Ein Überblick
Das Vierteljahrhundert zwischen den Broadwaypremieren des bahnbrechen‑
den Musical Plays Oklaboma! (1943) und seines Antipoden, des Rockmusicals
Hair (1968) gilt allgemein als das >>Goldene Zeitalter<< des Musicals. Während
dieser Phase zwischen Oh, What a Beautiful M o m n g und dem Anbruch v o n
>>The Age of Aquarius<< entwickelte sich das amerikanische Musicaltheater aus
verschiedenen Vorkriegsmodellen zu einer weltweit anerkannten Form >>legiti‑
men<< Theaters, m i t vielfältigen Subgenres und einem expandierenden Netz‑
werk von Verbindungen z m n internationalen Handel und zur Massenkultur.
Getragen wurde esbeinahe ausschließlich v o n den Vier Dutzend Theatern, die
sich damals in Form eines dichtbesetzten Rechtecks mit dem Broadway als
Zentrum zwischen der 39. und der 44. Straße in New York City drängten.
Dabei agierte das Musical des Goldenen Zeitalters auf heiklem kulturellem
Terrain. Als nicht öffentlich gefördertes, kommerzielles Unternehmen von ho‑
hem Risiko zielte esdarauf ab, wachsende künstlerische Ambitionen mit finan‑
ziellen Zwängen zu vereinbaren und versuchte, vermehrt kulturelles Ansehen
als tonangebende, genuin nationale dramatische Kunstform zu gewinnen (ana‑
log zu den nationalen Operngattungen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in
Europa herausgebildet hatten). Und dies, ohne jene Unterhaltungsqualitätenzu
opfern, deren es bedurfte, um ein familienfreundliches Publikum der breiten
Mittelklasse zu amüsieren und mitzureißen. Keineswegs alle Musicals der Ära
erwiesen sich als golden. Von den ungefähr dreihundert neuen Musicalshows,
die zwischen 1943 und 1968 am Broadway gezeigt wurden und deren Zahl pro
Saison zwischen sieben und siebzehn schwankte (im Unterschied zum Gipfel‑
w e r t v o n fünfzig Aufführungen in der Saison 1928/1929), errangen weniger als
ein Viertel den Status eines »Hits« und hielten sich mehrere Spielzeiten lang,
was notwendig war, um die Investitionen der Finanziers wieder einzubringen.
(die Abbildung auf Seite 138 zeigt eine tabellarische Auflistung v o n Saison zu
Saison). Jenen Musicals, denen dies gelang, billigte man später kanonischen
Status zu. Sie waren Meilensteine eines Standardrepertoires an Musicals, die
nach wie vor häufig aufgeführt und studiert werden. Im Unterschied dazu wur‑
138 Das Goldene Zeitalter des Musicals
Gun (1.147); ”*The Red Mill (531), *Show Boar (418) des Tony Awatd for Outstanding
Musical (der erstmals 1949 vergeben
1946/1947 13/2 Beggar’s Holiday (111), Street Scene (148), "Finian’s Rainbow wurde) sind fett gedruckt; Gewinner
(725), *Brigadoan (581), The Medium, The Telephone (211); des New York Drama Critics Circle
*Sweethearts (288) Award fot Best musical (nach 1945)
1947/1948 12/2 *High Button Shoes (727), Allegro (315), ‘Angel in the Wings erscheinen kursiv; Gewinner eines
(308); The Cradle Will Rock (34) Pulitzer Prize for Drama sind einmal,
Gewinner eines Pulitzer Prize for
1948/1949 14/1 Magdalena (88), Love Life (252.), ‘Where’s Charley? (792), *As Music doppelt unterstrichen. Es ist
the Girls Go (420), *Lend an Ear (460), l‘Kiss Me, Kate (1.077), zu beachten, daß diese Liste keine
*South Pacific (1.925); The Rape of Luctetia (23) Musicals enthält, die >>Off‐Broade
1949/1950 16/0 Miss Liberty (308), Lost in the Stars (2.81), Regina (56), *Gentle‑ way<< produziert wurden und da8
m e n Prefer Blonds (740), *The Consul (269), Peter Pan (320) aufgrund von Terminverschiebungen
der jährlichen Preisverleihungen
1950/1951 12/1 *Call Me Madam (644), ”Guys andDalls (1.200), *The King and I manchmal zwei Musicals in ein- und
(1.246), A Tree Grows in Brooklyn (267) derselben Saison mit Tony Awards
1951/1952 8/5 Two on the Aisle (276), Paint Your Wagon (289), "New Faces of geehrt wurden.
1952 (365); Music in the Air (56), *Pal Joey (542), Four Saints
in Three Acts (15), Of Thee I Sing (72), Shuffle Along (4)
1952/1953 9/0 *Wish You Were Here (597), 'Wondeiful Town (559), *Can-Can
(892), *Me and Juliet (358)
1953/1954 8/0 *Kismet (583), The Girl in Pink Tights (115), Tbe Golden Apple
(125), *The Pajama Garne (1.063)
1954/1955 12/1 *The Boy Friend (483), ”‘Fanny (888), The Sein! ot BIeec/zer Street
(92), *Plain and Fancy (476), ’Silk Stockings (461), l*Darrul Yan
kees (1.022); On Your Toes (64)
1955/1956 7/0 Pipe Dream (245), *My FairLady (2.715), Mr. Wonderful (383),
"“The Most Huppy Felle (678)
1956/1957 9/0 “*Li’l Abner (693), *Bells are Ringing (925), Candide (73), Happy
Hunting (413), ”New Girl in Town (432)
1957/1958 11/0 ”West Side Story (734), *Jamaica (558), The Music M a n (1.375)
1958/1959 12/0 *La Plume deMa taute (835), *Flower D r u m Song (602), l*Red
head (455), Juno (16), Destry Rides Again (472), *Gypsy (702)
Ein Überblick
139
1959/1960 14/1 Take Me Along (448), ’“The Sound of Music (1,443), *Fiorello,’
(796), ‘Once Upon a Mattress (460), *Byc Bye Bitdie (607);
Finian’s Rainbow (12)
1960/1961 15/0 *Irma La Douce (527), Tenderloin (216), *The Unsinkable Molly
Brown (532), ”Camelot (873), Wildcat (172), D0 Re Mi (400),
CamiI/al (719)
1961/1962 17/1 Milk and Honey (543), * H o w T0 Succeed in Business Without
Really Timing (1.415), * N o Strings (580), I Can Get it For You
Wholesale (300), "“A Funny Thing Happcned 0 11 the Way to thc
Forum (965)
1962/1963 11/0 ‘Stop thc Worlcl I Want t0 Get Off (556), M r. Presidenr (265),
Littlc Me (257), ’“Olivcr! (774), She Lovcs Me (302)
1963/1964 16/0 x’110 in the Shade (330), "'Hello, Dolly! (2.844), What Makes Sam
my Run? (540), "“Fuimy Girl (1.348), Anyone Can Whistle (9),
High Spirits (375)
1964/1965 16/2 ‘Fiddlcr an the Raof(3.242), Golden Boy (569), Baker Street (313),
D0 l Hear a Waltz? (220), *“I-Ialf a Sixpcnce (512), Flora, the Red
Mcnace (87), ’“The Roar of thc Greasepaint, The Smell of the
Crowd (232)
1965/1966 14/0 On a Clear Day You Can See Forever (280), *Man ofLa Mancha
(2.329), *Sweet Charity (608), It‘s a Bird, It’s a Plane, It’s Super
m a n (129), *Mame (1.508)
1966/1967 11/0 The Apple Tree (463), *Cabm'et (1.166), ”I D0! I D o ! (561),
Illya Darling (320), "'Hallelujah, Baby! (293)
1967/1968 11/0 H o w Now, Dow Jones (220), Golden Rainbow (385), George M!
(435), "’Hair (1.750)
1968/1969 14/0 Zorba (305), "“l’romises, Promises (1.281), Celebration (110), Can‑
[erbury Tales (‚122), Dear World (132), "’1776 (1.217)
140 Das Goldene Zeitalter des Musicals
f w
de keine vor dem Goldenen Zeitalter entstandene Show, nicht einmal Show Boat,
am Broadway erfolgreich wiederbelebt (und danach in den Kanon aufgenom‑
men), ohne gravierende Revisionen über sich ergehen zu lassen. Diese zielten auf
eine stärkere Anpassung an die Konventionen des Post‐OklahomaI‐Musicals ab.
In dem Maße, in dem das Musical raffinierter in der musikdramatischen
Konstruktion, kühner hinsichtlich der Sujets und ernsthafter in der Darstellung
gesellschaftlicher Verhältnisse wurde, erwies sich die >>Integration<< seiner ver‑
schiedenen Komponenten als vordringlichste Aufgabe. Zugleich nahm der ge‑
meinsame kreative Prozeß die Gestalt eines streng geregelten und oftmals lang‑
wierigen Unterfangens an und weitete sich dermaßen aus, daß nicht nur Book‑
writer, Lyricist und Komponist, sondern auch Produzent, Regisseur, Choreo‑
graph und Bühnenbildner daran beteiligt waren. Vom Musical des Goldenen
Zeitalters erwartete man, daß jedes konstitutive Element den Gesamtstil der
Produktion, der n u n durch die spezielle dramatische Situation und den Inhalt
diktiert wurde, reflektierte und bereicherte.‘»Die Instrumentation klingt so,
wie die Kostüme aussehem, scherzte Richard Rodgers.l Die Aufwertung des 1 R. Rodgers, Musical Stages: An
Tanzes (ausgehend von seiner traditionellen Funktion als Novum, Spektakel Autobiography, New York 1995,
oder bloße Gelegenheit, die Beine der Chormädchen zur Schau zu stellen) zur S.227.
Gleichstellung mit Musik, Songs und Text, was die Dynamisierung des Plots
und die Charakterisierung der Atmosphäre angeht, ergab sich erst allmählich.
George Balanchine, Agnes de Mille und Jerome Robbins schufen hier in den
späten dreißiger und frühen vierziger Jahren mit behutsam interpolierten Bal‑
letten eine Basis. In engem Anschluß an Oklahoma! demonstrierte Robbins mit
der Adaption seines Bernstein‐Balletts Fancy Free als On the Town, daß sich
ein neuer Typus der Musical Comedy ebenso solide vom Tanz aus konstruieren
ließ, wie sich der ältere Typus aus einer Abfolge v o n Songs entfaltet hatte. Wie
vollkommen der Tanz schließlich in das System des Musicaltheaters eingepaßt
wurde ‐ durch die Verdienste des Regisseurs George Abbott alias >>Mr. Broad‑
way<< und der nachfolgenden Generation v o n Broadwaychoreographen, die er
Ein Überblick
141
förderte (u.a. Robert Alton, Michael Kidd, Gower Champion, Donald Saddler,
Bob Fosse, Onna White, Peter Gennaro und Joe Layton) ‐, dokumentiert sich
in dem Umstand, daß sie eigentlich alle zu guter Letzt die gesamte leitende
Verantwortung übernahmen. Gegen Ende der Ära, als das >Concept Musical<
das >>integrierte<< >Musical Play< als Strukturnorrn zu ersetzen drohte, bean‑
spruchten Regisseure wie Abbotts Hauptprotege und Produzentenpartner Ha‑
rold Prince die zentrale Machtbefugnis im gemeinsamen Entstehungsprozeß.
