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Kapitel 5

Das Goldene Zeitalter des Musicals


von Kim H. Kowalke

Ein Überblick
Das Vierteljahrhundert zwischen den Broadwaypremieren des bahnbrechen‑
den Musical Plays Oklaboma! (1943) und seines Antipoden, des Rockmusicals
Hair (1968) gilt allgemein als das >>Goldene Zeitalter<< des Musicals. Während
dieser Phase zwischen Oh, What a Beautiful M o m n g und dem Anbruch v o n
>>The Age of Aquarius<< entwickelte sich das amerikanische Musicaltheater aus
verschiedenen Vorkriegsmodellen zu einer weltweit anerkannten Form >>legiti‑
men<< Theaters, m i t vielfältigen Subgenres und einem expandierenden Netz‑
werk von Verbindungen z m n internationalen Handel und zur Massenkultur.
Getragen wurde esbeinahe ausschließlich v o n den Vier Dutzend Theatern, die
sich damals in Form eines dichtbesetzten Rechtecks mit dem Broadway als
Zentrum zwischen der 39. und der 44. Straße in New York City drängten.
Dabei agierte das Musical des Goldenen Zeitalters auf heiklem kulturellem
Terrain. Als nicht öffentlich gefördertes, kommerzielles Unternehmen von ho‑
hem Risiko zielte esdarauf ab, wachsende künstlerische Ambitionen mit finan‑
ziellen Zwängen zu vereinbaren und versuchte, vermehrt kulturelles Ansehen
als tonangebende, genuin nationale dramatische Kunstform zu gewinnen (ana‑
log zu den nationalen Operngattungen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in
Europa herausgebildet hatten). Und dies, ohne jene Unterhaltungsqualitätenzu
opfern, deren es bedurfte, um ein familienfreundliches Publikum der breiten
Mittelklasse zu amüsieren und mitzureißen. Keineswegs alle Musicals der Ära
erwiesen sich als golden. Von den ungefähr dreihundert neuen Musicalshows,
die zwischen 1943 und 1968 am Broadway gezeigt wurden und deren Zahl pro
Saison zwischen sieben und siebzehn schwankte (im Unterschied zum Gipfel‑
w e r t v o n fünfzig Aufführungen in der Saison 1928/1929), errangen weniger als
ein Viertel den Status eines »Hits« und hielten sich mehrere Spielzeiten lang,
was notwendig war, um die Investitionen der Finanziers wieder einzubringen.
(die Abbildung auf Seite 138 zeigt eine tabellarische Auflistung v o n Saison zu
Saison). Jenen Musicals, denen dies gelang, billigte man später kanonischen
Status zu. Sie waren Meilensteine eines Standardrepertoires an Musicals, die
nach wie vor häufig aufgeführt und studiert werden. Im Unterschied dazu wur‑
138 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Das Goldene Zeitalter des Musicals,


Spielzeit Neue Produk‑ Wichtige ProduktiOnen 1943‐1968: Wichtige Produktionen.
tionen IRe‑
vivals Die nebenstehende Auswahlliste dif‑
ferenziert zwischen neuen Musicals
und Revivals; letztere erscheinen
1942/1943 17/7 *Star and Garter (609), *This is the Army (113), "Something for nach dem Semikolon am Ende der
the Boys (422), ”Oldahoma! (2.248), Ziegfeld Follies of 1943 Auflistung einer jeden Saison, Ein
(533); *Rosalinda (521), The Student Prince (153) Sternchen markiert den Titel von
1943/1944 16/4 " One Touch of Venus (567), What’s Up? (63), ”Carmen Jones (503), Musicals, die zu >>Hits« wurden, d.h‚
*Mexican I-Iayride (481), ”*Follow thc Girls (882); A Connccticut die ihre Investitionen wieder einspiel‑
Yankee (135), The Vagabund King (54), ‘The Merry Widow t e n . >>Flops« sind dementsprechend
(322), Helen Goes t0 Troy (96) Shows, die ihre ursprünglichen Inve‑
stitionskosten nicht amortisieren
1944/1945 17/2 *Song of Norway (860), ”Bloomcr Girl (654), The Seven Liver konnten, unabhängig v o n den vor‑
Arts (183), x‘On the Town (463), *Up in Central Park (504), The handenen oder fehlenden künstleri‑
Firebrand of Florence (43), *Carousel (890); The Gypsy Baron schen Verdiensten. Die Aufführungs‑
(11), Robin Hood (12) zahlen der ersten Broadway-Laufzei‑
1945/1946 16/2 St. Louis Woman (113), Call Me NIister (734), ”Annie Get Your t e n stehen in Klammern. Gewinner

Gun (1.147); ”*The Red Mill (531), *Show Boar (418) des Tony Awatd for Outstanding
Musical (der erstmals 1949 vergeben
1946/1947 13/2 Beggar’s Holiday (111), Street Scene (148), "Finian’s Rainbow wurde) sind fett gedruckt; Gewinner
(725), *Brigadoan (581), The Medium, The Telephone (211); des New York Drama Critics Circle
*Sweethearts (288) Award fot Best musical (nach 1945)
1947/1948 12/2 *High Button Shoes (727), Allegro (315), ‘Angel in the Wings erscheinen kursiv; Gewinner eines
(308); The Cradle Will Rock (34) Pulitzer Prize for Drama sind einmal,
Gewinner eines Pulitzer Prize for
1948/1949 14/1 Magdalena (88), Love Life (252.), ‘Where’s Charley? (792), *As Music doppelt unterstrichen. Es ist
the Girls Go (420), *Lend an Ear (460), l‘Kiss Me, Kate (1.077), zu beachten, daß diese Liste keine
*South Pacific (1.925); The Rape of Luctetia (23) Musicals enthält, die >>Off‐Broade
1949/1950 16/0 Miss Liberty (308), Lost in the Stars (2.81), Regina (56), *Gentle‑ way<< produziert wurden und da8
m e n Prefer Blonds (740), *The Consul (269), Peter Pan (320) aufgrund von Terminverschiebungen
der jährlichen Preisverleihungen
1950/1951 12/1 *Call Me Madam (644), ”Guys andDalls (1.200), *The King and I manchmal zwei Musicals in ein- und
(1.246), A Tree Grows in Brooklyn (267) derselben Saison mit Tony Awards
1951/1952 8/5 Two on the Aisle (276), Paint Your Wagon (289), "New Faces of geehrt wurden.
1952 (365); Music in the Air (56), *Pal Joey (542), Four Saints
in Three Acts (15), Of Thee I Sing (72), Shuffle Along (4)
1952/1953 9/0 *Wish You Were Here (597), 'Wondeiful Town (559), *Can-Can
(892), *Me and Juliet (358)
1953/1954 8/0 *Kismet (583), The Girl in Pink Tights (115), Tbe Golden Apple
(125), *The Pajama Garne (1.063)
1954/1955 12/1 *The Boy Friend (483), ”‘Fanny (888), The Sein! ot BIeec/zer Street
(92), *Plain and Fancy (476), ’Silk Stockings (461), l*Darrul Yan
kees (1.022); On Your Toes (64)
1955/1956 7/0 Pipe Dream (245), *My FairLady (2.715), Mr. Wonderful (383),
"“The Most Huppy Felle (678)
1956/1957 9/0 “*Li’l Abner (693), *Bells are Ringing (925), Candide (73), Happy
Hunting (413), ”New Girl in Town (432)
1957/1958 11/0 ”West Side Story (734), *Jamaica (558), The Music M a n (1.375)
1958/1959 12/0 *La Plume deMa taute (835), *Flower D r u m Song (602), l*Red
head (455), Juno (16), Destry Rides Again (472), *Gypsy (702)
Ein Überblick
139

Abbildung links: Barbra Streisand bei


ihrem Broadwaydebüt als Miss Mar‑
melstein in I sz Get It für You
Wholesale (1962). Photo: Fricdmanx
Abeles, Abbildung rechts: » M r ‚
Broadway«, der Regisseur George
Abbott, zeigt Ray Bolger einen
Schritt in Where’s Charley (194S).
Photo: Graphic Hause

1959/1960 14/1 Take Me Along (448), ’“The Sound of Music (1,443), *Fiorello,’
(796), ‘Once Upon a Mattress (460), *Byc Bye Bitdie (607);
Finian’s Rainbow (12)
1960/1961 15/0 *Irma La Douce (527), Tenderloin (216), *The Unsinkable Molly
Brown (532), ”Camelot (873), Wildcat (172), D0 Re Mi (400),
CamiI/al (719)
1961/1962 17/1 Milk and Honey (543), * H o w T0 Succeed in Business Without
Really Timing (1.415), * N o Strings (580), I Can Get it For You
Wholesale (300), "“A Funny Thing Happcned 0 11 the Way to thc
Forum (965)

1962/1963 11/0 ‘Stop thc Worlcl I Want t0 Get Off (556), M r. Presidenr (265),
Littlc Me (257), ’“Olivcr! (774), She Lovcs Me (302)
1963/1964 16/0 x’110 in the Shade (330), "'Hello, Dolly! (2.844), What Makes Sam
my Run? (540), "“Fuimy Girl (1.348), Anyone Can Whistle (9),
High Spirits (375)
1964/1965 16/2 ‘Fiddlcr an the Raof(3.242), Golden Boy (569), Baker Street (313),
D0 l Hear a Waltz? (220), *“I-Ialf a Sixpcnce (512), Flora, the Red
Mcnace (87), ’“The Roar of thc Greasepaint, The Smell of the
Crowd (232)
1965/1966 14/0 On a Clear Day You Can See Forever (280), *Man ofLa Mancha
(2.329), *Sweet Charity (608), It‘s a Bird, It’s a Plane, It’s Super
m a n (129), *Mame (1.508)

1966/1967 11/0 The Apple Tree (463), *Cabm'et (1.166), ”I D0! I D o ! (561),
Illya Darling (320), "'Hallelujah, Baby! (293)
1967/1968 11/0 H o w Now, Dow Jones (220), Golden Rainbow (385), George M!
(435), "’Hair (1.750)

1968/1969 14/0 Zorba (305), "“l’romises, Promises (1.281), Celebration (110), Can‑
[erbury Tales (‚122), Dear World (132), "’1776 (1.217)
140 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Die originale Broadwaybesetzung


in der Finalszene von Oklahoma!
(1943). Photo: Vandamm

f w

de keine vor dem Goldenen Zeitalter entstandene Show, nicht einmal Show Boat,
am Broadway erfolgreich wiederbelebt (und danach in den Kanon aufgenom‑
men), ohne gravierende Revisionen über sich ergehen zu lassen. Diese zielten auf
eine stärkere Anpassung an die Konventionen des Post‐OklahomaI‐Musicals ab.
In dem Maße, in dem das Musical raffinierter in der musikdramatischen
Konstruktion, kühner hinsichtlich der Sujets und ernsthafter in der Darstellung
gesellschaftlicher Verhältnisse wurde, erwies sich die >>Integration<< seiner ver‑
schiedenen Komponenten als vordringlichste Aufgabe. Zugleich nahm der ge‑
meinsame kreative Prozeß die Gestalt eines streng geregelten und oftmals lang‑
wierigen Unterfangens an und weitete sich dermaßen aus, daß nicht nur Book‑
writer, Lyricist und Komponist, sondern auch Produzent, Regisseur, Choreo‑
graph und Bühnenbildner daran beteiligt waren. Vom Musical des Goldenen
Zeitalters erwartete man, daß jedes konstitutive Element den Gesamtstil der
Produktion, der n u n durch die spezielle dramatische Situation und den Inhalt
diktiert wurde, reflektierte und bereicherte.‘»Die Instrumentation klingt so,
wie die Kostüme aussehem, scherzte Richard Rodgers.l Die Aufwertung des 1 R. Rodgers, Musical Stages: An
Tanzes (ausgehend von seiner traditionellen Funktion als Novum, Spektakel Autobiography, New York 1995,
oder bloße Gelegenheit, die Beine der Chormädchen zur Schau zu stellen) zur S.227.
Gleichstellung mit Musik, Songs und Text, was die Dynamisierung des Plots
und die Charakterisierung der Atmosphäre angeht, ergab sich erst allmählich.
George Balanchine, Agnes de Mille und Jerome Robbins schufen hier in den
späten dreißiger und frühen vierziger Jahren mit behutsam interpolierten Bal‑
letten eine Basis. In engem Anschluß an Oklahoma! demonstrierte Robbins mit
der Adaption seines Bernstein‐Balletts Fancy Free als On the Town, daß sich
ein neuer Typus der Musical Comedy ebenso solide vom Tanz aus konstruieren
ließ, wie sich der ältere Typus aus einer Abfolge v o n Songs entfaltet hatte. Wie
vollkommen der Tanz schließlich in das System des Musicaltheaters eingepaßt
wurde ‐ durch die Verdienste des Regisseurs George Abbott alias >>Mr. Broad‑
way<< und der nachfolgenden Generation v o n Broadwaychoreographen, die er
Ein Überblick
141

förderte (u.a. Robert Alton, Michael Kidd, Gower Champion, Donald Saddler,
Bob Fosse, Onna White, Peter Gennaro und Joe Layton) ‐, dokumentiert sich
in dem Umstand, daß sie eigentlich alle zu guter Letzt die gesamte leitende
Verantwortung übernahmen. Gegen Ende der Ära, als das >Concept Musical<
das >>integrierte<< >Musical Play< als Strukturnorrn zu ersetzen drohte, bean‑
spruchten Regisseure wie Abbotts Hauptprotege und Produzentenpartner Ha‑
rold Prince die zentrale Machtbefugnis im gemeinsamen Entstehungsprozeß.
Sie beaufsichtigen eine Besetzungstruppe, eine Crew und einen Stab schöpferi‑
scher Mitarbeiter, deren Gesamtgröße sich normalerweise auf über hundert
Personen belief, und überwachten eine Entstehungsphase, die oft mehrere Jah‑
re umspannte. Radio und Filmindustrie veranlaßten in den dreißiger Jahren
viele Darsteller, die im Vaudeville, der Operette und der Musical Comedy groß
geworden waren, die Bühne zu verlassen. Das Goldene Zeitalter bildete eine
neue Generation von Talenten aus, die in ihre vielseitigen Vorstellungen jene
besondere Kombination von Schauspielerei, Tanz und Gesang >>integrierten<<,
die das amerikanische Musicaltheater dezidiert v o n anderen Formen des M u ‑
siktheaters unterschied.
Unter den populären Songwritern (darunter George Gershwin, Jerome Kern,
Irving Berlin, Cole Porter und Ray I-Ienderson), die ihre Songs in den eher
zufällig entstandenen Musical Comedies der zwanziger und dreißiger Jahre dar‑
boten (sie waren gewöhnlich kaum mehr als ein mit dürftiger Handlung ver‑
sehener Vorwand für die Darbietung einer Ansammlung von Stars, Spektakeln
und Songs), gelang es nur Rodgers durch seine neuartige Zusammenarbeit mit
Oscar Hammerstein H, einen konsistenten und innovativen Beitrag zum reifen
>Book-Musical< zu liefern, das neue Subgenres hervorbringen sollte. Als Rodgers
und Kurt Weill, sein Hauptrivale in den vierziger Jahren, neues musikalisches
Terrain eroberten, indem sie wahrlich >>integrierte<< musikdramatische >Partitu‑
ren< schrieben und die standardisierte, 32 Takte umfassende >Popularsongforrn<
zu komplexen musikalischen Szenen mit speziellen Charakterisierungs‐ undHand‑
lungsfunktionen ausweiteten, gingen die zuvor spezialisierten Aufgaben von
Lyricist und Bookwritet häufig in der zusammenfassenden Tätigkeit eines einzi‑
gen Mitarbeiters auf. Dieser adaptierte für gewöhnlich sein Textbuch nach einem
bereits vorhandenen literarischen oder dramatischen (oder in späterer Zeit filmi‑
schen) Modell, das m a n zuvor für bedeutend genug gehalten hatte, die Frage zu
klären, ob essich für eine Adaption als Broadwaymusical wirklich eignete.
Solch eine Zusammenarbeit gestaltete sich so anstrengend, zeitraubend und
eng, daß die erfolgreichsten Musicals des Goldenen Zeitalters das Produkt ei‑
ner bemerkenswert geringen Anzahl von schöpferischen Partnerschaften für
abwechslungsreiche Shows waren: Rodgers 8cHammerstein, Lerner 8€Loewe,
Adler 86Ross, Arlen 8€Harburg, Dietz 8€Schwartz, Burrows 8c Loesser, Comx
den 86 Green jeweils mit Bernstein und Styne, Bock 8€ Harnick, Kander 86
Ebb, Strouse 8c Adams, Jones 8€ Schmidt. Sie alle arbeiteten, oftmals reihum,
mit einem gleichfalls begrenzten Kreis v o n Produzenten, Regisseuren, Bühnen‑
bildnern und Choreographen zusammen. Trotz der gemeinsamen Verwendung
eines dramaturgischen Modells, dessen gattungstypische Konventionen ver‑
gleichsweise stabil und immun gegenüber radikalen Veränderungen waren, die
142 Das Goldene Zeitalter des Musicals

