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Startseite Sonntagsspaziergang Auf „Banitis“ durch die Zeiten 16.06.2013

Auf „Banitis“ durch die Zeiten


Mit der letzten Schmalspurbahn durch Lettland

Gulbene, eine rund 200 Kilometer von Riga entfernte lettische Kleinstadt,
ist Ausgangspunkt und Endstation der „Banitis“, der letzten
Schmalspurbahn des Baltikums. Das Bähnchen sieht aus wie ein richtiger
Eisenbahnzug. Doch hier ist alles ein paar Nummern kleiner.

Von Toms Ancitis und Jutta Schwengsbier

Die Schienen der lettischen „Banitis“ sind nur 750 Millimeter breit. (AP)

Während seine „Banitis“, sein kleines Bähnchen, langsam in den Bahnhof rollt, blickt
Aleksandr Belajev kurz aus dem Fahrerstand. Wie viele Fahrgäste wollen heute mit?
Ach, heute sind es nur sehr wenige. Zwei Wagen reichen.

In kaum einer Minute sind die Waggons angekoppelt, dann kann es losgehen. Wie
fährt sich so ein kleines Bähnchen? Jeden Tag in eine Lokomotive zu steigen war
schon sein Kindheitstraum, sagt Aleksandr Belajev.

Der Fahrersitz seiner „Banitis“ ist hier kein Sitz, sondern ein Stehplatz. Um die Strecke
vor der Lokomotive überzusehen, muss der Lokführer stehen statt sitzen. Sonst gibt es
keinen deutlichen Unterschied einer Breitspur- und einer Schmalspurbahn.

„Hier ist einfach alles kleiner – die Schienen, die Werkzeuge. Sonst gibt es keinen
Unterschied. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 35 Kilometern pro Stunde. Je nach
der Strecke fahre ich manchmal schneller, manchmal langsamer. Aber diese Grenze
überschreite ich nie.“

Aleksandr Belajev ist schon sein ganzes Leben Lokführer. Einen anderen Beruf könnte
er sich überhaupt nicht vorstellen.

„Ich stamme aus einer Eisenbahnerfamilie. Mein Großvater und Vater haben beide ihr
ganzes Leben bei der Eisenbahn gearbeitet. Ich war erst Assistent eines Lokführers
der Breitspurbahn, dann danach wechselte ich nach Gulbene zur Schmalspurbahn und
bin bis heute der Banitis-Lokführer.“

Der Netzwerk der Schmalspurbahn wurde im Baltikum gegen Ende des 19. und
Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet. Insgesamt wurden damals rund 1100 Kilometer
Schienenstrecken aufgebaut, erzählt Aldis Kreislers, der Leiter der Bahnfirma.

„Damals gab es keine Autobahnen. Es gab auch noch sehr wenige Autos. Die
Schmalspurbahn aufzubauen war am einfachsten. Es reichte den Untergrund zu
glätten, die Eisenbahnschwellen zu verlegen, die Schienchen anzunageln und schon
war die Bahn fertig. Als später die Autobahnen und die großen Eisenbahnen in der
Sowjetzeit kamen, begann die Schmalspurbahn langsam zu sterben.“

Überlebt hat die Schmalspurbahn von Gulbene nach Aluksne, eine 33 Kilometer lange
Strecke. Sie ist die einzige noch regelmäßig fahrende schmalspurige Bahn im ganzen
Baltikum. Banitis gilt als kulturhistorisches Denkmal. Inländische und ausländische
Touristen kommen nach Gulbene, um das historische Fahrerlebnis zu genießen. Anita
und Andris haben sich zu einem Spontanurlaub entschlossen. Beide kommen aus
Jurmala, einer Stadt an der Küste des Baltischen Meeres, 200 Kilometer entfernt.
Andris schaut aus dem Fenster und freut sich über einen Fuchs, der durchs Gras
rennt. Am blauen Himmel fliegen drei weiße Störche zu ihrem Nest. In die Ferne
stehen drei Dammhirsche. Ohne Furcht blicken die Tiere kurz zum vorbeifahrenden
Bähnchen herüber und grasen dann in Ruhe weiter.“

„Diese Landschaften erinnern mich an meine Kindheit: Bei uns gab es auch eine
Schmalspurbahn, die zwischen der Kleinstadt Ligatne und einer Papierfabrik pendelte.
In eine Richtung wurden Papierrollen transportiert, in die andere Richtung Kohle und
Werkstoffe. Unsere Schmalspurbahn wurde eingestellt. Sogar die Schienen sind weg.“

Stameriena ist eine der beliebten Haltestellen, an der die Touristen gerne aussteigen.
Es ist ein kleines Dorf mit einem See. In der Nähe der Bahnhaltestelle liegt ein alter
Friedhof. Die Familiennamen geben einen Einblick in die Geschichte Lettlands. Sie
zeugen von einem früher hier lebenden Vielvölkergemisch: „Martinson“, „Ostrowska“,
„Konstantinov“, „Hinzenberg“, „Gramatins“. Es waren Schweden, Russen, Deutsche,
Polen. Letten. Genauso unterschiedlich wie die Namensfamilien sind die historischen
Häuser in Stameriena. Ein Stück entfernt vom See liegt ein altes Herrenhaus. Eine alte
Frau, die neben der Straße Holzzweige verbrennt, zeigt uns die Richtung.

