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Erik Orsenna
Die Grammatik ist
ein sanftes Lied

Aus dem Französischen von


Caroline Vollmann

Mit Bildern von Wolf Erlbruch

Carl Hanser Verlag


Die Originalausgabe erschien 200 unter dem Titel
La grammaire est une chanson douce
bei Éditions Stock, Paris.

Dank an Danielle Leeman, Professorin für Grammatik


an der Université de Paris-X-Nanterre, deren
freundschaftlich aufmunternder Rat
mich auf dieser langen Reise begleitet hat.

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht


den Regeln der neuen Rechtschreibung.

Unser gesamtes lieferbares Programm


und viele andere Informationen finden Sie unter
www.hanser.de

345 08 07 06 05 04

ISBN 3-446-20438-5
© Éditions Stock 200
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München Wien 2004


Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
Litho: Gloor GmbH, München
Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum AG
Printed in Germany

digitalisiert von bookman


Für Jeanne und Jean Cayrol
äuscht euch nicht in mir!
Ich wirke sanft, schüchtern, verträumt und
klein für meine zehn Jahre. Nutzt das nicht aus
und wagt nicht, euch mit mir anzulegen. Ich
kann mich wehren. Meine Eltern (in alle Ewig-
keit sei es ihnen gedankt!) haben mir den nütz-
lichsten aller Namen geschenkt, weil er der kämpferischste
ist: Jeanne. Jeanne, wie Jeanne d’Arc, das französische
Bauernmädchen, das General wurde und die Engländer
in Schrecken versetzte. Oder diese andere Jeanne, die ihre
Heimatstadt Beauvais gegen Karl den Kühnen vertei-
digte und die Jeanne die Axt genannt wurde, weil sie ihre
Feinde am liebsten in Stücke hieb.
Um nur die bekanntesten Jeannes zu nennen.
Mein großer Bruder Thomas (er ist vierzehn) ließ es sich
gesagt sein. Auch wenn er einer alles in allem boshaften
Spezies angehört (der Gattung der Jungen), musste er
doch notgedrungen lernen, mich zu respektieren.
Dies nur vorneweg, im Grunde bin ich so, wie ich nach

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außen hin wirke: sanft, schüchtern und verträumt. Selbst
wenn mir das Leben übel mitspielt. Ihr werdet euch noch
davon überzeugen können.

An diesem Morgen, einem Morgen im März, dem letzten


Schultag vor den Osterferien, löschte ein Lamm behag-
lich seinen Durst in einem klaren Bach. In der vergange-
nen Woche hatte ich gehört, dass der Fuchs auf Kosten
des Raben lebt, wenn dieser seinen Schmeicheleien Ge-
hör schenkt. Und in der Woche davor hatte eine Schild-
kröte einen Hasen beim Wettlauf besiegt …
Ihr habt es schon erraten: Jeden Dienstag und Donners-
tag von neun bis elf bevölkerten die verschiedensten Tiere
unser Klassenzimmer. Unsere Lehrerin lud sie dazu ein.
Frau Preisendanz war noch ganz jung und sie war un-
sterblich verliebt in den Fabeldichter Jean de Lafontaine.
Sie spazierte mit uns durch eine Fabel nach der anderen,
wie durch einen heiteren, geheimnisvollen Garten.
»Hört euch das an, Kinder:

Ein Frosch sah einen Ochsen von prächtiger Statur.


Er selbst, kaum größer als ein Ei, von Neid erfüllt,
Er dehnt sich, bläht sich auf und quillt und quillt …

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Oder das:

