sem Rest der Wirtschaft einen Teil der Unsicherheit
abzunehmen, der mit allem Wirtschaften verbunden
ist. Das ist eine Dienstleistung wie Taxifahren oder
Haareschneiden, und hat wie Taxifahren oder Haare-
schneiden auch ein Honorar verdient.

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LexPI Bd. 1 Sphinx 1 293

Sphinx 1
Die Sphinx hat ihre Nase durch Witterung und
Erosion verloren
Die fehlende Nase der Sphinx von Giseh ist kein
Opfer der Wettererosion; sie wurde ihr im 19. Jahr-
hundert von türkischen Soldaten bei Zielübungen mit
Kanonen abgeschossen.
Zuweilen wird dieser »Vandalismus« (zu den An-
führungszeichen siehe den Stichwortartikel ð »Van-
dalismus«) auch den Truppen Napoleon Bonapartes
angelastet, die während des Feldzugs 1798/99 auf die
Sphinx geschossen haben sollen; diese Version er-
scheint aber angesichts der Kulturbeflissenheit
Napoleons recht unwahrscheinlich.
& Lit.: C.W. Ceram: Götter, Gräber und Gelehrte,
Reinbek 1972.
¤ Die nasenlose Sphinx von Giseh: nicht das Wetter,
die Türken sind die Bösewichte

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LexPI Bd. 1 Sphinx 2 293

Sphinx 2
Die Sphinx von Giseh war schon immer so zu
sehen wie heute
Die Sphinx wurde vor rund 4500 Jahren aus einem
Fels herausgemeißelt, und bot anfangs, von der Nase
abgesehen, in etwa den gleichen Anblick wie heute.
Dann aber wurde sie im Lauf der Jahrhunderte von
Wüstensand begraben, so daß bis Anfang des 20.
Jahrhunderts meistens nur der Kopf zu sehen war –
der rund 70 Meter lange Leib kam erst 1920 wieder
an das Tageslicht.

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LexPI Bd. 1 Spinat 294

Spinat
Spinat ist ganz besonders eisenhaltig
Spinat enthält kein Atom Eisen mehr als viele andere
Nahrungsmittel. Wäre es Popeye vor allem auf das
Eisen angekommen, hätte er besser statt des Spinats
die Dose aufgegessen:
Eisengehalt pro 100 Gramm ausgewählter
Nahrungsmittel (im Milligramm)
Spinat (gekocht und entwässert) 2,2 mg
Eier 2,2 mg
Weißbrot 2,3 mg
Spinat (frisch) 2,6 mg
Bohnen (gekocht) 2,7 mg
Sojabohnen 2,7 mg
Ölsardinen 3,1 mg
Rindfleisch (gekocht) 3,3 mg
Mandeln 4,6 mg
Leberwurst 5,9 mg
Schokolade 6,7 mg
Pistazien 7,3 mg

Millionen deutscher Nachkriegsbabies wurden also


grundlos mit Spinat gefüttert (und nicht nur deutsche
Babies: nach einer Inschrift auf einem Denkmal in der
dankbaren texanischen Spinatmetropole Crystal City
ist mit dem Erscheinen dieses wackeren Seemanns der
amerikanische Spinatkonsum um ein Drittel angestie-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Spinat 294

gen).
Der Mythos vom reichlichen Eisen im Spinat ent-
stand durch einen simplen Tippfehler: in einer der er-
sten Analysen wurde ein Komma versehentlich eine
Stelle zu weit rechts gesetzt; damit war im Handum-
drehen der Eisengehalt verzehnfacht. Obwohl dieser
Fehler schon in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts
bemerkt und berichtigt wurde, ist das Vorurteil vom
Eisen im Spinat seit damals nicht mehr auszurotten.
& Lit.: A.J. Hamblin: »Fake!«, British Medical
Journal 1981, Nr. 283, S. 1671; R.M. Deutsch:
Realities of Nutrition, Palo Alto 1976.

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LexPI Bd. 1 Spinnen 295

Spinnen
Spinnen sind Insekten
Spinnen sind keine Insekten. Sie gehören zur Klasse
der Arachniden, die sich von Insekten in mehrfacher
Hinsicht unterscheiden: Anders als Insekten haben sie
keine Fühler bzw. »Antennen«, und sie haben vier
und nicht wie die Insekten drei Paar Beine. Mit den
Insekten haben sie soviel gemeinsam wie die Schlan-
gen mit den Vögeln.
& Lit.: Stichwort »Spider« in Microsoft CD-ROM
Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Spinnen 1 317

Spinnen 1
Die Schwarze Witwe ist die giftigste Spinne, die es
gibt
Die berüchtigte Schwarze Witwe (Latrodectus mac-
tans) kann mit dem Nervengift aus ihren Drüsen einen
Menschen töten. In »Grzimeks Tierleben« wird sie
deshalb neben einer südamerikanischen Kammspinne
(Gattung Phoneutria) und einer Spinne der Gattung
Loxosceles zu den wenigen Spinnen gerechnet, vor
denen wir Menschen uns zu fürchten hätten.
Die gefährlichste Spinne von allen, den Sidney
Funnel Web (Atrax robustus), hat Grzimek aber über-
sehen. Ausschließlich in der Gegend von Sydney in
Australien lebend, attackiert der Sidney Funnel Web
anders als die Schwarze Witwe auch ohne provoziert
zu werden Menschen oder Tiere, und anders als die
Schwarze Witwe, deren Biß die meisten Opfer, wenn
auch unter großen Schmerzen, überleben, war ihr Biß
bis zur Entwicklung eines Antiserums in den 80er
Jahren für die meisten Menschen tödlich.
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 1, Stuttgart 1971;
T. Maguire: »Meanest spider alive«, Reader's Di-
gest 1991.

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LexPI Bd. 2 Spinnen 2 318

Spinnen 2
Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen
Dieser Kinderreim hat mit Spinnentieren nichts zu
tun. Gemeint ist die Tätigkeit des Spinnens: Nur die
armen Leute fingen früher schon frühmorgens an zu
spinnen.
& Stichwort vorgeschlagen von Ingrid Leßmann.

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LexPI Bd. 2 Spinnen 3 318

Spinnen 3
Spinnweben sind eher zarte Konstruktionen
Spinnweben sind stärker als jede andere Naturfaser,
die wir kennen; ihre Reißfestigkeit – das Verhältnis
der zum Zerreißen nötigen Kraft zum Fadenquer-
schnitt – ist höher als bei Stahl.
& Stichwort vorgeschlagen von Werner Helbig.

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LexPI Bd. 1 Sport 1 295

Sport 1
Sport und körperliche Arbeit sind die besten Ka-
lorienkiller
Anders als viele Menschen glauben, sind Sport und
körperliche Arbeit keine großen Kalorienkiller. So
soll z.B. der komplette erste Marathonlauf den Boten
Pheidippides keine 3000 Kalorien gekostet haben, so-
viel wie manche Leser dieses Buchs an einem Nach-
mittag verspeisen. Die folgende Tabelle – eine grobe
Daumenpeilung für einen Mann von etwa 70 kg –
zeigt für ausgewählte Tätigkeiten einmal an, wieviele
Kalorien sie uns kosten (bei schwereren Männern ist
der Verbrauch leicht höher, bei leichteren Männern
etwas niedriger, bei Frauen im allgemeinen nochmals
niedriger):
Tätigkeit (eine Stunde) Kalorien- entspricht
verbrauch
Klavierspielen 100 ein Apfel
langsames Radfahren 140 ein Glas Bier
Staubsaugen 150 zwei gekochte Eier
schnelles Gehen 210 zwei Glas Coca-Cola
Tischtennis 280 ein Thunfisch-Sandwich
Treppensteigen 320 ein Schweinekotelett
Tennis 340 vier Scheiben Schinken
schnelles Radfahren 500 vier Pfannkuchen + Sirup
schnelles Schwimmen 520 zehn Schokoladen-
Plätzchen
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LexPI Bd. 1 Sport 1 295

Cross-country-laufen 590 eine halbe Käsepizza

& Lit.: R.M. Deutsch: Realities of Nutrition, Palo


Alto 1976.

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LexPI Bd. 1 Sport 2 296

Sport 2
Durch Sport nimmt man nicht ab
Wie die obige Tabelle zeigt, verbraucht man beim
Sport nicht viele Kalorien. Aber das ist nur die halbe
Wahrheit. Denn solche Rechnungen vernachlässigen
den indirekten, mittelbaren Effekt von Sport und kör-
perlicher Anstrengung, der auf lange Sicht für unseren
Kalorienhaushalt mindestens genauso wichtig ist. Je
mehr Muskelmasse unser Stoffwechsel bei sonst glei-
chem Gewicht versorgen muß, desto mehr Kalorien
braucht er dazu, da die riesige Chemiefabrik alias
Menschenkörper auch dann hochtourig arbeitet, wenn
wir es gar nicht merken. Das Atmen und Verdauen,
das Zirkulieren des Blutes, ja sogar das Träumen und
das Denken brauchen rund um die Uhr Energie, und
bei durchtrainierten mehr als bei schlappen Körpern,
so daß etwa ein sportlicher Mann von 80 kg Gewicht
selbst dann rund 1500 Kalorien pro Tag verbrennt,
wenn er sich überhaupt nicht aus dem Bett erhebt. Ein
gleichgroßer und gleich schwerer, aber untrainierter
Zeitgenosse verbraucht dagegen nur sagen wir 1300
Kalorien, d.h. wenn beide 1400 Kalorien zu sich neh-
men und das Bett nicht verlassen, nimmt der eine zu
und der andere ab.
Wer also liest, daß einmal auf den Großen Feld-
berg steigen und zurück soviel Kalorien abzieht wie
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Sport 2 296

ein gutes Mittagessen wieder einbringt, und sich sagt:


»Muß ich mir das wirklich antun? Dann laß' ich lieber
das Mittagessen aus«, hat zwar kurzfristig den glei-
chen Effekt erreicht, langfristig aber Kalorien zuge-
legt.
& Lit.: Garrow, J.S.: Treat obesity seriously, Lon-
don 1981.

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LexPI Bd. 2 Squaw 318

Squaw
»Squaw« heißt auf indianisch »Indianerfrau«
»Squaw« meint in der Indianer-Umgangssprache die
weiblichen Genitalien; viele Indianer fühlen sich
daher durch dieses Wort beleidigt, sie sehen darin
einen Ausdruck von Rassismus. Im amerikanischen
Bundesstaat Minnesota mußten deshalb schon Ge-
meinden ihren Namen ändern, und auch in Kalifor-
nien, Heimat des berühmten »Squaw Valley«, kämp-
fen Indianer für die Umbenennung solcher Orte.
& Lit.: Das Deutsche Wörterbuch, München 1985;
»Gegen Squaws auf der Landkarte«, Hessisch/
Niedersächsische Allgemeine, 17.5.1997; Stich-
wort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 St. Gotthard 301

St. Gotthard
Der St. Gotthard-Paß war schon immer ein be-
liebtes Tor in den Süden
Zwischen der Regierungszeit Ottos I. im 10. Jahrhun-
dert und dem sog. Interregnum, der kaiserlosen Zeit,
im 13. Jahrhundert haben die deutschen Kaiser rund
80mal die Alpen überquert – kein einziges Mal über
den St. Gotthard. Heinrich der Vierte auf seinem Weg
nach Canossa zog über den Mont Cenis, genauso wie
vermutlich schon Hunderte Jahre früher Hannibal; an-
dere Kaiser zogen über den Großen oder Kleinen St.
Bernhard, über den San Bernardino, den Lukmanier,
den Simplon oder weiter im Osten über den Brenner;
nur über den viel bequemeren St. Gotthard zogen sie
nicht.
Der Grund war die berühmte, das Ursenental fluß-
abwärts von Uri abriegelnde Schöllenenschlucht, ein
damals völlig unüberwindliches Hindernis. »Schon in
der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mögen Kauf-
leute dieses Hindernis als ärgerlich empfunden
haben«, schreibt der Historiker Bergier. »Wären nicht
diese teuflische Schlucht, diese paar nicht zu machen-
den Schritte gewesen, der Weg über den St. Gotthard
hätte eine wunderbar kurze und bequeme Verbindung
von der Lombardei nach Norden geboten.«
Dann wurde die berühmte Teufelsbrücke bei Gö-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 St. Gotthard 301

schenen gebaut (von wem genau weiß man nicht), die


diese unpassierbare Talenge überwand. Über das ge-
naue Datums schweigen sich die Quellen aus, aber
seit Mitte des 13. Jahrhunderts gibt es schriftliche Be-
richte von Reisen über den St. Gotthard. Erst seit die-
ser Zeit, seit dem Bau der ersten Teufelsbrücke, ist
der St. Gotthard das große Tor zum Süden, als das
wir ihn heute alle kennen.
& Lit.: Jean-François Bergier: Wilhelm Tell, Mün-
chen 1988 (besonders Kapitel 10: Die Erfindung
des Gotthardpasses).
¤ Erst diese Brücke öffnete den St.-Gotthard-Paß

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LexPI Bd. 1 Staatsverschuldung 1 297

Staatsverschuldung 1
Eine hohe Staatsverschuldung schadet der Wirt-
schaft
Schulden gelten sehr zu Unrecht als ein wirtschaftli-
ches Übel. Denn wenn niemand Schulden machen
würde, könnte auch niemand, weder Unternehmen
noch private Haushalte noch der Staat, einen Über-
schuß erwirtschaften. Des einen Defizit ist notwendi-
gerweise des anderen Überschuß, und wenn niemand
in einer Volkswirtschaft mehr Geld ausgibt als er ein-
nimmt, kann auch niemand mehr Geld einnehmen als
er ausgibt.
Die privaten Haushalte in der Bundesrepublik
Deutschland sparen jährlich mehr als 100 Milliarden
Mark. Darauf sind nicht wenige gewaltig stolz – um
soviel übersteigt das deutsche Volkseinkommen den
Konsum. Was aber viele dabei übersehen, ist die
Konsequenz daraus. Denn dieser Überschuß der Ein-
nahmen über die Konsumausgaben muß schließlich
irgendwie verwendet werden. Mit anderen Worten, es
sind Wirtschaftssubjekte gesucht, andere Privathaus-
halte, Firmen, das Ausland, aber auch der Staat, die
bereit sind, dieses Geld zu leihen (und natürlich ir-
gendwann zurückzuzahlen).
Es gibt gute Gründe, den Staat als Schuldner dabei
skeptisch zu betrachten, etwa die notorische
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Staatsverschuldung 1 297

Ineffizienz und Verschwendungssucht der öffentlichen


Verwaltung, die wir mit unseren Spargroschen viel-
leicht nur weiter unterstützen. Aber auf der anderen
Seite würden viele, die jetzt noch über hohe Staats-
verschuldung klagen, sehr dumm gucken, wenn der
Staat das Schuldenmachen plötzlich bleiben ließe.
& Lit.: Paul Samuelson: Economics, 9. Auflage,
New York 1973; Wolfram Engels: »Staatsver-
schuldung« in: Axel Buchholz et al. (Hrsg.):
Wohlstand für keinen, Frankfurt 1982, S. 72–84.
Robert Eisner: Deficits: Which, how much, and
so what? American Economic Review 1992,
295–298.

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LexPI Bd. 1 Staatsverschuldung 2 297

Staatsverschuldung 2
Eine hohe Staatsverschuldung belastet künftige
Generationen
Weder ist eine hohe Staatsverschuldung für sich allein
betrachtet etwas Schlechtes, noch belastet sie, wie
viele glauben, automatisch unsere Kinder. Denn die
gleichen Kinder, die unsere Schulden erben, erben
auch unsere Vermögen. Eine hohe Staatsverschuldung
heißt doch nichts anderes, als daß die übrigen Teil-
nehmer des Wirtschaftslebens, also Firmen, Ausland
und private Haushalte, einen exakt gleich großen
Überschuß besitzen. Die Summe aller Schulden ist
per definitionem immer genauso groß wie die Summe
aller Guthaben, und wenn die Schulden wachsen,
wachsen die Guthaben im Gleichschritt mit.
Das mittlerweile beträchtliche Geldvermögen der
deutschen Privathaushalte wäre undenkbar ohne einen
Partner, der dieses Vermögen schuldet, und deshalb
ist es zunächst wenig sinnvoll, die eine Seite der
Münze zu bewundern und die andere zu bespucken.
Wenn wir in der Presse lesen, die deutsche Staatsver-
schuldung betrage pro Bürger heute mehr als 3000
Mark, so können wir das auch umdrehen und sagen:
jeder Bürger hat beim deutschen Staat ein Konto von
im Mittel mehr als 3000 Mark. Wenn wir das Aus-
land einmal ignorieren, kann der Staat Schulden ma-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Staatsverschuldung 2 298

chen wie er will – netto ist die Belastung immer Null.


Wenn Frau Meier ihrem Gatten 500 Mark für einen
neuen Rasenmäher leiht, bleibt das Geld in der Fami-
lie. Denn niemand käme hier auf den Gedanken zu
sagen: Familie Meier hat 500 Mark Schulden. Und
genauso kann auch ein Staat als ganzes keine Schul-
den machen: was wir aus der einen Tasche herausneh-
men, stecken wir in die andere wieder hinein, und
netto gleicht sich alles aus.
Der Effekt einer hohen Staatsverschuldung für
künftige Generationen liegt also durchaus in einer
Umverteilung, aber nicht zwischen Gegenwart und
Zukunft, sondern zwischen Steuerzahlern und Staats-
papier-Besitzern. Die Erben all der Bundesschatzbrie-
fe und -anleihen oder Kommunalobligationen profitie-
ren, die Steuerzahler zahlen. Aber die zukünftige Ge-
neration als Ganzes hat durch die aktuelle Schulden-
politik weder Vorteile noch Nachteile.
Allenfalls auf indirekte Weise kann die Staatsver-
schuldung unseren Kindern schaden. In dem Umfang
etwa, wie durch Schulden finanzierte Staatsprojekte
das Wachstum eines möglicherweise profitableren
Realkapitals in der freien Wirtschaft behindern, ist
die künftige industrielle Infrastruktur weniger günstig
als sie es ansonsten wäre. Und da natürlich die heute
gemachten Schulden morgen zurückgezahlt werden
müssen, schränken die Schulden von heute den staat-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Staatsverschuldung 2 298

lichen Handlungsspielraum morgen ein. Aber vergli-


chen mit den Horrorvisionen künftiger, vor allem in
Wahlkampfzeiten durch die deutschen Medien gei-
sternder Elendsmassen, die ihr Schicksal unserer ak-
tuellen Schuldenpolitik verdanken, sind diese Wirk-
ungen doch sehr gelassen zu ertragen.
& Lit.: E.J. Mishan: Twenty-one economic fallacies,
London 1968 (besonders Kap. 5: The national
debt is a burden); W. Buster and K. Kletzer:
Who's afraid of public debt? In: American Econo-
mic Review 1992, 290–294.

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LexPI Bd. 1 Stars 299

Stars
Stars sterben jünger
»Stars leben durchschnittlich nur 63 Jahre – 13 Jahre
weniger als der Durchschnittsbürger«, schreibt die
Bild-Zeitung, und gibt auch gleich die Gründe an:
»Drogen, Alkohol, Selbstmord«.
Wir wollen diesen Zusammenhang auch nicht be-
streiten, weisen aber auch auf eine Kausalbeziehung
in der umgekehrten Richtung hin: viele Menschen
werden durch den frühen Tod überhaupt erst zu einem
Star! Vielleicht würde heute kaum noch jemand von
Stars wie James Dean, Buddy Holly oder Jimmy
Hendrix wissen, wenn diese Herren nicht so jung ge-
storben wären. Denn durch diesen Tod in der Blüte
der Jahre wird das jugendliche Heldenimage für alle
Zeiten quasi eingefroren, es ist deshalb immer frisch.
Als weiteres Manko der obigen Statistik ist zu kon-
statieren, daß viele Stars nur in den besten Jahren die-
sen Titel führen. Viele heute alte Stars von früher sind
dagegen längst vergessen und gehen deshalb in die
Statistik der Star-Todesfälle auch nicht ein.

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LexPI Bd. 2 Statistik 319

Statistik
Churchill sagte: »Ich glaube keiner Statistik, die
ich nicht selbst gefälscht habe«
Dieser wohl am häufigsten zitierte Ausspruch Win-
ston Churchills ist eine Erfindung von Joseph Goeb-
bels. Anders als viele Menschen wegen des obigen
Falsch-Zitates heute glauben, hatte Churchill immer
den größten Respekt vor der Statistik; er handelte
wenn immer möglich gern aufgrund von Fakten
(»You must look at facts because they look at you«),
er hatte stets auch Statistiker unter seinen engeren Be-
ratern.
In verschiedenen »Anweisungen an die deutsche
Presse« aus den Jahren 1940/41 legt Goebbels dem
englischen Premierminister die obigen Worte mehr-
fach in den Mund (während in England selbst kein
einziges Zeugnis dafür nachgewiesen ist). Vermutlich
wollte Goebbels den Kriegsgegner damit als notori-
schen Lügner darstellen, dem nichts zu glauben wäre,
und diese wahre Quelle des Zitates wurde später dann
vergessen.
& Lit.: Statistisches Landesamt Baden-Württem-
berg: Ich glaube nur der Statistik ... Was Winston
Churchill über die Zahlen und die Statistik wirk-
lich sagte, Stuttgart 1996.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Steaks 319

Steaks
Durch das scharfe Anbraten bleibt ein Steak
innen saftig
Auch wenn im »Larousse gastronomique« zu lesen
ist, das scharfe Anbraten von Fleisch erzeuge eine
dichte Kruste, die Nährstoffe und Saft beschütze, so
ist diese Kruste durchaus durchlässig und verhindert
keinesfalls, wie viele glauben, das Austreten von Bra-
tensäften.
Dieser Mythos geht vermutlich auf Justus von Lie-
big zurück. Dieser hatte Mitte des 19. Jahrhunderts
entdeckt, daß die Proteine der Fleischoberfläche bei
großer Hitze gerinnen, und er glaubte, diese Kruste
schlösse den Saft des Fleisches ein. Diese nie bewie-
sene These setzte sich rasch durch und gelangte auch
nach England, Amerika und sogar in die Welt-Gour-
met-Zentrale Frankreich, »wo sie noch heute die
Köpfe verwirrt« (This-Benckhard).
Daß Liebig Unrecht hat und daß die Anbratkruste
den Fleischsaft nicht einschließt, verrät schon das ty-
pische Zischen während des Bratens – es zeigt, daß
eine Flüssigkeit verdunstet. Und nach dem Braten
sieht man unter dem Steak auf der Servierplatte oft
kleine Saftlachen entstehen, auch diese sind mit einer
dichten Kruste wenig kompatibel.
Nach This-Benckhard bleibt das Maximum an Saft
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Steaks 320

bei entweder durchgängig moderater oder durchgän-


gig hoher, aber dafür kurzer Hitze im Fleisch; bei
durchgängig moderater Hitze zieht sich das Bindege-
webe im Fleisch nur leicht zusammen, es wird wenig
Saft herausgepreßt, bei durchgängig hoher Hitze
verkürzt sich die Garzeit, der Saft hat wenig Zeit her-
auszutreten. Brät man dagegen erst scharf an und läßt
dann das Fleisch bei Mittelhitze schmoren, hat man
am Ende eine Trockenpizza.
& Lit.: H. McGee: The curious cook, North Point
1990; H. This-Benckhard: Rätsel der Koch-
kunst – Naturwissenschaftlich erklärt, Berlin
1996; Stichwort vorgeschlagen von Sonja Berg-
hoff.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Stern von Bethlehem 299

Stern von Bethlehem


Der Stern von Bethlehem war ein Komet (s.a. ð
»Heilige Drei Könige«, ð »Kindermord von
Bethlehem« und ð »Jesus«)
Anders, als in vielen Weihnachtskrippen gestaltet,
war der Stern von Bethlehem vermutlich kein Komet.
Wenn man modernen Astronomen glauben darf, war
der Stern von Bethlehem vielmehr ein dreimaliges
sukzessives Zusammentreffen (eine Tripel-Konjunkti-
on) der Planeten Saturn und Jupiter.
Den wichtigsten Hinweis auf den Stern von Bethle-
hem verdanken wir dem Evangelium nach Matthäus:
»Als Jesus zur Zeit des Herodes in Bethlehem in
Judäa geboren war, kamen Sterndeuter aus dem Osten
nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene
König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen
und sind gekommen, um ihm zu huldigen.«
Aber seltsamerweise konnte außer den Sterndeutern
selber niemand den Stern sehen, d.h. ein Komet oder
eine Supernova scheinen damit ausgeschlossen (falls
man das Evangelium des Matthäus wörtlich nehmen
darf). Auch Meteore oder andere kurzlebige Himmel-
sphänomene sind sehr unwahrscheinlich, denn die
Weisen folgten ihrem Stern über eine längere Zeit
hinweg: »Und der Stern, den sie hatten aufgehen
sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo das Kind
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Stern von Bethlehem 300

war; dort blieb er stehen.«


Falls der Stern von Bethlehem also nicht erfunden
oder eine Collage von mehreren zeitlich getrennten
Objekten auf einmal war (Komet, Supernova,
Meteor), spricht vieles für das folgende Szenario: Die
Sterndeuter kamen aus dem Zweistromland Mesopo-
tamien, mit seiner langen jüdischen Kulturgeschichte;
dort hatten die Astrologen schon lange auf die An-
kunft des Messias gewartet. Für das Jahr 7 vor Chri-
stus war aber eine Tripel-Konjunktion von Saturn und
Jupiter in dem eng mit dem jüdischen Volk verbunde-
nen Sternbild der Fische vorausgesagt, mit Jupiter als
Glücksbringer und Saturn als Stern der Juden, so daß
eine Interpretation dieses Ereignisses im Sinn der
Prophezeiungen des Alten Testamentes durchaus
nicht unwahrscheinlich ist. Die Tripel-Konjunktion
des Jahres 7 vor Christus war am 29. Mai, am 29.
September und am 4. Dezember zu beobachten. Am
12. April gingen die Planeten zum erstenmal zusam-
men im Sternbild der Fische auf, die Sterndeuter hat-
ten also genügend Zeit, die lange Reise vorzubereiten,
und die Fische waren in den Sommernächten des Jah-
res 7 vor Christus gut zu sehen.
& Lit.: David W. Hughes: »The star of Bethlehem«,
Nature, 9. Dez. 1976; Leserbriefe dazu in Nature,
11. August 1977; Konradin Ferrari d'Occhieppo:
Der Stern von Bethlehem in astronomischer
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Stern von Bethlehem 300

Sicht – Legende oder Tatsache? Gießen 1994.


¤ So sahen die Sterndeuter die Bewegung und den
Stillstand der Planeten: die scheinbare Bewegung
von Saturn und Jupiter im Sternbild der Fische von
Mai bis Dezember 7 v. Chr. (nach Ferrari
d'Ochieppo, S. 149)

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LexPI Bd. 2 Sterne 320

Sterne
Sterne haben die Gestalt von Kugeln
Man weiß schon lange, daß Planeten wie die Erde
keine echten Kugeln sind. Aber gegen die Abwei-
chung von der Kugelgestalt, wie man sie bei manchen
Sternen findet, ist die Abplattung der Erde an den
Polen, und sind erst recht die sonstigen Ausbuchtun-
gen und Dellen der Erdoberfläche nur mit einer Lupe
wahrzunehmen. Wie italienische Astronomen kürzlich
mit dem Hubble-Teleskop herausgefunden haben,
messen die 400 Lichtjahre entfernten Roten Riesen R.
Leonis und W. Hydrae in einer Richtung rund 10%
mehr als in der anderen; sie sehen eher aus wie Eier.
Zum Vergleich: Die Abplattung der Erde an den
Polen beträgt rund 40 km, damit ist die Nord-Süd-
Achse gerade 0,033% kürzer als der Durchmesser,
gemessen am Äquator.
& Lit.: »Sun faces an egg-shaped future«, New
Scientist, 20.7.1996.

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LexPI Bd. 1 Steuben 300

Steuben
Der Baron von Steuben war ein preußischer Ge-
neral
Der in Amerika viel gefeierte Baron von Steuben,
Drillmeister der amerikanischen Armee, Held des
amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, war weder
ein Baron noch ein preußischer General, erst recht
nicht Vertrauter und »intimer Freund« des großen
Preußenkönigs Friedrich, als der er in alten Romanen
und Geschichtsbüchern noch heute weiterlebt.
In Wahrheit hieß Steuben eigentlich Steube; mit
den adligen von Steubens war er nicht verwandt. Er
war zwar preußischer Offizier, aber nie preußischer
General; nach dem Siebenjährigen Krieg gegen Öster-
reich und Rußland wurde er als Kapitän entlassen.
Auch einen Orden »Pour le Mérite« oder eine andere
hohe preußische Auszeichnung hat er nie erhalten.
Nach seiner Entlassung aus der preußischen Armee
arbeitete von Steuben alias Steube eine Weile als
Hofmarschall beim Fürsten von Hohenzollern-He-
chingen. Dann zog er nach Paris, wo ihn ein Freund
zur Übersiedlung in die frisch gegründeten Vereinig-
ten Staaten von Amerika überredete. Dort angekom-
men, trat Steuben in die Dienste Washingtons und
machte schnell Karriere – kein Wunder in einer
Armee von Amateuren, die diesen Profi gut gebrau-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Steuben 301

chen konnten.
Steubens Verdienste um die amerikanische Unab-
hängigkeit sind also unbestritten; er starb
hochgeachtet als amerikanischer, wenn auch nicht
preußischer General im Jahr 1794 auf seinem Land-
sitz bei New York.
& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-
serwisser, München 1986; Stichwort »Steuben«
in: Großes Personenlexikon, Dortmund 1988.

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LexPI Bd. 1 Stiere 1 302

Stiere 1
Stiere mögen keine rote Farbe
Stiere sind praktisch farbenblind, sie können rot von
anderen Farben nur sehr schwer unterscheiden. Des-
halb reagieren sie auf rote Tücher nicht anders als auf
grüne oder blaue, nämlich im Grunde überhaupt nicht
(es sei denn, die Tücher würden wild geschwenkt).
Manche Zoologen glauben sogar, daß man, um einen
Stier zu reizen, besser weiße Tücher nehmen sollte.
Die bunte Kleidung und die roten Tücher der spa-
nischen Toreros sind also eher für das Publikum ge-
dacht. Die Stiere reagieren wütend nur auf das Her-
umgerenne und -geschwenke, nicht aber auf die rote
Farbe.

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LexPI Bd. 1 Stiere 2 303

Stiere 2
Der Stierkampf ist eine spanische Erfindung
Stiere wurden in vielen Ländern des Altertums wegen
ihrer Stärke und Fruchtbarkeit verehrt; Stierkämpfe
gab es schon bei den Römern, Griechen und Ägyp-
tern, ja sogar im alten China wurden frühe Varianten
eines Stierkampfs nachgewiesen.
Auf welchen Wegen der Stierkampf nach Spanien
gekommen ist, weiß man nicht genau – vermutlich
mit den Mauren. Aber von wem auch immer die Spa-
nier den Stierkampf übernommen haben, erfunden
haben sie ihn nicht.
& Lit.: Rudolf Brasch: How did sports begin?
McKay, 1974.

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LexPI Bd. 2 Studiengebühren 320

Studiengebühren
Studiengebühren sind unsozial (s.a. ð »Medica-
re«)
In Deutschland ist die Hochschulbildung »frei«;
damit ist gemeint, daß nicht die Nutznießer selber,
sondern Dritte dafür zahlen. Das hat schon Karl Marx
sehr klar erkannt: »Wenn in einigen Staaten (...) auch
›höhere‹ Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind«,
schreibt er in seiner »Kritik des Gothaer Programms«
über »kostenlose« öffentliche Bildung in den USA,
»so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre
Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel
[zu] bestreiten.«
Und so verhält sich das auch heute: Die »höheren
Klassen« bestreiten ihre Erziehungskosten aus dem
allgemeinen Steuersäckel. Im Jahr 1994 kamen über
420.000 Studenten und Studentinnen an bundesdeut-
schen Universitäten aus Haushalten mit einem monat-
lichen Nettoeinkommen über 6.000 Mark. Nur
250.000 kamen aus Haushalten mit einem monatli-
chen Nettoeinkommen unter 3.000 Mark; in manchen
»teuren« Studiengängen wie etwa der Medizin sitzen
fast nur Kinder reicher Eltern auf den Hörsaalbänken.
Bezahlen aber müssen alle, insbesondere auch die
Familien, die überhaupt keine Kinder auf die Univer-
sitäten schicken. Diese sind die mit Abstand größten
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Studiengebühren 321

Opfer unserer sogenannten »freien« Hochschulbil-


dung, die die Allgemeinheit jährlich rund 30 Milliar-
den DM kostet (ohne BAföG, Studentenkindergeld
und öffentliche Zuschüsse zu Wohnheimen usw.),
rund die Hälfte davon aus der Kasse von Haushalten,
die nicht den geringsten direkten Nutzen davon
haben, hatten oder haben werden.
Ungerecht ist auch die Verteilung der Nutzen und
Lasten auf die verschiedenen Einkommensklassen.
Denn die höheren Steuern, welche die Besserverdie-
nenden bezahlen bzw. bezahlen sollten, gleichen den
höheren Studentenanteil unter ihren Kindern nicht
ganz aus. Oder anders ausgedrückt: Die Armen zah-
len zwar weniger Steuern, schicken aber auch weni-
ger, und zwar überproportional weniger Kinder auf
die Universitäten, so daß sie netto die Erziehung der
Söhne und Töchter der Reichen finanzieren. So zahl-
ten etwa die Haushalte mit einem monatlichen
Nettoeinkommen unter 2.000 Mark im Jahr 1994 ins-
gesamt 670 Millionen Mark in die allgemeine Bil-
dungskasse (das ist der Anteil der von diesen Haus-
halten gezahlten Einkommens-, Umsatz-, Kfz- und
Branntweinsteuer usw., der in die Hochschulbildungs-
finanzierung fließt), bekamen aber weniger als 600
Millionen Mark in Form von »freier« Bildung für ihre
Kinder daraus zurück. Die restlichen 70 Millionen
Mark flossen als Subventionen an die Besserverdie-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Studiengebühren 321

nenden und deren Kinder. Für jedes Kind, das sie auf
die Universität schickten, bezahlten die Haushalte mit
einem Monats-Nettoeinkommen von 2.000 Mark und
weniger mehr als 12.000 Mark pro Jahr an Steuern,
verglichen mit 9.100 Mark pro Kind für die Einkom-
mensklasse von 2.000–3.000 Mark, 9.300 Mark pro
Kind für die Einkommensklasse von 3.000–4.000
Mark und 11.000 Mark pro Kind und Jahr für die
Einkommensklasse von 4.000–5.000 Mark. (Erst die
Haushalte in der Klasse 5.000 Mark und höher zahlen
als ganze mehr für einen Studienplatz als die aller-
ärmsten.)
Davon abgesehen verdienen Akademiker über das
Leben gerechnet rund 50% mehr als unstudierte Bür-
ger, zahlen aber weniger als die Hälfte ihrer Studien-
kosten über höhere Steuern an die Solidargemein-
schaft zurück. Wie man den Ruf nach mehr Gerech-
tigkeit in diesen Dingen als Sozialabbau bezeichnen
kann, wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben.
& Lit.: W.L. Hansen und B. Weisbrod: »The distri-
bution of costs and benefits of public higher edu-
cation: the case of California«, Journal of Human
Resources 4, 1969, S. 176–191; Christof Helber-
ger: Auswirkungen öffentlicher Bildungsausgaben
in der Bundesrepublik Deutschland auf die Ein-
kommensverteilung der Ausbildungsgeneration,
Stuttgart 1982; Karl-Dieter Grüske: »Verteilungs-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Studiengebühren 322

effekte der öffentlichen Hochschulfinanzierung in


der Bundesrepublik Deutschland«, in: R. Lüdeke
(Hrsg.): Bildung, Bildungsfinanzierung und Ein-
kommensverteilung, Berlin 1994; H.-D. Holtz-
mann: Öffentliche Finanzierung der Hochschul-
ausgaben in der Bundesrepublik Deutschland,
Nürnberg 1994; »Studiengebühren: Sozialver-
trägliche Steuerung«, Informationsdienst der
Deutschen Wirtschaft 30/1996; »Bildung braucht
Markt«, Focus 36/1996; Kurt Reumann: »Nutzen
ohne zu zahlen?«, Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 15.1.1997; Cecilia Garcia-Penalosa und
Klaus Wälde: »Efficiency and equity of subsidies
to higher education«, Discussion Paper 15/1997,
Nuffield College, Oxford; Jens-Holger Thiel:
»Statistische Erfassung ausgewählter Zahlungs-
ströme im deutschen Bildungswesen«, Diplomar-
beit, Fachbereich Statistik, Universität Dortmund,
Juli 1997; Wolfram Richter und Wolfgang Wie-
gard: »Studiengebühren sind keine Strafe«,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.2.1998.

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LexPI Bd. 1 Stuhlgang 303

Stuhlgang
»Man muß täglich müssen!«
»Man muß nicht täglich müssen«, lesen wir in einer
Apothekerzeitschrift. »Der Wiener Sozialmediziner
Prof. Dr. Michael Kunze fand bei Befragungen und
Untersuchungen heraus, daß die Selbst-Diagnose Ver-
stopfung von vielen Menschen, besonders von Frau-
en, zu früh bzw. zu oft gestellt wird in der Annahme,
Stuhlgang sei täglich notwendig.« In Wahrheit sei
eine Fixierung auf eine Verdauung im 24-Stunden-
Takt nur ein Relikt aus unseren Kleinkindtagen mit
ihrer überkommenen Sauberkeitserziehung, als viele
von uns für eine vollen Topf gelobt und für einen lee-
ren Topf getadelt wurden; dieser 24-Stunden Rhyth-
mus sei aber nicht gottgegeben, die Art und Häufig-
keit des Stuhlgangs hänge vielmehr eng mit der Be-
schaffenheit und dem Rhythmus unserer Ernährung
zusammen. »Dreimal täglich kann ebenso normal sein
wie dreimal die Woche.«

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LexPI Bd. 1 Süßigkeiten 303

Süßigkeiten
Süßigkeiten machen Kinder ›hippelig‹
»Das wird immer wieder behauptet«, schreibt der Prä-
sident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.
»Bewiesen ist es nicht .... Manche Kinder werden al-
lerdings ›erträglicher‹, wenn die Eltern verständnis-
voll versuchen, sie von Süßigkeiten fernzuhalten. Die-
ser Effekt wird darauf zurückgeführt, daß sich die El-
tern dann natürlich intensiv mit dem Kind befassen
müssen – sozusagen ein therapeutischer Effekt durch
vermehrte Zuwendung.«
& Lit.: »Machen Bananen glücklich?« in Test Spe-
zial: Ernährung, 1993.