das Publikum den Theaterkassen hätten entfremden können, erschlossen diese


Teams eine außerordentlich vielgestaltige Skala von Inhalten, Themen, Stilen,
Charakteren und Plots. Genauso indes wie die herkömmlichen Schemata der
Opera seria, Opera buffa und des Singspiels früher innovative Ausgestaltung
zugelassen hatten, bot auch die gewissenhafte handwerkliche Meisterschaft der
erfolgreichsten Musicals des Goldenen Zeitalters Raum für individuelles Expe‑
rimentieren. >>Gelegenheiten beim Schopfe packen«‚ mahnte Rodgers, >>war
das einzig Sichere, was man t u n konnte.«1 Nur selten freilich gefährdete solch 1 R. Rodgers, Musical Stages: An i
ein Spiel mit dem Risiko das Grundschema des >Book-Musicals<: Ein Drama Autobiography, New York 1995,
v o n miteinander im Konflikt stehenden Charakteren (üblich w a r eine dramati‑ S. 109.
2 J. Hammerstein, zitiert in M. Katz
sche Behandlung des Protagonistenpaars, die Ausarbeitung der Nebenfiguren Frommer/H. Frommer, It Hap‑
fiel weniger gewichtig aus), im Rahmen v o n zwei Akten (mit einem halb so pened on Broadway: An Oral
langen zweiten wie ersten Akt). History of the Grau! White Way,
In den zwanziger Jahren gelang es Produzenten oder Autorenteams häufig, New York 1998, S. 94.
mehrere Musical Comedies oder Revuen pro Jahr auf die Bühne zu bringen. Als
rein kommerzielle Unternehmen waren sie nicht auf eine lange Spieldauer ausge‑
richtet. Keines w a r gezwungen gewesen, länger als ein Jahr zu laufen, um die
Investoren auszahlen zu können. Einzelne Songs, ihrer ursprünglichen dramati‑
schen Identität beraubt, waren Vielfach die einzigen Elemente einer Show, die
lange genug überlebten, um eine Spur im nationalen Kulturleben zu hinterlassen.
Darum, so faßte Hammersteins Sohn James ‐ selbst ein Regisseur ‐ bündig die
herrschende Ästhetik zusammen, >> änderte man seine Story, urn seine besten Songs
einbauen zu können.«2 Als aber die gewerkschaftliche Organisierung der Thea‑
terpraktiker und die Konkurrenz aus Hollywood die Löhne hochtrieben, vervier‑
fachten sich die durchschnittlichen Produktionskosten beinahe, v o n 60.000 Dol‑
lar in den dreißiger Jahren auf 225.000 Dollar in den Vierzigern. Die Eintritts‑
preise konnten nicht Schritt halten (der Höchstpreis für ein Billet für Okla/ooma!
betrug 4,40 Dollar) und daher waren längere Laufzeiten vonnöten, um die Un‑
kosten zu decken. Nur wenige Stars waren bereit, für die gesamte Laufzeit bei
einer Bühnenshow zu bleiben, folglich mußten bei den Musicals Besetzungswechsel
für die Hauptrollen eingeplant und abgestimmt werden. Und bevor effiziente
Klimaanlagen in den Theatern allgemein verbreitet waren, stellte die Laufzeit
eines Musicals während des Sommers (die touristische Hochsaison für New Yorks
Theaterdistrikt) ein besonderes Problem dar. Obgleich die neuen Medien Radio
und Filmmusical zunächst den Talentpool des Bühnenmusicals, seine Modelle
und sein Publikum usurpiert hatten, bediente sich das Musical während seines
Goldenen Zeitalters dieser Medien und dann des Fernsehens, um das heimische
Publikum mit einem Musical als >>Werk<< vertraut zu machen, ohne daß oder
noch bevor es dem >>Ereignis<< seiner Inszenierung beiwohnte.
Insbesondere ermöglichte es die Einführung der 331/3 U/min ‐ Langspiel‑
platte im Jahre 1948, Musicalpartituren beinahe vollständig aufzunehmen (ge‑
wöhnlich am Montag, der auf die Premiere folgte), mit der originalen Broad‑
Waybesetzung und dem originalen Orchester auf einer einzigen erschwingli‑
chen Schallplatte. Solche Alben mit der Originalbesetzung machten, im Ver‑
bund mit der üblichen Publikation v o n Textbüchern und Klavierauszügen mit
Gesang, die Musicals einem Publikum in absentia zugänglich und weckten des‑
Ein Überblick
143

sen Appetit auf Tourneen, das >Summer stock< und Amateurproduktionen. Als
sich die Kluft zwischen populärer Musik und Showmusik in den fünfziger und
sechziger Jahren vergrößerte, bewahrten viele Musicals ihr Profil vordringlich
als musikdramatische Einheiten, als >>Werke<<, die der Erhaltung und der kon‑
tinuierlichen Wiederbelebung bedürfen. Zusätzliche Präsentationsformen wie
über Radio und Fernsehen verbreitete Ausschnitte bzw. Adaptionen und die
relativ authentischen Leinwandadaptionen der fünfziger und sechziger Jahren
vergrößerten auch die Zuhörerzahlen von Musicals wie West Side Story, das
einen nur bescheidenen Erfolg am Broadway errungen hatte. In Anbetracht des
möglichen Profits, den solche >>Weiterverwertungsrechte<< für Musicals boten,
waren Schallplattenfirmen und Filmstudios schnell bereit, als Hauptinvestoren
für Broadwayproduktionen zu zeichnen. Während des Goldenen Zeitalters er‑
lebten zwanzig Musicals erste Broadwaylaufzeiten, die sich auf mehr als t a u ‑
send Aufführungen beliefen. M i t Ausnahme zweier Revuen in den späten drei‑
ßiger Jahren blieb dies ohne Präzedenzfall in früheren Zeiten. Mehr als fünfzig
weitere Book‐Musicals aus den fünfziger und sechziger Jahren überschritten
die Grenzmarke von fünfhundert Vorstellungen. Solche Hitmusicals t o u r t e n
gewöhnlich in einer zweiten Besetzung durch die Vereinigten Staaten, profitier‑
ten von einer zweiten Laufzeitim West End (dem Londoner Pendant zum Broad‑
way) und gingen dann durch Inszenierungen von Colleges, Gemeindetheatern
und High Schools im ganzen Land in das amerikanische Bewußtsein ein. Mitte
der fünfziger Jahre vergrößerte sich das Produktionssystemum ein >>Off‐Broad‑
way«‐Anhängsel von kleineren Theatern, wo Musicals, die man als zu kurz, zu
experimentell oder zu riskant für eine Broadwayproduktion erachtete (darun‑
ter solche Erfolge wie Marc Blitzsteins Adaption der Dreigroschenoper [1954]
und Schmidt 8c Jones’ The Fantasticks [1960]) zu reduzierten Kosten insze‑
niert werden konnten. Im Jahre 1967, als das 21. Jahresiubiläum der >>Tony<<‑
Award-Zeremonie zum ersten Mal landesweit ausgestrahlt wurde, war das
Musical eine Frage von Nationalbesitz, ‐stolz und eidentität geworden. Der
Preis für das >>Outstanding Musical<< avancierte zum vielleicht begehrtesten
1 L. A. Morrow, The Tony Award und finanziell ertragreichsten von allen.1
Bock: Four Dßcades of Great Keine andere Kunstform spiegelt amerikanische Kultur in der Ära nach dem
American Theater, New York Zweiten Weltkrieg so lebendig, vollständig oder wahrheitsgetreu wider. (Da in
1987. 1944 zu Ehren des Grün‑
ders des Billboard-Magazins ins
England bis weit ins Goldene Zeitalter: hinein keine signifikant neuen Beiträge
Leben gerufen, wurden die Do‑ zum Musical geleistet wurden, kam der Einflufä des britischen Musicaltheaters
naldson Awards 1.955 abge‑ spät und war folglich begrenzt). Während der Zeitspanne zwischen den beiden
schafft, weil sie durch die von der Weltkriegen, als die Vereinigten Staaten sich ihrer stetig wachsenden, dominie‑
Industrie nominierten Tony renden Rolle in Weltwirtschaft und -politik bewußt wurden, teilten viele die
Awards verdrängt worden waren.
Die New York Drama Critics Ansicht, daß die Nation auch im Sinne einer kulturellen Führerschaft Verant‑
Circle Awards, gegründet 1935, w o r t u n g übernehmen sollte, und das Musicaltheater entpuppte sich als die Stätte,
werden weiterhin jährlich verge‑ wo eine genuin amerikanische Leistung zu finden war. Im Gegensatz zu den
ben. importierten Institutionen des Symphonieorchesters und der Oper war das
amerikanische Musical ein heimisches Produkt. Es verkörperte anti‐elitäre, sä‑
kulare und pragmatische Werte, die das vorherrschende amerikanische Selbst‑
verständnis ausmachten. Es sollte finanziell und intellektuell einem sehr brei‑
t e m Publikum zugänglich sein. Buchstäblich jeder Amerikaner konnte ein Mu‑
144 Das Goldene Zeitalter des Musicals

sical ‐ in sich bereits das Resultat einer >>demokratisierten<< Gemeinschaftsar‑


beit ‐ verstehen und genießen. Seine Musik, die Songs und der Tanz wurden als
typisch >>amerikanisch<< wahrgenommen, genauso wie der utopische Optimis‑
mus, der selbst jene Musicals prägte, bei denen das übliche Happy End aus‑
blieb. In der autarken unternehmerischen Praxis des Musicals gingen Kunst
und Kommerz einen pragmatischen Kompromiß ein. Das Musicalpublikum
selbst in seiner Gesamtheit diente als kritische Hauptinstanz. Sogar am kreati‑
ven Prozeß w a r es durch seine Reaktionen auf außerstädtische Tryouts und
Previews beteiligt. Normalerweise w a r das Urteil der Zuhörer endgültig, nur
eine Handvoll Musicals konnte einen anfänglichen Mißerfolg durch anschlie‑
Sende Revision, Wiederbelebung oder kritische Neubewertung ins Gegenteil
verkehren. Wie bei der Bevölkerung der Vereinigten Staaten hatten sich die
diversen europäischen und heimischen Komponenten des Musicals erst kurz
Z u v o r in einem Schmelztiegel zusammengefunden. So waren die großstädti‑
SChen‚ vorwiegend jüdisch‐amerikanischen Musicalrnacher in der Lage, afro‑
amerikanische Spielarten populärer Musik einzubeziehen und dies Amalgam
auf überzeugende Weise für den amerikanischen Mittelstand weißzuwaschen.
Daß das Goldene Zeitalter des Musicals aus amerikanischer Perspektive in
etwa durch den Eintritt des Landes in den Zweiten Weltkrieg und die Eskalati‑
on der amerikanischen Verwicklung in den Vietnamkrieg begrenzt wird, dürfte
keine Überraschung sein, denn wie bei anderen Volkskunstformen entwickelte
sich das Musicaltheater parallel zur heimischen Kultur. Es griff die maßgebli‑
chen sozialen Fragen auf, die das Bewußtsein der Zeit prägten, oder spiegelte
sie wider. Die Standards des Musicals im Goldenen Zeitalter wurden am plau‑
sibelsten in Oklalooma! exponiert, einem Musical, das einen >>brandneuen<<
Bundesstaat feierte, ein gemeinsames Erbe im Sinne einer kollektiven Bedro‑
hung heraufbeschwor und das Vertrauen der Nation in die eigene manifeste
Tugendhaftigkeit stärkte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vereinigten Staa‑
t e n zum reichsten und mächtigsten Land der Welt wurden (das durchschnitt‑
liche Haushaltseinkommen verdreifachte sich zwischen 1940 und 1955), wandte
das Musical seine Aufmerksamkeit zuversichtlich den drängenden heimischen
sozialen Problemen zu, u n t e r anderem Rassismus und Vorurteil (Street Scene,
Finizm’s Rainbaw, Lost in the Stars und South Pacific), dem Krieg der Straßen‑
gangs (West Side Story), der Gewerkschaftsbewegung (Pajama Game), morali‑
schem und politischem Verfall (Cabaret), sexuellen Winkelzügen (Kiss Me, Kate!‚
Annie Get Your Gun), Machtmißbrauch und Versagen (Carousel, Gypsy), eth‑
nischen Minderheiten und deren Traditionen (Flower D r u m Song, Fiddler On
The Roof, Halleluja/a, Baby!)‚ Korruption oder Verlust des Idealismus (Alle‑
gro, Camelot), der modernen Ehe (Loue Life, I D 0 ! I D0!) und den Gesetzen
des Kapitalismus (The Music Man, H o w t0 Succeed in Business Without Really
Trying). Obwohl nicht alle Musicals derartige Themen so direkt angingen, be‑
zog selbst das unbeschwerteste u n t e r ihnen sozialpolitische Werte mit ein, ge‑
t a r n t als bloßes Entertainment (insbesondere bei den selbstreflexiven Shows
über das Showbusiness selbst). Häufig übte man implizit Kulturkritik, indem
Fragen v o n Geschlechtsidentität, Klasse, Rasse und Ethnizität verschlüsselt
dargestellt wurden.
Das >Mu5ica| Play< und seine Vorläufer 145

Ende der fünfziger Jahre gelang esder historischen Allianz zwischen dem ame‑
rikanischen populären Song und der Showmusik nicht, den Rock’n Roll und
seine Nachläufer einzubeziehen, t r o t z der Anstrengungen v o n Shows wie Bye
Bye Birdie. Schließlich schien der Erfolg von Hair als Broadwaymusical die
Möglichkeit einer Versöhnung anzudeuten, zumindest auf Seiten der Musical‑
front gegen Ende des Goldenen Zeitalters. Aber dieser lose strukturierte, äu‑
ßerst weitschweifige und gewollt hemdsärmelige Angriff auf die militärischen
Rekrutierungspraktiken, den Vietnamkrieg, das Arbeitsethos, >>das Establish‑
ment<< mit seinen Umgangsformen und Kleidervorschriften drehte dem gesam‑
ten idealisierten Amerika, das Oklahoma! gefeiert hatte, eine Nase. Natürlich
war Hair n u r das Symbol für einen viel breiteren kulturellen Umschwung, der
die ästhetischen und sozialökonomischen Fundamente des amerikanischen
Musicaltheaters, auf denen esim Goldenen Zeitalter ruhte, untergraben sollte.
Innerhalb weniger Jahre überflügelten die Revivals v o n herausragenden Musi‑
cals aus dem Goldenen Zeitalter und die >>Überarbeitungen<< von Shows, die
vor dem Goldenen Zeitalter entstanden waren, die Produktionen neuer Shows,
und die Kritik lamentierte über das Ende des Genres. Selbstkritisch wurde esin
den dekonstruktiven Follies (1971) betrauert, einem Requiem auf eine ganze
Theaterära und deren Musicalproduktionssystem ‐‐ und das amerikanische
Selbstverständnis, das sich darin verkörperte. Nachdem sie ihr Handwerk je‑
weils von Hammerstein beziehungsweise Abbott gelernt hatten, sollten Ste‑
phen Sondheim und Harold Prince das Genre angesichts einer unwiderruflich
gewandelten kulturellen Landschaft von Grund auf erneuern, das Goldene
Zeitalter jedoch w a r zu Ende.

Das >|Vlusica| Play< und seine Vorläufer


Die dreißiger Jahre waren eine für die Wirtschaft wie für die Musical Comedy
gleichermaßen trostlose Dekade. 1940 lebten vierzig Prozent der amerikani‑
schen Familien immer noch unter der Armutsgrenze. Praktisch jeder Musical‑
theaterproduzent war bankrott gegangen, zumindest zeitweilig. Die Große De‑
pression hatte zur Verringerung der Besucherzahlen beim Theater geführt und
einzig Pins und Needles und Hellzapoppin, beides eher Revuen als >Book-Mu‑
sicals<‚ erreichten mehr als fünfhundert Vorstellungen. Weill bemerkte dazu:
>>Zur Zeit meiner Ankunft [1935] bestand das Musicaltheater am Broadway
fast ausschließlich aus Revuen und leichten Musical Comedies, und jeder hielt
1 Englischer Brief v o n Weill an H. mich für verrückt, als ich mit ernsthaften Musical Plays [...] begann.«1 Das
Jolles vom 27. Mai 1949; abgeh Bühnenmusical suchte nach neuen Formen und einer neuen Funktion in Kon‑
druckt in D. Farneth (Hg.), Kurt
Weil]: Ein Leben in Bildern und
kurrenz zu Radio und Kinomusicals, die ihm sofort scharenweise Stars und
Dokumenten, Berlin 2000, S.276 Kreativteams abspenstig gemacht hatten. Berlin, Porter und die Gershwins hat‑
(deutsche Übersetzung) bzw. S. 303 t e n ihren Schwerpunkt nach Hollywood verlagert, wo das hierarchische und
(Original). spezialisierte Produktionssystem ihre Fähigkeiten als Songwriter verwertete und
herausstrich, ohne da3 ihre Mitarbeit als Dramatiker erforderlich gewesen wäre.
146 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Kurt Weill im Jahre 1948. In den


1940er Jahren waren Weill und Rod‑
gers die bedeutendsten rivalisierenl
den Komponisten am Broadway, so
wie Stephcn Sondheim und Andrew
Lloyd Webber dies in den 1980er
Jahren sein sollten. Photo: Vandamm

Letzteres strebten Weill und Rodgers an, im Bereich des Films allerdings wenig
erfolgreich. Busby Berkeleys üppige Extravaganzas bei den Warner Brothers,
Jeanette MacDonalds und Nelson Eddys Operetten für M G M und Fred Astaires
und Ginger Rogers romantische Comedies für R K O hatten am Ende des Jahr‑
zehnts ihre Broadwaypendants bei weitem nicht vergessen lassen. Bezeichnen‑
derweise debütierte Porters Dubarry Was a Lady (1939) mit Ethel Merman
und Bert Lahr in der Hauptrolle als letztes Bock-Musical der Dekade erst dann
am Broadway, als Hollywood es zurückgewiesen hatte. Das Radio hatte sich
bereits der Sketche, Comedynummern und Modesongs bemächtigt, die das Erbe
des Vaudevilles ausmachten und die Basis für jährliche Auflagen von Revuen
wie George Whites Scandals und Earl Carrolls Vanities bildeten. Beide mußten
in der Saison 1939/1940 schließen. Was am Broadway blieb, waren politische
Satiren, intime Revuen und Vehikel für bühnenfixierte Stars, die von den neuen
Medien gemieden wurden. Am Ende des Jahrzehnts w a r George Gershwin tot,
Jerome Kerns Broadwaykarriere kläglich beendet, Cole Porters jährliche Bei‑
träge gerieten zunehmend schematischer, Oscar Hammerstein steckte seit Show
Boat in einer Schaffenskrise, die Zusammenarbeit v o n Rodgers und Lorenz
Hart stand v o r dem Kollaps und Irving Berlin hielt sich betont abseits vom
Great White Way. Ein Kritiker klagte, dafä >>die Musicalshow im Großen und
Ganzen in den letzten Jahren nicht v o m Fleck gekommen ist«, und die schema‑
tische Musical Comedy >>demselben Typus von Entertainment vor zwanzig oder 1 G. Nathan, Entertainment of u
dreißig Jahren erstaunlich ähnlich<< sei.1 Nation, New York 1942, S. 1151?.
Das >Musica| Play< und seine Vorläufer
147