›Armseliges Insekt, du Auswurf der Erde, verschwinde!‹,


Beschimpfte der Löwe die Mücke.
Die erklärt den Krieg ihm voll Tücke.«

Frau Preisendanz errötete und erbleichte abwechselnd


beim Aufsagen: Sie war wirklich bis über beide Ohren
verliebt.
»Merkt ihr es? Wie gut man mit so wenig Zeilen eine Ge-
schichte malen kann … Ihr seht den neidischen Frosch
doch vor euch, oder? Und hört ihr etwa nicht das winzige
Insekt herumsurren?«
»Entschuldigung, was bedeutet ›Auswurf‹?«
»Ganz einfach Kacke, meine liebe Jeanne.«
Frau Preisendanz, so blond und so jung sie war, hatte
keine Angst vor Wörtern, und sie wäre lieber tot umgefallen,
als eine Katze nicht eine Katze zu nennen.
»Ihr könnt euch glücklich preisen, Kinder, dass ihr in eine
der schönsten Sprachen der Welt hineingeboren worden
seid. Eure Sprache ist eure Heimat. Lernt sie und erfindet
sie neu. Sie wird euer ganzes Leben lang euer engster
Freund sein.«

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Die Person, die an diesem Märzmorgen an der Seite un-
seres Direktors das Klassenzimmer betrat, bestand nur
aus Haut und Knochen. War es ein Mann oder eine Frau?
Man konnte es nicht wissen, die Dürre überwog alle an-
deren Merkmale.
»Guten Tag«, sagte der Direktor. »Frau Regelhuber befin-
det sich heute in unserer Schule, um die Einhaltung der
pädagogischen Richtlinien zu überprüfen.«
»Lasst uns keine Zeit verlieren!«
Mit einer ersten Handbewegung schickte die Besucherin
den Direktor hinaus (ich hatte ihn, der für gewöhnlich so
streng war, noch nie eine so honigsüße Miene machen
und so katzbuckeln sehen). Mit einer zweiten gab sie un-
serer guten Frau Preisendanz ein Zeichen.
»Fahren Sie fort, wo Sie stehen geblieben sind. Und vor
allem: Tun Sie so, als ob ich nicht da wäre!«
Arme Lehrerin! Wie konnte man vor so einem Skelett
normal reden? Frau Preisendanz rang die Hände, holte
tief Atem und begann tapfer:

»Ein Lamm löschte seinen Durst mit Behagen


Im klaren Bach. Da kommt der Wolf, der Bösewicht,
Mit nüchternem Magen, auf Beute erpicht.

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Ein Lamm … Mit dem Lamm verbindet man, wie ihr
wisst, die Vorstellung von Sanftmut und Unschuld. Man
sagt ja auch sanft wie ein Lamm, unschuldig wie ein neu-
geborenes Lamm. Man denkt augenblicklich an eine ruhige,
friedliche Landschaft … Und das Präteritum führt uns in
die Vergangenheit. Erinnert ihr euch? Ich habe es euch in
der Grammatikstunde erklärt: Das Präteritum ist die
Zeitform, die ein Geschehen in die Vergangenheit ent-
rückt, die uns erzählt, dass etwas früher einmal so oder so
war oder sich zugetragen hat … Ihr und ich, wir hätten
geschrieben: Ein Lamm trank. Lafontaine hat es vorgezo-
gen, sein Lamm den Durst löschen zu lassen … Das ist län-
ger, man hat mehr Zeit, die Natur ist nicht aus der Ruhe
zu bringen … Dies ist ein schönes Beispiel für den ›Zau-
ber der Wörter‹. Ja, die Wörter sind wahre Zauberer. Sie
besitzen die Kraft, vor unseren Augen Dinge erstehen zu
lassen, die wir nicht sehen. Wir befinden uns hier in unse-
rem Klassenzimmer, und durch diesen wunderbaren Zau-
ber sind wir auf einmal in der freien Natur und schauen
einem kleinen, weißen Lamm dabei zu, wie es …«
Frau Regelhuber wurde nervös. Ihre violett gelackten
Fingernägel kratzten immer lauter auf dem Pult.
»Ich bitte Sie! Ihre Schwärmereien interessieren hier
nicht!«