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LexPI Bd. 2 Süßigkeiten. 322

Süßigkeiten
Zuviel Süßes ist für Kinder ungesund (s.a. ð
»Süßigkeiten« in Band 1)
Nach einer Studie englischer Ernährungswissenschaft-
ler vom Kings College in London essen Kinder, die
viel Süßes zu sich nehmen, eher gesünder als andere,
denen Süßes aus Furcht vor Nachteilen für die Ge-
sundheit vorenthalten wird. Sie sind im Durchschnitt
schlanker, essen abwechslungsreicher, und vor allem
essen sie weniger Fett. »Damit scheinen Empfehlun-
gen auf den Kopf gestellt zu werden, wonach süße
Lebensmittel mit ›leeren Zuckerkalorien‹ Kinder dick
und krankheitsanfällig werden lassen.«
& Lit.: »Süßes macht Kinder gesünder«, Hannover-
sche Allgemeine Zeitung, 31.10.1995.

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LexPI Bd. 1 Syphilis 304

Syphilis
Die Syphilis wurde von spanischen Seefahrern
nach Europa eingeschleppt
Wenn es gilt, die Schuld an Mißgeschicken auf ande-
re zu schieben, waren die Menschen schon immer sehr
erfinderisch. So glauben etwa viele Europäer, die Sy-
philis wäre erst durch heimkehrende Seefahrer von
Amerika nach Europa gekommen (so wie umgekehrt
viele Amerikaner den Europäern die Schuld an der
Tbc zuschieben – zu Unrecht, wie unter dem einschlä-
gigen Stichwort nachzulesen).
In Wahrheit gab es die Syphilis in Europa schon
lange vor Kolumbus – nur wurde sie nicht so genannt.
Aber die Symptome – Geschwüre, Knoten, großflä-
chige Hautausschläge, zuweilen auch Heiserkeit und
Haarausfall – waren schon lange vorher bei berühm-
ten und weniger berühmten Menschen aufgetreten, die
dann an Syphilis gestorben sind, ohne es zu wissen.
Zum ersten Mal taucht das Wort »Syphilis« in
einem Gedicht des Jahres 1530 auf, in dem ein
unglücklicher Schäfer namens Syphilus besungen
wird, der während einer großen Hitzewelle die Sonne
verfluchte. Zur Strafe schlugen ihn die Götter mit
einer »neuen« Krankheit, die dann in der Folklore den
Namen ihres ersten Opfers annahm. Und da sich die-
ser Name zeitgleich mit der Eroberung Amerikas ver-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Syphilis 304

breitete, kamen die Menschen wie so oft in solchen


Fällen auf den Gedanken, daß hier ein Zusammen-
hang bestehen müsse.
& Lit.: Karl Sudhoff: Kurzes Handbuch der Ge-
schichte der Medizin, Berlin 1922.

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T 305

»Was sich nie und nirgends hat begeben,


das allein veraltet nie.«
Friedrich Schiller, An die Freude

»Ein Irrtum weggeräumt,


gibt einen wahren Satz.
So durch Irrtümer selbst
wächst stets der Wahrheit Schatz.«
F. Rückert

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LexPI Bd. 2 Tag 323

Tag
Ein Erdentag beträgt seit jeher 24 Stunden
Früher waren die Tage kürzer: Vor 900 Millionen
Jahren maßen sie nur 18 Stunden; damals stand der
Mond noch näher an der Erde, diese drehte sich ein-
mal in 18 statt in 24 Stunden um die Achse.

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LexPI Bd. 2 Taschentuch 323

Taschentuch
Das Taschentuch wurde zum Hineinschneuzen er-
funden
Das Taschentuch kam im 15. Jahrhundert in den bes-
seren Kreisen Italiens als »Falzilettlein« auf und dien-
te ursprünglich als Hilfsmittel der vornehmen Gebär-
densprache; niemand hätte sich getraut, in diese Kost-
barkeit hineinzuschneuzen.
& Lit.: Roland Michael: Wie, was, warum?, Augs-
burg 1990.

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LexPI Bd. 1 Tbc 305

Tbc
Die Tuberkulose wurde von Europäern nach
Amerika gebracht
Eine bis vor kurzem unter Medizinhistorikern unbe-
strittene Lehrmeinung besagte, erst die europäischen
Eroberer hätten die Menschheitsgeißel Tbc nach
Amerika gebracht, und zwar mit den Matrosen des
Kolumbus.
In Wahrheit gab es Tbc schon lange vorher in
Amerika: vor kurzem haben amerikanische Patholo-
gen in der Lunge einer mehr als tausend Jahre alten
Mumie aus Kolumbien einen verkalkten Tuberkulose-
herd gefunden.
& Lit.: Wilmar L. Salo u.a.: »Identification of My-
obacterium tuberculosis DNA in a pre-columbian
Peruvian mummy«, Proceedings of the National
Academy of Science, 91, 1994, 2091–2094.

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LexPI Bd. 2 Tee 1 323

Tee 1
Tee enthält kein Koffein
Tee enthält wie Kaffee Koffein; der umgangssprachli-
che Ausdruck »Teein« ist nur ein anderer Name für
das Koffein. Es ist nur im Tee in anderer Form und in
geringerer Menge gelöst als im Kaffee, deshalb kön-
nen viele Menschen nach einer Tasse Tee gut schla-
fen, nach einer Tasse Kaffee aber nicht.

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LexPI Bd. 2 Tee 2 324

Tee 2
Heißer Tee wärmt (s.a. ð »Alkohol 2« in Band 1)
Heißgetränke wie Tee, Kaffee, Punsch oder Grog ma-
chen den Körper netto kälter: Sie öffnen die Hautgefä-
ße, lassen warmes Blut die Haut durchfließen (daher
der vermeintlich wärmende Effekt), und der Körper
kühlt sich aus. Wer sich lange im Kalten aufhält, soll-
te solche Heißgetränke meiden, der Körper ist hinter-
her kälter als zuvor.

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LexPI Bd. 1 Teflon 305

Teflon
Teflon ist ein Produkt der Raumfahrtindustrie
Die Raumfahrtindustrie mag viele nützliche Alltagsu-
tensilien erfunden haben – das berühmte Teflon, das
ihr oft zugeschrieben wird, das etwa auf Bratpfannen
so schön das Anbrennen verhindert, ist nicht dabei.
Teflon gehört zu den sogenannte
»Fluorkohlenstoffen«, das sind Moleküle, bei denen
die freien Wertigkeiten eines Kohlenstoffrings oder
einer Kohlenstoffkette mit Fluoratomen besetzt sind;
es wurde erstmals 1938, 20 Jahre vor dem Beginn der
Weltraumfahrt, als »Polytetrafluorethylen« erzeugt,
und war unter dem modernen Namen Teflon ab 1950
käuflich zu erwerben.
Die berühmte Teflonpfanne wurde 1954 von dem
Franzosen Marc Gregoire erfunden, und zwar eher zu-
fällig, als er an seinen Angelruten bastelte. Zwei Jahre
später gründete Gregoire die Firma Tefal, und brachte
seine Pfanne auf den Markt (aber auch schon vorher
sollen in Amerika Bratpfannen mit Teflon beschichtet
worden sein).
& Lit.: Stichwortartikel »Plastics« im Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Tempolimit 324

Tempolimit
Der Ruf nach Tempolimits entstand erst mit der
immer größeren Geschwindigkeit der Autos
Anfang des Jahrhunderts war die Höchstgeschwindig-
keit für Autos innerhalb und außerhalb von Ortschaf-
ten des Deutschen Reiches auf 9 km/h festgesetzt. Im
Jahr 1909 wurde ein Heraufsetzen auf 20 km/h disku-
tiert, darüber beschwerte sich der
Reichstagsabgeordnete Stolle (SPD): »Ja, meine Her-
ren, dann können die Luxusautomobile ganz nach Be-
lieben durch die Straßen fahren, und niemand wird
danach fragen, welche Geschwindigkeit sie dabei ein-
halten. (...) Der Automobilklub will sogar 25 Kilome-
ter fahren, er will rasen. Und was ist die Folge, wenn
solche Luxusautomobile über die Landstraßen rennen
und an keine Vorschriften gebunden sind? (...) Sonn-
tags früh, wenn die in der Fabrik abgearbeiteten Leute
einen Ausgang machen und frische Luft schöpfen
wollen, dann kommt ein Auto gesaust, spritzt rechts
und links den Straßenschmutz in die Höhe, so daß
den Leuten, die nicht in die Wiesen und in den Wald
hineindürfen, das beste Kleid ruiniert wird.«
& Lit.: Stenographische Berichte über die Verhand-
lungen des Deutschen Reichstags, Band 215, 11.
Legislaturperiode, Sitzung vom 26.3.1909, S.
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LexPI Bd. 2 Tempolimit 324

1143–1145; F.-J. Brüggemeier und M. Toyka-


Seid: Industrie-Natur: Lesebuch zur Geschichte
der Umwelt im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.
1995.

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LexPI Bd. 1 Terms of trade 306

Terms of trade
Das reale Austauschverhältnis von Importen und
Exporten ist für Entwicklungsländer heute un-
günstiger als früher (s.a. ð »Ausbeutung« und ð
»Dritte Welt«)
Das ist eine der vielen modernen Mythen zu Entwick-
lungsländern: sie wären unter anderen auch deshalb
arm, weil sie für ihre Produkte immer weniger real er-
lösen.
In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall; das Tausch-
verhältnis von Im- und Exporten, im Fachjargon auch
»terms of trade« genannt, hat sich in den letzten hun-
dert Jahren ganz im Gegenteil für die Dritte Welt ver-
bessert: Für ihre wichtigsten Exporte – Südfrüchte,
Kaffee, Tee, Rohstoffe aller Art – erhält sie heute
mehr und nicht weniger Industrieprodukte als vor 50
oder 100 Jahren, sie muß heute für Autos, Fernseher
und Waschmaschinen weniger eigene Produkte liefern
als für vergleichbare Importe am Anfang des Jahrhun-
derts.
Diese für die Entwicklungsländer erfreuliche Ver-
bessererung des Tauschwertes ihrer Güter ist eine
Folge der enorm gestiegenen Arbeitsproduktivität in
den Industrienationen; dadurch werden die Welt-
marktpreise für Industrieprodukte relativ zu vielen
Agrarprodukten wie Tee und Kaffee gedrückt, die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Terms of trade 306

nicht so einfach rationeller herzustellen sind, deshalb


braucht ein Kaffeepflanzer in Kolumbien heute weni-
ger Kaffee als vor 50 Jahren, um ein Radio, ein Auto
oder eine Schreibmaschine einzutauschen.
Nur bei einigen wenigen Agrarprodukten wie Zuk-
ker oder Weizen ist das reale Tauschverhältnis für die
Produzenten heute schlechter. Bei Zucker, weil das
noch bis Ende des letzten Jahrhunderts dominierende
Zuckerrohr durch die Zuckerrübe eine billige Konkur-
renz erhielt, bei Weizen, weil durch die riesigen neuen
Anbauflächen im Westen der USA das Angebot auf
Dauer billiger geworden ist. Aber im großen und gan-
zen müssen die Entwicklungsländer die Schuld für
ihre Armut an anderer Stelle als bei den Weltmarkt-
preisen ihrer eigenen Produkte suchen.
& Lit.: Paul Bairoch: The economic development of
the Third World since 1900, London 1977.

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LexPI Bd. 1 Tetanus 307

Tetanus
Man kann durch einen Tritt auf einen rostigen
Nagel Tetanus bekommen
Tetanus alias Wundstarrkrampf wird allein durch das
Bakterium »Clostridium Tetani« übertragen; dieses
gedeiht vor allem in der Darmflora von pflanzenfres-
senden Tieren und kommt mit deren Kot auch auf den
Erdboden. Wenn unser Rostnagel also auch im Kuh-
mist lag, oder sonstwie mit Schmutz in Berührung
kam, kann man davon Tetanus bekommen – der Rost
als solcher hat nichts mit Wundstarrkrampf zu tun.
& Lit.: Stichwort »Tetanus« in Brockhaus Enzyklo-
pädie, Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 2 Tiefkühlerbsen 325

Tiefkühlerbsen
Tiefkühlerbsen sind gefärbt
Tiefkühlerbsen sind grüner als frische Erbsen, nicht
weil man sie färbt, sondern weil durch das sogenannte
Blanchieren (Abbrühen) zusammen mit dem anschlie-
ßenden Luftgefrierverfahren das Chlorophyll erhalten
bleibt.
& Quelle: Persönliche Mitteilung der Firma Bofrost,
Straelen.

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LexPI Bd. 2 Tiefkühlkost 325

Tiefkühlkost
Es ist gefährlich, einmal aufgetaute Tiefkühlwa-
ren nochmals einzufrieren
Wegen der Bakterien, sagt der Volksmund, die sich
dann verstärkt vermehren sollen. In Wahrheit hat das
Wiedereinfrieren von aufgetauten Lebensmitteln die
gleiche Wirkung wie das Einfrieren von frischen. Je
nach Art der Nahrung, ob Spinat oder Fleischwurst,
ob Erdbeeren oder Kartoffelpüree, und je nach Tempo
des Einfrierens leidet vielleicht der Anblick oder der
Geschmack, auch gewisse Nährstoffe und Vitamine
könnten Schaden nehmen, aber am meisten leiden auf
jeden Fall die Mikroorganismen, die das Essen even-
tuell verderben könnten: Sie sind auf jeden Fall ver-
nichtet. Ob beim ersten oder beim zehnten Einfrieren,
rein medizinisch gesehen ist das nochmalige Einfrie-
ren einmal aufgetauter Tiefkühlwaren völlig unbe-
denklich (vorausgesetzt, daß die Lebensmittel nicht
länger außerhalb des Kühlschranks lagern – bei Tem-
peraturen über 10°C können sich Bakterienkulturen
bilden, um diese abzutöten, müßte man die Nahrung
vor dem Einfrieren noch kochen).
& Stichwort mitgeteilt von Jens Sylvester.

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LexPI Bd. 2 Titanic 1 325

Titanic 1
Die Titanic sollte auf ihrer Jungfernfahrt das
Blaue Band gewinnen
Das ist eines der vielen Gerüchte, die sich um die
erste und zugleich letzte Fahrt dieses Luxusdampfers
ranken. Um dieses Ziel nicht zu gefährden, hätte der
Kapitän die Eisberg-Warnungen mißachtet, die Opfer
der schließlichen Katastrophe wären also für den
Wahn der White-Star-Reederei gestorben.
In Wahrheit war die Titanic nie für schnelle Fahrt
gebaut. Das »Blaue Band« für die schnellste Atlantik-
Überquerung hielt seit 1907 die Mauretania der Cu-
nard-Linie (und sie sollte es noch bis 1927 behalten);
die Mauretania konnte 27 Knoten laufen, die Titanic
höchstens 23. Die White-Star-Linie wollte diese Kon-
kurrenz nicht mit Geschwindigkeit, sondern mit Kom-
fort und Luxus übertreffen.
& Lit.: Stichwort »Titanic« in der Brockhaus Enzy-
klopädie, Wiesbaden 1990; Stichwort vorgeschla-
gen von Christian Löbbe.
¤ Kein Rennboot, sondern Luxusdampfer

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LexPI Bd. 2 Titanic 2 326

Titanic 2
Die Titanic ist durch ein langes Loch im Rumpf
gesunken
Über lange Jahrzehnte war man davon ausgegangen,
ein Eisberg hätte den Schiffsrumpf quasi wie mit
einem Messer längsseits über ein Drittel aufgeschnit-
ten. Wie aber Sonaraufnahmen der fraglichen, mehre-
re Meter im Schlamm des Ozeanbodens vergrabenen
Partie des Schiffes zeigen, weist der Rumpf nur sehr
geringe Schäden auf, es gibt insgesamt nur sechs
kaum ein Hand breite Risse von insgesamt einem
Quadratmeter Durchmesser, kaum so groß wie eine
Schreibtischplatte.
Daß diese Mini-Schäden dennoch eine derart kata-
strophale Wirkung hatten, lag an der Verteilung: Sie
erstreckten sich über sechs der vorderen Abteilungen
des Schiffes, da nützten alle Schotten wenig; außer-
dem lagen sie tief unter der Wasseroberfläche, das
eiskalte Wasser (-2 Grad Celsius) schoß wie aus
Hochdruckleitungen in das Innere des Schiffes, bin-
nen einer Stunde waren vier Abteilungen vollgelau-
fen, anderthalb Stunden nach der Kollision
schwappten im vorderen Teil des Schiffes mehr als
30.000 Tonnen Wasser.
Falsch ist auch die These, daß die Zweidrittelschot-
ten der Titanic den Untergang verursacht hätten (die
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Titanic 2 327

Schotten, welche die insgesamt 16 Abteilungen der


Titanic voneinander trennten, reichten vom Kiel bis
zu zwei Drittel der Rumpfhöhe). Bei schrägliegendem
Schiff, so diese Theorie, konnte so das Wasser aus
den vollgelaufenen vorderen in nachfolgende hintere
Abteilungen überlaufen, bis die kritische Grenze
überschritten war und das Schiff unterging. Mit Voll-
statt Zweidrittelschotten wäre die Titanic demnach
schwimmfähig geblieben.
Aber auch diese These ist durch Sonaraufnahmen
widerlegt: Die fünf durch die separaten Mini-Risse
vollgelaufenen Abteilungen hätten das Vorschiff so
oder so unter die Wasseroberfläche gedrückt, da hät-
ten auch Vollschotten ihre Wirkung eingebüßt, das
Wasser wäre über das Deck auch in die unbeschädig-
ten Abteilungen gedrungen – Vollschotten hätten den
Untergang nur etwas verzögert, aber nicht verhindert.
& Lit.: R.D. Ballard: Die Suche nach der Titanic,
Nürnberg 1988; »Das unsinkbare Wrack Tita-
nic«, Titelgeschichte, Der Spiegel 20/1997; »Les
six déchirures imparables du Titanic«, Le Figaro,
13.4.1997.

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LexPI Bd. 2 Titanic 3 328

Titanic 3
Der Untergang der Titanic wurde von mehreren
Menschen vorausgesehen (s.a. ð »Nostradamus«
sowie in Band 1 ð »Todesträume«)
In einem 1898 erschienenen Roman von Morgan Ro-
bertson »The Wreck of the Titan« kollidiert ein
75.000 Tonnen großer Luxusdampfer auf seiner Jung-
fernfahrt mit einem Eisberg und sinkt; mehr als die
Hälfte der 3000 Passagiere sterben. Anfang April
1912 steht eine Mrs. Marshall vor ihrem Haus auf der
Insel Wright und sieht die Titanic Richtung Ozean
vorüberziehen, sie ruft: »Das Schiff wird nie Amerika
erreichen, es wird vorher untergehen.« Ein englischer
Geschäftsmann, die Reise schon gebucht, sieht im
Traum die Titanic kieloben im Atlantik – er annulliert
und überlebt. Und so weiter, wohl kein Ereignis, aus-
genommen die Ermordung Kennedys, ist von so viel-
en Menschen »vorhergesehen« worden wie die Kata-
strophe der Titanic.
Anders als viele glauben, beweist das aber nicht,
daß Menschen in die Zukunft sehen können; derglei-
chen »Prognosen« lassen sich auch ohne Übersinnli-
ches sehr leicht erklären. Jeden Tag z.B. träumen Dut-
zende von Menschen, daß der Papst, der Bundeskanz-
ler, der Präsident der USA ermordet werden, daß der
Kölner Dom zusammenstürzt oder daß in Oberbayern
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Titanic 3 329

ein dreiköpfiges Kalb geboren wird. Wird dann tat-


sächlich der Papst, der Bundeskanzler oder der Präsi-
dent der USA ermordet, stürzt der Kölner Dom zu-
sammen oder wird in Wildbad Kreuth ein dreiköpfi-
ges Kalb geboren, erfährt davon die ganze Welt. Wird
der Papst, der Bundeskanzler oder der Präsident der
USA dagegen nicht ermordet, bleibt der Kölner Dom
intakt und wird in Bayern kein dreiköpfiges Kalb ge-
boren, erfährt davon kein Mensch.
Seit Adam und Eva wurde fast jedes größere Ereig-
nis von irgendjemandem »vorhergesehen«, ob es nur
eintrat oder nicht, aber nur die wenigen Fälle, in
denen durch Zufall eine Übereinstimmung von Pro-
gnose und Wirklichkeit zustandekam, sind überliefert
worden, die anderen hat man vergessen, so daß der
Eindruck entsteht, gewisse Menschen könnten wirk-
lich systematisch in die Zukunft sehen. So wurde auch
der 1928er Wall-Street-Crash vorausgesehen, genau-
so wie der Reichstagsbrand (»Ich sehe Flammen, rie-
sige Flammen (...) ein schrecklicher Brand ist ausge-
brochen«, warnte Hanussen am Tag davor), das
Space-Shuttle-Desaster (»Neun werden weggeschickt,
ihr Schicksal bei der Abreise besiegelt« – Nostrada-
mus) und der Tod von Lady Di. Aber alle diese
scheinbaren Treffer sind einmal durch die Unbe-
stimmtheit der Prognose zu erklären – der bekannte
Trick von Nostradamus –, vor allem aber durch den
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Titanic 3 329

Zufall, der immer mal wieder eine zunächst noch so


unsinnige Prognose in Erfüllung gehen läßt.
& Lit.: M. Ebon: Die Titanic wird untergehen und
Kennedy getötet werden – Prophetien wurden
wahr, München 1974; W. Krämer: Denkste!
Trugschlüsse aus der Welt des Zufalls und der
Zahlen, Frankfurt a.M. 1995.

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LexPI Bd. 2 Titanic 4 329

Titanic 4
Der Untergang der Titanic war die bisher größte
Schiffskatastrophe
Die in verlorenen Menschenleben gemessen bisher
größte Schiffskatastrophe ist der alliierte Terroran-
griff auf die Wilhelm Gustloff am 31. Januar 1945:
Der mit flüchtenden Zivilisten überfüllte Kraft-durch-
Freude-Dampfer zog mehr als 6.000 Menschen mit
sich in die Tiefe, großteils Frauen und Kinder, vier-
mal soviel wie die Titanic.
& Lit.: Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund
1988.

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LexPI Bd. 1 Todesträume 307

Todesträume
Todesträume sind Zeichen übersinnlicher Wahr-
nehmung
Todesträume gelten zu Unrecht als der große Kron-
zeuge für übersinnliche Wahrnehmungen. Jemand
träumt, daß jemand anderes stirbt – und der andere
stirbt. »Einer meiner Bekannten sieht und erlebt im
Traum den plötzlichen und gewaltsamen Tod eines
Freundes, mit charakteristischen Merkmalen«,
schreibt etwa C.G. Jung. »Der Träumer befindet sich
in Europa und sein Freund in Amerika. Ein Tele-
gramm am nächsten Morgen bestätigt den Tod, und
ein Brief etwa zehn Tage später die Einzelheiten.«
Oder der Schauspieler Alec Guinness, zu Besuch in
Hollywood, bekommt das neue Auto von James Dean
gezeigt. »Ich weiß nicht wieso, aber das Auto gefällt
mir nicht«, sagt Alec Guinness zu James Dean.
»Fahre besser nicht damit. Sonst bist du nächste
Woche tot.« Und wie wir wissen, war James Dean die
nächste Woche tot.
Solche Ereignisse seien derart unwahrscheinlich, so
Jung, daß der Zufall als Erklärung ausscheide und
man nach anderen Ursachen suchen müsse, etwa den
von Jung propagierten »akausalen« oder »telepathi-
schen« Koinzidenzen, welche quasi als Verbindungs-
fenster für mehrere von Jung vermutete parallele
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Todesträume 307

Welten dienen, in denen wir Menschen, von unseren


parallelen Existenzen nichts wissend, gleichzeitig und
mehrfach existieren. So soll etwa der französische
Psychologe Dariex errechnet haben, daß die Wahr-
scheinlichkeit einer »telepathischen« Todeswahrneh-
mung nur eins zu vier Millionen betrage, woraus Jung
dann schließt, daß »die Erklärung eines derartigen
Falles als Zufall ... mehr als viermillionenmal un-
wahrscheinlicher [ist] als die ›telepathische‹, bzw. als
die akausale, sinngemäße Koinzidenz«.
Dieses Argument ist aber falsch. Selbst wenn wir
die Dariexsche Wahrscheinlichkeit einmal gelten la-
ssen, und uns auch an ihrer seltsamen Behandlung
durch Jung nicht weiter stören – diese Zahl ist kein
Beweis für Telepathie. Im Gegenteil. Wenn wir die
eins zu vier Millionen einmal so interpretieren, daß
ein Todesfall unter vier Millionen von jemand ande-
rem geträumt wird, so können wir bei neunhundert-
tausend Todesfällen jedes Jahr in Deutschland alle
vier bis fünf Jahre mit einer solchen wundersamen
Ahnung rechnen.
Vermutlich gibt es aber »wahre« Todesträume noch
viel öfter. Wenn wir einmal sehr vorsichtig schätzen,
daß jeder Bundesbürger im Durchschnitt einmal im
Leben vom Tod eines anderen, ihm oder ihr bekann-
ten Menschen träumt, kommen bei achtzig Millionen
Menschen in Deutschland pro Nacht mehr als zwei-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Todesträume 308

tausend Todesträume vor – ungefähr so viele wie tat-


sächlich Menschen sterben. Wenn wir weiter einmal
unterstellen, die Opfer in den Todesträumen wären
zufällig unter allen Bundesbürgern ausgewählt, so be-
trägt die Wahrscheinlichkeit rund acht Prozent, daß
mindestens ein Todesfall eines bestimmten Tages in
der Nacht zuvor von jemand anderem geträumt wird,
was pro Jahr an durchschnittlich dreißig Tagen zu
einer wahren Todesahnung führt.
Diese Todesahnungen sind aber ein lupenreines
Produkt des Zufalls und haben mit übersinnlichen
Wahrnehmungen oder mit irgendeiner Vorsehung
nicht das mindeste zu tun. Sie sind so häufig oder sel-
ten wie zweiköpfige Kälber, Tod durch Blitzschlag
oder Schnee im Juni – in einem konkreten Einzelfall
sehr unwahrscheinlich, aber irgendwann und irgend-
wo mit Sicherheit zu finden.
In Wahrheit sind die nur durch Zufall wahren To-
desträume vermutlich sogar noch häufiger als oben
ausgerechnet. Denn in dieser Rechnung haben wir an-
genommen, die Todesträume wären zufällig auf alle
achtzig Millionen Bundesbürger verteilt; außerdem
habe wir nur solche Träume gezählt, deren »Opfer«
gleich am nächsten Tag versterben, und weiter ange-
nommen, daß jeder Mensch im Mittel nur einmal im
Leben vom Tode eines anderen träumt. Wenn wir zu-
sätzlich noch erlauben, daß Menschen vielleicht mehr
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Todesträume 308

als einmal im Leben Todesträume haben, oder daß


Menschen in Lebensgefahr öfter in den Todesträumen
ihrer Mitmenschen auftreten als andere, und wenn wir
auch solche Todesträume mitzählen, deren »Opfer«
erst binnen einer Woche oder binnen eines Monats
nach dem Traum versterben, so werden wahre Tode-
sträume nochmals häufiger; sie werden sozusagen fast
alltäglich, so selten wie Regen im April.
& Lit.: C.G. Jung und W. Pauli: Naturerklärung und
Psyche, Zürich 1952; Walter Krämer: Denkste!
Trugschlüsse aus der Welt des Zufalls und der
Zahlen, Frankfurt 1995.

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LexPI Bd. 2 Toreros 330

Toreros
Toreros töten Stiere
Ein Torero ist jeder, der sich beim Stierkampf in der
Arena aufhält – der Picador, der mit seiner Lanze von
einem Pferd herab dem Stier in den Nacken sticht, der
Banderillero, der dem angeschlagenen Stier die klei-
nen, mit Widerhaken versehenen Spieße mit Fähn-
chen aufsetzt, und natürlich auch der Matador (von
»matar« = töten), der dem armen Tier am Schluß den
Gnadenstoß versetzt. Ein Matador ist also ein Torero,
aber nicht jeder Torero ist ein Matador.
& Lit.: Stichwort »Stierkampf« im Bertelsmann Le-
xikon, Band 9, Gütersloh 1974; Stichwort vorge-
schlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Töten 330

Töten
Die Bibel sagt: »Du sollst nicht töten«
Die Bibel sagt nichts dergleichen; sie sagt nur, daß
man nicht außerhalb des Gesetzes töten darf. »Nun
steht aber in der hebräischen Bibel das Wort ›razach‹,
das nicht jede beliebige Art zu töten meint, sondern
ausschließlich ein Töten, das außerhalb des Gesetzes
geschieht. Es kann je nach Zusammenhang ›ermor-
den‹, ›unabsichtlich töten‹ oder ›in Leidenschaft
töten‹ bedeuten. Nie wird das Verbum gebraucht für
Töten im Krieg oder für die gesetzliche Hinrichtung
von Verbrechern. Es bietet daher keine Handhabe für
die Abschaffung noch gegen die Ableistung des
Wehrdienstes.«
& Lit.: Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig über-
setzt?, Gütersloh 1989.

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LexPI Bd. 2 Totenkopf 330

Totenkopf
Piraten hatten früher einen Totenkopf auf ihrer
Flagge
Die bekannte Piratenflagge mit dem Totenkopf gibt es
nur im Kino; kein Pirat wäre je auf die Idee gekom-
men, seine Absichten der Umwelt derart deutlich mit-
zuteilen.
Die meisten »Piraten«, die in den ersten Jahrhun-
derten der transatlantischen Seefahrt die Meere verun-
sicherten, waren reiche Privatleute mit einem von
einem europäischen König ausgestellten Kaperbrief;
damit durften sie in Kriegszeiten ganz »legal« die
jeweils feindlichen Seefahrer plündern (aber nur
diese; wagte sich ein solcher Leih-Admiral an die fal-
schen Schiffe, sah er sich bald unter einem Galgen
wieder; siehe die traurige Geschichte vom Aufstieg
und Fall des Käpt'n Kidd).
Diese »Piraten« führten in der Regel die Flagge des
Ausstellers der Kaperbriefe; einer der eifrigsten Aus-
steller solcher Briefe war Österreich, der schwarze
Habsburger Doppeladler auf der Flagge gleicht von
weitem einem Totenkopf.
& Lit.: Frank T. Zumbach: William Kidd – Über
einen Erzpiraten, amerikanische Freibeuter und
korrupte Herren mit hohen Perücken, Mindelheim
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LexPI Bd. 2 Totenkopf 331

1988.

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LexPI Bd. 1 Totes Meer 309

Totes Meer
Das Tote Meer ist biologisch tot
Das Tote Meer ist gar nicht so tot; es beherbergt ver-
schiedene Mikroorganismen, die sich u.a. von Zellu-
lose ernähren, sowie Salzwasserkrabben und eine be-
stimmte Art von Fliegen, deren Eier als Futter für
Tropenfische dienen, auch Pflanzen, die sogenannten
Halophyten, die in salziger oder alkalischer Umge-
bung gedeihen.
Daneben waren lange Zeiten auch noch die folgen-
den Irrtümer zum Toten Meer im Umlauf, an die aber
heute vermutlich niemand auf der Welt mehr glaubt:
daß Ziegelsteine auf dem Toten Meer nicht unterge-
hen (falsch: das Tote Meer mit seinem Salzgehalt von
fast 30% trägt zwar besser als Süßwasser, aber Zie-
gelsteine nicht), daß Vögel beim Überfliegen des
Meeres sterben, daß das Tote Meer das Tor zur Hölle
sei (verständlich angesichts des Schwefelgestanks, der
allerdings aus ganz natürlichen Mineralquellen auf-
steigt), oder daß die am Ufer wachsenden Früchte
brennen können ohne aufzuhören.
Außerdem: Der Name »Totes Meer« kommt in der
Bibel nirgends vor; sein Schöpfer ist vermutlich der
Heilige Hieronymus (um 347 bis 420).
& Lit.: Andrew D. White: A history of the warfare
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LexPI Bd. 1 Totes Meer 309

of science with theology in christendom, London


1955; Stichwort »Death sea« in Encyclopaedia
Britannica, Chicago 1985.

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LexPI Bd. 2 Totes Meer. 331

Totes Meer
Das Tote Meer ist das salzhaltigste Gewässer auf
der Erde
Das salzhaltigste Gewässer auf der Erde ist der Assal-
See in der afrikanischen Republik Djibouti, dem vor-
mals französischen Territorium der Afar und Issar.
Sein Salzgehalt ist mit 34,8% rund zehnmal höher als
der der Ozeane und 4 Prozentpunkte höher als der des
Toten Meeres.
Der Assal-See bedeckt 54 km2 (rund das Doppelte
des Steinhuder Meeres) und liegt 174 Meter unter
Meeresspiegel; er wird hauptsächlich aus unterirdi-
schen Quellen gespeist, die wiederum ihr Wasser aus
dem nahen Indischen Ozean beziehen. Seinen hohen
Salzgehalt erzielt er vor allem durch die hohe Verdun-
stung, der das Ozeanwasser bis zum Erreichen des
Sees ausgesetzt ist. Obwohl schon vor mehr als 100
Jahren von Europäern entdeckt, ist dieses »einmalige
Naturwunder« auch heute noch fast unbekannt.
Salzgehalt ausgewählter Seen (in %)
Aralsee 1,1–1,4
Großer Salzsee (USA) 25,0–27,0
Totes Meer 28,0–31,0
Kara-Bogas-Bucht (Kasp. Meer) 29,0–34,0
Assal-See 34,8
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LexPI Bd. 2 Totes Meer. 331

& Lit.: E. Heyn: Die Rekorde der Erde: Vom


höchsten Berg zum tiefsten Graben, München
1981; Stichwort vorgeschlagen von Jürgen Klop-
penburg.

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LexPI Bd. 1 Traubenzucker 309

Traubenzucker
Traubenzucker entsteht aus Trauben
Traubenzucker (alias Glucose, C6H12O6) wird heute
vor allem aus Kartoffeln oder Mais gewonnen. Er
kommt zwar auch in Trauben vor, genauso wie in an-
deren süßen Früchten, auch in Bienenhonig und in di-
versen Wurzeln, aber nicht in solchen Mengen, daß
sich eine Großgewinnung lohnen würde.
& Lit.: Stichwort »Traubenzucker« in Brockhaus
Enzyklopädie, Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 1 Trauerkleidung 1 309

Trauerkleidung 1
Das Schwarz der Trauerkleidung steht für Trau-
er
Der Brauch, bei Trauerfeiern Schwarz zu tragen, hat
seinen Ursprung weniger darin, daß wir um die Toten
trauern, sondern darin, daß wir uns vor ihnen fürch-
ten. Getarnt durch schwarze Kleidung glaubte man,
vom Geist des Toten nicht erkannt zu werden, der
einen vielleicht verfolgen könnte. Mit anderen Wor-
ten, das Motiv für schwarze Kleider war weniger die
Trauer um den fremden Tod als die Furcht vor dem ei-
genen.
& Lit.: R. Brasch: Dreimal schwarzer Kater, Wies-
baden 1968.

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LexPI Bd. 1 Trauerkleidung 2 310

Trauerkleidung 2
Die universelle Trauerfarbe ist das Schwarz
Bei den Chinesen ist die Trauerfarbe vielfach weiß
oder rotviolett, bei den Ägyptern gelb, bei den Persern
braun, bei den Zigeunern rot.

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LexPI Bd. 2 Trauungen 332

Trauungen
Kapitäne dürfen auf hoher See Trauungen durch-
führen
Auch Kapitäne sind Gesetzen unterworfen (die Geset-
ze des Landes, unter dessen Flagge sie fahren), und in
allen zivilisierten Staaten dieser Erde, die eine Hoch-
seeflotte unterhalten, sind die Befugnisse zum Über-
führen heiratswilliger Paare in den Stand der Ehe den
eigens dafür eingesetzten Staatsvertretern vorbehal-
ten.
In Deutschland sagt Paragraph 11 des Gesetzes
über die Eheschließung klipp und klar: »Eine Ehe
kommt nur zustande, wenn die Eheschließung vor
einem Standesbeamten stattgefunden hat.« Ausnah-
men sind nicht vorgesehen, ein Kapitän, der nebenbei
auch Ehen schließt, muß zugleich auch Standesbeam-
ter sein. Nur deshalb, weil zugleich auch anerkannter
Standesbeamter, durfte etwa der Kapitän des schwedi-
schen Kreuzfahrtschiffes Nils Holgersson auch Ehen
schließen; auch deutsche Paare haben sich von ihm
rechtsgültig trauen lassen. Aber seit 1993 fahren die
Schiffe dieser Gesellschaft unter deutscher Flagge,
seitdem hat es mit dem Zweitberuf des Kapitäns ein
Ende.
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's? Kapitäne
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LexPI Bd. 2 Trauungen 332

dürfen auf hoher See Trauungen durchführen«,


Die Zeit, 5.9.1997; Stichwort vorgeschlagen von
Christian Kleiber.

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LexPI Bd. 2 Treibendes Boot 332

Treibendes Boot
Ein auf einem Fluß treibendes Boot bewegt sich
genauso schnell wie das Wasser
Ein Boot, das man flußabwärts ohne Anschub treiben
läßt, bewegt sich etwas schneller als das Wasser, in
dem es schwimmt. Das Flußwasser stößt durch sein
Gewicht auf Widerstand an Grund und Ufer, und die-
ser Widerstand ist erheblich größer als der, den das
Boot durch das Wasser erfährt – beide werden auf
ihrer Rutschfahrt Richtung Meer gebremst, das Was-
ser aber stärker als das Boot.
& Stichwort vorgeschlagen von Werner Helbig.

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LexPI Bd. 2 Trockenreinigung 333

Trockenreinigung
Bei der chemischen »Trockenreinigung« werden
Textilien trocken gereinigt
Bei einer sogenannten Trockenreinigung bleiben Tex-
tilien alles andere als trocken. Sie werden in einer mit
Flüssigkeit gefüllten Trommel hin- und hergeschleu-
dert wie in unserer eigenen Waschmaschine. Der ein-
zige Unterschied ist, in unserer eigenen Waschma-
schine besteht diese Flüssigkeit aus Waschpulver und
Wasser, bei der »Trockenreinigung« aus anderen Lö-
sungsmitteln wie etwa Tetrachlorethen. Aber naß wird
unsere Wäsche so oder so.

