Lockerungen im Maßregel vollzug am Beispiel des Westfälischen Zentrums für

Forensische Psychiatrie Lippstadt - Ergebnisse eines Forschungsprojektes aus

therapeutischer Sicht.

Ulrich Kobbe

"Die Konzentration der Teamdiskussionen auf das Thema Lockerungen bei

der Beurteilung eines Untergebrachten vermittelt mitunter den paradoxen
Eindruck, daß die wegen der vermuteten Gefährlichkeit angeordnete
Freiheitsentziehung eigentlich nur den Sinn hat, die Gewährung von
Lockerungen zu ermöglichen" (Rasch 1986, 100).

Überleitung

Herr Pollähne beschrieb bereits Anlaß und Design der Untersuchung, deren
Ergebnisse ich hier weiter vorstellen möchte. Gegenstand waren die
Entscheidungen über Vollzugslockerungen, wie sie routiniert in der Praxis
getroffen werden, und von deren Funktion, Problematik sowie Kriterien im
folgenden die Rede sein soll.

Lockerungen im Maßregelvollzug

Lockerungen sind integraler Bestandteil des Maßregelvollzugs, dies sowohl

von Seiten des Gesetzgebers (§ 16 MRVG-NRW) wie auch aus Sicht der
behandelnden Therapeuten, wenn aus deren Sicht auch mit z.T. ambivalenten
Gefühlen. Rasch (1986) hat die Funktion von Lockerungen vor einigen
Jahren bereits zusammenfassend dargestellt:

- ihnen komme motivations- und verhaltensbestimmende Funktion zu; sie

eröffneten reale Perspektiven für manchen zwangsuntergebrachten Pati-
enten, der unabhängig von tatsächlich erfahrbaren Reaktionen für Thera-
pie nicht oder nur schwer zu gewinnen sei.

39
- sie beinhalten Möglichkeiten der therapeutischen Nutzung innerhalb in-
dividueller Behandlungsplanung für die Aufrechterhaltung bzw. Herstel-
lung sozialer Kontakte, für das Erlernen und Einüben kompensatorischer
Freizeitgestaltung wie schließlich der organisatorischen- Vorbereitung
einer Entlassung.
-des weiteren komme den Lockerungen ein Erprobungsaspekt zu, d.h.
erreichte Fortschritte sind vom Patienten konkret außerhalb des therapeu-
tischen Rahmens überprüfbar, hier sowohl selbstbestätigend wie auch mit
allen Problemen der Überforderung und Enttäuschung verbunden.
Zweifelsohne können Lockerungen auch die Gefahr einer Erziehung zur
(Schein-)Anpassung an die Institution in sich bergen, eines korruptiven
Arrangements zwischen Patienten und Mitarbeitern, weiterhin des Miß-
brauchs als Sanktionsinstrument und der Anwendung fragwürdiger
Therapieprinzipien, zuletzt einer zynisch-verhaltens-experimentellen Ver-
such-Irrtum-Methode. Dennoch sind Lockerungen im Maßregelvollzug
therapeutisch begründet und insofern für die Behandlung in 'Maßregeln
der Sicherung und Besserung' unverzichtbar, als ein schrittweises Erwei-
tern von Freiräumen auch prognostischen Stellenwert hat.
Gefährlichkeitsprognosen im Maßregelvollzug
Denn Probleme mit der Gefährlichkeitsprognose bestehen für jeden Praktiker
nach wie vor und werden auch in Zukunft weiter bestehen: menschliches
Verhalten ist schlichtweg nicht vorhersehbar, so daß allenfalls vorhergesagt
und innerhalb der sog. Verhaltenserprobungen bei Ausgang mit oder ohne
Begleitung sowie Beurlaubung erprobt werden kann, ob ein bestimmter
Patient grundsätzlich in der Lage ist, sich außerhalb des begrenzenden wie
schützenden Rahmens der Maßregelvollzugseinrichtung regelhaft und straffrei
zu verhalten (§ 67 d StGB). Bereits hier jedoch stellt sich die Frage nach der
Art der Prognosestellung, nach ihren Grundlagen und Grundannahmen,
beinhaltet doch jede Befürwortung bzw. Ablehnung einer beantragten
Lockerung eine Prognose der (Un-)Fähigkeit zu straffreiem Verhalten.
Ganz gleich, ob für den Therapeuten bei einer Ablehnung der Schutz der
Allgemeinheit vor einer antizipierten Gefährdung oder in einem anderen
Fall der Schutz des Patienten vor Überforderung und hieraus resultierendem
erneutem Scheitern als Reproduktion früher(er) Erfahrung ausschlaggebend
40
ist: Öffentlichkeit, Justiz wie Patienten erwarten eine Transparenz der
zugrundegelegten Entscheidungskriterien.
Standardisierte Persönlichkeitsbeurteilungen
D.h. die Einführung einer formalisierten (prognostischen) Beurteilung für
alle Patienten und die Entscheidung über Lockerungen nach einem einheit-
lichen Kriteriengerüst "verhindert Willkürverhalten" und gibt "eine rela-
tive Garantie der Gleichbehandlung" (vgl. Rasch 1983, 35): die regelhafte
Beurteilung "verhindert, daß dem Drängen des zwangsuntergebrachten
Patienten auf die Erweiterung seiner Freiräume allzu schnell nachgegeben
wird. Zugleich ermöglicht er, dem Spannungsverhältnis zwischen dem
Freiheitsanspruch des Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allge-
meinheit dahingehend Rechnung zu tragen, daß die im Beschluß des
Bundesverfassungsgerichts vom 08.10.85 (s. Eisel 1986) ausführlich darge-
legte Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs auch im Rahmen von
Vollzugslockerungen" als Maßstab angelegt wird (vgl. Robbe" und Schmilz
1988, 3). Zuletzt bietet das Instrument des Beurteilungsbogens auch die
Möglichkeit, Entscheidungen in strittigen Fällen gegenüber Anwälten (s.
hierzu Schuler 1988, 8), der Beschwerdekommission, den Gerichten (z.B.
im Rahmen des sog. Vorschaltverfahrens) oder anderen Institutionen in
ihren Begründungszusammenhängen offenzulegen.
Entscheidungskriterien
Daß es an der Eindeutigkeit von Entscheidungskriterien hapert, haben in den
vergangenen Jahren eine Reihe von Autoren nachdrücklich offengelegt: die
Vorhersagen wurden bereits wegen des Fehlens allgemeinverbindlicher
Kriterien, aber auch wegen ihrer Abhängigkeit von der Erfahrung der
Therapeuten als nach wie vor problematisch bezeichnet (vgl. Hinz 1986;
1987; Volckart 1985) sowie vor einiger Zeit gar "zwischen Würfeln und
Wissenschaft" angesiedelt (Murach 1989). Nachdrücklich hat Rasch die
Maßregel Vollzugseinrichtungen vor Jahren bereits einer unzulässigen
Kriterienreduktion bei ihren Entscheidungen bezichtigt (Rasch 1983; 1986),
und mußte Leygraf noch vor 2 Jahren in seiner epidemiologischen Untersu-
chung über die Maßregelvollzugspraxis weiterhin feststellen, die Prognose-
41
beurteilung erfolge zumeist" anhand äußerer Kriterien eines möglichst Es muß sich folglich in der Entscheidungspraxis bzw. den ihr zugrundegelegten
'anstaltskonformerf Verhaltens' (Leygraf 1988, 193; s. a. Rasch 1986, 100) Entscheidungskriterien zeigen, daß nicht nur einzelne Eigenschaften für die
- die intensive wissenschaftliche Diskussion über die Voraussage künftiger Befürwortung oder Ablehnung der Lockerung verantwortlich sind. Dieser
Gefährlichkeit schlage sich in der Praxis bisher nicht nieder. Frage nachzugehen, war einer der Schwerpunkte unserer Untersuchung.
Vor diesem Hintergrund mahnt Rasch an, diese "grundsätzlichen Schwie-
rigkeiten können weder übermächtiges Sicherheitsdenken rechtfertigen In der multivariaten Analyse mit Hilfe des SPSS -Programms erhielten wir
noch die Resignation, sich nicht um Prognoseentscheidungen zu bemühen" in der multiplen Regression mit der Zielvariable 'Lockerung' folgendes
(Rasch 1986, 106). Als Ergebnis fordert er-wie bereits von Herrn Pollähne Ergebnis:
beschrieben - die Erfassung entscheidender Dimensionen im Rahmen einer
sog. Checkliste (Rasch 1986, 106; s. a. Rasch 1983). Basierend auf diesen Tabelle l
Vorgaben erfolgte die Erarbeitung des von Herrn Pollähne bereits ausführ- Multiple Regression: ( SPSS ")
licher dargestellten Beurteilungsbogens, anhand dessen seit 1985 anläßlich Zielvariable Lockerungen in 3 Abstufungen ( n = 159)
definierter Lockerungsschritte eine prognostische Einschätzung durch das
Behandlungsteam auf der Grundlage deliktdynamischer, diagnostischer, BETA SIG T VARIABLE
problembezogener, persönlichkeitsstruktureller, therapeutischer und all- 549300 . 0000 Vorausgegangene erfolgreiche Lockerungen
tagsorientierter Kriterien vorgenommen wird.
. 300487 . 0000 Therapeutische Beziehung