Frau Preisendanz warf einen kurzen Blick durchs Fenster,
als wolle sie Hilfe herbeirufen, dann fuhr sie fort:
»Lafontaine spielt wie kein anderer mit den Verben. Ein
Wolf ›kommt‹: Das ist ein Präsens. Man hätte eher ein
Präteritum erwartet: Ein Wolf ›kam‹. Was bewirkt dieses
Präsens? Die Bedrohung rückt näher heran. Wir spüren
sie, jetzt, in diesem Augenblick. Der Friede des ersten
Satzes ist mit einem Schlag wie weggefegt. Die Gefahr
erscheint auf der Bildfläche. Der Wolf kommt. Man hat
Angst.«
»Ich sehe schon … Geschwafel, nichts Präzises … Bloße
Nacherzählung von Geschichten, wo von Ihnen erwartet
wird, dass Sie das Verständnis der Schüler für die Erzähl-
konstruktion wecken: Was sichert die Textkontinuität?
Wie wird das Thema entwickelt? Aus welchen Bestand-
teilen setzt sich die Aussage zusammen? Handelt es sich
um eine Erzählung oder um einen Diskurs? Das sind die
grundlegenden Dinge, die unterrichtet werden müssen!«
Das Skelett Regelhuber erhob sich.
»… Es lohnt sich nicht, weiter zuzuhören. Sie können
nicht unterrichten, mein Fräulein. Sie befolgen keine der
Instruktionen des Ministeriums. Keine Strenge, keine
Methodik, keine Unterscheidung zwischen dem Erzäh-
lenden, dem Beschreibenden und dem Argumentativen.«

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Überflüssig, zu bemerken, dass das, was die Regelhuber
sagte, für uns Chinesisch war. Frau Preisendanz schien
übrigens derselben Ansicht zu sein.
»Aber hören Sie, glauben Sie denn nicht, dass diese Be-
griffe zu kompliziert sind? Meine Schüler sind noch keine
zwölf Jahre alt und sie sind im ersten Jahr auf dem Gym-
nasium!«
»Na und? Haben die jüngeren Schüler keinen Anspruch
auf exakten wissenschaftlichen Unterricht?«
Das Läuten unterbrach die Diskussion.

Das Frauenskelett hatte sich an das Lehrerpult gesetzt


und füllte einen Zettel aus, den es unserer in Tränen auf-
gelösten Lehrerin hinhielt.
»Meine Gute, Sie müssen so rasch wie möglich einen
Auffrischungskurs besuchen. Sie haben Glück: Übermor-
gen beginnt ein Lehrgang. Die Anschrift des Instituts,
das sich Ihrer annehmen wird, finden Sie auf diesem For-
mular. Kommen Sie, heulen Sie nicht so herum; eine
kleine Woche Nachhilfe in Pädagogik, und Sie werden
wissen, wie Sie in Zukunft vorzugehen haben.«
Zum Abschied rang sie sich ein Lächeln ab.
Wir haben nicht darauf reagiert.
In Begleitung des Direktors, der sie auf dem Flur, immer

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noch katzbuckelnd und honigsüß, erwartete, zog die
Regelhuber ab, um irgendwo anders Schrecken zu ver-
breiten.

Normalerweise hätten wir in Vorfreude auf die anbre-


chenden Ferien schreien, brüllen und tanzen müssen.
Ganz besonders ich, die ich mit dem Schiff den Atlantik
überqueren sollte. Aber nichts von alledem, es herrschte
absolute Stille. Wir starrten uns mit offenen Mündern an,
wie Goldfische in einem Glas. Die Verzweif lung unse-
rer heiß geliebten Frau Preisendanz erschütterte uns. Und
was war diese »Nachhilfe in Pädagogik«, die ihr in die-
sem entsetzlichen Institut drohte? Bis zu diesem Tag hat-
te ich keine Ahnung gehabt, dass die Lehrer auch Lehrer
haben. Und dass diese Lehrer der Lehrer mit fürchter-
licher Strenge durchgriffen.

In der Nacht träumte ich, dass mir jemand mit Zangen


den Schädel öffnen wollte, um dort einen Haufen Wör-
ter, die er bei sich hatte, unterzubringen, Wörter, die aus-
getrocknet waren wie Skelette. Zum Glück übernahmen

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ein Löwe, eine Mücke und eine Schildkröte meine Ver-
teidigung und schlugen den Bösewicht und seine Zangen
in die Flucht.