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LexPI Bd. 2 Troja 333

Troja
Der Trojanische Krieg ist eine Erfindung von
Homer (s.a. ð »Priamos«)
Nach dem letzten Stand der archäologischen For-
schung war die Stadt Troja zur Zeit des von Homer
geschilderten Trojanischen Krieges, also um 1180 v.
Chr., tatsächlich der Schauplatz eines von einer
Brandkatastrophe gefolgten verheerenden Krieges.
Falsch ist allerdings, daß auch der von Heinrich
Schliemann gefundene »Schatz des Priamos« aus die-
sen Zeiten stammt – die Schuttschicht, aus der Schlie-
mann diese Schätze ausgrub, ist rund 1000 Jahre
älter.
& Lit.: Brigitte Brandauer: Troja – Eine Stadt und
ihr Mythos, Bergisch Gladbach 1997.

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LexPI Bd. 2 Truman 333

Truman
Der volle Name dieses amerikanischen Präsiden-
ten ist Harry S. Truman
Trumans Eltern nannten ihren Sohn Harry nach einem
Onkel gleichen Namens, konnten sich aber nicht ent-
scheiden, welchem der beiden Großväter – Anderson
Shipp Truman väterlicherseits oder Solomon Young
mütterlicherseits – sie die Ehre des zweiten Vorna-
mens erweisen sollten. Als Kompromiß wählten sie
ein »S«; es steht für keinen bestimmten Namen, ist
daher keine Abkürzung und bekommt daher auch kei-
nen Punkt.
& Lit.: R.E. Ferrell: Truman, New York 1984.

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LexPI Bd. 2 Tschernobyl 1 334

Tschernobyl 1
Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl war der
bisher größte Nuklearunfall
Fast 20 Jahre vor Tschernobyl, am 20. September
1957, ist im südlichen Ural ein Tank mit 80 Tonnen
radioaktiver Abfälle explodiert; dabei wurde Radioak-
tivität im Umfang von 20 Millionen Curie, ein Mehr-
faches der Tschernobyler Menge, freigesetzt. Der
größte Teil ging auf dem Gelände der Nuklearanlage
selber nieder, der Rest wurde von dem gerade wehen-
den Südwestwind über einen 300 Kilometer langen
und 70 Kilometer breiten Streifen Landes – die soge-
nannte »Uralspur« – ausgestreut; bis heute ist diese
militärisch überwacht und abgesperrt.
Von diesem Unfall erfuhr der Rest der Welt erst
1990. Daß er solange verborgen bleiben konnte, liegt
einmal an der Windrichtung – die nahegelegene Stadt
Osjorsk lag in Lee des Windes, die Bürger konnten
wohnen bleiben –, dann an der dünnen Besiedelung
des Landes – auf den 20.000 Quadratkilometern der
»Uralspur« lebten kaum 10.000 Menschen, die ohne
großes Aufsehen umgesiedelt wurden – und schließ-
lich an der notorischen Fähigkeit von Diktaturen, un-
angenehme Dinge geheimzuhalten. Die Nuklearanlage
und die Stadt Osjorsk waren auf keiner Landkarte zu
finden, noch 1990, als man das Unglück selber schon
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LexPI Bd. 2 Tschernobyl 1 334

regierungsamtlich zugegeben hatte, verschwieg man


immer noch den wahren Standort des Desasters.
& Lit.: »Tschernobyl war nicht der größte Nuklea-
runfall«, Die Welt, 10.7.1997; »Strahlenbiologi-
sches Archiv im Ural«, Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 6.8.1997; Roland H. Knauer: »Atomares
Leuchtfeuer im Ural«, Hannoversche Allgemeine
Zeitung, Wochenendbeilage, 7.3.1998.

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LexPI Bd. 2 Tschernobyl 2 334

Tschernobyl 2
Der Nuklearunfall von Tschernobyl hat die Men-
schen bis weit über die Ukraine gesundheitlich
gefährdet (s.a. ð »Leukämie« sowie in Band 1 ð
»Radioaktivität«)
Die radioaktive Belastung, die aus der Ukraine bis
nach Deutschland kam, lag zu keinem Zeitpunkt nen-
nenswert über dem, was wir nolens volens über radio-
aktive Mineralien in unserem Essen, über Edelgase
(Radon) oder über Höhenstrahlung mitbekommen.
Die mittlere Strahlendosis, die ein Mensch in
Deutschland derzeit jährlich im wahrsten Sinne »von
Natur aus« einfängt, liegt bei 200 Millirem pro Jahr,
in manchen Mittelgebirgs- und Voralpenregionen
etwas höher, an der Nord- und Ostseeküste etwas
niedriger. Dazu kommen noch mehrere Dutzend Mil-
lirem pro Jahr durch Röntgenstrahlen, plus ein bis
zwei Millirem pro Jahr durch Kernkraftwerke, macht
in 80 Lebensjahren rund 24.000 Millirem.
Verglichen mit diesen Belastungen sind die unfall-
bedingten Strahlenbelastungen nach Tschernobyl für
die Bewohner Deutschlands unbedeutend. Ein 1986
geborenes Baby empfängt über das ganze Leben ge-
rechnet je nach Wohnort zwischen 1000 und 4000 zu-
sätzliche Millirem. Wer seine Kinder vor solchen
Strahlendosen schützen möchte, braucht nur auf eine
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LexPI Bd. 2 Tschernobyl 2 335

Urlaubsreise mit dem Flugzeug zu verzichten (Höhen-


strahlung) oder darauf, sie öfter als nötig zum Bierho-
len in den Keller zu schicken (Radon). Über Tscher-
nobyl muß er oder sie sich keine Sorgen machen.
Dito war auch die nach Tschernobyl durch die Hy-
sterie der Medien ausgelöste »größte Vernichtungsak-
tion von Nahrungs- und Futtermitteln in der deut-
schen Geschichte« inkonsequent und überflüssig. Von
Ausnahmen wie gewissen Pilzen oder Wildbret abge-
sehen, blieb die Strahlenbelastung deutscher Lebens-
mittel in aller Regel weit unterhalb der Grenzen, ab
der für die Gesundheit wirkliche Gefahren drohen,
und als das Umweltministerium in Hessen nach
Tschernobyl als zulässige Grenze für radioaktive
Strahlung in der Milch den Wert von 20 Becquerel
bestimmte, lag dieser bei einem Fünftel des Wertes,
der durch natürlich radioaktives Kalium ohnehin in
jedem Liter Milch enthalten ist.
& Lit.: »Wo die Erde strahlt«, Test 4/1994; B. Mül-
ler-Ullrich: Medienmärchen – Gesinnungstäter im
Journalismus, Köln 1996 (besonders das Kapitel
»Tschernobyl – Der Medien Gau«); »10 Jahre
nach Tschernobyl«, Berichte der Strahlenschutz-
kommission des Bundesministeriums für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, Heft 4/1996.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Tschernobyl 3 335

Tschernobyl 3
In den ersten 8 Jahren nach Tschernobyl gab es
in der Ukraine 120.000 Strahlentote
So war vielerorts zum 9. Jahrestag des Unfalls zu
hören und zu lesen. In Wahrheit hatte das ukrainische
Gesundheitsministerium 1995 folgendes gemeldet:
»Die Gesamtzahl der Todesfälle unter der am meisten
vom Tschernobylunfall betroffenen Bevölkerung be-
trug mehr als 125.000 in den Jahren 1988 bis 1994.«
Wie Nachfragen in Kiew ergeben haben, zählen die
Behörden der Ukraine zu den »am meisten betroffe-
nen« rund 2 Millionen ihrer 50 Millionen Bürger. Bei
einer Sterberate von 1% pro Jahr (das ist der deutsche
Durchschnitt) sind also in sieben Jahren 7 x 20.000 =
140.000 »natürliche« Todesfälle zu erwarten, 15.000
mehr als ohnehin gemeldet – der Unfall hätte dem-
nach die Todesraten sogar abgemildert.
& Lit.: A.M. Kellerer: »10 Jahre nach Tschernobyl:
Erwartete und beobachtete gesundheitliche Effek-
te in der GUS«, Elektrizitätswirtschaft 95, 1996,
S. 1111–1117.

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LexPI Bd. 1 Tulpen 310

Tulpen
Tulpen kommen aus Holland
Tulpen gehören zu Holland wie Käse, Holzschuhe
und Windmühlen. Darüber wird dann oft vergessen,
daß diese Blumen nicht holländischen, sondern türki-
schen Ursprungs sind. Der Name kommt von »Tuli-
band« = türkisch für Turban, weil die Blüte an einen
Turban erinnert. Erst im 16. Jahrhundert haben die
Tulpen den Weg vom Bosporus an die Nordsee ge-
funden, wo sie dann sehr schnell sehr populär gewor-
den sind und seither als geistiges Eigentum der Nie-
derländer gelten.
& Lit.: Robert S. Lemmon und Charles L. Sherman:
Flowers of the world, New York 1958.

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LexPI Bd. 2 Tunnel 336

Tunnel
Der Kanaltunnel zwischen Frankreich und Eng-
land ist der längste Eisenbahntunnel der Welt
Der längste Eisenbahntunnel der Welt ist der 1988
eingeweihte, die Inseln Honshu und Hokkaido verbin-
dende Saikan-Tunnel in Japan; er ist 54 km lang, der
Eurotunnel unter dem Ärmelkanal ist 4 km kürzer.
(Zum Vergleich: Der längste Eisenbahntunnel
Deutschlands, südlich Fulda auf der Neubaustrecke
Hannover-Würzburg, mißt 11 km, der längste öster-
reichische Eisenbahntunnel, der Inntaltunnel bei
Innsbruck, mißt 13 km, und der längste Eisenbahn-
tunnel der Schweiz, der Furka-Basistunnel, 15 km.)
Die längsten Straßentunnel führen durch den St.
Gotthard in der Schweiz (16 km) und durch den Arl-
berg in Österreich (14 km). Der längste Tunnel welt-
weit überhaupt führt weder Autos noch Züge, sondern
Wasser: der 4 m breite, von 1937 bis 1944 gebaute
New-York-City und West-Delaware Wasserversor-
gungstunnel; er ist 169 km lang.
& Lit.: H. Saitz: Tunnel der Welt – Welt der Tun-
nel, Berlin 1988; Das Neue Guinness Buch der
Rekorde, Berlin 1996.

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LexPI Bd. 2 Türken 337

Türken
»Einen Türken bauen« bezieht sich auf eine Cha-
raktereigenschaft von Türken
»Einen Türken bauen« bzw. »etwas türken« hat seine
Wurzel weniger in türkischen als in deutschen Defizi-
ten. Bei der Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals 1895
wurden alle anwesenden Schiffe mit der zugehörigen
Nationalhymne begrüßt; als unerwartet auch ein türki-
sches Schiff erschien, fehlten der Musikkapelle die
Noten und man spielte statt dessen »Guter Mond, du
stehst so stille«. So kam die Rede von dem »Türken
bauen« in die deutsche Sprache.
Parallel und unabhängig davon könnte diese Re-
densart auch durch einen von dem Baron Wolfgang
von Kempelen (1734–1804) gebauten Schachautoma-
ten entstanden sein. Dieser Automat, eine Art Kom-
mode mit einer angebauten, türkisch gekleideten le-
bensgroßen Puppe, gewann fast alle Spiele, aber nicht
durch Magie und Zauberei, sondern weil sich in der
Kommode ein Schachmeister versteckt hielt, der
durch Magneten im Boden der Figuren die aktuelle
Spielposition erkennen konnte und über Hebel seine
eigenen Figuren bewegte.
& Lit.: http://www.snafu.de/~tilamn/zauber/
zt hist.html; Stichwort vorgeschlagen von Franz
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LexPI Bd. 2 Türken 337

Kajuth.

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LexPI Bd. 2 Türkisches Bad 337

Türkisches Bad
Das »türkische Bad« ist eine Erfindung der Tür-
ken
Das türkische Bad – große Heißwasserbecken in ge-
kachelten Räumen inklusive »Schwitzzellen« – gab es
schon im alten Griechenland. Von dort haben die
Römer diese Sitte übernommen, und von diesen dann
die Türken. Daß man heute nur noch von »türkischen
Bädern« spricht, liegt einmal daran, daß die Türken
als gläubige Moslems das Reinigen und Baden äu-
ßerst wichtig nahmen und einen regelrechten Kult
darum entfalteten, zum anderen daran, daß während
der großen Orient-Begeisterung, die Mitte des 19.
Jahrhunderts die europäischen Intellektuellen erfaßt
hatte, die türkischen Badesitten als großes Vorbild
galten und man auch in Paris, Berlin und London
»türkische« Bäder bauen wollte. Und als dann auch
noch der bekannte Maler Ingres 1865 sein Hauptwerk
»Das türkische Bad«, bekannt wegen seiner »unüber-
sehbaren Menge unbekleideter Frauen«, dem
schockierten Publikum enthüllte, war diese Art von
Badeanstalt ein für allemal mit der Türkei verknüpft.
& Lit.: E. Brödner: Die römischen Thermen und das
antike Badewesen, 2. Auflage, Darmstadt 1992;
http://hcgl1.eng.ohio-state.edu/~hoz/bath.html.
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LexPI Bd. 2 Tyrannosaurus Rex 338

Tyrannosaurus Rex
Der Tyrannosaurus Rex war ein Fleischfresser
und Mörder
Stimmt nur halb. Der Tyrannosaurus Rex – für viele
der Inbegriff des Dinosauriers überhaupt – war zwar
ein Fleischfresser, aber, wenn wir modernen Paläonto-
logen glauben dürfen, doch kein Mörder. Er lebte
vielmehr von dem Fleisch von lange vorher toten Tie-
ren – auf gut deutsch also von Aas. Zumindest wird
diese für die weitere Hollywood-Karriere des Tyran-
nen wenig günstige Theorie von immer mehr Paläon-
tologen heute vorgetragen. Der Tyrannosaurus wäre
für das Jagen ungünstig gebaut gewesen: kleine Arme
(schlecht zum Greifen), dicke Hinterbeine (schlecht
zum Laufen), kleine Augen (schlecht zum Sehen) – er
hätte mit dieser Ausrüstung große Probleme gehabt,
einen anderen Dinosaurier oder überhaupt ein großes
Tier zu fangen.
& Lit.: »Dinosaur dentist detective«, The Econo-
mist, 24.8.1996.

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LexPI Bd. 1 Überalterung 311

Überalterung
Vor allem das Altern der Bevölkerung treibt die
Kosten im Gesundheitswesen in die Höhe
Die Menschen in den westlichen Industrienationen
werden im Durchschnitt immer älter, und ihre Kran-
kenkassen immer teurer. Daraus ziehen viele dann den
Schluß, das eine wäre die Ursache für das andere, und
dieser Schluß ist falsch.
Richtig ist, daß in fast allen Ländern dieser Erde
ein überproportionaler Anteil der Gesundheitsgelder
für ältere Menschen ausgegeben wird, in Deutschland
etwa pro Kopf fünfmal mehr für Menschen über 65,
verglichen mit Menschen unter 25, und dieser Mehr-
verbrauch nimmt mit wachsendem Alter weiter zu.
Aber diese Kostenprogression im Lauf des Lebens
gab es immer schon; die sogenannten Altersprofile
der Ausgaben für ambulante Behandlung oder Medi-
kamente von 1960 und von heute gleichen sich fast
bis aufs Haar, nur daß die absoluten Kosten heute
höher sind. Und damit kann die überproportionale
Kostenbelastung durch alte Menschen allein die abso-
lute Höhe der Gesundheitsausgaben in einer gegebe-
nen Rechnungsperiode, nicht aber deren Wachstum
im Zeitverlauf erklären. Hält man die sogenannte »al-
tersspezifische Morbidität« und den Stand der Medi-
zin konstant, geht vielmehr nur ein sehr kleiner Teil
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Überalterung 311

der vergangenen und künftigen Ausgabensteigerungen


auf die Altersverschiebung der Bevölkerung zurück.
Lefelmann und Borchert (1983) etwa beziffern den al-
lein durch demographische Faktoren bedingten Aus-
gabenanstieg der realen bundesdeutschen Pro-Kopf-
Gesundheitsausgaben von 1980 bis zum Jahr 2000
auf weniger als 6 Prozent. Soviel verursachen andere
Faktoren, in erster Linie der medizinische Fortschritt,
in einem Zehntel dieser Zeit, und auch in vielen ande-
ren Untersuchungen entpuppen sich die Ausgabenzu-
wächse im Gesundheitswesen als eher unsensibel
gegen die Alterspyramide der Bevölkerung.
Die Betonung liegt dabei auf Ausgabenzuwächse.
Mag die absolute Höhe der Gesundheitsausgaben in
einer gegebenen Rechnungsperiode auch durchaus den
alten Menschen zuzurechnen sein, mit deren Wach-
stum im Zeitablauf haben sie nichts bzw. nur am
Rand zu tun.
& Lit.: B. Camphausen (1983): Auswirkungen de-
mographischer Prozesse auf die Berufe und die
Kosten im Gesundheitswesen, Berlin 1983; G.
Lefelmann und G. Borchert: »Bevölkerungsent-
wicklung und Krankheitskosten«, Sozialer Fort-
schritt, 1983, 173–175; G. Pedroni und P. Zwei-
fel: Alter-Gesundheit-Gesundheitskosten, Basel
1989.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Übergewicht 312

Übergewicht
Übergewicht ist ungesund (s.a. ð »Diät« und ð
»Essen«)
»Fettsucht ist tödlicher als Krebs« schreibt ein deut-
sches Gesundheitsmagazin. Und das amerikanische
»National Institute of Health« hat sogar beschlossen,
jedwedes Übergewicht als Krankheit anzusehen: jedes
Pfund zuviel, ob 5 oder 50, schade der Gesundheit
und sei besser abzubauen.
Diese Diagnose ist jedoch aus mehreren Gründen
bedenklich und vermutlich falsch. Zunächst hängt sie
offenbar entscheidend davon ab, wo das Normalge-
wicht aufhört und das Übergewicht anfängt, und das
ist alles andere als klar. So hat etwa das Idealgewicht
(»desirable Weight«, etwa zu verstehen als das Kör-
pergewicht, welches die Restlebenserwartung maxi-
miert), auf das amerikanische Ärzte ihre Überge-
wichts-Diagnose gründen, in den letzten 30 Jahren
um mehrere Kilo zugenommen, und auch die Brigitte-
Formel »Größe minus 100 minus 10%« (bei Män-
nern) bzw. »Größe minus 100 minus 15%« (bei Frau-
en) ist viel zu grob. Außer Körpergröße und Ge-
schlecht wirken nämlich noch viele andere Faktoren
wie Alter, Erbanlagen und Stoffwechsel-Besonderhei-
ten auf das Idealgewicht, und wenn alle diese zusätz-
lichen Determinanten in die Rechnung einbezogen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Übergewicht 312

werden, reicht der Rahmen möglicher Idealgewichte


so weit – bei einer 158 cm großen Frau etwa von 51
bis 67 Kilogramm –, daß er schon wieder nutzlos ist.
Aber auch abseits dieser Definitions- und Meßpro-
bleme gehört die Diagnose »Übergewicht = krank«
als »bedauerliche Fehlinformation auf den großen
Müllhaufen der ärztlichen Irrtümer gekehrt« (Der
Spiegel). Denn eine weitere Quelle dieser »Fehlinfor-
mation« ist die Falle »Korrelation = Kausalität«, die
auch schon verschiedene andere in diesem Buch auf-
gelistete Irrtümer auf dem Gewissen hat und die auch
bei dem Schluß von Übergewicht auf Krankheit nicht
immer ausgeschaltet worden ist: Dicke Menschen lei-
den öfter als andere an Diabetes, Bluthochdruck,
Herz-Kreislaufbeschwerden, Krebs, Arthritis, etc.,
ergo muß Übergewicht der Grund für diese Übel sein.
Dieser Schluß ist aber nicht notwendig richtig.
Schließlich glauben wir ja auch nicht, nur weil Män-
ner mit Glatzen nachweislich höhere Einkommen
haben als Männer ohne Glatze, daß man durch Kahl-
rasieren des Kopfes sein Einkommen erhöhen könne
(und genausowenig, daß vom Geldverdienen die
Haare ausfallen). Vielmehr hängen sowohl Einkom-
men wie Haarpracht von einer dritten Variablen, dem
Lebensalter ab (mit dem Alter werden die Kopfhaare
im allgemeinen weniger und die Einkommen größer),
und genauso könnte zumindest ein Teil der positiven
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Übergewicht 313

Korrelation von Körpergewicht und Krankheit auf


eine gemeinsame dritte Ursache zurückzuführen sein.
So ist etwa seit langem bekannt, daß Übergewicht vor
allem ein Problem der unteren sozialen Schichten ist,
und in dem Umfang, wie man hier z.B. auch mehr
raucht, muß die positive Korrelation zwischen Über-
gewicht und Krebs durchaus nicht die Schuld des
Übergewichtes sein. Vielmehr sind beide eine Folge
der dritten Variablen »soziale Klasse«. Ein überge-
wichtiger Raucher, der weniger ißt, um sein Krebsri-
siko zu senken, hätte damit die gleichen Erfolgsaus-
sichten wie eine unterbezahlter Angestellter, der sich
zur Erhöhung des Einkommens die Haare abrasiert.
Aber selbst die einfache Korrelation zwischen
Übergewicht und Krankheit ist durchaus nicht so ge-
sichert wie die Damen und Herren vom National In-
stitute of Health uns glauben machen wollen. Wie so
oft gibt es auch hier für fast jede Studie, die eine posi-
tive Korrelation zwischen Übergewicht und anderen
Krankheiten feststellt, eine andere mit dem gegenteili-
gen Ergebnis. So leiden mäßig Übergewichtige nach
deutschen Krankheits- und Sterbestatistiken seltener
als Dünne an Magen- oder Darmgeschwüren; sie
bringen sich auch nicht so häufig selber um. Gordon
und Doyle (1988) fanden sogar heraus, daß Männer
mit 10 kg Übergewicht nicht kürzer sondern länger
leben als Zeitgenossen mit dem sogenannten »Ideal-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Übergewicht 313

gewicht«, und wenn es stimmt, wie andere Forschun-


gen an der Rockefeller Universität in New York erge-
ben haben, daß vor allem Übergewichtige mit abnor-
malen Fettzellen durch Abnehmen gesünder werden,
Übergewichtige mit »normalen« Fettzellen dagegen
durch Abnehmen der Gesundheit eher schaden, liegt
hier nicht nur eine Korrelation, sondern sogar eine
Kausalbeziehung vor.
Abgesehen von den rund 5 Prozent aller deutschen
Erwachsenen, die so übergewichtig (»adipös«) sind,
daß ihre Gesundheit wirklich leidet, können also die
meisten Übergewichtigen hierzulande ruhig schlafen.
Denn das eigentliche Ziel dieses Kreuzzugs gegen un-
sere Gürtellinie sind nicht unsere Fettzellen, sondern
unsere Freiheit und unser Geldbeutel. Mit Gesundheit
hat das alles nur am Rand zu tun. Solange »die Indi-
zien, daß etwas Fett zuviel der Gesundheit schadet,
nur sehr dünn und für geringes Übergewicht sogar nur
eingebildet sind« (Skrabanek und McCormick), muß
kein Dicker sich davon die gute Laune stören lassen.
& Lit.: G. Kolata: »Obesity declared a disease«,
Science, vol 227, 1985, S. 1019–1020, und
»Why do people get fat?«, Science, vol 227,
1985, S. 1327–1328; »Schrei aus der Tiefe des
Bauches«, Der Spiegel 15/1985, S. 36–52; T.
Gordon und S.T. Doyle: »Weight and mortality in
men: the Albany study«, International Journal of
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Übergewicht 314

Epidemiology 17, 1988, S. 77–81; P. Skrabanek


und J. McCormick: Torheiten und Trugschlüsse
in der Medizin, Mainz 1991.

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U 314

»Zwischen der sozialistischen DDR und der


imperialistischen BRD gibt es keine Einheit und
kann es keine Einheit geben. Das ist so sicher
und so klar wie die Tatsache, daß der Regen zur
Erde fällt und nicht zu den Wolken
hinauffließt.«
Erich Honecker

»Die gefährlichsten Unwahrheiten sind


Wahrheiten, mäßig entstellt.«
Georg Christoph Lichtenberg

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LexPI Bd. 2 UFOs 339

UFOs
Es gibt noch immer viele unbekannte Flugobjekte
Die meisten UFOs sind schon lange als Heißluftball-
ons, Discostrahler, Satelliten oder Polizeihubschrau-
ber entlarvt. Aber dennoch hat sich bis vor kurzem
ein Bodensatz von immer noch »Unidentifizierten
Fliegenden Objekten« hartnäckig gehalten.
Nun sind auch diese aufgeklärt: Es sind amerikani-
sche Spionageflugzeuge, wie der CIA enthüllt. Die le-
gendäre U-2 z.B. mit ihrer silbern glänzenden (später
schwarzen) Außenhaut, die mehr als doppelt so hoch
flog wie die meisten zivilen Verkehrsflugzeuge ihrer
Zeit, war für deren Passagiere und Piloten ein uner-
klärlicher Feuerball hoch im Himmel; mehr als die
Hälfte aller in den späten 50er und frühen 60er Jahren
gemeldeten UFOs waren in Wahrheit Aufklärungsflü-
ge der U-2.
& Lit.: »Außerirdische Besucher als Spionageflug-
zeuge enttarnt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung,
7.8.1997.

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LexPI Bd. 2 Uhrwerk 339

Uhrwerk
Man kann mechanische Uhrwerke beim Aufzie-
hen »überdrehen«
»Oft kommen Kunden mit mechanischen Uhren in
unser Geschäft«, schreibt unsere Gewährsfrau Susan-
ne Brühl, von Beruf Uhrmacherin, »und behaupten,
die Uhr beim Aufziehen überdreht zu haben.« In
Wahrheit kann man eine Uhrwerksfeder niemals über-
drehen. »Die Feder liegt in einem sogenannten Feder-
haus und hat eine Anfangs- und Endöse. Diese Ösen
sind aus gehärtetem Stahl. Um eine Feder zu überzie-
hen, müßte man die Ösen durch das Aufziehen zum
Brechen bringen, was so gut wie unmöglich ist«,
schreibt Frau Brühl. Wenn die Uhr nicht anläuft, dann
wegen der Verschmutzung; wenn man das Uhrwerk
reinigt, läuft die Uhr auch ohne neue Feder.
& Stichwort vorgeschlagen von Susanne Brühl.

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LexPI Bd. 1 Umfragen 314

Umfragen
Zu heiklen Themen können Umfragen nur falsche
Resultate liefern
Mittels moderner Interviewmethoden, den sogenann-
ten »randomized response«-Techniken, kann man
heute den Befragten auch peinliche Wahrheiten ent-
locken. Wieviele Eltern schlagen ihre Kinder? Wie-
viele Bundesbürger sind dem Alkohol verfallen? Wie-
viele Frauen betrügen ihre Männer? Auf solche und
verwandte Fragen geben wir bei der folgenden Proze-
dur viel lieber als bei einer direkten Frage eine wahre
Antwort: Der oder die Interviewte wählt zufällig und
hinter dem Rücken des Interviewers aus mehreren
Fragen eine aus. Nur eine der Fragen ist von eigentli-
chem Interesse, die übrigen sind harmlos, etwa
»Trinken sie lieber Tee als Kaffee?« oder »Waren Sie
schon einmal in Italien?«. Der Interviewer weiß nicht,
auf welche Fragen der oder die Befragte antwortet; er
weiß nur: mit Wahrscheinlichkeit so und so antwortet
er oder sie auf die erste Frage, mit Wahrscheinlichkeit
so-und-so auf die zweite Frage, und so weiter. Daraus
kann man dann mit Methoden, die uns hier nicht wei-
ter interessieren, auf die gesamten »Ja-Quoten« bei
den Einzelfragen rückschließen; auch wenn im Ein-
zelfall nur die Befrager selber die Fragen zu den Ant-
worten kennen, und auch wenn diese Fragen nicht den
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Umfragen 314

Befragten zugeordnet werden können, das Kollektiv-


verhalten läßt sich trotzdem aus den Antworten mit
großer Sicherheit ermitteln.
So geben etwa in den USA bei direkter Befragung
3,5 Prozent der Eltern zu, ihre Kinder zu schlagen,
verglichen mit 15 Prozent bei randomized response.
Und bei der Frage »Wieviele Drinks genehmigen Sie
sich in der Woche?« steigt die Zahl von durchschnitt-
lich 3,9 bei direkter Befragung auf 8,7 bei randomi-
zed response.
& Lit.: S. Schneider, Optimale Designs für randomi-
zed response. Dortmund 1995.

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LexPI Bd. 2 Umfragen. 340

Umfragen
Meinungsumfragen geben unsere Meinung wie-
der
Die meisten Meinungsumfragen geben vor allem die
Meinung der Fragesteller wieder. Nach einer Umfrage
der IG Metall z.B. lehnen 95% aller bundesdeutschen
Arbeitnehmer das Arbeiten am Samstag ab. Nach
einer zeitgleichen Umfrage des Offenbacher Marplan-
Instituts dagegen würden 72% aller bundesdeutschen
Arbeitnehmer gern auch samstags arbeiten, wenn man
sie nur ließe. In beiden Umfragen waren die Ergebnis-
se schon im Fragebogen eingebaut, man hätte sich die
Fragerei auch sparen können.
»Votum für das freie Wochenende«, steht bei dem
ersten Fragebogen obenan. »Die Gewerkschaften
haben die 5-Tage-Woche von montags bis freitags in
den fünfziger/sechziger Jahren durchgesetzt (...). Da-
durch sind für alle zusätzliche Möglichkeiten gemein-
samer Freizeitgestaltung entstanden, an die wir uns
gewöhnt haben. Was entspricht Deiner/Ihrer Mei-
nung?« Und dann folgen diese Auswahlmöglichkei-
ten:
Nach meiner Ansicht wäre die Abschaffung des
freien Wochenendes ein schwerer Schlag für Fami-
lie, Freundschaften, Partnerschaften, für Gesellig-
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LexPI Bd. 2 Umfragen. 340

keit, Vereine, den Sport und das Kulturleben (1)


Ich halte den gemeinsamen Freizeitraum des Wo-
chenendes für nicht so wichtig. Seine Abschaffung
würde zur besseren Auslastung der Freizeit- und
Verkehrseinrichtungen führen (2)
Weiß nicht/keine Angabe (3)
Genauso ist auch zum Stichwort »Der Samstag«
die Antwort gleich mit eingebaut: »Die Arbeitgeber
und manche Politiker wollen vor allem den Samstag
wieder zum normalen Arbeitstag machen«, heißt es
hier. »Wie wäre das, wenn Du/Sie regelmäßig am
Samstag arbeiten müßtest/müßten? Würde mir nichts
ausmachen (1) Wäre Verlust an Lebensqualität (2)«.
Die 95% aller Stimmen für Alternative 2 überraschen
hier niemanden. Viel eher sollte schon bedenklich
stimmen, daß trotz dieses ideologischen Trommelfeu-
ers immerhin noch 5% aller Befragten ihr Kreuz dort
markierten, wo es für einen Gewerkschafter eigentlich
nicht hingehört.
Genauso suggestiv, wenn auch mit umgekehrter
Absicht, fragt auch das Marplan-Institut. Auf die
Frage »Inwieweit wären Sie bereit, samstags zu arbei-
ten, wenn es für die wirtschaftliche Situation Ihres
Unternehmens gut wäre?« bietet es folgende Antwor-
ten an:
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Umfragen. 341

– Gelegentlich, wenn dafür an einem anderen Tag ar-


beitsfrei ist
– Häufiger, an mehreren Samstagen (etwa 8–12mal
jährlich, wenn dafür ein Zusatzurlaub von mehrer-
en zusammenhängenden Tagen herauskommt)
– Abwechselnd, einmal die Woche 6 Tage lang, also
einschließlich Samstag, und in der nächsten Woche
4 Tage, so daß Sie in dieser Woche ein »Drei-
Tage-Wochenende« haben.
– Nein, nicht bereit
Genauso wie die IG Metall nur die schlechten Seiten
sieht, werden hier die Vorteile herausgestellt, als gälte
es allein, aus einem Kuchen die größte Rosine
herauszupicken. Außerdem wird die Ablehnung der
Samstagsarbeit durch den Zusatz »wenn es für die
wirtschaftliche Situation Ihres Unternehmens gut
wäre« schon in die Nähe von Wirtschaftssabotage ge-
rückt, so daß auch hier die gewünschte Antwort –
72% für Samstagsarbeit – keinen überrascht.
& Lit.: W. Krämer: So lügt man mit Statistik, 7.
Auflage, Frankfurt a.M. 1997.

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LexPI Bd. 2 Umweltverschmutzung 1 341

Umweltverschmutzung 1
Umweltverschmutzung ist ein Produkt der neu-
zeitlichen Industrialisierung
Auf dem Boden schwedischer Seen oder tief im Eis
von Grönland kann man noch heute Bleirückstände
finden, die bei antiken Schmelzprozessen, wie sie
etwa in Griechenland und Rom für die Herstellung
von Silbermünzen üblich waren, angefallen sind.
»Einen Höhepunkt erreichte die antike Umweltver-
schmutzung vor etwa 2000 Jahren, als das römische
Imperium seine größte Ausdehnung hatte. Insgesamt
ist die aus frühen Zeiten stammende Bleiverseuchung
mindestens ebenso groß wie jene, die durch das Indu-
striezeitalter verursacht wurde.«
& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987; »Griechen und Römer ver-
seuchten die Umwelt mit Blei«, Welt am Sonntag
17/1994; Brockhaus – Wie es nicht im Lexikon
steht, Mannheim 1996.

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LexPI Bd. 2 Umweltverschmutzung 2 342

Umweltverschmutzung 2
Erst im 20. Jahrhundert begann man, Umwelt-
schäden durch Gesetze zu bekämpfen
Das erste bekannte Gesetz gegen Luftverschmutzung
stammt von 1382, da stellte der französische König
Karl VI. die Freisetzung »übelriechender Gase« unter
Strafe.
& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987.

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LexPI Bd. 1 Unabhängigkeitserklärung 315

Unabhängigkeitserklärung
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ge-
schah am 4. Juli 1776
Mit ihrer berühmten Unabhängigkeitserklärung sag-
ten sich dreizehn britische Kolonien in Nordamerika
von England los, aber nicht wie allgemein geglaubt
am 4. Juli 1776.
In Wahrheit wurde der Abfall von England schon
zwei Tage früher von den Mitgliedern des sogenann-
ten »2. Kontinentalkongresses« beschlossen. Den Tag
darauf wurde diese Erklärung in verschiedenen Zeit-
ungen veröffentlicht, und einen weiteren Tag später,
am 4. Juli, auch vom Kongreß übernommen. Die offi-
zielle Proklamation vom Balkon des »Independence
House« war am 8. Juli. (Eigentlich müßten die Ame-
rikaner deshalb nicht nur einen Tag, sondern eine
ganze Woche feiern.)
Außer dem Datum ist auch der Name der Erklärung
nicht korrekt. Denn das Wort »Unabhängigkeit« oder
auf englisch »independence« kommt in dieser »Decla-
ration of Independence« nirgends vor. Der offizielle
Titel der Erklärung heißt: »Die einmütige Erklärung
der dreizehn Vereinten Staaten von Amerika« (»The
unanimous Declaration of the thirteen United States
of America«).
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LexPI Bd. 2 Unbefleckte Empfängnis 342

Unbefleckte Empfängnis
Das Dogma von der »unbefleckten Empfängnis«
sagt, daß Jesus von einer Jungfrau geboren
wurde
Das berühmte Dogma von der unbefleckten Empfäng-
nis, verkündet von Papst Pius IX. am 8. Dezember
1854, hat mit der Jungfräulichkeit Mariens nur am
Rand zu tun; es betont vor allem, daß Maria als die
Mutter Gottes nicht mit der Erbsünde behaftet war.
Hier ist der offizielle deutsche Text:
Zur Ehre der Heiligen und ungeteilten Dreifaltig-
keit, zur Zierde und Verherrlichung der jungfräuli-
chen Gottesgebärerin, zur Erhöhung des katholi-
schen Glaubens und zum Wachstum der christli-
chen Religion erklären, verkünden und bestimmen
wir in Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus, der
seligen Apostel Petrus und Paulus und in Unserer
eigenen:
Die Lehre, daß die seligste Jungfrau Maria im er-
sten Augenblick ihrer Empfängnis durch einzigarti-
ges Gnadengeschenk und Vorrecht des allmächti-
gen Gottes, im Hinblick auf die Verdienste Jesu
Christi, des Erlösers des Menschengeschlechts, von
jedem Fehl der Erbsünde rein bewahrt blieb, ist
von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläu-
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LexPI Bd. 2 Unbefleckte Empfängnis 343

bigen fest und standhaft zu glauben.


gez. Pius, Papst
& Lit.: J. Neuner und H. Roos: Der Glaube der Kir-
che, Regensburg 1979; Stichwort vorgeschlagen
von Martin Henkel und P. Plaga.

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LexPI Bd. 1 »Und sie bewegt sich doch!« 315

»Und sie bewegt sich doch!« (s.a. ð »Galilei«)


Diesen berühmten Spruch hat Galileo Galilei nie
getan. Weder in den Prozeßakten des Inquisitionsver-
fahrens, an dessen Ende Galilei dieses trotzige
Schlußwort geäußert haben soll, noch in Galileis ei-
genen Briefen und Schriften noch in anderen zeitge-
nössischen Quellen ist davon je die Rede.
Die erste urkundliche Erwähnung dieser Gegenrede
Galileis findet sich mehr als 100 Jahre später in den
notorisch ungenauen »Querelles Litteraires« des fran-
zösischen Abbé Irailli, der sie entweder selbst erfun-
den oder dem wahren Erfinder nachempfunden hat.
Ihre außergewöhnliche Popularität speist sich aus
einer verbreiteten Animosität gegen die katholische
Kirche, verbunden mit dem Bestreben, deren Gegner
und Opfer zu Märtyrern zu machen.
& Lit.: Giorgio de Santillano: The crime of Galileo,
London 1958.

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LexPI Bd. 1 Unfehlbarkeit 316

Unfehlbarkeit
Der Papst in Rom reklamiert für sich Unfehlbar-
keit
Das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes be-
zieht sich nur auf sozusagen »amtliche« Verlautbar-
ungen »ex cathedra«, also auf Aussagen zu zentralen
Glaubensfragen; es wurde seit der Mitte des letzten
Jahrhunderts nur zweimal angerufen: zur Bestätigung
der jungfräulichen Empfängnis (durch Pius IX. im
Jahr 1854) und zur Proklamation der Himmelfahrt
Mariens (durch Pius XII. im Jahr 1950).
Dieser Unfehlbarkeitsglaube leitet sich aus einem
anderen Glauben ab, nämlich daß Gott selbst seine
Kirche in Glaubensdingen vor Irrtümern bewahre.
Dementsprechend gilt nicht nur der Papst, sondern
auch die Gesamtheit aller Bischöfe wie auch ein Kon-
zil als unfehlbar, sofern sie einstimmig entscheiden.
Dieser Glaube ist so alt wie die katholische Kirche
selbst. Er wurde nicht erst 1870 auf dem Ersten Vati-
kanischen Konzil verkündet, wie viele glauben; hier
wurden nur die Bedingungen für die Unfehlbarkeit ge-
klärt.
Ferner ist dieser Unfehlbarkeitsanspruch in Glau-
bensdingen auch nicht auf die römisch-katholische
Kirche beschränkt; auch die griechisch und russisch
orthodoxe Kirche halten ihre Konzilsbeschlüsse in
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Unfehlbarkeit 316

Glaubensdingen für unfehlbar.