252411 . 0001 Keine medikamentöse Behandlung

Untersuchung der Entscheidungekriterien
174875 . 0055 Nichtorganische Pyschose ( derzeit Diagnose )
In unsere Untersuchung (Westfälischer Arbeitskreis 'Maßregelvollzug'
121887 . 0331 Sexualdelikt mit Gewalt ( Deliktart)
1991) einbezogen wurden die Beurteilungsbögen von n = 202 gemäß § 63
StGB im Westf. Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt unterge- 121818 0361 Teilnahme Einzelgespräche
brachten Patienten, wobei ich Ihnen die Ergebnisse bezüglich der
Entscheidungsstruktur im Rahmen der Vollzugslockerungen berichten will. .114516 .0422 Straftaten bei Entweichungen
Dies erscheint insofern bedeutsam, als ja auch bei mehrdimensional erho-
benen Daten bzw. fremdeingeschätzten Patienteneigenschaften keinerlei Signifikanzniveau (Abbruchkriterium) PIN = 0. 05
Gewähr dafür gegeben ist, daß nicht -unwissentlich- dennoch eine Bestimmtheitsmaß für erklärte Streuung: r2 = 0.5467
Kriterienreduktion im Rahmen der Lockerungsentscheidung stattfindet. BETA: standardisierter Regressionskoeffizient (Einflußstärke)

Denn UnaufJSIligkeit des Patienten, formale Anpassungsleistung im Verhal-

ten und Bereitschaft zur Zusammenarbeit lassenja keineswegs ohne weiteres
den Rückschluß auf eine Abnahme der Gefährlichkeit zu, ebensowenig wie
der unbequeme, gegen die Zwangsunterbringung opponierende, die Behand-
lung in Frage stellende Patient per se als gefährlich betrachtet werden darf (s.
a. Rasch 1990, 105, zur unreflektierten Pathologisierung sogenannter
querulatorischer Persönlichkeiten),
Aus dei Tabelle läßt sich ersehen, daß erwartungsgemäß das Erreichen einer
Lockerungsstufe bzw. das erfolgreiche Verhalten eines Patienten in bisheri-
gen Lockerungsmaßnahmen mit Abstand am stärksten bei der Entscheidung
über (eine) weitere Lockerung(en) berücksichtigt werden. Vor dem Hinter-
grund, daß bei sich vergrößernden Freiräumen ein zunehmendes Risiko
eingegangen wird, handelt es sich um ein pragmatisches Vorgehen, das
allerdings nicht starr oder schematisch angewendet wird: eine Analyse der

