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Geschlechtsidentität im
alten China
Helmut Magel
Wie sehr die Rollenverständnisse in Bezug auf Mann und Frau sowohl die Gesell
schaft als auch das Individuum im alten China durchdrungen haben und sich teil
weise in der heutigen Zeit noch vorfinden lassen, führt uns Helmut Magel vor Augen.
Das richtige oder falsche Geschlecht manns auf und waren für die Herkunftsfamilie verloren:
eines Kindes „Wenn eine Tochter einmal außer Hauses heiratet, so ist
sie für ihre Angehörigen futsch und hin wie ein Eimer
Die eigentliche Grundlage des Konfuzianismus und damit
ausgeschüttetes Wasser“, klagte die Dame Tschong im Ro-
auch Thema der Selbstkultivierung ist die sogenannte Pie-
man „Der Traum der Roten Kammer“ (18. Jhdt.).
tät (Xiao; 孝), die den Respekt der Kinder gegenüber den
Es hat mannigfaltige Methoden gegeben, den Zeugungs-
Eltern und zugleich die Verehrung der Ahnen forderte.
akt nach astrologischen, kalendarischen Gesichtspunkten
Die Generationenfolge, auf die Chinesen gerne hinweisen
sowie der richtigen Stunde gemäß auszurichten, unter-
(„... Arzt in der 36. Generation“ o. ä.), verlangte als erstge-
borenes Kind einen Sohn, weil nur er später den männli-
chen Nachkommen des Clans (Generationenfolge) und
die Ahnenverehrung sicherstellen kann. Jeder Clan hatte
eine Genealogie (Geschlechtsregister, Stammbaum), die
seine Tradition und Entwicklung aufzeichnete. Das Studi-
um, die Interpretation und Erklärung der Genealogie gal-
ten als wichtige Angelegenheit des Clans und Teil der Pie-
tät.
Pietät (Xiao; 孝) bedeutet, dass die Söhne für den Unter-
halt ihrer Eltern und der (nicht mehr oder nur noch be-
dingt arbeitsfähigen) Alten in der Familie zu sorgen ha-
ben. Sie umfasst wirtschaftliche Unterstützung, alltägliche
Versorgung, medizinische Behandlung, Krankenpflege so-
wie Anwesenheit am Sterbebett. Insofern hieß es, dass es
sich keine Familie leisten konnte, sich nicht um medizini-
sches Wissen zu kümmern. Darunter ist in erster Linie
„volksheilkundliches“ Wissen zu verstehen1, denn das sys-
tematische Wissen, das wir heute als „Chinesische Medi-
zin“ bezeichnen, war ein durch die klassische Schriftspra-
che von der Masse der Bevölkerung abgeriegeltes, nur
einer winzigen Elite zugängliches Wissen einschließlich
dessen Praxis. Die Kinder, insbesondere der männliche
Nachkomme als Erstgeborener, stellten sozusagen eine Art
Lebensversicherung für die Eltern dar. Töchter gingen bei Abb. 1 Szene aus „Der Traum der Roten Kammer“ (Darstellung von Xu
der Heirat vollständig in der Generationenfolge des Ehe- Baozhuan; 1810 – 1873) (aus Wikipedia, Der_Traum_der_Roten_Kammer)
stützt durch magische Rituale und diverse Kräuter um si- benden Schichten konnten sich auf Hauspersonal, Ärzte
cherzustellen, dass das zu zeugende Kind auch das ge- und Kräutermedizin stützen und hatten Zeit, im Wochen-
wünschte Geschlecht habe und gesund sei.2 „Bei der bett wieder zu Kräften zu kommen.10 Yangsheng als Mög-
Zusammenkunft [mit der Frau] werden sich viele Bären- lichkeit, das Leben zu nähren, hielt sich demnach in engen
träume ankündigen, und das Einhorn Qilin (騏驎) wird sozialen Grenzen:
viele Söhne bringen. Man kann die Tage danach zählen
und auf die [Niederkunft der Söhne] warten. Ich ließ“, so „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“
heißt es in einer Fallgeschichte des Arztes Wang Quan von
1568, „folgende Rezeptur zusammenstellen und nannte sie (Bertolt Brecht)
‚Qilin-Pillen’.“3 Es ging um einen Patienten, der bereits
40 Jahre alt war und noch keine männlichen Nachkom-
Es zeigt sich, dass sowohl Yangsheng als auch „Sexualität“
men hatte.
nicht außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse be-
Heute gibt es etliche Online-Angebote, die die Beantwor-
trachtet werden können. Ich gehe noch etwas weiter mit
tung der Frage „Bekomme ich ein Mädchen oder einen
der Feststellung: „Körper sind ‚von sich aus’ nicht ‚ge-
Jungen?“ versprechen, und zwar auf der „Grundlage
schlechtlich’. Geschlecht ist ein sozialer Entwurf, eine dis-
700 Jahre alter Aufzeichnungen des chinesischen Ge-
kursive Praktik. Der Blick auf den Körper ist bereits gesell-
schlechtsorakels“, das angeblich in einem Königsgrab bei
schaftlich verstellt.“11 Körper sind eingebunden in
Peking geborgen worden sei.4
Macht- und Herrschaftsverhältnisse und werden auf diese
Li Shizhen (李時珍) schreibt in seinem Puls-Buch Bin Hu
Verhältnisse abgestimmt.