& Lit.: Stichwort »Infallibility« in Microsoft
CD-ROM Encyclopädie Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 1 Ungeheuer von Loch Ness 316

Ungeheuer von Loch Ness


Vermutlich haben nur die Wurstverkäufer am Ufer je-
mals an das Ungeheuer von Loch Ness geglaubt (und
auch nur solange Touristen in der Nähe waren). Aber
erst im Jahr 1993 wurde das berühmte Foto des Mon-
sters als Kunstprodukt entlarvt.
Dieses Foto zeigt kein Monster, sondern eine etwa
30 cm hohe und 45 cm lange Seeschlange aus Holz,
die auf einem bei Woolworth's in London gekauften
Spielzeugunterseeboot befestigt ist. Die Konstrukteu-
re, der Schauspieler Marmaduke Wetherell mit seinen
beiden Söhnen und zwei weiteren Helfern, sind inzwi-
schen tot.
& Lit.: »Nessie photo was a fake«, Sydney Morning
Herald, 12.11.1993.
¤ Dieses Ungeheuer war aus Holz und Pappe

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LexPI Bd. 2 Ungelernte Arbeitskräfte 343

Ungelernte Arbeitskräfte
Der internationale Handel bedroht die Arbeits-
plätze ungelernter Arbeitskräfte
Wahr ist: Ungelernte Arbeitskräfte, Hilfsarbeiter,
haben es auf dem modernen Arbeitsmarkt nicht leicht.
Aber anders als viele glauben, liegt das nicht in erster
Linie an der Konkurrenz durch ungelernte Arbeits-
kräfte in Entwicklungsländern, die für einen Bruchteil
der europäischen Löhne Spielzeug und Textilien pro-
duzieren. Der eigentliche Motor hinter der wachsen-
den Arbeitslosigkeit und hinter dem relativen Lohn-
verfall von ungelernten Arbeitskräften ist der techni-
sche Fortschritt; er treibt vor allem die Produktivität
von Spezialisten und Experten und damit auch deren
Entlohnung in die Höhe; die Produktivität von Fen-
sterputzern oder Hausmeistern dagegen läßt sich nur
schwer durch Technik und Computer steigern. Und in
einer Welt, in der Unternehmen ihren Arbeitnehmern
langfristig nicht mehr zahlen können, als diese produ-
zieren, haben damit ungelernte Arbeitskräfte mit oder
ohne internationalen Handel immer schlechte Karten.
& Lit.: »Two tales of trade«, The Economist,
19.7.1997; M. Slaughter und P. Swagel: »The ef-
fect of globalisation on wages in the advanced
economies«, IMF working paper, April 1997.
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LexPI Bd. 1 Ungleichheit 317

Ungleichheit
In sozialistischen Ländern ist die Ungleichheit
der Einkommen kleiner als in kapitalistischen
Ländern
Die Autoren dieses Wörterbuches verdienen als
Hochschullehrer rund 80% mehr als ihre Mitarbeiter;
als einer davon (W. Krämer) einmal als Gastprofessor
in der Volksrepublik China weilte, mußte er sich
sagen lassen, daß chinesische Professoren das drei-
bis sechsfache Gehalt ihrer Assistenten beziehen.
Noch grotesker waren die Unterschiede der Rea-
leinkommen in der ehemaligen Sowietunion: dort ver-
diente ein mittlerer Parteifunktionär in einem Indu-
striebetrieb real (d.h. wenn man alle nichtmonetären
Vergünstigungen wie Datscha, Dienstwagen oder Ur-
laub auf Staatskosten dazurechnet) mehr als das fünf-
zigfache eines Fließbandarbeiters, verglichen mit
einem Faktor vier bis fünf für vergleichbare Positio-
nen in westlichen Industrienationen. (Die geradezu
obszönen Gehälter der absoluten Spitzenleute hier im
Westen sind ein anderes Kapitel; aber das betrifft we-
niger als vielleicht tausend Leute. Für den Rest der ar-
beitenden Bevölkerung ist und war die Ungleichheit
der Einkommen im Sozialismus zumindest nicht klei-
ner und eher größer als in einer Marktwirtschaft.)
Empirische Untersuchungen, die etwas anderes er-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ungleichheit 317

geben, vernachlässigen in aller Regel die »inoffiziel-


len« Komponenten des Einkommens sozialistischer
Spitzenfunktionäre, die aber zusammen bis zu einem
Drittel des Volkseinkommens ausmachen können.
Zählt man nämlich alle »offiziellen« Haushaltsein-
kommen in einer sozialistischen Planwirtschaft zu-
sammen, kommt man in der Regel nur auf rund zwei
Drittel des Volkseinkommens – mit anderen Worten:
ein Drittel wird »versteckt« verteilt (als Datscha, Ur-
laub, Dienstwagen), und natürlich schwerpunktmäßig
an die Leute, die an der Tränke, sprich: an den Partei-
Kommandohebeln sitzen.
Deshalb muß man alle Studien mit Mißtrauen be-
trachten, die entsprechend der reinen Lehre tatsächlich
ein »equality gap« zwischen sozialistisch und markt-
wirtschaftlich gelenkten Volkswirtschaften finden:
Zählt man die versteckten Vergünstigungen so wie es
sich gehört zum Einkommen dazu, ist diese Lücke in
aller Regel verschwunden, so wie in einem Vergleich
aus den 80er Jahren der alten Bundesrepublik mit
dem damals noch sozialistischen Polen: »Was als si-
chere Aussage erhalten bleibt«, schreiben die Autoren
einer einschlägigen Studie, »ist folglich, daß ... die
Disparität der Nettoeinkommen in der Bundesrepu-
blik ungefähr der Disparität der Nettoeinkommen in
der Volksrepublik Polen entspricht. Damit kann ... die
These vom ›equality gap‹ hinsichtlich der Disparität
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ungleichheit 318

der Nettoeinkommen in sozialistischen Planwirt-


schaften und in marktwirtschaftlich organisierten
Volkswirtschaften für den Vergleich der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Volksrepublik Polen nicht
gestützt werden.«
& Lit.: Renate Schubert und Marian Wisniewski:
»Die Einkommensdisparität in der Bundesrepu-
blik Deutschland und in der Volksrepublik
Polen – Zur Aussagekraft eines Vergleichs«, All-
gemeines Statistisches Archiv 72, 1988, S.
171–191.

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LexPI Bd. 1 Unterschrift 318

Unterschrift
Nur Analphabeten unterschreiben mit einem
Kreuz
Über viele Jahrhunderte unterschrieben auch gelehrte
Leute in Europa mit einem einfachen Kreuz. Rechts
oder links daneben wurde dann noch der volle Name
ausgeschrieben, aber von einem Zeugen, nicht von
dem Unterschriftsleistenden selbst.
Ab dem 16. Jahrhundert fanden aber immer mehr
Menschen das Zeichen des Kreuzes für profane oder
kommerzielle Zwecke wenig opportun, und sie unter-
zeichneten Dokumente stattdessen mit ihren Initialen
oder auch mit ihrem vollen Namen.

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V 319

»Das einzige Mittel, den Irrtum zu vermeiden,


ist die Unwissenheit.«
Rousseau, Émile

»Welch eine triste Epoche, in der es leichter ist,


ein Atom zu zertrümmern, als ein Vorurteil.«
Albert Einstein

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LexPI Bd. 1 Vampire 319

Vampire
Vampire saugen Blut
Die als »Vampir« bekannten Fledermäuse (Vampyrus
sektrum Linnaeus) mögen überhaupt kein Blut; sie
leben von Früchten und Insekten, genauso wie die üb-
rigen rund 30 Arten Fledermäuse, die es in Europa
gibt (als europäisches Mekka der Fledermäuse gilt
übrigens Berlin; hier leben 16 Arten Fledermäuse).
Aber auch die wenigen »blutsaugenden« Fleder-
mäuse saugen das Blut nicht, sie lecken nur. Mit ihren
Schneidezähnen durchbeißen sie des Opfers Haut und
lecken das Blut, das aus der Wunde quillt, mit ihrer
Zunge auf. Vor allem in den tropischen Regionen Sü-
damerikas sind diese rund sieben Zentimeter großen,
als »Große Blutsauger« bekannten Fledermäuse für
Menschen und Tiere eine wahre Plage. »Er war ein
düsterer Mann von abweisendem Äußeren«, schreibt
Gabriel García Márquez über eine seiner Romange-
stalten, »von lilienhafter Blässe durch den Blutver-
lust, den ihm die Fledermäuse im Schlaf beibrachten.«
& Lit.: Gabriel García Márquez: Von der Liebe und
anderen Dämonen, Köln 1994; »Nur eine Fleder-
mausart saugt Blut«, Hannoversche Allgemeine
Zeitung, 2.6.1995.

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LexPI Bd. 1 Vandalismus 319

Vandalismus
Die Vandalen haben durch ihre blinde Zerstö-
rungswut den Begriff des »Vandalismus« geprägt
Die Vandalen waren eigentlich gar keine Vandalen.
Zumindest ist dieser germanische Volksstamm, als er
während der großen Völkerwanderung aus Schlesien
und Westpolen durch Europa nach Nordafrika zog,
seinen Zeitgenossen nicht durch Vandalismus aufge-
fallen.
Auch als die Vandalen, nach langen Wanderungen
in Nordafrika seßhaft geworden, anläßlich eines Aus-
flugs nach Italien die Stadt Rom besetzten und plün-
derten, benahmen sie sich nach damaligen Maßstäben
recht moderat: Sie haben weder die Mauern noch die
Stadt zerstört, und da sie die Stadt kampflos besetzen
konnten, fielen auch die sonst üblichen Gemetzel aus.
Nur alles nicht Niet- und Nagelfeste haben die Van-
dalen mitgenommen, so wie die Römer zu anderen
Zeiten und in anderen Städten selber auch.
Der eigentliche Schock war nicht diese Plünderung
als solche, sondern die neue Verteilung der Rollen:
Die einstmals stolzen Römer als Besiegte, die unge-
bildeten Barbaren als die Sieger, und vor allem des-
halb blieb dieses Ereignis in der kollektiven Erinne-
rung des Abendlandes so verwurzelt. Schon in altfran-
zösischen Heldengedichten, aber auch bei Schubart
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vandalismus 320

(1772) treten die Vandalen als Zerstörer auf, und als


dann der Bischof von Blois in einer Rede vor dem
französischen Nationalkonvent, die Plünderung der
Schlösser und die Zerstörung von Kunstwerken durch
die Jakobiner angreifend, dieses Verhalten »vandalis-
me« nannte, war es um das Image der Vandalen ge-
schehen – ab dato hat sich »Vandalismus« als Syno-
nym für sinnlose Zerstörung peu à peu auch in viele
andere Sprachen eingeschmuggelt.
& Lit.: Gerhard Prause: Tratschkes Lexikon für Bes-
serwisser, München 1986; Georg Büchmann: Ge-
flügelte Worte, Ausgabe Ex Libris, 6. Auflage,
Frankfurt 1991.

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LexPI Bd. 1 Vegetarische Ernährung 320

Vegetarische Ernährung
Eine vegetarische Ernährung ist natürlich, und
Fleisch essen ist unnatürlich (s.a. ð »Vollwert-
kost«)
Freunde der vegetarischen Ernährung verweisen gern
auf die »Natürlichkeit«: Ursprünglich, d.h. vor der
Zähmung des Feuers und vor der Erfindung von Waf-
fen und Kochgeräten, hätten wir Menschen nur von
Pflanzen und Früchten gelebt; anders als Fleischfres-
ser wie Hunde oder Katzen seien Menschen weder
durch Verdauungsapparat noch durch körperliche Fä-
higkeiten zum Jagen und Verzehren anderer Tiere ge-
eignet (viel zu langsam, viel zu kleine Zähne etc.);
erst durch allerlei von der Natur nicht vorgesehene
technische Hilfsmittel hätten unsere Vorfahren auch
Tiere jagen, töten und verzehren können, und so eine
quasi gottgewollte vegetarische Ernährungsform ver-
lassen.
Das ist aber nicht ganz richtig; in Wahrheit hat die
Spezies Homo sapiens schon immer Fleisch gegessen,
so wie alle anderen Säugetiere zunächst auch. Erst
nach und nach, und unter großem Protest ihrer
Verdauungsorgane, haben die ersten Säugetiere vor
50 bis 80 Millionen Jahren ihre Nahrung auf Früchte,
Beeren oder Gräser ausgeweitet, ohne aber jemals ihre
Basisnahrung Fleisch ganz aufzugeben. Insbesondere
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vegetarische Ernährung 320

haben auch die Urwaldaffen, von denen wir abstam-


men, neben Blättern und Früchten mit großem Appe-
tit auch rohe Käfer, Frösche oder Eidechsen gegessen,
sofern sie ihrer habhaft werden konnten. Und als dann
unsere Vor-Vorfahren vor rund 10 Millionen Jahren
die Urwälder verließen, um in freier Steppe eine bes-
sere Zukunft für sich und ihre Nachkommen zu su-
chen, konnten sie ohne Fleisch überhaupt nicht über-
leben, ja man kann sogar behaupten, daß die Spezies
Homo sapiens erst durch den Zwang des gemeinsa-
men Fleisch-Erjagens überhaupt entstanden ist: Wenn
man Zoologen wie Desmond Morris glauben darf,
war es gerade die natürliche Unterlegenheit der Ur-
waldaffen anderen Fleischfressern wie Hunden, Kat-
zen oder Wölfen gegenüber, welche diese Urwaldaf-
fen zwang, sich auf andere Qualitäten als reine Kör-
perkräfte zu besinnen.
Wenn man will, kann man also das Argument der
Vegetarier genau umdrehen und sagen, daß allein die
natürliche Lust auf Fleisch die Menschen zu dem ge-
macht hat, was sie heute sind.
& Lit.: Peter Andries: Der Vegetarismus und die
Einwände seiner Gegner, Leipzig 1893.; Des-
mond Morris: The naked ape, London 1967.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Verhaftung 321

Verhaftung
Nur Polizei und Staatsanwaltschaft dürfen Ver-
haftungen vornehmen
Nicht nur die Polizei, sondern jeder kann einen Tat-
verdächtigen verhaften, also seiner Freiheit berauben
und vorläufig festnehmen: ein Kaufhausdetektiv, der
einen Ladendieb erwischt, darf diesen durchaus mit
Gewalt festhalten, genauso wie jeder Leser und jede
Leserin dieser Zeilen berechtigt ist, einen im Keller
überraschten Einbrecher in diesem Keller einzusper-
ren.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Verhütungsmittel 344

Verhütungsmittel
Nur in Irland als einzigem entwickeltem Indu-
striestaat dieser Erde ist die Pille immer noch
verboten
Jeder weiß, daß im gut katholischen Irland die Pille
offiziell verboten ist. Was aber die meisten nicht wis-
sen: Im durchaus unkatholischen Japan ist die Pille
ebenfalls verboten. Die offiziellen Gründe sind: (1)
die Pille ist gefährlich, (2) mit der Pille kommt auch
Aids, (3) mit der Pille gibt es weniger kleine Japaner.
Denn auch in Japan sind die Geburten in den letzten
Jahrzehnten stark zurückgegangen, und man macht
sich große Sorgen um die Renten und Pensionen.
Als wahren Grund für das Verbot der Pille in Japan
vermuten viele aber das Einkommen der Ärzte: Japan
hat die höchste Abtreibungsrate unter allen entwickel-
ten Industrienationen, und die Abtreibungen sind für
viele Ärzte mit die einträglichsten Operationen.
& Lit.: »The pill in Japan«, The Economist,
8.11.1997.

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LexPI Bd. 1 Verlobung 321

Verlobung
Eine Verlobung ist nur eine unverbindliche Ab-
sichtserklärung
Eine Verlobung, ob schriftlich oder mündlich, ob
heimlich oder in der Zeitung aller Welt bekannt gege-
ben, ist ein Vertrag wie jeder andere. Man kann ihn
zwar nicht einklagen, aber einen ohne »gute Gründe«
abgesprungenen Partner kann man durchaus für Schä-
den haftbar machen. Eine Frau, die in Erwartung der
baldigen Heirat eine gutdotierte Stelle kündigt, ein
Mann, der mit der Aussicht, demnächst bei der Frau
zu wohnen, seine Wohnung aufgibt, beide können
von einem wortbrüchigen Partner Schadenersatz ver-
langen.
»Gute Gründe« für eine Auflösung der Verlobung
sind: Bruch der Verlöbnistreue, Lieblosigkeit, Verzö-
gerung der Eheschließung, Geschlechtskrankheiten,
aber auch »Unfähigkeit zu wirtschaften« oder die
Nichteinhaltung des Versprechens, die Religion des
Partners anzunehmen. Kein guter Grund ist das plötz-
liche Entflammen für jemand anderen – in diesem Fall
kann der oder die Zurückgelassene den anderen oder
die andere zur Kasse bitten.
Einzige Voraussetzung: beide Partner müssen bei
der Verlobung »geschäftsfähig« sein, insbesondere
also mehr als 18 Jahre zählen. Verlobungen zwischen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Verlobung 322

Minderjährigen sind nur rechtskräftig, wenn die ge-


setzlichen Vertreter zustimmen.
& Lit.: Michael Scheele und Reinhard Wetter: Rat-
geber Recht, 2. Auflage, München 1990.

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LexPI Bd. 1 Verlorene Generation 322

Verlorene Generation
So hat Gertrude Stein die Zeitgenossen Ernest He-
mingways genannt (die Veteranen des I. Weltkriegs).
Zumindest schreibt Hemingway ihr diese Worte (»lost
generation«) in einem seiner Bücher zu.
In späteren Jahren, nachdem sein Verhältnis zu
Frau Stein eher kühl geworden war, rückte Heming-
way von dieser Variante aber wieder ab; er stellte die
Entstehung dieser Worte anders dar: weder von Ger-
trude Stein gesprochen noch als Beschreibung einer
entfremdeten Weltkriegs-Generation, so wie in He-
mingways Roman, sondern recht alltäglich: als Wut-
ausbruch eines Werkstattleiters, der Frau Steins Auto
reparieren sollte. »Als wir aus Kanada zurük-
kgekommen waren und in der Rue Notre-Dame-des-
Champs wohnten und Miss Stein und ich noch gute
Freunde waren, machte Miss Stein die Bemerkung
über die verlorene Generation«, schreibt Hemingway
in Paris – ein Fest fürs Leben. »Sie hatte mit dem
alten Ford-T-Modell, das sie damals fuhr, Ärger mit
der Zündung, und der junge Mann, der in der Garage
arbeitete und im letzten Kriegsjahr beim Militär ge-
wesen war, hatte keine Erfahrung oder hatte die Pri-
orität der anderen Fahrzeuge nicht durchbrochen, um
Miss Steins Ford zu reparieren. Auf jeden Fall war er
nicht serieux gewesen und war auf die Beschwerde
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Verlorene Generation 322

von Miss Stein hin von dem patron der Garage ernst-
haft zurechtgewiesen worden. Der patron hatte zu
ihm gesagt: ›Ihr seid alle eine génération perdue.‹«
Und dann entspann sich zwischen Gertrude Stein
und Ernest Hemingway eine längere Debatte des In-
halts, ob alle Weltkriegskämpfer Säufer wären oder
nicht.
& Lit.: Ernest Hemingway: The sun also rises, New
York 1926; Ernest Hemingway: Paris – ein Fest
fürs Leben, Hamburg 1971.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Versilbern 344

Versilbern
Man kann erst seit dem 19. Jahrhundert Messer
und Gabeln oder Trinkgefäße versilbern und ver-
golden (s.a. ð »Elektrischer Strom«)
Schon 2000 Jahre, bevor Werner Siemens das Galva-
nisieren erfand, hatte man im Nahen Osten Messer
und Löffel auf die gleiche Weise versilbert und ver-
goldet: »Ich glaube, es war eine der größten Freuden
meines Lebens«, erinnert sich Siemens, »als ein neu-
silberner Teelöffel, den ich mit dem Zinkpole eines
Daniellschen Elementes verbunden in einen mit unter-
schwefligsaurer Goldlösung gefüllten Becher tauchte,
während der Kupferpol mit einem Louisdor als Anode
verbunden war, sich schon in wenigen Minuten in
einen goldenen Löffel vom schönsten, reinsten Gold-
glanze verwandelte.« Aber das konnten auch schon
die Sumerer; die bei archäologischen Ausgrabungen
in der Nähe von Bagdad entdeckten Terrakottavasen
sind nach Meinung von Altertumsforschern nichts als
zum Galvanisieren benutzte primitive Batterien.
& Lit.: J. Zahn: Nichts Neues mehr seit Babylon,
Hamburg 1959; G. Prause: Tratschkes Lexikon
für Besserwisser, München 1986.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Versorgungsqualität 323

Versorgungsqualität
Unter dem Zustrom junger Ärzte leidet die Quali-
tät der ambulanten ärztlichen Versorgung
Manche Beobachter des deutschen Gesundheitswe-
sens fürchten, daß die vielen unerfahrenen Jungärzte,
die im Gefolge der sog. »Ärzteschwemme« ohne
lange Vorbereitung in die freie Praxis strömen, die
Qualität der ambulanten Versorgung gefährden. Diese
Furcht ist unbegründet.
Dazu zerlegen wir die ambulante Versorgung ein-
mal in eine qualitative und in eine quantitative Kom-
ponente. Die qualitative Komponente steht für die
Qualität einer ärztlichen Maßnahme, vorausgesetzt,
eine solche findet überhaupt statt. Natürlich ist hier
das Beste gerade gut genug, wobei aber durchaus
offen ist, wer wirklich »besser« ist – ein nach dem
letzten Stand der Wissenschaft ausgebildeter, wenn
auch unerfahrener Jungarzt oder ein nur mäßig an
Fortbildung interessierter Mediziner mit Vorkriegsap-
probation. Außerdem werden viele Jungärzte unter
dem Druck steigender Kosten vermehrt bislang
verpönte Gruppenpraxen gründen, und auch das kann
die qualitative Komponente der Versorgung nur ver-
bessern. Ärzte, die Kollegen konsultieren, machen
weniger Fehler; sie tauschen Erfahrungen aus, machen
sich gegenseitig auf Neuerungen aufmerksam und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Versorgungsqualität 323

kontrollieren sich damit auch – etwas in der ambulan-


ten Praxis bislang völlig Unerhörtes. »Damit wird er-
wartet«, schreibt der Gesundheitsökonom Dietrich
Nord, »daß Gruppenpraxen dazu beitragen können,
mittelfristig die sich aus der vergleichsweise geringen
Praxiserfahrung bei vielen der sich künftig niederla-
ssenden Ärzte ergebenden Nachteile aufzufangen.«
Die quantitative Komponente kann man als die
Wahrscheinlichkeit verstehen, daß im Bedarfsfall
schnell ein Arzt zur Stelle ist. Wer schon einmal
Stunden in einem vollen Wartezimmer abgesessen
oder nächtelang auf einen Notarzt gewartet hat, weiß,
wie wichtig diese Komponente ist. Denn im Notfall
ist ein unerfahrener Arzt immer noch besser als über-
haupt kein Arzt. Völlig unabhängig von der qualitati-
ven Komponente kann also diese quantitative Kom-
ponente der ambulanten Versorgung durch zusätzliche
Ärzte nur besser werden, ob diese nun eine Assisten-
tenzeit im Krankenhaus hinter sich haben oder nicht.
Haben sie eine solche Weiterbildung mitgemacht –
umso besser. Wenn nicht, so ist das (fachlich korrek-
te) freie Praktizieren immer noch besser als nichts zu
tun, nicht nur für den Arzt, sondern genauso für das
Publikum. Denn diese unerfahrenen Ärzte treten ja
nicht anstatt, sondern zusätzlich zu den weitergebilde-
ten Kollegen auf den Plan. Kein Patient ist gezwun-
gen, einen Berufsanfänger aufzusuchen – wer lieber
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Versorgungsqualität 324

vom Professor selbst beraten werden möchte, hat dazu


die gleiche Möglichkeit wie vorher auch.
Das sehen Mediziner übrigens genauso (im Ab-
strakten, und sofern es ihr Einkommen nicht berührt).
Wie anders ist etwa der Beifall in der Standespresse
für die in drei Monaten ausgebildeten »Barfußärzte«
in der Volksrepublik China zu erklären? Niemandem
scheint aufzufallen, wie unglaubwürdig damit die
Warnungen vor medizinischen Hochschulabsolventen
mit sieben Jahren Studium werden müssen. Oder mei-
nen deutsche Ärzte allen Ernstes, das chinesische Ge-
sundheitswesen sollte besser seine Barfuß-Doktoren
aus dem Verkehr ziehen und zukünftige Patienten,
falls überhaupt, nur noch von ausgebildeten Hoch-
schulmedizinern behandeln lassen? Das wäre genauso
absurd wie das Ansinnen an alle Autofahrer, in Zu-
kunft entweder gar nicht oder nur noch mit Rolls-
Royce zu fahren.
Vielleicht haben die niedergelassenen Ärzte für
ihre Patienten dann auch mehr Zeit, mehr als die ma-
ximal 10 Minuten, nach denen heute 90 von 100
Arztkontakten schon zu Ende gehen. Wie der große
Zulauf zu Heilpraktikern und Selbsthilfegruppen
zeigt, wo Patienten offenbar etwas bekommen, was
sie beim niedergelassenen Arzt vermissen, bleibt das
Bedürfnis vieler Patienten nach Kontakt und Zuwen-
dung durch diese Fließbandabfertigung weitgehend
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Versorgungsqualität 324

unbefriedigt. Nach Auskunft von Dietrich Nord haben


nur rund 15 bis 20 Prozent der Patienten einer durch-
schnittlichen Kassenpraxis »echte« Krankheiten im
Sinne von Organ- oder Stoffwechselstörungen, Un-
fallfolgen oder ähnlichem. Die anderen kommen in er-
ster Linie, um mit jemandem zu reden. »Das würde
aber bedeuten«, folgert Nord, »daß ein erheblicher
Prozentsatz von Patienten einen niedergelassenen
Arzt mit unspezifischen oder ›ökonomischen‹ Baga-
tellerkrankungen aufsucht, bzw. vielen Arztbesuchen
ausschließlich ein mehr oder weniger stark ausgepräg-
tes Kontaktbedürfnis zugrundeliegt, ein Bedürfnis,
das die meisten Ärzte aus Zeitgründen oft nicht aus-
reichend befriedigen können.«
Zur Befriedigung solcher Kontaktbedürfnisse
braucht ein Kassenarzt aber keine lange Lehre in
einem Krankenhaus. Eigentlich müßte er dafür noch
nicht einmal Medizin studieren.
& Lit.: Walter Krämer: Wir kurieren uns zu Tode,
Frankfurt 1993.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Verträge 325

Verträge
Rechtsgültige Verträge müssen immer schriftlich
sein
Mündliche Absprachen sind für die Beteiligten ge-
nauso bindend wie schriftliche. Einzige Ausnahmen
sind Schenkungsversprechen, Bürgschaftserklärun-
gen, Teilzahlungsvereinbarungen oder Ausbildungs-
verträge, wo das Gesetz die Schriftform vorschreibt.
In allen anderen Fällen reicht im Prinzip ein Telefon-
anruf.
Daß trotzdem so viele Verträge schriftlich festge-
halten werden, liegt vor allem an der besseren Be-
weisbarkeit. Denn um einen Vertrag notfalls auch
gegen einen renitenten Partner durchzusetzen, reicht
die Gültigkeit nicht aus – man muß das alles auch be-
weisen können.
& Lit.: Michael Scheele und Reinhard Wetter: Rat-
geber Recht, 2. Auflage, München 1990.

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LexPI Bd. 1 Vitamine 1 325

Vitamine 1
Vitamin E macht jünger
Die meisten Wirkungen der Wunderdroge Vitamin E
existieren nur in der Werbung der Hersteller bzw. in
der Phantasie der Käufer. Die Extrarationen an Vita-
min E, die wir über den täglichen Mindestbedarf hin-
aus konsumieren, freuen weniger unseren Körper als
unseren Apotheker. Weder macht Vitamin E müde
Männer wieder munter, noch Runzelfalten glatter oder
alte Körperzellen jünger, noch wurde sonst eine seiner
Wunderwirkungen bisher wissenschaftlich nachge-
wiesen.
Vitamin E ist nötig für den Fettstoffwechsel: Es be-
wahrt die Fettsäuren vor der Zerstörung und schützt
so Zellwände, Hormone und Enzyme, an deren Auf-
bau die Fettsäuren beteiligt sind. Aber dieses tägliche
Mindestquantum bekommt ein durchschnittlicher
Bundesbürger schon mit der »normalen« Nahrung,
durch Pflanzenöle, Butter, Margarine, Haferflocken,
durch Leber, Milch, Gemüse und Salate, so daß an
Extrapillen aus der Apotheke normalerweise kein Be-
darf besteht.
Weil diese Extrapillen bei manchen Tierversuchen
Wirkung zeigen, etwa unfruchtbare Ratten fruchtbar
machen, glauben viele, wir Menschen müßten genau-
so reagieren. So sollen etwa gewisse Vitamine (neben
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vitamine 1 325

E noch C und Beta-Carotin) als eine Art Zellpolizei


den Schutz vor sog. freien Radikalen übernehmen,
das sind sauerstoffhaltige Molkekül-Bruchstücke, die
unsere Körperzellen reizen und im Extremfall sogar
töten, aber diese Debatte ist zur Zeit noch nicht ent-
schieden. Und selbst wenn eine Wirkung zuverlässig
nachgewiesen werden könnte – sie hätte mit der Nähr-
stoffrolle der Vitamine nichts mehr zu tun und müßte
in das Gebiet der Pharmazie verwiesen werden. Und
da ist es ist schon sehr verblüffend anzusehen, wie
leichtgläubig eine sonst so medikamentenkritische
Öffentlichkeit in diesem Fall die Fronten wechselt.
& Lit.: »Trübe Quelle«, Der Spiegel Nr. 11/1985.

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LexPI Bd. 1 Vitamine 2 326

Vitamine 2
Von Vitaminen kann man nie genug bekommen
Vitamine sind lebenswichtig. Und weil ein Mangel an
Vitaminen krankmacht, glauben viele Menschen, ein
Übermaß an Vitaminen macht gesund. »There is a po-
pular belief that a kind of ›super nutrition‹ is possible
through the gulping of extra large doses of vitamins«
(R.M. Deutsch).
Dieser Glaube beruht jedoch auf einem Irrtum.
»Studien mit Vitaminpräparaten und Leerpräparaten
haben gezeigt, daß Vitamine nur das Wohlbefinden
solcher Personen heben, die unzureichend versorgt
sind«, schreibt der Präsident der Deutschen Gesell-
schaft für Ernährung. »Es hilft nicht, Vitamine zu-
sätzlich nach dem Motto ›viel hilft mehr‹ einzuneh-
men.« Denn ganz gleich wieviele Extra-Karotten wir
essen – wegen ihres hohen Gehalts an dem Vitamin-
A-Rohstoff Karotin oft als Mittel gegen schlechte
Augen angesehen –, unsere Augen werden dadurch
niemals besser. Genausowenig können wir durch Ex-
tragaben an Vitamin B Krampfadern oder Pickel hei-
len, und ganz gleich wieviele Vitamin-C-Tabletten
wir auch schlucken, weder der Schnupfen noch der
hohe Blutdruck noch das Zahnfleischbluten werden
dadurch weniger, um nur einige heute gern geglaubte
Schein-Wirkungen zu nennen.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vitamine 2 326

Ein Automotor ohne Öl stirbt nach kurzer Zeit an


einem Kolbenfresser, aber wenn wir Motoröl über die
Nachfüllmarke hinaus ersetzen, läuft er deswegen
kein bißchen schneller. Genauso hat auch unser Kör-
per einen Sollbedarf an Vitaminen, ohne den er krank
wird oder sogar stirbt, aber ein Überschuß an Vitami-
nen hilft ihm genausowenig wie ein Überschuß an
Motoröl einem Automotor hilft. »In extra doses ... vi-
tamins and minerals cure scarcely anything«
(Deutsch. S. 250).
Überdosen können ganz im Gegenteil sogar scha-
den. Hohe Überdosen an Vitamin A etwa erzeugen
bei manchen Menschen Durchfall, Haarausfall und
Kopfschmerzen, mehr Vitamin D als nötig kann zu
Übelkeit, Muskelschwäche, Erbrechen, Glieder-
schmerzen, ja sogar zum Tode führen, und selbst das
beliebte Vitamin C ist in hohen Dosen gar nicht unge-
fährlich – zu den bekannten Nebenwirkungen gehören
Nierensteine, Durchfall oder Wahnzustände.
& Lit.: R.M. Deutsch: Realities of nutrition, Palo
Alto 1976; S.K. Gaby et al.: Vitamin intake and
health: a scientific review, New York 1991; D.A.
Bender: Nutritional biochemistry of the vitamins,
Cambridge 1992; Stiftung Warentest: Test Spe-
zial Ernährung, 1993.

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LexPI Bd. 1 Vögel 1 327

Vögel 1
Amsel und Drossel sind verschiedene Vögel
Wegen des bekannten Liedes: »Amsel, Drossel, Fink
und Star und die ganze Vogelschar ...« halten viele
Menschen die Amseln und Drosseln für verschiedene
Vögel. In Wahrheit ist aber jede Amsel zugleich auch
eine Drossel. Die Familie der Drosseln hat über 200
Arten, und unsere bekannte Amsel ist eine davon, die
sogenannte Schwarzdrossel. Die größte Drossel ist
die 27 cm lange Misteldrossel, durch deren Kot die
Mistel sich verbreitet. Weit verbreitet sind auch noch
die Singdrossel mit ihrem braunen Rücken und der
gelblichen Brust sowie der Steinrötel und die Blau-
merle, die in Südeuropa gern in Felsen nisten.
& Lit.: Stichwortartikel »Amsel« in Brockhaus En-
zyklopädie, 19. Auflage, Mannheim 1986.

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LexPI Bd. 2 Vögel 1. 345

Vögel 1
Vögel brechen sich den Hals
Auch wenn viele Vogelfreunde klagen: »Mein Sittich
hat sich den Hals gebrochen« – das sieht nur so aus.
Vögel haben sehr elastische, robuste, von kräftigen
Muskeln gestützte Halswirbel (nicht umsonst können
sie so gut den Kopf verrenken); diese Halswirbel sind
kaum zu brechen. Wenn der Kopf von toten Vögeln
so haltlos am Körper herabzubaumeln scheint, so
wegen der fehlenden Stütze durch die Muskeln; die
Wirbelknochen aber sind intakt an Ort und Stelle.
& Lit.: M. Wissman und B. Parsons: »Bird falla-
cies«, The San Diego Bird Breeders Journal,
1994.

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LexPI Bd. 1 Vögel 2 327

Vögel 2
Vögel können im Winter erfrieren
Die steifgefrorenen und toten Vögel, die man in einem
harten Winter zuweilen unter Hecken oder Bäumen
findet, sind nicht erfroren, sie sind verhungert. Erst
dann hat der Frost sie eingefroren.

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LexPI Bd. 2 Vögel 2. 345

Vögel 2
Vögel haben Federn, um zu fliegen (s.a. ð »Mau-
ser«)
Umgekehrt: Vögel fliegen, weil sie Federn haben.
Nach Meinung des Münchener Zoologen Josef
Reichholf ist das Fliegen eine in der Evolutionsge-
schichte nicht geplante Eigenmächtigkeit dieser Tiere,
die eigentlich nach Drehbuch gleich ihren reptilien-
haften Vorfahren auch heute noch zu Fuß Insekten
jagen sollten.
Diese erdgebundenen, reptilienhaften Vorfahren
unserer Vögel hatten wegen ebendieser Insektennah-
rung ein großes Stoffwechselproblem: Wohin mit den
schwefelhaltigen Aminosäuren, die bei der Verdauung
der Insekten in großen Mengen anfallen? Antwort:
den Abfall in den Schuppen zwischenlagern (die
Schuppen von Reptilien bestehen wie die Federn un-
serer Vögel zum großen Teil aus dem schwefelhalti-
gen Struktureiweiß Keratin). Diese Schuppen wurden
mit den Zeiten immer elastischer und größer; irgend-
wann hechtete ein solches Reptil vielleicht einer dik-
ken Hummel hinterher und kam dabei auf den »Ge-
danken«, den Sprung durch Spreizen dieser Schuppen
zu verlängern. Und so lernten dann die Echsen eher
zufällig das Fliegen.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Vögel 2. 346

& Lit.: Josef Reichholf: »Die Feder, die Mauser und


der Ursprung der Vögel«, Archaeopterix 14,
1996.

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LexPI Bd. 2 Vögel 3 346

Vögel 3
Man sollte verirrten Jungvögeln zu fressen geben
Tierschützerer warnen davor, die im Frühjahr zuwei-
len in Parks oder Gärten herumirrenden Jungvögel zu
füttern: »Fast flügge Jungtiere, die naturgemäß ihr
Nest verlassen, werden von den Altvögeln weiterver-
sorgt. (...) Die Schreie der Jungtiere werden oft als
Hilferufe interpretiert, sind aber eine Standortmeldung
an die Alttiere, wohin sie Futter bringen sollen.«
Wenn aber Menschen diesen verirrten Jungtieren zu
fressen geben, werden diese von den Eltern hinfort oft
alleingelassen.
Falsch ist auch die Meinung, man sollte ausge-
wachsene Vögel nur im Winter füttern. Denn Vögel
verbrauchen im Sommer mehr Energie und damit
auch mehr Futter als im Winter. Wenn dieses im
Sommer auch leichter zu finden bzw. zu erjagen ist
als im Winter: nicht immer reicht der Nachschub an
den Appetit heran, so daß manche Vogelarten, vor
allem solche, die von Pflanzensamen leben, sogar im
Sommer intensiver nach menschengespeisten Futter-
quellen suchen als im Winter.
& Lit.: M. Wissman und B. Parsons: »Bird falla-
cies«, The San Diego Bird Breeders Journal,
1994; »Rufe von Jungtieren sind Standortmel-
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LexPI Bd. 2 Vögel 3 346

dung«, Ruhr-Nachrichten, 23.5.1997.