Am Tag darauf, nachmittags, stachen mein Bruder und


ich in See.

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er Sturm hat begonnen, wie Stürme im-
mer beginnen. Plötzlich schwankt der
Horizont, die Tische bewegen sich
und die Gläser stoßen klirrend anei-
nander.
Der Kapitän hatte zur Feier der baldigen
Ankunft in Amerika im größten Salon des Schiffs ein
internationales Scrabbleturnier organisiert. Scrabble ist
dieses merkwürdige Spiel, das einem so leicht auf die
Nerven geht, ihr wisst schon. Mit Plastikbuchstaben bil-
det man seltene Wörter. Und je seltener die Wörter sind
und je mehr unmögliche Buchstaben sie enthalten (Q
oder Y zum Beispiel), desto mehr Punkte bekommt man
dafür angeschrieben.
Die Meister und Meisterinnen im Entdecken seltener
Wörter schauten sich an. Sie wurden bleich. Nacheinan-
der standen sie auf, hielten sich die linke Hand vor den
Mund und rannten aus dem großen Salon. Ich erinnere
mich an eine säuberliche kleine Dame, die nicht schnell

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genug war: Zwischen ihren Fingern quoll eine grünliche
Masse hervor. Sie versank fast im Boden vor Scham.
Die weißen Buchstaben und die Wörterbücher blieben
auf den Tischen zurück.
Thomas schaute mich vergnügt an. Ein letzter Rest von
Höflichkeit hinderte ihn daran, in Lachen auszubrechen.
Wir müssen euch, liebe Leser und liebe Leserinnen, ge-
stehen, dass wir, mein Bruder und ich, einen richtig ho-
hen Seegang über alles lieben: Er stülpt den Passagieren
den Magen um, der Speisesaal leert sich, und wir zwei, er
und ich, können, bestaunt von der Mannschaft, die unse-
ren Appetit nicht fassen kann, in aller Ruhe wie ein Lie-
bespaar tafeln.
Der Kapitän kam zu uns her:
»Jeanne und Thomas, ihr setzt mich in Erstaunen. Man
könnte euch für alte Seebären halten. Wo hat man euch
das Meer beigebracht?«
Mir traten die Tränen in die Augen (eine meiner zahlrei-
chen Fähigkeiten: Ich kann weinen, wenn die Situation es
erfordert).
Und ein weiteres Mal erzählte ich die Geschichte von der
Trennung unserer Eltern, von ihrer Unfähigkeit, zusam-
menzuleben, und von der klugen Entscheidung, die sie
getroffen hatten. Sie hatten sich gesagt, dass es besser sei,

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wenn der eine von ihnen diesseits und der andere jenseits
des Atlantiks wohnte, dann brauchten sie sich nicht mehr
von morgens bis abends zu streiten.
»Ich verstehe, ich verstehe«, stammelte der Kapitän teil-
nahmsvoll. »Aber … Nehmt ihr denn nie das Flugzeug?«
»Um beim Start abzustürzen wie unsere Großmutter?
Niemals.«
Thomas biss sich ins Handgelenk, es fiel ihm schwer, ernst
zu bleiben.
Vielen Dank, lieber Papa, vielen Dank, liebe Mama, dass
ihr euch so schlecht vertragt! In einer normalen Familie
hätten wir niemals so viele Reisen machen können.

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iesmal war unser geliebter Sturm nicht
lustig. Normalerweise rührte er die See
auf wie eine Mutter, die im Badewasser
herumrührt, um ihrem Baby Spaß zu
machen; aber diesmal hatte ihn eine rich-
tige Wut gepackt und die schwoll von Stunde zu Stunde
an. Immer mutwilliger hieb er auf unser armes Schiff
ein, warf ganze Wassergebirge dagegen und schleuderte
es in Abgründe. Der Schiffsrumpf krachte und zitterte,
als ob die Angst, eine panische Angst, ihn trotz seiner
Beherztheit nach und nach überwältigte. Noch nie im
Leben bin ich so herumgeworfen worden. Ich fiel, stand
wieder auf, fiel erneut hin, schlidderte über das Parkett,
das plötzlich abschüssig wie eine Rutschbahn war, und
stieß mich überall. Eine Tischecke riss mir die Wange
auf. Ich spürte es genau: Die Stöße kehrten in meinem
Körper das Unterste zuoberst. Im nächsten Augenblick
würde mein Herz aus seiner Verankerung springen und
mein Magen ebenso; unter meiner Schädeldecke ge-