In der Tat hatte sich diese Spielart der Musical Comedy seit Gershwins Debüt
mit Lady, Be Good! v o n 1924 kaum verändert. De facto brachte dessen Produ‑
zent Vinton Freedley Ende 1930 Porters letzte Shows immer noch auf die Büh‑
ne, und der Bookwriter Guy Bolton verknüpfte weiterhin Szenen und Songs
durch »den roten Faden einer Handlung<< (obwohl seine Dominanz in diesem
Gewerbe während der dreißiger Jahre von Herbert Fields in den Schatten ge‑
stellt worden war, der die Textbücher für sieben Shows geschrieben hatte, alle
1 Bolton, zitiert in L. Davis, Bolton v o n Rodgers 8€ Hart und Cole Porter).1 Die Gepflogenheit, Buch und Songtex‑
arid Wodebouse und Kern, New te eher als gesonderte Posten zu behandeln als im Rahmen eines Textbuchs mit
York 1993, S. 282. Ko‐Autorenschaft ‐ selbst wenn beides das Werk eines einzigen Autoren w a r
2 P. G. Wodehouse, Tbc Agonies of
Writing a Musical Comedy, in:
(was im Goldenen Zeitalter oft zutraf) ‐, läßt darauf schließen, daß die Fähig‑
Vanity Fair 7 (März 1917), S. 39. keit, geistreiche Reime auf Musik (die nicht einmal für die gerade anstehende
3 R. Rodgers, Musical Slages: An Show komponiert worden sein mußte) abzustimmen, keine primär musikdra‑
Autobiograpby, New York 1995, matische war. Weil ein Songwriter oder ein Songwriterteam sowohl alle Lied‑
S. 105.
t e x t e als auch die Musik lieferte, gab eskaum Kontinuität zwischen Gesunge‑
n e m und Gesprochenem. Die Partitur einer Musical Comedy stellte n u r selten
mehr dar als ein Sammelsurium eigenständiger Songs, verschiedenartig in Stil
und Charakter, in kontinuierlicher Folge an Erzählsträngen entlang arrangiert‑
und abgestimmt auf die neuesten Trends in populärer Musik und Tanz (eine
Latinomanie überschwemmte das Land, als die Dekade sich dem Ende zuneig‑
te). Cole Porter beispielsweise lieferte oft doppelt so viele Nummern wie die
Show brauchte; es lag am Rest des Produktionsteams, sich Gedanken dar‑
über zu machen, welche m a n verwendete und wo. Das >>Buch<<, oder, wie P. G.
Wodehouse esdefinierte, »der Stoff, der die Nummern voneinander trennte<<,
mußte in der Regel Lücken haben, die mit Specialty Songs, Gags, Komiker‑
nummern oder anderem, auf die Hauptdarsteller zugeschnittenem Material
gefüllt werden konnten.Z Selbst bei den besten Musicalshows der zwanziger
Jahre zeigte sich, wie Rodgers feststellt, »eine entsetzliche Monotonie im Be‑
reich der Sujets.«3 Das Publikum erwartete kaum mehr als Unterhaltung, und
Theater‐ wie Musikkritiker behandelten das Musicaltheater als ein v o n Natur
aus niederes Genre. (Th. W Adornos Verachtung für diese Art v o n Massenkul‑
t u r w a r e erwuchs aus einer flüchtigen Bekanntschaft m i t der Musical Comedy,
als diese sich auf dem Tiefststand musikdramatischer Kohärenz befand).
Nichtsdestotrotz bemühten sich gegen Ende der dreißiger Jahre eine Hand‑
voll Komponisten, Lyricists, Bookwriter, Regisseuren und Produzenten behut‑
sam darum, kulturelles Prestige durch den Versuch zu erwerben, musikalische
und dramatische Standards aufzustellen Weill hatte zwei führende Dramati‑
ker, die nicht vom Musicaltheater kamen, überredet, mit ihm zu arbeiten: Paul
Green bei Johnny [obnson (1936) und Maxwell Anderson bei Knickerbocker
Holiday (1938). Produziert von Dramatikerkooperativen (vom Group Theatre
und der Playwrights’ Company) außerhalb des traditionellen Broadwaysystems
griffen beide Shows auf historische Themen zurück, um zeitgenössische Proble‑
me anzusprechen ‐ und heimsten Kritiker‐, aber keine Publikumserfolge ein
(abgesehen vom Evergreen September Song aus Knickerbocker). Abbott, der
sein Debüt als Regisseur im Alter v o n 47 Jahren m i t Jumbo (1935) gegeben
hatte, machte Balanchine in Rodgers 86 Harts On Your Toes (1936) mit dem
148 Das Goldene Zeitalter des Muskels

Bock‐Musical bekannt, ein anderes, v o n Hollywood verschmähtes Werk, aber


eines, das Ballett in seine Handlung integriert hatte. Dasselbe Team setzte die
Arbeit mit Babes in Arms (1937) und The Boys from Syracuse (1938) fort, dem
ersten Broadwayrnusical, das auf einem Drama Shakespeares (The Comedy of
Errovrs) beruhte. Die vorletzte Zusammenarbeit von Rodgers 8€ Hart, Higher
and Higher (1940), ging sang- und klanglos unter, zusammen mit einer dres‑
sierten Robbe, die ihr die Show stahl. Abbott w a r auch bei Pal joey (1940)
Produzent und Regisseur. Dabei handelte es sich um eine Musical Comedy für
Erwachsene über gekaufte Liebe, mit einem tanzenden Schuft als Anti‐Helden
(Gene Kelly in seiner einzigen Broadwayrolle). Premiere hatte Pal foey am er‑
sten Weihnachtstag, w a r aber ebenso kalt und zynisch im Tonfall wie raffiniert
im Umgang mit John O’Haras Kurzgeschichten und »bewitched, bothered und
bewildered<< Publikum wie Kritik. Obwohl es während der ersten Laufzeit n u r
374 Aufführungen erlebte, demonstrierte Pal joey bei seinem erfolgreicheren
Revival im Jahre 1952 (Skript und Partitur waren praktisch unverändert), wie
genau es die Prinzipien des Musicals im Goldenen Zeitalter vorweggenommen
hatte.
Weniger als vier Wochen nach der Premiere v o n Paljoey unternahm Lady in
the Dark sogar noch kühnere Schritte. Weill und Moss Hart hatten sich aus‑
drücklich vorgenommen, keine »konventionelle Musical Comedy<< zu schrei‑
ben, sondern ein ernsthaftes, beinahe didaktisches Stück‐Init‐Musik über Psy‑
choanalyse. Sie überredeten Ira Gershwin, erstmals nach dem Tode seines Bru‑
ders zum Broadwaymusical zurückzukehren, orientierten sich am gliedernden
Einsatz v o n Farbe und Schwarz‐Weiß in The Wizard of Oz und beschränkten
die Verwendung von Musik auf die Traumerzahlungen der Heldin auf der Couch
des Analytikers. Die Erinnerung an das Lied My Ship fungierte als Befreiung
v o n verdrängten Kindheitserfahrungen und führte zur Lösung des Konfliktes
im Plot. Ironischerweise geriet die Partitur eher durch Isolierung der musikali‑
schen Nummern als durch deren Integration in das Drama z u m Schlüsselwerk
für das Bühnendrama. Die Inszenierung kostete bestürzende 127.715 Dollar,
bei einer Besetzungstruppe v o n 54 und einer Crew V O n 41 Personen. »Seit Jah‑
ren die großartigste Partitur, die für das Theater geschrieben wurde‚<< befand
der Theaterkritiker der New York Times. Weills kaleidoskopische Musik für
die drei Traumsequenzen setzte sich aus einaktigen Miniopern zusammen, die
»frei assoziierend<< ein Aufgebot an musikalischen Stilen evozieren, das bis in
die Zeiten v o n Gilbert 8€ Sullivan zurückreicht und v o n Weill sämtlich selbst 1 B. Atkinson, Gertrude Lawrenee
instrumentiert wurde ‐ eine Praxis, die unter den Broadwaykomponisten des Appetits in Moss Harl’s Musical
Goldenen Zeitalters einzigartig war.1 Doch Lady in the Dar/e erwies sich ange‑ Drama, in: New York Times, 24.
Januar 1941; Reprint in D. Fare
sichts seiner eigenwilligen Konzeption als unwiederholbar und ohne einen so
neth (Hg.)‚ Kurt Weil]: Ein Leben
charismatischen Star wie Gertrud Lawrence, die Liza Elliot in allen 777 Auf‑ in Bildern und Dokumenten, Ber‑
führungen auf dem Broadway und während der Amerikatournee darstellte, als lin 2000, S.205. Die statistischen
unspielbar. Indes etablierte Lady in the Dar/e, zumindest in den Augen einiger Daten zu Lady in the Dar/e s t a m ‑
m e n aus B. McClung, Ameriaan
scharfsinniger Kritiker, die Trennung zwischen >Musical Comedy< und >Musi‑
Dreams: Analyzing Moss Hart,
cal Play<, die binnen kurzem Oklalaoma! zugeschrieben werden sollte. In des‑ Ira Gershwin, and Kurt Weill’s
sen Schatten wirkten Pal [oey und Lady in the Dark nur wie isolierte Leucht‑ »Lady in the Dar]: «,Dissertation,
feuer einer fernen Zukunft in einer für das Musical dunklen Periode. University of Rochester 1994-.
Das >IVIu5ical Play< und seine Vorläufer 149

Richard Rodgers und Oscar Haine


merstein II bei der Probe für Okla‑
boma!

Lady in the D a r ] : W a r das letzte Musical der Saison 1940/1941. Zu jener Zeit
gesellten sich am Broadway zu den schon lange laufenden Stücken Tobacco
Road, Life with Put/7er und The Man Who Came t0 Dinner die Stücke My
Sister Eileen, Arsem'c und Old Lace und Watch on tbe Rhine hinzu; Ed Wynn,
Al Jolson und Ethel Waters versuchten ein Comeback in Musicalshows und
Panama Hattie mit der Merman als Hauptdarstellerin wurde z u m Book‐Musi‑
cal mit der längsten Laufzeit seit den zwanziger Jahren. Damit bestätigte sich,
daß Make It Another Old-Fasbioned, Please (wie esin einem seiner Songs dop‑
peldeutig heißt) immer noch das sicherste Erfolgsrezept war. Die Kritiker klag‑
ten, daß die nächste Saison, in den Jahren 1941/1942, die schlimmste in der
Geschichte des Broadways war, denn die drei musikalischen Hits, Rodgers 8€
Harts letztes Gemeinschaftswerk By ]upiter‚ Porters Let’s Face l t ! und Abbotts
Bast Foot Forward, waren offensichtlich allesamt Schritte rückwärts. Mitten in
der Saison bombardierte Japan Pearl Harbor. Beinahe umgehend machte sich
das am Theater bemerkbar, denn steigender Wohlstand und ein m i t neuer Ener‑
gie erfülltes New Yorker Publikum, voller Soldaten und im Kriege Tätigen, zog
sich vom Tagesgeschehen und aus der eigenen Zeit zurück auf das nostalgische
Rendezvous mit einer amerikanischen Vergangenheit, die eher fiktiv als real
war. Von den vierundzwanzig Musicalproduktionen der Saison 1942/1943 w a ‑
r e n sieben Revivals, elf Revuen und n u r fünf neue Bock‐Shows. Porter und
Merman präsentierten Something for the Boys und Irving Berlin schloß sich
m i t einer n u r aus Soldaten bestehenden Besetzung für This Is the Army an.
Vielleicht aufgrund des nicht lange zurückliegenden Leinwanderfolges der sie‑
ben MacDonald-Eddy-Operetten erfreute sich sogar die Spielart der Wiener
Operette einer kurzfristigen Renaissance am Broadway. Eine Neubearbeitung
v o n Die Fledermaus als Rosalinda (dirigiert v o n Erich Korngold) brachte es
auf 521 Vorstellungen. Im Anschluß daran kam esin den nachfolgenden Spiel‑
150 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Abbildung links: Choreographin


Agnes de Mille probt das nDream Bal‑
let« in Oklabomal Photo: Archive
Photos. Abbildung rechts: >>Every‑
thing’s Coming up Roses<< für Echcl
Merman als Mama Rose in Gypsy k
(1959).

zeiten zu Revivals v o n The M671)! Widow, The Cbocolate Soldier und La belle
Helene (als Helen Goes t0 Troy) und von solch amerikanischen Abkömmlin‑
gen wie Victor Herberts Sweethearts und The Rad Mill, Rombergs The Student
Prince und Frimls The Vagabond King, was sogar so neuschöpferische Ausflü‑
gein das Genre wie Song ofNorway, Polonaise, The Pirebrand ofFlorence und
Up in Central Park inspirierte.
Vor diesem Hintergrund erfolgte am letzten Märztag 1943 das Debüt eines
neuen Teams: Rodgers 8€ Hammerstein. Dabei handelte essich um eine Fusion
der jeweils besten Praktiker aus der Tradition der Musical Cornedy beziehungs‑
weise der amerikanischen Operette. Ihre Show orientierte sich eng an Lynn
Riggs Schauspiel Green Grow the Lilacs v o n 1931, war auf >>Indianerterritori‑
um« um die Jahrhundertwende angesiedelt, hatte Rouben Mamoulian als Re‑
gisseur (der sowohl Porgy [1927] und Porgy und Bess [1935] als auch zahlrei‑
che Hollywoodmusicals inszeniert hatte), wurde choreographiert von Agnes de
Mille (kurz nach ihrem Erfolg mit Rodeo) und produziert v o n der Theatre
Guild für 75.000 Dollar mit einer Besetzungstruppe aus lauter Nobodys (dar‑
unter Alfred Drake und Celeste Holm). Bei ihrem Tryout in New Haven lief sie
als >Musical Cornedy< unter dem Titel Away We G0. >>Keine Mädchen, keine
Gags, keine Chance‚« hatte der Produzent Michael Todd prophezeit. Doch als
fünfeinhalb Jahre später die erste Broadwaylaufzeit beendet war, hatte esOkla‑
homa! auf 2.248 Aufführungen gebracht. Damit brach es den bisherigen Re‑
kord für ein Bock‐Musical in Höhe v o n 670 Aufführungen (Irene, 1919) und
etablierte einen neuen, der lange Jahre nicht übertroffen werden sollte ‐ bis My
Fair Lady 2.717 Vorstellungen feiern konnte. Bis z u m Jahr 1948 hatte Oklalao‑
ma! die höchste Zahl v o n Zuschauern in der Geschichte des amerikanischen
Musicaltheaters angelockt (acht Millionen Menschen auf beiden Seiten des
Das >IVIusica| Play< und seine Vorläufer l 51

Atlantiks), eine halbe Million Gast‐Alben verkauft, zwei Millionen Einzelaus‑


gaben und Hunderte von Aufnahmen einzelner Songs verbreitet. Es t o u r t e ein
volles Jahrzehnt lang durch das Land und brachte Rodgers und Hammerstein
je eine MillionDollar ein. Weit und breit wurde esals das erste gänzlich moder‑
ne Musical gepriesen, als erster tatsächlicher Fortschritt gegenüber Show Boat.
Viel Tinte ist geflossen, um die angeblichen Neuerungen von Oklabomal auf‑
zuzählen: erstes Album mit >>originaler Besetzung<< auf 78 U/min-Schallplatte
(es gab mehrere Vorläufe]; darunter Blitzsteins The Cmdle Will Rock [1937]);
das erste Musical, das auf eine Production Number zu Anfang verzichtete
(Anything Goes [1934] und Lady in the Dar/e hatten beide mit gesprochenem
Dialog eröffnet, letzteres ohne eine Ouvertüre); das erste Musical, das mit un‑
begleitetem Off‐Stage‐Gesang beginnt (spätestens seit Wagner ein gebräuchli‑
ches Verfahren); das erste >Musical Plav< (abgesehen v o n den Weillschen Vor‑
läufermodellen hatte schon Hammerstein selbst den Begriff in den zwanziger
Jahren als Euphemismus für Operette Verwendet, um die heimischen Formen
von den europäischen Spielarten zu unterscheiden), das erste auch, das ein
>>Traumballett« mit einbezieht (Rodgers selbst hatte das bereits getan, sowohl
in On Your Toes wie in I Marrled an Angel [1938]). Nicht einmal das Ausrufe‑
zeichen im Titel war ein Novum.
Was an Oklahoma! tatsächlich revolutionär war, erweist sich als subtiler:
Die Homogenität in Tonfall, Stil und Inhalt und die Amalgamierung sämtlicher
konstitutiven Elemente zu einem Drama, das sich durch eine neue Ernsthaftig‑
keit, Schlichtheit und Direktheit auszeichnet. Rodgers selbst formulierte esso:
>>Es war ein von vielen geschaffenes Werk, das den Eindruck machte, einer

l R. Rodgers, Musical Stages: An allein hätte eserfunden.«1. Bewufät schlicht gehaltene Songtexte schlossen sich
Autobiography, N e w York 1995, dort an, wo der Dialog endete, um die Handlung voranzutreiben und zu cha‑
5. 227. rakterisieren; Songs und Bewegungen wurden auf konkrete Charaktere zuge‑
schnitten, die an einem konkreten Ort während eines konkreten Zeitabschnitts
der amerikanischen Geschichte lebten; die Musik spiegelte die Form der Song‑
texte wider und vertiefte deren Inhalt; der Tanz half bei der Erzählung der
Story, hauptsächlich durch Offenlegung der psychologischen Dimensionen; sämt‑
liche Musiknummern waren laut Rodgers wesensmäßig miteinander verwandt;
die stilisiert bemalten Prospekte, die der regionalamerikanischen Landschafts‑
kunst von Grant Wood und Thomas H a r t Benton nachempfunden waren, ent‑
sprachen der bodenständigen Normalität der Diktion Hammersteins und Rod‑
gers’ Melodien, unter denen viele ganz bewußt auf damals anachronistische
Songformen zurückgriffen; die Komik ergab sich aus Charakter und Situation,
und die Darsteller sangen einander zu, sie >>präsentierten<< sich Weniger dem
Publikum. Verbannt wurden die virtuosen schauspielerischen >>Einlagen<<, die
Specialty Numbers und Gags, die witzigen und in den Reim verliebten Song‑
texte, die künstliche Distanz der Operette und die bunte Heterogenität, die der
amerikanischen Musical Comedy lange Zeit Publikumszuspruch eingebracht
hatten. Stattdessen verkörperte Oklahoma! das Ideal eines Musical Plays, das
die Einheitlichkeit eines echten Dramas anstrebte ‐ eine genuin amerikanische
Reformulierung des >dramma per musiczu, in dem Song und Tanz sich so nahtlos
in die Handlung einfügen, daß sie zu einem untrennbaren Bestandteil werden.
152 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Doch der Erfolg und die Wirkung v o n Oklahoma! können nicht n u r textinhä‑
rent erklärt werden. Oklahomal bediente sich einer romantisch verklärten Ver‑
gangenheit, um Amerika in Kriegszeiten direkt anzusprechen, um zu artikulie‑
ren, welche Werte die Amerikaner gemeinsam vertraten, wofür das Land kämpf‑
te. Olelahoma! beschäftigt sich in erster Linie m i t dem Heraufbeschwören und
der Verteidigung von Gemeinschaft: »Leute auf dem Land sollten zusammen‑
halten.« Die Show enthält lediglich drei Solonummern, v o n denen zwei ein
>>Publikum<< auf der Bühne haben. M i t einer Ausnahme spielen alle Szenen
u n t e r freiem Himmel und präsentieren Waffen, so, als solle das unüberhörbare
Thema der Show bestätigt werden: »Farmer und Cowboy und Händler sollten
sich alle zusammenreißen und brüderlich sein<<. Parallele Haupt- und Neben;
liebesgeschichten in Dreieckskonstellation stellen den persischen (sprich jüdi‑
schen) fahrenden Händler Ali Hakim als assimilierbaren ethnischen »Ande‑
ren« dar. Der »bullet‐coloured«, sexuell angsteinflößende Jud hingegen, dessen
Nachname »Fry« deutschen Ursprungs sein könnte, wird als rassisch definier‑
te, nicht assimilierungsfähige Bedrohung gebrandmarkt. Der moralische Impe‑
rativ, der die amerikanische Bevölkerung gegen solch fremdes »Volk<<1 mobili‑ 1 Im Original deutsch (A.d.Ü.).
sieren sollte, verlangte Juds Tod, um die hart erkämpfte Gemeinschaft in finst‑ 2 Interview mit Hammerstein von
O. Guernsey Jr.‚ Hammerstein, a
r e n Zeiten rein zu waschen.
Broadway Stege Dynasty, in: New
Obgleich Oklahoma! nach und nach zum Meilenstein für das Genre des York Herald Tribune, 12. Dezemu
Musical Plays wurde, dauerte es mehrere Spielzeiten, bis sich seine Nachwir‑ ber 1943; zitiert in D. M.
kungen in vollem Umfang bemerkbar machten. Während der Saison 1943/1944 D’Andre, The Theatre Guild, Ca‑
rouselJ and the Culmral Field cf
konnte sich das Publikum immer noch für Operetten alten Stils und Musical American Musical Theatre, Dis‑
Comedies entscheiden (Porters Mexican Hayride und Charigs Follow the Girls), sertation, Yale University 2000.
die ostentativ keine Notiz v o m Beispiel Olalahornas! genommen hatten. Alan 3 W. Gibbs, The Theater: Pygmali‑
Jay Lerner und Frederick Loewe gaben ein unglückliches Debüt mit What’s on and Mary Martin, in: The New
Up? und Hammersteins noch vor Oklahorna! entstandene Adaption von Car‑ Yorker 19 (16. Oktober 1943), S.
44; L. Nichols, One Touch of Ve‑
m e n als >Musical Play< Carrnen jones lief 503 Vorstellungen lang, m i t einer nus, in: New York Times, 17.
Besetzung nur aus Farbigen, die »Oper am Broadway<< sangen. »Das Blut in Oktober 1943. In P.M. bemerkte
Carmen fließt röter als in Olelahomak, erklärte Hammerstein, »doch eigentfi Louis Kronenberger: »Venus
lich haben sie dieselbe dramatische Form.«Z Weill, dessen Rivalität mit Rod‑ bricht wie Oklalrorna! mit der
Tradition der Musical Comedy.
gers sich von Show zu Show fortsetzte, verpflichtete die versiertesten amerika‑
Doch wo Oklahoma/ den Geruch
nischen Humoristen, Ogden Nash und S.J. Perelman, als Mitarbeiter für One von frischgemähtern Heu hat, ist
Toueh of Venus, eine ausgesprochen >>New York-typische« Variante des Pyg‑ Venus wie künstliches Parfum.«
malionmythos. Sie enthielt zwei lange Ballettsequenzen in einer Choreographie 4 In ihrer Besprechung von Bloomer
von Agnes de Mille, die Balanchine als BroadWays führenden Choreographen Girl in der New York Post vom 6.
Oktober 1944 klagte Wilella Wale
rasch abgelöst hatte. M i t Mary Martin in ihrer ersten Hauptrolle und 567 dorf, wegen des Erfolges v o n
Vorstellungen wurde die Venus Weills erfolgreichste Broadwayshow ‐ und die‑ Oklalroma! »sehen wir mehreren
jenige, in der er der Musical Comedy am nächsten kam. Obgleich die Kritik Spielzeiten mit gründlich veralte‑
beinahe einmütig urteilte, daß >>One Tone/4 of Venus kein zweites Oklahoma! t e n Kuriositäten entgegen.« Zitiert
in S. Suskin, Opening Night on
ist, sondern ein paar Landmeilen davon entfernt<<‚ erklärten die meisten auch, Broadway:A Critieal Quotebook
essei die »beste neue Musicalshow, die seither Premiere hatte.<<3 of the Golden Era of the Musical
In der nächsten Saison kehrte Romberg mit Up in Central Park an den Broad‑ Theatre, »Oklahoma!« (1943) to
way zurück und Harold Arlen und Yip Harburg reagierten mit Bloorner Girl »Fiddler on the Roof« (1964),
New York 1990, S. 92.
auf Oklalaornah“ Die bedeutendsten Ereignisse freilich waren Carousel, Rod‑
gers 8€ Hammersteins Adaption v o n Ferenc Molnars Liliom, die das Engage‑
153
Das Musical und seine Subgenres