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LexPI Bd. 1 Vogel Strauß 1 327

Vogel Strauß 1
Der Strauß steckt bei Gefahr seinen Kopf in den
Sand
Der Strauß (Struthio camelis) gilt als eines der
dümmsten Tiere überhaupt, aber so dumm, um vor
seinen Feinden den Kopf im Sand zu vergraben, ist er
nun auch wieder nicht.
Vermutlich kommt diese üble Nachrede durch die
Gewohnheit des Strauß' zustande, sich bei nahender
Gefahr zu Boden zu ducken. So wird er mit seinen bis
zu drei Metern Körpergröße nicht so leicht gesehen.
Und naht dann trotzdem die Gefahr, nimmt der Strauß
wie jedes andere Tier Reißaus.

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LexPI Bd. 1 Vogel Strauß 2 328

Vogel Strauß 2
Strauße fressen alles
Auch der Ruf eines Allesfressers, den der Strauß seit
jeher besitzt, beruht auf einem Mißverständnis. Denn
Strauße fressen Steine und andere feste Materialien
aus Berechnung, nicht aus Gier: Diese Dinge helfen,
die »richtige« Nahrung im Magen besser zu zerklein-
ern. Aus dem gleichen Grund schlucken etwa auch
Hühner und Gänse neben Körnern kleine Kieselstei-
ne.

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LexPI Bd. 2 Volk ohne Raum 346

Volk ohne Raum


Die Parole vom »Volk ohne Raum« wurde von
den Nazis ausgegeben
Die Parole vom »Volk ohne Raum« stammt von Wal-
ter Rathenau. »Wir können nicht in einem Menschen-
alter hundert Millionen Deutsche mit den Produkten
einer halben Million Quadratkilometer einheimischen
Bodens und einer afrikanischen Parzelle ernähren und
beschäftigen«, schrieb er schon 1913, lange vor den
Nazis. »Wir brauchen Land dieser Erde. Wir wollen
keinem Kulturstaat das seine nehmen, aber von künf-
tigen Aufteilungen muß uns solange das Nötige zufal-
len, bis wir annähernd so wie unsere Nachbarn gesät-
tigt sind, die weit weniger Hände und unendlich mehr
natürliche Güter haben.«
& Lit.: Walter Rathenau: Gesammelte Schriften in
fünf Bänden, Berlin 1913.

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LexPI Bd. 1 Volkskammer 328

Volkskammer
In der DDR-Volkskammer hatte die SED die ab-
solute Mehrheit
In der Volkskammer der ehemaligen DDR hatte die
SED in der Regel kaum mehr als ein Viertel aller
Sitze.
Die DDR-Volkskammer umfaßte »500 Abgeordne-
te, die von den wahlberechtigten Bürgern für einen
Zeitraum von jeweils fünf Jahren in freier, allgemei-
ner, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden ....
Alle in der Nationalen Front vereinigten Parteien und
Massenorganisationen nehmen durch die von ihnen
nominierten und von den Wählern gewählten Abge-
ordneten an der Arbeit der Volkskammer teil.«
Bei der Volkskammerwahl 1978 z.B. ergab sich
daraus die folgende Sitzverteilung (wobei die Gleich-
heit der Sitze für die sogenannten »Blockparteien«
nicht durch Wählerwillen, sondern dem Namen
gemäß durch die Vorab-Vergabe ganzer Blöcke zu-
standekam):
Anzahl %
SED 127 25,4
DBD 52 10,4
CDU 52 10,4
LDPD 52 10,4
NDPD 52 10,4
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LexPI Bd. 1 Volkskammer 328

FDGB 68 13,6
DFD 35 7,0
FDJ 40 8,0
KULTURBUND 22 4,4

Trotzdem brauchte die SED um ihren Einfluß nicht zu


fürchten: Viele Abgeordnete der anderen Fraktionen
waren Strohmänner oder wie die Abgeordneten der
FDJ oder des FDGB sogar Mitglieder der SED.
& Lit.: Handbuch Deutsche Demokratische Repu-
blik, Leipzig 1979.

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LexPI Bd. 1 Vollmond 329

Vollmond
Der Vollmond wirkt auf unsere Psyche
Diese These wird immer wieder gern geglaubt, konnte
aber bisher wissenschaftlich nicht bestätigt werden.
Es gibt zwar immer wieder Studien, die einen signifi-
kanten Effekt des Vollmonds auf Mord und Selbst-
mord, Geburten, Ehedramen und Gott-weiß-was fin-
den, aber diese Effekte entpuppen sich bei näherer
Betrachtung meist als ein Kunstprodukt der folgenden
Forschungsstrategie: »Wollen wir doch mal sehen, ob
es bei Vollmond mehr Verkehrsunfälle gibt?« Also
werden die Unfallstatistiken aller 16 Bundesländer
ausgewertet, und siehe da, in Niedersachsen fahren
bei Vollmond 10% mehr Männer gegen Straßenbäu-
me als an anderen Tagen. Und schon ist die Schlag-
zeile perfekt.
Daß in allen anderen Bundesländern kein Effekt
beobachtet wurde, oder daß es diesen Effekt nur bei
Männern gibt, wird dabei unterschlagen. Mit anderen
Worten, wir glauben, hier ist ein System im Spiel,
während in Wahrheit nur der Zufall wirkt.
Genauso haben sich bisher fast alle in wissen-
schaftlichen Journalen publizierten »Vollmondeffek-
te« als Kunstprodukte einer verzerrten Stichprobe her-
ausgestellt: Versucht man den gleichen Effekt auch
anderswo zu finden, ist er auf einmal nicht mehr da.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vollmond 329

Daß viele Menschen dennoch an die Macht des


Vollmonds glauben, liegt vermutlich daran, daß wir
uns an Ereignisse aus Vollmondnächten besonders
gut erinnern. »Ich habe so Zahnweh, ich kann die
ganze Nacht nicht schlafen!« murmelt der Ehemann
um drei Uhr morgens. »Ist ja Vollmond«, sagt die
Gattin, und wenn der Ehegatte das nächste Mal bei
Vollmond Zahnweh hat, und sei es in zwanzig Jahren,
erinnert sie sich noch daran. Bei Neumond oder auch
nur bei bedecktem Himmel wäre ihr zum Mond nichts
aufgefallen.
& Lit.: A.D. Pokorny und J. Jachimzyk: »The que-
stionable relationship between homicides and the
lunar cycle«, American Journal of Psychology
131, 1974, S. 827–829; J. Rotton und I.W. Kelly:
»Much ado about the full moon«, Psychological
Bulletin 97, 1985, S. 286–306; R. Martens et al.:
»Lunar phase and birthrate«, Psychological Re-
ports 63, 1988, S. 923–934.

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LexPI Bd. 2 Vollmond. 347

Vollmond
Bei Vollmond gibt es mehr Geburten
Unser Schweizer Kollege Hans Riedwyl ist diesem
Mythos einmal systematisch nachgegangen und hat
alle von Anfang 1977 bis Ende 1979 in der Schweiz
registrierten Geburten nach Wochentagen und nach
Mondphasen geschichtet. Die insgesamt 217.460 Ge-
burten verteilen sich durchschnittlich wie folgt:
Durchschnittliche Geburtenzahl pro Wochentag
generell bei
Vollmond
Montag 207 212
Dienstag 216 217
Mittwoch 210 209
Donnerstag 207 209
Freitag 209 206
Samstag 186 194
Sonntag 156 158

Zuweilen sind die Geburtenzahlen bei Vollmond grö-


ßer, zuweilen kleiner, ein systematischer Zusammen-
hang ist nicht zu sehen, alle Schwankungen bewegen
sich in einem Bereich, der sehr gut auch durch Zufall
zu erklären wäre.
Der einzige wirklich systematische Zusammenhang
in dieser Tabelle ist der zwischen Geburtenhäufigkeit
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Vollmond. 347

und Wochentag: Am Samstag und am Sonntag gibt es


nur wenig neue Schweizer. Denn am Samstag und am
Sonntag wollen auch Hebammen und Ärzte ihre Frei-
zeit haben.
& Lit.: B. Flury, H. Riedwyl und P. Wilker: »Aber-
glaube um den Vollmond«, Schweizer Hebamme
3, 1983; J. Lindisch: Mond-ABC – Tips und
Tricks für den Alltag, München 1996 (nur als
Beispiel für den Humbug, den man heute über den
Mond in unseren Buchläden findet); Stichwort
vorgeschlagen von Hans Riedwyl.

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LexPI Bd. 1 Vollwertkost 330

Vollwertkost
Vollwertkost ist nährstoffreicher (s.a. ð »Bio-
Nahrung«)
Rohes Gemüse, Nüsse, frische Milch, Mineralwasser
oder Trockenobst sind von sich aus weder gesünder
noch nährstoffreicher als Coca-Cola, Bic-Macs oder
synthetische Vitamine: die Endverbraucherzellen in
unserem Körper, die als letzte Glieder der
Verdauungskette unser Essen in Energie, Fett oder
Muskeln umwandeln, können weder die Quellen der
Nahrungsbestandteile erkennen noch unterscheiden,
ob diese synthetisch oder »natürlich« angeliefert wor-
den sind, und auch den übrigen Abteilungen der riesi-
gen Chemiefabrik »Menschenkörper« ist die Herkunft
der Materialien, die dort be- und verarbeitet werden,
im wesentlichen einerlei.
Insbesondere spielt auch der Grad der Verarbeitung
von Lebensmitteln für deren Qualität nur eine kleine
Rolle. Viel wichtiger, so die Deutsche Gesellschaft
für Ernährung, sind die Zusammensetzung der Nähr-
stoffe und hygienisch-toxikologische Aspekte, die von
Vollwert-Fetischisten gerne übersehen werden:
Schadstoffe, Bakterien, Rückstände und Gifte aller
Art kommen in Vollwertprodukten genauso vor wie in
behandelten, in manchen unbehandelten sogar mehr,
wie in Vorzugsmilch oder in frischen Nüssen, so daß
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Vollwertkost 330

man allein mit dem Argument »Gesundheit« oder


»Nährstoffreichtum« eine Vollwertnahrung nicht be-
gründen kann.
Daher speist sich ein Großteil der Energie der Voll-
wert-Bewegung aus anderen, besonders aus ideologi-
schen Quellen, oder wie A. Luhrmann einmal formu-
lierte: »Many people discovered the occult at about
the same time they discovered the benefits of bean
sprouts.« Und dagegen ist auch überhaupt nichts ein-
zuwenden. Denn es durchaus nicht irrational, eine
Vorliebe für Vollwertnahrungsmittel mit einer ande-
ren Anbauweise oder nicht gewinn-orientierten Ver-
triebskanälen zu begründen; aber dann erschiene es
uns ehrlicher, diesen Kreuzzug gegen McDonald's,
Unilever oder Nestlé auch politisch und nicht mit
imaginären Vitaminen oder Spurenelementen auszu-
fechten.
& Lit.: Werner Kollath: Die Ordnung unserer Natur,
Stuttgart 1952; Claus Leitzmann, Karl von
Koerber und Thomas Männle: Vollwerternährung,
5. Auflage, Heidelberg 1986; Deutsche Gesell-
schaft für Ernährung: 10 Regeln für eine vollwer-
tige Ernährung, Frankfurt 1989; A. Luhrmann:
Persuasions of the witch's craft, Oxford 1989.

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LexPI Bd. 2 Vollwertkost. 348

Vollwertkost
Vollwertkost ist gesund
Vollwertkost ist nicht gesünder als »normale« Nah-
rung (siehe ð Band 1), das ist inzwischen auch in
Bioläden kaum noch ein Geheimnis. Weniger be-
kannt: Falls allzu konsequent und übertrieben einge-
nommen, ist Vollwertkost sogar aktiv gesundheits-
schädlich. Denn rohe Körner, Wurzeln oder Nüsse
sind für Menschen anders als für Kühe nur sehr
schwer verdaulich; die unverdauten Reste werden im
Darm von Bakterien zersetzt, dabei entstehen Gifte
(»intestinale Autointoxikation« heißt das bei Medizi-
nern), die Darmschleimhaut und das Immunsystem
des Körpers werden angegriffen. »Die deletären Fol-
gen zeigen sich (...) oft erst nach Jahren und Jahrzehn-
ten: Erkrankungen der Verdauungsorgane, chronifi-
zierte Katarrhe und Infektionszustände, Entwicklung
einer arteriellen Gefäßsklerose, entzündliche und de-
generative Erkrankungen des Bewegungsapparates,
auch Neoplasien« (Pirlet). Viele Ärzte raten daher,
die Vollwerternährung nicht zu übertreiben.
»Die Vollwerternährung, so wie sie derzeit bundes-
einheitlich propagiert und praktiziert wird, schadet
mehr als sie nutzt« (Pirlet). »Das heißt: Mehr Men-
schen tragen einen Schaden davon, als daß Menschen
auf Dauer einen gesundheitlichen oder therapeuti-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Vollwertkost. 348

schen Nutzen hätten. Viele Gesunde kommen mit der


Kost nicht zurecht. Gesunde werden krank, und Kran-
ke werden nicht gesund. Ich halte eine Ernährungs-
weise, die sich monoman an der Naturbelassenheit
des Nahrungsmittels orientiert (...) aus wissenschaft-
licher und ärztlicher Sicht für unvernünftig.«
& Lit.: K. Pirlet: »Klinische und naturheilkundliche
Diätetik«, Die Heilkunst 5/1988, S. 199–214; K.
Pirlet: »Zur Problematik der Vollwerternährung«,
Erfahrungsheilkunde 5/1992, S. 345–356; U.
Pollmer u.a.: Prost Mahlzeit! Krank durch gesun-
de Ernährung, Köln 1994.

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LexPI Bd. 2 VW-Käfer 349

VW-Käfer
Der Name »Käfer« kommt aus Deutschland
Das amerikanische »beetle« ist keine Übersetzung für
den deutschen »Käfer«, sondern umgekehrt: Der deut-
sche »Käfer« wurde dem amerikanischen »beetle«
nachempfunden. In einem Artikel der New York
Times vom 3. Juli 1938 wurde das seltsame neue
Mini-Auto aus Germany etwas abschätzig als »beet-
le« abgestempelt, und dieser durchaus nicht als Kom-
pliment gedachte Name wurde dann mit »Käfer«
übersetzt.
& Lit.: »Eine Idee macht Geschichte – Die Volks-
wagen Chronik«, Broschüre der Volkswagen AG,
Wolfsburg (ohne Ort und Jahr); Karen Duve und
Thies Völker: Lexikon berühmter Tiere, Frankfurt
a.M. 1997.

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LexPI Bd. 2 VW-Werk 349

VW-Werk
Das Wolfsburger VW-Werk war ein
Vorzeigeobjekt der nationalsozialistischen Wirt-
schaftspolitik
Das Wolfsburger VW-Werk, so wie von den Nazis
konzipiert, war stümperhaft entworfen, schlampig ge-
führt, am Markt vorbei geplant und als ziviler Produ-
zent von Autos niemals profitabel. Einzig der Zweite
Weltkrieg und das Ende der Nazis retteten das Unter-
nehmen vor dem Schrotthaufen der deutschen Indu-
striegeschichte.
Wahr ist: Das im Jahr 1933 vom Reichsministe-
rium für Volksaufklärung und Propaganda als Vision
in die Welt gesetzte »Automobil für Jedermann« war
als Propagandamittel durchaus nützlich (und genau
diese Propaganda begründete auch seinen Mythos).
Wahr ist aber auch: Eine Massenproduktion war unter
den damaligen Verhältnissen von Anfang an utopisch.
Die Verfechter des Volkswagens, an erster Stelle Hit-
ler selber, gingen z.B. von der Vorstellung aus, daß
allein die Anschaffungskosten hinreichend zu senken
seien, dann wäre das Auto für jedermann erschwing-
lich. An die damals für den Großteil aller Deutschen
unbezahlbaren Folgekosten, vor allem für den Treib-
stoff, dachte niemand; das Auto wäre unter der Nazi-
Herrschaft nie zu einem »Volks«wagen geworden.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 VW-Werk 349

Die geplanten Stückzahlen von einer Million


Volkswagen pro Jahr wurden niemals auch nur in An-
sätzen erreicht, bis 1945 verließen weniger als 10.000
zivile Volkswagen das Werk; es konnte sich nur
durch Rüstungsaufträge (Kübelwagen, Teile der V1)
bis 1945 über Wasser halten. Und nach dem Krieg
war es gerade die radikale Abkehr von der nationalso-
zialistischen Planwirtschaft, die Öffnung der Welt-
märkte und der freie Fluß von Kapital und Arbeit, die
dem VW-Werk eine zweite Chance gaben und die al-
lein es möglich machten, daß VW noch heute exi-
stiert.
& Lit.: H. Mommsen: Das Volkswagenwerk und
seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996;
B. Budde: »Ein Mikrokosmos der Kriegswirt-
schaft«, Handelsblatt, 8.11.1996.
¤ Zu Nazi-Zeiten kein großer Renner

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W 351

»Die Irrtümer eines großen Geistes sind


belehrender als die Wahrheiten eines kleinen.«
Börne

»Je hohler ein Schlagwort ist,


desto mehr Lärm kann man damit erzeugen.«
J.B. Priestley

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LexPI Bd. 2 Wahlen 1 351

Wahlen 1
Eine hohe Wahlbeteiligung zeugt für demokrati-
sche Gesinnung (s.a. ð »Demokratie« in Band 1)
Eine hohe Wahlbeteiligung sagt über Demokratie und
Freiheit nur sehr wenig aus; sie verträgt sich mit einer
Diktatur genauso wie mit einer vorbildlich demokrati-
schen Regierung. Und spiegelbildlich ist auch eine
niedrige Wahlbeteiligung kein Armutszeugnis: Die
höchsten Wahlbeteiligungen gab es unter Stalin, Ul-
bricht und Pol Pot, die geringsten in der Urheimat und
Keimzelle aller demokratischen Regierungsformen, in
England, in der Schweiz und in den USA. Eine De-
mokratie lebt nicht davon, daß alle bei allem mitre-
den, sondern davon, daß diejenigen, die aktuell das
Sagen haben, ohne Aufhebens und Blutvergießen ab-
gelöst werden können; wie viele Bürger sich an die-
sem Ablösen beteiligen, ist erst in zweiter Linie wich-
tig.
& Lit.: Karl Popper: Auf der Suche nach einer bes-
seren Welt, München 1984.

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LexPI Bd. 2 Wahlen 2 351

Wahlen 2
Alle erwachsenen Amerikaner dürfen wählen
Alle außer den Einwohnern des »District of Colum-
bia«, zu dem auch die Bundeshauptstadt Washington
gehört. Dieser »District« ist weder selbst ein Bundes-
staat, noch gehört er einem an, er entsendet daher
weder Abgeordnete noch Senatoren in den Kongreß,
und damit gibt es auch keine Senatoren und Abgeord-
neten zu wählen (an den Präsidentenwahlen dürfen
Washingtoner aber teilnehmen).

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LexPI Bd. 1 Wahrscheinlichkeit für zwei Mädchen 331

Wahrscheinlichkeit für zwei Mädchen


Wir treffen einen alten Bekannten, wir wissen, er hat
zwei Kinder, wir fragen: »Ist darunter auch ein Mäd-
chen?« Er sagt ja. Mit welcher Wahrscheinlichkeit
sind beide Kinder Mädchen?
Diese Wahrscheinlichkeit ist nicht 1/2, wie hier die
meisten glauben, sondern 1/3. Das Argument: »Wenn
ich weiß, ein Kind ist ein Mädchen, und wenn Jungen
wie Mädchen gleich wahrscheinlich sind, dann ist mit
Wahrscheinlichkeit 1/2 das zweite Kind ebenfalls ein
Mädchen« ist in dieser Allgemeinheit falsch. Es gilt
nur, wenn wir wissen, daß ein ganz bestimmtes Kind
ein Mädchen ist; es ist falsch, wenn wir nur wissen,
daß mindestens eins der beiden Kinder ein Mädchen
ist.
Bei zwei Kindern gibt es insgesamt die folgenden
vier Möglichkeiten
(Junge, Junge), (Junge, Mädchen), (Mädchen, Junge),
(Mädchen, Mädchen),
die alle gleich wahrscheinlich sind (stimmt nicht
exakt, da Jungengeburten geringfügig wahrscheinlich-
er sind, kann aber als erste Näherung so stehen blei-
ben). Daher beträgt die Wahrscheinlichkeit für »zwei
Mädchen«, wenn wir nur wissen, daß unser Freund
zwei Kinder hat, genau 1/4.
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LexPI Bd. 1 Wahrscheinlichkeit für zwei Mädchen 332

Wenn wir wissen, daß mindestens eines der Kinder


ein Mädchen ist, fällt die erste Variante weg. Da die
drei übrigen Varianten alle gleich wahrscheinlich
sind, und nur eine davon aus zwei Mädchen besteht,
beträgt die Wahrscheinlichkeit für »Zwei Mädchen«
jetzt 1/3.
Anders dagegen, wenn wir wissen, daß das erste
Kind ein Mädchen ist (und ganz analog, wenn wir
wissen, daß das zweite Kind eine Mädchen ist). Jetzt
fallen die ersten beiden Paare aus, und da von den
verbleibenden zwei Pärchen genau eines aus zwei
Mädchen besteht, beträgt die Wahrscheinlichkeit für
»zwei Mädchen« jetzt 1/2.
& Lit.: Walter Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus
der Welt des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt
1995.

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LexPI Bd. 2 Währungsreserven 352

Währungsreserven
Hohe Währungsreserven zeugen für wirtschaftli-
che Stärke (s.a. ð »Export 1« in Band 1)
Nicht notwendigerweise. Währungsreserven sind in-
ternationale Zahlungsmittel, die ein Land nicht selber
produziert (z.B. dürfen die Deutschen keine Dollars
drucken); sie lagern in den Tresoren der jeweiligen
Zentralbanken und dienen dazu, Importe zu bezahlen
oder – indem man damit die eigene Währung kauft –
die eigene Währung abzustützen. Für sich selbst ge-
nommen sind sie aber wertlos wie Papier; jeder Yen
und jeder Dollar, der über das nötige Maß von einer
Zentralbank angesammelt wird, wäre besser anderswo
verwendet. Die aktuellen Spitzenreiter Japan und
China horten heute z.B. 100 bzw. 200 Milliarden
Dollar ausländischen Geldes, von dem viele Ökono-
men glauben, daß es besser produktiv verwendet
würde. Die Chinesen etwa müssen für ihre Auslands-
schulden mehr an Zinsen zahlen, als sie selbst an Zin-
sen für die in ihrem Besitz befindlichen ausländischen
Gelder einnehmen; ihre stolzen Währungsreserven
zeugen mehr von wirtschaftlicher Dummheit denn von
wirtschaftlicher Stärke.
& Lit.: »Beware of squirrels«, The Economist,
11.1.1997.
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LexPI Bd. 1 Waldbrände 331

Waldbrände
Waldbrände sind grundsätzlich schädlich
Nicht alle Waldbrände sind schädlich. Und nicht alle
Katastrophenbilder voller Rauch und Feuer, die uns
nach heißen Sommerwochen auf dem Fernsehschirm
erschrecken, sind wirklich Zeichen einer Katastrophe.
Man muß hier unterscheiden zwischen den aufge-
räumten und gepflegten Wäldern etwa in Europa,
ohne Unterholz und tote Bäume, und den großen Na-
turwäldern im Westen Amerikas, in Rußland oder in
Australien. In diesen Naturwäldern kann nämlich ein
gelegentliches Feuer durchaus die Rolle des Forstar-
beiters übernehmen, also Platz für neues Leben schaf-
fen und den Kreislauf der Natur beschleunigen.
Löscht man dagegen diese Naturfeuer sofort aus, wie
sie etwa durch Blitzeinschlag entstehen, baut sich ein
Riesenreservoir an Trocken-Brennstoff auf, und es
entstehen die wirklich großen Katastrophen, wie im
Sommer 1988 im Yellowstone-Nationalpark in den
USA oder im Januar 1994 rund um Sydney in Austra-
lien, die man durch gelegentliche kleine Brände ohne
weiteres vermeiden könnte.
& Lit.: William H. Romme und Don G. Despain:
»The Yellowstone Fires«, Scientific American,
November 1989, S. 21–29.
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LexPI Bd. 2 Waldsterben 1 352

Waldsterben 1
Der deutsche Wald stirbt
Dem deutschen Wald ging es lange nicht so gut wie
heute. Mit mehr als 300 Festmetern pro Hektar ist der
deutsche Wald einer der holzreichsten in ganz Euro-
pa; 10 Millionen Hektar, fast ein Drittel der Repu-
blik, sind heute Wald, das ist ein hundertjähriger Re-
kord, und jedes Jahr kommen netto mehr als 10 Milli-
onen Festmeter Holz dazu.
Und die Bäume werden nicht nur zahlreicher, son-
dern auch gesünder. Als »deutlich geschädigt« gelten
nur noch 20% der Bestände, als »nicht geschädigt«
43% (verglichen mit 36% noch 1991), und bei einer
alternativen Messung, wie sie von Forstexperten vor-
geschlagen wird, sähen diese Zahlen noch weit besser
aus: Bei den aktuellen amtlichen Bestandsaufnahmen
z.B. gilt ein Baum schon dann als »schwer geschä-
digt«, wenn mehr als ein Viertel seiner Nadeln oder
Blätter fehlen, obwohl z.B. eine Kiefer problemlos
mehr als die Hälfte ihrer Nadeln verlieren kann, ohne
an Wachstum und an langfristiger Frische einzubü-
ßen. Würde man also, wie das Bundesforschungsmi-
nisterium vorschlägt, nur solche Bäume »krank« be-
nennen, die mehr als 45% ihrer Blätter oder Nadeln
verloren haben (einen solchen Verlust halten die mei-
sten Forstwissenschaftler für normal und ungefähr-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Waldsterben 1 353

lich, so wie für die meisten Menschen eine Winter-


grippe normal und ungefährlich ist), so bliebe von
dem berühmten Waldsterben nicht allzuviel zurück.
Viele Forstexperten bestreiten sogar, daß es ein
Waldsterben, d.h. »eine von den bisher bekannten
Waldkrankheiten verschiedene, durch kumulativen
Streß von Luftschadstoffen und deren Ablagerungen
ausgelöste ökosystemare Komplexkrankheit«, je ge-
geben hat. »Ein allgemeines Waldsterben über das
natürliche ›Stirb und Werde‹ hinaus hat nicht stattge-
funden und findet nicht statt« (Prof. Otto Kandler,
ehem. Direktor des Botanischen Instituts der Univer-
sität München). »Es gibt kein globales Waldsterben.
Die Absterbequote der Bäume hat sich in den letzten
100 Jahren insgesamt nicht sehr verändert« (Prof.
Heinrich Spieker vom Institut für Waldwachstum der
Universität Freiburg). »Unter dem Druck und der
Verlockung der Öffentlichkeit haben verschiedene
Waldsterbeforscher Daten verbreitet, die inzwischen
durch Nachuntersuchungen widerlegt sind« (Neue
Zürcher Zeitung). Bäume sterben wie die Menschen,
und wie die Menschen werden auch die Bäume vorher
meistens krank; über 60 Jahre alte Bäume erkranken
dreimal so häufig wie ihre jüngeren Artgenossen an
Beschwerden aller Art, durch Umweltgifte wie durch
umweltunabhängige Faktoren, und wie bei den Men-
schen treten diese Wehen zuweilen zeitlich und räum-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Waldsterben 1 353

lich massenweise in Erscheinung. Aber daraus darf


man nicht auf globale Katastrophen schließen, solche
lokalen Epidemien kommen und gehen wie anderswo
die Grippe.
& Lit.: R. Holzberger: Das sogenannte Waldster-
ben – Zur Karriere eines Klischees, Bergatreute
1996 (zuvor als Dissertation mit dem Preis der
Stadt Konstanz für besondere wissenschaftliche
Leistungen ausgezeichnet); Deutsche Bundesre-
gierung: Waldzustandsbericht 1996; »Die Bäume
wachsen schneller«, Informationsdienst des Insti-
tuts der Deutschen Wirtschaft 51–52/1996; B.
Müller-Ullrich: »Holzwege und andere Irrtümer«,
Süddeutsche Zeitung 207/1996; derselbe: Me-
dienmärchen, München 1996 (besonders das Ka-
pitel »Das Waldsterben – ein Holzweg«); »War
das Waldsterben nur ein Hirngespinst?«, Der
Spiegel 46/1996.

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LexPI Bd. 2 Waldsterben 2 354

Waldsterben 2
Das sogenannte Waldsterben ist ein Phänomen
des 20. Jahrhunderts
Die ersten urkundlich belegten Beschwerden über
»katastrophale Waldzustände« stammen aus der Zeit
von Jesus Christus, damals erkannte der griechische
Geograph Strabo einen Zusammenhang zwischen dem
Absterben von Bäumen in Spanien und dem dort be-
triebenen Erzbergbau. Im Jahr 1341 wurde im sächsi-
schen Zwickau das Verbrennen von Steinkohle verbo-
ten, weil die Abgase die Bäume angegriffen hätten,
und schon Mitte des letzten Jahrhunderts wurde
wegen der schlechten Waldgesundheit im Thüringer
Wald, im Erzgebirge, im Frankenwald und im Fich-
telgebirge ein erster Lehrstuhl für Pflanzenchemie ein-
gerichtet, um diese Schäden zu erforschen.
& Lit.: O. Kandler: »Vierzehn Jahre Waldschadens-
diskussion«, Naturwissenschaftliche Rundschau
11/1994.

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LexPI Bd. 2 Waldsterben 3 354

Waldsterben 3
Das sogenannte Waldsterben ist eine Folge der
Industrialisierung
Abgesehen davon, daß es ein globales Waldsterben
nie gegeben hat, auch die vielen heute unbestreitbar
kranken Bäume sind oft aus anderen Gründen krank,
als manche Medien uns glauben machen wollen:
Viren, Pilze, das Wetter (bei großer Trockenheit wer-
fen Bäume zum Wassersparen vorzeitig die Blätter
ab), sogar Läuse können großflächig den Wald ge-
fährden. In Großbritannien etwa, dem neben Tsche-
chien am stärksten von Waldschäden betroffenen
Land in ganz Europa, ist weder der saure Regen noch
die Autolobby noch der Industrieabfall der Auslöser,
sondern die aus der Pazifikinsel Sitka eingeschleppte
Sitkalaus, die fast die gesamten neuen Forste Schott-
lands angefallen hat.
Auch das in Deutschland derzeit am meisten ge-
schädigte Waldgebiet, der Nationalpark »Bayerischer
Wald« an der Grenze nach Tschechien, ist kein Opfer
der Chemie, sondern ein Opfer der Natur, konkret des
Borkenkäfers, der auf inzwischen 3000 Hektar Fläche
ungestraft – denn der Nationalpark soll sich selbst
überlassen bleiben – dem Wald den Garaus machen
darf. (Inzwischen verlangen die Anwohner, denen die
Feriengäste ausbleiben, wieder vehement nach mehr
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Waldsterben 3 354

Chemie und nach der Abkehr von dem 100%-Natur-


Prinzip.)
Ein weiterer nichtindustrieller Bösewicht sind
Stickoxide aus der Landwirtschaft (chemische Dünge-
mittel, auch Gülle aus der Massentierhaltung). In ver-
schiedenen landwirtschaftlich intensiv genutzten Re-
gionen Niedersachsens werden manche Wälder mit
100 kg Stickstoff pro Jahr und Hektar belastet, ein
Zehntel davon würde für das normale Wachstum rei-
chen.
& Lit.: K.-F. Wentzel: »Der Wald hat viele Feinde«,
Die Welt, 19.9.1995; »Der neue Deutsche Wald«,
Bild der Wissenschaft 12/1996; C. Ehrenstein:
»Vielfach ist das Wetter der größte Feind des
Waldes«, Die Welt, 22.11.1996; D. Guratzsch:
»Wenn die Wälder ›wild‹ werden, zittern die
Menschen – Eine neue Form des Baumsterbens
beruht auf natürlichen Ursachen«, Die Welt,
4.11.1997.

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LexPI Bd. 2 Waldsterben 4 355

Waldsterben 4
Die falsche Waldsterbenshysterie der 80er Jahre
hat wenigstens der Umwelt nicht geschadet
So war etwa im Spiegel nachzulesen: Nur den Natur-
schützern sei es zu verdanken, daß die schlimmsten
Warnungen nicht eingetroffen seien, »ohne den massi-
ven Druck der Öffentlichkeit wären nie mit Milliar-
denaufwand Rauchgasfilter in die Großkraftwerke der
Republik eingebaut worden. Und nur die Angst vor
dem Waldsterben hat, gegen den Widerstand der Au-
tomobilindustrie, die Einführung von Katalysator und
bleifreiem Benzin erzwungen.«
Das kann man auch anders sehen. So wurden z.B.
durch die Verengung der Waldschadensdebatte auf
gewisse Lieblingsbösewichter zahlreiche nützliche
forstwirtschaftliche Neuerungen verhindert oder auf-
geschoben: »Leider kam es aufgrund der einseitigen
Ausrichtung der Waldschadensforschung auf die Ver-
ursachung von Waldschäden durch schadstoffbeding-
ten Streß nicht zur notwendigen Intensivierung und
Modernisierung der forstpathologischen Forschung«
(Kandler). »Vertiefende Untersuchungen über die
immer häufiger auch in Laubgehölzen aufgefundenen,
für die Forstpathologie noch ›unkonventionellen‹
pflanzenpathogenen Viren und Mykoplasmen wurden
nicht weitergeführt, neue Anregungen aus der mole-
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LexPI Bd. 2 Waldsterben 4 355

kularbiologischen Resistenzforschung nicht aufgegrif-


fen.«
& Lit.: »War das Waldsterben nur ein Hirnge-
spinst?«, Der Spiegel 46/1996; O. Kandler:
»Vierzehn Jahre Waldschadensdiskussion«, Na-
turwissenschaftliche Rundschau 11/1994.

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LexPI Bd. 2 Wale 356

Wale
Wale prusten beim Auftauchen Wasser in die
Luft
Wale prusten beim Auftauchen nicht Wasser, sondern
Luft in die Luft; sie blasen, wenn sie zum Atmen über
Wasser kommen, unter großem Druck verbrauchte
Luft durch ein enges Atemloch. Dabei dehnt sich
diese Luft rasch aus und kühlt durch die Volumenver-
größerung so stark ab, daß der darin enthaltene Was-
serdampf kondensiert und als weißer Nebel hoch-
schießt. Dieser sogenannte »Bläst« erreicht eine Höhe
von etwa vier Metern, beim Pottwal sogar acht, und
dauert durchschnittlich zwei Sekunden. In dieser Zeit
atmet ein Wal rund 2000 Liter Luft sowohl aus wie
ein.
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 11, Stuttgart 1969.

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LexPI Bd. 2 Walnuß 356

Walnuß
Walnüsse sind Nüsse (s.a. ð »Erdnüsse«)
Walnüsse sind Steinobst, keine Nüsse. Die wissen-
schaftliche Botanik meint mit »Nüssen« Früchte, die
aus einem einzigen, durch eine harte, stets geschlos-
sene Schale geschützten Samen bestehen, und diese
Schale öffnet sich nicht wie bei der Walnuß von allei-
ne, um den Samen in die Umwelt zu entlassen.
& Lit.: Stichwort »Nut« in der MS Microsoft Enzy-
klopädie Encarta, 1994; Stichwort vorgeschlagen
von Maren Sylvester und Ralf Kehlenbeck.

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LexPI Bd. 1 »Wann bitte geht der nächste Schwan?« 332

»Wann bitte geht der nächste Schwan?«


Diese Frage wird oft dem Tenor Leo Slezak zuge-
schrieben, als Reaktion auf einen übereifrigen Büh-
nenarbeiter, der in einer Aufführung von Lohengrin
den Schwan mit Boot, aber ohne Slezak, auf die
Bühne schob.
In Wahrheit ist diese Anekdote auch schon von di-
versen Vorgängern von Slezak überliefert. Der erste
Lohengrin, dem diese schlagfertige Reaktion auf den
eiligen Schwan einfiel, war vermutlich der erste Sän-
ger dieser Rolle überhaupt, der Tenor Joseph Ticha-
tschek (1807–1886).
& Lit.: Tom Burnam: The dictionary of misinforma-
tion, New York 1976.

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LexPI Bd. 2 Waschbär 356

Waschbär
Waschbären waschen ihr Futter, um es zu reini-
gen
Waschbären waschen überhaupt nichts – in der freien
Natur kommt das Eintauchen von Gegenständen und
Futter ins Wasser, dem der Waschbär seinen Namen
verdankt, überhaupt nicht vor. Nur in Gefangenschaft
»wäscht« der Waschbär, indem er seine angestaute
Jagdlust auf Wasserlebewesen im »Waschen« von
Gegenständen entlädt, die der potentiellen Beute aus
dem Wasser ähnlich sehen.
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 12, Stuttgart 1972.

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LexPI Bd. 2 Wasser 357

Wasser
Kaltes Wasser gefriert schneller als heißes
Wenn man bei Frost zwei Eimer mit Wasser in den
Garten stellt, einen mit heißem (95°C) und einen mit
kälterem (50°C) Wasser, so wird der Eimer mit dem
heißen Wasser als erster gefrieren. Zwar muß das
heiße Wasser einen größeren Temperaturunterschied
überwinden, bis es bei 0°C gefriert, aber dieser Nach-
teil wird durch die beim Verdampfen erzeugte Kälte
mehr als ausgeglichen; außerdem bleibt so weniger
Wasser übrig, das gefrieren muß, daß am Ende in
dem Eimer mit dem zunächst heißeren Wasser als er-
stes Eis entsteht.
& Lit.: G.S. Kell: »The freezing of hot and cold
water«, American Journal of Physics 37, 1969, S.
564–565; Robert L. Wolke: Woher weiß die
Seife, was der Schmutz ist? Kluge Antworten auf
alltägliche Fragen, München 1998; Stichwort vor-
geschlagen von Claudius Schmidt.