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rieten die einzelnen Teile meines Gehirns durcheinan-
der …

Nichts ist so ansteckend wie Angst. Der Stewart, der


sonst immer so vergnügt war, lachte schon lange nicht
mehr, ebenso wenig wie der blondhaarige zweite Kapitän,
mein zukünftiger Verlobter, oder der schwarze Koch, der
sich immer so über unseren Bärenhunger amüsiert hatte.
Beim geringsten Schlingern zuckten sie zusammen, sie
schlossen die Augen, als ob sie selbst die Stöße erhielten,
die das Meer dem Schiff versetzte, sie klammerten sich
aneinander, sie verzogen den Mund, vielleicht beteten sie
auch, ich sah jedenfalls, wie sich ihre Lippen zitternd be-
wegten.
Da befiel mich eine merkwürdige Schwäche: Ich war so-
gar bereit, Thomas alles Böse, was er mir je angetan hatte,
zu verzeihen. Wenn einem die letzte Stunde schlägt, lässt
man allen Stolz fahren.
Aber wenn ich schon sterben musste, dann wenigstens an
der frischen Luft.
Ich packte meinen Bruder an der Hand, und wir nutzten
das durch einen kräftigen Stoß hervorgerufene Stampfen
des Schiffs, um zur Tür zu gelangen, die aufs Deck führte.

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Halt!«, brüllte der zweite Kapitän. »Das ist verboten, ihr
werdet über Bord geschwemmt!«
Sie versuchten zwar, uns zurückzuhalten, aber es war zu
spät, das Schiff stach mit dem Bug schon wieder in den
Himmel. Arme Mannschaft, es war der letzte Eindruck,
der mir von ihr blieb: ein Trio, das, gegen eine weiße
Wand geworfen, schreit und herumzappelt …
Draußen war es unmöglich zu atmen, der Wind blies zu
heftig, ich bekam keine Luft mehr. Wie ein Faustschlag
drückte er meine Nasenflügel zusammen. Ich dachte, ich
hätte die richtige Methode gefunden, um den Böen aus-
zuweichen: Ich wendete den Kopf zur Seite. Aber der
Wind begriff mein übles Manöver sofort, er pfiff durch
meine Trommelfelle und verfing sich in mir. Ich hatte das
Gefühl, unter meinen Haaren finde ein Großreinema-
chen statt. Der Wind entriss mir alles, was ich wusste,
und blies es zum andern Ohr wieder hinaus: meine Ge-
schichtsstunden, die Jahreszahlen, die ich mit so großer
Mühe gelernt hatte, die unregelmäßigen englischen Ver-
ben … Bald würde ich ganz ausgeblasen sein. Und ausge-
leert.
Thomas versuchte, wie ich, sich zu schützen, mit schreck-
erfüllten Augen presste er die Hände gegen die Ohren.
Ein langer Sirenenton erklang: das Zeichen, dass man so