42 43
 individuellen Beurteilungsanlässe und -abfolgen ergab ein individuelles
Abweichen von der formalen Abfolge sich sukzessiv erweiternder Freiräume
in aufeinanderfolgenden Lockerungen (Pflegerausgang - Gruppen-/Besu-
cherausgang - Einzelausgang - Beurlaubung). Darüber hinaus ließ sich der
Verdacht, hier schleiche sich über ein formales Kriterium dennoch maßgeblich
die Anpassungsleistung des Patienten an die Struktur und die Verhaltens-
erwartungen der Institution ein, in anschließenden statistischen Untersuchun-
gen (Robbe" 1990; 1992) weitgehend ausräumen.
In das Beurteilungskriterium der vorausgegangenen erfolgreichen
Lockerungen gehen Variablen ein, die sich auf die Bearbeitung und Art der
zentralen Problematik des Patienten beziehen, des weiteren auflch-Funktio-
nen im psychoanalytischen Sinne sowie auf deliktrelevante Informationen.
Als weitere die Lockerungsentscheidung maßgeblich beeinflussende Variablen
sind
- das Bestehen einer tragfähigen therapeutischen Beziehung zu wenigstens
einem Mitarbeiter der Station und
- die Praxis der medikamentösen Behandlung
ersichtlich. Die Relevanz der tragfähigen therapeutischen Beziehung ist aus
klinischer Sicht nicht überraschend, gilt sie doch in der Institution als
'emotionales Band'und somit Grundvoraussetzung für Therapie und
Therapieerfolg. Die Angabe 'keine medikamentöse Behandlung' ist in der
Auswertung noch detaillierter zu beschreiben: während der Verzicht auf
eine medikamentöse Behandlung positiv mildem Lockerungsgrad korreliert,
ist dies auch ansatzweise - wenn auch nicht statistisch signifikant - bei einer
regelmäßig verabreichten Medikation zu erkennen; bei nur gelegentlicher
Medikation scheint eine weitgehende Lockerung kontraindiziert zu sein.
Innerhalb der Diagnosen, die insgesamt keinen Einfluß auf den Lockerungs-
grad ausüben, haben lediglich die nichtorganischen Psychosen einen beson-
deren Stellenwert in der Untersuchung, da diese Patienten einen etwas
höheren Lockerungsgrad erreichten. Die besondere Symptomatik innerhalb
der Psychosen (akute oder chronische Wahnideen bzw. Halluzinationen,
Wahrscheinlichkeit einer psychotischen Dekompensation bei Belastungen,
Vorliegen bzw. Intensität einer psychotischen Dauerveränderung) hatte
hierbei jedoch keinen Einfluß auf die Lockerungsentscheidung. Wie aus der
44
Tabelle ersichtlich spielt die Schwere des zur Unterbringung führenden
Delikts innerhalb der Sexualdelikte - aber auch nur hier - insofern eine
ausschlaggebende Rolle, als Täter mit gewaltsamen Sexualdelikten gegen-
über solchen mit geringfügigen Sexualdelikten ohne Gewaltanwendung
(insbesondere pädophile Straftaten und Exhibitionismus) weniger oder
vorsichtiger gelockert werden. Daß die Teilnahme an Einzelgesprächen eine
negative Einflußgröße hinsichtlich der Lockerungsentscheidung ist,
verwundert zunächst. Als Erklärung lassen sich folgende Vermutungen
anbieten:
- Erfahrungsgemäß erhalten Patienten, die als gefährlich und/ oder schwer
gestört eingeschätzt werden, ein höherfrequentes/regelmäßigeres
Gesprächsangebot als andere, was zur zweiten Erklärung führt,
- nämlich daß durch den intensiveren Gesprächskontakt ein größeres bzw.
detaillierteres Wissen über den Patienten und eventuell problematische
("deliktrelevante") Persönlichkeitsanteile existiert und diese Patienten
folglich kritischer beurteilt werden (können) als andere; andererseits kann
es hierdurch u.U. - wie beispielsweise von Rasch berichtet (Rasch 1985,311)
zu einer Überschätzung der Gefährlichkeit kommen;
- drittens sind bei Patienten, die beurlaubt oder entlassen werden sollen,
regelmäßige Einzelgespräche u.U. nicht mehr indiziert, sondern werden
nur noch bei Bedarf geführt.
Schließlich korreliert auch die Tatsache, daß es bei vorangegangenen Ent-
weichungen zu Straftaten gekommen war, negativ mit dem Lockerungsgrad:
hierbei handelt es sich um knapp 13 % der beurteilten Patienten, die vor
allem Bagatelldelikte begangen hatten.
Kommentar zur Entscheidungsstruktur
In einer Auswertung erscheinen mehrere Aspekte beachtenswert:
- Zunächst kann angesichts der vorgelegten Ergebnisse von einer
Kriterienreduktion nicht gesprochen werden: der mehrdimensional ange-
legte Beurteilungsbogen hat diesbezüglich seinen Sinn offensichtlich
erfüllt und führt mit dazu, daß die Praxis der Vollzugslockerungen im
45
 Westf. Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt aufgrund deliktbe-
zogener, diagnostischer, therapeutischer sowie verhaltensabhängiger
Variablen mehrdimensional begründet ist.
- Bemerkenswert erscheint, daß es eine Anzahl von Einzelkriterien gibt, die
- z. T. erwartungswidrig - nach der multivariaten Analyse keinen stati-
stisch signifikanten Einfluß auf die Lockerungsentscheidung haben,
wenngleich sie im Einzelfall durchaus ausschlaggebend sein können. Dies
gilt einmal für die Dauer des bisherigen Aufenthalts in der Unterbringung,
die keinen Einfluß auf den Lockerungsgrad eines Patienten hat; die gilt
aber ebenso für Kriterien wie die Ausprägung von Fremd- oder
Selbstaggressionen, von etwaigen Alkoholproblem sowie für die Anzahl
bisheriger Entweichungen.
Untersuchung der prognostischen Kriterienbedeutung
Der zweite Schwerpunkt der Untersuchung bezog sich auf die Annahme,
daß den im Beurteilungsbogen enthaltenen Einzelkriterien prognostische
Relevanz zukommen soll. Herr Pollähne berichtete bereits über die
Erfolgskontrolle der durchgeführten Lockerungsmaßnahmen: hier nun
sollte untersucht werden, ob einzelne Variablen eine statistisch signifikante
prognostische Bedeutung bezüglich 'Erfolg' bzw. 'Mißerfolg' einer
Lockerungsmaßnahme aufweisen. Dabei bereitete jedoch bereits die Defi-
nition der Kategorien 'Erfolg' und 'Mißerfolg' erhebliche Probleme: zwar
sind die einschlägigen Rückfäl le, d.h. Straftaten während der Durchführu ng
der Lockerungsmaßnahme, auch bei detaillierter Analyse ohne weiteres als
'Mißerfolg' zu bewerten, doch wäre aufgrund der Verteilung von 4 %
Mißerfolgen /u 96 % Erfolgen eine statistische Auswertung sinnlos. - Neben
diesen in erneut begangenen Straftaten begründeten Abbruchen der
Lockerungsmaßnahme führten wie zuvor bereits berichtet auch andere
Umstände (Entweichungen, Alkoholkonsum, "psychische DeStabilisierung")
zur Rücknahme der Lockerungsmaßnahme, doch birgtdie Einstufung dieser
Fälle als 'Mißerfolg' Probleme in sich:
- daß die Beendigung der Lockerungsmaßnahme aus den obengenannten
Gründen erfolgte bevor es zu einem - antizipierten - Delikt kommen
konnte, kann einerseits als verantwortungsbewußter Umgang mit dem
Auftrag der Sicherung gewertet und darüber hinaus in der Mehrzahl der
Fälle durchaus therapeutisch positiv verarbeitet werden;
- zugleich jedoch birgt dieses Formalkriterium des Abbruchs oder der
Beendigung der Lockerungsmaßnahme auch den Aspekt einer 'self-
fullfilling-prophecy' bzw. 'self-destroying-prophecy' in sich.
Gleichwohl wurde entlang dieser formalen 'Erfolgs- Mißerfolgs'-
Kategorisierung die prognostische Relevanz der Beurteilungskriterien un-
tersucht.
So ergab die Diskriminanzanalyse (SPSS ") Signifikanzniveau von 5 %
Fehlerwahrscheinlichkeit ein Rechenmodell mit 10 Variablen, doch istderen
Aussagefähigkeit bei nur knapp 28 % erklärter Varianz der Gesamtvariable
gering (WILKS' LAMBDA = 0.7275). Die Treffsicherheit dieses
Rechenmodells bei der Vorhersage von Mißerfolgen war in bezug auf die
tatsächliche Verteilung entsprechend unzuverlässig: nur 74,4 % der Fälle
wurden zutreffend klassifiziert. Zwar ließen sich 26 von 32 Mißerfolgsfällen
richtig vorhersagen, doch wurde eine praktisch gleich große Anzahl von 27
Fällen unzutreffend als 'Mißerfolg' eingestuft so daß sich bei Verwendung
des obengenannten Rechenmodells die hohe Anzahl von 27,8 % falsch-
positiver Prognosen ergibt.
Tabelle 2
nach Rechenmodell vorhergesagter Lockerungsverlauf
Zeilensumme Erfolg Mißerfolg
tatsächlicher Erfolg 70 27 97
Lockerungs - Mißerfolg 6 26 32
verlauf unbekannt 30
Summe 159
Da die Anzahl derjenigen, denen aufgrund dieser statistischen Prognose
fälschlicherweise wegen irrtümlich angenommener Gefährlichkeit eine
Lockerung abgelehnt würde, unvertretbar hoch ist, stellen wir die in der
Diskriminanzanalyse errechneten Variablen des Beurteilungsbogens an
dieser Stelle nicht im Detail vor. Ergänzend bleibt nachzutragen, was Herr