m e n t desMusical Plays in Richtung Oper intensivierte, und On the Town,


Abbotts bahnbrechende Musical Comedy im neuen Stil. On the Town, das
Robbins’ Tanzsequenzen aus dem Ballett Fancy Free mit einer erweiterten Par‑
titur von Bernstein und den Songtexten der gemeinsamen Broadwayneulinge
Betty Comden 86Adolph Green vereinte, geriet genauso unverfroren großstä‑
dtisch und durchpulst vom Rhythmus des Jazz wie Oklahoma! ländlich und
schlicht gewesen war. Da seine Neuerungen in die Musical Comedy hinein‑
reichten, bestand für Oklahoma! nicht länger die Gefahr, wie Show Boat als
vereinzeltes Phänomen dazustehen. Eine neue Generation v o n schöpferischen
und darstellerischen Talenten kündigte sich an. In den nächsten beiden Jahr‑
zehnten sollte das Musical auf dem soliden Fundament der >>integrierten<<
Musicalshow aufbauen. Das Goldene Zeitalter hatte begonnen.

Das Musical und seine Subgenres


Nach Oklahoma! versuchte so manche Operette alten Stils und so manche
schablonenhafte Musical Comedy vom Etikett des Untertitels >>Ein neues M u ‑
sical Play<< zu profitieren. Solche Verkaufslabels unterlagen natürlich keinerlei
der Wahrheit verpflichteten Werbestandards. Allerdings weckten die Untertitel
gewisse Erwartungen von seiten des Publikums und der Kritik, die allmählich
begannen, je nach Genrezugehörigkeit andere Maßstäbe an die Shows anzule‑
gen. Als Versuch, sich sowohl von Oklalooma! als auch vom dominierenden
Typus der Musical Comedy zu distanzieren, hatte beispielsweise One Touch of
Venus sein Debüt ohne irgendeine dieser Bezeichnungen. Die Kritiker waren
offenbar irritiert und in Hinsicht.auf die Entscheidung gespalten, ob m a n esals
>ein Musical Play< oder >eine Muscial C0medy< bezeichnen (und rezensieren)
sollte. Trotzdem faßten die meisten On the Toum als eben die >neue Musical
1 L. Bernstein, The joy of Music,
Comedy< auf, als die es sich ausgab, gemäß den Normen der Musical Comedy
New York 1959, S. 175. Das Eti‑
kett >>Musical Play<< war schon in und ohne irgendeinen Bezug zu Oklahoma! oder zum Musical Play. Mitte der
den zwanziger Jahren als Euphe‑ vierziger Jahre unterschieden Kritiker mehrere Subgenres beim aktuellen Musi‑
mismus für eine neue amerikanix caltheater, u.a. Revue, Operette, Musical Comedy und Musical Play. Das jüng‑
sche Spielart der Operette verwen‑ ste, das Musical Play, wurde als Zwitter angesehen, der den Bereich zwischen
det worden. Im Anschluß an den
Erfolg des rMusical Plays« Rose‑ der Musical Comedy und der Oper besetzte und den veralteten Typus der ame‑
Marie im Jahre 1925 bemerkte rikanischen Operette verdrängte bzw. absorbierte. >>Eine neue Spielart ist durch
dessen Lyricist Oscar Hammer‑ Kreuzung aus der Vergangenheit entstanden<<, socharakterisierte Bernstein die
stein, daß der Typus der Musical‑ Entwicklung.‘ Doch waren die Linien, die die Grenzen zwischen den verschie‑
show, >>der alle Zeichen des end‑
gültigen Sieges aufweist, die Ope‑
denen Subgenres des Musicalthearers markierten, ungenau und wurden stän‑
rette ist ‐ das Musical Play, wo dig neu gezogen, wenn erfolgreiche neue Modelle alternative Paradigmata prä‑
Musik und Plot in kunstvollem sentierten und Subgenres einander beeinflußten.
Zusammenhalt miteinander ver‑ Die Terminologie blieb schwankend, aber nach und nach kristallisierte sich
bunden sind. Dies ist das einzige heraus, daß bestimmte schöpferische Teams, Regisseure, Produzenten, Cho‑
Genre, das Jahre nach seiner Pre‑
miere wiederaufgeführt wird.« reographen und Darsteller sich auf die Musical Comedy spezialisierten, andere
(Theater Magazine, Mai 1925). auf das Musical Play. Auf dem Gebiet der Musical Comedy, nicht aber des
Musical Plays, übernahm Abbott die Regie, produzierten Feuer 86Martin, cho‑ Abbildung links: Sky Mastcrson (Ro‑
bert Alda) und Nicely Nicely (Stub‑
reographierte Gower Champion, schrieben Porter 86 Fields und wirkte Ethel by Kaye) beim Würfeln in »the Ol>
Merman als Darstellerin. Rouben Mamoulian, Edwin Lester, Agnes de Mille, dest Established, Permanent Crap
Lerner 8€ Loewe und Alfred Drake spezialisierten sich auf Musical Plays. Ob‑ Game« in Guys anal Dolls (1950).
wohl einige Fachleute hin- und herwechselten ‐ vornehmlich in der Zeit, als in Photo: Eileen Darby. Abbildung
den Zwitterformen der zweiten Generation die Merkmale diverser Subgenres rechts: Der Bariton der Metropolitan
Opera Robert Weede gibt der Beset‑
miteinander kombiniert wurden ‐, waren die Unterschiede zwingend genug, zungstruppe im Titelsong v o n The
um sogar Rodgers 8€ Hammerstein von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihr Most Happy Fella den Ton an
Backstagemusical Me und jnliet von 1953 als eine >neue Musical Comedy< zu (1956). Photo: Arthur Cantor
bezeichnen. All ihre vorherigen Arbeiten hatten sie im Gegensatz dazu als
Musical Plays eingestuft. In der Tat waren es fast das gesamte Goldene Zeitalx
ter hindurch die selbst proklamierten Untertitel, die Publikum und Kritik mit
recht zuverlässigen Angaben versorgten. South Pacific, Tbe King und I, My
Fair Lady, The Sound of Music, Camelot und Man ofLa Mancha waren Musi‑
cal Plays. Kiss Me, Katel, Gentlemen Prefer Blondes, Wonderful Town, Call
Me Mndam, Can-Can, Pa/ama Garne, Li’l Abner, TIM Music Man und Helle,
Dolly! firmierten als Musical Comedies. Produzenten anderer Shows waren
kreativer bei ihren Versuchen, die potentielle Zuhörerschaft davon zu überzeu‑
gen, daß ein neues Attribut nichts weniger als Routine versprach. Da hieß es:
Kismet, Eine musikalische arabische Nacht; Magdalena, Ein neues musikali‑
sches Abenteuer; Love Life, Ein Vaudeville; Lost in tbe Stars, Eine musikali‑
sche Tragödie; Guys und Dolls, Eine musikalische Fabel vom Broadway. Viel‑
leicht kamen jene Untertitel, die am wenigsten den Tatsachen entsprachen, als
Euphemismen auf, urn das gefürchtete Wort >Oper< zu vermeiden, das die Pro‑
duzenten anscheinend mit einem sicheren Verhängnis für die Theaterkasse gleich‑
setzten: Street Scene, Ein dramatisches Musical; The Medium und The Tele‑
phone, Musical Plays; Regina, The Rape of Lucretia, The Consul, The Saint of
Bleecker Sireet, Musikdramen. 1945 verwandte der Produzent M a x Gordon
die neutralere und weniger spezifische Bezeichnung >Ein neues Musical<, um
die glücklose Weill‐Gershwin‐Operette The Firebrand of Florence zu tarnen,
und sowohl Annie Get You Gnn als auch Finian’s Rainbou/ folgten im Unterti‑
tel diesem Beispiel. Mitte der fünfziger Jahre war der Oberbegriff Musical zur
155
Das Musical und seine Subgenres

N o r m geworden. Vielleicht zeigte er an, daß die Grenzen zwischen den Sub‑
genres des Musicaltheaters immer diffuser wurden, weil Viele Shows Idiome,
Modelle und Normen mehrerer traditioneller Subgenres miteinbezogen. Damn
Yankees, Flower D r u m Song, The Most Happy Felle, West Side Story, Fiorel‑
lol, Gypsy, Oliver!‚ She Loves Me, Camival, Fanny, Piddler on the Roof und
Mame, sie alle wurden als einfache >Musicals< produziert, besucht und bespro‑
chen.
Rick Altman hat in seiner einflußreichen und differenzierten Genrestudie
des Filmmusicals die Fallgruben aufgezeigt, die sich auftun, wenn m a n die Be‑
grifflichkeit der Historie des Genres als Basis für eine Gattungstheorie und
1 R. Altman, The American Film ‐kritik verwendet.1 Im Rahmen einer Untersuchung, welches Potential verschie‑
Musical, Bloomington 1989. dene alternative Ansätze einer Gattungsdefinition besitzen (u.a. ideologisch,
2 Ebenda, S. 126f. ritualistisch, publikumsorientiert, industrieorientiert, semiotisch, strukturell),
stellt Altman die These auf, daß n u r die Kombination eines semantischen An‑
satzes (der gemeinsame Inhalte, Szenerien und narrative Archetypen benennt)
m i t einem syntaktischen (welcher übereinstimmende Strukturen, Idiome, Stan‑
dards, Präsentationsmechanismen und narrative Strategien dingfest macht) >>dem
notwendigerweise dualistischen Charakter<< des Korpus v o n Musicalfilmen
gerecht werden kann. Altman schlagt vor, von drei Subgenres des Filmmusicals
zu sprechen: Das >Fairy TaleAMusicah, ein Abkömmling aus der Operettentra‑
dition, spielt in den exotischen, imaginären Reichen von Palästen, Erholungs‑
o r t e n und Hotels, handelt v o n der Wiederherstellung der Ordnung bei einem
Protagonistenpaar, das offen sexuelle Wünsche bekundet, und setzt dies in Par‑
allele zur Wiederherstellung der Ordnung im Königreich. So soll demonstriert
werden: >>Heiraten bedeutet zu herrschen<< (unter seinen Beispielen befindet
sich Loz/e Me Tonight, Top H a t und Sout/a Pacific). Das >Showmusical< ist in
einem Mittelschichtmilieu des schönen Scheins angesiedelt. In der Regel sugge‑
riert das Theaterheft oder die Magazinpublikation (meist in New York) an‑
hand eines Protagonistenpaares, das m a n mit dem Entstehen eines Kunstwer‑
kes assoziiert, daß >>Heiraten bedeutet, etwas zu schaffen<< (42ml Street, Lady
in the Dar/e, Singin’ in the Rain). Das >Folkmusical< spielt im ländlichen oder
kleinstädtischen Amerika v o n Vorgestern. Die Vereinigung zweier Individuen
zu einem Paar korrespondiert der Bildung einer landverbundenen Gemeinschaft,
um zu suggerieren: >>Heiraten bedeutet, eine Gemeinschaft zu bilden<< (Rose
Marie, Stute Fair, Paint Your Wagon). Altman nuanciert diese Definitionen
beträchtlich bei der differenzierten Interpretation einzelner Filme; er gesteht
auch zu, daß sich einige Musicalfilme, insbesondere Show Baut, niemals >>ei‑
nem einzigen Subgenre verschreiben <<‚ sich vielmehr >>Von einem semantischen
Feld zu einem anderen [bewegen], von Syntax zu Syntax, [...] zwei Modi auf
eine neue und bedeutsame Weise kombinieren, eine unerwartete Syntax einer
vertrauten Semantik überstülpen oder beliebig ein Subgenre mit einem anderen
vermischen.«2 Obwohl diese Beobachtung auch für das >Bühnen‐Musical< im
Goldenen Zeitalter zutrifft, läßt sich leicht zeigen, wie problematisch Altmans
drei Subgenrekategorien für Filme, die auf Broadwaymusicals des Goldenen
Zeitalters zurückgehen, sind. Eine Liste von völlig disparaten Erzeugnissen, die
er als >Folkmusicals< klassifiziert, bezeugt das (in der Reihenfolge ihrer Kino‑
156 Das Goldene Zeitalter des Musicals

premieren): On the Town, Annie Get Yom Gun, Cuys und Dells, Oklahomal‚
Porgy and Bass, West Side Story, The Music Man und Hello, Dollyl.
Abgesehen von jenen Fällen, wo sich Musicals des Goldenen Zeitalters mit
ihren Eigenarten bereits unwiderruflich bei einer breiten nationalen Zuhörer‑
schaft etabliert hatten, verzichtete die Filmindustrie selten darauf, die originale
Bühnengestalt teilweise bis zur Unkenntlichkeit abzuändern ‐ durch offenkun‑
dig falsche Besetzungsentscheidungen, die mehr m i t finanziellen Erwägungen
als der Eignung für eine Rolle zu t u n hatten. Dies wiederum machte Änderun‑
gen am Charakter und an der Handlung erforderlich, die Synchronisation v o n
Stimmen, die Transposition und den Austausch oder die Interpolation von Songs
(zuweilen von anderen Komponisten), um der Besetzung gerecht zu werden.
Wenn die originale Partitur erhalten war, arrangierte m a n sie oftmals neu, d.h.
es wurden Songs fallengelassen oder ausgewechselt, Songtexte geändert, Tanz‑
musik neu komponiert und die vielseitige Palette der Broadwaypartitur dem
Image der Zeit, des Studios oder des Stars entsprechend auf einen einheitlichen
Nenner gebracht. Dennoch spielen solche musikalischen Erwägungen in Alt‑
mans Klassifikationssystem für das Filmmusical eine ebenso geringe Rolle wie
beim Hollywoodproduktionssystem selbst. Die spezielle Mischung und Mani‑
pulation von musikalischen Idiomen, Stilen und Normen, von Syntax und Dar‑
stellungsmodi indes w a r der maßgebliche Anhaltspunkt, der Produzenten, Zu‑
hörern und Kritikern von Musicals des Goldenen Zeitalters bei der Unterschei‑
dung von dessen diversen Subgenres half. Am Broadway t a n z t e m a n in West
Side Story und The Music Man zu gänzlich verschiedenen Melodien, in On the
Town und Oklahoma! ertönten Klangwelten, die mehr als n u r geographische
Distanz voneinander trennte, und Annie Get Your Gun und Porgy and Bess
waren alles mögliche, aber keine >>Verwandtschaft v o m Lande«. Wenn sie t r o t z
ihrer enormen syntaktischen Unterschiede allesamt unter die Kategorie des >Folk‑
musicals< subsumiert werden können (offensichtlich weil ihnen eine Art von
abstrahiertem meta-narrativen Archetyp gemeinsam ist), so scheinen Altmans
Klassifikationen n u r begrenzt für die Differenzierung der meisten Broadway‑
musicals des Goldenen Zeitalters geeignet zu sein. Die syntaktischen Muster
und Verfahren des Broadwaymusicals und des Hollywoodmusicalfilms sind in
Wirklichkeit so verschieden voneinander ‐ insbesondere was die Differenzie‑
rung und die Verwendung von diegetischen und nicht-diegetischen Modi an‑
langt ‐, daß Sondheim vorgeschlagen hat, sie sollten als unterschiedliche Gen‑
res angesehen werden, t r o t z gelegentlicher Berührungspunkte oder Schnittstel‑
len. (Dennoch haben Forscher, die über das Musical arbeiten, speziell in Euro‑
pa, die beiden Medien zu häufig ineins gesetzt und sind fälschlich davon ausge‑
gangen, da3 ein Broadwaymusical auf der Basis seiner Filmadaption analysiert
werden könne.)
Das Fehlen einer praktikablen und verständlichen Alternative zu einer hi‑
storisch begründeten Gattungstypologie stellte sich schon zu Beginn des Golde‑
nen Zeitalters als ärgerlich heraus, als der Theaterkritiker der New York Times
die vage Klassifikation >Musical Play< für untauglich befand, um Okla/aoma! 1 L. Nichols, Besprechung von
zu charakterisieren. Seiner Ansicht nach w a r es zutreffender, hier v o n einer Oklahomal, in: New York Times,
>>Voiks0perette<< sprechen.1 Was zunächst wie ein begrifflicher Widerspruch 1. April 1943.
157
Das Musical und seine Subgenres