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rasch wie möglich eines der Rettungsboote besteigen
sollte.
»Gut, meine kleine Jeanne, man muss den Tatsachen ins
Auge sehen, diesmal ist es das Ende. Zu spät, um sich eine
Boje zu suchen. An was könntest du dich denn anklam-
mern, wenn wir kentern?«
Ich habe in meinem leeren Gehirn verzweifelt nach Hilfe
gesucht. Da erschien mir ein kleines Wort, das letzte, das
mir, in einem Winkel zusammengekauert, geblieben war,
zwei winzige Silben, die sich ebenso sehr fürchteten wie
ich: »Sanftmut«. Sanft und mutig wie das zaghafte Lä-
cheln von Papa, als er sich endlich dazu entschloss, mit
mir wie mit einer Erwachsenen zu reden, sanft und mutig
wie die Liebkosung von Mama, wenn sie mir beim Ein-
schlafen helfen wollte, sanft und mutig wie die Stimme
von Thomas, als er mir im Dunkeln gestand, dass er ein
Mädchen aus der fünften Klasse liebte, »sanft« und »Mut«,
diese beiden kleinen Wörter, die mir immer wieder Zu-
trauen gaben und Lust machten, tausend Jahre oder noch
länger zu leben.
Ich rief Thomas zu, er solle es machen wie ich:
»Such dir ein Wort, dasjenige, das dir am liebsten ist!«
In dem Getöse hat er es sicher nicht gehört. Der ver-
dammte Sturm ließ uns nicht die geringste Chance, er

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wütete zu toll. Ich fand gerade noch Zeit ihm nachzuru-
fen, dass ich ihn hasste, und auch, dass ich ihn liebte.
Hatte er, wie ich, versucht, ein Wort zu finden, und wel-
ches? »Ferarri«, »Fußball«? Ich habe ihn später nie danach
gefragt. Unsere Lieblingswörter gehören zu unseren in-
nersten Angelegenheiten, so wie die Farbe unseres Bluts.
Und ich bin mir sicher, dass er sich über mich lustig ge-
macht hätte: »Sanftmut«, ein typisches Mädchenwort.
Langsam – oh, wie beängstigend Langsamkeit ist –, lang-
sam hob sich das Vorderteil unseres Schiffs hoch in den
sonnenlosen Himmel. Ich fühlte, wie ich fiel, Sanftmut,
und noch einmal Sanftmut, ich hatte den Eindruck, das
Wort schwelle durch wiederholtes Aussprechen an, wie
die Kehle bestimmter balzender Vögel, ich umschlang es
mit meinen Armen, Sanftmut, du meine Boje.
Und dann erloschen die schwarzen Lichter und ein Ge-
räusch nach dem anderen verstummte. Nichts mehr.

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ls Erstes piekste mich irgendein spitzer Ge-
genstand in die Kopfhaut, als hätte ich
Läuse, was seit letztem Januar nicht
mehr der Fall gewesen war.
Dann streichelte ein weiches, gleich-
mäßiges Geräusch mein Trommelfell, wie das Hin- und
Herfegen eines abgenutzten Besens auf dem Boden eines
Hauses oder die Wanderschaft eines Stücks Käse auf
einer Reibe.
Schließlich blähte ein frischer Geruch meine Nasenflü-
gel, der Duft von Salz und feuchter Erde.
In meinem benebelten Kopf rechnete ich zusammen:

eine lebendige Haut


+ ein lebendiges Ohr
+ eine lebendige Nase

= eine lebendige Jeanne.

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Dieser tollen Neuigkeit (ich hatte den Schiffbruch über-
lebt) folgte auf dem Fuß ein unheimlicher Schrecken (was
mochte Thomas zugestoßen sein?). Langsam, ganz lang-
sam, öffnete ich die Augen. Da war er, dieses Monster von
einem Bruder, er saß ruhig am Strand und war damit be-
schäftigt, ohne jede Eleganz an seiner Hose herumzu-
fummeln. Das Schicksal seiner Schwester interessierte ihn
nicht im Geringsten. Der Sturm hatte ihn nicht verändert:
Er war immer noch eine Niete! Er bewegte die Lippen,
sicher wollte er mich wie gewöhnlich beschimpfen. Aber
er brachte nichts heraus, keinen Ton. Ich glaubte natür-
lich, er wolle sich über mich lustig machen. Und ich berei-
tete eine meiner üblichen Antworten vor. Aber mir erging
es wie ihm, nichts, absolute Leere im Mund. Wir sahen
einander betreten an. Unsere Verzweiflung war jetzt eben-
so groß wie noch vor einem Augenblick unser Glück über
unser wundersames Überleben.
Sprachlos. Der Sturm hatte uns alle unsere Wörter entris-
sen.
Da legte Thomas – alle seine vergangenen und zukünf-
tigen Bosheiten seien ihm verziehen – eine Hand auf
meine Schulter. Und mit der anderen zeigte er mir unsere
neue Bleibe: ein Paradies. Eine Bucht, umstanden von
Baumriesen, die in den blauen Himmel hineinragten; ein