46 47
Pollähne zuvor bereits ausführte: die statistische Einzelfallanalyse der
Lockerungsmaßnahmen, die abgebrochen werden mußten, ergab keine Hin-
weise auf zusätzliche Prognosekriterien, auf deren Grundlage die bisherige
Praxis der Lockerungsentscheidung im Westf. Zentrum für Forensische
Psychiatrie Lippstadt verbessert werden könnte. Vielmehr ist festzustellen,
daß der Gefährlichkeitsprognose nicht nur zum Zeitpunkt der Entscheidung
über eine beantragte Lockerung, sondern auch während der Durchführung
der Maßnahme hinsichtlich der Veränderungen des situativen Umfelds und
der aktuellen Verfassung des Patienten Augenmerk zukommen muß (vgl.
auchVolbert!986).
Zusammenfassung und Fazit
Insoweit die Ergebnisse unseres gemeinsamen Forschungsprojekts, die der
Westfälische Arbeitskreis 'Maßregelvollzug' über das bislang Referierte
hinaus bezüglich der institutionellen Auswirkungen nicht weiter kommen-
tiert oder bewertet hat. Als Mitarbeiter im Westf. Zentrum für Forensische
Psychiatrie Lippstadt und am Forschungsprojekt Beteiligter möchte ich
daher einige eigene Überlegungen und Schlußfolgerungen vortragen.
Eine zusammenfassende Bewertung der hier vorgestellten Arbeit und
Ergebnisse aus klinischer Sicht kann und darf sich m. E. nicht ausschließlich
auf das Forschungsprojekt, das empirische Datenmaterial und die Resultate
der statistischen Auswertung beziehen: ich werde daher zunächst auf den
Beurteilungsbogen, seine Anwendung und die Auswirkungen auf die
institutionelle Praxis eingehen.
- Für die Praxis innerhalb der Institution muß man sich zunächst erneut ins
Gedächtnis rufen, daß Maßregeln der Besserung und Sicherung für die
behandelnden Therapeuten angesichts der Dilemmata von Parteilichkeit
versus Neutralität, von Diagnostik und Therapie versus strafrechtliche
Konsequenzen, von juristischem versus psychiatrisch-psychologischem
Diskurs (Küchenhoff 1988) nicht nur im Bereich des Alltags, sondern auch
bezüglich der für die Lockerungsentscheidungen erforderlichen Progno-
sestellung bei den einzelnen Patienten erhebliche Probleme darstellen
(vgl. z. B. Schorsch 1983). - Die mittlerweile erreichte standardisierte
Form der Verlaufsbeurteilungen mit der nunmehr 3. revidierten Fassung
des Beurteil ungsbogens ähnelt den insbesondere im Bereich der Psycho-
logie gängigen Fremdbeurteilungsverfahren und hat zum Ziel, individuel-
le Beurteilungsfehler ('blinde Flecken) infolge Sympathie/Antipathie, in-
48
folge von Gegenübertragungen, von unterschiedlichen Erfahrungen der
Beurteiler und/oder situativen Konstellationen (s. Bruner und Tagiuri
1954; Hinz 1986) deutlich zu verringern und Fehlerquellen psychiatrisch-
psychologischer Prognosen (vgl. Pfäfflin 1978; Rasch 1982) erheblich zu
reduzieren. Des weiteren soll ein einheitlicher Beurteilungsbogen der
Tendenz zur Kriterienreduktion als Verringerung emotionaler wie kognitiver
Dissonanz (vgl. Festinger 1957) vorbeugen: sein Aufbau zielt darauf ab,
daß auch bei langjährig untergebrachten Patienten Aspekte der
Deliktdynamik nicht 'vergessen' werden, sondern vielmehr durch eine
Wiederbearbeitung aktualisiert und kontextuell betrachtet werden müs-
sen.
Die hier vorgestellten Ergebnisse des Forschungsprojekts bedeuten für
Kliniker, daß in der Institution Entscheidungen offensichtlich nach (rela-
tiv) einheitlichen Kriterien getroffen werden, die auf die individuelle
Problematik des Patienten Bezug nehmen. Die Tatsache, daß die Kriterien
nunmehr benennbar sind, beantwortet somit auch die Frage nach dem
institutionellen Standard und dem hiermit verbundenen theoriegeleiteten
Handeln. Denn auch Alltagspraxis ist in irgendeiner Weise - implizit oder
explizit - theoriegeleitet, wobei jedoch meist dieses theoretische Gesamt-
konzept weder explizit ausformuliert noch durchgängig ist, so daß es u.U.
zu institutionellen Mythenbildungen aufgrund implizi(er)ter Annahmen
kommt. Hier nun gab es zumindest für den Bereich der Lockerungs-
entscheidung selbst wie für das ihr zugrundeliegende Kriteriengerüst eine
m.E. zufriedenstellende (Er-)Klärung.
Weiterhin stelltder gegenwärtige Beurteilungsbogen ein Instrument für die
Praxis dar, das in seiner Form der Komplexität der zu beurteilenden
Person, ihrer Persönlichkeitsproblematik in Verbindung mitDeliktdynamik,
Therapieverlauf und deren Relevanz für eventuelles delinquentes Verhal-
ten (vgl. Eisel 1986, 28) gerecht werden und den Forderungen nach
Repräsentativitätdurch Praxisnähe (vgl. Gadenne 1976) entsprechen soll.
Wesentlich erscheint mir auch, daß es sich bei dieser prognostischen Ein-
schätzung anläßlich der Lockerungsentscheidung um ausführlich begrün-
dete und um hinsichtlich der Kriterien nachvollziehbare Entscheidungen
handelt.
Erst kürzlich veröffentlichte Rathert (1990) eine Arbeit über die
Angstbesetztheit diagnostisch -prognostischen Handelns bei Psychologen
im Strafvollzug: dies trifft - wenn auch unter anderer Akzentsetzung - eben-
49
 so auf den Maßregelvollzug zu. Denn der als "Hintergrundsbelastung"
bezeichnete Sachverhalt, daß in den Methoden wie den Inhalten der
Prognosepra xis keine Eindeutigkeit gegeben ist, da ß erhebliche Stra fia ten
bei Fehlprognosen und hiermit verbundene strafrechtliche Konsequenzen
drohen, daß es der spätere (nach einem Zwischenfall oder Delikt)
retrognostisch Gutachtende i. S, eines "einseitig gerichteten Kränkungs-
potentials " besser weiß - all dies ist angstauslösend, erzeugt reale Angst,
der a ufgrund des Prognose- und Entscheidungszwa ngs nicht a usge wichen
werden kann.
D.h. die Einführung und Anwendung, aber auch die nunmehr erfolgte
wissenschaftliche Überprüfung des Beurteilungsbogens hat ferner angs-
treduzierenden Charakter.
- Weiterhin handelt es sich bei der Beurteilung um von mehreren am
Behandlungsverlauf beteiligten Personen aus unterschiedlichen Berufs-
gruppen getroffene Entscheidungen. Somit wird weitgehend verhindert,
was in hierarchisierten Institutionen als Gefahr angelegt ist: die eventuelle
Willkür und Einseitigkeit der prognostischen Beurteilung durch einen
einzelnen 'Experten' (vgl. Lorenz 1990). In der Teamdiskussion können
auch Beurteilungsdivergenzen von Angehörigen unterschiedlicher
Berufsgruppen - Arzt/Psychologe/Sozialarbeiter/Krankenpfleger - ver-
ringert werden (vgl. Stieglitz 1988), wobei jedoch unterschiedliche
berufsspezifische Aspekte in die Entscheidungsprozesse eingehen (s.Kobbe
und Schmilz 1988, 7).
Im Zusammenhang mit der Erarbeitung dieses Resümees bin ich unvermu-
