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Elisabeth

von Leliwa

Das Laboratorium der Gefühle: Georg Friedrich Händels „Alcina“



Im Wandel der Zeit

Georg Friedrich Händel ist in vielerlei Hinsicht ein Phänomen: als europäischer Musiker,
als höchst produktiver und vielseitiger Komponist, als gewiefter Unternehmer, vor allem
aber in seiner Rezeption durch die Nachwelt. Der renommierte englische Händel-
Forscher Winton Dean formulierte in einem Lexikon-Artikel kategorisch: „Kein großer
Komponist wurde jemals von der Nachwelt so falsch dargestellt wie Händel.“1 Bereits
kurz nach Händels Tod fokussierte sich die Wahrnehmung auf die großen Oratorien, vor
allem deren christlichen Gehalt (von dem auf die Persönlichkeit des Komponisten
rückgeschlossen wurde) und deren monumentale Chorsätze. Händels 42 Opern dagegen
wurden kaum geschätzt: Von „Arien-Bündeln, durch Rezitativ-Fäden
zusammengehalten“2, sprach selbst der erste Händel-Biograph und Herausgeber der
ersten Werkausgabe Friedrich Chrysander.

Eine Wende brachte erst die Renaissance der Händel-Opern im 20. Jahrhundert, die von
den Göttinger Händel-Festspielen (dem weltweit ältesten Festival für Alte Musik)
ausging. Hier brachte der Kunsthistoriker Oskar Hagen am 26. Juni 1920 Rodelinda auf
die Bühne und löste damit eine Welle von Wiederentdeckungen aus, die zu weiteren
Festspielgründungen (zum Beispiel in Halle 1922), aber auch zu regelmäßigen
Aufführungen in deutschen Opernhäusern führten. Bereits in den 1920er Jahren waren
es progressive Regisseure, die sich der geschmähten Dramaturgie der Händel’schen
Opera seria annahmen. So wundert es nicht, dass sich ab den 1980er Jahren, im Zeitalter
des „Regietheaters“, die Reichweite nochmals erhöhte. Neben Deutschland zählen
inzwischen auch Großbritannien, die USA und nicht zuletzt die Oper Zürich zu den
Hochburgen der Händelpflege.

Ein erstaunlicher Aspekt ist es, dass für andere populäre Komponisten des Barock wie
Vivaldi oder Scarlatti eine vergleichbare Opernrenaissance ausgeblieben ist. Die Händel-

1 „No great composer has been more misrepresented by posterity than Handel.“ Winton Dean: Handel, George Frideric. In: The New
Grove Dictionary of Music and Musicians, Hg. Stanley Sadie, Band 8, London 1980, Reprint Paperback 1995, S. 112.
2 zit.n. Manuela Jahrmärker: Händel-Renaissance – Renaissancen. In: Händels Opern. Das Handbuch. Teil I, Hg. Arnold Jacobshagen

und Panja Mücke, Laaber 2009, S. 409.


Renaissance des 20. Jahrhunderts dagegen hat sich zu einem „Händel-Fieber“3, wie es
die deutsche Musikforscherin und Opernspezialistin Silke Leopold nennt, gesteigert: „...
es ist, allem voran, die Musik, die uns die eigenen Attitüden bewusst und jene Parallelen
verständlich zu machen imstande ist, die Händels Opern heute so zeitgemäß erscheinen
lassen.“4 So steht zu vermuten, dass die Gründe für die heutige Anziehungskraft in
Händels Personalstil zu finden sind – der dadurch für das heutige Publikum zum
Synonym und Modellfall der Barockoper geworden ist.