aussieht, mag jedoch noch eine andere Bedeutungsebene von Rodgers 86 Ham‑
mersteins viel verkündeter >>Integration<< andeuten: Die Kombination der >>be‑
sten Eigenschaften des Balletts an der Met mit ein paar der besten Eigenschaf‑
ten jener großen Tradition, mit der der Broadway das Theater auf seine eigene
1 B. Rascoe, in New York World‑ typische Weise bereichert hat<<, wie ein anderer Kritiker es formulierte.1 In
Telegram, zitiert in S. Suskin, Oklahoma! half die Integration von Gattungskonventionen und -erwartungen
Opening Night an Broadway: A verschiedener Typen des Musicaltheaters in einem einzigen Werk faktisch bei
Critiml Quotebook ofthe Golden
Eva of the Musical Theatre,
der Unterscheidung seiner >>volkstümlichen<< Elemente von den >>0perettenhaf‑
»Oklal70ma!« (1943) t0 >>Fiddle7 ten<<: Beispielsweise singt das Protagonistenpaar Laurey und Curly in Operet‑
on the Roof« (1964}, New York tenmanier mit >>echten<< Sopran‐ und Baritonstimmen, das weniger selbstbe‑
1990, S. 501. wußte, weniger gebildete Nebenpaar indes, Will Parker und Ado Annie, prä‑
2 Holm, zitiert in M. Katz Frommer/
sentiert sich in einem weniger >>kultivierten<< >Musical Comedy<‐Tonfall. >>Ich
H. Frommer, It Happened on
Broadway:An Oml History ofthe wünsche mir eine freche, unausgebildete Farmersmädchenstimme<<, hatte Rod‑
Great White Way, New York gers Celeste Holm bei ihrem Vorsingen für die Rolle der Ado Annie mitgeteilt.
1998, S. 101. Sie bekam die Rolle wegen der Art, wie sie ein Schwein herbeilockte.Z
3 Im Original deutsch (A.d.Ü.). Die syntaktische Verwendung von Normen und Tonfällen entwickelte sich
während des Goldenen Zeitalters zu einem äußerst komplexen Bedeutungs‑
code, der v o m Wiedererkennungsgrad beim Publikum und entsprechendem
Casting durch die Produzenten abhing. In Kiss Me, Katz sind das Protagoni‑
sten‐ und das Nebenfigutenpaar ebenfalls durch Gesangsstil und musikalisches
Idiom voneinander unterschieden. N u r in jener doppelt sicheren Theateratmo‑
sphäre, die »\Wunderbar«3 evoziert (ein Walzerduett aus einer Wiener Operet‑
te, die sie lange zuvor aufgeführt hatten), ist esden zerstrittenen Schauspielern
Fred und Lili möglich, einander ihre wachsende Zuneigung einzugestehen.
Gefiltert durch die gemeinsame Erinnerung erlaubt ihnen die künstliche Welt,
die durch jenen musikalischen Tonfall heraufbeschworen wird, ihre Liebe in
Gegenwart wie Vergangenheit zu bekennen. Und weil sie die stimmlichen An‑
forderungen des Duetts als professionelle Darsteller zu bewältigen vermoch‑
ten, erkennt das Publikum diesen gehobenen Gesangsstil für den restlichen Abend
als ihren ureigenen an, hinter der Bühne und auf der Bühne. In South Pacific
bedient m a n sich ähnlicher Konventionen aus den entgegengesetzten Gründen.
Die Zuhörer müssen nicht erst den inneren Monologen der >>Twin Soliloquies<<
lauschen, umzu wissen, daß Emile >>ein kultivierter Franzose<< und Nellie >>eine
kleine Landpomeranze<< ist. Der kulturelle, ethnische und intellektuelle Gra‑
ben, der das Paar trennt, offenbart sich in der Art und Weise, wie sie singen. Als
>>verrückte Optimistin « mit der »üblichen rosa Brille vor Augen« >>schmettert<<
Nellie, die sowohl aus Little Rock, Arkansas wie aus der Musical Comedy
stammt, mädchenhaft ihren Part. Emile tönt majestätisch mit einer Opernbra‑
vurstimme. N u r einmal in der Show singen sie gleichzeitig: Unmittelbar nach‑
dem Nellie erklärt hat, sie beide seien >>im Grunde die gleiche Art Mensch<<,
befinden sie sich bei Sweet Adeline’ Fashion, einer Reprise von Nellies A Cock‑
eyed Optimist, harmonisch miteinander im Einklang. Das Resultat ist weder
romantisch noch überzeugend, sondern komisch. (In den Zeiten ohne Verstär‑
ker war ein so ungleiches, duettierendes Paar auch ein akustisches Problem). In
Extrapolation der romantischen Musicalnorm, daß Paare, die zueinander ge‑
hören, auch miteinander singen, dreht sich das Finale des zweiten Aktes um
L58 V V Das Goldene Zeitalter des Musicals

Nellie, die das französische Lied singt, das zu Beginn des Musicals erklungen w a r Abbildung links: Mary Martin und
‐ nicht mit Emile, sondern mit seinen polynesischen Kindern als Stellvertretern. E710 P i n “ imDuett in 50W” P6161795
Auch der Schluß v o n My Fair Lady gründet auf der Enttäuschung konven‑
tioneller Hörerwartungen. Eliza Doolittle und Henry Higgins sind ebenfalls des Covem Gardenin M3, 1 W , Lady '
ein offensichtlicher Mißgriff; w e n n sie jemals ein Paar werden sollen, muß sie (1956).
lernen, richtig zu sprechen und er muß seine Selbstbezogenheit und seine emo‑
tionale Distanz überwinden, um richtig singen zu können. Als der erste Akt zu
Ende ist, hat Eliza Higgins’ Lektionen erfolgreich beendet und ihre Verwand‑
lung im doppelt‐beschwingten I Could Have Danced All Night gefeiert, wo sie
sich auch ihre tiefen Gefühle für den Lehrmeister eingesteht. In einem analogen
Moment der Selbsterkenntnis im zweiten Akt realisiert der unverbesserliche
Weiberfeind Higgins, daß er Eliza vermißt, aber er ist außerstande, eine passen‑
de Ballade zu singen, um seiner Liebe Ausdruck zu verleihen (und wenn er dies
nur für sich selbst täte). Das Höchste der Gefühle ist ein egozentrischer Mono‑
logsong mit dem Bekenntnis I’ve Grown Accustomed T0 Her Face. Das Publi‑
kum braucht den letzten Satz der Show: >>Eliza? Wo zum Teufel sind meine
HausschuheP<< eigentlich nicht, um die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die gan‑
ze Zukunft des Paares v o n Higgins’ keineswegs revidierten Vorgaben abhängt.
Ein Inventar analoger musikdramatischer Verfahren, die sich aus genrespezi‘fi‑
schen Normen und Erwartungen herleiten, wäre beinahe unerschöpflich, und
eine differenzierte klassifizierende Untersuchung des Bühnenmusicals im Gol‑
denen Zeitalter würde mühelos ein Buch füllen. Hier muß es daher genügen,
allein die elementaren Umrisse einer begrenzten Zahl v o n Subgenres des Book‑
Musicals in dieser Periode zu skizzieren.
Die Musical Comedy bietet einen geeigneten Ansatzpunkt, weil ihre Ent‑
wicklung seit dem Ersten Weltkrieg beinahe kontinuierlich verlief. Damals hat‑
t e n die Wodehouse-Bolton‐Kern-Shows am Princess Theater Premiere. Die
159
Das Musical und seine Subgenres

Schlüsselfigur der Musical Comedy im Goldenen Zeitalter war der Regisseur,


Produzent und Bookwriter George Abbott, der Carlo Goldoni des Subgenres.
Unter seinem Einfluß entwickelte sich die Musical Comedy aus einer Abfolge
von Songs und Komikernummern im Rahmen eines wohldisponierten Boy‑
meets-Girl-Schemas zu einem vitalen, schlüssigen, aber heiteren Bock-Musi‑
cal, das meist im zeitgenössischen urbanen Amerika angesiedelt und mit außer‑
gewöhnlichen, doch wohlbekannten Rollentypen bevölkert war: Matrosen,
Playboys, Athleten, Politiker und Gangster, samt den Frauen, die sie liebten. Es
war temporeich, vom Jazz inspiriert, unterhaltsam und explodierte v o r Ener‑
gie. Tanz und großangelegte Production Number besaßen einen höheren Stel‑
lenwert als echter Gesang und realistische Charakterisierung. Stilistisch und
klanglich war eine Tendenz zur Orientierung an den aktuellen Trends der p 0 ‑
pulären Gesangs‐ und Tanzstile zu verzeichnen. Die raffinierten Songtexte mit
zeitgeschichtlichen Allusionen waren auf die umgangssprachliche Ausdrucks‑
weise der Dialoge abgestimmt und die Unterscheidung zwischen Sprache und
Gesang fiel weniger markant aus als beim Musical Play. So entfiel der Bedarf
an ausgedehnten musikalischen Szenen als Überleitung von Dialog zu Song.
Die Komik ergab sich nun aus Charakter und Situation. Die Heldinnen (unter
ihnen Merman, Martin, Carol Channing, Lisa Kirk, Gwen Verdon und Judy
Holliday) neigten zu einem metallischen Timbre. M a n bevorzugte ihre >>schmet‑
ternden<< Stimmen nicht n u r W e g e n deren Affinität zu den Sprechregistern weib‑
licher Darsteller, sondern auch aufgrund ihrer Eignung, die Songtexte über ein
Orchester mit umfangreicher Blech‐ und Holzbläsergruppe hinweg bis zur letz‑
t e n Reihe der 1.200 bis 1.400 Sitze umfassenden Theater zu verbreiten. Männ‑
liche Hauptrollen Wurden gewöhnlich einem Bariton anvertraut, doch vielfach
handelte es sich eher um »Crooner« oder >>Song and Dance‐Männer« als um
ausgebildete Sänger. Die Nebenrollen, in denen in begrenztem Maße der form‑
loser strukturierte »performative« Raum überdauerte, wie ihn der ältere Typus
der Musical Comedy zuließ, wurden Comedy‐Spezialisten anvertraut. Weil schö‑
ner Gesang nicht zu den zentralen ästhetischen Anliegen gehörte, beschäftigte
die Musical Comedy problemlos Schauspieler und Darsteller aus anderen Be‑
reichen, insbesondere v o n Film und Fernsehen, nachdem die Einführung des
Verstärkers Ende der fünfziger Jahre unausgebildete Sänger in die Lage versetzt
hatte, für Hauptrollen verpflichtet zu werden. Die Arbeitsteilung zwischen sin‑
genden und tanzenden Chören verschwand allmählich, denn ein Aufgebot an
vielseitigen, in beiden Bereichen qualifizierten Darstellern (bekannt unter der
Bezeichnung >>Gypsies<<, da sie von einer Kompanie zur anderen wanderten)
ermöglichte die Realisierung von Chorarrangements, die weniger komplex als
die eines Musical Plays waren. Die direkte Publikumsansprache blieb als Dar‑
stellungsform gültig, besonders in jenen Musicals, deren Charaktere selbst
Darsteller waren und die insofern diegetisch in einer Show-in‐der‐Show singen
konnten. Einige Schlüsselsongs der Musical Comedy wandelte m a n gewöhn‑
lich in längere ProductionNumbers um, was die Show buchstäblich >>zum Stillx
stand brachte«‚ ohne daß man sich um eine Einbettung in den Plot, den impli‑
ziten Wandel im metadramatischen Diskurs oder die Fähigkeit des Publikums,
seinen Unglauben beiseite zu lassen, gekümmert hätte.
160 Das Goldene Zeitalter des Musicals

In Abhängigkeit von der Minimalbesetzung des Hauses und v o n gültigen Ver<


einbarungen mit der Musikergewerkschaft rangierte die Größe des Orche‑
sters zwischen 21 und 27 Instrumentalisten. Dabei war für die vier oder fünf
>>Reed Books<< eine Gruppe von Musikern erforderlich, die allesamt Saxo‑
phon und Klarinette spielen konnten, wobei Einzelne zusätzlich Flöte bzw.
Piccolo, Oboe bzw. Englisch H o r n und Fagott übernahmen. Solch eine Viel‑
seitigkeit erlaubte es dem Instrumentator, von einem >>klassischen<< Holzblä‑
serchor zu einer >>Big Band«‐Holzbläsergruppe zu wechseln, sogar innerhalb
einer Nummer. Die kleine Streichergruppe verzichtete gewöhnlich auf die
Bratschen und belief sich auf sechs bis acht Geigen, ein oder zwei Celli und
einen Kontrabaß. Drei Trompeten und zwei oder drei Posaunen (je nachdem,
ob das Horn wegfiel) verliehen dem Klangbild den charakteristischen >>Broad‑
way<<‐Touch. Die Rhythmusgruppe umfaßte üblicherweise Klavier und Schlag‑
zeug (ein oder zwei Spieler, unabdingbar war ein D r u m Set) und bisweilen
Gitarre bzw. Banjo. Die Instrumentationstechnik für so eine Besetzung hatte
ein solches Niveau erreicht, daß die Komponisten normalerweise auch Tanz‑
und Vokalarrangements, Bühnenmusik und die Kompilation der Ouvertüre
und der Entr’actes einem Experten aus der kleinen Schar v o n Broadway-Or‑
chestratoren überließen: Hans Spialek, Philip Lang, D o n Walker, Ted Royal
und Robert Russell Bennett. Daß Bennett, um ein Beispiel anzuführen, wäh‑
rend seiner langen Karriere die Instrumentation für über dreihundert Shows
lieferte, laßt esumso bemerkenswerter erscheinen, daß so viele Musicals den‑
noch ein charakteristisches, n u r für ihr spezielles Sujet geeignetes Klangbild
erhielten. Welch ein Niveau eine Musical Comedy im Goldenen Zeitalter er‑
reichen konnte, läßt sich Vielleicht am ehesten am klassischen Backstagemu‑
sical Gypsy ermessen, in dem Robbins als Regisseur und Choreograph fun‑
gierte, mit Musik und Songtexten von Styne und Sondheim, einem Textbuch
von Laurents und einer Merman, die mit Mama Rose ihre letzte und bedeu‑
tendste Bühnenrolle kreierte.
Das Musical Play bedeutete zumindest in Hinblick auf einige musikalische
Aspekte eine Reformierung der amerikanischen Operette. Das Musical Play,
das weniger künstlich und glaubwürdiger war als sein Vorläufer, strebte nach
neuem dramatischem Gewicht und Ernst. Musik und Tanz waren ins Gesche‑
hen eingebettet. Stärker als im Falle der Musical Comedy des Goldenen Zeital‑
ters adaptierten die erfolgreichsten Musical Plays literarische, dramatische oder
filmische Werke (Lerner und später Arthur Laurents erging esmit ihren Versu‑
chen im Bereich des originalen Musical Plays besser als Hammerstein). Song‑
texte wurden eher vertont als daß m a n sie bereits komponierter Musik anpaß‑
te, und die herkömmlichen Abstufungen musikalischer Rhetorik in einer Ope‑
rette ‐ gesprochener Dialog, untermalter Dialog, Rezitativ, Arioso und Song
bzw. Arie ‐ dienten der Integration von Handlung und Song, meist in umfäng‑
lichen, beinahe kontinuierlich musikalisch auskomponierten Szenen (die den‑
noch selten als Aktfinale fungierten). Echte Stimmen und mehrstimmiger cho‑
rischer Gesang blieben die Norm, mit Ausnahme des komischen Nebenpaares,
das wie in älteren Operetten, e t w a The Desert Song (1926) oder The New
Moon (1928), seine Herkunft durch Idiome verriet, die der Musical Comedy
Das Musical und seine Subgenres
161

oder gar der Vaudevilletradition entstammten. Dem daraus resultierenden stili‑


stischen Kontrast entsprach ein sozialer, denn diese Nebenpaare waren in der
Regel in einem niedrigeren sozialen Milieu beheimatet als das Hauptpaar. Klas‑
sisch ausgebildete Heldenbaritone, u.a. Alfred Drake, John Raitt, Ray Middle‑
ton, David Brooks, Robert Goulet und Richard Kiley, wechselten von Show zu
Show. Sie nahmen jenen hohen Rang für sich in Anspruch, den ihre weiblichen
Pendants normalerweise in der Musical Comedy innehatten, und bereiteten
den Weg für das Erscheinen genuiner Opernsänger in solchen Rollen. (Tenöre
tendierten eher z u m Jugendlichen, Komischen oder z u m >>Charakterfach<< als
z u m Heroischen). Den dekorativen, Lokalkolorit heraufbeschwörenden Tanz
behielt m a n bei; das narrative Ballett aber spielte, gewöhnlich in Form einer
Traumsequenz, eine größere Rolle im Plot, so noch in der West Side Story (Some‑
w/oere). Die choreographischen Anforderungen und komplizierten Chorarran‑
gements erforderten separate, spezialisierte Ensembles von Sängern und Tän‑
zern. Exotisch angesiedelt an Schauplätzen außerhalb New Yorks oder in einer
idealisierten amerikanischen Vergangenheit w a r das Musical Play weitgehend
unabhängig v o m Populartanzfieber und landestypischen Musiktrends. Exoti‑
sche oder historische musikalische Idiome, darunter der Telltale‐Walzer, erleich‑
terten die Charakterisierung v o n Zeit und Ort. Auch wenn Rodgers und Loewe
zuweilen ein 34-köpfiges Orchester verlangten, wich die Instrumentation des
Musical Plays kaum von derjenigen der amerikanischen Operette in den zwan‑
ziger Jahren ab: M a n verwendete eine größere Streichergruppe als die Musical
Comedy, bezog Bratschen und Harfe ein, auch eine traditionelle Holzbläser‑
gruppe mit Flöte bzw. Piccolo, Oboe bzw. Englisch Horn, zwei Klarinetten und
Fagott. M i t zwei Hörnern, Trompeten und Posaunen w a r die Blechbläsergrup‑
pe meist ausgewogen. Die beachtliche Spannweite an Inhalten, Stilen und Struk‑
turen, die sich innerhalb des Musical Play‐Schemas unterbringen ließ (durch
Modifikation der Proportionen und der Gewichtung v o n Schauspiel, Tanz
und Musik), läßt sich an Vier im Jahre 1957 gleichzeitig laufenden Shows
ablesen: My Fair Lady, The Most Happy Felle, West Side Story und The Music
Man.
Das New Yorker Zielpublikum für Musicaltheater im Goldenen Zeitalter
war so groß, daß es eine kleinen Gruppe v o n idealistischen Produzenten und
Komponisten schaffte, mehr als ein Jahrzehnt lang >>Oper am Broadway<< in
Gang zu halten. Zwischen der Wiederaufnahme von Porgy und Bess im Jahre
1942 und der kurzen Laufzeit von Gian‐Carlo Menottis Maria Golom’n 1958
firmierten achtzehn Produktionen (etwa 10% der Gesathahl an Shows, die
während dieser Zeitspanne produziert wurden) entweder als Oper oder wur‑
den sofort als solche von den Kritikern identifiziert (trotz verschiedener Genre‑
maskierungen). Der Erfolg der modernisierten >Musical Play<‐Version von Por‑
gy und Bess (größtenteils mit der Originalbesetzung von 1935, vielen Schnitten
und einem reduzierten Orchester; Zahlreiche Rezitative waren in gesprochenen
Dialog umgewandelt worden) und von Carmen Jones ebnete den Weg für Weills
opernhafte Behandlung von Elmer Rices Street Same im Jahre 1947. Obwohl
esv o n der Playwrights’ Company als »dramatisches Musical<< präsentiert wure
de, bezeichnete Weill es als seine >>Broadway‐Oper«, weil es eine hybride Syn‑
162 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Die Besetzungstruppe von Weills