tet auf zwei Literaturstellen gestoßen, die diese Frage der Berufsgruppen-
kompetenzen akzentuiert problematisieren. In seinem sozialwissenschaft-
lichen Kommentar von 1980 stellt Kerner in Frage, ob Therapeuten
prognostizieren "können und dürfen", dies u.a. weil sie als Human-und
Sozialwissenschaftler "immer mit lediglich stochastischen Zusammenhän-
gen zu tun (haben), die unausweichlich nur ein Arbeiten mit Näherungs-
werten und unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsgraden erlauben", kei-
neswegs jedoch dem Juristen die "naturgesetzlich determinierten und
damit exakt berechenbaren Kausalzusammenhänge (Kerner 1980, 322)
als sicheres/gesichertes Wissen bieten können, die die Jurisprudenz als
"dogmatische Wissenschaft normativen Charakters" (Albert 1977, 65)
verlangt. Und 1985 fragt Rasch mit Verweis a ufStea dman (l 983), ob Ärzte
50
.... überhaupt über die notwendigen Vorkenntnisse und die angemessene
Methodik der Prognosestellung verfugen" (Rasch 1983, 312). In der
Praxis werden Gefährlichkeitsprognosen - wie zuvor dargestellt - von
Pyschologen und von Ärzten erarbeitet, wobei sich die Erstellung der
Beurteilung mittlerweile auf das multiprofessionelle Team der Station
ausgedehnt hat: die vorliegenden Beurteilungsbögen wurden in 24, 3 %
der Fälle von einzelnen Therapeuten "solo 'ausgefüllt; in 75,7 % der Fälle
wurde das Team als Bearbeiter angegeben, wobei anzumerken ist, daß
von 1985 zu 1987 eine sichtliche Verschiebung zur Beurteilung durch das
Team festzustellen ist. Diese Entwicklung ist einerseits sicher Ausdruck
der Erwartung der Institution an interdisziplinäre Teamarbeit, anderer-
seits auch eine Garantie für eine breite Beurteilungsbasis aus unter-
schiedlichen Perspektiven. Sicherlich kommt Psychologen aufgrund ihrer
Ausbildung in Wissenschaftstheorie, Methodenlehre und Statistik bei der
Erstellung von Einschätzskalen eine besondere Verantwortung zu, doch
ist m. E. die Beurteilung selbst in einem berufsübergreifcnden Team
angemessener, weil lebensnäher zu erarbeiten. - Daß Krankenhaus-
hierarchien und sogenannte "Spalt-Spiele" (Rasch) diese von Kisker
(l 988) sogenannte "problematische therapeutische Interaktionsfigur des
Teams immer wieder aus ihrem labilen Gleichgewicht bringen, ist
angesichts der schwierigen und z. T. mehr auf Konkurrenz als auf
Kooperation angelegten Unterstellungs- und Arbeitsverhältnisse der
beteiligten Professionen wie auch angesichts der Störeinflüsse durch sehr
gestörte Patienten nicht verwunderlich.
So gibt denn die Integration unterschiedlicher Berufsgruppen bei der
Beurteilung die Möglichkeit zur Korrektur des Fremdbildes von Pa-
tienten. Hierbei gebietet auch die Mehrdimensionalität des Beurteilungs-
bogens " ipsativen" Prognosekonzepten Einhalt (Lorenz 1990), d.h.
'schulen'spezifischenKonzepten, die die eigenen Vorannahmen, Überle-
gungen und Theorien in der auf sich selbst basierenden Beurteilung nur
tautologisch bestätigen und nicht bei den unmittelbaren Arbeits-, Frei-
zeit-, Therapie- und Lebenszusammenhängen des Patienten beginnen.
Ein Einwand jedoch bleibt: Entscheidungen mehrerer Personen aus
ähnlichem sozialem Milieu müssen nicht unbedingt richtiger 'ausfallen,
sondern können gelegentlich den subjektiven Glauben an die Qualität
einer objektiv unrichtigen Entscheidung erhöhen - eine Tatsache, die
Schneider (1985) als "kollektive Dummheit" bezeichnet hat.
51
- Für das Westf. Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt ist darüber
hinaus insofern ein Erfolg beschwerlicher wie beharrlicher Arbeit in der
Institution erkennbar: in seinem Gutachten über den damaligen Rottland-
Bereich des früheren Westf. Landeskrankenhauses Eickelborn beschrieb
Rasch das damalige "therapiefeindliche Klima" (Rasch 1983, 41-45) wie
im übrigen auch die Kriterienreduktion bei Entscheidungen (Rasch 1983,
36), so daß die nunmehr vorliegenden Auswertungen aus den Jahren 1985
bis 1988 m.E. als Inditz dafür genommen werden können, daß neben einer
Aufspreizung der Entscheidungskriterien zur oben vorgestellten Matrix
(s. Tabelle 1) insbesondere Persönlichkeit«- und behandlungsbezogene
Gesichtspunkte früher dominierende antitherapeutische und kustodiale
Einstellungen abgelöst haben.
(Vgl. Schumann 1990 zum therapeutischen Milieu im Westf. Zentrum für
Forensische Psychiatrie Lippstadt).
Bei einer zusammenfassenden Bewertung des Forschungsprojekts und
seiner Ergebnisse möchte ich aus klinischer Sicht folgendes anmerken:
- Zunächst ist hervorzuheben, daß überhaupt wissenschaftliche Forschung
innerhalb einer Einrichtung der Besserung und Sicherung verwirklicht
wurde. Zwar fordert das Maßregelvollzugsgesetz des Landes Nordrhein-
Westfalen in l Abs. 2MRVG-NRW, "zur Förderung von Behandlung, Be-
treuung und Eingliederung sollen die Einrichtungen mit geeigneten
Personen, Organisationen, Behörden und Einrichtungen der Wissenschaft
und Forschung zusammenarbeiten", doch liegt für den Maßregelvollzug
bislang "lediglich eine schmale Basis empirischer Feststellungen vor"
(Foerster 1986, 29) und sind die Kliniken der forensischen Psychiatrie
selbst kaum mit eigenem Personal und eigenen Fragestellungen an
Forschung beteiligt. Hier nun ließ sich aufzeigen, daß und in welcher
Weise eine Kooperation zwischen Universität und forensisch-psychiatrischer
Klinik möglich ist und sinnvoll genutzt werden kann.
- Was die Mitglieder des Westfälischen Arbeitskreises 'MaßregelVollzug'
betrifft, so sind Psychologen und Ärzte in Maßregelvollzugseinrichtungen
im allgemeinen als Diagnostiker und (Psycho-)Therapeuten, auf Stationen
mit administrativer und reglementierender Funktion sowie -meist
nebenberuflich- als Gutachter tätig - beide Berufsgruppen üben ihre Tätig-
52
keit im Spannungsfeld von Sicherung und Besserung aus und ihr Kontakt
zu Juristen ist eher beratend-berichterstattend denn kooperierend. Inso-
fern beinhaltete die Konstituierung des Westf. Arbeitskreises Maßregel-
vollzug mit Angehörigen des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht
der UniversitätBielefeld, des Westf. Zentrums für Forensische Psychiatrie
Lippstadt sowie der Generalstaatsanwaltschaft Hamm in seiner Praxis und
Zielsetzung neue und komplementäre Rollen.
Zum einen ergab sich die Möglichkeit enger partnerschaftlicher Koopera-
tion zwischen Berufsgruppen mit z.T. äußerst unterschiedlichen
Menschenbildern respektive divergierenden Denkstrukturen (vgl. Muck
1984). Im Forschungsprqjekt ging es um die Erhellung psychiatrisch-