Sie beaufsichtigen eine Besetzungstruppe, eine Crew und einen Stab schöpferi‑
scher Mitarbeiter, deren Gesamtgröße sich normalerweise auf über hundert
Personen belief, und überwachten eine Entstehungsphase, die oft mehrere Jah‑
re umspannte. Radio und Filmindustrie veranlaßten in den dreißiger Jahren
viele Darsteller, die im Vaudeville, der Operette und der Musical Comedy groß
geworden waren, die Bühne zu verlassen. Das Goldene Zeitalter bildete eine
neue Generation von Talenten aus, die in ihre vielseitigen Vorstellungen jene
besondere Kombination von Schauspielerei, Tanz und Gesang >>integrierten<<,
die das amerikanische Musicaltheater dezidiert v o n anderen Formen des M u ‑
siktheaters unterschied.
Unter den populären Songwritern (darunter George Gershwin, Jerome Kern,
Irving Berlin, Cole Porter und Ray I-Ienderson), die ihre Songs in den eher
zufällig entstandenen Musical Comedies der zwanziger und dreißiger Jahre dar‑
boten (sie waren gewöhnlich kaum mehr als ein mit dürftiger Handlung ver‑
sehener Vorwand für die Darbietung einer Ansammlung von Stars, Spektakeln
und Songs), gelang es nur Rodgers durch seine neuartige Zusammenarbeit mit
Oscar Hammerstein H, einen konsistenten und innovativen Beitrag zum reifen
>Book-Musical< zu liefern, das neue Subgenres hervorbringen sollte. Als Rodgers
und Kurt Weill, sein Hauptrivale in den vierziger Jahren, neues musikalisches
Terrain eroberten, indem sie wahrlich >>integrierte<< musikdramatische >Partitu‑
ren< schrieben und die standardisierte, 32 Takte umfassende >Popularsongforrn<
zu komplexen musikalischen Szenen mit speziellen Charakterisierungs‐ undHand‑
lungsfunktionen ausweiteten, gingen die zuvor spezialisierten Aufgaben von
Lyricist und Bookwritet häufig in der zusammenfassenden Tätigkeit eines einzi‑
gen Mitarbeiters auf. Dieser adaptierte für gewöhnlich sein Textbuch nach einem
bereits vorhandenen literarischen oder dramatischen (oder in späterer Zeit filmi‑
schen) Modell, das m a n zuvor für bedeutend genug gehalten hatte, die Frage zu
klären, ob essich für eine Adaption als Broadwaymusical wirklich eignete.
Solch eine Zusammenarbeit gestaltete sich so anstrengend, zeitraubend und
eng, daß die erfolgreichsten Musicals des Goldenen Zeitalters das Produkt ei‑
ner bemerkenswert geringen Anzahl von schöpferischen Partnerschaften für
abwechslungsreiche Shows waren: Rodgers 8cHammerstein, Lerner 8€Loewe,
Adler 86Ross, Arlen 8€Harburg, Dietz 8€Schwartz, Burrows 8c Loesser, Comx
den 86 Green jeweils mit Bernstein und Styne, Bock 8€ Harnick, Kander 86
Ebb, Strouse 8c Adams, Jones 8€ Schmidt. Sie alle arbeiteten, oftmals reihum,
mit einem gleichfalls begrenzten Kreis v o n Produzenten, Regisseuren, Bühnen‑
bildnern und Choreographen zusammen. Trotz der gemeinsamen Verwendung
eines dramaturgischen Modells, dessen gattungstypische Konventionen ver‑
gleichsweise stabil und immun gegenüber radikalen Veränderungen waren, die
142 Das Goldene Zeitalter des Musicals
sen Appetit auf Tourneen, das >Summer stock< und Amateurproduktionen. Als
sich die Kluft zwischen populärer Musik und Showmusik in den fünfziger und
sechziger Jahren vergrößerte, bewahrten viele Musicals ihr Profil vordringlich
als musikdramatische Einheiten, als >>Werke<<, die der Erhaltung und der kon‑
tinuierlichen Wiederbelebung bedürfen. Zusätzliche Präsentationsformen wie
über Radio und Fernsehen verbreitete Ausschnitte bzw. Adaptionen und die
relativ authentischen Leinwandadaptionen der fünfziger und sechziger Jahren
vergrößerten auch die Zuhörerzahlen von Musicals wie West Side Story, das
einen nur bescheidenen Erfolg am Broadway errungen hatte. In Anbetracht des
möglichen Profits, den solche >>Weiterverwertungsrechte<< für Musicals boten,
waren Schallplattenfirmen und Filmstudios schnell bereit, als Hauptinvestoren
für Broadwayproduktionen zu zeichnen. Während des Goldenen Zeitalters er‑
lebten zwanzig Musicals erste Broadwaylaufzeiten, die sich auf mehr als t a u ‑
send Aufführungen beliefen. M i t Ausnahme zweier Revuen in den späten drei‑
ßiger Jahren blieb dies ohne Präzedenzfall in früheren Zeiten. Mehr als fünfzig
weitere Book‐Musicals aus den fünfziger und sechziger Jahren überschritten
die Grenzmarke von fünfhundert Vorstellungen. Solche Hitmusicals t o u r t e n
gewöhnlich in einer zweiten Besetzung durch die Vereinigten Staaten, profitier‑
ten von einer zweiten Laufzeitim West End (dem Londoner Pendant zum Broad‑
way) und gingen dann durch Inszenierungen von Colleges, Gemeindetheatern
und High Schools im ganzen Land in das amerikanische Bewußtsein ein. Mitte
der fünfziger Jahre vergrößerte sich das Produktionssystemum ein >>Off‐Broad‑
way«‐Anhängsel von kleineren Theatern, wo Musicals, die man als zu kurz, zu
experimentell oder zu riskant für eine Broadwayproduktion erachtete (darun‑
ter solche Erfolge wie Marc Blitzsteins Adaption der Dreigroschenoper [1954]
und Schmidt 8c Jones’ The Fantasticks [1960]) zu reduzierten Kosten insze‑
niert werden konnten. Im Jahre 1967, als das 21. Jahresiubiläum der >>Tony<<‑
Award-Zeremonie zum ersten Mal landesweit ausgestrahlt wurde, war das
Musical eine Frage von Nationalbesitz, ‐stolz und eidentität geworden. Der
Preis für das >>Outstanding Musical<< avancierte zum vielleicht begehrtesten
1 L. A. Morrow, The Tony Award und finanziell ertragreichsten von allen.1
Bock: Four Dßcades of Great Keine andere Kunstform spiegelt amerikanische Kultur in der Ära nach dem
American Theater, New York Zweiten Weltkrieg so lebendig, vollständig oder wahrheitsgetreu wider. (Da in
1987. 1944 zu Ehren des Grün‑
ders des Billboard-Magazins ins
England bis weit ins Goldene Zeitalter: hinein keine signifikant neuen Beiträge
Leben gerufen, wurden die Do‑ zum Musical geleistet wurden, kam der Einflufä des britischen Musicaltheaters
naldson Awards 1.955 abge‑ spät und war folglich begrenzt). Während der Zeitspanne zwischen den beiden
schafft, weil sie durch die von der Weltkriegen, als die Vereinigten Staaten sich ihrer stetig wachsenden, dominie‑
Industrie nominierten Tony renden Rolle in Weltwirtschaft und -politik bewußt wurden, teilten viele die
Awards verdrängt worden waren.
Die New York Drama Critics Ansicht, daß die Nation auch im Sinne einer kulturellen Führerschaft Verant‑
Circle Awards, gegründet 1935, w o r t u n g übernehmen sollte, und das Musicaltheater entpuppte sich als die Stätte,
werden weiterhin jährlich verge‑ wo eine genuin amerikanische Leistung zu finden war. Im Gegensatz zu den
ben. importierten Institutionen des Symphonieorchesters und der Oper war das
amerikanische Musical ein heimisches Produkt. Es verkörperte anti‐elitäre, sä‑
kulare und pragmatische Werte, die das vorherrschende amerikanische Selbst‑
verständnis ausmachten. Es sollte finanziell und intellektuell einem sehr brei‑
t e m Publikum zugänglich sein. Buchstäblich jeder Amerikaner konnte ein Mu‑
144 Das Goldene Zeitalter des Musicals
Ende der fünfziger Jahre gelang esder historischen Allianz zwischen dem ame‑
rikanischen populären Song und der Showmusik nicht, den Rock’n Roll und
seine Nachläufer einzubeziehen, t r o t z der Anstrengungen v o n Shows wie Bye
Bye Birdie. Schließlich schien der Erfolg von Hair als Broadwaymusical die
Möglichkeit einer Versöhnung anzudeuten, zumindest auf Seiten der Musical‑
front gegen Ende des Goldenen Zeitalters. Aber dieser lose strukturierte, äu‑
ßerst weitschweifige und gewollt hemdsärmelige Angriff auf die militärischen
Rekrutierungspraktiken, den Vietnamkrieg, das Arbeitsethos, >>das Establish‑
ment<< mit seinen Umgangsformen und Kleidervorschriften drehte dem gesam‑
ten idealisierten Amerika, das Oklahoma! gefeiert hatte, eine Nase. Natürlich
war Hair n u r das Symbol für einen viel breiteren kulturellen Umschwung, der
die ästhetischen und sozialökonomischen Fundamente des amerikanischen
Musicaltheaters, auf denen esim Goldenen Zeitalter ruhte, untergraben sollte.
Innerhalb weniger Jahre überflügelten die Revivals v o n herausragenden Musi‑
cals aus dem Goldenen Zeitalter und die >>Überarbeitungen<< von Shows, die
vor dem Goldenen Zeitalter entstanden waren, die Produktionen neuer Shows,
und die Kritik lamentierte über das Ende des Genres. Selbstkritisch wurde esin
den dekonstruktiven Follies (1971) betrauert, einem Requiem auf eine ganze
Theaterära und deren Musicalproduktionssystem ‐‐ und das amerikanische
Selbstverständnis, das sich darin verkörperte. Nachdem sie ihr Handwerk je‑
weils von Hammerstein beziehungsweise Abbott gelernt hatten, sollten Ste‑
phen Sondheim und Harold Prince das Genre angesichts einer unwiderruflich
gewandelten kulturellen Landschaft von Grund auf erneuern, das Goldene
Zeitalter jedoch w a r zu Ende.