Von Sachsen nach Italien

Händels Biographie zeichnet sich durch eine außergewöhnliche, fast unheimliche
Fähigkeit zur Anpassung an die unterschiedlichsten Lebensumstände aus. Seine frühen
Jahre schienen eher den Weg als Kirchenmusiker vorzugeben: Als Organist verdiente er
sich in seiner Geburtsstadt Halle die ersten Sporen, machte sich aber als 18-jähriger auf
den Weg nach Hamburg, um weitere Erfahrungen zu sammeln. Hier arbeitete er von
1703 bis 1705 an der Oper am Gänsemarkt – wobei man sich von dem ländlichen Namen
nicht in die Irre führen lassen darf: Das erste und wichtigste bürgerlich-öffentliche
Theater Deutschlands verfügte über ein Haus mit 2000 Plätzen, der größten
europäischen Bühne der Zeit (mit 11,5 Metern Breite, 9 Metern Höhe und 28,5 Metern
Tiefe5), einem festen Ensemble von acht Sängern für Hauptrollen und einem Orchester
von etwa 20 Musikern. Johann Mattheson, Freund und Mentor des jungen Händel in
Hamburg, glaubte, dass „die Opern die besten Music-Schulen seien“, da sie „Architectur,
Perspective, Mahlerey, Mechanik, Tanzkunst, Actio oratoria, Moral, Historie, Poesie und
vornehmlich Musik zur Vergnügung und Erbauung vornehmer und vernünftiger
Zuschauer“6 vereinigten. Ohne Zweifel dürfte der rührige Händel, der an der Hamburger
Oper zunächst als Violinist, dann als Cembalist tätig war, hier das Theater-Handwerk in
all seinen Facetten gelernt haben. Musikalisch-kompositorisch hatte die Hansestadt
auch einiges zu bieten: Neben Mattheson zählten mit Georg Philipp Telemann (den
Händel bereits 1702 in Halle kennen und schätzen gelernt hatte) und dem
Operndirektor und -komponisten Reinhard Keiser führende Musiker der Zeit zu Händels
Hamburger Freundeskreis. In seinem Musiker-Lexikon Grundlage einer Ehrenpforte von


3 Silke Leopold: Händel. Die Opern, Kassel 2009, S. 8.
4 Leopold, S. 10f.
5 Vgl. Hans Joachim Marx: Hamburg. Händel an der Gänsemarkt-Oper, in: Händels Opern. Das Handbuch, S. 16.
6 Marx, S. 15.
1740 behauptet Mattheson (vielleicht auch etwas missgünstig), dass Händel, als er in
Hamburg ankam, eigentlich nichts außer regelgerechten Fugen komponieren konnte,
und dass er „sehr lange, lange Arien und schier unendliche Cantaten, die doch nicht das
rechte Geschicke oder den rechten Geschmack, ob wohl eine vollkommene Harmonie
hatten“7 geschrieben habe. Die Hamburger „Music-Schule“ schien jedenfalls Wirkung zu
zeigen: Die beiden ersten Opern Almira und Nero (auf deutsche Libretti), die er 1705 für
das Theater am Gänsemarkt schrieb, wurden ein großer Erfolg.

Über Händels Zeit in Italien wissen wir dagegen nur wenig Gesichertes. Offensichtlich
baute er sich dort ein Netzwerk von Förderern und Interpreten auf. Bei führenden
Komponisten wie Corelli, Scarlatti und Steffani konnte er seine Schreibweise für
Instrumental- und Vokalmusik auf den neuesten Stand bringen, in Florenz seine erste
italienische Oper (Rodrigo, 1707) präsentieren. Nicht zuletzt lernte er die bedeutendsten
Sängervirtuosen kennen, was ihm bei seinen späteren Aktivitäten zugute kam.

Der Unternehmer in London

1710 verließ Händel Italien, trat kurzzeitig eine Position als Kapellmeister am
Hannoverschen Hof an, reiste aber Ende des Jahres bereits nach London. Hier fanden
seit 1705 Versuche statt, eine italienische Opernsaison in London zu etablieren – mit
wechselhaftem Erfolg und ständig wechselnden Impresarios, da in England ein
gesungenes Drama als theatralisches Konzept unbekannt war. Auch die überaus
erfolgreiche Uraufführung von Händels sechster Oper Rinaldo am 24. Februar 1711 im
Queen’s Theatre am Haymarket (das im Vergleich zu Hamburg mit 900 Plätzen nur
einen kleinen Zuschauerraum besaß) konnte noch keine neue Opern-Ära in London
hervorrufen. Erst 1720 wurde mit der Gründung der Royal Academy of Music (nicht zu
verwechseln mit der heutigen gleichnamigen Musikhochschule) der Opernbetrieb auf
eine sichere Basis gestellt. Das Unternehmen wurde durch Aktienausgaben (sogenannte
Subskriptionen), Einnahmen aus der Abendkasse und eine jährliche Spende des
opernbegeisterten König George I. finanziert und kaufmännisch durch den Impresario
John Vanburgh geführt. Händel, der 1712 seinen Wohnsitz in der britischen Metropole
genommen hatte, wurde dessen musikalischer Leiter. Er erhielt Honorare als Komponist
und ein (nicht bekanntes, aber wohl nicht unbedeutendes) Gehalt als „Master of the

7 Leopold, S. 11.
Orchester“8. 1719 wurde er zudem auf Reisen geschickt, um in Dresden und Italien
Sänger für das Unternehmen einzukaufen.