psychologischer Urteils-bzw. Vorurteilsstrukturen, um die Konkretisierung
der Entscheidungsmatrix im Bereich von Forensik und Maßregelvollzug
als interdisziplinärer Forschungsanstrengung, bei der psychotherapeutische
bzw. diagnostische Sichtweisen gelegentlich mit juristischem Verständnis
kollidierten und über Verständigungsprozesse ineinander vermittelt wer-
den mußten (vgl. auch Wulff 1972).
Ganz nebenbei haben die beteiligten Psychologen ihr methodentheore-
tisches und statistisches Basiswissen reaktivieren müssen und können,
denn methoden- und inhaltsbezogene Grundlagenforschung bedingen sich
gegenseitig, selbst wenn das Hauptinteresse der klinisch-inhaltlichen
Fragestellung gilt und gelten sollte (s. Sarris und Lienert 1974, 332 ff.).
Zum anderen bot sich den beteiligten Klinikern die Gelegenheit zur
wissenschaftlichen Forschung und hiermit verbundenen (selbst-)kriti-
schen Überprüfung der eigenen Praxis. Sehr treffend beschreibt Blau, die
sich aus den scheinbar divergierenden Funktionen des Therapeuten und
Forschers ergebenden Spannungen "müssen durchdacht und ausgehalten
werden. Keinesfalls sollte auf diese fruchtbare Verbindung von Theorie
und Praxis verzichtet werden" (Blau 1986, 163).
Problematisch ist bei diesem Forschungsdesign allerdings, daß Unter-
suchungsgegenstand und Untersucher als Angehörige derselben Profession,
derselben Klinik usw. miteinander kon vergieren, so daß tbrma llogisch der
einzige Unterschied zwischen dem Forschungsteilnehmer und dem Beur-
53
teiler in der Klinik darin besteht, daß letzterer Aussägen macht, während
ersterer auch Aussagen über Aussagen trifft (vgl. Devereux 167, 309 -
311; Kobbe 1990).
• Um die diesbezügliche Tragweite des Forschungsprojekts zu verdeutli-
chen, muß gesagt werden, daß die Fragestellung äußerst weit gefaßt und
so das Risiko der eigenen Infragestellung, der unangenehmen Überra-
schung relativ groß war und eigentlich weiterhin noch ist, wenn man sich
vergegenwärtigt, daß zur Zeit noch drei Forschungsarbeiten mit
detaillierteren Fragestellungen zu der juristischen Bewertung der
Lockerungspraxis ( Pollähne 1991 ), zu den möglichen Aussagen über
klinische und institutionelle (Reform-)Praxis (Kobb6 1992) sowie zu den
Implikationen von Sachverständigengutachten (Klassa 1992) fortgeführt
werden, auf deren Formulierung und Ergebnisse die Institution weder
Einfluß genommen hat noch Einfluß nimmt.
Dies ist so selbstverständlich nicht: erst kürzlich äußerte sich Quensel
(1990, 247 - 248) in einem Referat zur Frage der Verhinderung kritisch-
freier Diskussion und Auseinandersetzung, der durch (organisatorische
und zeitliche) Auflagen nur geringer Raum gelassen werde.
- Ein weiterer Punkt der Bewertung betrifft den zukunftsweisenden Aspekt
dieser Evaluationsstudie und der sich anschließenden Arbeiten (s. o. ):
die Ergebnisse, die in einer Untersuchung der Verwendung der 2.
überarbeiteten Fassung des Beurteilungsbogens gewonnen wurden, haben
die mittlerweile 1987/88 vorgenommene Überarbeitung sowohl in den
Teilen bestätigt, in denen einzelne Items ausdifferenziert wurden, wie
auch in den Bereichen, in denen - auch aus ökonomischen Gründen -
Fragen aus dem Bogen entfernt wurden, die nicht für entscheidungs- bzw.
prognoserelevant gehalten wurden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gehe
ich davon aus, daß bei Vorliegen weiterer Daten eine erneute Überarbeitung
und Aktualisierung des Beurteilungsbogens auf der Grundlage der sich
hieraus ergebenden Hinweise und Bewertungen vorgenommen werden
kann und muß - insofern stellen die hier vorgetragenen Ergebnisse auch
einen Zwischenbericht über die institutionelle Arbeit, also über den Ist-
Zustand dar, nicht jedoch über das Erreichen eines noch differenzierter
auszuarbeitenden Soll-Zustandes der für unterschiedliche Lockerungs-
entscheidungen erforderlichen Prognosestellungen.
Literatur
Albert, Hans
Die Einheit der Sozialwissenschaften. (1977)
in: Topitsch, Ernst (Hrsg.)
Logik der Sozialwissenschaften
Athenäum Verlag, Königstein (1984) 53-70
Backhaus, K.; B. Erichson; W. Flinke; Chr. Schuchard-Ficher; R.Weiber
Multivariate Analysemethoden. Eine anwendungsorientierte Einführung.
Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg/New York 1989
Begründung der Durchführungsverordnung zum Maßregelvollzugsgesetz.
Land Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1986
Blau, G.
Zur Bedeutung der Psychiatrie für die Kriminologie.
in: Pohlmeier, H. ; E. Deutsch; H. -L. Schreiber (Hrsg. )
Forensische Psychiatrie heute. Ulrich Venzlaf'f zum 65. Geburtstag. Springer-
Verlag, Berlin/Heidelberg/New York (1986) 151-168
Bruner, J. S.; R. Tagiuri
The perception of people.
in: Lindzey, G. (Hrsg.)
Handbook of Social Psychology II.
Cambridge, Mass. 1954
Devereux, Georges
Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Carl Hanser Verlag,
München 1967
Durchführungsverordnung zum Maßregelvollzugsgesetz (DV-MRVG).
Land Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1986
Eisel, Lutz
Zum Verhältnis von Freiheitsanspruch und Sicherungsbedürfhis bei der Fortdauer
der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: BVerfG, Beschluß v.
8. 10. 85 - 2 BvR 1150/80 und 1504/82 Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, §§ 62, 63, 67d
StGB.
in: R & P 4 (1986) 1,25-31
55
 Festinger, L. Klassa, Diana
A theory of cognitive dissonance. Stellungnahmen und Gutachten in der Forensischen Psychiatrie: Aussagen über
Row & Peterson, Evanston/Il l. 1957 den Patienten oder den Sachverständigen?
(Arbeitstitel)
Foerster, K. Diss. phil., Universität Bielefeld 1992 (in Vorbereitung),
Die Bedeutung von Lehre und Forschung für die Forensische Psychiatrie.
in: Pohlmeier, H.; E. Deutsch; H. -L. Schreiber (Hrsg.) Kobbd, Ulrich
Forensische Psychiatrie heute. Ulrich Venzlaff zum 65. Geburtstag. Prognostix - ein blind würfelnder Seher, wissenschaftlich wahrsagender Druide
Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg/New York (1986) 25-33 im Maßregel vollzug? Zur Entscheidungsmatrix bei Vollzugslockerungen. Vortrag
auf der 5. Forensischen Herbsttagung der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-
Gadenne, Volker Maximilians-Universität München in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft
Die Gültigkeit psychologischer Untersuchungen. für Methoden und Dokumentation in der Forensischen Psychiatrie AGFP
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1976 München, 26. -27. Oktober 1990