Letzteres strebten Weill und Rodgers an, im Bereich des Films allerdings wenig
erfolgreich. Busby Berkeleys üppige Extravaganzas bei den Warner Brothers,
Jeanette MacDonalds und Nelson Eddys Operetten für M G M und Fred Astaires
und Ginger Rogers romantische Comedies für R K O hatten am Ende des Jahr‑
zehnts ihre Broadwaypendants bei weitem nicht vergessen lassen. Bezeichnen‑
derweise debütierte Porters Dubarry Was a Lady (1939) mit Ethel Merman
und Bert Lahr in der Hauptrolle als letztes Bock-Musical der Dekade erst dann
am Broadway, als Hollywood es zurückgewiesen hatte. Das Radio hatte sich
bereits der Sketche, Comedynummern und Modesongs bemächtigt, die das Erbe
des Vaudevilles ausmachten und die Basis für jährliche Auflagen von Revuen
wie George Whites Scandals und Earl Carrolls Vanities bildeten. Beide mußten
in der Saison 1939/1940 schließen. Was am Broadway blieb, waren politische
Satiren, intime Revuen und Vehikel für bühnenfixierte Stars, die von den neuen
Medien gemieden wurden. Am Ende des Jahrzehnts w a r George Gershwin tot,
Jerome Kerns Broadwaykarriere kläglich beendet, Cole Porters jährliche Bei‑
träge gerieten zunehmend schematischer, Oscar Hammerstein steckte seit Show
Boat in einer Schaffenskrise, die Zusammenarbeit v o n Rodgers und Lorenz
Hart stand v o r dem Kollaps und Irving Berlin hielt sich betont abseits vom
Great White Way. Ein Kritiker klagte, dafä >>die Musicalshow im Großen und
Ganzen in den letzten Jahren nicht v o m Fleck gekommen ist«, und die schema‑
tische Musical Comedy >>demselben Typus von Entertainment vor zwanzig oder 1 G. Nathan, Entertainment of u
dreißig Jahren erstaunlich ähnlich<< sei.1 Nation, New York 1942, S. 1151?.
Das >Musica| Play< und seine Vorläufer
147
In der Tat hatte sich diese Spielart der Musical Comedy seit Gershwins Debüt
mit Lady, Be Good! v o n 1924 kaum verändert. De facto brachte dessen Produ‑
zent Vinton Freedley Ende 1930 Porters letzte Shows immer noch auf die Büh‑
ne, und der Bookwriter Guy Bolton verknüpfte weiterhin Szenen und Songs
durch »den roten Faden einer Handlung<< (obwohl seine Dominanz in diesem
Gewerbe während der dreißiger Jahre von Herbert Fields in den Schatten ge‑
stellt worden war, der die Textbücher für sieben Shows geschrieben hatte, alle
1 Bolton, zitiert in L. Davis, Bolton v o n Rodgers 8€ Hart und Cole Porter).1 Die Gepflogenheit, Buch und Songtex‑
arid Wodebouse und Kern, New te eher als gesonderte Posten zu behandeln als im Rahmen eines Textbuchs mit
York 1993, S. 282. Ko‐Autorenschaft ‐ selbst wenn beides das Werk eines einzigen Autoren w a r
2 P. G. Wodehouse, Tbc Agonies of
Writing a Musical Comedy, in:
(was im Goldenen Zeitalter oft zutraf) ‐, läßt darauf schließen, daß die Fähig‑
Vanity Fair 7 (März 1917), S. 39. keit, geistreiche Reime auf Musik (die nicht einmal für die gerade anstehende
3 R. Rodgers, Musical Slages: An Show komponiert worden sein mußte) abzustimmen, keine primär musikdra‑
Autobiograpby, New York 1995, matische war. Weil ein Songwriter oder ein Songwriterteam sowohl alle Lied‑
S. 105.
t e x t e als auch die Musik lieferte, gab eskaum Kontinuität zwischen Gesunge‑
n e m und Gesprochenem. Die Partitur einer Musical Comedy stellte n u r selten
mehr dar als ein Sammelsurium eigenständiger Songs, verschiedenartig in Stil
und Charakter, in kontinuierlicher Folge an Erzählsträngen entlang arrangiert‑
und abgestimmt auf die neuesten Trends in populärer Musik und Tanz (eine
Latinomanie überschwemmte das Land, als die Dekade sich dem Ende zuneig‑
te). Cole Porter beispielsweise lieferte oft doppelt so viele Nummern wie die
Show brauchte; es lag am Rest des Produktionsteams, sich Gedanken dar‑
über zu machen, welche m a n verwendete und wo. Das >>Buch<<, oder, wie P. G.
Wodehouse esdefinierte, »der Stoff, der die Nummern voneinander trennte<<,
mußte in der Regel Lücken haben, die mit Specialty Songs, Gags, Komiker‑
nummern oder anderem, auf die Hauptdarsteller zugeschnittenem Material
gefüllt werden konnten.Z Selbst bei den besten Musicalshows der zwanziger
Jahre zeigte sich, wie Rodgers feststellt, »eine entsetzliche Monotonie im Be‑
reich der Sujets.«3 Das Publikum erwartete kaum mehr als Unterhaltung, und
Theater‐ wie Musikkritiker behandelten das Musicaltheater als ein v o n Natur
aus niederes Genre. (Th. W Adornos Verachtung für diese Art v o n Massenkul‑
t u r w a r e erwuchs aus einer flüchtigen Bekanntschaft m i t der Musical Comedy,
als diese sich auf dem Tiefststand musikdramatischer Kohärenz befand).
Nichtsdestotrotz bemühten sich gegen Ende der dreißiger Jahre eine Hand‑
voll Komponisten, Lyricists, Bookwriter, Regisseuren und Produzenten behut‑
sam darum, kulturelles Prestige durch den Versuch zu erwerben, musikalische
und dramatische Standards aufzustellen Weill hatte zwei führende Dramati‑
ker, die nicht vom Musicaltheater kamen, überredet, mit ihm zu arbeiten: Paul
Green bei Johnny [obnson (1936) und Maxwell Anderson bei Knickerbocker
Holiday (1938). Produziert von Dramatikerkooperativen (vom Group Theatre
und der Playwrights’ Company) außerhalb des traditionellen Broadwaysystems
griffen beide Shows auf historische Themen zurück, um zeitgenössische Proble‑
me anzusprechen ‐ und heimsten Kritiker‐, aber keine Publikumserfolge ein
(abgesehen vom Evergreen September Song aus Knickerbocker). Abbott, der
sein Debüt als Regisseur im Alter v o n 47 Jahren m i t Jumbo (1935) gegeben
hatte, machte Balanchine in Rodgers 86 Harts On Your Toes (1936) mit dem
148 Das Goldene Zeitalter des Muskels
Lady in the D a r ] : W a r das letzte Musical der Saison 1940/1941. Zu jener Zeit
gesellten sich am Broadway zu den schon lange laufenden Stücken Tobacco
Road, Life with Put/7er und The Man Who Came t0 Dinner die Stücke My
Sister Eileen, Arsem'c und Old Lace und Watch on tbe Rhine hinzu; Ed Wynn,
Al Jolson und Ethel Waters versuchten ein Comeback in Musicalshows und
Panama Hattie mit der Merman als Hauptdarstellerin wurde z u m Book‐Musi‑
cal mit der längsten Laufzeit seit den zwanziger Jahren. Damit bestätigte sich,
daß Make It Another Old-Fasbioned, Please (wie esin einem seiner Songs dop‑
peldeutig heißt) immer noch das sicherste Erfolgsrezept war. Die Kritiker klag‑
ten, daß die nächste Saison, in den Jahren 1941/1942, die schlimmste in der
Geschichte des Broadways war, denn die drei musikalischen Hits, Rodgers 8€
Harts letztes Gemeinschaftswerk By ]upiter‚ Porters Let’s Face l t ! und Abbotts
Bast Foot Forward, waren offensichtlich allesamt Schritte rückwärts. Mitten in
der Saison bombardierte Japan Pearl Harbor. Beinahe umgehend machte sich
das am Theater bemerkbar, denn steigender Wohlstand und ein m i t neuer Ener‑
gie erfülltes New Yorker Publikum, voller Soldaten und im Kriege Tätigen, zog
sich vom Tagesgeschehen und aus der eigenen Zeit zurück auf das nostalgische
Rendezvous mit einer amerikanischen Vergangenheit, die eher fiktiv als real
war. Von den vierundzwanzig Musicalproduktionen der Saison 1942/1943 w a ‑
r e n sieben Revivals, elf Revuen und n u r fünf neue Bock‐Shows. Porter und
Merman präsentierten Something for the Boys und Irving Berlin schloß sich
m i t einer n u r aus Soldaten bestehenden Besetzung für This Is the Army an.
Vielleicht aufgrund des nicht lange zurückliegenden Leinwanderfolges der sie‑
ben MacDonald-Eddy-Operetten erfreute sich sogar die Spielart der Wiener
Operette einer kurzfristigen Renaissance am Broadway. Eine Neubearbeitung
v o n Die Fledermaus als Rosalinda (dirigiert v o n Erich Korngold) brachte es
auf 521 Vorstellungen. Im Anschluß daran kam esin den nachfolgenden Spiel‑
150 Das Goldene Zeitalter des Musicals
zeiten zu Revivals v o n The M671)! Widow, The Cbocolate Soldier und La belle
Helene (als Helen Goes t0 Troy) und von solch amerikanischen Abkömmlin‑
gen wie Victor Herberts Sweethearts und The Rad Mill, Rombergs The Student
Prince und Frimls The Vagabond King, was sogar so neuschöpferische Ausflü‑
gein das Genre wie Song ofNorway, Polonaise, The Pirebrand ofFlorence und
Up in Central Park inspirierte.