Mit dem gefeierten Kastraten Senesino und den Sopranistinnen Francesca Cuzzoni und
Faustina Bordoni sangen in den 1720er Jahren an der Royal Academy gefeierte Stars für
das Londoner Publikum, gewichtige Händel-Premieren wie Ottone (1723) und Giulio
Cesare in Egitto (1724) trugen zum künstlerischen Erfolg bei. Dieser rief allerdings auch
den typisch britischen Spott auf den Plan: John Gays satirische Beggar’s Opera, eine
Parodie auf die stilistischen Manieriertheiten der italienischen Opera seria, deutete auf
den Wandel in der Gunst des Publikums hin. Mangelnde Subskriptionen besiegelten
1728 das Schicksal der Royal Academy. Doch bereits ein Jahr später gründete Händel
(vom ersten Konkurs unbeeindruckt) mit dem Impresario Johann Jacob Heidegger und
wiederum unter der Protektion des Königs die sogenannte Second Academy. Doch
diesmal sollte die Konkurrenz härter ausfallen. 1733 gründete eine Gruppe von Adligen
um den Prince of Wales die Opera of Nobility, der es nicht nur gelang, mit Farinelli den
berühmtesten Sänger der Zeit zu engagieren, sondern auch fast alle Sänger Händels
abzuwerben. Dies führte zum Ruin der Second Academy 1734. Danach nahm Händel die
Herausforderung an, als eigenverantwortlicher Impresario an zwei Abenden in der
Woche das Covent Garden Theatre zu bespielen. Hier kam es in der Saison 1735 zur
Uraufführung von Alcina, die mit 18 Aufführungen und Wiederaufnahmen im Folgejahr
zu Händels erfolgreichsten Londoner Schöpfungen zählte. 1737 beendete Händel nach
einem Schlaganfall die Zusammenarbeit mit dem Covent Garden Theatre. Er kehrte –
nachdem nun auch die Opera of Nobility Konkurs angemeldet hatte – 1738 mit
Heidegger an das King’s Theatre am Haymarket zurück, wandte sich aber bereits
zunehmend dem weniger kostenintensiven englischsprachigen Oratorium zu. Seine
letzte und 42. Oper Deidamia brachte er 1741 am Lincoln’s Inn Fields Theatre heraus.

Händel selbst blieb übrigens von den finanziellen Wechselfällen seiner verschiedenen
Opernunternehmungen erstaunlich unbehelligt: Durch die lebenslange (noch von Queen
Anne verfügte) königliche Pension von 200 £, die offensichtlich kluge Ausgestaltung
seiner Verträge und eine glückliche Hand im Umgang mit Aktien lebte er stets in
wohlhabenden Verhältnissen.


8 Arnold Jacobshagen: London: Händel als Opernkomponist und Unternehmer, in: Händels Opern. Das Handbuch, S. 49.
Das Laboratorium der Affekte

Der heutige Zuschauer und Hörer mag in der Handlung einer Opera seria wie Alcina auf
den ersten Blick eine stringente Logik und psychologisch definierte Charakterzeichnung
vermissen. Mit Sicherheit beruht auch das Desinteresse des 19. Jahrhunderts an dieser
Gattung auf einer solchen Einschätzung. Gerne wurde dieser angebliche Mangel damit
erklärt, dass die Opera seria lediglich ein Vehikel zur Darstellung sängerischer
Virtuosität sei. Versteht man jedoch jede Theaterform als Spiegel ihrer Zeit, greift eine
solche Auffassung viel zu kurz. Die Oper des 18. Jahrhunderts ist ein Lehrstück über die
Affekte – die Gefühle und Leidenschaften der Menschen, ihre Wechselhaftigkeit und ihre
Folgen. Und sie zeigt die Widersprüche zwischen gesellschaftlichen Konventionen und
individuellem Empfinden, zwischen „Pflicht“ und „Gefühl“, zwischen „Ruhm“ und
„Liebe“.