Street Scene, einer >>Broadwayoper<<,
wie sie während eines Operuiahr‑
zehnts im kommerziellen Theater des
Great White Way aufkam.

these sowohl aus Broadway‐ wie aus Operntraditionen darstellte, aber An‑
spruch auf ein höheres Niveau als das Terrain des Musical Plays anmeldete.
Von der Kritik weithin gepriesen als erster durch und durch erfolgreicher Ver‑
such im Bereich der Volkstümlichen amerikanischen Oper (Porgy und Bess w a r
bis dahin auf gemischte Reaktionen gestoßen), schaffte Street Scene 148 Vor‑
stellungen und gewann den ersten Tony Award für eine herausragende Partitur.
Es veranlaßte die Entstehung einer Reihe von Opern v o n Blitzstein, Menotti,
Bernstein und anderen, die den Versuch machten, die kommerziellen und aus
der Teamarbeit resultierenden Zwänge einer Broadwayproduktion mit den ei‑
genen Ambitionen zu vermitteln, die auf die emotionale Wirkung und die m u ‑
sikalischen Proportionen der Oper abzielten. (Als Weill 1950 im Alter v o n fünfzig
Jahren mitten in seiner beruflichen Laufbahn starb, hatte er einige weitere Broad‑
wayopern in Planung, darunter eine für den berühmten Bariton Lawrence Tib‑
bett). Die erfolgreichsten unter den am Broadway inszenierten Opern waren
ironischerweise jene, die am wenigsten von ihren Normen und Tonfällen ge‑
prägt waren: Menottis Doppelprogramm The Medium und The Telephone so‑
wie T/ae Consul. Die Aussicht, ein viel größeres Publikum zu erreichen als ein
Repertoireopernhaus bieten konnte, führte zu solch erstaunlichen Produktio‑
nen wie Benjamin Brittens The Rape of Lucretia; selbst Igor Strawinsky mach‑
te sich Hoffnungen, daß T179 Rake’s Progress am Broadway Premiere haben
könnte. 1953 wurde Porgy sind Bess noch einmal aufgegriffen, mit Leontyne
Price als Hauptdarstellerin in der gefeierten Produktion Robert Breens. Jetzt
freilich wurde es mit all seinen opernhaften Insignien restauriert. Diese Pro‑
duktion, die über 500 Vorstellungen lang am Broadway lief und dann durch
die Welt tourte, begründete die Reputation des Stückes als amerikanischer Klas‑
siker. Ende der fünfziger Jahre erging esThe Saint ofBleecker Slreet, Trouble in
163
Das Musical und seine Subgenres

Tahlti und Candide weniger gut, womit sich das Ende der Broadwayoper an‑
kündigte.
M i t ihren anspruchsvollen Partituren von großer stilistischer und harmoni‑
scher Bandbreite stellten diese Werke hohe Anforderungen an Darsteller und
Zuhörer. Die meisten waren ernsren, wenn nicht gar tragischen Inhalts. Tanz
spielte selten eine bedeutende Rolle. Wenn in der Broadwayoper die Musik
schon nicht durchgängig zu hören war, so war sie dermaßen präsent, daß die
>>Bücher<< solcher Stücke wie Street Same und The Most Happy Fella ‐- beide
beruhten auf Dramen, die den Pulitzerpreis gewonnen hatten ‐ problemlos in
die veröffentlichten Klavierauszüge eingefügt werden konnten. Obwohl die
Orchester wegen der geringen Größe der Broadwayorchestergräben auf weni‑
ger als vierzig Musiker beschränkt waren, musizierten dort Dirigenten vom
Range eines Bernstein, Maurice Abravanel und Thomas Schippers mit Welt‑
klasseopernsängern (von denen Viele auch in Kontrakt mit der Metropolitan
Opera standen). Ein Fundus, aus dem das Musical des Goldenen Zeitalters
hernach schöpfen konnte, wann immer es nötig war, etwa in South Pacific
(Ezio Pinza), Pipe Dream (Helen Traubel), The Most Happy Felle (Robert
Weede) und Brut/o Giouanm' (Cesare Siepi). Dreizehn der am Broadway prä‑
sentierten Opern gingen schließlich in das Repertoire der New York City Ope‑
ra ein und bildeten einen Ausgangspunkt für die heimische amerikanische Oper
‐ im Gegensatz zu den neunzehn Opern von Amerikanern, die vor 1958 an der
Metropolitan uraufgeführt wurden und alle bereits aus dem Repertoire ver‑
schwunden sind. Obwohl nur drei der am Broadway präsentierten Opern ihre
Kosten wieder einspielten und ihren Produzenten Gewinn einbrachten, demon‑
strierte die Broadwayoper eindringlich die hohen Ambitionen des Musicalthea‑
ters während des Goldenen Zeitalters. Auch wenn die meisten der lange gespiel‑
t e n Shows dem Publikum genau die Unwahrheiten auftischten, die eshören woll‑
te, oder Wahrheiten, die es bereits kannte, trotzte doch eine Handvoll >>eXperie
menteller Musicals« den vorherrschenden Broadwaynormen im Hinblick auf Form
und Inhalt. Diese Musicals verwendeten nicht-lineare metadramatische Verfah‑
ren, die auf Genres wie Revue und Vaudeville oder gar das griechische Drama
zurückgehen, und separierten Songs aus dem Textbuch, indem Performancenum‑
mern zur Unterbrechung oder Kommentierung des Plots eingesetzt wurden. Die
unkonventionellenTextbücher dieser Shows W a r e n meist Neuschöpfungen: >>Was
soviel Spaß machte‚« sagte Lerner, >>war das Ausrangieren vieler alter Regeln
Tl A. J. Lerner, Lemer’s Life und und die Erfindung unserer eigenen Regeln, wenn wir weitermachten.«1 1947/
„Laue Life<, in: P.M., 14. Novem‑ 1948 lief Oklahoma! noch immer am Broadway, als Rodgers’ und Hammer‑
ber 194S. steins erstes originales Bock‐Musical, Allegro, eine Laufzait von 315 Vorstellun‑
gen begann. Inszeniert und choreographiert v o n Agnes de Mille zeichnete Alle‑
gro Leben und Karriere eines Arztes als Abfolge v o n Charakterskizzen nach, die
sich über 35 Jahre erstrecken, und schnitt die Frage der Korrumpierung von
jugendlichem Idealismus durch finanzielle Verlockungen an. Ein griechischer Chor
kommentierte das Geschehen gegenüber Akteuren wie Zuhörern und die Show
verwendete eine nicht‐gegenständliche Bühnenausstattung und Darstellungsra'u‑
me auf mehreren Ebenen. Hammersteins junger Protege, der 17‐jährige Sond‑
heim, arbeitete für die Produktion als Assistent des Inspizienten.
164 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Das >>Minstrel Show<<eFinale von


Lot/e Life (1948), das heute als er‑
stes >>Concept Musical<< gilt.

Letztlich noch einflußreicher w a r Lerners und Weills L01/e Life. Es glänzte mit
einem ebenso illustren Team v o n Mitarbeitern: Produzentin Cheryl Crawford,
Regisseur Elia Kazan, Choreograph Michael Kidd, Bühnenbildner Boris Aron‑
son sowie Nanette Fabray und Ray Middleton in den Hauptrollen. Weill be‑
schrieb diese Leistung als >>[...] eine ganz neue Form v o n Theater, eine neue
Mischung der verschiedenen Elemente [...].«l M i t dem Untertitel >>A Vaudevil‑ 1 Deutscher Brief v o n Weill an sei‑
le in Two Parts « verfolgt Love Life die Schicksale eines ewig jungen Paares und ne Eltern vom 17. Oktober 1948,
als Nr. 247 abgedruckt in L. Sy‑
seiner beiden Kinder von 1791 an bis zur Gegenwart, in der Progress und Eco‑ monette/E. Juchem (Hg.)‚ Kurt
nomics (zwei der Vaudeville-Nummern) sie auseinanderreißen. Szenen aus der Weill: Briefe an die Familie (1914‑
schlechter werdenden Ehe über eine Zeitspanne von 150 Jahren hinweg alter‑ 1950), Stuttgart 2000, S. 413.
nieren mit sozialkritischen, aber äußerst amüsanten Vaudeville-Nummern. Sie
sind >> in One« inszeniert (vor einem bemalten Prospekt, aber hinter der Begren‑
zung des Hauptvorhangs) und bedienen sich einer kaleidoskopischen Anord‑
nung von Populäridiomen, um parallel die vorbeiziehende Zeit zu illustrieren
und als Kommentar auf den Verfall des amerikanischen Traums zu dienen.
Nach 252 Vorstellungen am Broadway verschwand Loue Life. Eine Gewerl ‑
schaftsaktion hatte verhindert, daß esauf einem Originalbesetzungsalbum fest‑
gehalten wurde, weder Skript noch Partitur erschienen im Druck, und die Au‑
t o r e n gaben esfür eine Repertoire‐ oder Amateurproduktion nicht frei. Doch
gerade seine Unbekanntheit ermutigte die nächste Generation v o n Broadway‑
innovatoren, das Stück z u m Prototypen des >Conceptmusicals< auszuarbeiten
und zu verbessern. Obwohl Sondheim der Ansicht war, daß >>Lo1/e Life letzt‑
lich daran scheiterte, daß esmehr v o n Ideen als Charakteren handelt<<, bestand
Das Musical und seine Subgenres 165

Aronson darauf, es habe >>in Lot/e Life genug Ideen für zwanzig Musicals«
1 Sondheim, zitiert in F. Hirsch, gegeben.1 Tatsächlich sah Sondheim darin einen für sein eigenes Werk >>nützli‑
Harold Prince and the American chen Einfluß<<, genauso wie Prince, Bob Fosse und Kander 86 Ebb,
Musical Theatre, New York 1989, Seiner Zeit war Love Life so weit voraus, daß das erste direkte Nachfolge‑
S.17f.; B. Aronson, zitiert in F.
Rich (mit L. Aronson), The The‑ werk erst 1966 erschien: Cabaret, mit Bühnenbildern v o n Aronson und unter
atre Art of Boris Aronson, New der Regie von Prince, mit der Witwe Weills, Lotte Lenya, im Besetzungsstab
York 1987, S. 93. Nach einer Bostoner Preview war es Lenya selbst, die vermerkte, dal3 Cabaret
der gleiche Aufbau zugrunde lag wie Laue Life: BookuSzenen mit traditionellen
nicht‐diegetischen Songs alternieren mit diegetischen, kommentierenden Num‑
mern, die im K i t Kat Club spielen. (In der Filmversion ließ Bob Fosse all die
Songs weg, die in den Bock‐Szenen auftauchten). Dicht auf den Spuren von
Cabaret präsentierte Hallelujah, Baby! (Styne; Comden 8€ Green; Laurents)
Charakterskizzen eines nicht alternden, gemischtrassigen Paares v o r dem im
Wandel begriffenen sozialen Hintergrund der amerikanischen Gesellschaft mit
afroamerikanischen Musikidiomen. Fosses Chicago entlehnte den Vaudeville‑
Rahmen v o n Loue Life, und das Finale seines autobiographischen Films All
That ]azz nahm sich die Minstrelshow‐Sequenz am Schluß v o n Lot/e Life z u m
Vorbild. Trotzdem waren eserst Sondheim und Prince, zusammen mit Aronson
als Bühnenbildner, die bei ihren ersten fünf Kooperationen das Potential von
Lot/e Life in Company, Foliies und Pacific Overtures umfassend ausschöpften.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Sondheim das >integrierte Book‐Musical< bereits
hinter sich gelassen, mit A Furmy Thz'ng Happened on the Way t0 the Forum
(einem Musical mit n u r einem Schauplatz und Kostüm, das zu der Verwen‑
dungsform v o n Songs zurückkehrte, wie sie v o r Oklahoma.’ üblich war) und
Anyone Can Whistle (seinem ersten Versuch, das Volkssprachliche des Musi‑
caltheaters auf eine ironische Weise als Kommentar einzusetzen, a la Weille
Brecht). Natürlich wurden weiterhin traditionelle Bock‐Musicals geschrieben
und aufgeführt, Klassiker des Goldenen Zeitalters erlebten immer häufiger ihre

Lotte Lenya (Fräulein Schneider) und


Jack Gilford (Herr Schultz) singen >>It
Couldn’t Please Me M0re« in Caba‑
r e t (1966). Photo: Friedman-Abeles
Das Goldene Zeitalter des Musicals

Wiederinszenierung, und Parodien der zwanziger-Jahre-Shovvs alten Stils wie


Dames at Sea verliehen nach wie vor den Fortschritten des Goldenen Zeitalters
durch ihre auffällige Abwesenheit Nachdruck. Die anhaltende Relevanz von
Lerners und Weills Warnung, >>der Geistesblitz von heute ist das Klischee von
morgen<<‚ sollte sich bei den modernistischen und postmodernen Conceptmusi‑
cals der siebziger und achtziger Jahre zeigen.

Stil, Struktur und Syntax des modernen Musicals


In seinem Vorwort zu Brigadoon brachte Lerner die fundamentale Prämisse
des Musicals im Goldenen Zeitalter auf den Punkt: »Das Textbuch kommt
zuerst. Das ist ein chronologisches Faktum, ein philosophischer Imperativ und
ein praktisches Prinzip.« Wenn die Musicalsequenzen ein Musical unvergeß‑
lich machen, dann wegen des Textbuches, denn es zwingt die individuellen
Beiträge vieler Künstler zur Gemeinschaftsarbeit zusammen und formt sie zu
einem einheitlichen Werk. (Ironischerweise führten die Tony Awards erst 1971
eine Kategorie für das >>Outstanding book of a musicai<< ein). Obwohl Book‑
writer in der Vergangenheit auf einen Rang weit unterhalb des Stellenwertes,
den m a n Dramatikern einräumte, verbannt wurden, blieb in der hochspeziali‑
sierten Zunft des Textbuchschreibens mit wenigen Ausnahmen allen der Erfolg
versagt, die sich als >>echte Dramatiker<< dazu herabließen, für das Musical‑
theater zu schreiben. Die Textbücher der Musicals im Goldenen Zeitalter strebten
zwar die Folgerichtigkeit und Kohärenz des gesprochenen Dramas an, doch
differieren beide stärker dem Typus als dem Grad nach. Weil der Text eines
Textbuchs Platz für Musik lassen muß, die in Gesang und Bewegung das arti‑
kuliert, was Protagonisten anders nicht auszudrücken vermögen, ist er gewöhn‑
lich n u r ein Drittel bis halb so lang wie bei einem gesprochenen Drama (My
Fair Lady und West Side Story mögen die Extremfälle sein, was Länge bzw.
Kürze der Dialoge in einem Musical anlangt). Konzision, Ökonomie und Tem‑
po des Musicaltextbuches schließen eine Nähe zum gesprochenen Drama im
Hinblick auf das dramatische Gewicht, die psychologische Tiefe und die Kom‑
plexität der Handlung aus. Stattdessen muß sich das Textbuch seinen Weg bah‑
nen durch das Gefüge der Songs und Tänze, die esmotiviert.
Ein Textbuch ist zwangsläufig nicht mehr als ein skizzenhaftes Theaterstück,
in der Regel diskontinuierlich und nicht-aristotelisch angelegt und eher eine
sorgfältig konstruierte Folge v o n fragmentarischen, miteinander verknüpften
Episoden als eine traditionelle dramatische Erzählung. Da es eher konzeptio‑
nell als chronologisch gegliedert ist, muß eine Szene nicht die nächste motivie‑
ren. Stattdessen kann diese simultan zur vorhergehenden oder als deren Paral‑
lele angelegt sein. Was im Textbuch aus der Vorlage ausgespart wird, ist daher
genauso bedeutungsvoll wie das, was darin bewahrt bleibt; einige Adaptionen
folgen ihren Quellen bemerkenswert genau, sie übernehmen sogar Dialog‐ und
Bühnenanweisungen. Andere dagegen entlehnen n u r Charaktere und Situatio‑
Sti|‚ Struktur und Syntax des modernen Musicals 167

nen. Im Unterschied zu einer typischen Oper oder Operette des 19. Jahrhun‑
derts, die den Schauplatz normalerweise n u r zwischen den Akten oder längeren
Szenen wechselt, verlangte die episodische Struktur eines Musicals des Golde‑
nen Zeitalters sogar ein Dutzend oder mehr Orts- und Kulissenwechsel inner‑
halb eines einzigen Aktes. (Eine der Errungenschaften des Musicals, die den
anderen theatralischen Genres zugute kam, ist die während des Goldenen Zeit‑
alters entwickelte technische Möglichkeit, das Bühnenbild schnell und störungs‑
frei zu ändern. Dabei werden Systeme m i t Gegengewichtssoffitten und m o t o r ‑
getriebene Kurbelapparaturen eingesetzt, ohne daß Bühnenarbeiter sichtbar sind
und der Vorhang heruntergelassen wird.) Allerdings mnß das Musicaltextbuch
im Rahmen solch einer collageartigen Gliederung Figuren exponieren, die ei‑
nen Konflikt austragen und von so großer Bedeutung sind, daß die Zuhörer
hinlänglich Interesse an der Antizipation einer Lösung zeigen. Angesichts der
für ihre Exposition knappen Zeit müssen diese Figuren archetypisch und den‑
, noch individualisiert sein, außergewöhnlich und doch glaubwürdig, wohlbe‑
i kannt aber nicht bloße Karikaturen. Bei der Rollenvergabe in einem Musical
1‘ kann m a n anders als bei der Oper kaum das Risiko eingehen, konträr z u m
physischen Typ zu besetzen: In einem Musical müssen die Helden, egal wie
charakterschwach, ebenso heroisch aussehen wie klingen.
r‘ Schlüsselnormen des Musicaltextbnches sind binäre Opposition und Wie‑
>1 derholung. Musicals handeln fast immer von Paaren, komplementären Hälften
eines Ganzen und zunächst uneins aufgrund v o n Alter, Rasse, Ethnizität, Sit‑
ten, Ansichten, Wertvorstellungen, Hintergrund, Sozialstatus, Verhaltenswei‑
sen, Vorurteilen, Kompetenz, Arbeitsethos, Erscheinung oder Wünschen. Mu‑
i, sicals behandeln häufig das Umwerben, d.h. den Versuch, einen anderen v o n
1 der Übernahme der eigenen Einstellungenzu überzeugen oder die eigenen Hand‑
lungen an diejenigen eines anderen anzupassen ‐ als Metapher für das Leben
schlechthin. Solch eine paarweise Verbindung muß sich nicht auf eine Liebes‑
beziehung beschränken: Gypsy bevorzugt eine Mutter‐Tochter-Beziehnng ge‑
genüber einer romantischen, Fiddler on tbe Roof lotet eine Reihe v o n Vater‑
Tochter‐Beziehungen v o r dem Hintergrund v o n Tevyes Bindung an die >>Tradi‑
tion<< aus und Man of La Manche; beschäftigt sich mit der Treue v o n Cervantes
l bzw. D o n Quichotte zu seiner Suche nach >>The Impossible Dream<<, nach der
i‘ idealisierten Dulcinea. Da Musicals so konzipiert sind, daß sich die Gegensätze
in diesen Paarverbindungen in eine Art Übereinstimmung auflösen, ist das Er‑
gebnis meist von Anfang an vorhersehbar und der Handlungsverlauf steht folg‑
lich nicht im Mittelpunkt: Zentral ist die Charakterisierung. Um blanke Wie‑
derholung und die Monotonie der konventionellen Paarkonstellation von nur
zwei Hauptpersonen (deren »Schicksal es ist, sich zu vereinen<<) zu vermeiden,
benötigen die meisten Musicals Nebenhandlungsdichotomien, die mit der Haupt‑
dichotomie korrespondieren. Dieser Zuwachs an Paaren soll ein Alternieren
zwischen Haupt‐ und Nebenhandlung sicherstellen.
Die binäre Gegenüberstellung v o n Charakteren manifestiert sich strukturell
in einer durchgängigen Aufspaltung der Perspektive in Form v o n paarweise
gekoppelten Songs, parallel gesetzten Szenen, Orten und Situationen, analogen
Aktivitäten, kontrastierenden, nach Geschlechtszugehörigkeit zusammengestell‑
Das GideEZeÄalter däMusicals
168