Vor diesem Hintergrund erfolgte am letzten Märztag 1943 das Debüt eines
neuen Teams: Rodgers 8€ Hammerstein. Dabei handelte essich um eine Fusion
der jeweils besten Praktiker aus der Tradition der Musical Cornedy beziehungs‑
weise der amerikanischen Operette. Ihre Show orientierte sich eng an Lynn
Riggs Schauspiel Green Grow the Lilacs v o n 1931, war auf >>Indianerterritori‑
um« um die Jahrhundertwende angesiedelt, hatte Rouben Mamoulian als Re‑
gisseur (der sowohl Porgy [1927] und Porgy und Bess [1935] als auch zahlrei‑
che Hollywoodmusicals inszeniert hatte), wurde choreographiert von Agnes de
Mille (kurz nach ihrem Erfolg mit Rodeo) und produziert v o n der Theatre
Guild für 75.000 Dollar mit einer Besetzungstruppe aus lauter Nobodys (dar‑
unter Alfred Drake und Celeste Holm). Bei ihrem Tryout in New Haven lief sie
als >Musical Cornedy< unter dem Titel Away We G0. >>Keine Mädchen, keine
Gags, keine Chance‚« hatte der Produzent Michael Todd prophezeit. Doch als
fünfeinhalb Jahre später die erste Broadwaylaufzeit beendet war, hatte esOkla‑
homa! auf 2.248 Aufführungen gebracht. Damit brach es den bisherigen Re‑
kord für ein Bock‐Musical in Höhe v o n 670 Aufführungen (Irene, 1919) und
etablierte einen neuen, der lange Jahre nicht übertroffen werden sollte ‐ bis My
Fair Lady 2.717 Vorstellungen feiern konnte. Bis z u m Jahr 1948 hatte Oklalao‑
ma! die höchste Zahl v o n Zuschauern in der Geschichte des amerikanischen
Musicaltheaters angelockt (acht Millionen Menschen auf beiden Seiten des
Das >IVIusica| Play< und seine Vorläufer l 51
l R. Rodgers, Musical Stages: An allein hätte eserfunden.«1. Bewufät schlicht gehaltene Songtexte schlossen sich
Autobiography, N e w York 1995, dort an, wo der Dialog endete, um die Handlung voranzutreiben und zu cha‑
5. 227. rakterisieren; Songs und Bewegungen wurden auf konkrete Charaktere zuge‑
schnitten, die an einem konkreten Ort während eines konkreten Zeitabschnitts
der amerikanischen Geschichte lebten; die Musik spiegelte die Form der Song‑
texte wider und vertiefte deren Inhalt; der Tanz half bei der Erzählung der
Story, hauptsächlich durch Offenlegung der psychologischen Dimensionen; sämt‑
liche Musiknummern waren laut Rodgers wesensmäßig miteinander verwandt;
die stilisiert bemalten Prospekte, die der regionalamerikanischen Landschafts‑
kunst von Grant Wood und Thomas H a r t Benton nachempfunden waren, ent‑
sprachen der bodenständigen Normalität der Diktion Hammersteins und Rod‑
gers’ Melodien, unter denen viele ganz bewußt auf damals anachronistische
Songformen zurückgriffen; die Komik ergab sich aus Charakter und Situation,
und die Darsteller sangen einander zu, sie >>präsentierten<< sich Weniger dem
Publikum. Verbannt wurden die virtuosen schauspielerischen >>Einlagen<<, die
Specialty Numbers und Gags, die witzigen und in den Reim verliebten Song‑
texte, die künstliche Distanz der Operette und die bunte Heterogenität, die der
amerikanischen Musical Comedy lange Zeit Publikumszuspruch eingebracht
hatten. Stattdessen verkörperte Oklahoma! das Ideal eines Musical Plays, das
die Einheitlichkeit eines echten Dramas anstrebte ‐ eine genuin amerikanische
Reformulierung des >dramma per musiczu, in dem Song und Tanz sich so nahtlos
in die Handlung einfügen, daß sie zu einem untrennbaren Bestandteil werden.
152 Das Goldene Zeitalter des Musicals
Doch der Erfolg und die Wirkung v o n Oklahoma! können nicht n u r textinhä‑
rent erklärt werden. Oklahomal bediente sich einer romantisch verklärten Ver‑
gangenheit, um Amerika in Kriegszeiten direkt anzusprechen, um zu artikulie‑
ren, welche Werte die Amerikaner gemeinsam vertraten, wofür das Land kämpf‑
te. Olelahoma! beschäftigt sich in erster Linie m i t dem Heraufbeschwören und
der Verteidigung von Gemeinschaft: »Leute auf dem Land sollten zusammen‑
halten.« Die Show enthält lediglich drei Solonummern, v o n denen zwei ein
>>Publikum<< auf der Bühne haben. M i t einer Ausnahme spielen alle Szenen
u n t e r freiem Himmel und präsentieren Waffen, so, als solle das unüberhörbare
Thema der Show bestätigt werden: »Farmer und Cowboy und Händler sollten
sich alle zusammenreißen und brüderlich sein<<. Parallele Haupt- und Neben;
liebesgeschichten in Dreieckskonstellation stellen den persischen (sprich jüdi‑
schen) fahrenden Händler Ali Hakim als assimilierbaren ethnischen »Ande‑
ren« dar. Der »bullet‐coloured«, sexuell angsteinflößende Jud hingegen, dessen
Nachname »Fry« deutschen Ursprungs sein könnte, wird als rassisch definier‑
te, nicht assimilierungsfähige Bedrohung gebrandmarkt. Der moralische Impe‑
rativ, der die amerikanische Bevölkerung gegen solch fremdes »Volk<<1 mobili‑ 1 Im Original deutsch (A.d.Ü.).
sieren sollte, verlangte Juds Tod, um die hart erkämpfte Gemeinschaft in finst‑ 2 Interview mit Hammerstein von
O. Guernsey Jr.‚ Hammerstein, a
r e n Zeiten rein zu waschen.
Broadway Stege Dynasty, in: New
Obgleich Oklahoma! nach und nach zum Meilenstein für das Genre des York Herald Tribune, 12. Dezemu
Musical Plays wurde, dauerte es mehrere Spielzeiten, bis sich seine Nachwir‑ ber 1943; zitiert in D. M.
kungen in vollem Umfang bemerkbar machten. Während der Saison 1943/1944 D’Andre, The Theatre Guild, Ca‑
rouselJ and the Culmral Field cf
konnte sich das Publikum immer noch für Operetten alten Stils und Musical American Musical Theatre, Dis‑
Comedies entscheiden (Porters Mexican Hayride und Charigs Follow the Girls), sertation, Yale University 2000.
die ostentativ keine Notiz v o m Beispiel Olalahornas! genommen hatten. Alan 3 W. Gibbs, The Theater: Pygmali‑
Jay Lerner und Frederick Loewe gaben ein unglückliches Debüt mit What’s on and Mary Martin, in: The New
Up? und Hammersteins noch vor Oklahorna! entstandene Adaption von Car‑ Yorker 19 (16. Oktober 1943), S.
44; L. Nichols, One Touch of Ve‑
m e n als >Musical Play< Carrnen jones lief 503 Vorstellungen lang, m i t einer nus, in: New York Times, 17.
Besetzung nur aus Farbigen, die »Oper am Broadway<< sangen. »Das Blut in Oktober 1943. In P.M. bemerkte
Carmen fließt röter als in Olelahomak, erklärte Hammerstein, »doch eigentfi Louis Kronenberger: »Venus
lich haben sie dieselbe dramatische Form.«Z Weill, dessen Rivalität mit Rod‑ bricht wie Oklalrorna! mit der
Tradition der Musical Comedy.
gers sich von Show zu Show fortsetzte, verpflichtete die versiertesten amerika‑
Doch wo Oklahoma/ den Geruch
nischen Humoristen, Ogden Nash und S.J. Perelman, als Mitarbeiter für One von frischgemähtern Heu hat, ist
Toueh of Venus, eine ausgesprochen >>New York-typische« Variante des Pyg‑ Venus wie künstliches Parfum.«
malionmythos. Sie enthielt zwei lange Ballettsequenzen in einer Choreographie 4 In ihrer Besprechung von Bloomer
von Agnes de Mille, die Balanchine als BroadWays führenden Choreographen Girl in der New York Post vom 6.
Oktober 1944 klagte Wilella Wale
rasch abgelöst hatte. M i t Mary Martin in ihrer ersten Hauptrolle und 567 dorf, wegen des Erfolges v o n
Vorstellungen wurde die Venus Weills erfolgreichste Broadwayshow ‐ und die‑ Oklalroma! »sehen wir mehreren
jenige, in der er der Musical Comedy am nächsten kam. Obgleich die Kritik Spielzeiten mit gründlich veralte‑
beinahe einmütig urteilte, daß >>One Tone/4 of Venus kein zweites Oklahoma! t e n Kuriositäten entgegen.« Zitiert
in S. Suskin, Opening Night on
ist, sondern ein paar Landmeilen davon entfernt<<‚ erklärten die meisten auch, Broadway:A Critieal Quotebook
essei die »beste neue Musicalshow, die seither Premiere hatte.<<3 of the Golden Era of the Musical
In der nächsten Saison kehrte Romberg mit Up in Central Park an den Broad‑ Theatre, »Oklahoma!« (1943) to
way zurück und Harold Arlen und Yip Harburg reagierten mit Bloorner Girl »Fiddler on the Roof« (1964),
New York 1990, S. 92.
auf Oklalaornah“ Die bedeutendsten Ereignisse freilich waren Carousel, Rod‑
gers 8€ Hammersteins Adaption v o n Ferenc Molnars Liliom, die das Engage‑
153
Das Musical und seine Subgenres
N o r m geworden. Vielleicht zeigte er an, daß die Grenzen zwischen den Sub‑
genres des Musicaltheaters immer diffuser wurden, weil Viele Shows Idiome,
Modelle und Normen mehrerer traditioneller Subgenres miteinbezogen. Damn
Yankees, Flower D r u m Song, The Most Happy Felle, West Side Story, Fiorel‑
lol, Gypsy, Oliver!‚ She Loves Me, Camival, Fanny, Piddler on the Roof und
Mame, sie alle wurden als einfache >Musicals< produziert, besucht und bespro‑
chen.