Mai Xue (瀕湖脈學), das 1564 erschien, Puls-Qualitäten,
„Sexualität“ wird im Deutschen u. a. mit Geschlechtlich-
die das Geschlecht eines Embryos anzeigen sollten. Li
keit übersetzt, was nicht nur auf Geschlechtsteile, Genita-
Shizhen war nicht der einzige Autor solcher vorhersa-
le, bezogen wird, sondern ebenso auf Familienclan, Stamm
gungsvollen Pulsbeschreibungen.
und Dynastie. Damit trifft der Begriff die oben angedeute-
Hatten die diversen Methoden der Vorherbestimmung
ten Zusammenhänge.
nicht zum gewünschten Geschlecht des Kindes geführt, so
In der tradierten Chinesischen Medizin sind Begriffe wie
griff man zum Infantizid. Darunter versteht man die Tö-
Yangsheng, Essenz, Blut und Qi von sozio-kulturellen
tung neugeborener Kinder vorwiegend weiblichen Ge-
Macht-Verhältnissen unterwandert.
schlechts, bis ins 20. Jahrhundert hinein in China weit ver-
Wie Foucault gezeigt hat, finden „Abstimmungen“ von
breitet.5,6
Macht- und Herrschaftsverhältnissen stetig statt, sie sind
China hat eine lange Geschichte der Verwendung medizi-
prozesshaft, mithin unmerklich schmerzhaft, volatil und
nischer Substanzen, Zaubertränke, Beschwörungen und
umkehrbar. Darüber, dass Menschen „Körpergedächtnis-
anderer Maßnahmen, um Abtreibung hervorzurufen oder
se“ bilden können, werden Leiber zu Durchgangspunkten
Schwangerschaft zu verhindern. Entsprechende medizini-
von Subjektivierungsweisen, auch der geschlechtlichen.12
sche Substanzen und Rezepte wurden in vielen medizini-
Simone de Beauvoir brachte das 1949 in „Le Deuxième
schen Schriften detailliert beschrieben.7
Sexe“ („Das andere Geschlecht“) auf den Punkt: „Man
Im alten China „starben 10 – 25 Prozent der neugeborenen
wird nicht als Frau geboren, man wird es.“
Mädchen durch Infantizid und Vernachlässigung; in Kri-
Es war in China immer umstritten, welchen Stellenwert
senzeiten waren hiervon auch Knaben betroffen. Dadurch
sexuelle Gesundheit haben sollte. Bereits das Li Ji 禮記
erreichte die durchschnittliche Lebenserwartung bei der
(„Buch der Sitten“) hielt Trinken, Essen und Sex (Yin Shi
Geburt meist nur Werte zwischen 25 und 35 Jahren; Fünf-
Nan Nü; 飲食男女) für die stärksten Bedürfnisse des
jährige konnten hingegen mit rund 40 weiteren Lebens-
menschlichen Lebens13.
jahren rechnen.“8
„Wirtschaftsentwicklung und Ernährungslage, familiärer
Wohlstand und sozialer Status übten deutlichen Einfluss Heterosexuelle Norm, Prüderie und Wollust
auf Fruchtbarkeit und Sterblichkeit aus. Dabei waren fa-
Sexualität als Funktion der Fortpflanzung hat die hetero-
miliäre und weniger persönliche Entscheidungen aus-
sexuelle Beziehung im Blick. In der Chinesischen Medizin
schlaggebend.“9 Frauen in sozial niederen Schichten wa-
beziehen wir uns dabei üblicherweise auf Begriffe wie Yin
ren meist gezwungen, bis zum Ende der Schwangerschaft
und Yang, Essenz, Uterus, Bao Mai u. a. Das ist die Theorie.