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LexPI Bd. 1 Wasserfälle 332

Wasserfälle
Anders als viele Trivial-Pursuit-Besitzer glauben,
sind nicht die Angel-Falls in Venezuela mit ihrer Fall-
höhe von fast einem Kilometer die höchsten Wasser-
fälle auf der Welt. Und auch die Guaira-Fälle an der
Grenze zwischen Brasilien und Paraguay, mit einem
Volumen von durchschnittlich 13000 Kubikmetern in
der Sekunde, die gemeinhin als die wasserreichsten
gelten, tragen diesen Titel nicht zu Recht (genausowe-
nig wie die Niagarafälle in Amerika oder die Vikto-
riafälle in Afrika). Keiner dieser Fälle kommt an
Höhe und Volumen an die enormen Wassermassen
heran, nämlich rund fünf Millionen Kubikmeter pro
Sekunde, die sich zwischen Island und Grönland,
durch die sogenannte Dänemarkstraße, auf einer Brei-
te von 200 Kilometern mehrere tausend Meter in die
Tiefen des Atlantik stürzen.
Kein Mensch hat diese Wasserfälle je gesehen,
denn sie finden unterhalb der Meeresoberfläche statt.
Nichtsdestoweniger sind es echte Wasserfälle, denn
das kalte und deshalb dichte und schwere Nordpol-
wasser stürzt am wärmeren Atlantikwasser vorbei ge-
nauso in die Tiefe wie die Wasser oberhalb des Mee-
resspiegels.
Weitere unterseeische Wasserfälle gibt es noch um
die Antarktis, in der Nähe des Äquators und hinter
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wasserfälle 333

der Straße von Gibraltar.


& Lit.: John A. Whitehead: »Giant ocean cataracts«,
Scientific American, Februar 1991, S. 36–43.

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LexPI Bd. 1 Waterloo 333

Waterloo
Nur wegen der Preußen hat Napoleon die
Schlacht bei Waterloo verloren (s.a. ð »Ich woll-
te, es wäre Nacht ...«)
An einem verregneten Junitag des Jahres 1815 versu-
chen 70000 Franzosen, mit Gewehren, Bajonetten
und Kanonen eine etwa gleichgroße Armee von Eng-
ländern, Holländern und Belgiern, auch einigen tau-
send Deutschen, südlich des Dorfes Waterloo bei
Brüssel in die Flucht zu schlagen. Der Versuch miß-
lingt.
Im Gegensatz zu manchen Darstellungen in deut-
schen Geschichtsbüchern waren die Preußen unter
Blücher an dieser Schlacht nur minimal beteiligt.
Zwar stellten sie eine von vier Armeen, welche den
aus Elba zurückgekehrten Napoleon in Frankreich an-
greifen sollten, waren aber zwei Tage zuvor bei Ligny
von Napoleon geschlagen worden, und kamen erst
nach Waterloo, als die Entscheidung schon gefallen
war.
Lange vor dem Eintreffen der Preußen, um 11 Uhr
morgens, greifen die ersten französischen Infanteriere-
gimenter die linke Flanke der Engländer an – sie wol-
len Wellington verleiten, zur Verteidigung seiner
Flanke das Zentrum zu schwächen. Der Plan miß-
lingt – die Verteidiger behaupten ihre Stellung auch
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Waterloo 333

ohne Verstärkung. Darauf berennen die Franzosen mit


voller Macht, zu Fuß, zu Pferd und mit Kanonendon-
ner die alliierten Stellungen in der Mitte, werden aber
ein um das andere Mal zurückgeschlagen. Und als
dann selbst Napoleons Elitetruppe, die berühmte
Garde, keinen Durchbruch schafft, wird das Durch-
brechen der englischen Stellungen immer aussichtslo-
ser, die ersten Franzosen beginnen zu fliehen, Napo-
leon und seine Generäle können ihre Männer nicht
mehr halten, Panik entsteht, die Franzosen ziehen ab.
Diesen Sieg hatten die Alliierten vor allem der Ent-
schlossenheit ihrer Truppen zu verdanken, vor den an-
stürmenden, anreitenden, schießenden, säbelschwin-
genden französischen Grenadieren und Dragonern
nicht Reißaus zu nehmen. Die Preußen unter Blücher
kamen erst am späten Nachmittag dazu, als die Fran-
zosen schon entmutigt waren. Der berühmte Aus-
spruch Wellingtons »Ich wollte, es wäre Nacht oder
die Preußen kämen«, ist so nie gefallen (allein schon
deshalb nicht, weil die Preußen schon ab halb fünf
Uhr nachmittags, also bei hellem Tag, am Rand des
Schlachtfeldes zu sehen waren).
Natürlich haben die Reserven, die Napoleon den
Preußen unter Blücher entgegenstellen mußte, gegen
die Engländer gefehlt, aber diese hatten schon seit
Stunden Angriff auf Angriff der Franzosen abgeschla-
gen, und deshalb ist es nur fair, ihnen auch den Sieg
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Waterloo 334

bei Waterloo zu lassen.


Mit dieser Schlacht ist das Schicksal Napoleons
besiegelt: die politische Klasse Frankreichs entzieht
ihm das Vertrauen, er muß fliehen, findet alle Häfen
blockiert und ergibt sich schließlich dem Kapitän
eines englischen Kriegsschiffs, das vor Rochefort im
Atlantik patroulliert. Es folgen fünf Jahre Verban-
nung auf St. Helena, wo er als geschlagene Schachfi-
gur vom Rand des Brettes den Fortgang der Partie be-
trachtet, dann ist Napoleon endgültig tot.
& Lit.: John Keegan: The face of battle, New York
1976 (besonders das Kapitel über Waterloo).
¤ So verlief die Schlacht bei Waterloo: die Franzo-
sen rennen immer wieder, aber vergeblich, gegen
die englischen Linien an; die Preußen kommen erst
dazu, als die Schlacht bereits entschieden ist

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LexPI Bd. 1 Weihnachten 335

Weihnachten
Weihnachten ist der Tag der Geburt von Jesus
Christus
Der 25. Dezember wurde völlig willkürlich als Ge-
burtstag Christi festgesetzt – genausogut hätte man
auch den 1. Mai oder den 17. Juni nehmen können.
Und in der Tat hat man in den Anfängen des Chris-
tentums statt des 25. Dezembers auch verschiedene
andere Tage wie den 6. Januar, den 28. März, den 20.
April, den 20. Mai oder den 18. November als den
Tag der Geburt des Herrn gefeiert. Der 25. Dezember
wird erstmals Mitte des 4. Jahrhunderts ausgewiesen,
mit folgender Begründung: Die Empfängnis fand am
Jahresanfang statt, damals der 25. März, plus 9 Mo-
nate, ergibt den 25. Dezember. So schlug die Kirche
zwei Fliegen mit einer Klappe – der 25. Dezember
war ein etablierter heidnischer Feiertag (»dies solis
invicti natalis«), und das Hickhack um die Geburt des
Herren war beendet.
Warum allerdings die Empfängnis exakt am Jah-
resanfang stattgefunden haben sollte, konnte niemand
recht begründen.
Gegen den 25. Dezember spricht aber nicht nur
diese Willkür, sondern auch das Wetter. Denn am Ge-
burtsort Jesu, so der Evangelist Lukas, »lagerten Hir-
ten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Weihnachten 335

Herde«. Aber im Dezember ist es auch in Palästina


kalt, das Vieh bleibt in den Ställen.
& Lit.: J. Finnegan: Handbook of biblical chronolo-
gy, Princeton 1964; Konradin Ferrari
d'Occhieppo: Der Stern von Bethlehem in astro-
nomischer Sicht, Gießen 1994.

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LexPI Bd. 2 Weihnachtsbaum 357

Weihnachtsbaum
Weihnachtsbäume sind seit jeher Teil des Weih-
nachtsfestes (s.a. ð »Adventskranz«)
Für die meisten Mitteleuropäer gehören Weihnachten
und Weihnachtsbaum zusammen; solange wir zurük-
kdenken können, hat es an Weihnachten den Weih-
nachtsbaum gegeben.
Diese Tradition ist aber jünger, als die meisten
glauben. Die ersten Christen kannten keine Weih-
nachtsbäume, auch im Mittelalter, in der Renaissance
und in der frühen Neuzeit waren Weihnachtsbäume
zur Feier des Weihnachtsfestes unbekannt. Der schon
bei den Römern beliebte »mittelwinterliche
Grünschmuck« zur Feier der Jahreswende diente eher
heidnischen denn christlichen Gebräuchen, noch 1494
geißelte Sebastian Brant in seinem »Narrenschiff« das
Aufstecken von Tannenzweigen als verdammenswer-
ten Aberglauben.
Weihnachtsbäume gab es bis zum 16. Jahrhundert,
falls überhaupt, auch nur außerhalb der Häuser. Und
selbst das war der Obrigkeit noch lange Zeit ein Dorn
im Auge: »Nachdem wir in Erfahrung kommen, sie
daß umb Weihnachten in den Dörfern mit Ihren Hör-
nern blasen, mit dem Vorgeben, sie bliesen den Heili-
gen Christ herab, daß einige Bäume mit Kränzen auf-
gerichtet werden, so sie Lose-Bäume nennen, um wel-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Weihnachtsbaum 357

che das junge Volk ranzert und viel Unfug dabey trei-
bet«, ließ Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg
1693 von den Kanzeln verkünden, daß solches Trei-
ben »bey Vermeidung fiskalischer Inquisistion« hin-
fort verboten sei; die lokale Obrigkeit hätte »die Ver-
brecher ernstlich zu bestrafen«.
Die ersten Weihnachtsbäume im modernen Sinn,
geschmückte Tannen in der guten Stube, findet man
bei handwerklichen Zünften. Eine Bremer Zunftchro-
nik von 1570 etwa berichtet von einem im Zunfthaus
aufgestellten »Dattelbäumchen«, einem kleinen, mit
Äpfeln, Nüssen, Datteln und Papierblumen behängten
Tannenbaum, den die Kinder der Zunftgenossen zu
Weihnachten abschütteln durften, und aus dem Jahr
1597 weiß man von einem Umzug der Schneiderge-
sellen von Basel, die einen großen Baum voll Äpfel
und Käse umhertrugen und dann in ihrer Herberge
aufstellten und plünderten. Aus diesen Zunftgebäuden
und Gesellenunterkünften fand der Weihnachtsbaum
dann peu à peu den Weg auch in private Häuser,
wenn auch nur sehr zögerlich, und gegen den Wider-
stand von Obrigkeit und Kirche, und auch nur in den
Städten. Vor allem hohe Beamte, reiche Bürger, und
dann auch der Adel und die Fürsten schätzten diese
»Erscheinung eines aufgeputzten Baumes mit Wachs-
lichtern, Zuckerwerk und Äpfeln« (so Goethe in sei-
nem »Werther«), zunächst in Deutschland, dann auch
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Weihnachtsbaum 358

im übrigen Europa. 1816 brachte eine nassauische


Prinzessin den ersten Weihnachtsbaum nach Wien,
andere Fürstenkinder verbreiteten ihn in Rußland,
Norwegen und Dänemark, 1820 finden sich die ersten
Weihnachtsbäume in den Adelspalästen von Paris,
und mit dem Prinzen Albert, dem Mann der Königin
Viktoria, überquert der Weihnachtsbaum dann 1841
den Kanal. Aber ein echter Volksbrauch ist er nie ge-
wesen, bis Mitte des letzten Jahrhunderts waren es
weltweit vor allem die Reichen und die Fürsten, die
sich unter Weihnachtsbäumen trafen.
Zum allgemeinen, alle Kreise der Gesellschaft ver-
einenden Festsymbol wurde der Weihnachtsbaum erst
spät, und durch ein gar nicht friedliches Ereignis: den
Krieg von 1870/71. Am Heiligabend des Kriegswin-
ters ließen die überwiegend aristokratischen deut-
schen Heerführer in vielen Lazaretten und Quartieren
Weihnachtsbäume aufstellen, um auch das Fußvolk
etwas festlicher zu stimmen, und auf diese Weise,
durch eine Order von oben, wurden auch die niederen
Stände mit dem Weihnachtsbaum bekannt. Die be-
merkenswerten Zeiten, Heimweh, Friedenssehnsucht,
Stolz und deutscher Chauvinismus – »alles waberte
nun im weihnachtlichen Lichterglanz« – sorgten
dafür, daß die heimgekehrten Sieger diese Weih-
nachtsbäume hinfort nicht nur am Hof des Kaisers,
sondern auch in Arbeiter- und Bauernstuben strahlen
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Weihnachtsbaum 359

ließen.
& Lit.: Ingeborg Weber-Kellermann: Das Weih-
nachtsfest – Eine Kultur- und Sozialgeschichte
der Weihnachtszeit, Luzern 1978; Stichwort
»Christmas« in der MS Microsoft Enzyklopädie
Encarta, 1994.

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LexPI Bd. 2 Weimarer Republik 359

Weimarer Republik
Die Weimarer Republik endete mit der Macht-
übernahme durch die Nazis 1933
Die Weimarer Republik als »Republik« war 1933
längst gestorben; schon das im März 1930 ernannte
Kabinett Brüning respektierte nur noch dem Schein
nach die Verfassung; es regierte »mit quasi-diktatori-
schen Vollmachten und mit dem heimlichen Auftrag,
den Übergang zu einem konservativ-autoritären, par-
lamentsunabhängigen Regime zu vollziehen« (Haff-
ner), und auch die nachfolgenden Kabinette von
Papen und Schleicher regierten mit Notverordnungen
und Notstandsgesetzen großenteils am Parlament vor-
bei. Als Reichskanzler Hindenburg daher im Januar
1933 die Republik in die Hände Hitlers legte, über-
gab er im wesentlichen eine Leiche.
& Lit.: Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler,
München 1978.

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LexPI Bd. 1 Wein 335

Wein
Unglaublich, aber wahr: Deutscher Wein darf nicht
als »Wein« vermarktet werden. Die Sektkellerei Dein-
hard mußte per Gerichtsbeschluß das Wort »Wein«
auf ihren Weinflaschen entfernen (sie wollte damit
deutlich machen, daß ausnahmsweise Wein und nicht
wie üblich Sekt die Flaschen dieser Firma fülle).
Denn auf deutschen Weinflaschen darf nur das drauf-
stehen, was das deutsche Weinrecht offiziell erlaubt.
Und zu diesen erlaubten Angaben, wie Lage, Jahr-
gang, Produzent etc., gehört das Wort »Wein« nun
einmal paradoxerweise nicht. »Das Recht kommt zu
seinem Recht«, schreibt die Frankfurter Allgemeine
Zeitung. »Und Bacchus krümmt sich vor Lachen.«
& Lit.: »Wein-Krampf,« Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 5.3.1994, S. 13.

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LexPI Bd. 1 Weißbrot 336

Weißbrot
Weißbrot heißt soviel wie »weißes Brot«
Weißbrot kommt von »Weizenbrot«. Unsere Vorfah-
ren nannten den Weizen »Weiße«, daraus entstand
»Weißenbrot« und später Weißbrot, so wie wir es
noch heute nennen.
& Lit.: Walter Zerlett-Olfenius: Aus dem Stegreif,
Berlin 1943.

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LexPI Bd. 2 Weißwein 360

Weißwein
Weißwein wird aus weißen Trauben hergestellt
Wahr ist: Rotwein wird aus roten Trauben hergestellt.
Aber Weißwein wird sowohl aus roten wie aus wei-
ßen Trauben hergestellt. Bei der Produktion von Rot-
wein kommen die im sogenannten Einmaischapparat
zerquetschten Trauben mitsamt den Hülsen in den
Gärbehälter (vor allem diese Hülsen sorgen für die
rote Farbe). Bei der Produktion von Weißwein dage-
gen werden die Hülsen (= Trester) vor dem Gären
mittels einer Traubenmühle ausgeschieden; der so er-
zeugte Wein wird auch bei roten Trauben weiß.
& Lit.: Hugh Johnson: Der große Weinatlas, 24.
Auflage, Bern 1992; Stichwort vorgeschlagen von
H. van Maanen.

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LexPI Bd. 1 Weltumseglung 336

Weltumseglung
Der erste Weltumsegler war der Portugiese Fer-
nando Magellan
Der erste Weltumsegler war nicht der Portugiese Fer-
nando Magellan (oder Magalhães, wie die Portugie-
sen selber schreiben). Denn Magellan hat nie die Welt
umsegelt.
Magellan hat insgesamt zwei große Reisen unter-
nommen, die erste im Jahr 1505 von Westen nach
Osten, durch den Atlantik und den Indischen Ozean
nach Indien, die zweite von 1519 bis 1521 von Osten
nach Westen, durch den Atlantik, weiter durch die
nach ihm benannte Magellanstraße in den Pazifik und
dann zu den Philippinen, aber bei keiner dieser Rei-
sen ist er um den Globus ganz herum gekommen.
Nur wenn man beide Reisen aneinanderhängt, wird
eine Weltreise daraus: Die erste führte Magellan nach
Osten bis zur Insel Banda, das sind 130° östlicher
Länge. Die zweite Reise führe ihn nach Westen bis
zur Mactan-Insel auf den Philippinen, das sind 124°
östlicher Länge; dort wird Magellan bei Kämpfen mit
den Eingeborenen getötet.
Der erste Mensch, der wirklich die Welt »in einem
Rutsch« umsegelte, war Magellans Stellvertreter Juan
Sebastian Delcano, der die 31 Überlebenden der Ex-
pedition auf der Vittorio zurück ins spanische Sevilla
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LexPI Bd. 1 Weltumseglung 336

führt (und fortan die Aufschrift »Tu primus circumde-


disti me« – »Du hast mich als erster umrundet« auf
seinem Helm tragen darf). Der erste »echte«, von An-
fang bis Ende kommandierende Weltumsegler, war
der Engländer Sir Francis Drake.
& Lit.: Decouvreurs et conquerants, Paris 1980
(Deutsche Übersetzung: Meilensteine der Entdek-
kungen, Herrsching 1986).

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LexPI Bd. 2 Werkzeug 360

Werkzeug
Die Verwendung von Werkzeug unterscheidet
den Menschen von den Tieren
Viele Tiere benützen »Werkzeuge«: Insekten werfen
Sand auf Beutetiere, um diese an der Flucht zu hin-
dern, Fische spucken auf Fliegen (die dann ins Was-
ser fallen und gefressen werden), der Oktopus nutzt
Steine, um Muscheln aufzubrechen, auch Vögel ver-
wenden Steine, um Beuteeier aufzuschlagen, Elefan-
ten verwenden Baumzweige als Fächer oder Fliegen-
klatsche, Bären angeln mit Stöcken nach Früchten
hoch in Bäumen usw.
In den meisten dieser Fälle nutzen Tiere Dinge, die
sie finden oder die sie, wie der Fisch die Spucke, mit
sich führen. Aber es gibt auch Tiere, die ihre Werk-
zeuge selber herstellen: Gewisse Krähen etwa können
mit ihrem Schnabel kurze Zweige zu Haken biegen,
mit denen sie dann in Baumlöchern nach Beute sto-
chern.
& Lit.: B. Beck: Animal tool behavior – The use and
manufacture of tools by animals, New York 1980;
C.R. Hunt: »Manufacture and use of hook-tools
by New Caledonian crows«, Nature 379, 1996, S.
249–251; »Something to crow about«, The Eco-
nomist, 20.1.1996.
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LexPI Bd. 2 Wessis 361

Wessis
»Ossis« und »Wessis« gibt es erst seit dem Fall
der Mauer
Schon lange vor dem Fall der Mauer hießen die
»alten« Bundesbürger bei den DDR-Bewohnern
»Wessis« – ein Ausdruck sowohl von Abwertung wie
Neid: »Die Wessis kommen hierher mit ihren dicken
Mercedessen und machen den dicken Molly.« Mit
dem Fall der Mauer 1989 entstand dann auch als Ge-
genstück der Ossi.
& Stichwort vorgeschlagen von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 2 Westminster Abbey 361

Westminster Abbey
Die Westminster Abbey in London ist eine Abtei
Der letzte Abt hat die Westminster Abbey vor mehr
als 400 Jahren verlassen; seit 1560 heißt die Kirche
»Collegiate Church of St. Peter in Westminster«.

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LexPI Bd. 1 Wettbewerbsfähigkeit 337

Wettbewerbsfähigkeit
Wir können unseren Lebensstandard nur im in-
ternationalen Wettbewerb behaupten (s.a. ð
»Exporte«)
Der Lebensstandard, den die Menschen eines Landes
sich erwerben, hängt nur zu einem sehr kleinen Teil
von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ihres
Landes ab, so wie sie üblicherweise gemessen wird:
ob deutsche Autos, Leberwürste oder Druckma-
schinen sich in Indonesien oder China besser oder
schlechter verkaufen als Autos, Leberwürste oder
Druckmaschinen aus Japan, Frankreich oder England,
ist für den deutschen Lebensstandard reichlich uner-
heblich.
Daß trotzdem viele Menschen etwas anderes glau-
ben, liegt an einem falschen Vergleich: Sie vergleich-
en Deutschland und Japan mit Daimler-Benz und
Mitsubishi; sie glauben, daß der Konkurrenzkampf
der Nationen dem Konkurrenzkampf einzelner Firmen
gleicht.
So verhalten sich die Dinge aber nicht. Daimler-
Benz und Mitsubishi konkurrieren auf dem Welt-
markt um die gleichen Käufer; der Gewinn des einen
ist der Verlust des anderen, wer sich in diesem Wett-
bewerb nicht behauptet, muß die Segel streichen und
vom Markt verschwinden.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wettbewerbsfähigkeit 337

Anders ganze Volkswirtschaften – sie können nicht


vom Markt verschwinden. Denn anders als individu-
elle Produzenten produzieren sie einmal vor allem für
den Hausgebrauch – während vielleicht jeder tausend-
ste Mercedes an ein Mitglied der Belegschaft geht,
verbrauchen die Menschen eines Landes den weitaus
größten Teil ihres Sozialproduktes selbst. Und anders
als bei individuellen Firmen muß das Wachstum eines
Landes nicht auf Kosten eines anderen Landes
gehen – gerade durch die ökonomische Verflechtung
bekommt auch der Nachbar ein Stück vom Auftrags-
eingang ab.
Unser eigener Lebensstandard hängt damit vor
allem davon ab, wieviel und wie produktiv wir selber
arbeiten. Punkt. Wenn wir mehr bzw. produktiver ar-
beiten, nimmt der Lebensstandard zu. Wenn wir we-
niger bzw. unproduktiver arbeiten, nimmt der Lebens-
standard ab. Ob zur gleichen Zeit die Produktivität
anderswo auf diesem Globus noch schneller zunimmt
oder abnimmt, d.h. ob unsere internationale Wettbe-
werbsfähigkeit sich verbessert oder verschlechtert, ist
für unseren eigenen Lebensstandard unerheblich
(nicht dagegen für den Abstand unseres Standards
von dem in anderen Ländern; aber das soll uns hier
nicht bekümmern). Zwar mögen gewisse exportinten-
sive Industrien leiden, wenn wir verglichen mit ande-
ren an Produktivität verlieren, aber der dadurch aus-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wettbewerbsfähigkeit 338

gelöste industrielle Wandel ist nur ein laues Lüftchen


verglichen mit den Stürmen, die der Fortschritt ohne-
hin, ob mit oder ohne Ausland, mit sich bringt.
Der mit Abstand wichtigste Faktor für unser eige-
nes wirtschaftliches Wohlergehen ist unser eigener
Kapital- und Arbeitseinsatz. Für ein Land, das über-
haupt nicht handelt, ist diese Einsicht trivial: Für eine
Volkswirtschaft ganz ohne Außenhandel könnten
Hongkong, Japan oder Taiwan auch jenseits des An-
dromeda-Nebels liegen – sie sind für das eigene
Wohlbefinden so gut wie nicht vorhanden. Aber auch
Länder mit Außenhandel hängen von der internationa-
len Wettbewerbsfähigkeit weit weniger ab als die
meisten glauben. Ob Arbeiter in Singapur oder in
Shanghai zweimal oder zehnmal so hart oder so pro-
duktiv arbeiten wie in Cleveland oder Duisburg geht
die Arbeiter in Cleveland oder Duisburg wenig an;
ihre Lohntüte wird voller, wenn sie produktiver wer-
den, und leerer, wenn die Produktivität stagniert, und
zwar mehr oder weniger unabhängig von der Produk-
tivität der Arbeiter in anderen Ländern. Quer durch
alle großen Industrienationen dieser Erde wird das
Wachstum des heimischen Lebenstandards fast aus-
schließlich durch das Wachstum der heimischen Ar-
beitsproduktivität bestimmt, während die Exporterfol-
ge auf den Weltmärkten den heimischen Wohlstand
eher marginal berühren. Ja der durch die real zur Ver-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wettbewerbsfähigkeit 338

fügung stehenden Güter gemessene Wohlstand eines


Landes kann durch die Exporterfolge sogar sinken:
Wenn nämlich diese Exportüberschüsse erst durch
eine Abwertung der Währung möglich werden, kann
es ohne weiteres geschehen, daß wir unsere Importe
um soviel teurer bezahlen müssen, daß wir real be-
trachtet weniger für mehr bekommen: wenn wir nicht
papierene Devisen, sondern echte Wirtschaftsgüter
zählen, stehen wir trotz bzw. gerade wegen unserer
Exporterfolge rein ökonomisch schlechter da ...
& Lit.: Peter von der Lippe: Wirtschaftsstatistik, 4.
Aufl., Stuttgart 1990 (besonders Abschnitt X.7:
Messung der internationalen Wettbewerbsfähig-
keit); Lester Thurow: Head to head: The coming
economic battle among Japan, Europe and Ameri-
ca, New York 1992; Paul Krugmann: »Competiti-
veness: A dangerous obsession«, Foreign Affairs,
März/April 1994, 28–44; Paul Krugman: »The
end is not quite night«, The Economist,
29.4.1995, 117–118.

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LexPI Bd. 1 Wetter 339

Wetter
Das moderne Wetter spielt verrückt
Angesichts verschiedener Jahrhundert-Hochwasser
und Jahrtausend-Sommer vergessen viele Menschen:
Nicht das moderne Wetter spielt verrückt, das Wetter
generell ist immer schon verrückt gewesen.
Nur: diese früheren Kapriolen sind heute sehr
schwer nachzuweisen – früher gab es keine Thermo-
meter (sie wurden erst 1626 von dem italienischen
Arzt Sanctorius erfunden). So ist im wesentlichen nur
überliefert, ob Schnee gefallen ist (und er fiel schon
immer zu den seltsamsten Jahreszeiten) oder ob Flüs-
se oder Seen zugefroren waren (vor tausend Jahren
war der Nil z.B. zugefroren).
Mit der Verbreitung von Thermometern wurden
dann aber auch zunehmend exakte Temperaturanga-
ben überliefert, und so wissen wir z.B. heute, daß es
nach der sogenannten »Kleinen Eiszeit« im 16. und
17. Jahrhundert in Deutschland zwischenzeitlich wär-
mer war als in den Jahrhundertsommern dieser Tage.
& Lit.: Cornelia Block: »Das hat die Natur schon
früher geboten«, Frankfurter Allgemeine Zeitung
3.2.1995.

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LexPI Bd. 2 Wiener Walzer 361

Wiener Walzer
Der Wiener Walzer kommt aus Wien
Der Wiener Walzer kommt aus Bayern, dort wird
Mitte des 18. Jahrhunderts ein sogenannter Drehtanz
im Dreivierteltakt zum ersten Mal erwähnt.
& Lit.: Das Große Hör-Zu Buch der Erfindungen,
Frankfurt a.M. 1987.

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LexPI Bd. 2 Wiener Würstchen 362

Wiener Würstchen
Wiener Würstchen kommen eigentlich aus
Frankfurt
Ein weiterer Irrtum, dem wir selber bis vor kurzem
angehangen haben. Denn in Wien selber heißen die
Wiener Würstchen »Frankfurter« – aber nicht, um die
wahre Herkunft dieses Fleischproduktes zu benennen
(diese Würste sind tatsächlich in Wien erfunden wor-
den), sondern zu Ehren eines Metzgers (österreichisch
Fleischhauer) namens Frankfurter, der sie als erster
seinen Kunden offerierte.
& Stichwort vorgeschlagen von Matthias Bischoff.

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LexPI Bd. 2 Wigwam 362

Wigwam
Ein Wigwam ist ein Zelt
Hier irrt sich die Karl-May-Gemeinde. In der Sprache
der Algonkin-Indianer ist ein Wigwam eine »Woh-
nung«, eine ortsfeste Rundhütte aus Holz und Matten.
Indianer auf der Wanderschaft schlafen nachts in
»Tepes«.
& Lit.: W. Lindig: Die Kulturen der Eskimo und In-
dianer Nordamerikas, München 1972.

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LexPI Bd. 1 Wilhelm Tell 339

Wilhelm Tell
Der Freiheitskämpfer Wilhelm Tell hat wirklich
existiert (s.a. ð »Rütli-Schwur«)
Auch wenn unsere Schweizer Nachbarn das nicht
gerne hören – ihr geliebter Freiheitskämpfer Wilhelm
Tell hat niemals seine Pfeile durch die Schweizer Luft
geschossen – nach der Mehrheitsmeinung der akade-
mischen Historiker in- und außerhalb der Schweiz ist
der berühmte Held von Schillers Drama und Rossinis
Oper frei erfunden.
Die Folklore sieht das anders. »Anno domini 1307
ließ des römischen Königs Landvogt, der Geßler, am
St. Jakobstag zu Altdorf am Platz bei den Linden, wo
ein jeder vorbeigehen mußte, eine Stange aufrichten
und einen Hut oben drauf setzen«, überliefert sie.
»Und er ließ den Bewohnern des Landes bei Verlust
von Leib und Gut gebieten, daß jeder, der dort vorbei-
komme, dem Hut auf der Stange mit Verneigen und
Hutabziehen Ehre und Reverenz erweisen müsse, als
ob der König oder er selbst persönlich da wäre.«
Aber der »redliche und fromme Landmann von Uri,
Wilhelm Tell genannt«, grüßt diesen Popanz nicht,
und damit geht das Drama los: Tell wird angezeigt,
muß zur Strafe einen Apfel vom Kopf seines Kindes
schießen, tut das auch, wird dennoch verhaftet, weil er
zugibt, daß er im Falle eines Fehlschusses als näch-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wilhelm Tell 340

stes Geßler getötet hätte, wird per Schiff zu Geßlers


Burg gebracht, kann bei einem Sturm entkommen (die
berühmte Tellsplatte im Urner See zeigt heute noch
die Stelle, wo Tell dem Boot des Landvogtes ent-
sprungen sein soll), eilt dem Landvogt voraus, lauert
ihm in der berühmten »hohlen Gasse« auf, und er-
schießt ihn dort.
Diese Legende gibt es in verschiedenen Versionen.
In der ältesten, dem sogenannten »Tellenlied« aus der
Mitte des 15. Jahrhunderts, wird Tell im See ertränkt;
eine andere läßt Tell den Vogt sogleich nach seinem
rettenden Sprung vom Schiff, noch von der Tellsplatte
aus, erschießen. Und wieder andere Versionen ma-
chen Tell sogar zum Schwurgenossen, zum Mitglied
des berühmten Geheimbundes, der die Schweizer Ur-
kantone vom Joch der Habsburger befreien wollte.
Gemeinsam ist allen Varianten der Legende die
zeitliche Entfernung – das Tellenlied entstand mehr
als hundert Jahre nach den fraglichen Ereignissen –,
der Mangel bzw. die völlige Abwesenheit von schrift-
lichen Zeugnissen, und eine Fülle von Widersprüchen
in der Handlung, welche die Historiker schon früh an
der Wahrheit dieser Überlieferung zweifeln ließen (so
datiert etwa der Bundesbrief, in dem die Eidgenossen
sich zu gegenseitigem Beistand verpflichten, aus dem
Jahr 1291; der Landvogt Geßler starb dagegen 1307).
Sehr verdächtig ist auch der berühmte Apfelschuß:
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wilhelm Tell 340

Dieses zentrale Motiv der Tellgeschichte, der Befehl,


einen Apfel vom Kopf des eigenen Kindes zu schie-
ßen, findet sich schon in verschiedenen nordischen
Märchen, die weit vor 1300 zurückreichen, und
könnte von durchreisenden Kaufleuten in den Schwei-
zer Tälern überliefert worden sein. Denn »nördlich
des 54. Breitengrades hat fast jedes Volk seinen Wil-
helm Tell«, schreibt der französische Historiker Ber-
gier. »Der Schweizer Tell ist bloß, allerdings mit wei-
tem Abstand, der südlichste.« Und mit großer Wahr-
scheinlichkeit genauso erfunden wie die anderen Tell-
gestalten auch.
& Lit.: Jean-François Bergier: Wilhelm Tell: Reali-
tät und Mythos, München 1988.
¤ Wilhelm Tell

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LexPI Bd. 2 Windenergie 362

Windenergie
Windenergie ist eine reale Alternative zu Kohle
und Atomkraft
Windenergie wird niemals in der Lage sein, die her-
kömmliche Stromerzeugung auch nur ansatzweise zu
ersetzen. Selbst wenn sämtliche verfügbaren freien
Flächen in der Bundesrepublik mit Windrädern be-
pflastert würden, könnte Windenergie nur 12% des
aktuellen Stromverbrauchs von 480 Milliarden Kilo-
wattstunden pro Jahr erzeugen.
In der Praxis tritt die Ausbreitung der Windturbi-
nen aber schon viel früher auf Probleme: Welche Ge-
meinde will schon ihr gesamtes Umland für Turbinen
opfern? Um die angestrebten 12% tatsächlich zu er-
reichen, wären 40mal mehr Windturbinen nötig, als
schon heute republikweit ihre Flügel drehen; das wäre
nur möglich, wenn der gesamte »beplanbare« Außen-
bereich aller deutschen Städte und Gemeinden allein
für Windräder verwendet würde. Nach Schätzung von
Experten wird also der Anteil der Windenergie an der
deutschen Stromerzeugung auch auf lange Sicht die
aktuellen drei Promille nie um große Margen über-
steigen.
& Lit.: Otfried Wolfrum: »Der große Schwindel –
Deutschland leistet sich hohe Subventionen für
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Windenergie 363

einen energiepolitischen Irrweg«, Frankfurter All-


gemeine Zeitung, 24.10.1996.

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LexPI Bd. 2 Winterpalais 363

Winterpalais
Das Winterpalais in St. Petersburg wurde von
den Bolschewisten erstürmt (s.a. ð »Oktoberre-
volution 2« sowie in Band 1 ð »Bastille«)
Der Sturm auf das Winterpalais ist die russische Ver-
sion des Sturms auf die Bastille: ein heldenhafter An-
griff auf die letzte Bastion einer abgedankten, vom
Fortschritt überrollten Klasse.
In Wahrheit wurde das Winterpalais genau wie die
Bastille friedlich übergeben. In der Nacht vom 6. auf
den 7. November 1917 moderner Zeitrechnung (nach
dem alten russischen Kalender die Nacht vom 24. auf
den 25. Oktober) hatten die Anhänger Lenins, ohne
auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, die Bahn-
höfe, Postämter und Brücken St. Petersburgs besetzt,
es fehlte nur noch der sogenannte »Winterpalast«, in
dem die im Juli 1917 ernannte und von ein paar Dut-
zend Kadetten, einer Kosakenkompanie und einem
Frauenbataillon beschützte provisorische Regierung
Kerenski residierte.
Am Morgen des 7. November erklärt Lenin diese
Regierung für abgesetzt; er fordert die im Winterpa-
last versammelten Minister Kerenskis auf, sich zu er-
geben. Da keine Antwort kommt, versuchen einige
Bolschewisten, das Palais zu stürmen, ziehen sich
aber bei der ersten Gegenwehr zurück. Gegen Abend
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Winterpalais 363

des 7. November schießt auch noch der Kreuzer Au-


rora eine Salve Übungsmunition auf den Palast,
unterstützt von Geschützen aus der nahegelegenen
Peter-und-Pauls-Festung, die aber den Palast nicht
treffen (nur zwei von mehr als 30 Schüssen gehen,
ohne großen Schaden anzurichten, auf dem Palastge-
lände nieder). Auch einige Abteilungen von Lenins
Roten Garden dringen während der Feuerpausen in
den Palast, ergeben sich aber sofort, als sie auf be-
waffnete Kadetten stoßen.
Mittlerweile beschließen die Verteidiger, durch das
Ausbleiben des Ministerpräsidenten entmutigt, der am
Morgen zwecks Heranholen von Hilfe den Palast ver-
mummt verlassen hatte, ihre Gegenwehr einzustellen;
die militärischen Einheiten lösen sich auf, die Kosa-
ken und die Kanoniere eines auf dem Palastgelände
aufgestellten Geschützes verlassen das Gelände und
tauchen in der Menge unter. Nur noch das Frauenba-
taillon und einige Kadetten bleiben, ohne Gegenwehr
zu leisten, in den Mauern des Palastes.
Durch das ausbleibende Gegenfeuer ermutigt, näh-
ern sich spätabends Rote Garden und Matrosen dem
Gelände; durch offene Fenster und unverschlossene
Tore tasten sie sich, ohne auf Gegenwehr zu stoßen
und ohne daß es Kämpfe gibt, zu den im sogenannten
Malachitsaal versammelten Ministern Kerenskis vor
und nehmen diese fest. Und erst als klar ist, daß keine
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Winterpalais 364

Gefahr mehr droht, stürmt dann auch der Mob die


Räume, zertrümmert die Möbel, trinkt den Rotwein
der Regierung und feiert, nicht ohne vorher einige
Frauen der Wachmannschaft vergewaltigt zu haben,
seine großen Heldentaten.
& Lit.: Peter Preis: Die Russische Revolution, Ber-
lin 1992; Stichwort vorgeschlagen von Alfredo
Grünberg.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Winterschlaf 1 364

Winterschlaf 1
Tiere schlafen während des Winterschlafes
Nicht alle. Nach Meinung des amerikanischen Physio-
logen Brian Barnes verhindert die große Kälte zuwei-
len geradezu das Schlafen – die Tiere frieren, ohne
Hirnsignale oder Atmung zu zeigen, einfach ein, aber
das erstarrte Gehirn kann gerade wegen dieser Erstar-
rung nicht auf normale Weise schlafen. Deshalb stei-
gert z.B. das arktische Backenhörnchen ein- bis zwei-
mal während der Wintermonate seine Körpertempera-
tur, dabei mehr als 80% des gespeicherten Körperfetts
verbrauchend, nur um sich einmal richtig auszuschla-
fen.
& Lit.: Deutschland Radio Newsletter, Wissenschaft
und Forschung, 31.8.1996.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 2 Winterschlaf 2 364

Winterschlaf 2
Bären halten Winterschlaf
Bären dösen im Winter vor sich hin, halten aber kei-
nen »echten« Winterschlaf; ihre Körpertemperatur
sinkt um einige Grad, aber sie reagieren weiterhin auf
Umweltreize und können bei Gefahr auch fliehen.
Zudem kommen ihre Jungen gewöhnlich im Winter
zur Welt und werden dann natürlich auch gesäugt.
& Lit.: Grzimeks Tierleben, Bd. 12, Stuttgart 1972.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Wirtschaftswachstum 1 341

Wirtschaftswachstum 1
Das 19. Jahrhundert war die hohe Zeit des Wirt-
schaftswachstums
Die Volkswirtschaften Europas sind im 19. Jahrhun-
dert zwar schneller gewachsen als in den Jahrhunder-
ten davor – im Durchschnitt rund ein Prozent pro
Kopf und Jahr –, aber verglichen mit dem rasanten
Wachstum hundert Jahre später war das nur ein
Schneckentempo: Während unsere Urgroßeltern noch
rund 70 Jahre auf eine Verdoppelung ihres Realein-
kommens warten mußten, schaffen wir das heute im
Durchschnitt aller europäischen Industrienationen in
nur 30 Jahren (bisher zumindest).
& Lit.: Simon Kuznets: Modern economic growth,
New Haven 1966.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Wirtschaftswachstum 2 341

Wirtschaftswachstum 2
Das Wirtschaftswachstum wird vor allem von
kleinen Firmen angetrieben
Nach dem Motto »Small is beautiful« gelten vor
allem kleine Firmen als Motor des Wirtschaftsfort-
schritts, als die großen Schaffer neuer Arbeitsplätze.
Nach einer Studie der OECD ist das aber etwas
übertrieben, zumindest in betreff der Arbeitsplätze.
Richtig ist, daß Firmen mit weniger als 100 Beschäf-
tigten quer durch alle OECD-Länder mehr Arbeits-
kräfte netto neu beschäftigen als ihrem Anteil an allen
Arbeitnehmern in der Volkswirtschaft entspricht:
Während etwa Ende der 80er Jahre in fast allen
OECD-Ländern die Arbeitsplätze in Betrieben mit
mehr als 100 Beschäftigten zurückgingen, nahmen sie
in Betrieben mit weniger als 100 Arbeitnehmern zu.
Aber diese Zunahme könnte auch andere Ursachen
als die Dynamik kleiner Firmen haben, angefangen
bei der trivialen Tatsache, daß eine Firma mit nur 10
Mitarbeitern nicht mehr als 10 Mitarbeiter entlassen
kann. Oder anders ausgedrückt: kleine Firmen können
viel wachsen, aber nur wenig schrumpfen. Und wenn
eine kleine Firma während einer Konjunkturblase ein-
mal über 100 Beschäftigte kommt, in der nächsten
Konjunkturdelle dann aber wieder weniger als 100
Menschen beschäftigt, geht das Plus auf das Konto
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wirtschaftswachstum 2 342

der Kleinen, das Minus auf das Konto der Großen.