In eben diesem Konflikt befindet sich der männliche Held von Alcina, Ruggiero: „D’Amor
vile guerriero, è questo della gloria il ben sentiero?“ (Der Liebe gemeiner Krieger, ist das
der gute Weg des Ruhmes?) schleudert Melisso, Ruggieros ehemaliger Erzieher, dem
unter Alcinas Bann stehenden jungen Ritter in der ersten Szene des 2. Aktes entgegen.
Ruggieros Wandlung vom verweichlichten Liebhaber (dem Typus des eroe effeminato,
des verweiblichten Helden) zum entschlossenen Krieger zeichnet Händel in nicht
weniger als acht Arien nach. Dabei geht es jedoch nicht um die psychologisch-
individuelle Entwicklung, sondern um jene Gemütszustände (Affekte), die dem
kollektiven Bewusstsein zuzuordnen sind und von jedem Zuhörer nachvollzogen
werden können.

Einer solchen „Zurschaustellung“ der Affekte entspricht auch die typische musikalische
Form der Opera seria: die dreiteilige Da Capo-Arie. Der erste Teil etabliert das jeweilige
Gefühl (wie Freude, Zorn, Eifersucht, Spott, Trauer, Klage ...). Der Mittelteil kann den
Affekt weiter vertiefen – oder einen deutlichen Kontrast dazu liefern. Danach wird der
erste Teil als Da Capo wiederholt, die Melodielinie vom Sänger oder der Sängerin reich
verziert und variiert. Dieses Schema scheint sich zunächst jeder dramatischen Absicht
zu widersetzen: Entwickelt sich die Figur innerhalb der Arie doch nicht weiter, sondern
kehrt wieder in ihre emotionale Ausgangsposition zurück. Geht es hier also tatsächlich
nur um ein Schaufenster für sängerische Eitelkeit?

Gerade in Alcina zeigt uns Händel, wie subtil und variationsreich die Affekte und ihr
Wandel innerhalb des Formschemas dargestellt werden können. Alcinas große Arie im
2. Akt „Ah, mio cor!“ (Ach, mein Herz) zeigt die Haupfigur an einem Wendepunkt des
Dramas: Im vorangehenden Rezitativ hat ihr Feldherr Oronte vom Sinneswandel und
der Flucht ihres Liebhabers Ruggiero berichtet. Der erste Teil der Arie ist ein
ergreifender Klagegesang in c-Moll: Das einleitende Ritornell eröffnet einen seltsam
verloren klingenden Raum – einzeln angespielte Streicherakkorde ertönen über einer
Basslinie, die jeweils auf die erste Zählzeit verzichtet. Der erste Einsatz der Sopranistin
„Ah, mio cor!“ muss sogar ganz auf die Begleitung der Instrumente verzichten, die
Einsamkeit der Titelfigur wird hier ohrenfällig. Auch im weiteren Verlauf bewegt sich
die Melodielinie nur in kurzen Einheiten. Der Mittelteil der Arie zeigt einen vollkommen
kontrastierenden Affekt. Alcina zeigt sich zum ersten Mal im Verlauf der Oper als
Königin („Son regina“), mit einem furiosen Es-Dur-Allegro, das Zorn und Rachelust
beschwört. Nun aber das Da Capo: Unvermittelt wechselt Händel am Schluss des
Allegro-Mittelteils in die unbegleitete Phrase „Ah, mio cor!“ des Beginns über, es folgt
das Da Capo. Der Gestus der Herrscherin steht Alcina nicht mehr zur Verfügung, ihre
Vernichtung als Königin und als Geliebte nimmt in dieser Arie ihren Anfang.
Dramaturgisch folgerichtig wird sie in ihrem nächsten Auftritt am Schluss des 2. Aktes
auch als Zauberin versagen. Der Kontrast der Affekte von Zorn und (verratener) Liebe
prägt dabei das große, ungewöhnliche Accompagnato „Ah! Ruggiero crudel“ (Ah!
grausamer Ruggiero“). In harschen Modulationen wechseln Anklage und
Liebesbekenntnis („E pur ti adora ancor“ / Und doch bete ich dich noch an), gefolgt von
der misslingenden Geisterbeschwörung, in der Alcina schließlich in völliger
Verlassenheit, nur noch von der unisono-Begleitung der Violinen gestützt, vorgeführt
wird. Die anschließende Da Capo-Arie „Ombre pallide“, in der sich Alcina in einer vagen
Verzweiflung an die unsichtbar bleibenden Geister wendet, verzichtet dagegen auf einen
starken emotionalen Kontrast zwischen Haupt- und Mittelteil. Stattdessen formuliert
Alcina im Mittelteil die zielgerichtete Überlegung, ihren Zauberstab zu zerbrechen, eine
Handlung, die sie dann im Abgang nach dem Da Capo ausführen wird (die
Bühnenanweisung lautet „gettando via la verga magica“, also „den Zauberstab
fortschleudernd“).