Abbildung links: Ethel Merman in ih‑


t e n Ensembles; komplementärer Kostümierung und binärer Thematik (Freiheit r e r bedeutendsten Rolle als ultimati‑
versus Gesetz, Eigeninteresse Ve r s u s Familie, Fortschritt versus Stabilität, Ver‑ ve Bühnenmutter in Gypsy (1959).
gnügen versus Verantwortung etc.). Des weiteren spielen bei solchen Polaritä‑ Photo: Friedman‐Abeles. Abbildung
rechts: Tevye (Zero Mostel) ist un‑
t e n individuelle Charaktere eine Rolle, weil sie zwischen ihrem äußeren und
glücklich, als er erfährt, daß seine
inneren Selbst einen Ausgleich suchen. Die versteckten, verleugneten Aspekte Tochter Tzeitel einen armen Schnei‑
ihrer Persönlichkeit (oft nur in >>I am<<‐ oder >>I wann‐Songs enthüllt) korre‑ der heiraten wird, in TIM! Fiddler on
spondieren den Bedürfnissen oder Einstellungen ihres Pendants. Sogar das Pu‑ thc Roof. Photo: FriedmanuAbeles
blikum muß zwischen Zweifel und dem Glauben, daß am Ende alles gut geht,
schwanken. Der erste Akt von Carousel ist förmlich ein Katalog v o n Konstellam
tionen mit dualistischer Perspektive: Die Szene mit Julie und Carrie charakteri‑
siert die beiden Frauen plastisch, indem sie sie gegeneinander ausspielt; die
>>Parkbank<<-Szene mit Julie und Billy verwendet den Konjunktiv >>If I loved
you<<, um zu avisieren, daß das Paar im Leben niemals >>zusammen singen<<
wird und sich eine Lösung für ihre Antagonismen insofern erst nach Billys Tod
findet; die Szene mit Carrie und Mr. Snow fungiert scheinbar als komischer
Trost, demonstriert aber auch (als sie im Duett singen: When the children are
asleep) die soziale Norm, vor deren Hintergrund die verfehlte Beziehung von
Billy und Julie begreiflich wird; Nettie Fowler leitet june Is Bustin’ Out All
Over, bevor es in einen >>Tanz der Mädchen<< übergeht, und Jigger Craigin
übernimmt eine analoge Funktion bei den Männern in Blow High, Blow Low;
der erste Akt schließt mit Billys Soliloquy, einem der längsten Monologsongs
des Repertoires, der dann in Julies What’s the Use of Wond’rin im zweiten Akt
seine Parallele findet.
In der Regel umfassen Musicals des Goldenen Zeitalters zwei Akte (The
Most Happy Fella hat drei; th of la Mancha wird ohne Unterbrechung ge‑
spielt), der erste dauert 90 bis 105 Minuten, der zweite 45 bis 60 Minuten.
Praktisch alle Musicals haben mindestens sechzehn musikalische Nummern
(nicht weniger als zehn im ersten Akt). Da aber beim Bock-Musical der Inhalt
die Form bestimmt, haben nicht einmal zwei Shows exakt dieselbe Binnen‑
169
Stil, Struktur und Syntax des modernen Musicals

struktur ‐‐ selbst Oklaboma! und Carousel (dessen sechs Hauptrollen einander


so ähnlich sind, daß sie mit denselben Schauspielern besetzt werden könnten)
differieren erheblich vom Aufbau her. Die meisten Musicals beginnen mit einer
Potpourriouvertüre, die das Publikum auf Zeit, Ort und Tonfall des Stückes
klanglich einstimmen soll und zugleich die wichtigsten Songs (die während des
Abends mehrmals zu hören sein werden) vorführt. Andere, insbesondere Ca‑
rousel, West Side Story und Fiddler on the Roof bringen stattdessen einen Pro‑
log (gemimt, getanzt beziehungsweise gesprochen und gesungen), der die Ex‑
position des zentralen Konflikts oder des Themas des Abends ohne Umschwei‑
fe in Angriff nimmt. Die komprimierte Form des Musicals im Goldenen Zeital‑
t e r macht eserforderlich, die wichtigen Charaktere in einer Anfangsszene ein‑
zuführen. Dort werden Zeit, Schauplatz, Sujet und Situation exponiert, der
Konflikt präsentiert, der für dramatische Spannung sorgen wird, und der Stil
der Produktion festgelegt. Dies ist der einzig entscheidende Moment in einem
Musical: Die Zuhörer müssen sofort durch eine spannende und nachvollzieh‑
bare Exposition dessen gefesselt werden, was der Abend für sie bereithält. (So
gebührt beispielsweise Robbins die Ehre, A Funny Thing Happened on tbe
Way to tbe Forum gerettet zu haben, indem er Abbott den Rat gab, den u r ‑
sprünglichen Beginn Lot/e Is in the Air durch Comedy Tonight zu ersetzen).
Drei weitere kritische Momente gibt esin einem Musical: Den Schluß des
ersten Aktes, den Beginn des zweiten Aktes und die letzten fünfzehn Minuten
der Show. Der erste Akt muß mit genügend dramatischer Spannung enden, um
die Zuhörer nach der Pause zurückzulocken; oft bringt die letzte Musiknum‑
m e r des Aktes eine existentielle Wende für einen der Hauptcharaktere, eine, die
die Ereignisse im zweiten Akt ins Rollen bringt (Billys Soliloquy in Carousel,
Elizas Test beim Botschaftsball in My Fair Lady, Euerything’s Coming Up Ro‑
ses in Gypsy). Einer der wenigen Mißgriffe in der West Side Story war die
Entscheidung, den ersten Akt nicht mit dem >Quintett<, einem Ensemblefinale

John Raitt als Billy im pantomimi‑


sehen Prolog v o n Carousel (1945).
170 Das Goldene Zeitalter des Musicals

mit kontrapunktischer Gegenüberstellung aller Erwartungen, die die Protago‑


nisten für Tom'glat haben, enden zu lassen, sondern mit The Ramblei Dort fällt
der Vorhang über Riffs und Bernardos Leichen und durch die Pausenzäsur wird
die dramatische Ironie, die durch die unmittelbare Nachbarschaft zu I Feel
Pretty zustande kommt, zunichte gemacht. Der zweite Akt muß m i t einem
Donnerschlag beginnen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zurückzuge‑
winnen, in der Regel mit einem Song, der sich in eine groß angelegte Produc‑
tion Number verwandelt (Tbe Farmer and the Cowman in Olelaloomal, T198
Chase in Brigadoon, T00 Darn H o t in Kiss m 6 , Kate). Der zweite Akt, der bei
weitem problematischere der beiden, exponiert selten neue Figuren oder Hand"
lungskomplikationen, sondern hebt eher die verschiedenen parallelen Gegen‑
sätze im ersten auf. Darum ist die musikalische Konstruktion des zweiten Ak‑
tes weniger dicht und enthält häufig mehrere Reprisen v o n musikalischem
Material aus dem ersten Akt. Traditionellerweise prägte eine letzte Starnum‑
11 Uhr‐Zäsur«, einen Höhepunkt kurz v o r Ende der Show. In zahlrei‑
m e r die >>
chen Musicals des Goldenen Zeitalters allerdings steht an dieser Stelle eine
stürmische Ensemblenummer, die die Show einmal mehr v o r der abschließen‑
den Lösung des Hauptplots innehalten laßt (Sit Down, You’re Rockin’ the Boat
in Guys artd Dolls, der Titelsong v o n Oklalaoma!‚ Gee Officer Kmpke in West
Sidc Story). Die Finali des zweiten Aktes sind selten ausgedehnt, oftmals liegt
nicht mehr als eine verkürzte Reprise oder Folge v o n Reprisen vor, nach denen
der Vorhang über vereinten Paaren fällt. In diesem Rahmen ordnet der Book‑
writer kompakte Episoden an und erfindet lebendige Dialoge, die dem Charak‑
ter, der Situation und den Präsentationsformen des Musicaltheaters angemes‑
sen sind. Jede Szene muß auf jenen Moment hin konzipiert werden, da Song
oder Tanz ihren offenbar unvermeidbaren Einzug hielten. In der Legitimation
solcher musikalischen Momente lag Vielleicht die schwerste Aufgabe des Book‑
writers: >>Das Drama auf den Hügelspitzen abfangen, wo es nicht weiter em‑
porsteigen kann ohne die Flügel v o n Musik und Song«‚ so hat Lerner dies
formuliert.1 Da die meisten Musicals sowohl diegetische wie nicht‐diegetische 1 A. J. Lerner, The Street Where I
Musik enthalten, mußten die Bookwriter auch für Gelegenheiten sorgen, in Liz/e, New York 1978, S. 44‐45.
denen Darsteller einen Song anstimmen oder zu tanzen beginnen konnten, um
alltägliches Tun naturalistisch zum Ausdruck zu bringen (im Theater, bei einer
religiösen Versammlung, in einem Nachtclub, bei Programmen zur Truppen‑
unterhaltung). Eine größere Herausforderung bestand in der Einfügung eines
nicht‐diegetischen Songs, in dem ein Darsteller sich selbst oder einem anderen
Darsteller gegenüber seine Gedanken z u m Ausdruck bringt, ohne daß er oder
das Publikum rnerkt, daß er mehr singt als spricht. Wegen dieses Imperativs
entstanden die ausgedehnten Musicalszenen des Goldenen Zeitalters, in denen
Sprechen in Singen überging (wie in My Fair Lady), Singen in Sprechen (wie in
The Most Happy Fella) oder Tanzen in beides (wie in West Side Story). Opti‑
male Ausarbeitung und Plazierung der Songs im Textbuch entschied genauso
über deren Wirkung wie inhärente Eigenschaften dies taten.
Songtexte sollten sich als Erweiterung des gesprochenen Wortes organisch
aus dem Textbuch ergeben. Den Dialekt, die Grammatik, rhetorische Muster
und die Diktion eines bestimmten Darstellers sollten sie beibehalten, Gefühle
Stil, Struktur und Syntax des modernen Musicals 171

übermitteln, die zu äußern dem Darsteller versagt waren, und eine Art von
unbestimmtem poetischem Ausdruck finden, der nicht so kunstvoll auf den
Reim fixiert ist, daß er vom dramatischen Augenblick ablenkt. Während des
Goldenen Zeitalters des Musicals blieb das Vers-Refrain-Schema das zentrale,
jedoch keinesfalls einzige Modell für die Konstruktion eines Songs. Ein Ge‑
sprächsvers, häufig an Charakter und Situation spezifisch gebunden, schlug
den Bogen vom Dialog zu den emotionalen I-Iöhen des Refrains, meist als AABA‑
Songform gestaltet ‐ oder als Variation oder Erweiterung davon. Gewöhnlich
auf einen Umfang von 60 bis 120 Wörtern beschränkt, mußte ein Songtext im
Ausdruck komprimiert sein, reich an Bedeutung, periodisch in der Konstrukti‑
on (das Ende von Sinn- und Struktureinheiten stimmen überein), zunehmend
an Elan gewinnen, suggestiv in bezug auf das sein, was nicht zur Sprache kommt
(der Subtext eines Songs), und so spezifisch im Charakter, daß es undenkbar
wäre, ihn von einer anderen Person singen zu lassen. Der Lyricist hatte all dies
eingedenk des Komponisten, des Darstellers und des Publikum zu bewerkstel‑
ligen, mit einer in der Dichtung schon implizit vorhandenen musikalischen Form,
offenen Vokalen an Schlüsselstellen und genügend Redundanz, um beim ersten
Hören Verständlichkeit zu garantieren. Viele Texter entwickelten einen ebenso
individuellen Stil wie Komponisten. Hammerstein skizzierte Verse von entwaff‑
nender Simplizität und Normalität, Sondheim teuflisch clevere und raffinierte
mit komplexen Reimschernata und rhetorischen Kniffen, einschließlich Bin‑
nenreimen und zusammengesetzten Reimen. Die Songtexte loten verschiedene
Diskursmodi aus: deskriptiv, erklärend, narrativ, überredend oder inspirierend;
sie entwickeln auch ihre eigenen Subtypen: Balladen (Liebessongs), Charm‑
songs (die Optimismus und Wohlgefühl z u m Ausdruck bringen), >>I am« oder
»I want«‐Songs, Comedysongs, Listsongs, Pattersongs u.a. Das Abfassen von
Songtexten für ein Musical im Goldenen Zeitalter entwickelte sich zu einer so
anspruchsvollen Kunst, daß selbst solche brillanten Verseschmiede wie Ira Gersh‑
win, Porter und Berlin esschwierig fanden, die neuen, an ihre Zunft gestellten
Anforderungen zu erfüllen. Nachdem er sowohl die Musik als auch die Song‑
texte für N0 Strings geschrieben hatte, gestand selbst Rodgers ein, daß die
Abfassung effektvoller Songtexte noch schwieriger war als das Komponieren
von Musik.
Dennoch wurden die Musicals des Goldenen Zeitalters am ehesten mit ih‑
ren Komponisten identifiziert. Denn die Zuhörer verließen das Theater weit
eher mit gepfiffenen Melodien als mit Songtexten oder Dialogen auf den Lip‑
pen, und viele individuelle Songs überlebten unabhängig von ihrer ursprüngli‑
chen musikdramatischen Funktion. Manchmal waren Komponist und Lyricist
zwar identisch, doch häufiger blieben die Aufgaben eines Lyricisten und Book‑
writers einem einzigen Mitarbeiter überlassen und n u r selten war ein einzelner
in der Lage, alle drei Funktionen zu erfüllen (denkwürdig Frank Loesser bei
The Most Happy Fella). In all diesen Fällen freilich wurden die jeweiligen Ar‑
beiten eher annähernd simultan als sukzessiv erbracht, weil routinierte Partner
von Beginn an zusammenarbeiteten, die Grundregeln für das Projekt festleg‑
ten, sich über Fragen des Stils, der Struktur, des Tonfalls und der Besetzung
einigten und die Plazierung und Funktion der Musiknummern bestimmten. Der
172 Das Goldene Zeitalter des Musicals

Komponist eines erfolgreichen >>integrierten<< Broadwaymusicals mußte zugleich


ein im Team arbeitender Dramatiker sein, wie der von seinen Erfahrungen in
Europa profitierende Weill schon 1936 anmerkte:

»Ein Stück muß von Anfang an als Stück mit Musik konzipiert werden, sollen die Forderungen
des musikalischen Theaters erfüllt werden [...] die Spannung wird nicht so sehr durch den Fort“
gang der Handlung erzeugt als durch die Dynamik der epischen Fabel [...] Die gemeinsame
Aufgabe des Dichters und des Komponisten ist es, darauf zu achten, daß das Lied nicht als eine
bloße Nummer in den Text eingeschoben wird, sondern da3 es natürlich und unvermeidbar aus
der Szene entsteht, und dafä es ebenso unauffällig wieder in den Hintergrund zurücktritt.
Aber all dies ist nur möglich auf der Grundlage einer engen Zusammenarbeit zwischen dem
Autor und dem Komponisten vom Tag des ersten Entwurfs bis zur Nacht der Premiere, so daß
sich also der Komponist nicht einzig auf das Schreiben der Musik beschränken kann, sondern
auch bei der Konstruktion jeder einzelnen Szene der Handlung mitwirkt, so lange, bis die Mu‑
sik integraler Bestandteil des Ganzen geworden ist.«‘ ’l K. Weill, Tbe Alchemy of Music,
in: Stage, November 1936, S.63f.;
Die Wichtigste Aufgabe einer Partitur w a r ihre Zugänglichkeit und Verständ‑ Reprint in D. Farneth (Hg.), Kurt
lichkeit bei einem breiten Publikum. Rein musikalische Gesichtspunkte waren Weill: A Life in Pictures und D 0 "
cuments, New York 2000, S. 166.
den gewichtigeren dramatischen untergeordnet. Die musikalische Sprache soll‑ Zitiert nach der deutschen Über‑
te dem Thema angemessen sein und in puncto Komplexität oder Neuheit die setzung von Jürgen Schebera, Kurt
Aufnahmebereitschaft des anvisierten Publikums nicht überschreiten. Der Vo‑ Weill: Musik und Theater, Berlin
kalstil durfte n u r so anspruchsvoll sein, daß ein Hauptdarsteller ihn achtmal in 1990, S. 112ff.
2 K. Weill, Score for a Play, in: New
der Woche, fünfzig Wochen pro Jahr in vernünftiger Form bewältigte. Die Or‑ York Times, 5. Januar 1947.
chester waren aufgrund finanzieller wie räumlicher Einschränkungen v o m
Umfang her begrenzt. Da sich der dynamische Prozeß der Teamarbeit über die
Komposition hinaus auf Proben und Tryouts erstreckte, wobei die Normvor‑
gaben kontinuierlich revidiert wurden, blieben die Grenzen zwischen >>Arbeit<<
und >>Ereignis<< fließend. Die Partituren konnten nicht orchestriert werden, bis
die Besetzung vollständig war und man die Stimmumfänge der Hauptdarsteller
kannte; Tanzarrangements oder n e u komponierte Tanzmusik waren selten v o r
der Choreographie fertig; die Stars forderten oft zusätzliches >>Speciality<<‐Ma‑
terial. Wenn eine Musiknummer nicht die intendierte Wirkung erzielte, konnte
sie ungeachtet ihrer immanenten Qualitäten gekürzt oder ausgetauscht wer‑
den. Nichtsdestotrotz arbeitete der Komponist in bestimmten Bereichen fast
ohne schematische Zwänge und mit größter künstlerischer Freiheit: Er bestimmte
den Verlauf, die Genremodelle, das Tempo und die musikalischen Idiome der
Show ‐ ihr musikalisches Layout,
Laut Weill bestand die Herausforderung für den Komponisten darin, daß
jede Show zugleich mit ihrem Zugriff auf eine äußerst große Vielfalt an musi‑
kalischen Idiomen >>einen eigenen Stil, eine eigene Textur, eine eigene Bezie‑
hung zwischen Worten und Musik kreieren [mußte], weil die Musik ein wahr‑
haft integraler Bestandteil des Stücks wird.«2 Alle Nummern einer Partitur
mußten miteinander wesensverwandt sein, dennoch sollte jede über Merkmale
verfügen, die der Gesangsrolle und der jeweiligen dramatischen Situation e n t ‑
sprachen, und zugleich die gattungsspezifischen Bedeutungscodes berücksich‑
tigen, die der generellen Syntax des Musicals im Goldenen Zeitalter entsprach.
Okla/ooma! und T176 King and I beispielsweise enthielten Charmsongs (Surrey
wit/o the Fringe on Top und Getting to Know You), Monologe (Loner Room
Stil, Struktur und Syntax des modernen Musicals 173