Rick Altman hat in seiner einflußreichen und differenzierten Genrestudie
des Filmmusicals die Fallgruben aufgezeigt, die sich auftun, wenn m a n die Be‑
grifflichkeit der Historie des Genres als Basis für eine Gattungstheorie und
1 R. Altman, The American Film ‐kritik verwendet.1 Im Rahmen einer Untersuchung, welches Potential verschie‑
Musical, Bloomington 1989. dene alternative Ansätze einer Gattungsdefinition besitzen (u.a. ideologisch,
2 Ebenda, S. 126f. ritualistisch, publikumsorientiert, industrieorientiert, semiotisch, strukturell),
stellt Altman die These auf, daß n u r die Kombination eines semantischen An‑
satzes (der gemeinsame Inhalte, Szenerien und narrative Archetypen benennt)
m i t einem syntaktischen (welcher übereinstimmende Strukturen, Idiome, Stan‑
dards, Präsentationsmechanismen und narrative Strategien dingfest macht) >>dem
notwendigerweise dualistischen Charakter<< des Korpus v o n Musicalfilmen
gerecht werden kann. Altman schlagt vor, von drei Subgenres des Filmmusicals
zu sprechen: Das >Fairy TaleAMusicah, ein Abkömmling aus der Operettentra‑
dition, spielt in den exotischen, imaginären Reichen von Palästen, Erholungs‑
o r t e n und Hotels, handelt v o n der Wiederherstellung der Ordnung bei einem
Protagonistenpaar, das offen sexuelle Wünsche bekundet, und setzt dies in Par‑
allele zur Wiederherstellung der Ordnung im Königreich. So soll demonstriert
werden: >>Heiraten bedeutet zu herrschen<< (unter seinen Beispielen befindet
sich Loz/e Me Tonight, Top H a t und Sout/a Pacific). Das >Showmusical< ist in
einem Mittelschichtmilieu des schönen Scheins angesiedelt. In der Regel sugge‑
riert das Theaterheft oder die Magazinpublikation (meist in New York) an‑
hand eines Protagonistenpaares, das m a n mit dem Entstehen eines Kunstwer‑
kes assoziiert, daß >>Heiraten bedeutet, etwas zu schaffen<< (42ml Street, Lady
in the Dar/e, Singin’ in the Rain). Das >Folkmusical< spielt im ländlichen oder
kleinstädtischen Amerika v o n Vorgestern. Die Vereinigung zweier Individuen
zu einem Paar korrespondiert der Bildung einer landverbundenen Gemeinschaft,
um zu suggerieren: >>Heiraten bedeutet, eine Gemeinschaft zu bilden<< (Rose
Marie, Stute Fair, Paint Your Wagon). Altman nuanciert diese Definitionen
beträchtlich bei der differenzierten Interpretation einzelner Filme; er gesteht
auch zu, daß sich einige Musicalfilme, insbesondere Show Baut, niemals >>ei‑
nem einzigen Subgenre verschreiben <<‚ sich vielmehr >>Von einem semantischen
Feld zu einem anderen [bewegen], von Syntax zu Syntax, [...] zwei Modi auf
eine neue und bedeutsame Weise kombinieren, eine unerwartete Syntax einer
vertrauten Semantik überstülpen oder beliebig ein Subgenre mit einem anderen
vermischen.«2 Obwohl diese Beobachtung auch für das >Bühnen‐Musical< im
Goldenen Zeitalter zutrifft, läßt sich leicht zeigen, wie problematisch Altmans
drei Subgenrekategorien für Filme, die auf Broadwaymusicals des Goldenen
Zeitalters zurückgehen, sind. Eine Liste von völlig disparaten Erzeugnissen, die
er als >Folkmusicals< klassifiziert, bezeugt das (in der Reihenfolge ihrer Kino‑
156 Das Goldene Zeitalter des Musicals
premieren): On the Town, Annie Get Yom Gun, Cuys und Dells, Oklahomal‚
Porgy and Bass, West Side Story, The Music Man und Hello, Dollyl.
Abgesehen von jenen Fällen, wo sich Musicals des Goldenen Zeitalters mit
ihren Eigenarten bereits unwiderruflich bei einer breiten nationalen Zuhörer‑
schaft etabliert hatten, verzichtete die Filmindustrie selten darauf, die originale
Bühnengestalt teilweise bis zur Unkenntlichkeit abzuändern ‐ durch offenkun‑
dig falsche Besetzungsentscheidungen, die mehr m i t finanziellen Erwägungen
als der Eignung für eine Rolle zu t u n hatten. Dies wiederum machte Änderun‑
gen am Charakter und an der Handlung erforderlich, die Synchronisation v o n
Stimmen, die Transposition und den Austausch oder die Interpolation von Songs
(zuweilen von anderen Komponisten), um der Besetzung gerecht zu werden.
Wenn die originale Partitur erhalten war, arrangierte m a n sie oftmals neu, d.h.
es wurden Songs fallengelassen oder ausgewechselt, Songtexte geändert, Tanz‑
musik neu komponiert und die vielseitige Palette der Broadwaypartitur dem
Image der Zeit, des Studios oder des Stars entsprechend auf einen einheitlichen
Nenner gebracht. Dennoch spielen solche musikalischen Erwägungen in Alt‑
mans Klassifikationssystem für das Filmmusical eine ebenso geringe Rolle wie
beim Hollywoodproduktionssystem selbst. Die spezielle Mischung und Mani‑
pulation von musikalischen Idiomen, Stilen und Normen, von Syntax und Dar‑
stellungsmodi indes w a r der maßgebliche Anhaltspunkt, der Produzenten, Zu‑
hörern und Kritikern von Musicals des Goldenen Zeitalters bei der Unterschei‑
dung von dessen diversen Subgenres half. Am Broadway t a n z t e m a n in West
Side Story und The Music Man zu gänzlich verschiedenen Melodien, in On the
Town und Oklahoma! ertönten Klangwelten, die mehr als n u r geographische
Distanz voneinander trennte, und Annie Get Your Gun und Porgy and Bess
waren alles mögliche, aber keine >>Verwandtschaft v o m Lande«. Wenn sie t r o t z
ihrer enormen syntaktischen Unterschiede allesamt unter die Kategorie des >Folk‑
musicals< subsumiert werden können (offensichtlich weil ihnen eine Art von
abstrahiertem meta-narrativen Archetyp gemeinsam ist), so scheinen Altmans
Klassifikationen n u r begrenzt für die Differenzierung der meisten Broadway‑
musicals des Goldenen Zeitalters geeignet zu sein. Die syntaktischen Muster
und Verfahren des Broadwaymusicals und des Hollywoodmusicalfilms sind in
Wirklichkeit so verschieden voneinander ‐ insbesondere was die Differenzie‑
rung und die Verwendung von diegetischen und nicht-diegetischen Modi an‑
langt ‐, daß Sondheim vorgeschlagen hat, sie sollten als unterschiedliche Gen‑
res angesehen werden, t r o t z gelegentlicher Berührungspunkte oder Schnittstel‑
len. (Dennoch haben Forscher, die über das Musical arbeiten, speziell in Euro‑
pa, die beiden Medien zu häufig ineins gesetzt und sind fälschlich davon ausge‑
gangen, da3 ein Broadwaymusical auf der Basis seiner Filmadaption analysiert
werden könne.)
Das Fehlen einer praktikablen und verständlichen Alternative zu einer hi‑
storisch begründeten Gattungstypologie stellte sich schon zu Beginn des Golde‑
nen Zeitalters als ärgerlich heraus, als der Theaterkritiker der New York Times
die vage Klassifikation >Musical Play< für untauglich befand, um Okla/aoma! 1 L. Nichols, Besprechung von
zu charakterisieren. Seiner Ansicht nach w a r es zutreffender, hier v o n einer Oklahomal, in: New York Times,
>>Voiks0perette<< sprechen.1 Was zunächst wie ein begrifflicher Widerspruch 1. April 1943.
157
Das Musical und seine Subgenres
aussieht, mag jedoch noch eine andere Bedeutungsebene von Rodgers 86 Ham‑
mersteins viel verkündeter >>Integration<< andeuten: Die Kombination der >>be‑
sten Eigenschaften des Balletts an der Met mit ein paar der besten Eigenschaf‑
ten jener großen Tradition, mit der der Broadway das Theater auf seine eigene
1 B. Rascoe, in New York World‑ typische Weise bereichert hat<<, wie ein anderer Kritiker es formulierte.1 In
Telegram, zitiert in S. Suskin, Oklahoma! half die Integration von Gattungskonventionen und -erwartungen
Opening Night an Broadway: A verschiedener Typen des Musicaltheaters in einem einzigen Werk faktisch bei
Critiml Quotebook ofthe Golden
Eva of the Musical Theatre,
der Unterscheidung seiner >>volkstümlichen<< Elemente von den >>0perettenhaf‑
»Oklal70ma!« (1943) t0 >>Fiddle7 ten<<: Beispielsweise singt das Protagonistenpaar Laurey und Curly in Operet‑
on the Roof« (1964}, New York tenmanier mit >>echten<< Sopran‐ und Baritonstimmen, das weniger selbstbe‑
1990, S. 501. wußte, weniger gebildete Nebenpaar indes, Will Parker und Ado Annie, prä‑
2 Holm, zitiert in M. Katz Frommer/
sentiert sich in einem weniger >>kultivierten<< >Musical Comedy<‐Tonfall. >>Ich
H. Frommer, It Happened on
Broadway:An Oml History ofthe wünsche mir eine freche, unausgebildete Farmersmädchenstimme<<, hatte Rod‑
Great White Way, New York gers Celeste Holm bei ihrem Vorsingen für die Rolle der Ado Annie mitgeteilt.
1998, S. 101. Sie bekam die Rolle wegen der Art, wie sie ein Schwein herbeilockte.Z
3 Im Original deutsch (A.d.Ü.). Die syntaktische Verwendung von Normen und Tonfällen entwickelte sich
während des Goldenen Zeitalters zu einem äußerst komplexen Bedeutungs‑
code, der v o m Wiedererkennungsgrad beim Publikum und entsprechendem
Casting durch die Produzenten abhing. In Kiss Me, Katz sind das Protagoni‑
sten‐ und das Nebenfigutenpaar ebenfalls durch Gesangsstil und musikalisches
Idiom voneinander unterschieden. N u r in jener doppelt sicheren Theateratmo‑
sphäre, die »\Wunderbar«3 evoziert (ein Walzerduett aus einer Wiener Operet‑
te, die sie lange zuvor aufgeführt hatten), ist esden zerstrittenen Schauspielern
Fred und Lili möglich, einander ihre wachsende Zuneigung einzugestehen.
Gefiltert durch die gemeinsame Erinnerung erlaubt ihnen die künstliche Welt,
die durch jenen musikalischen Tonfall heraufbeschworen wird, ihre Liebe in
Gegenwart wie Vergangenheit zu bekennen. Und weil sie die stimmlichen An‑
forderungen des Duetts als professionelle Darsteller zu bewältigen vermoch‑
ten, erkennt das Publikum diesen gehobenen Gesangsstil für den restlichen Abend
als ihren ureigenen an, hinter der Bühne und auf der Bühne. In South Pacific
bedient m a n sich ähnlicher Konventionen aus den entgegengesetzten Gründen.