„Gerade aus, dort links liegt das Schloss!“


Es ist das prächtigste Schloss im Stil der französischen Neo-Renaissance, das man in
Lettland finden kann. Das Gebäude wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
aufgebaut. Früher lebte hier die Baronin Alexandra Wolff-Stomersee, eine
praktizierende Psychoanalytikerin. Ihr Mann, der italienische Schriftsteller Giuseppe
Tomasi di Lampedusa, den sie heimlich im Jahr 1932 heiratete, kam im Sommer zu
Besuch.

Nach dem kurzen Zwischenhalt am See geht die Reise weiter. Die Schmalspurbahn
wird nicht nur von Touristen benutzt. Der Zug ist einzigartig, auch weil er immer noch
Teil des normalen öffentlichen Nahverkehrs ist. Der Staat subventioniert die Tickets für
die Kleinbahnreisen genauso wie für die reguläre Eisenbahn. Für die 67-jährige
Rentnerin Anda, die in einem Dorf zwischen den Kleinstädten Gulbene und Aluksne
lebt, ist die Schmalspurbahn das einzige Verkehrsmittel, mit dem sie zum Einkaufen in
die Stadt fahren kann. Mit der Kleinbahn fährt sie schon ihr ganzes Leben.

„In meiner Kindheit gab es häufig Brände. Weil wir nahe der Gleise lebten, sollte ich
mit meinen Brüdern oft löschen gehen. Wenn ein Funke aus dem Schlot der
Lokomotive ins Gras fällt, dann entzündet sich das Gras. Das passierte oft auch
nachts. Mein Bruder weckte mich dann auf und sagte: „Komm, ziehe deine Stiefel an,
gehen wir das Feuer löschen!“ Er hatte den Brand aus seinem Fenster gesehen.
Einmal brannte sogar der Wald. Wir löschten und löschten, bis wir es endlich
auslöschten.“

Nicht an alle Bahnreisen erinnert sich Anda gerne. Sie war gerade drei Jahre alt, als
sie aus Gulbene in einem großen Viehwaggon deportiert wurde. Im März 1949 wurden
knapp 100.000 Letten von Sowjettruppen nach Sibirien verschleppt. Warum? Weil ihre
Familie nach Ansicht der Kommunisten einfach zu reich war.

„Meine Mutter mit drei Kindern – ich und meine zwei Brüder – wurden in die Region
Tomsk geschickt. In Tomsk kamen wir drei Kinder ins Krankenhaus. Wir waren schwer
krank nach der harten Reise nach Sibirien.“

Erst nach acht Jahren, nach Stalins Tod, durften die Deportierten zurück in ihre
Heimat. Aber was ist denn das? Noch während Anda weiter erzählt, ist der Zug
plötzlich stehengeblieben. Ein Mann springt in den Wagen, mit einer Pistole in der
Hand.

„Überfall! Überfall! Alle müssen raus, raus, raus! Überfall! Überfall!“

Alle Fahrgäste werden aufgefordert, ihre Wertsachen abzugeben. Was nun? Mitten im
Wald würde es lange dauern, bis die Polizei kommt. Hätten wir gewusst, dass eine
Bahnfahrt so gefährlich sein kann ...Glücklicherweise klärt sich die Lage bald auf. Eine
Gruppe der Touristen hat die Räuber bestellt. Ja, tatsächlich – die Bahnfirma bietet
Raubüberfälle als Serviceleistung an. Der Räuber ist ein Scheinräuber, eigentlich
Raitis Melders, einer der Manager der Firma.

„Wenn die Leute vorher nicht wissen, dass in der Bahn ein inszenierter Überfall
stattfindet, sind sie immer ziemlich schockiert. Das ist dann eine echte Überraschung.
Am Anfang fährt die Bahn in eine simulierte Rauchwolke, hält an und dann renne ich
mit meinem Kollegen entlang des Wagens und schieße mit leeren Patronen. Danach
steigen wir ein und rauben allen Fahrgäste aus. Später geben wir natürlich alle Sachen
zurück. Aber sie müssen zurückgekauft werden, indem jeder eine bestimmte Aufgabe
erfüllen muss. Bei einem Waldspaziergang muss jeder einen Räuberschwur ablegen.
Es muss alles aufgegessen werden, was wir anbieten und alles getan, was wir fordern.
Dann singen wir zusammen eine Räuber-Hymne und essen den Räuber-Brei.“

Nach dem kurzen Abenteuerausflug fährt der Zug wieder zum Bahnhof Gulbene. Wer
noch einen Schlafplatz sucht, muss nicht weit gehen. Direkt im Bahnhofsdepot werden
Übernachtungen in einem authentischen Eisenbahnwagen angeboten. In einem
Waggon, in dem zu Sowjetzeiten die Bossen der kommunistischen Partei durch die
Sowjetunion reisten.

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