Gesetz über das Vorschaltverfahren bei Anträgen auf gerichtliche Entscheidung Kobbe, Ulrich
betreffend dieVollzugsangelegenheiten von Gefangenen und Untergebrachten Gefährliches Irresein, prognostischer Irrtum und forensisches Irrenwesen.
(Vorschaltverfahrengesetz - GVNW) (Arbeitstitel)
Land Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1979 Diss. phil., Universität Bielefeld 1992 (in Vorbereitung)

Gesetz über den Vol Izug freiheitsentziehender Maßregeln in einem psychiatrischen Kobbe; U.; W. Schmilz
Krankenhaus und einer Entziehungsanstalt (Maßregelvollzugsgesetz - MRVG). Prognose der Gefährlichkeit im Maßregelvollzug. Ein Beurteilungsbogen im
Land Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1984 Westf. Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt.
Unveröffentlichtes Manuskript, Lippstadt-Eickelborn 1988
Hinz, Stefan
Gefährlichkeitsprognose im Maßregelvollzug. Küchenhoff, J.
in: R & P 4 (1986)4, 122-127 Forensische Psychiatrie: Widersprüche zwischen Klinik und Justiz.
in: Psychiat. Prax. 15 (1988) l, 37-42
Hinz, Stefan
Gutachterliche Vorhersage der Gefährlichkeit. Leygraf, Norbert
in: R & P 5 (1987)2,50-58 Psychisch kranke Straftaten Epidemiologie und aktuelle Praxis des psychiatrischen
Maßregelvollzugs.
Kerner, Hans-Jürgen Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg/New York 1988
Können und dürfen Therapeuten prognostizieren? Strafaussetzung zur Bewäh-
rung in der Praxis als Konfliktfeld für Vollzugsanstalten und Gerichte, Lorenz, Alfred L.
in: Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht. "Da halte ich mich lieber raus" - oder Psychodiagnostik als Berufsaufgabe.
Erster Teilband. in: P & G 14 (1990) 2/3, 135-151
Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt (1980) 307-330
Kisker, K. P.
Team'' - Erfahrungen mit einer problematischen therapeutischen Interaktionsfigur
in der Psychiatrie.
in: Psychiat. Prax. 15 (1988) 3, 149-154
56 57
Muck, Mario Rasch, Wilfried
Berührungspunkte und Divergenzen der Denkstrukturen von Psychoanalyse und Gutachten zur Situation und zu Entwicklungsmöglichkeiten in der Durchführung
Justiz. Der Psychoanalytiker als Gutachter vor Gericht. des Maßregelvollzugs nach den §§ 63 und 64 StGB im Forensischen Bereich des
in: Menne, Klaus (Hrsg. ) Westf. Landeskrankenhauses Eickelborn. (1983)
Psychoanalyse und Justiz. Zur Begutachtung und Rehabilitation von Straftätern. in: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.)
Nomos Verlagsges., Baden-Baden (1984) 11-22 Krank und/oder kriminell? Maßregelvollzug in Westfalen-Lippe.
Münster (l984) 7-74
Murach, Michael
Zwischen Würfeln und Wissenschaft. Zur Mißbrauchsprognose im Strafvollzug.
Rasch, Wilfried
in: R & P 7 (1989) 2, 57-67
Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko.
Pfäfflin, F. in: Schwind, Hans-Dieter (Hrsg.)
Festschrift für GÜNTER BLAU zum 70. Geburtstag am 18. Dezember 1985.
Vorurteilsstruktur und Ideologie psychiatrischer Gutachten über Sexualstraftäter.
Walter de Gruyter, Berlin (1985) 309-326
in: Schmidt, G.; E. Schorsch; V. Sigusch (Hrsg.)
Beiträge zur Sexualforschung Nr. 57. Rasch, Wilfried
Enke Verlag, Stuttgart 1978 Die Funktion von Lockerungen im Maßregelvollzug.
in: Pohlmeier, H. ; E. Deutsch; H. -L. Schreiber (Hrsg)
Pollähne, Helmut
Forensische Psychiatrie heute. Ulrich Venzlaff zum 65. Geburtstag.
Zur Kalkulierbarkeit des Risikos bei Lockerungen im Maßregelvollzug.
\, Berlin/Heidelberg/New York (1986) 99-107
Referat auf dem XVIII. Symposium des Instituts für Konfliktforschung in
Verbindung mit dem Verein deutscher Strafverteidiger e.V. "zur Problematik
Rasch, Wilfried
Vollzugslockerungen und bedingten Entlassungen bei Aggressionstätern" . Fallgruben der forensischen Psychiatrie. Nachlese zu einer Studienreise in die
Maria Laach, 29. Oktober 1989
Sowjetunion.
in: R & P 8 (1990) 3, 102-109
Pollähne, Helmut
Lockerungen im Maßregelvollzug (§ 63 StGB). (Arbeitstitel)
Rathert, Jörg C.
Diss.jur. , Universität Bielefeld 1992 (in Vorbereitung)
Angst, ein verschwiegenes Gefühl im Strafvollzug.
in: P & G 14 (1990) 2/3, 123-134
Quensel, Stephan
Ein interdisziplinäres Unternehmen zwischen Theorie und Praxis - 25 Jahre
Sarris, V. ; G. A. Lienert
südwestdeutsche Kriminologische Colloquien
Konstruktion und Bewährung von klinisch-psychologischen Testverfahren.
in: MschrKrim 73 (1990) 4, 245-253 in: Schraml, W. J. ; U. Baumann (Hrsg.)
Rasch, Wilfried
Schneider, H.-D.
Richtige und falsche psychiatrische Gutachten. Anmerkungen zu dem Urteil des
Kleingruppenforschung.
Oberverwaltungsgerichts Münster vom 28.10.81 zur Tätigkeitdes gerichtsärztlichen
Stuttgart 1985
Ausschusses Nordrhein-Westfalen.
in: MschrKrim 65 (1982) 5, 257-269