Starke Frauen und schwache Männer

Alcina ist ein grandioses Beispiel für die vielfältigen Möglichkeiten der
Geschlechterrollen in Händels Version der Opera seria. Auf Ruggieros Entwicklung vom
verweichlichten Geliebten zum erfolgreichen Feldherren wurde bereits hingewiesen.
Händel entfernt sich in seiner Darstellung dieses Helden recht weit von den
Gattungskonventionen, denn er konzentriert sich mehr auf Ruggieros Rolle als
Liebhaber denn als Kriegsheld: Lediglich die letzte Arie aus dem 3. Akt „Sta nel ircana“
(Wild steht die Tigerin in ihrer Höhle) ist eine traditionelle, mit reichhaltigstem
Koloraturenwerk ausgestattete Kastratenarie. Dagegen gibt Händel dem männlichen
Helden mit dessen Abgangsarie aus dem 2. Akt „Verdi prati“ (Grüne Wiesen) eine seiner
ungewöhnlichsten Schöpfungen zu singen: In einer Sarabande verabschiedet sich
Ruggiero mit einer unverzierten Melodielinie von den illusionären Naturschönheiten
der verzauberten Insel. Der schlichte Gestus und der Verzicht auf die Da Capo-Form
führen hier zu einem berührenden Moment der Wahrhaftigkeit. Es ist anekdotisch
überliefert, dass sich der Kastrat Carestini, für den Händel die Partie des Ruggiero
konzipiert hatte, zunächst weigerte, das angeblich anspruchslose Stück zu singen.9
Händel setzte sich durch und behielt recht: „Verdi prati“ wurde 1735 zu einer der
Erfolgsnummern der Oper. Händel platzierte diese Arie vor Alcinas große Szene der
vergeblichen Geisterbeschwörung – ein dramaturgischer Geniestreich, der allein
hinreichend unterstreichen würde, dass es sich in dieser Oper nicht um beliebig
konfigurierbare „Arien-Bündel“ handelt.

Ebenso „unheldisch“ wie Ruggiero stellt sich auch die Titelfigur Alcina dar. Sie ist
Zauberin und Herrscherin, doch ihre ersten beiden Arien „Di’, cor mio“ (Sag, mein Herz)
und „Sì, son quella“ (Doch, ich bin dieselbe) zeigt eine verliebte Frau, die ihr Glück, aber
auch ihre Abhängigkeit nicht verheimlicht. Der Schmerz über die verratene Liebe, die
Verzweiflung über den Verlust der magischen Fähigkeiten prägen die beiden Arien des
2. Aktes. Erst im 3. Akt erleben wir Alcina in dem für eine Regentin und Zauberin
typischen Affekt: dem Furor, der Wut. Der Hauptteil von „Ma quando tornerai“ (Doch
wenn Du wiederkehrst) droht dem untreuen Liebhaber in einem beweglich-energischen
Allegro Härte und Grausamkeit an – die Brüchigkeit dieser Behauptungen wird jedoch
durch einen gänzlich anders gestalteten Mitteilteil, das
Das zutiefst anrührende Largo „E pur, perché, t’amai“ (Und doch liebte ich dich) aus dem

9 Vgl. Winton Dean: Handel’s Operas. Vol. II 1726-1741, S. 322f.
3. Akt zeigt: Alcina würde Ruggiero verzeihen. Doch da dieser reagiert nicht („Non
vuoi?“ / Du willst nicht?), wird das wütende Da Capo des ersten Teiles auch
psychologisch sinnvoll. In ihrer letzten Arie „Mi restano le lagrime“ (Mir bleiben die
Tränen) ist Alcina nur noch liebende, trauernde Frau. In den großen Melodiebögen
scheinen die tragisch scheiternden Frauengestalten der Oper des 19. Jahrhunderts
bereits vorweg genommen.