Die Zuhörer müssen nicht erst den inneren Monologen der >>Twin Soliloquies<<
lauschen, umzu wissen, daß Emile >>ein kultivierter Franzose<< und Nellie >>eine
kleine Landpomeranze<< ist. Der kulturelle, ethnische und intellektuelle Gra‑
ben, der das Paar trennt, offenbart sich in der Art und Weise, wie sie singen. Als
>>verrückte Optimistin « mit der »üblichen rosa Brille vor Augen« >>schmettert<<
Nellie, die sowohl aus Little Rock, Arkansas wie aus der Musical Comedy
stammt, mädchenhaft ihren Part. Emile tönt majestätisch mit einer Opernbra‑
vurstimme. N u r einmal in der Show singen sie gleichzeitig: Unmittelbar nach‑
dem Nellie erklärt hat, sie beide seien >>im Grunde die gleiche Art Mensch<<,
befinden sie sich bei Sweet Adeline’ Fashion, einer Reprise von Nellies A Cock‑
eyed Optimist, harmonisch miteinander im Einklang. Das Resultat ist weder
romantisch noch überzeugend, sondern komisch. (In den Zeiten ohne Verstär‑
ker war ein so ungleiches, duettierendes Paar auch ein akustisches Problem). In
Extrapolation der romantischen Musicalnorm, daß Paare, die zueinander ge‑
hören, auch miteinander singen, dreht sich das Finale des zweiten Aktes um
L58 V V Das Goldene Zeitalter des Musicals
Nellie, die das französische Lied singt, das zu Beginn des Musicals erklungen w a r Abbildung links: Mary Martin und
‐ nicht mit Emile, sondern mit seinen polynesischen Kindern als Stellvertretern. E710 P i n “ imDuett in 50W” P6161795
Auch der Schluß v o n My Fair Lady gründet auf der Enttäuschung konven‑
tioneller Hörerwartungen. Eliza Doolittle und Henry Higgins sind ebenfalls des Covem Gardenin M3, 1 W , Lady '
ein offensichtlicher Mißgriff; w e n n sie jemals ein Paar werden sollen, muß sie (1956).
lernen, richtig zu sprechen und er muß seine Selbstbezogenheit und seine emo‑
tionale Distanz überwinden, um richtig singen zu können. Als der erste Akt zu
Ende ist, hat Eliza Higgins’ Lektionen erfolgreich beendet und ihre Verwand‑
lung im doppelt‐beschwingten I Could Have Danced All Night gefeiert, wo sie
sich auch ihre tiefen Gefühle für den Lehrmeister eingesteht. In einem analogen
Moment der Selbsterkenntnis im zweiten Akt realisiert der unverbesserliche
Weiberfeind Higgins, daß er Eliza vermißt, aber er ist außerstande, eine passen‑
de Ballade zu singen, um seiner Liebe Ausdruck zu verleihen (und wenn er dies
nur für sich selbst täte). Das Höchste der Gefühle ist ein egozentrischer Mono‑
logsong mit dem Bekenntnis I’ve Grown Accustomed T0 Her Face. Das Publi‑
kum braucht den letzten Satz der Show: >>Eliza? Wo zum Teufel sind meine
HausschuheP<< eigentlich nicht, um die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die gan‑
ze Zukunft des Paares v o n Higgins’ keineswegs revidierten Vorgaben abhängt.
Ein Inventar analoger musikdramatischer Verfahren, die sich aus genrespezi‘fi‑
schen Normen und Erwartungen herleiten, wäre beinahe unerschöpflich, und
eine differenzierte klassifizierende Untersuchung des Bühnenmusicals im Gol‑
denen Zeitalter würde mühelos ein Buch füllen. Hier muß es daher genügen,
allein die elementaren Umrisse einer begrenzten Zahl v o n Subgenres des Book‑
Musicals in dieser Periode zu skizzieren.
Die Musical Comedy bietet einen geeigneten Ansatzpunkt, weil ihre Ent‑
wicklung seit dem Ersten Weltkrieg beinahe kontinuierlich verlief. Damals hat‑
t e n die Wodehouse-Bolton‐Kern-Shows am Princess Theater Premiere. Die
159
Das Musical und seine Subgenres
these sowohl aus Broadway‐ wie aus Operntraditionen darstellte, aber An‑
spruch auf ein höheres Niveau als das Terrain des Musical Plays anmeldete.
Von der Kritik weithin gepriesen als erster durch und durch erfolgreicher Ver‑
such im Bereich der Volkstümlichen amerikanischen Oper (Porgy und Bess w a r
bis dahin auf gemischte Reaktionen gestoßen), schaffte Street Scene 148 Vor‑
stellungen und gewann den ersten Tony Award für eine herausragende Partitur.
Es veranlaßte die Entstehung einer Reihe von Opern v o n Blitzstein, Menotti,
Bernstein und anderen, die den Versuch machten, die kommerziellen und aus
der Teamarbeit resultierenden Zwänge einer Broadwayproduktion mit den ei‑
genen Ambitionen zu vermitteln, die auf die emotionale Wirkung und die m u ‑
sikalischen Proportionen der Oper abzielten. (Als Weill 1950 im Alter v o n fünfzig
Jahren mitten in seiner beruflichen Laufbahn starb, hatte er einige weitere Broad‑
wayopern in Planung, darunter eine für den berühmten Bariton Lawrence Tib‑
bett). Die erfolgreichsten unter den am Broadway inszenierten Opern waren
ironischerweise jene, die am wenigsten von ihren Normen und Tonfällen ge‑
prägt waren: Menottis Doppelprogramm The Medium und The Telephone so‑
wie T/ae Consul. Die Aussicht, ein viel größeres Publikum zu erreichen als ein
Repertoireopernhaus bieten konnte, führte zu solch erstaunlichen Produktio‑
nen wie Benjamin Brittens The Rape of Lucretia; selbst Igor Strawinsky mach‑
te sich Hoffnungen, daß T179 Rake’s Progress am Broadway Premiere haben
könnte. 1953 wurde Porgy sind Bess noch einmal aufgegriffen, mit Leontyne
Price als Hauptdarstellerin in der gefeierten Produktion Robert Breens. Jetzt
freilich wurde es mit all seinen opernhaften Insignien restauriert. Diese Pro‑
duktion, die über 500 Vorstellungen lang am Broadway lief und dann durch
die Welt tourte, begründete die Reputation des Stückes als amerikanischer Klas‑
siker. Ende der fünfziger Jahre erging esThe Saint ofBleecker Slreet, Trouble in
163
Das Musical und seine Subgenres
Tahlti und Candide weniger gut, womit sich das Ende der Broadwayoper an‑
kündigte.
M i t ihren anspruchsvollen Partituren von großer stilistischer und harmoni‑
scher Bandbreite stellten diese Werke hohe Anforderungen an Darsteller und
Zuhörer. Die meisten waren ernsren, wenn nicht gar tragischen Inhalts. Tanz
spielte selten eine bedeutende Rolle. Wenn in der Broadwayoper die Musik
schon nicht durchgängig zu hören war, so war sie dermaßen präsent, daß die
>>Bücher<< solcher Stücke wie Street Same und The Most Happy Fella ‐- beide
beruhten auf Dramen, die den Pulitzerpreis gewonnen hatten ‐ problemlos in
die veröffentlichten Klavierauszüge eingefügt werden konnten. Obwohl die
Orchester wegen der geringen Größe der Broadwayorchestergräben auf weni‑
ger als vierzig Musiker beschränkt waren, musizierten dort Dirigenten vom
Range eines Bernstein, Maurice Abravanel und Thomas Schippers mit Welt‑
klasseopernsängern (von denen Viele auch in Kontrakt mit der Metropolitan
Opera standen). Ein Fundus, aus dem das Musical des Goldenen Zeitalters
hernach schöpfen konnte, wann immer es nötig war, etwa in South Pacific
(Ezio Pinza), Pipe Dream (Helen Traubel), The Most Happy Felle (Robert
Weede) und Brut/o Giouanm' (Cesare Siepi). Dreizehn der am Broadway prä‑
sentierten Opern gingen schließlich in das Repertoire der New York City Ope‑
ra ein und bildeten einen Ausgangspunkt für die heimische amerikanische Oper
‐ im Gegensatz zu den neunzehn Opern von Amerikanern, die vor 1958 an der
Metropolitan uraufgeführt wurden und alle bereits aus dem Repertoire ver‑
schwunden sind. Obwohl nur drei der am Broadway präsentierten Opern ihre
Kosten wieder einspielten und ihren Produzenten Gewinn einbrachten, demon‑
strierte die Broadwayoper eindringlich die hohen Ambitionen des Musicalthea‑
ters während des Goldenen Zeitalters. Auch wenn die meisten der lange gespiel‑
t e n Shows dem Publikum genau die Unwahrheiten auftischten, die eshören woll‑
te, oder Wahrheiten, die es bereits kannte, trotzte doch eine Handvoll >>eXperie
menteller Musicals« den vorherrschenden Broadwaynormen im Hinblick auf Form
und Inhalt. Diese Musicals verwendeten nicht-lineare metadramatische Verfah‑
ren, die auf Genres wie Revue und Vaudeville oder gar das griechische Drama
zurückgehen, und separierten Songs aus dem Textbuch, indem Performancenum‑
mern zur Unterbrechung oder Kommentierung des Plots eingesetzt wurden. Die
unkonventionellenTextbücher dieser Shows W a r e n meist Neuschöpfungen: >>Was
soviel Spaß machte‚« sagte Lerner, >>war das Ausrangieren vieler alter Regeln
Tl A. J. Lerner, Lemer’s Life und und die Erfindung unserer eigenen Regeln, wenn wir weitermachten.«1 1947/
„Laue Life<, in: P.M., 14. Novem‑ 1948 lief Oklahoma! noch immer am Broadway, als Rodgers’ und Hammer‑
ber 194S. steins erstes originales Bock‐Musical, Allegro, eine Laufzait von 315 Vorstellun‑
gen begann. Inszeniert und choreographiert v o n Agnes de Mille zeichnete Alle‑
gro Leben und Karriere eines Arztes als Abfolge v o n Charakterskizzen nach, die
sich über 35 Jahre erstrecken, und schnitt die Frage der Korrumpierung von
jugendlichem Idealismus durch finanzielle Verlockungen an. Ein griechischer Chor
kommentierte das Geschehen gegenüber Akteuren wie Zuhörern und die Show
verwendete eine nicht‐gegenständliche Bühnenausstattung und Darstellungsra'u‑
me auf mehreren Ebenen. Hammersteins junger Protege, der 17‐jährige Sond‑
heim, arbeitete für die Produktion als Assistent des Inspizienten.
164 Das Goldene Zeitalter des Musicals
Letztlich noch einflußreicher w a r Lerners und Weills L01/e Life. Es glänzte mit
einem ebenso illustren Team v o n Mitarbeitern: Produzentin Cheryl Crawford,
Regisseur Elia Kazan, Choreograph Michael Kidd, Bühnenbildner Boris Aron‑
son sowie Nanette Fabray und Ray Middleton in den Hauptrollen. Weill be‑
schrieb diese Leistung als >>[...] eine ganz neue Form v o n Theater, eine neue
Mischung der verschiedenen Elemente [...].«l M i t dem Untertitel >>A Vaudevil‑ 1 Deutscher Brief v o n Weill an sei‑
le in Two Parts « verfolgt Love Life die Schicksale eines ewig jungen Paares und ne Eltern vom 17. Oktober 1948,
als Nr. 247 abgedruckt in L. Sy‑
seiner beiden Kinder von 1791 an bis zur Gegenwart, in der Progress und Eco‑ monette/E. Juchem (Hg.)‚ Kurt
nomics (zwei der Vaudeville-Nummern) sie auseinanderreißen. Szenen aus der Weill: Briefe an die Familie (1914‑
schlechter werdenden Ehe über eine Zeitspanne von 150 Jahren hinweg alter‑ 1950), Stuttgart 2000, S. 413.
nieren mit sozialkritischen, aber äußerst amüsanten Vaudeville-Nummern. Sie
sind >> in One« inszeniert (vor einem bemalten Prospekt, aber hinter der Begren‑
zung des Hauptvorhangs) und bedienen sich einer kaleidoskopischen Anord‑
nung von Populäridiomen, um parallel die vorbeiziehende Zeit zu illustrieren
und als Kommentar auf den Verfall des amerikanischen Traums zu dienen.