Dieses Phänomen ist anderswo in der Statistik als die
»Regression zum Mittelwert« bekannt.
Weitere Gründe für die optische Überlegenheit der
kleinen Firmen sind: (i) der Strukturwandel weg von
der Industrie mit ihren Großbetrieben hin zu den
Dienstleistungen mit ihren eher kleinen Firmen, wo-
durch die kleinen Firmen auch dann den Gesamtsieg
davontragen könnten, wenn sie in jeder Einzelbranche
unterlegen wären (das sogenannte »Simpson-Para-
dox«), sowie (ii) das zunehmende Auslagern von Vor-
arbeiten aus den Zentralen Großfertigungsbetrieben
auf dezentrale Zulieferer, wie es etwa bei den Auto-
bauern heute gang und gäbe ist: wenn VW und Opel
ihre Sitzbezüge oder Autoaschenbecher heute außer
Hauses fertigen lassen, so sieht das aus, als hätten
VW und Opel Arbeitsplätze abgebaut und Kleinbe-
triebe Arbeitsplätze aufgebaut; in Wahrheit hängen
auch weiter alle Arbeitsplätze an der Nabelschnur der
großen Mutter.
Damit wollen wir den zahlreichen innovativen klei-
nen Firmen hierzulande durchaus nicht den wohlver-
dienten Lorbeer streitig machen; aber einige dieser
Lorbeerblätter sind auch ein Produkt von falsch ver-
standener Statistik ...
& Lit.: Milton Friedman: »Do old fallacies ever
die?« Journal of Economic Literature 30, 1992,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wirtschaftswachstum 2 342

2192–2132; »Belittled«, The Economist,


23.7.1994, S. 62; Walter Krämer: Denkste! Trug-
schlüsse aus der Welt des Zufalls und der Zahlen,
Frankfurt 1995 (besonders die Ausführungen zum
Simpson-Paradox und zur Regression zum Mittel-
wert).

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LexPI Bd. 1 Wirtschaftswachstum 3 342

Wirtschaftswachstum 3
Wirtschaftswachstum ist ökologisch schädlich
Für die meisten Menschen dieser Erde, d.h. für die
rund 5 Milliarden Menschen, die nicht in den reichen
Industrieländern des Nordens leben, ist Wirtschafts-
wachstum die einzige Hoffnung, einer Umweltkata-
strophe zu entkommen. In den Ländern der Dritten
Welt sterben pro Jahr rund 5 Millionen Kinder durch
verseuchtes Trinkwasser; insgesamt leiden mehr als
eine Milliarde Erdenbürger derzeit an umweltbeding-
ten Krankheiten, gegen dieses durch Armut und wirt-
schaftliche Unterentwicklung erzeugte Massenleiden
und Massensterben wirkt unser Wohlstandsgejammer
über Global Warming und Ozonloch einfach lächer-
lich.
Natürlich ist Wirtschaftswachstum für die Umwelt
auch kein reiner Segen. Aber um mit eben dieser Um-
welt verantwortungsbewußter umzugehen, ist nach
der Erfahrung der letzten hundert Jahre ein gewisser
wirtschaftlicher Wohlstand nötig, den die meisten
Menschen dieser Erde noch nicht haben. Insbesondere
ist Wohlstand die beste Bremse der Bevölkerungsver-
mehrung, denn vor allem diese Bevölkerungsvermeh-
rung und nicht das Wirtschaftswachstum ist es, was
die Umwelt weltweit so belastet.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wirtschaftswachstum 3 343

& Lit.: Wilfred Beckermann: Small is stupid, Lon-


don 1995.

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LexPI Bd. 1 Wirtschaftswachstum 4 343

Wirtschaftswachstum 4
Deutschland ist das Wirtschaftswunderland Eu-
ropas
Die meisten Zeitungsleser wissen, daß unter allen gro-
ßen Industrienationen dieser Erde nicht die Deut-
schen, sondern die Japaner in den Jahrzehnten nach
dem zweiten Weltkrieg das größte Wirtschaftswach-
stum hatten (zwischen 1950 und 1990 real rund 7%
pro Jahr). Was viele aber nicht wissen: selbst in Eu-
ropa ist Deutschland nur der zweite Sieger; das größte
Nachkriegs-Wirtschaftswachstum unter allen Ländern
Westeuropas verzeichnete Italien (zwischen 1950 und
1990 real rund 5% pro Jahr; verglichen mit rund
4,5% in Westdeutschland).
Hierzu gäbe es sicher noch einiges zu sagen (siehe
die Stichwortartikel über den Sinn und Unsinn des
Bruttosozialprodukts als Maßstab wirtschaftlicher
Leistung), aber ganz so einzigartig, wie viele Deut-
sche ihren Nachkriegs-Aufschwung gerne sehen, war
dieser auch nun wieder nicht.
& Lit.: The Economist 28.8.1993, S. 95.

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LexPI Bd. 1 Wohnraummangel 343

Wohnraummangel
In der Bundesrepublik herrscht Wohnraumman-
gel (s.a. ð »Mieterschutz«)
Noch nie in der Geschichte Deutschlands gab es so-
viel Wohnraum wie zur Zeit. Im Jahr 1950 teilten
sich 47 Millionen Menschen 10 Millionen Wohnun-
gen mit zusammen 41 Millionen Zimmern und rund
800 Millionen Quadratmeter Wohnraum in der Bun-
desrepublik (alte Bundesländer; wegen der Unzuver-
lässigkeit der amtlichen Zahlen lassen wir die alte
DDR hier außen vor). Das macht weniger als einen
Raum und weniger als 20 Quadratmeter pro Kopf. Im
Jahr 1990 teilten sich 60 Millionen Menschen rund
25 Millionen Wohnungen mit mehr als 100 Millionen
Räumen und mehr als zwei Milliarden Quadratmeter
Wohnraum; das macht fast zwei Räume und mehr als
30 Quadratmeter pro Kopf. Sowohl in absoluten Zah-
len als auch pro Kopf gerechnet hat der Wohnraum in
der Bundesrepublik damit geradezu dramatisch zuge-
nommen (und nimmt seit 1990 weiter zu).
& Lit.: Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische
Forschung: Mehr Markt im Wohnungswesen, Bad
Homburg 1984; Statistisches Jahrbuch für die
Bundesrepublik Deutschland, verschiedene Jahre;
Expertenkommission Wohnungspolitik: Woh-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wohnraummangel 344

nungspolitik auf dem Prüfstand. Tübingen 1995.

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LexPI Bd. 1 Wölfe 1 344

Wölfe 1
Wölfe jagen gerne rudelweise
Wölfe leben von Mäusen, Eichhörnchen oder Kanin-
chen. Dazu müssen sie keine Rudel bilden. Nur im
Winter, wenn das Futter knapper wird und sie man-
gels Mäusen auch größeren Tieren nachstellen, bilden
Wölfe manchmal Rudel. Aber diese sind nie sehr
groß, oft nur ein Ehepaar mit seinen Kindern, und
eher die Ausnahme als die Regel.

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LexPI Bd. 1 Wölfe 2 344

Wölfe 2
Wölfe attackieren Menschen
Laut Isaac Asimov gibt es bis heute keinen bekannten
Fall eines Angriffs eines Wolfs auf einen Menschen
(tollwütige Tiere ausgenommen). Eine Zeitung im ka-
nadischen Sault St. Marie, das in einer Wolfsgegend
liegt, hatte jahrelang eine Belohnung ausgesetzt für
jeden, der eine solche Attacke beweisen konnte. Die
Belohnung wurde niemals abgeholt (nicht weil die
Opfer sich nicht melden konnten, sondern weil es
keine Opfer gab).
Nach langen Jahren des Exils werden Wölfe heute
auch in Deutschland wieder heimisch. In Brandenburg
gibt es schon einen festen Wolfsbestand, und man
rechnet damit, daß sich die Wölfe entlang ihrer alten
Wanderwege auch weiter westlich der Elbe wieder
ausbreiten werden. »Das sind sehr scheue Tiere, die
man normalerweise gar nicht zu Gesicht bekommt«,
sagt der Artenschutzreferent des niedersächsischen
Umweltministeriums dazu, und er empfiehlt: »die
Wölfe in Ruhe lassen und nicht totschießen.«
& Lit.: Isaac Asimov: Buch der Tatsachen, Ber-
gisch-Gladbach 1981; »Ausgerottete Tierarten
werden wieder heimisch«, Hannoversche Allge-
meine Zeitung, 30.6.1995.
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LexPI Bd. 1 Wölfe 3 345

Wölfe 3
Wölfe haben Menschenkinder großgezogen
Seit der Sage von Romulus und Remus hält sich das
Gerücht, daß Menschenkinder oft von Wölfen groß-
gezogen werden. So soll etwa eine Wolfsmutter im
Jahr 1912 in Indien ein kleines Kind gestohlen und
sieben Jahre großgezogen haben – die eigentliche
Mutter hatte den Säugling während der Feldarbeit ir-
gendwo im Schatten abgestellt; als sie ihn am Abend
mit nach Hause nehmen wollte, war das Baby weg. Es
soll das gleiche Kind gewesen sein, das dann sieben
Jahre später in einem Rudel Wölfe aufgefunden
wurde; man brachte es in das Waisenhaus von Midna-
pore, wo es auf allen Vieren wie ein Wolf herumlief
und 10 Jahre später starb.
Nach Meinung der meisten Zoologen ist diese Ge-
schichte aber erfunden, genauso wie die Berichte über
andere Wolfskinder in Indien, die Mitte des Jahrhun-
derts durch die westlichen Medien geisterten. Die
meisten dieser Anekdoten beruhen allein auf den von
keiner anderen Person bestätigten Berichten eines Re-
verend J.A.L. Singh aus Midnapore, der sich damit
vermutlich nur wichtig machen wollte. Viel wahr-
scheinlicher ist die Deutung, daß die unter Wölfen
aufgefundenen wie auch die angeblich von Wölfen
verschleppten Kinder erstens nicht identisch sind und
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LexPI Bd. 1 Wölfe 3 345

zweitens von ihren Eltern mit Absicht abgeschoben


wurden – alle indischen Wolfskinder waren Mädchen,
und wie leicht in Indien Mädchen einfach so »ver-
schwinden«, ist leider nur zu gut belegt. Und weil
man das Verschwinden des Kindes irgendwie erklären
mußte, erfand man die Geschichte mit den Wölfen ...
Wurde dann ein solches ausgesetztes Mädchen zu-
fällig im Wald gefunden, und waren auch noch Wölfe
in der Nähe, so war der Schluß auf ein Leben unter
Wölfen auch nicht mehr sehr weit. Aber in Wahrheit
hatten diese Kinder vermutlich niemals engeren Kon-
takt zu Wölfen, von einem Säugen durch eine Wölfin
ganz zu schweigen ...
Auch andere Geschichten von einem Leben unter
Tieren entpuppen sich bei näherer Überprüfung
schnell als Seifenblase, wie die erstaunliche Biogra-
phie des südafrikanischen Pavianmenschen Lucas
(»Lukas the Baboon-Boy«), der mit seinen Erzählun-
gen sogar wissenschaftliche Fachjournale foppen
konnte (siehe etwa das American Journal of Psycho-
logy vom Januar 1940). Wie sich beim näheren Nach-
forschen ergab, war Lukas nicht unter Pavianen, son-
dern im Gefängnis großgeworden ...
& Lit.: Arnold Gesell: Wolf Child and Human
Child, New York 1940; derselbe: »The biography
of a wolf-child«, Harper's Magazine, Jan. 1941,
183–193 (hier ist die vermeintliche Lebensge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Wölfe 3 346

schichte des von indischen Wölfen entführten


Säuglings nacherzählt).
¤ Solche Szenen gibt es nur in der Legende: Romu-
lus und Remus, von einer Wolfsmutter gesäugt

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LexPI Bd. 2 Wolfsburg 365

Wolfsburg
Die Stadt Wolfsburg hieß schon immer Wolfs-
burg
Das heutige Wolfsburg wurde am 1. Juli 1938 durch
Zusammenlegen mehrerer Gemeinden als »Stadt des
KdF-Wagens« gegründet. Diesen Namen behielt die
Stadt bis 1945, dann wurde sie auf Antrag der ersten,
noch von der britischen Militärregierung eingesetzten
Stadtverordnetenversammlung in »Wolfsburg« umge-
tauft.
¤ Umtaufen – einfach gemacht

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LexPI Bd. 2 Wolkenkratzer 1 365

Wolkenkratzer 1
Die höchsten Wolkenkratzer gibt es in den USA
Die derzeit höchsten Wolkenkratzer gibt es in Malay-
sia. Die Petronas Towers in Kuala Lumpur sind mit
450 Meter sieben Meter höher als der Sears Tower,
der höchste amerikanische Wolkenkratzer in Chicago.
(Aber während dieses Buch gedruckt wird, wächst in
Chungking in China der Chungking Tower mit 457
Metern seinem Richtfest zu.)
& Lit.: »Die Himmelsstürmer«, Zug 1/1997.

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LexPI Bd. 2 Wolkenkratzer 2 366

Wolkenkratzer 2
Bei starkem Wind schwingen Wolkenkratzer
mehrere Meter hin und her
Anders als viele glauben, schwingen Schornsteine,
Fernsehtürme und Wolkenkratzer selbst bei starkem
Wind kaum hin und her. Das neue Commerzbank-
Hochhaus in Frankfurt am Main z.B. weist an der
Kühlturmspitze (56. OG) eine maximale Horizontal-
verformung von 44 cm auf, und das auch bei Stür-
men, die in Deutschland einmal alle hundert Jahre
blasen.
Das innerhalb von großen Gebäuden gelegentlich
beobachtete Schwingen ähnelt mehr dem Surren einer
Gabelzinke: Milde Vibrationen des Gebäudes werden
im Innern zu größeren Ausschlägen verstärkt. So ent-
steht irrtümlich der Eindruck, das gesamte Gebäude
schwinge mehrere Meter hin und her.
& Lit.: Wilfried Ladberg: »Commerzbank-Hochhaus
Frankfurt/Main, Planung, Fertigung und Montage
der Stahlkonstruktion«, Stahlbau 65, 1996, Heft
10.
¤ Der derzeit höchste Wolkenkratzer

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LexPI Bd. 1 Woodstock 346

Woodstock
Das berühmte Rock-Konzert von Woodstock aus dem
Sommer 1969 fand gar nicht in Woodstock statt –
dieses Städtchen im amerikanischen Bundesstaat New
York ist rund 100 Kilometer vom Ort des legendären
Großkonzerts entfernt. Die nächste Stadt heißt Bethel.
Aber »Bethel« macht sich schlecht als Titel einer
Langspielplatte, und deshalb hat man das Konzert in
»Woodstock« umgetauft.
Ein weiterer Woodstock-Irrtum betrifft den eigent-
lichen Zweck des Ganzen. Anders als viele Rock-No-
stalgiker gerne glauben, war das Festival nie als das
kostenlose Friedens-Musik-Verbrüderungfest geplant,
als das es in der einschlägigen Folklore weiterlebt.
Erst als die Zuhörer-Massen die Kassenhäuser über-
rannten, wurde das Kassieren eingestellt. Eine Ein-
trittskarte für das Erinnerungsfestival im Sommer
1994 kostete mehr als 200 Mark.
& Lit.: »For love and profit«, The Economist, 9. Juli
1994.

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LexPI Bd. 2 Würfel 367

Würfel
»Die Würfel sind gefallen«, sprach Cäsar am Ru-
bikon
Diesen Satz hat Cäsar weder so gesagt noch so ge-
meint. Der Historiker Plutarch, dem wir diese Anek-
dote verdanken, berichtet diesbezüglich so: »Als
Cäsar den Fluß erreichte, der das diesseits der Alpen
gelegene Gallien vom übrigen Italien trennt – er heißt
Rubikon –, kamen ihn Bedenken an; er stand nun un-
mittelbar vor der ungeheuren Tat, und ihn schwindelte
vor der Größe des Wagnisses. Er ließ den Zug anhal-
ten; lange überdachte er, in sich selbst versunken,
schweigend seine Entscheidung, das für und wider ab-
wägend, und wendete seine Entschlüsse in dieser Zeit
noch viele Male hin und her. Lange erörterte er sie
auch mit den Freunden in seinem Gefolge und über-
schlug, wieviel Unglück für die Menschheit von die-
sem Übergang ausgehen werde, und welches Urteil
sie der Nachwelt wohl hinterlassen würden. Schließ-
lich riß er sich mit einer leidenschaftlichen Aufwal-
lung von den Bedenken los, dem Kommenden entge-
gen, und sprach die Worte all jener, die sich auf unge-
wisse Schicksale und Wagnisse einlassen: Anèrriptho
kybos, hochgeworfen sei der Würfel!«
Dieses »Anèrriptho kybos« war ein Halbvers des
von Cäsar hoch verehrten griechischen Dichters Men-
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LexPI Bd. 2 Würfel 367

ander; er wurde, falls überhaupt, auf griechisch ausge-


sprochen und später – falsch – mit »alea iacta est« im
Sinne von »die Entscheidung ist gefallen« übersetzt.
Zwar war eine Entscheidung in der Tat gefallen, aber
das nochmals eigens zu betonen, wäre Cäsar vermut-
lich überflüssig vorgekommen. Dieser Spruch, sofern
denn überhaupt gefallen, war eher als ein Ausdruck
von Fatalismus zu verstehen: Ab jetzt ist mir die
Sache aus der Hand genommen, alles weitere wird das
Schicksal zeigen.
& Lit.: »Hochgeworfen sei der Würfel: Cäsars Über-
gang über den Rubikon am 11. Januar 49 v.
Chr.«, Neue Zürcher Zeitung, 10.1.1997; Stich-
wort vorgeschlagen von Hans Riedwyl.

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LexPI Bd. 2 Wüste 1 368

Wüste 1
In der Wüste droht die größte Gefahr durch das
Verdursten
In der Wüste droht die größte Gefahr durch das Er-
trinken; in der Sahara z.B. sind bisher weit mehr
Menschen ertrunken als verdurstet ...
In der Wüste regnet es selten, aber heftig. Dann
stürzen sich diese unverhofften Fluten durch Täler,
von denen man nicht ahnte, daß hier jemals Wasser
fließen könnte, auf all die ahnungslosen Menschen,
die sich aus welchen Gründen auch immer gerade in
diesen Tälern aufhalten, und ertränken jeden, der
keine Zeit mehr hat zu fliehen. Auf diese Weise sind
an einem einzigen Wochenende 1995 in der Sahara
mehr als 300 Urlauber ertrunken.
Da diese Wolkenbrüche oft nur lokal begrenzt her-
niedergehen, hat der Tourist 10 bis 20 km weiter von
dieser Wasserwelle keine Ahnung: »Es kann vorkom-
men, daß man am Rande eines seit Jahren ausgetrock-
neten Wadis steht und plötzlich ein Brausen ver-
nimmt, das rasch zu einem gurgelnden Donner an-
schwillt«, lesen wir in einem Geographie-Lehrbuch
für die deutschen Schulen. »Plötzlich erblickt man
eine 2 m hohe Wasserwand, die aus einer Biegung
des Wadis herausschießt. Schon steht man am Rande
eines entfesselten Wildflusses, der alles mit sich
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LexPI Bd. 2 Wüste 1 368

reißt.«
& Lit.: H.-G. Kranke und L. Rother (Hrsg.): Terra –
Erdkunde 7, Stuttgart 1985; Geo-Spezial: Sahara,
1992; J. Wetzel (Hrsg.): Seydlitz – Geographie 3,
Hannover 1995; »Hunderte Urlauber ertranken in
der marokkanischen Wüste«, Badische Neueste
Nachrichten, 21.8.1995; Stichwort vorgeschlagen
von Jürgen Kloppenburg.

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LexPI Bd. 2 Wüste 2 369

Wüste 2
Niemand hört den »Rufer in der Wüste«
Im Gegenteil, das ganze Volk kommt angelaufen.
»Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn
den Weg! Ebnet ihm die Straßen!« verkündet der Pro-
phet Jesaja. Und als Johannes der Täufer dann tat-
sächlich in die Wüste von Judäa zieht und ausruft:
»Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe« (Matt-
häus 3,2), da ist sein Rufen nicht vergeblich: »Die
Leute von Jerusalem und ganz Judäa zogen zu ihm
hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen sich von
ihm taufen.«
& Lit.: Die Bibel – Einheitsübersetzung, Stuttgart
1980; Stichwort vorgeschlagen von H. van Maa-
nen.

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X 370

»Ich weiß, daß ich nichts weiß.«


Sokrates

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LexPI Bd. 2 Xanthippe 370

Xanthippe
Xanthippe war eine Xanthippe
»Außerdem möchte ich mit der Verleumdung der
Xanthippe als zänkisches Weib aufräumen«, schreibt
uns Ricarda Langner-Fröhlecke. »Sokrates, der so in
den Himmel gehoben wird, hat sich einen Dreck um
seine Kinder gekümmert, ob sie was zum Essen und
Anziehen hatten, er hat lieber diskutiert.«
Soweit noch heute festzustellen ist, hat sich Sokra-
tes tatsächlich nicht allzuviel um Haus und Hausar-
beit gekümmert. Aber anders als in vielen Anekdoten
überliefert, lebte er mit seiner Xanthippe in einer
durchaus harmonischen Beziehung, die Schüler des
Sokrates (Plato, Xenophon), die Xanthippe kannten,
haben uns von ihr nichts Negatives überliefert. Ihren
schlechten Leumund hat Xanthippe wohl durch die
423 v. Chr. entstandene und das Leben des Sokrates
verspottende Komödie »Die Wolken« des Aristopha-
nes bekommen; aber schon damals waren die Wahr-
heit und die dichterische Freiheit nicht immer unter
einen Hut zu bringen ...
& Lit.: H. Erbse: »Sokrates im Schatten der aristo-
phanischen Wolken«, Hermes 82, 1954; G. Mar-
tin: Sokrates in Selbstzeugnissen und Bilddoku-
menten, Reinbek 1967.
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Z 371

»Nur der Irrtum ist das Leben, und das Wissen


ist der Tod.«
Friedrich Schiller

»Denn indem wir die Irrtümer unserer


Vorfahren einsehen lernen, so hat die Zeit schon
wieder neue Irrtümer erzeugt, die uns unbemerkt
umstricken.«
Goethe, Schriften zur Kunst

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LexPI Bd. 2 Zählen 371

Zählen
Bill Gates kann sein Vermögen zählen
Nicht in Dollarscheinen, und auch nicht in 10-Dollar-
Scheinen. Wenn man für das Aufsagen von Zahlen
unter einer Milliarde grob eine Sekunde pro Zahl und
für Zahlen über einer Milliarde vier Sekunden pro
Zahl rechnet, braucht man für 28 Milliarden Dollar –
das ist der aktuelle Kontostand von Bill Gates – beim
Zählen ohne Unterbrechung 3433 Jahre.
& Stichwort angeregt von Werner Helbig.

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LexPI Bd. 2 Zahnplomben 371

Zahnplomben
Manche Menschen können mit ihren Plomben
Radio empfangen
So hört und liest man immer wieder. »In diesen harten
Zeiten«, so schrieb die New York Times über einen in
Brasilien lebenden Ukrainer, der sich über ständigen
Radioempfang im Kopf beklagte, »in denen viele sich
ein Radio wünschen, es sich aber nicht leisten kön-
nen, sollte dieser Ukrainer eigentlich sehr froh sein.«
In Wahrheit ist aber der Radioempfang über Zahn-
plomben so unwahrscheinlich, daß dergleichen Anek-
doten als Erfindungen bezeichnet werden müssen.
Denn um die Radiosignale richtig zu empfangen,
braucht man nicht nur eine Antenne (dazu wäre eine
Plombe, wenn auch reichlich klein, gerade noch ge-
eignet), man braucht auch einen sogenannten Demo-
dulator, der die schnell schwingenden Radiowellen
wieder in die viel langsamer schwingenden akusti-
schen Signale rückübersetzt. Dazu müßte irgendwo
im Mund erstens eine Diode zum Übersetzen und
zweitens ein Lautsprecher zum Verstärken der Signa-
le existieren, und das erscheint dann doch sehr un-
wahrscheinlich. Auch wenn durch unterschiedliche
Metalle bei Zahnfüllungen mit halbleitenden Oberflä-
chen eine Art Diode denkbar wäre – es fehlen immer
noch die Töne, alle diese Berichte vom Radio im
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zahnplomben 372

Mund sind höchstwahrscheinlich frei erfunden.


Eher ist schon denkbar, daß durch eine zufällige
Zusammenstellung von Küchengeräten ein primitives
Radio entsteht. So führen parapsychologische Bera-
tungsstellen gewisse »Geisterstimmen« in der Küche
auf elektrische Wechselwirkungen zwischen Töpfen
und Herdplatten zurück ...
& Lit.: Christoph Drösser: »Stimmt's?«, Die Zeit,
28.11.1997; Stichwort angeregt von Christian
Kleiber.

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LexPI Bd. 2 Zecken 1 372

Zecken 1
Zecken lassen sich von Bäumen aus auf Men-
schen fallen
Die als Verbreiter von Bakterien und Viren viel ge-
fürchteten Zecken übertragen sowohl Virusleiden, wie
die sogenannte Frühsommer-Meningo-enzephalitis
(lebensgefährlich), als auch Bakterieninfektionen wie
die sogenannte Wanderröte, deren Erreger sich zuwei-
len über das Lymph- und Blutsystem im ganzen Kör-
per ausbreiten (Borreliose). Aber anders als viele
glauben leben diese Zecken in der Nähe des Bodens,
im Unterholz, auf Gräsern oder Sträuchern. Gefähr-
lich ist also nicht das Spazieren unter Bäumen, son-
dern das Wandern durch die Wiese.
& Lit.: IMMUNO GmbH (Hrsg.): Zecken – Schüt-
zen Sie sich und Ihre Familie, Broschüre, Heidel-
berg 1996; »Folgenreicher Biß eines Spinnen-
tiers«, Die Welt, 25.6.1997.

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LexPI Bd. 2 Zecken 2 372

Zecken 2
Zecken sollte man aus der Haut herausdrehen
Der Stachel der Zecke hat kein Gewinde, sondern Wi-
derhaken; wer also nach einem Waldspaziergang ein
solches Tier an seiner Haut entdeckt, sollte es mög-
lichst bald, am besten mit einer Pinzette, ohne zu dre-
hen herausziehen. Und vorher auch nicht mit Öl oder
Nagellack oder ähnlichen Chemikalien betupfen, wie
öfters geraten: »Dies versetzt die Parasiten in Streß.
Sie stülpen ihren Darminhalt in die Wunde aus«, so
gelangen die Krankheitserreger erst recht in unser
Blut.
& Lit.: »Impfung schützt vor den Folgen eines Zek-
kenstichs«, Welt am Sonntag, 25.5.1997.

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LexPI Bd. 2 Zellen 375

Zellen
Zellen sind winzig
Zellen sind die kleinsten Bauteile von Menschen,
Pflanzen oder Tieren (die kleinsten vermehrungsfähi-
gen Einheiten), die Atome des Lebens sozusagen. Ein
erwachsener Mensch besteht aus rund 10 Billionen (=
10 Millionen Millionen Zellen) ein Einzelexemplar ist
in der Tat mit bloßem Auge meistens nicht zu sehen.
Aber es gibt auch bis zu einem Meter lange Zellen,
etwa lange Nervenzellen im Rückenmark von großen
Säugetieren, oder runde Zellen von der Größe eines
Tennisballs, wie beispielsweise das Gelbe eines
Straußeneis (ganz allgemein besteht das Gelbe eines
Vogeleis immer nur aus einer Zelle).
& Lit.: dtv-Atlas zur Biologie, München 1971;
Stichwort »Zelle« in der Brockhaus Enzyklopä-
die, Wiesbaden 1990.

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LexPI Bd. 1 Zeppelin 347

Zeppelin
Der Zeppelin ist eine Erfindung des Grafen Zep-
pelin
Im Jahr 1670 entwarf der portugiesische Jesuitenpater
Francesco de Lana-Terzi ein »Vakuum-Luftschiff«,
ein an luftleer gepumpten Kugeln aufgehängtes Boot;
dieses Luftschiff blieb eine Idee. Aber im Jahr 1852
stieg der französische Ingenieur Henry Giffard mit
dem ersten wirklich manövrierfähigen Luftschiff,
einem Gasballon mit dampfgetriebenem Propeller auf,
und im Jahr 1884 gelang den Franzosen Renard und
Krebs mit einem elektrisch betriebenen Propellerball-
on zum ersten Mal die Rückkehr zu ihrem Startpunkt
auch bei Wind – alles vor dem Grafen Zeppelin.
Die eigentliche Neuerung, die das Luftschiff des
Grafen Zeppelin von diesen Vorgängern unterschei-
det, ist das starre Gerippe: während andere mit Gas-
ballons oder halbstarren, an einer Längsachse mon-
tierten weichen Gasbehältern flogen, schlug Zeppelin
ein Luftschiff mit einer über ein festes Gerippe ge-
spannten Außenhülle vor.
Aber auch diese Idee war nicht ganz neu: zeitgleich
mit Zeppelin arbeitete der Ungar David Schwarz an
einem Luftschiff mit einer festen Aluminiumhülle, das
in einem von dem Sohn des Aluminium-Produzenten
verfaßten Buch wie folgt beschrieben wird: »Die Ge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zeppelin 347

samtlänge betrug 38,32 Meter. Das Luftschiff bestand


aus einem 12 m breiten Cylinder von 24,32 m Länge,
dessen vorderes Ende in einem 11 m langen spitz pa-
rabolischen Teil auslief, während das andere Cylin-
derende durch einen 3 m hohen Hohlkugelteil abge-
schlossen wurde. Die äußere Hülle des Luftschiffes
bestand aus langen Aluminiumblechen von 0,18 bis
0,20 mm Stärke, die luftdicht gefalzt und genietet
über die Aluminium-Konstruktion gespannt waren.
Um die Form des Luftschiffs zu erreichen und beizu-
behalten, wurde ein 24,32 m langer, 8 m breiter Rah-
men zusammengebaut, der aus zwei Längsgitterträ-
gern und zwei parallel damit verlaufenden Zwischen-
trägern und zehn Querträgern bestand, die alle in
einer Ebene lagen ... Die Gondel des Luftschiffs war
aus Aluminiumblech und 20x20x2 mm Doppelwin-
keln hergestellt, sie hing ca. 4,4 m unterhalb des Luft-
schiffs an vier Gitterträgern, die von zwei starken Qu-
erträgern des Hauptrahmens ausgingen .... Der
Daimlermotor hatte 16 PS und trieb durch Riemen
von der verlängerten Motorwelle je einen Propeller
von 2 m Durchmesser mit horizontaler Achse ...«
Dieses Luftschiff, von der Deutschen Reichsregie-
rung finanziert, absolvierte am 3. November 1897
unter großer Anteilnahme von Militärs und Medien
am Tempelhofer Flugfeld seinen Jungfernflug.
Jedoch war dieser Jungfernflug zugleich auch
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zeppelin 348

schon der letzte: Der Navigator verursachte eine


Bruchlandung, und das Schwarzsche Luftschiff wurde
kurz darauf verschrottet.
Das alles wußte Zeppelin, ein pensionierter würt-
tembergischer Reitergeneral, sehr wohl; er war ver-
mutlich Augenzeuge des Schwarz-Desasters in Berlin
und auch mit anderen Ideen zur Luft- und Ballonfahrt
gut vertraut. Schon im amerikanischen Bürgerkrieg
war Zeppelin als Gast in einem Militärballon geflo-
gen, und auch die Versuche französischer und deut-
scher Flieger mit Lenkballons waren ihm bekannt.
Aber anders als die meisten anderen setzte Zeppelin
von Anfang an auf Größe und auf eine starre Außen-
haut. Er schreibt 1874: »Das Fahrzeug würde auf die
Dimensionen eines großen Schiffes auszurechnen
sein. Die Gasräume so berechnet, daß das Fahrzeug
bis auf ein geringes Übergewicht getragen wird. Die
Erhebung wird dann erreicht durch das Angehen der
Maschine, welche das Fahrzeug gewissermaßen auf
die nach aufwärts gestellten Flügel treibt. In der ge-
wollten Höhe werden die Flügel weniger steil gestellt,
so daß das Luftschiff in der horizontalen Ebene
bleibt. Zum Sinken stellt man die Flügel noch weni-
ger steil und läßt die Geschwindigkeit abnehmen. Die
Steuerung geschieht wohl am besten mit möglichst
geringem Konstruktionsgewicht durch Segeltuchsteu-
er an Bug und Stern.«
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zeppelin 349

Nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst


1890 begann Zeppelin, diese Grundidee mit Hilfe ver-
schiedener Ingenieure und mit einem beträchtlichen
Familienvermögen im Hintergrund durchzusetzen.
Dabei profitierte Zeppelin unter anderem auch von ei-
nigen Patenten seines weniger glücklichen Konkur-
renten Schwarz; er hatte sie dessen Witwe abgekauft.
Aber auch in anderen Dingen sah sich Zeppelin nie
als großer Ingenieur und Erfinder – dazu fehlten ihm
alle Voraussetzungen –, mehr als Manager, und da er
in dieser Rolle so erfolgreich war, hat er seinen Ruhm
letztendlich auch verdient.
& Lit.: Hans G. Knäusel: LZ1 – der erste Zeppelin,
Bonn 1985; Michael Belafi: Ferdinand Graf von
Zeppelin, 3. Aufl., Leipzig 1990; Stichwort »Air-
ship« in Microsoft CD-ROM Enzyklopädie En-
carta, 1993.
¤ Aluminium-Luftschiff von David Schwarz

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LexPI Bd. 2 Zeppelin. 373

Zeppelin
Mit Zeppelinen reiste man bis zur Lakehurst-Ka-
tastrophe besonders sicher
Zeppeline waren nie besonders sicher; die meisten en-
deten durch Unfälle oder andere Katastrophen.
LZ1: Der erste deutsche Zeppelin. Mußte bei seiner
Jungfernfahrt am 2. Juli 1900 nach 18 Minuten not-
wassern. Auch die zweite Fahrt am 17. Oktober
mußte nach knapp einer Stunde wegen Motorscha-
dens abgebrochen werden (ein Mechaniker hatte de-
stilliertes Wasser statt Benzin in einen Tank gefüllt).
Nach einer dritten und einer letzten, vierten Fahrt von
23 Minuten bzw. 77 Minuten Dauer wird das Luft-
schiff abgewrackt.
LZ2: Wird auf seiner ersten und zugleich letzten
Fahrt total zerstört. Wegen Motorschadens war der
Zeppelin manövrierunfähig geworden und hatte no-
tankern müssen; ein Gewittersturm läßt nur noch das
Gerippe übrig.
LZ4: Wird auf der Fahrt von Straßburg zum Bo-
densee zur Notlandung gezwungen, verbrennt in
einem Gewitter.
LZ5: Strandet während eines Sturms bei Weilburg
an der Lahn und wird abgewrackt.
LZ6: Verbrennt in der Halle, als Maschinisten eine
Gondel mit Benzin zu säubern suchen.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zeppelin. 373

LZ7: Muß auf seiner zweiten Fahrt im Teutoburger


Wald notlanden und ist nicht mehr zu benutzen.
LZ8: Wird beim Ausfahren aus der Halle von einer
Bö erfaßt und schwer beschädigt. Danach abge-
wrackt.
LZ10: Rammt nach einem Jahr Betrieb die Hallen-
wand und verbrennt.
LZ11: Bricht beim Einfahren in die Halle ausein-
ander und wird abgewrackt.
LZ14: Versinkt während eines Gewitters mit 14
Mann Besatzung in der Nordsee.
LZ15: Wird bei einer Notlandung total zerstört.
LZ18: Explodiert aus ungeklärten Gründen in der
Luft, alle 14 Besatzungsmitglieder sterben.
LZ19: Muß während eines Gewitters notlanden,
wird wegen irreparabler Schäden abgewrackt.
LZ20: Muß wegen Gasverlustes notlanden, wird
von den Russen demontiert.
Von diesen ersten 20 Zeppelinen starben nur 6 im
Bett, wenn dieser Ausdruck hier einmal gestattet ist:
LZ3, 9, 12, 13, 16 und 17; sie wurden nach Ende
ihrer Dienstzeit ausgemustert. Alle anderen endeten
durch Unfälle oder Katastrophen (und zwar zivile Ka-
tastrophen, denn auch die im Ersten Weltkrieg hava-
rierten Zeppeline aus der obigen Liste wie etwa LZ20,
der bei der Schlacht von Tannenberg als Aufklärer
fungierte, haben ohne Feindeinwirkung ein Ende ge-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zeppelin. 375

funden).
Auch nach dem Ersten Weltkrieg waren Zeppeline
nie besonders sicher:
August 1921: Das englische Luftschiff R38 bricht
während eines Testflugs auseinander; 44 Tote.
Februar 1922: Das italienische Luftschiff »Roma«,
frisch von den USA gekauft, stürzt noch in seiner
alten Heimat ab; 34 Tote.
Dezember 1923: Das französische Luftschiff »Dix-
mude« (ehem. LZ114) stürzt während eines Gewitters
ins Mittelmeer; 52 Tote.
April 1930: Das amerikanische Luftschiff »Akron«
stürzt bei einem Sturm ins Meer; 73 Tote.
Oktober 1930: Das englische Luftschiff R101 fährt
gegen einen Berg; 44 Tote.
Und dann kam der Mai 1937, als das deutsche
Luftschiff »Hindenburg« bei Lakehurst Feuer fängt
und verbrennt. Obwohl es dabei weit weniger Tote
gibt als bei vielen vorausgegangenen Katastrophen
(»nur« 36 Menschen mußten dabei sterben), ist damit
die Zeppelin-Luftfahrt erst einmal beendet (denn dies-
mal war die Wochenschau zugegen).
& Lit.: D. Botting: Die Geschichte der Luftfahrt –
Die Luftschiffe, Eltville 1993; P. Meyer: Luft-
schiffe – Die Geschichte der deutschen Zeppeline,
Bonn 1996.
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LexPI Bd. 2 Zeppelin. 375

¤ Das traurige Ende eines gar nicht so sicheren Fort-


bewegungsmittels

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LexPI Bd. 1 Zero 349

Zero
Die »Zero« ist die Gewinnzahl der Spielbank
beim Roulette (s.a. ð »Roulette«)
Für die Spielbank ist die Null eine Zahl wie jede an-
dere. Eine Spielbank macht Gewinne, weil sie auf
lange Sicht von 37 eingesetzten Mark nur 36 an die
Spieler wieder ausschüttet; mit der Null hat das nichts
zu tun.
Angenommen, die Spieler plazieren auf jede der 37
Zahlen von 0 bis 36 einen Einsatz von zehn Mark,
insgesamt 370 Mark. Ganz gleich welche Zahl dann
gewinnt, ob 0, 7, 17 oder welche Zahl auch immer:
der Gewinner erhält das 36fache seines Einsatzes,
also 360 Mark, die anderen erhalten nichts, d.h. die
Bank gewinnt auf jeden Fall 10 Mark.
Nun plazieren die Spieler ihre Einsätze natürlich
nicht in jeder Runde so gleichmäßig wie in diesem
Beispiel, aber dieses Prinzip wirkt langfristig auch
bei ungleichmäßigen Einsätzen: da die Spielbank
immer etwas weniger ausschüttet als es den Gewinn-
chancen der Spieler entspricht, ist sie auf lange Sicht
immer im Vorteil, und zwar unabhängig von der Null.
Nur bei den sogenannten einfachen Chancen, also
Rot, Schwarz, Gerade, Ungerade, bis 18, über 18 ge-
winnt die Bank bei Null – sie kassiert die Hälfte der
Einsätze, oder langfristig eine Mark von 74, und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zero 349

macht so auch mit den für die Spieler »billigeren«


einfachen Chancen einen Gewinn. Aber das große
Geld gewinnt sie mit den Zahlenspielen, wofür sie im
Prinzip die Null nicht braucht.
& Lit.: Walter Krämer: Denkste! Trugschlüsse aus
der Welt des Zufalls und der Zahlen, Frankfurt
1995.