58 59
Schorsch, Eberhard Westfälischer Arbeitskreis 'Maßregelvollzug' (Albrecht, P.-A.; B. Dimmek; E.
Psychotherapeutische Aspekte bei der Forensischen Begutachtung. Gerdes-Röben; R. Grünebaum; D. Klassa; U.Kobbe; Th. Niediek; S. Nowara-
in: Psychiat. Prax. 10 (1983) 3, 143-146 Edling; H. Pollähne; V. Schumann; P. Tschuschke)
Mehrdimensionale Persönlichkeitsbeurteilung im Maßregelvollzug. Ein
Schuler, Sigrid Beurteilungsbogen als Entscheidungsgrundlage zur Gefährlichkeitsprognose.
"Maßnahmen der Besserung und Sicherung gemäß §§ 63, 64 StGB" unter (Arbeitstitel)
Berücksichtigung des Beschlusses des zweiten Senats des Bundesver- in: Psychiat.Prax. 19 (1992) - (in Vorbereitung)
fassungsgerichtes vom 08.10.1985.
in: Forensia9(1988) l, 1-10 Wulff, Erich
Sprachbarrieren als Hindernisse psychiatrischer Forschung. (1972)
Schumann, Vera in: Wulff, Erich (Hrsg.)
Maßregelvollzug - Versuch einer Standortbestimmung. Vortrag auf dem l. Psychiatrie und Klassengesellschaft. Zur Begriffs- und Sozialkritik der
Forensisch-psychiatrischen Symposion Berlin 'MaßregelVollzug - Scheitern oder Psychiatrie und Medizin.
Chance'. Athenäum Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt (1977) 269-281
Berlin, 27. -29.08. 1990

Steadman, H. J.
Predicting dangerousness among the mental ill: Art, magic and science.
in: Int. J. Law Psychiatry 6 (1983) 381-390

Stieglitz, R.- D.
Klinische Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren.
in: Diagnostica 34 (1988) l, 28-57

Volbert, Renate
Zwischenfälle im Maßregelvollzug. Wie kalkulierbar ist das Risiko?
in: MschrKrim. 69 (1986) 6, 341-347
Volckart, Bernd
Sachverständigenbeweis zur Kriminalprognose-darf das Gerichtden Beweisantrag
ablehnen?
in: R & P 3 (l985) 1,25-30

Westfälischer Arbeitskreis 'Maßregelvollzug' (Albrecht, P.-A.; B. Dimmek; E.

Gerdes-Röben; R. Grünebaum; D. Klassa; U.Kobbe; Th. Niediek; S. Nowara-
Edling; H. Pollähne; V. Schumann; P. Tschuschke)
Lockerungen im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) - ein " kalkuliertes Risiko"?
in:NStZ 11 (1991) 2, 64-70

61