Nach 252 Vorstellungen am Broadway verschwand Loue Life. Eine Gewerl ‑
schaftsaktion hatte verhindert, daß esauf einem Originalbesetzungsalbum fest‑
gehalten wurde, weder Skript noch Partitur erschienen im Druck, und die Au‑
t o r e n gaben esfür eine Repertoire‐ oder Amateurproduktion nicht frei. Doch
gerade seine Unbekanntheit ermutigte die nächste Generation v o n Broadway‑
innovatoren, das Stück z u m Prototypen des >Conceptmusicals< auszuarbeiten
und zu verbessern. Obwohl Sondheim der Ansicht war, daß >>Lo1/e Life letzt‑
lich daran scheiterte, daß esmehr v o n Ideen als Charakteren handelt<<, bestand
Das Musical und seine Subgenres 165
Aronson darauf, es habe >>in Lot/e Life genug Ideen für zwanzig Musicals«
1 Sondheim, zitiert in F. Hirsch, gegeben.1 Tatsächlich sah Sondheim darin einen für sein eigenes Werk >>nützli‑
Harold Prince and the American chen Einfluß<<, genauso wie Prince, Bob Fosse und Kander 86 Ebb,
Musical Theatre, New York 1989, Seiner Zeit war Love Life so weit voraus, daß das erste direkte Nachfolge‑
S.17f.; B. Aronson, zitiert in F.
Rich (mit L. Aronson), The The‑ werk erst 1966 erschien: Cabaret, mit Bühnenbildern v o n Aronson und unter
atre Art of Boris Aronson, New der Regie von Prince, mit der Witwe Weills, Lotte Lenya, im Besetzungsstab
York 1987, S. 93. Nach einer Bostoner Preview war es Lenya selbst, die vermerkte, dal3 Cabaret
der gleiche Aufbau zugrunde lag wie Laue Life: BookuSzenen mit traditionellen
nicht‐diegetischen Songs alternieren mit diegetischen, kommentierenden Num‑
mern, die im K i t Kat Club spielen. (In der Filmversion ließ Bob Fosse all die
Songs weg, die in den Bock‐Szenen auftauchten). Dicht auf den Spuren von
Cabaret präsentierte Hallelujah, Baby! (Styne; Comden 8€ Green; Laurents)
Charakterskizzen eines nicht alternden, gemischtrassigen Paares v o r dem im
Wandel begriffenen sozialen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft mit
afroamerikanischen Musikidiomen. Fosses Chicago entlehnte den Vaudeville‑
Rahmen v o n Loue Life, und das Finale seines autobiographischen Films All
That ]azz nahm sich die Minstrelshow‐Sequenz am Schluß v o n Lot/e Life z u m
Vorbild. Trotzdem waren eserst Sondheim und Prince, zusammen mit Aronson
als Bühnenbildner, die bei ihren ersten fünf Kooperationen das Potential von
Lot/e Life in Company, Foliies und Pacific Overtures umfassend ausschöpften.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Sondheim das >integrierte Book‐Musical< bereits
hinter sich gelassen, mit A Furmy Thz'ng Happened on the Way t0 the Forum
(einem Musical mit n u r einem Schauplatz und Kostüm, das zu der Verwen‑
dungsform v o n Songs zurückkehrte, wie sie v o r Oklahoma.’ üblich war) und
Anyone Can Whistle (seinem ersten Versuch, das Volkssprachliche des Musi‑
caltheaters auf eine ironische Weise als Kommentar einzusetzen, a la Weille
Brecht). Natürlich wurden weiterhin traditionelle Bock‐Musicals geschrieben
und aufgeführt, Klassiker des Goldenen Zeitalters erlebten immer häufiger ihre
nen. Im Unterschied zu einer typischen Oper oder Operette des 19. Jahrhun‑
derts, die den Schauplatz normalerweise n u r zwischen den Akten oder längeren
Szenen wechselt, verlangte die episodische Struktur eines Musicals des Golde‑
nen Zeitalters sogar ein Dutzend oder mehr Orts- und Kulissenwechsel inner‑
halb eines einzigen Aktes. (Eine der Errungenschaften des Musicals, die den
anderen theatralischen Genres zugute kam, ist die während des Goldenen Zeit‑
alters entwickelte technische Möglichkeit, das Bühnenbild schnell und störungs‑
frei zu ändern. Dabei werden Systeme m i t Gegengewichtssoffitten und m o t o r ‑
getriebene Kurbelapparaturen eingesetzt, ohne daß Bühnenarbeiter sichtbar sind
und der Vorhang heruntergelassen wird.) Allerdings mnß das Musicaltextbuch
im Rahmen solch einer collageartigen Gliederung Figuren exponieren, die ei‑
nen Konflikt austragen und von so großer Bedeutung sind, daß die Zuhörer
hinlänglich Interesse an der Antizipation einer Lösung zeigen. Angesichts der
für ihre Exposition knappen Zeit müssen diese Figuren archetypisch und den‑
, noch individualisiert sein, außergewöhnlich und doch glaubwürdig, wohlbe‑
i kannt aber nicht bloße Karikaturen. Bei der Rollenvergabe in einem Musical
1‘ kann m a n anders als bei der Oper kaum das Risiko eingehen, konträr z u m
physischen Typ zu besetzen: In einem Musical müssen die Helden, egal wie
charakterschwach, ebenso heroisch aussehen wie klingen.
r‘ Schlüsselnormen des Musicaltextbnches sind binäre Opposition und Wie‑
>1 derholung. Musicals handeln fast immer von Paaren, komplementären Hälften
eines Ganzen und zunächst uneins aufgrund v o n Alter, Rasse, Ethnizität, Sit‑
ten, Ansichten, Wertvorstellungen, Hintergrund, Sozialstatus, Verhaltenswei‑
sen, Vorurteilen, Kompetenz, Arbeitsethos, Erscheinung oder Wünschen. Mu‑
i, sicals behandeln häufig das Umwerben, d.h. den Versuch, einen anderen v o n
1 der Übernahme der eigenen Einstellungenzu überzeugen oder die eigenen Hand‑
lungen an diejenigen eines anderen anzupassen ‐ als Metapher für das Leben
schlechthin. Solch eine paarweise Verbindung muß sich nicht auf eine Liebes‑
beziehung beschränken: Gypsy bevorzugt eine Mutter‐Tochter-Beziehnng ge‑
genüber einer romantischen, Fiddler on tbe Roof lotet eine Reihe v o n Vater‑
Tochter‐Beziehungen v o r dem Hintergrund v o n Tevyes Bindung an die >>Tradi‑
tion<< aus und Man of La Manche; beschäftigt sich mit der Treue v o n Cervantes
l bzw. D o n Quichotte zu seiner Suche nach >>The Impossible Dream<<, nach der
i‘ idealisierten Dulcinea. Da Musicals so konzipiert sind, daß sich die Gegensätze
in diesen Paarverbindungen in eine Art Übereinstimmung auflösen, ist das Er‑
gebnis meist von Anfang an vorhersehbar und der Handlungsverlauf steht folg‑
lich nicht im Mittelpunkt: Zentral ist die Charakterisierung. Um blanke Wie‑
derholung und die Monotonie der konventionellen Paarkonstellation von nur
zwei Hauptpersonen (deren »Schicksal es ist, sich zu vereinen<<) zu vermeiden,
benötigen die meisten Musicals Nebenhandlungsdichotomien, die mit der Haupt‑
dichotomie korrespondieren. Dieser Zuwachs an Paaren soll ein Alternieren
zwischen Haupt‐ und Nebenhandlung sicherstellen.
Die binäre Gegenüberstellung v o n Charakteren manifestiert sich strukturell
in einer durchgängigen Aufspaltung der Perspektive in Form v o n paarweise
gekoppelten Songs, parallel gesetzten Szenen, Orten und Situationen, analogen
Aktivitäten, kontrastierenden, nach Geschlechtszugehörigkeit zusammengestell‑
Das GideEZeÄalter däMusicals
168
übermitteln, die zu äußern dem Darsteller versagt waren, und eine Art von
unbestimmtem poetischem Ausdruck finden, der nicht so kunstvoll auf den
Reim fixiert ist, daß er vom dramatischen Augenblick ablenkt. Während des
Goldenen Zeitalters des Musicals blieb das Vers-Refrain-Schema das zentrale,
jedoch keinesfalls einzige Modell für die Konstruktion eines Songs. Ein Ge‑
sprächsvers, häufig an Charakter und Situation spezifisch gebunden, schlug
den Bogen vom Dialog zu den emotionalen I-Iöhen des Refrains, meist als AABA‑
Songform gestaltet ‐ oder als Variation oder Erweiterung davon. Gewöhnlich
auf einen Umfang von 60 bis 120 Wörtern beschränkt, mußte ein Songtext im
Ausdruck komprimiert sein, reich an Bedeutung, periodisch in der Konstrukti‑
on (das Ende von Sinn- und Struktureinheiten stimmen überein), zunehmend
an Elan gewinnen, suggestiv in bezug auf das sein, was nicht zur Sprache kommt
(der Subtext eines Songs), und so spezifisch im Charakter, daß es undenkbar
wäre, ihn von einer anderen Person singen zu lassen. Der Lyricist hatte all dies
eingedenk des Komponisten, des Darstellers und des Publikum zu bewerkstel‑
ligen, mit einer in der Dichtung schon implizit vorhandenen musikalischen Form,
offenen Vokalen an Schlüsselstellen und genügend Redundanz, um beim ersten
Hören Verständlichkeit zu garantieren. Viele Texter entwickelten einen ebenso
individuellen Stil wie Komponisten. Hammerstein skizzierte Verse von entwaff‑
nender Simplizität und Normalität, Sondheim teuflisch clevere und raffinierte
mit komplexen Reimschernata und rhetorischen Kniffen, einschließlich Bin‑
nenreimen und zusammengesetzten Reimen. Die Songtexte loten verschiedene
Diskursmodi aus: deskriptiv, erklärend, narrativ, überredend oder inspirierend;
sie entwickeln auch ihre eigenen Subtypen: Balladen (Liebessongs), Charm‑
songs (die Optimismus und Wohlgefühl z u m Ausdruck bringen), >>I am« oder
»I want«‐Songs, Comedysongs, Listsongs, Pattersongs u.a. Das Abfassen von
Songtexten für ein Musical im Goldenen Zeitalter entwickelte sich zu einer so
anspruchsvollen Kunst, daß selbst solche brillanten Verseschmiede wie Ira Gersh‑
win, Porter und Berlin esschwierig fanden, die neuen, an ihre Zunft gestellten
Anforderungen zu erfüllen. Nachdem er sowohl die Musik als auch die Song‑
texte für N0 Strings geschrieben hatte, gestand selbst Rodgers ein, daß die
Abfassung effektvoller Songtexte noch schwieriger war als das Komponieren
von Musik.