Eine völlig andere Frauenfigur steht mit Bradamante auf der Bühne, der verlassenen
Braut Ruggieros, die sich allerdings nicht in Klagen ergeht, sondern sich als Mann
verkleidet (auch dies ein typischer Kunstgriff der Opera seria) aufmacht, den Treulosen
zurückzugewinnen. Was die beiden Hauptrollen Alcina und Ruggiero an energischer
Entschlossenheit vermissen lassen, hat Bradamante, eine Altistin, im Übermaß.
Eifersucht und Rache sind die Affekte, die ihre hochvirtuosen Arien im 1. Akt („È gelosia“
/ Es ist Eifersucht) und im 2. Akt („Vorrei vendircarmi“ / Ich will mich rächen)
bestimmen. Händel gibt einer Frau in Männerkleidern jene Arien, die man üblicherweise
eher vom Primo Uomo erwarten würde. Bradamante entspricht damit einem anderen
Topos des Barock: der Femme forte, der heldenhaften Frau nach antiken und biblischen
Vorbildern (wie zum Beispiel Cleopatra, Judith oder Esther).
Erst im dritten Akt wird Bradamante eine weitere Facette gegönnt: In ihrer letzten Arie
„Al’alma fedel“ (Einer treuen Seele) darf sie, nachdem Ruggiero zu ihr zurückgekehrt ist,
die Rolle der treuen und liebenden Frau annehmen.

Wie in jeder Opera seria gibt es neben der Prima Donna und dem Primo Uomo (der in
jenen Zeiten selbstverständlich ein Kastrat war) ein zweites Liebespaar, das hier durch
Alcinas Schwester Morgana und deren Feldherr Oronte dargestellt wird. Die
dramaturgische Funktion der beiden ist zunächst eine weitere Verkomplizierung der
Handlung, da Morgana sich in die als Mann verkleidete Bradamante verliebt, was
wiederum Oronte in Eifersucht versetzt und zu ironischen Überlegungen über weibliche
Treue veranlasst. Morgana ist aber darüber hinaus interessant, da sich die Figur in den
ersten beiden Akten eher kaprizös und oberflächlich zeigt, im 3. Akt aber in der Arie
„Credete al mio dolore“ (Glaubt meinem Schmerz) zur reuigen, empfindsamen Geliebten
wandelt. Die Partie des Oronte schrieb Händel im Verstoß gegen die Konventionen nicht
für einen Kastraten, sondern für den englischen Tenor John Beard, mit dem er ab 1734
kontinuierlich zusammen arbeitete. Daher muss die Paarbeziehung Morgana – Oronte
für die Ohren eines Publikums von 1735 einen ganz besonderen Klangcharakter gehabt
haben.

Bleibt man beim Bild des „Laboratoriums der Affekte“, so ist Alcina ein
Experimentierfeld der Liebe, die in den verschiedensten Situationen geprüft, reflektiert
und auch verwandelt wird. Händels Konzeption – auf eine der meist verwendeten
Themenvorlagen der Barockoper, Ludovico Ariostos Orlando furioso (1516) – zeigt in
einer hoch differenzierten Darstellung die Vergeblichkeit einer utopischen Liebe, wie sie
Alcina und Ruggiero entgegen aller „Pflicht“ zu leben versuchen. Doch Alcinas
Zauberinsel erweist sich als Illusion, Ruggiero kehrt – ohne große Liebesbekenntnisse –
zu seiner Braut Bradamante zurück und folgt wieder dem „Weg des Ruhmes“. Morgana
findet zu echten Empfindungen (die aber von ihrem Geliebten Oronte nur noch mit
Vorbehalt erwidert werden), der Titelheldin Alcina bleibt nichts außer ihrer völligen
Verlassenheit. Unter dem Deckmantel heroisch-antikisierender Figuren zeigt Händel uns
universelle menschliche Gefühle, die auch fast 300 Jahre nach der Komposition des
Werkes das Publikum bewegen. Die Figuren der Barockoper mögen damals wie heute
durch ihre stupende Gesangskunst faszinieren – im Kern aber ist es Händels
gleichermaßen präzise wie empathische Darstellung der Affekte, die einem Werk wie
Alcina den Sprung in das zeitgenössische Opernrepertoire ermöglicht haben.

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