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LexPI Bd. 2 Zeter und Mordio 376

Zeter und Mordio


Das »Zeter« in dieser Redewendung kommt nicht von
»zetern« (= jammernd schimpfen), es leitet sich ab
vom englischen »aid her« = helft ihr.
& Lit.: Das Deutsche Wörterbuch, München 1985;
Stichwort angeregt von Alfredo Grünberg.

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LexPI Bd. 1 Ziegentür 350

Ziegentür
Die Tür zu wechseln lohnt sich nicht
Entgegen einem verbreiteten Vorurteil lohnt es sich
doch, bei dem notorischen Luxusauto-Ziegen-Fern-
sehquiz die zuerst gewählte Tür zu wechseln.
Angenommen, wir haben in einem Fernsehquiz ge-
wonnen – entweder ein teures Luxusauto oder aber
eine Ziege. Man führt uns vor drei Türen, hinter einer
das Auto und hinter den zwei anderen jeweils eine
Ziege, und wir wählen aufs Geratewohl die erste Tür
von links.
Um die Spannung zu erhöhen, öffnet der Moderator
aber diese Tür noch nicht, sondern eine der beiden an-
deren, sagen wir die erste Tür von rechts: dahinter
wartet eine Ziege. Und dann erlaubt er uns, die Wahl
zu ändern – statt der ersten Tür von links die noch ge-
schlossene dritte Tür, in diesem Fall also die mittlere,
zu nehmen. Soll man nun wechseln oder nicht?
Viele meinen nein, denn ganz gleich, was man als
erstes selber wählt – der Moderator kann immer eine
Tür mit einer Ziege öffnen. Deshalb erfährt man da-
durch auch nichts Neues, das hat man vorher schon
gewußt. Und deshalb bleiben auch die Wahrschein-
lichkeiten dieselben; ob ich die Tür wechsle oder
nicht, ich wähle mit Wahrscheinlichkeit 2/3 eine
Ziege und mit Wahrscheinlichkeit 1/3 das Auto. Und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ziegentür 350

deshalb kann ich auch genausogut bei meiner ersten


Wahl verbleiben.
Dieses Argument ist aber nur zur Hälfte richtig:
über unsere erste Tür erfahren wir so in der Tat nichts
Neues. Ganz gleich, ob wir das Auto oder eine Ziege
wählen – der Moderator kann immer eine Tür mit
einer Ziege öffnen. Damit bleibt die Wahrscheinlich-
keit, daß wir das Auto haben, die gleiche wie vorher,
nämlich 1/3. Oder anders ausgedrückt, wenn wir die-
ses Spiel – hypothetisch – sehr oft spielen, und dabei
unsere erste Wahl nie ändern, werden wir auf Dauer
in einem Drittel aller Fälle das Auto gewinnen.
Darüber darf man aber nicht vergessen, daß sich
die Auto-Wahrscheinlichkeiten für die beiden anderen
Türen sehr wohl ändern. Für die vom Moderator ge-
öffnete, die mit der Ziege dahinter, ist das sofort
klar – die Wahrscheinlichkeit für »Auto« sinkt auf
Null. Und da das Auto mit Wahrscheinlichkeit 1 hin-
ter einer der Türen wartet, hinter einer, nämlich der
zuerst gewählten, mit Wahrscheinlichkeit 1/3, hinter
einer anderen, nämlich der vom Moderator geöffneten,
mit Wahrscheinlichkeit 0, verbleibt für die letzte Tür
nur noch die Wahrscheinlichkeit 2/3.
Das sieht man noch besser an einem extremen Bei-
spiel mit 100 Türen, 99 Ziegen und einem Auto. Hier
ist die Wahrscheinlichkeit 1/100, daß man gleich zu
Anfang auf das Auto tippt. Jetzt öffnet der Moderator
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ziegentür 350

98 der verbleibenden 99 Türen, hinter jeder eine


Ziege – spätestens jetzt würde wohl jeder gerne wech-
seln. Die Wahrscheinlichkeit für »Auto hinter der zu-
erst gewählten Tür« bleibt zwar die gleiche wie
zuvor, nämlich 1/100 oder 1%, aber mit einer über-
wältigend größeren, nämlich 99%-igen Wahrschein-
lichkeit steht das Auto hinter der zweiten noch ver-
schlossenen Tür.
Dieses Problem kursiert in verschiedenen Verklei-
dungen schon seit Hunderten von Jahren, lange bevor
es Autos und Fernseh-Quizshows gab. Am bekannte-
sten sind die drei Todeskandidaten: zwei von drei
Verbrechern müssen sterben, mehr ist nicht bekannt.
Jetzt fragt Kandidat 1 den Gefängniswärter. »Hör
mal, kannst Du mir verraten, wer von Nr. 2 und 3
dran glauben muß? Einer ist auf jeden Fall an der
Reihe, also verrätst Du kein Geheimnis.« Der Wärter
überlegt und sagt: »Irgendwie hast Du recht. Also,
Nr. 2 ist fällig.« Jetzt ist Nr. 1 erleichtert, denn der
denkt: »Bleiben zwei übrig, einer davon überlebt,
also ist meine eigene Überlebenswahrscheinlichkeit
von 1/3 auf 1/2 gestiegen.«
Das ist aber ein Trugschluß, wie wir oben gesehen
haben, denn wenn der Wärter auf jeden Fall antwortet
(entspricht dem Moderator, der immer eine Tür öff-
net), und auf jeden Fall einen Todeskandidaten nennt
(entspricht dem Moderator, der immer eine Ziegentür
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ziegentür 351

öffnet), erfährt der Kandidat Nr. 1 über sich selbst


nichts Neues: die Wahrscheinlichkeit zu überleben ist
vorher die gleiche wie nachher, nämlich 1/3. Grund
zur Freude hat allein Kandidat Nr. 3, denn seine
Überlebenswahrscheinlichkeit hat sich durch die In-
diskretion des Wärters von 1/3 auf 2/3 verdoppelt.
& Lit.: Gero von Randow: Das Ziegenproblem,
Reinbek 1992; Leonard Gillmann: »The car and
the goat«, American Mathematical Monthly 1992,
S. 3–7; Ed Barbeau: »The problem of the car and
the goats«, College Mathematics Journal 1993, S.
149–154; Walter Krämer: Denkste! Trugschlüsse
aus der Welt des Zufalls und der Zahlen, Frank-
furt 1995.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Ziffern 351

Ziffern
Die Ziffern 1 bis 9 kommen mit der gleichen Häu-
figkeit zuerst in Zufallszahlen vor
Was würden Sie zu der folgenden Wette sagen: Wir
nehmen eine Zeitung – es kann auch ein Buch oder
die Bibel sein – und unser Wettgegner läßt uns darin
zufällig eine Zahl bestimmen, etwa die dritte von
unten auf Seite 5. Keiner hat die Zahl gesehen. Und
jetzt wettet er: »Die erste Ziffer dieser Zahl ist kleiner
als 4!« Und damit alles mit rechten Dingen zugeht,
schließt er noch Telefonnummern und Jahreszahlen
aus (weil darin kleine Anfangsziffern öfter als große
vorkommen).
Die meisten Menschen halten bei dieser Wette gern
dagegen, sie denken: »Insgesamt können 9 Ziffern als
erste auftreten, nämlich 1 bis 9. Es gibt keinen Grund,
warum eine häufiger auftreten sollte als eine andere,
also hat jede die Wahrscheinlichkeit 1/9. Die Wahr-
scheinlichkeit, daß eine Anfangsziffer 4 oder größer
auftritt, beträgt demnach 6/9 = 2/3; die Wahrschein-
lichkeit, daß eine 1, 2 oder 3 als erste Ziffer auftritt,
beträgt dagegen nur 3/9 = 1/3. Damit ist die Wahr-
scheinlichkeit für eine Anfangsziffer 4 bis 9 doppelt
so groß wie die Wahrscheinlichkeit für eine Anfangs-
ziffer 1 bis 3, man kann bei dieser Wette auf lange
Sicht nur gewinnen.«
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ziffern 352

Dieser Schluß ist aber falsch. Hier sind die wahren


Wahrscheinlichkeiten für die Ziffern 1–9:
Erste Ziffer Wahrscheinlichkeit
1 30,1%
2 17,6%
3 12,5%
4 9,7%
5 7,9%
6 6,7%
7 5,8%
8 5,1%
9 4,6%

Diese Wahrscheinlichkeiten sind unter der Annahme


berechnet, daß die erste Nachkommastelle des Loga-
rithmus' der ausgewählten Zahl eine auf dem Intervall
(0,1) gleichverteilte Zufallsvariable ist; das erfordert
einen kleinen Abstecher in die Wahrscheinlichkeits-
rechnung, den wir unseren Lesern hier ersparen (siehe
aber Krämer, 1995). Der Punkt ist nur, daß diese An-
nahme sehr gut mit der Empirie zusammenpaßt, und
daß wir selber mit dieser Wette schon viel Geld ge-
wonnen haben.
& Lit.: S. Newcomb: »Note on the frequency of the
use the different digits in natural numbers«, Ame-
rican Journal of Mathematics 4, 1881, 39–40; F.
Benford: »The law of anomalous numbers«,
Proceedings of the Philosophical Society 78,
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Ziffern 352

1938, 551–572; Walter Krämer: Denkste! Trug-


schlüsse aus der Welt des Zufall und der Zahlen,
Frankfurt 1995.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Zigarren 353

Zigarren
Zigarren muß man vor dem Anzünden erwärmen
»Dieser Brauch, die Zigarre übermäßig zu erwärmen,
den man leider in vielen besseren Restaurants beob-
achten kann, ist ein Anachronismus«, schreibt Zino
Davidoff. »Früher ... war das Deckblatt gewisser spa-
nischer Zigarren, die in Sevilla hergestellt wurden,
mit Tragantgummi angeklebt, der mit Zichorie gefärbt
war, und damals war es ratsam, den Geschmack des
Tragants zu vertreiben, indem man die Zigarre leicht
über einer Flamme erhitzte.«
Heute werden die Deckblätter geruchlos angeklebt,
deshalb ist auch kein Geruch mehr zu vertreiben.
& Lit.: Zino Davidoff: Zigarren-Brevier, oder was
raucht der Connaisseur, Wien 1991.

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LexPI Bd. 2 Zigeuner 376

Zigeuner
»Zigeuner« gilt unter Zigeunern als ein Schimpf-
wort
Zigeuner nennen sich auch selbst »Zigeuner«; anders
als die politisch korrekten deutschen Medien meinen,
fühlen sich diese »Angehörigen eines weitverbreiteten
Wandervolkes« (Deutsches Wörterbuch) durch diesen
Ausdruck nicht beleidigt. Der Ausweis, den die inter-
nationale »Zigeunerunion« in Französisch, Deutsch
und Englisch ausstellt, sagt ganz deutlich: »Dieser
Personalausweis ist gültig für alle Zigeuner der
Welt.«
Auch von Nichtzigeunern wurde das Wort »Zigeu-
ner« einstmals eher positiv gesehen: Es leitet sich
höchstwahrscheinlich – die Herkunft ist nicht ganz
geklärt – von der im Byzantinischen Reich verbreite-
ten Sekte der »Attiganoi«, der »Unberührbaren« ab,
die diesen Namen wegen ihrer strengen körperlichen
Reinheit hatten; weil man bei ihnen ähnliche rituelle
Reinheitsrituale vermutete, ging dann der Name auf
die heutigen »Zigeuner« über.
& Lit.: Das Deutsche Wörterbuch, München 1985;
Stichwort »Sinti und Roma« in der Brockhaus
Enzyklopädie, Wiesbaden 1990; Stichwort ange-
regt von Alfredo Grünberg.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zinsen 376

Zinsen
Ein Wertpapier mit 5% Zinsen bringt nur ein
Viertel mehr Ertrag als ein Wertpapier mit 4%
Zinsen
So denkt mancher Klein- und Nicht-so-klein-Anleger,
und sagt: Wegen dieser kleinen Differenz das gute
alte Sparbuch auflösen, statt dessen Staatsanleihen
oder andere Papiere kaufen? Diese Mühe lohnt sich
nicht.
Von solchen Menschen leben unsere Banken. Die
folgende Tabelle zeigt, wie sich 100 Mark bei 4%
und bei 5% Verzinsung im Lauf der Zeit vermehren:
Wert einer Anlage von DM 100,– bei jährlicher
Reinvestition der ausgezahlten Zinsen
bei 4% Verzinsung bei 5% Verzinsung
nach einem Jahr DM 104,– DM 105,–
nach zwei Jahren DM 108,16 DM 110,25
nach fünf Jahren DM 121,67 DM 127,63
nach zehn Jahren DM 148,02 DM 162,89
nach 50 Jahren DM 710,67 DM 1.146,74
nach 100 Jahren DM 5.050,49 DM 13.150,13

Mit anderen Worten, auf lange Sicht sind die Kondi-


tionen unserer Geldanlagen alles andere als unerheb-
lich; der scheinbar winzige Schritt von 4 auf 5 Pro-
zent bedeutet für unsere Erben weit mehr als eine Er-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zinsen 377

höhung der Rendite um ein kleines Viertel, er kann


nach wenigen Jahrzehnten den Gesamtertrag verdop-
peln.

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LexPI Bd. 2 Zitronen 377

Zitronen
Zitronen sind sauer
Ein Pfund Zitronen enthält mehr Zucker als ein Pfund
Erdbeeren.

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LexPI Bd. 2 Zölibat 377

Zölibat
Das Zölibat gibt es so lange wie die katholische
Kirche
Die ersten Christen kannten kein Verbot der Ehe für
die Priester, und selbst heute dürfen katholische Prie-
ster auch nach Kirchenrecht legal verheiratet sein
(nämlich wenn sie vor ihrer Priesterweihe schon ver-
heiratet waren; zuweilen kommt es vor, daß Männer
erst spät im Leben ihre Berufung zum Priester entdek-
ken).
Ein Eheverbot für Priester wurde erstmals Ende des
4. Jahrhunderts von Papst Siricius erlassen (wenn
auch längst nicht überall befolgt). Erst Papst Gregor
VII. trug dann Ausgang des 11. Jahrhunderts Sorge,
daß diese Regel flächendeckend mindestens nach
außen eingehalten wurde. Neben der Keuschheit sei-
ner Helfer ging es ihm dabei auch um durchaus irdi-
sche Kirchengüter: Wenn seine Bischöfe und Priester
keine Kinder hatten, hatten sie auch keinen Anreiz,
diesen Kindern Kirchenschätze zu vererben.
& Lit.: Hans Heimerl: Der Zölibat, Berlin 1995.

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LexPI Bd. 2 Zombies 378

Zombies
Zombies sind halbtote Menschen
Eigentlich meint man mit »Zombie« in den afrikani-
schen Voodoo-Religionen genau das Gegenteil: »eine
(...) Kraft, die vielmehr Tote wieder lebendig macht,
sowie wiederbelebte Tote selber«.
& Lit.: Eckhard Henscheid, Gerhard Henschel und
Brigitte Kronauer: Kulturgeschichte der Mißver-
ständnisse, Stuttgart 1997.

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LexPI Bd. 2 Zucker 1 378

Zucker 1
Weißer Zucker macht krank
»Der weiße Haushaltszucker (Sacharose) ist ein eben-
so unverändertes Naturprodukt wie der oft als Alter-
native angepriesene Fruchtzucker (Fruktose)« (Bild
der Wissenschaft). »Daß alle Raffinade-Zucker von
Begleitstoffen befreit sind, ist so lange kein Problem,
wie genügend Vitamine und Mineralstoffe auf ande-
rem Wege zugeführt werden. Richtig an der Zucker-
Verteufelung ist nur, daß die meisten Menschen zu-
viel davon essen.«
& Lit.: »Fünf Vorurteile übers Essen«, Bild der
Wissenschaft 1/1997, S. 68.

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LexPI Bd. 2 Zucker 2 378

Zucker 2
Zucker vor Sport hilft Leistung steigern
So dachten auf jeden Fall die Schreiber dieses Bu-
ches: Vor den 1000 Metern bei den Bundesjugend-
spielen noch etwas Traubenzucker essen, schon ist
man zehn Sekunden schneller.
In Wahrheit können Traubenzuckerbonbons oder
Schokoladenriegel sogar die Leistung reduzieren.
Nach einem kurzen Energieschub sinkt der
Blutzuckerspiegel unter seinen Durchschnitt ab, das
Gehirn kann schlechter Energie und Willen freisetzen,
man ist müder, als wenn man den Zucker nicht ge-
nommen hätte.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Zufall 353

Zufall
Manche Zufälle kann man nicht natürlich erklä-
ren (s.a. ð »Todesträume«)
Bei C.G. Jung lesen wir von einem Monsieur Des-
champs, der einmal als Knabe von einem Monsieur de
Fontgibu einen Plumpudding erhielt. 10 Jahre später
sieht besagter Deschamps einen Plumpudding in
einem Pariser Restaurant; er will ein Stück davon be-
stellen, aber der Plumpudding ist bereits bestellt, und
zwar von Monsieur de Fontgibu. Viele Jahre später
wird Deschamps zu einem Plumpudding geladen,
wobei er bemerkt, jetzt fehle nur noch Fontgibu. Dar-
auf öffnet sich die Tür, und ein uralter, desorientierter
Greis tritt ein: Monsieur de Fontgibu. Er hatte sich in
der Adresse geirrt und war rein zufällig in dieses
Haus geraten.
Oder eine Mutter aus dem Schwarzwald läßt ihren
vierjährigen Sohn fotografieren. Den Film bringt sie
nach Straßburg zum Entwickeln, dann bricht der Erste
Weltkrieg aus – sie holt den Film nicht ab. Zwei
Jahre später kauft sie in Frankfurt einen neuen Film,
um ihre inzwischen geborene Tochter aufzunehmen.
Jedoch erweist sich der Film als doppelt belichtet,
und auf der ersten Aufnahme ist niemand anderer zu
sehen als ihr zwei Jahre vorher fotografierter Sohn.
(Offenbar war der alte, in Straßburg vergessene und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zufall 353

nicht entwickelte Film auf irgendeine Weise wieder in


den Handel geraten).
Oder ein gewisser Clinton W. Blume aus New Jer-
sey, USA, findet am Strand von Brooklyn eine
Waschbürste – seine eigene, die mehrere Jahre zuvor
mit einem Truppentransporter, der Blume zum Ersten
Weltkrieg nach Frankreich bringen sollte, vor der
französischen Küste untergegangen war. Oder der
große Karl Zuckmayer sieht eine handgemalte, im
Gasthof von Karl Mayr bei Salzburg zum ersten Mal
von ihm bewunderte Wandtapete nach langen Jahren
in einer amerikanischen Intellektuellenvilla wieder:
»Viele Jahre nach meiner Flucht aus dem besetzten
Österreich«, schreibt er in Als wär's ein Stück von
mir, »wurde ich drüben in Amerika einmal von
Freunden aus meiner Vermonter Farm- und Waldein-
samkeit weggeholt, um einen amerikanischen Schrift-
steller kennenzulernen, der sich einige kleine Auto-
stunden weit in einer Ortschaft des alten, kolonialen
Neu-England angesiedelt hatte.« Nach einer ausgiebi-
gen Hausbesichtigung und nach langem Drängen Zuk-
kmayers schließt der Gastgeber ein unbeheiztes und
deshalb nicht bewohntes letztes Gartenzimmer auf,
worin fein säuberlich an der Wand verklebt die Orig-
inaltapete aus Salzburg hängt, »als hätte Carl Mayr
soeben den letzten Farbtupfen aufgesetzt«.
»War die schon immer hier?« fragt Zuckmayer, und
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zufall 354

erfährt, daß es von diesem Stück weltweit nur drei


Exemplare gibt. »Dieses da war nach Europa verkauft
worden und wurde durch einen Kunsthändler vor ein
paar Jahren nach Amerika zurückverkauft. Zuletzt
kam sie aus Österreich.«
Solche Zufälle verblüffen uns immer wieder. Trotz-
dem sind sie alles andere als unerwartet. Denn wir
sehen nur die Wahrscheinlichkeit, daß ein solches Er-
eignis einer bestimmten Person zustößt, und die ist in
der Tat sehr klein. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß
es irgend jemand widerfährt, ist oft sehr groß.
Mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 1: 13
Millionen tippt ein bestimmter Lottospieler die Ge-
winnzahlen des nächsten Samstags richtig. Aber wie
wir alle wissen: die Wahrscheinlichkeit, daß irgendein
Lottospieler die Gewinnzahlen errät, ist ungefähr
gleich eins.
Dieses Prinzip läßt sich auf die meisten sogenann-
ten »Zufälle« des Alltags übertragen. Nehmen wir das
seltsame Erlebnis eines George D. Bryson, Hotelgast
in Louisville, Kentucky, der gerade angekommen ist.
Die Dame am Empfang gibt ihm die Schlüssel für
Zimmer 307. Darin angekommen findet Bryson einen
Brief, adressiert an George D. Bryson, Zimmer 307.
Reichlich verstört fragt Bryson nach, wie das gesche-
hen könne – niemand wisse, wo er sich befinde, und
erst recht hätte doch niemand vorher seine Zimmern-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zufall 354

ummer kennen können – wobei sich herausstellt, daß


der eigentliche Adressat des Briefes, ein George D.
Bryson aus Montreal in Kanada, soeben abgefahren
war.
So etwas passiert wohl niemandem in seinem oder
ihrem Leben (niemandem bestimmten, meinen wir).
Aber daß es irgendwem passiert, ist fast schon zu er-
warten: wenn wir einmal grob gerechnet unterstellen,
daß jeder Amerikaner im Durchschnitt zehn Landsleu-
te mit dem gleichen Namen, Vornamen und gegebe-
nenfalls auch Mittelnamen hat, und daß pro Jahr alle
Hotelbetten der USA zusammen rund 100 Millionen
Mal den Besitzer wechseln, so haben bei einem kon-
kreten Wechsel der Vorgänger und der Nachfolger nur
mit einer Wahrscheinlichkeit von 1: 20 Millionen den
gleichen Namen. Das ist weniger als die Wahrschein-
lichkeit für einen Hauptgewinn im Lotto. Aber da pro
Jahr nicht eins, sondern 100 Millionen dieser Experi-
mente stattfinden, steigt, wie man mit etwas Wahr-
scheinlichkeitsrechnung bestimmen kann, die Wahr-
scheinlichkeit für irgendein Zusammenfallen beider
Namen auf mehr als ein halb, und wenn wir das ganze
über mehrere Jahre betrachten, nähert sich die Wahr-
scheinlichkeit für einen solchen »Zufall« immer mehr
der eins.
& Lit.: P.G. Crean (Hrsg.): Believe it or not, Toron-
to 1982; Rudy Rucker: »The powers of coinci-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zufall 355

dence«, Science, Febr. 1985, 54–57; Martin


Gardner: Bacons Geheimnis: Die Wurzel des Zu-
falls und andere numerische Merkwürdigkeiten,
Frankfurt 1986; Walter Krämer: Denkste! Trug-
schlüsse aus der Welt des Zufalls und der Zahlen,
Frankfurt 1995.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer


LexPI Bd. 1 Zugewinngemeinschaft 355

Zugewinngemeinschaft
Zugewinngemeinschaft heißt gemeinsamer Besitz
des Vermögens (s.a. ð »Schulden«)
Neun von zehn deutschen Ehepaaren leben in einer
sogenannten »Zugewinngemeinschaft«. Aber den mei-
sten sind die Konsequenzen dieser Konstruktion nicht
ganz klar. Weder müssen nämlich dann die Ehepart-
ner für die Schulden des anderen haften, noch müssen
sie das in der Ehe erworbene Vermögen miteinander
teilen: Wer sein selbst gekauftes Segelboot oder den
mit eigenem Geld erworbenen Siebdruck von Matisse
verkaufen will, braucht dazu den Ehepartner nicht zu
fragen. Und genausowenig kann der Ehepartner einen
hindern, wenn man mit dem Erlös die Welt bereisen
oder einen Buddha-Tempel stiften will.
Der eigentliche Zweck einer Zugewinngemeinschaft
entpuppt sich erst bei der Auflösung einer Ehe. Denn
jetzt wird wirklich jeder Zugewinn geteilt.
Anders als bei Gütertrennung kann ein Ehegatte al-
lerdings nicht ohne Einwilligung des anderen über
sein Vermögen im ganzen verfügen. Wer also im
wesentlichen nur ein Haus besitzt, kann dieses nicht
ohne Zustimmung des anderen verkaufen. Und auch
über gemeinsam genutzte Hausratsgegenstände darf er
oder sie nicht frei verfügen, ganz gleich wem sie ge-
hören.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zugewinngemeinschaft 355

& Lit.: Michael Scheele und Reinhard Wetter: Rat-


geber Recht, 2. Auflage, München 1988.

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LexPI Bd. 2 Zurück zur Natur 379

Zurück zur Natur


Diese Devise wird gewöhnlich Jean-Jacques Rous-
seau zugeschrieben: »Retour à la nature!« soll er als
Antwort auf das gespreizte Gehabe seiner gebildeten
Zeitgenossen im 18. Jahrhundert gefordert haben.
Aber in Wahrheit sind diese Worte in keiner seiner
Schriften aufzufinden.
& Lit.: Wolfgang Mieder: Verkehrte Worte, Wies-
baden 1997.

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LexPI Bd. 2 Zwei-Drittel-Gesellschaft 379

Zwei-Drittel-Gesellschaft
Deutschland ist eine Zwei-Drittel-Gesellschaft
(s.a. ð »Armut« in Band 1)
Damit ist gemeint, zwei Dritteln geht es immer gut,
einem Drittel geht es immer schlecht. Nach dieser po-
pulären, aber falschen These nehmen nur zwei Drittel
aller Deutschen (dito Österreicher oder Schweizer) am
sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt ihres Landes
teil – ein Drittel bleibt ausgegrenzt und von den Seg-
nungen des Fortschritts systematisch ausgeschlossen.
Diese Theorie hält einer näheren Überprüfung nicht
stand. Richtig ist allein, daß bei geeigneter Wahl der
Armutsgrenze immer ein gewisser Prozentsatz Armer
existiert. Wählt man als Armutsgrenze das sogenann-
te 33%-Quantil der Einkommensverteilung (die Gren-
ze zwischen dem untersten und dem mittleren Drittel
der Einkommensverteilung), dann ist immer ein Drit-
tel aller Menschen arm. Aber es gibt doch einen gro-
ßen Unterschied – um nur die beiden Extreme anzu-
führen – zwischen einer »Tellerwäscher-Millionärs«-
Gesellschaft, in der die meisten Menschen ihr Leben
zunächst arm beginnen, dann der Armut aber mehr-
heitlich entrinnen, und einer Gesellschaft, in der nur
wenige Menschen arm geboren werden, dann aber
mehrheitlich in dieser Armut bleiben. Auch wenn die
jeweiligen Armutsquoten sich bis auf die letzte Kom-
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zwei-Drittel-Gesellschaft 380

mastelle gleichen, die Armut ist trotzdem doch sehr


unterschiedlich zu bewerten; sowohl für die betroffe-
nen Individuen wie für die Gesellschaft als Ganzem
ist es von erheblicher Bedeutung, ob die Menschen
unterhalb einer wie auch immer bestimmten Armuts-
grenze stets die gleichen bleiben (»einmal arm –
immer arm«), oder ob die Armut sozusagen »rotiert«,
ein Risiko, das jeden treffen kann.
Hier zeigen verschiedene nationale und internatio-
nale Erhebungen eine überraschende und in gewisser
Weise erfreuliche Mobilität. In den USA z.B. sind
rund ein Viertel aller Haushalte über zehn Jahre gese-
hen irgendwann einmal statistisch »arm«, durchge-
hend arm sind aber weniger als 1%, und den gleichen
großen »Turnover« der Armutspopulation beobachten
wir auch für die Bundesrepublik. »Entgegen allen ur-
sprünglichen Erwartungen zeigte sich, daß die mei-
sten Sozialhilfeempfänger (...) nur kurze Zeit Hilfe er-
halten«, stellen etwa die Autoren der sogenannten
»Bremer Langzeitstudie« fest, die in einer von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Be-
fragung eine repräsentative Auswahl typischer Sozial-
hilfekarrieren nachgezeichnet haben. »Dies ergibt sich
selbst dann, wenn man berücksichtigt, daß einige
nach einer oder mehreren Unterbrechungen erneut in
die Sozialhilfe geraten, und man daher die Zeit der
Unterbrechungen der Bezugsdauer zuschlägt.«
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zwei-Drittel-Gesellschaft 380

Die Gleichung »einmal arm – immer arm« geht in


der Bundesrepublik nicht auf. Die Verweildauer in
der deutschen Sozialhilfe beträgt in der Regel weniger
als ein Jahr, Tendenz abnehmend, nur 23% der Emp-
fänger brauchen sie fünf Jahre oder mehr. Den Typus
des resignierten, ausgegrenzten Langzeitbeziehers fin-
det man auf deutschen Sozialämtern eher selten, es
überwiegen deutlich die sogenannten »Überbrücker«,
Menschen, die auf Rentenzahlungen oder Arbeitslo-
senunterstützung warten, die den Sozialhilfebezug
ausdrücklich als vorübergehende, befristete Phase
ihres Lebenslaufs verstehen und die weder sich selbst
als Ausgegrenzte sehen noch von der Gesellschaft als
Ausgegrenzte behandelt werden.
Rund die Hälfte aller Menschen, die in einem gege-
benen Jahr Sozialhilfe beziehen, sind ein Jahr später
nicht mehr darauf angewiesen, eine personell verfe-
stigte deutsche Unterklasse gibt es nicht. Statt dessen
beobachten wir, in den Worten des großen Schumpe-
ter, »einen Armuts-Omnibus, der zwar immer besetzt
ist, aber niemals mit den gleichen Leuten«; wir sehen
ein »komplexes Gebilde, bestehend aus Armutspha-
sen, Unterbrechungen, Wiedereinstiegen und zum Teil
endgültigen Ausstiegen«, mit anderen Worten, eine
Gesellschaft, in der das Schlagwort von der »Zwei-
Drittel-Gesellschaft« – zwei Drittel reich, ein Drittel
arm – ganz einfach zu den Fakten nicht mehr paßt.
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 2 Zwei-Drittel-Gesellschaft 381

& Lit.: M. Zwick (Hrsg.): Einmal arm, immer arm?


Neue Befunde zur Armut in Deutschland, Frank-
furt a.M. 1994; S. Leibfried u.a.: Zeit der Armut –
Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt a.M. 1995;
W. Krämer: Armut in der Bundesrepublik – Zur
Theorie und Praxis eines überforderten Begriffs,
Bonn 1998.

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LexPI Bd. 1 Zweiter Weltkrieg 356

Zweiter Weltkrieg
Deutschland hat England und Frankreich den
Krieg erklärt
Als Hitler am 1. September 1939 Polen überfiel, hoff-
te er bis zuletzt, daß dieser Raubzug wie schon die
Eingliederung des Rheinlands 1936, die »Heimfüh-
rung« Österreichs zwei Jahre später oder die Einglie-
derung des Sudetenlandes vom Rest der Welt gedul-
det werden würde. Ein Krieg gegen England oder
Frankreich war zwar einkalkuliert, noch lieber aber
hätten die Machthaber in Berlin auch diese Unterneh-
mung auf die gewohnte Weise, also unter lautem Pro-
testgemurmel, aber ohne wirkliche Gegenwehr des
übrigen Europas abgeschlossen.
Wir wissen alle, daß es diesmal anders kam: Als
die Deutschen trotz eines britisch-französischen Ulti-
matums bis zum 3. September 11 Uhr die Kämpfe
nicht einstellen, erklären England und Frankreich
noch am gleichen Tag dem Deutschen Reich den
Krieg (nicht umgekehrt, wie vor allem viele Englän-
der und Franzosen glauben). Am 5. September folgen
Australien und Marokko, am 6. September der Irak,
am 8. September die Südafrikanische Union, und am
10. September Kanada.
& Lit.: Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund
Das digitale Lexikon der populären Irrtümer
LexPI Bd. 1 Zweiter Weltkrieg 356

1988.

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LexPI Bd. 2 Zwiebel 381

Zwiebel
Das Zwiebelmuster auf Meißener Porzellan hat
etwas mit Zwiebeln zu tun
Das berühmte Zwiebelmuster auf Meißener Porzellan-
geschirr (»4 Teller flach, 4 Teller tief, 1 Sauciere, 1
Schüssel, 1 Platte oval, unverb. Preisempfehlung
1.946,– DM, solange Vorrat reicht«) hat mit Zwie-
beln nichts zu tun. Die »Zwiebeln« auf dem Zwiebel-
muster sind auch keine Granatäpfel, wie man zuwei-
len lesen kann, sondern eine Art chinesischer Zitro-
ne – denn der Meißener Porzellanmaler, der vor 250
Jahren das Zwiebelmuster erfand, hatte sich von ost-
asiatischen Dekoren inspirieren lassen.
& Lit.: »Auf dem echten Zwiebelmuster finden Sie
keine Zwiebeln, dafür aber Schwerter«, Anzeige
der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Meißen in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Oktober
1997; Stichwort angeregt von Monika Lietz und
Michael Schmidt.
¤ Die Zwiebel ist eigentlich eine Zitrone

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LexPI Bd. 1 Zwinger 356

Zwinger
Der Dresdner Zwinger hat seinen Namen von
einem Zoogehege
Die meisten Sachsen wissen es, aber viele Nichtsach-
sen nicht: Der berühmte Dresdner Zwinger hat mit
einem Zoogehege nichts zu tun. Ein »Zwinger« ist
auch der Platz zwischen der äußeren und der inneren
Mauer einer Festung; in diese Baulücke hinein bauten
die sächsischen Könige einen schönen
galerieumzäunten Festspielplatz, deshalb heißt der
Dresdner Zwinger heute Zwinger.
& Lit.: Das Deutsche Wörterbuch, München 1986.

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LexPI Bd. 2 Zyniker 382

Zyniker
Zyniker sind zynisch (s.a. ð »Diogenes« und ð
»Pharisäer«)
»Zynisch« kommt vom griechischen »kynisch«, das
heißt hündisch – ein Zyniker lebte wie ein Hund.
Damit war aber nicht »kriecherisch«, sondern »an-
spruchslos« gemeint – Zyniker wie Diogenes von Si-
nope waren so etwas wie antike Bettelmönche, sie
hatten den Gütern dieser Erde abgeschworen, als ein-
ziges wahres Gut galt ihnen ein Leben in Enthaltsam-
keit und Tugend.
Diese alles andere als zynische Einstellung zum
Leben war in der vorchristlichen Antike weit verbrei-
tet; ihren modernen negativen Beigeschmack erhielt
sie vermutlich dadurch, daß ihre Anhänger den Wid-
rigkeiten ihres Daseins sehr gelassen gegenüberstan-
den: Wer von dieser Welt nicht allzuviel erwartet,
kann auch nicht allzuviel in ihr verlieren.
& Lit.: B. Russell: Denker des Abendlandes, Stutt-
gart 1970.

Das digitale Lexikon der populären Irrtümer

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