Dennoch wurden die Musicals des Goldenen Zeitalters am ehesten mit ih‑
ren Komponisten identifiziert. Denn die Zuhörer verließen das Theater weit
eher mit gepfiffenen Melodien als mit Songtexten oder Dialogen auf den Lip‑
pen, und viele individuelle Songs überlebten unabhängig von ihrer ursprüngli‑
chen musikdramatischen Funktion. Manchmal waren Komponist und Lyricist
zwar identisch, doch häufiger blieben die Aufgaben eines Lyricisten und Book‑
writers einem einzigen Mitarbeiter überlassen und n u r selten war ein einzelner
in der Lage, alle drei Funktionen zu erfüllen (denkwürdig Frank Loesser bei
The Most Happy Fella). In all diesen Fällen freilich wurden die jeweiligen Ar‑
beiten eher annähernd simultan als sukzessiv erbracht, weil routinierte Partner
von Beginn an zusammenarbeiteten, die Grundregeln für das Projekt festleg‑
ten, sich über Fragen des Stils, der Struktur, des Tonfalls und der Besetzung
einigten und die Plazierung und Funktion der Musiknummern bestimmten. Der
172 Das Goldene Zeitalter des Musicals
»Ein Stück muß von Anfang an als Stück mit Musik konzipiert werden, sollen die Forderungen
des musikalischen Theaters erfüllt werden [...] die Spannung wird nicht so sehr durch den Fort“
gang der Handlung erzeugt als durch die Dynamik der epischen Fabel [...] Die gemeinsame
Aufgabe des Dichters und des Komponisten ist es, darauf zu achten, daß das Lied nicht als eine
bloße Nummer in den Text eingeschoben wird, sondern da3 es natürlich und unvermeidbar aus
der Szene entsteht, und dafä es ebenso unauffällig wieder in den Hintergrund zurücktritt.
Aber all dies ist nur möglich auf der Grundlage einer engen Zusammenarbeit zwischen dem
Autor und dem Komponisten vom Tag des ersten Entwurfs bis zur Nacht der Premiere, so daß
sich also der Komponist nicht einzig auf das Schreiben der Musik beschränken kann, sondern
auch bei der Konstruktion jeder einzelnen Szene der Handlung mitwirkt, so lange, bis die Mu‑
sik integraler Bestandteil des Ganzen geworden ist.«‘ ’l K. Weill, Tbe Alchemy of Music,
in: Stage, November 1936, S.63f.;
Die Wichtigste Aufgabe einer Partitur w a r ihre Zugänglichkeit und Verständ‑ Reprint in D. Farneth (Hg.), Kurt
lichkeit bei einem breiten Publikum. Rein musikalische Gesichtspunkte waren Weill: A Life in Pictures und D 0 "
cuments, New York 2000, S. 166.
den gewichtigeren dramatischen untergeordnet. Die musikalische Sprache soll‑ Zitiert nach der deutschen Über‑
te dem Thema angemessen sein und in puncto Komplexität oder Neuheit die setzung von Jürgen Schebera, Kurt
Aufnahmebereitschaft des anvisierten Publikums nicht überschreiten. Der Vo‑ Weill: Musik und Theater, Berlin
kalstil durfte n u r so anspruchsvoll sein, daß ein Hauptdarsteller ihn achtmal in 1990, S. 112ff.
2 K. Weill, Score for a Play, in: New
der Woche, fünfzig Wochen pro Jahr in vernünftiger Form bewältigte. Die Or‑ York Times, 5. Januar 1947.
chester waren aufgrund finanzieller wie räumlicher Einschränkungen v o m
Umfang her begrenzt. Da sich der dynamische Prozeß der Teamarbeit über die
Komposition hinaus auf Proben und Tryouts erstreckte, wobei die Normvor‑
gaben kontinuierlich revidiert wurden, blieben die Grenzen zwischen >>Arbeit<<
und >>Ereignis<< fließend. Die Partituren konnten nicht orchestriert werden, bis
die Besetzung vollständig war und man die Stimmumfänge der Hauptdarsteller
kannte; Tanzarrangements oder n e u komponierte Tanzmusik waren selten v o r
der Choreographie fertig; die Stars forderten oft zusätzliches >>Speciality<<‐Ma‑
terial. Wenn eine Musiknummer nicht die intendierte Wirkung erzielte, konnte
sie ungeachtet ihrer immanenten Qualitäten gekürzt oder ausgetauscht wer‑
den. Nichtsdestotrotz arbeitete der Komponist in bestimmten Bereichen fast
ohne schematische Zwänge und mit größter künstlerischer Freiheit: Er bestimmte
den Verlauf, die Genremodelle, das Tempo und die musikalischen Idiome der
Show ‐ ihr musikalisches Layout,
Laut Weill bestand die Herausforderung für den Komponisten darin, daß
jede Show zugleich mit ihrem Zugriff auf eine äußerst große Vielfalt an musi‑
kalischen Idiomen >>einen eigenen Stil, eine eigene Textur, eine eigene Bezie‑
hung zwischen Worten und Musik kreieren [mußte], weil die Musik ein wahr‑
haft integraler Bestandteil des Stücks wird.«2 Alle Nummern einer Partitur
mußten miteinander wesensverwandt sein, dennoch sollte jede über Merkmale
verfügen, die der Gesangsrolle und der jeweiligen dramatischen Situation e n t ‑
sprachen, und zugleich die gattungsspezifischen Bedeutungscodes berücksich‑
tigen, die der generellen Syntax des Musicals im Goldenen Zeitalter entsprach.
Okla/ooma! und T176 King and I beispielsweise enthielten Charmsongs (Surrey
wit/o the Fringe on Top und Getting to Know You), Monologe (Loner Room
Stil, Struktur und Syntax des modernen Musicals 173
und A Puzzlement), Balladen (People Will Say We’re in Lot/e und We Kiss in a
Shadow), trotzige »I want«‐Songs (Many a New Duy und Shell I Tell What I
Think of Youf), ausgedehnte Ballettpassagen (Laurey’s Dream und The Small
House of Uncle Thomas) und Comedy‐Nummern über kulturelle Bräuche (Kan‑
sas City und Western People m e y ) . Freilich stehen diese Paare an ganz Ve r ‑
schiedenen >>Stellen<< im musikalischen Gefüge ihrer jeweiligen Shows und je‑
des Pendant scheint stilistisch einen stärkeren Bezug zur eigenen Show zu besite
zen als zum Genretyp der Paare oder gar zu den anderen Arbeiten des Kompo‑
nisten im jeweiligen Songtyp. Faktisch verlieh die Manipulation der normier‑
t e n Songtypen und ‐formen dem Komponisten eine eigene narrative Autorität
und Autonomie. Die musikalische Gestalt einer Partitur beugt sich nicht etwa
einem Kanon unflexibler Regeln, sie entwickelt sich vielmehr aus der kreativen
Reaktion des Komponisten auf die Notwendigkeiten der besonderen Show, aus
der Spannung zwischen Gattungskonvention und ursprünglicher Konzeption.
Keine zwei Partituren des Goldenen Zeitalters wurden auf Grundlage dessel‑
ben Sortiments von Entwürfen konstruiert.
Obwohl das Bühnenäquivalent des populären amerikanischen Songs der zen‑
trale Baustein der musikalischen Konzeption blieb, fanden die Komponisten
zahlreiche Wege, einen Song zu verzieren, verlängern, erweitern, kombinieren,
verkürzen, verschleiern und bei Gelegenheit sogar zu ersetzen, indem sie orche‑
strale Untermalungen, Rezitative, Ariosi, chorische Einwürfe, instrumentale
Überleitungen, leitmotivische Verfahrensweisen und expressive Abwandlungen
von musikalischen Strukturen verwendeten. Die Stan dardform des 32‐taktigen
Songs W a r selbst das Resultat einer binären Opposition, wobei die Bridge (der
B‐Abschnitt der AABAxForm) in einen anderen harmonischen und melodischen
Bereich wechselte, der einen kontrastierenden Ausflug ins Lyrische untermal‑
te. Obwohl das harmonische Vokabular selten die Grenzen der Tonalität des
174 Das Goldene Zeitalter des Musicals
figsten verwendete, jedoch verschleierte Form des Duetts ist die Reprise der
Ballade einer Musicalfigur durch ihre/n >>Partner/Partnerin« im zentralen Au‑
genblick des Wiedererkennens, bisweilen mit einem neuen Text, bisweilen mit
dem gleichen, der eine Versöhnung signalisiert (So in Loue in Kiss Me, Kate
und Till There Was You in The Music Man). Obwohl diese >>Duette<< im Drama
sowohl Zeitlich wie räumlich voneinander getrennt sind, nimmt der Zuhörer
nicht bloß den Gesang eines Protagonisten wahr, der den Song eines anderen
singt, sondern hört, daß das Paar letztlich das im Song von Anfang an impli‑
zierte Duett vervollständigt. Bei noch subtilerem >Duettieren< werden Elemente
aus dem Song eines Darstellers in einen analogen Song des anderen eingefügt.
Eine zustimmende Antwort auf Shall We Dame? ist das choreographische
Äquivalent z u m Duett, die physische Manifestation der binären Paarverbin‑
dung. Nur in der Geborgenheit einer ritualisierten l’olka können Anna und der
König von Siam ihre gegenseitige erotische Anziehungskraft ausleben. »Ganz
ineinander verloren<< >>verfallen<< Tony und Maria »in Tanzschritte<<, bevor sie
in der West Side Story einander ein Wort sagen oder zusingen. Der Tanz eröff‑
n e t e dem Musical tatsächlich genauso viele Variationen von »Paarverbindun‑
gen<<‚ wie es der Gesang tat: Einzelne versuchen, ihre Partner auf dem Tanzbo‑
den zu übertreffen; einer lehrt den anderen einen neuen Schritt; Paare t a n z e n
separat, aber spiegelverkehrt zueinander; ein Protagonist t a n z t ekstatisch, aber
mit dem >>falschen<< Partner; n u r in der konventionellen Umarmung des Tan‑
zens können Partner einander ihre Zuneigung eingestehen. In der Tat scheint
der Einbezug der Choreographie in die Struktur des Musicals im Goldenen
Zeitalter und die Konsequenz, daß Darsteller im amerikanischen Musicalthea‑
ter so gut tanzen wie singen und schauspielern können müssen, eines der e n t ‑
scheidenden Merkmale der Gattung zu sein. In der Production Number k0n‑
serviert das Musical des Goldenen Zeitalters die Fähigkeit des Tanzes, durch
Spektakel zu überwältigen. Es bedient sich des narrativen Tanzes, um Dialoge