zu arbeiten und gebaren ihr Kind nicht selten bei der Feld-
Wir können nicht umhin, Sexualität aus unserer Zeit her-
arbeit. Die anschließende Versorgung von Mutter und
aus zu betrachten und uns bewusst zu machen, dass die
Kind oblag eher helfenden Nachbarn. Frauen der wohlha-
öffentliche Rede über „Sexualität“ gerade einmal 120 Jahre Wolfgang Bauer weiß einen Autor zu nennen, der das Lie-
alt ist. Einer ihrer Pioniere war Freud. besleben genossen zu haben schien. Er schildert im hohen
Freuds „herausragende kulturelle Leistung bestand sowohl Alter „seine Lebenslust, ja Lebensgier, die sich vor allem in
darin, den Bereich des Normalen auszuweiten, indem es einer ungebrochenen Sexualität dokumentiert, angespro-
dem Pathologischen zugeordnet wurde (z. B. seine Idee, chen in den gängigen erotischen Metaphern, wie den ‚Wei-
dass die sexuelle Entwicklung mit der Homosexualität an- den’ und ‚Blumen’, die sich allesamt auf Frauen bezie-
hebt), als auch darin, die Normalität zu problematisie- hen.“19 Wenn jener Guan Hanqing (1241 – 1320), der
ren.“14 Die Moderne definiere, so die Beobachtung des Se- „Shakespeare des Orients“, schrieb: „Ein galanter Lieder-
xualwissenschaftlers Haeberle, „das Sexuelle auf zweierlei jan war ich, ein Wollüstling, der alles hergab für die gebro-
Weise: Sie macht es einerseits zum Problem und verwischt chenen Weiden, für die gepflückten Blumen in seiner
andererseits seine Konturen. So bekommt das Sexuelle sei- Hand“, dann können wir vermuten, dass der Autor als An-
nen modernen, changierenden, paradoxen Charakter.“15 gehöriger der sich entwickelnden Bohème nicht unbedingt
Was es weder in der Chinesischen Medizin noch in der Li- die Ratschläge von Sun Simiao beherzigte – und trotzdem
teratur gab, war eine Kategorie wie „Perversion“. Es gab (oder auch deshalb?) ein durchaus langes und kreatives
keine Entsprechung westlicher Konzepte der „unnatürli- Leben führte. Geradezu programmatisch heißen seine Er-
chen“ sexuellen Handlungen, Perversion und ebenso we- innerungen „Kein Klein-Beigeben vor dem Alter!“ (Bu Fu
nig psychologisch abweichende Persönlichkeiten mit Lao; 不伏老).
gleichgeschlechtlichen Neigungen.16
Das heißt aber nicht, dass Prüderie in China unbekannt
war. Im alten China war man keineswegs weniger prüde
als in Europa, auch auf literarischem Gebiet. Der berühm-
te Schriftsteller und Literaturkritiker Mao Dun (茅盾;
1896 – 1981) schrieb dazu: „In der chinesischen Literatur
wurden getreu dem Dogma vom ‚Wort als Gefährt des
rechten Weges‘ und gemäß dem asketischen Moralkodex
des Konfuzianismus Werke, in denen die Liebe zwischen
Mann und Frau geschildert wird, als unmoralisch angese-
hen und erst recht solche Werke, in denen der Ge-
schlechtstrieb geschildert wird.“17 Auch dem weit verbrei-
teten Roman „Der Traum der roten Kammer“ (Hong Lou
Meng; 紅樓夢) von 1791 blieb der Vorwurf nicht erspart,
ein unmoralisches Werk zu sein.
„Yangsheng und Sexualität“ ist nicht frei von „Unmoral“
und „Abweichendem“, das in der Literatur zwar durch die
handelnden Personen „zur Sprache“ kommt, meist ein-
deutig symbolisch umschrieben, vor dessen Folgen der Er-
zähler aber stets warnt. Nichtbefolgung führt schließlich
zum Untergang.
Bei aller Regulierung hin zur Harmonie von Yin und Yang
– wo bleibt die Offenheit für das Zufällige, Rauschhafte,
Dionysische? „In der chinesischen Erzähl-Literatur jener
Zeit fehlt der leidenschaftliche Menschentypus dionysi-
scher Natur, der unter Beharren auf der eigenen Emotio-
nalität den Konflikt mit der Gesellschaft bis auf die Spitze
treibt.“18
Das Begriffspaar apollinisch-dionysisch spielt bei Nietz-
sche eine besondere Rolle. Steht das Apollinische für Be-
Abb. 2 Holzschnitt aus der Qing-Dynastie einer Szene aus „Der Traum der
sonnenheit, Maßvolles, Kunst und Poesie, so zeigt sich das
Roten Kammer“ (aus Wikipedia, sogno_della_camera_rossa) Abb. 2 Holz
Dionysische als das überschäumende Leben, die Formlo- schnitt aus der Qing-Dynastie einer Szene aus „Der Traum der Roten
sigkeit, ewige Fülle der Lust und unzerstörbare Lebens- Kammer“ (aus Wikipedia, sogno_della_camera_rossa)
freude.