Yul Brunner und Gertrude Lawrence


in >>Shall We Dance<< aus The King
und I (1951). Photo: Vandamm

und A Puzzlement), Balladen (People Will Say We’re in Lot/e und We Kiss in a
Shadow), trotzige »I want«‐Songs (Many a New Duy und Shell I Tell What I
Think of Youf), ausgedehnte Ballettpassagen (Laurey’s Dream und The Small
House of Uncle Thomas) und Comedy‐Nummern über kulturelle Bräuche (Kan‑
sas City und Western People m e y ) . Freilich stehen diese Paare an ganz Ve r ‑
schiedenen >>Stellen<< im musikalischen Gefüge ihrer jeweiligen Shows und je‑
des Pendant scheint stilistisch einen stärkeren Bezug zur eigenen Show zu besite
zen als zum Genretyp der Paare oder gar zu den anderen Arbeiten des Kompo‑
nisten im jeweiligen Songtyp. Faktisch verlieh die Manipulation der normier‑
t e n Songtypen und ‐formen dem Komponisten eine eigene narrative Autorität
und Autonomie. Die musikalische Gestalt einer Partitur beugt sich nicht etwa
einem Kanon unflexibler Regeln, sie entwickelt sich vielmehr aus der kreativen
Reaktion des Komponisten auf die Notwendigkeiten der besonderen Show, aus
der Spannung zwischen Gattungskonvention und ursprünglicher Konzeption.
Keine zwei Partituren des Goldenen Zeitalters wurden auf Grundlage dessel‑
ben Sortiments von Entwürfen konstruiert.
Obwohl das Bühnenäquivalent des populären amerikanischen Songs der zen‑
trale Baustein der musikalischen Konzeption blieb, fanden die Komponisten
zahlreiche Wege, einen Song zu verzieren, verlängern, erweitern, kombinieren,
verkürzen, verschleiern und bei Gelegenheit sogar zu ersetzen, indem sie orche‑
strale Untermalungen, Rezitative, Ariosi, chorische Einwürfe, instrumentale
Überleitungen, leitmotivische Verfahrensweisen und expressive Abwandlungen
von musikalischen Strukturen verwendeten. Die Stan dardform des 32‐taktigen
Songs W a r selbst das Resultat einer binären Opposition, wobei die Bridge (der
B‐Abschnitt der AABAxForm) in einen anderen harmonischen und melodischen
Bereich wechselte, der einen kontrastierenden Ausflug ins Lyrische untermal‑
te. Obwohl das harmonische Vokabular selten die Grenzen der Tonalität des
174 Das Goldene Zeitalter des Musicals

19. Jahrhunderts sprengte, befleißigten sich die Komponisten eines beachtli‑


chen Einfallsreichtums in Hinblick auf die Technik und einer enormen musil ‑
stilistischen Vielfalt. Viele Bühnensongs verwendeten Tanzidiome ‐ historische
wie zeitgenössische ‐ als musikalische Grundlage, und die Entscheidung des
Komponisten für ein Idiom fungierte oft als Mittel zur Charakterisierung oder
Kommentierung. Das reichte vom bloß Evokativen (The Rain in Spain in My
Fair Lady) bis z u m kritische Reflexiven (Me and My Town in Anyone Can
Whistle). Oft gab das Heraufbeschwören von Wiedererkennbaren Chiffren solch
historischer Formen wie Vaudeville, Burleske, Gilbert 86 Sullivan und Wiener
Operette dem Publikum ein Interpretationsraster an die Hand. Der Soft‐Shoe‑
Walzer und die klischeehaften instrumentalen Floskeln und Allgemeinplätze
von Ems/7 Up Your Ska/eespeare beispielsweise verwandelten zwei Gangster
auf der Stelle in liebenswerte Vaudevillianer, die sich der 11-Uhr‐Zäsur v o n
Kiss Me, Kate bemächtigten. Selbst die Broadwayoper Street Scene verwendet
die 32-taktige Songform als Basis für sieben Musiknummern, doch das Aus‑
maß, in dem dieses Formscherma in jeder Nummer modifiziert wird, zeigt den
Grad an Gedankentiefe, Unabhängigkeit und Spontaneität an, der in der Rolle
des Sängers z u m Ausdruck kommt.1 1 S.K.H. Kowalke, K u r t Weil], Mo‑
Komponisten des Goldenen Zeitalters begegneten intratextuellen Normen derne und Populäre Kultur: Öf‑
fentlichkeit als Stil (übersetzt v.N.
häufig mit intertextuellen Anspielungen und beschworen Anklänge an spezielle Grosch), in: N. Grosch (Hg.),
Werke, musikalische Idiome oder stilistische Konventionen herauf, die der Show Emigrierte Komponisten in der
oder sogar dem Genre fremd waren. Soluden sie die Zuhörer ein, v o m Prosze‑ Medienlandschaft des Exils 1933‑
nium aus einen breiteren Bedeutungshorizont anzuvisieren. Der surreale, dis‑ 1945 (Veröffentlichungen der
Kurt-Weill‐Gesellschaft Dessau 2),
s o n a n t e Beginn v o n The Carousel Waltz hat nichts mit Coney Island zu t u n ;
Stuttgart 1998, S. 171‐220.
Gays and Dolls eröffnet mit einer dreistimmigen, v o n Glücksspielern gesunge‑
nen Fuge über Pferderennen, und die utopische Vision des Traumballetts aus
der West Side Story evoziert insbesondere durch Nachahmungen von Aaron
Coplands Landschafts‐ und >>Prärie<<‐Kompositionen weithin offene amerika‑
nische Welten als Zufluchtsorte. Allerdings drohte die Fliehkraft so vieler un‑
terschiedlicher Idiome, Stile und Songtypen, die in einem Musical des Golde‑
nen Zeitalters untergebracht waren, die Partitur bloß in eine Summe ihrer Teile
zu verwandeln. Nur wenige Komponisten (Weill, Bernstein und Loesser vor
allem) machten sich alle Arten und Abstufungen von musikalischer Wiederho‑
lung, Entwicklung und Transformation zunutze, um das, was anscheinend nicht
zu vereinheitlichen ist, zu vereinheitlichen: Reprise ausgedehnter Abschnitte
von Nummern, Refrains innerhalb musikalischer Szenen, Urmotive und the‑
matische Reminiszenzen. Es gibt wohl kein Musical im Goldenen Zeitalter, das
im Rahmen einer unvorstellbar großen Bandbreite an stilistischen Idiomen
melodisch, harmonisch und rhythmisch so homogen ist wie West Side Story.
D o r t fungiert die unaufgelöste Dissonanz des C‐Fis‐Tritonus, mit der die finale
Beerdigungsprozession abschließt, als Generator für das wichtigste themati‑
sche Material der Show.
Angesichts der durchgängigen Konvention binärer Gegensätzlichkeit in ei‑
n e m Musical ist esnicht erstaunlich, daß das Gravitationszentrum der Partitur,
deren Mechanismus zur Bündelung der musikalischen Gesamtstruktur in einer
Einzelszene, das Duett war. Dort kam ein komplementäres Paar im Song, ge‑
l Stil, Struktur und Syntax des modernen Musicals 175

>>There’s N0 business Like Show Busi‑


ness« mit Ethel Merman in der Titel‑
rolle v o n Annie get Your Gun (1946).
Poto: Vandamm

wöhnlieh einer Ballad, zusammen. In Brigadoon beispielsweise singen Tommy


und Fiona drei Duette, v o n der ersten Begegnung (The Heatlaer on the Hill)
über die vorsichtige Erklärung ihrer Gefühle füreinander (Almost Like Being in
Loue) bis hin zu ihrem unfreiwilligen Abschied (From This Day On). In jedem
Duett singt einer von ihnen einen Verse plus Refrain, dann imitiert der andere
sowohl Worte als auch Musik, bevor sie sich zusammentun, um im Unisono
oder. zweistimmig zu singen. Ihr letztes Unisono wird nicht e t w a durch Dishar‑
monie untereinander bedroht, sondern durch die Zusammenhanglosigkeit der
Welten, in denen sie leben. Auf dem Höhepunkt der Show beschließt Tom,
nachdem er gehört hat, wie Fiona Teile aus zweien der drei Duette wiederholt,
seine Welt (und seine Verlobte) zu verlassen und nach Brigadoon zurückzukeh‑
ren.
Im Musical des Goldenen Zeitalters sind die Duette hinsichtlich der Formen
und dramatischen Funktionen von beachtlicher Mannigfaltigkeit. In den einen
singen die Darsteller sukzessive den gleichen oder einen eng damit verwandten
Vers plus Refrain (I’ll Know und I ’ue Never Been in Love Before in Guys and
Dolls). In anderen wechseln sich die beiden beim Singen der Textzeilen des
Songs ab (Anything You Can D0 in Annie Get Your Gun and I Remember It
Well in Loue Life, dem Songtext, den Lerner im Film Gigi wiederverwendete).
In anderen wiederum singt das Paar kontrastierende Musik, bevor es einen
Kompromiß im Unisono oder zweistimmig findet (Small Tal/2 in Pajama Game
und A Boy Like That/I Hat/e a Love aus der West Side Story). Eine virtuose
Variante setzt ganze Songs im Kontrapunkt gegeneinander, ohne daß sich eine
Lösung jenseits der Einigkeit über das UneinigaSein fände (Old Fashioned Wed‑
ding, das Berlin 1966 in Annie Get Your Gun einfügte). Die vielleicht am häuw
176 Das Goldene Zeitalter des Musicals

figsten verwendete, jedoch verschleierte Form des Duetts ist die Reprise der
Ballade einer Musicalfigur durch ihre/n >>Partner/Partnerin« im zentralen Au‑
genblick des Wiedererkennens, bisweilen mit einem neuen Text, bisweilen mit
dem gleichen, der eine Versöhnung signalisiert (So in Loue in Kiss Me, Kate
und Till There Was You in The Music Man). Obwohl diese >>Duette<< im Drama
sowohl Zeitlich wie räumlich voneinander getrennt sind, nimmt der Zuhörer
nicht bloß den Gesang eines Protagonisten wahr, der den Song eines anderen
singt, sondern hört, daß das Paar letztlich das im Song von Anfang an impli‑
zierte Duett vervollständigt. Bei noch subtilerem >Duettieren< werden Elemente
aus dem Song eines Darstellers in einen analogen Song des anderen eingefügt.
Eine zustimmende Antwort auf Shall We Dame? ist das choreographische
Äquivalent z u m Duett, die physische Manifestation der binären Paarverbin‑
dung. Nur in der Geborgenheit einer ritualisierten l’olka können Anna und der
König von Siam ihre gegenseitige erotische Anziehungskraft ausleben. »Ganz
ineinander verloren<< >>verfallen<< Tony und Maria »in Tanzschritte<<, bevor sie
in der West Side Story einander ein Wort sagen oder zusingen. Der Tanz eröff‑
n e t e dem Musical tatsächlich genauso viele Variationen von »Paarverbindun‑
gen<<‚ wie es der Gesang tat: Einzelne versuchen, ihre Partner auf dem Tanzbo‑
den zu übertreffen; einer lehrt den anderen einen neuen Schritt; Paare t a n z e n
separat, aber spiegelverkehrt zueinander; ein Protagonist t a n z t ekstatisch, aber
mit dem >>falschen<< Partner; n u r in der konventionellen Umarmung des Tan‑
zens können Partner einander ihre Zuneigung eingestehen. In der Tat scheint
der Einbezug der Choreographie in die Struktur des Musicals im Goldenen
Zeitalter und die Konsequenz, daß Darsteller im amerikanischen Musicalthea‑
ter so gut tanzen wie singen und schauspielern können müssen, eines der e n t ‑
scheidenden Merkmale der Gattung zu sein. In der Production Number k0n‑
serviert das Musical des Goldenen Zeitalters die Fähigkeit des Tanzes, durch
Spektakel zu überwältigen. Es bedient sich des narrativen Tanzes, um Dialoge

Jerome Robbins und Stephen Sondx


heim proben mit Larry Kert (Tony)
und Carol Lawrence (Maria) in West
Sida Story (1957). Photo: Friedman‑
Abeles
5til, Struktur und Syntax des modernen Musicals 177

zu ersetzen und die Handlung voranzutreiben, zehrt v o n einer so großen Band‑


breite an Stilen und Idiomen wie die Musik, entwickelt ein eigenes Repertoire
an Comedy-Traditionen und lotet wie die Musik die Möglichkeiten histori‑
scher Stile (vor allem des Stepptanzes) und des intertextuellen Pasticcios aus.
Leider ist der Tanz das am wenigsten dokumentierte Element des Musicals; die
ursprüngliche Choreographie wurde selten schriftlich festgehalten und über‑
lebte den Transfer auf die Leinwand selten unbeschadet; Neuinszenierungen
greifen selten auf die ursprünglichen Tänze zurück und verzichten häufig sogar
auf die originale Tanzmusik. Nichtsdestotrotz demonstrieren jüngere Revuen,
die dem Repertoire der Broadwaychoreographie wie Jer'ome Robbins’ Broad‑
way und Posse huldigen, das fundamentale Gewicht des Tanzes und seiner Schöp‑
fer im Musical des Goldenen Zeitalters.

Im Oktober 1956, als Candide gerade Premiere am Broadway hatte, widmete


Bernstein eines seiner Omnibus‐Fernsehprogramme einem historischen Über‑
blick über das amerikanische Musicaltheater, >>eine Kunst, die aus amerikani‑
schen Wurzeln hervorging, aus unserer Redeweise, unserem Tempo, unseren
moralischen Ansichten, unserer Art der Bewegung.« >>Das amerikanische M u ‑
sicaltheater<<‚ fuhr er fort, >>hat einen langen Weg zurückgelegt, dabei entlehnte
es hier etwas aus der Oper, dort aus der Revue, da aus der Operette, anderes
aus dem Vaudeville ‐ und vermischte all diese Elemente zu etwas ganz Neue
ern.« Nachdem er die sorglose >>Naivität<< der Musical Comedy in den zwanzi‑
ger Jahren und ihre prosaische Adoleszenz in den Dreißigern illustriert hatte,
bemerkte Bernstein, daß »wir in den letzten fünfzehn Jahren die glänzendste
Periode, die unser Musicaltheater jemals erlebt hat, genossen haben. [...] Jedes
[neue Musical] ist eine Überraschung; niemand weiß, welche neuen erstaunli‑
chen Wendungen und Methoden und Stile als nächstes auftauchen werden.«
Doch als Fazit stellte er die These auf, daß >>wir. uns jetzt in einer historischen
Position befinden, die der des volkstümlichen Musiktheaters in Deutschland
kurz vor MOZart ähneln, und daß >>alles, was wir brauchen, unser Mozart
1 L. Bernstein, The joy of Music, ist.<<1Allerdings ging Bernsteins Rezept für das nächste Stadium der Musical‑
New York 1959, S. 174‐179. evolution, aus welchem Grund auch immer, v o n der Prämisse aus, daß das
Musical des Goldenen Zeitalters die Ambition habe, ein neuer Operntypus zu
werden, in Zukunft mit dem Komponisten als Schlüsselfigur. Selbst wenn die
Broadwayoper aus Bernsteins Sicht zu diesem Zeitpunkt realisierbar war, war
dies eine merkwürdige Sichtweise für jemanden, der beinahe täglich mit Robbins,
Laurents, Sondheim und Prince an der West Side Story zusammengearbeitet
hatte. Die rhythmische Komplexität, die harmonische Syntax und das organi‑
sche Beziehungsgefüge der West Side Story mögen de facto genauso kühn wie
jede amerikanische Oper dieser Zeit gewesen sein. Doch Bernsteins Aufnahme
bei der Deutschen Grammophon von 1984, mit Kiri Te Kanawa und Jose Car‑
reras, bezeugt schmerzhaft, daß die Quintessenz der Show verloren geht, wenn
sie mit Opernsängern besetzt wird, die den nicht‐vokalen Anforderungen zu
genügen außerstande sind. Viele Inszenierungen der West Side Story (und ande‑
178 Das Goldene Zeitalter des Musicals

rer Klassiker des Goldenen Zeitalters) in Opernhäusern haben zudem bewie‑


sen, daß etwas Wesentliches fehlt, wenn das Musical vor einem Opernpubli‑
kum mit Opernsängern aufgeführt wird, die die sensibel ausbalancierte Allianz
der Künste zunichte machen, welche von den federführenden Teammitstreitern
nach manchem Kampf um die Priorität zusammengeschmiedet worden war.
>>Der wahre Gestus der Sh0w«, behauptete R0bbins, lag darin, »in dieser Zeit
herauszufinden, wie weit wir als >idealistische Künstlen gehen konnten, um
unsere Fähigkeiten und Talente in ein Musical einzubringen.« Die Herstellung
eines Musicals ist anders als bei den meisten Opern eine gänzlich auf Teamar‑
beit beruhende Leistung und Resultat einer komplexen Mixtur von Kompo‑
nenten. Die Ziele und Leistungen des Musicals im Goldenen Zeitalter waren
weder höher noch niedriger als die der Oper, allerdings unterschieden sie sich
auf emphatische Weise. Auch ohne einen Mozart avancierte das Musical zur
international repräsentativen musikdramatischen Gattung des 20. Jahrhunderts.

Aus dem Englischen übertragen von Ute Henseler

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