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November 2010
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„Es gibt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophet!“ entgegnete Niels bitter, doch zugleich traurig.
„Ja, nicht wahr?“ spottete Hjerrild, und sagte bald darauf: „Der Atheismus ist doch grenzenlos nüchtern, und
sein Ziel ist doch zu guter Letzt nichts anderes als eine Menschheit ohne alle Illusionen. Der Glaube an einen al -
les lenkenden, richtenden Gott ist der Menschheit letzte große Illusion, und wenn sie den verliert, was hat sie
05 dann? Klüger ist sie geworden; aber ob reicher, glücklicher? Das sehe ich nicht ein.“
Niels Lyhne unterbrach ihn: „Aber begreifen Sie denn nicht, dass an dem Tage, an dem die Menschheit frei auf-
jubeln kann: es gibt keinen Gott! - wie mit einem Zauberschlage ein neuer Himmel und eine neue Erde entste-
hen würden? Erst dann wird der Himmel der freie, unendliche Raum, anstatt ein drohendes Späherauge zu sein.
Erst dann wird die Erde unser und werden wir der Erde eigen sein, wenn jene dunkle Welt der Seligkeit und der
10 Verdammnis wie eine Luftblase geplatzt sein wird. Die Erde wird unser wahres Vaterland, unseres Herzens Hei-
mat sein, wo wir nicht wie fremde Gäste eine armselige Spanne Zeit, sondern alle unsere Zeit zubringen wer-
den. Und welche Intensität wird es dem Leben verleihen, wenn alles darin Raum finden und nichts nach außen
hin verlegt werden wird. Der ungeheure Liebesstrom, der jetzt zu jenem Gott emporsteigt, an den man glaubt,
wird, wenn der Himmel leer ist, sich über die ganze Erde ergießen, wird alle die schönen, menschlichen Eigen -
15 schaften und Fähigkeiten liebend auslösen, die wir potenziert, und mit denen wir die Gottheit geschmückt ha -
ben, um sie unserer Liebe würdig zu machen. Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, wer vermag sie alle zu nennen? Be-
greifen Sie nicht, welchen Adel es der Menschheit verleihen wird, wenn sie in voller Freiheit ihr Leben leben und
ihren Tod sterben kann, ohne Furcht vor der Hölle und ohne Hoffnung auf das Himmelreich, aber sich selber
fürchtend und auf sich selber hoffend? Wie wird das Gewissen wachsen und welche Festigkeit wird es geben,
20 wenn tatenlose Reue und Demut nichts mehr sühnen können, und wenn keine andere Vergebung möglich ist,
als das Böse, das man mit Bösem verbrochen hat, durch das Gute gut zu machen.“
„Sie müssen einen wunderbaren Glauben an die Menschheit haben; der Atheismus wird ja noch größere Forde-
rungen an sie stellen als das Christentum.“
„Natürlich !“
25 „Natürlich; aber wo wollen Sie alle die starken Individuen hernehmen, deren Sie bedürfen, um Ihre atheistische
Menschheit zusammenzusetzen?“
„Nach und nach wird der Atheismus sie selbst erziehen; weder diese Generation noch die nächste und die über-
nächste wird den Atheismus ertragen können, das erkenne ich wohl, aber in jeder Generation werden stets ein-
zelne sein, die sich ehrlich ein Leben und einen Tod innerhalb dieses Atheismus erkämpfen werden, und sie wer-
30 den in der Zeiten Lauf eine Reihe geistiger Ahnen bilden, auf die die Nachkommen mit Stolz zurückblicken kön -
nen und durch deren Betrachtung sie Kraft gewinnen werden. Am Anfang werden die Bedingungen die schwie-
rigsten sein, da werden die meisten im Kampfe unterliegen, und die, die siegen, weil ihr innerstes Mark noch
Traditionen eingesogen hat, und weil in einem Menschen noch soviel anderes existiert, was überzeugt werden
muss - Blut und Nerven, Hoffnungen und Sehnsüchte, und wenn Träume vorhanden sind, auch diese. Aber mag
35 es drum sein, einst wird es kommen, und die wenigen werden die vielen sein.“
„Glauben Sie? - Ich suche nach einem Namen; könnte man das nicht den pietistischen Atheismus nennen?“
„Jeder wahre Atheismus ...“ begann Niels, aber Hjerrild unterbrach ihn schnell:
„Natürlich, natürlich! Lasst uns endlich nur ein einziges Tor haben, ein einziges Nadelöhr für alle Kamele des
Erdreiches!“
Auszug aus: Jens Peter Jacobsen, Niels Lyhne. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Verlag, 1973, S. 115-117 .
Information: Jens Peter Jacobsen (1847-1885) war dänischer Schriftsteller. »Niels Lyhne« ist nach dessen Übersetzer, Paul Volk, Jacobsens größtes
Werk: "Es sollte die Geschichte einer »Jugend« werden, »eine psychologische Schilderung jener Gruppe freidenkend angelegter Romantiker«, »jener
Jugend, die jetzt alt ist«. [...] Niels Lyhne ist die Gestalt des großen Träumers, der, hin und her geworfen zwischen Traum und Leben, das Leben nicht
zwingen kann, weil er, ewig ein Träumer, nie sich selbst ganz fand, und der den Traum, die Illusion nicht entbehren kann, weil nur im Traum Glück ist,
weil er weiß, daß Sehnen mehr ist als Erfüllung." (Vorwort) – Der Pietismus ist eine protestantische Strömung des 18./19. Jahrhunderts, die als
Gegenbewegung zur Aufklärung wieder die persönliche Frömmigkeit (lat. pietas) in den Vordergrund des Glaubens zu stellen versuchte.
Aufgaben
1. Fassen Sie den Text in eigenen Worten zusammen. (20%)
2. Setzen Sie Niel Lyhnes Position kritisch in Beziehung zu drei weiteren Typen von
Gottesbestreitung! (30%)
3. Stellen Sie diesen Gottesbestreitungen zentrale Aspekte neutestamentlicher
Gottesvorstellungen gegenüber. (30%)
4. Entwickeln Sie auf der Grundlage Ihrer bisherigen Ergebnisse eine eigene Position
zur Frage, ob der christliche Gottesglaube heute zeitgemäß ist. (20%)
Aufgaben:
1. Beschreiben Sie Nietzsches Position zur Gottesfrage. (20%)
2. Setzen Sie Nietzsches Position kritisch in Beziehung zu drei weiteren Typen von
Gottesbestreitung! (30%)
3. Stellen Sie diesen Gottesbestreitungen zentrale Aspekte neutestamentlicher
Gottesvorstellungen gegenüber. (30%)
4. Entwickeln Sie auf der Grundlage Ihrer bisherigen Ergebnisse eine eigene Position
zur Frage, ob der christliche Gottesglaube heute zeitgemäß ist. (20%)