ner auszuwählen, war es günstig, wenn eine junge Frau Blutiger Tod –
wie eine Jugendliche kleine Busen hatte. Der zunehmen- Nein, an ausgedorrten Lenden
den Prüderie entsprechend wurde das Brüste-Binden (Shu Muss der Wüstling kläglich enden.“47
Xiong; 束胸) darüber hinaus damit begründet, dass die
weiblichen Brüste gegenüber Männern erotisierend wirk- In diesem Sinn begann die Regierung jener Zeit – besser:
ten und so sexuelle Gelüste hervorriefen. Nicht auszuden- die Clans bzw. Sippen der Elite48 – das sexuelle Verhalten
ken, welchen Gefahren Männer angesichts praller Busen der Bevölkerung und entsprechende Veröffentlichungen
ausgesetzt gewesen wären. zu kontrollieren und zu tabuisieren. Das setzte sich wäh-
Eine Männerheilkunde (Nan Ke; 男科) gibt es erst in der rend der Qing-Dynastie, der mandschurischen Fremd-
neuen Zeit. Die Hoden bzw. männlichen Keimdrüsen herrschaft von 1644 bis 1911, noch verstärkt fort. Zugleich
(Gonaden) kamen in der klassischen Chinesischen Medi- konnte sich die neo-konfuzianische Auffassung durchset-
zin als Organ nicht vor43. Erst in den 1980er und 90er Jah- zen, die Geschlechter in allen Bereichen der Gesellschaft
ren wandte sich die TCM der klinischen Beschäftigung streng voneinander zu trennen, in den Wohnungen der
mit der genitalen Physiologie, den Hormonen und der Familien und im öffentlichen Leben.
psychologischen Basis der Sexualität zu. Am Rande sei noch erwähnt, dass die von den seit 1644
Angesichts der körperlichen Zurichtungen von Frauen herrschenden Mandschus befohlene Halbtonsur der
und (in geringerem Maße) von Männern ihres Geschlechts Han-Männer von diesen als „tonsurale Kastration“ und
wegen, ließe sich in Anlehnung an Gille Deleuze fragen: „Verachtung der Han-Männlichkeit“ geschmäht wurde.
„Und wenn Geschlecht eine Weise war, das Leben einzu- „Das Verhängnis des Füßebindens traf den Kern der
sperren?“44 Han-Definition von Männlichkeit in einer stärkeren Weise
als die ‚tonsuriale Kastration’. In jedem Fall ist es klar, dass
In China war Masturbation (Shou Yin; 手淫) von jeher die Wahrnehmung der gebundenen Füße der Frauen ein
verpönt, weil sie zum Verlust von Samen, einem Teil der integraler Bestandteil der Artikulation von Männlichkeit
Essenz (Jing; 精), führe. Noch in den 1920er Jahren stellte und nationaler Souveränität im späten kaiserlichen China
Yu Fengbin, immerhin von 1920 bis 1922 Präsident der re- war.“49
nommierten chinesischen Ärzte-Gesellschaft, Masturbati-
on mit Kriminalität in einen Zusammenhang mit der Be-
hauptung, dass die Erbärmlichsten diejenigen seien, die Helmut Magel,
keine Selbstkontrolle ausüben könnten45. Werde die Mas- TCM-Heilpraktiker mit eigener
turbation nicht frühzeitig aufgegeben, setze die Sucht ein, Praxis seit 1990 in Wuppertal, Leiter
was zu irreparablen körperlichen Schäden führe, ja den der August-Brodde-Schule (ABZ
Körper allmählich von innen konsumiere. West) bis 2012, Dozent an verschie-
Der Autor des berühmten Romans Jin Ping Mei (金 瓶 梅; denen Ausbildungszentren der
„Die abenteuerliche Geschichte von Ximen und seinen AGTCM seit 1996, Autor
sechs Frauen“) mahnte: zahlreicher TCM-Fachartikel, zur Zeit Arbeit an einer kri-
tischen Geschichte der Akupunktur und Chinesischen
„Geschätzte Leser, auch Wollust hat ihre Grenzen, und der Medizin.
Vorrat an Manneskraft ist nicht unerschöpflich.“46 h.magel@t-online.de
Literatur
In der Tat stirbt der Hauptprotagonist des Romans an sei- Bauer, Wolfgang (1990): Das Antlitz Chinas: Die autobiographische Selbstdar-
ner notorischen Wollust, nachdem ihn eine seiner Gelieb- stellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute,
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ten in der vorletzten Nacht seines Lebens sexuell zu sehr Behnke Kinney, Anne (1993): Infant Abandonment in Early China, Early Chi-
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