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blassgrünes Meer, durchsichtiger als die Luft; in der Ferne
ein Korallenriff, an dem sich die Wellen tosend brachen.
Keine Spur von einem Schiff. Und unzählige Fische, die
einen klein und weiß, die andern größer und schwarz.
Von der Strömung getrieben, kamen sie auf uns zu. Ein
Vogel stieß herab, dann zehn, dann tausend. Sie schrien
vor Freude, tauchten, stiegen wieder in den Himmel auf
und stießen erneut laut schreiend herunter. Mir kam es
so vor, als hielten sie ihre Beute nicht lange im Schna-
bel. Kaum hatten sie sie gepackt, da spien sie sie schon
wieder aus. Die Fische fielen wie winzige, schimmernde
Blätter flatternd herunter. Und die Vögel verschwanden,
wie sie gekommen waren, immer noch schreiend, aber dies-
mal vor Wut, zumindest glaubte ich das herauszuhören,
auch wenn ich nicht viel Ahnung von ihrer Sprache hatte.

Wir verstanden ihre Enttäuschung erst ein wenig später,


als die kleinen, weißen Fische vor uns auf dem Sand ange-
spült wurden. Es waren drei Quadrate, jedes mit einem
Buchstaben darauf: Z, N, E. Kein Zweifel: es waren die-
selben, mit denen die Passagiere, die Scrabblechampions,
den ganzen Tag gespielt hatten. Logisch, dass die Vögel
wütend waren! Das Scrabblespiel interessiert sie nicht
und Plastik hassen sie.

27
Ein wenig später näherte sich ein Wort in Begleitung sei-
ner Definition dem Ufer:

chaotisch Adj.; ungeordnet, wirr, durcheinander; von


griech. ›cháos‹ = leerer Raum, verworrene Urmasse;
702 bei Leibniz, vermutl. über franz. ›chaotique‹;
»manches … was … durch Krankheit, Reisen und Krieg
dergestalt verwirrt worden, dass meine hübschen Besitzun-
gen ein unerträglich chaotisches Ansehen haben und völlig
ungenießbar geworden sind« (Goethe an Knebel).

Ein Wort, das auf dem grünen Wasser schwamm, ein


Wort, platt wie eine Qualle oder eine Flunder. Man
brauchte nicht besonders schlau zu sein, um zu erraten,
was geschehen war. Der Sturm hatte die Wörterbücher,
genau wie uns, so heftig durchgeschüttelt, dass sich die
Wörter daraus lösten. Und die Wörterbücher lagen nun
wohl für alle Zeiten ohne ihren Inhalt an der Seite ihrer
Freunde, der Scrabblechampions, auf dem Meeresgrund.
Das Meer gab uns das zurück, was uns der Wind geraubt
hatte. Tausende von Wörtern, eine riesige Bank trieb vor
unseren Augen ruhig im Wasser. Wir brauchten nur die
Arme auszustrecken, um sie herauszufischen. Ich erin-
nere mich an die ersten, die ich in meine Hand nahm.

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umzingeln schw. Verb; feindlich umringen, umgeben,
einschließen, zu veralt. ›Zingel‹, von mlat. ›cingulum‹
= Umfassungsmauer; urspr.: wie mit einer Um-
fassungsmauer umgeben (in feindlicher Absicht);
»dass ein Pöbelhaufe mir die Burg umzingelt«
(C. F. Meyer, Jürg Jenatsch).

Techtelmechtel neutr.; Flirt, Liebelei; umgangsspr. seit


dem 8. Jh., Ursprung ungesichert, vielleicht von ital.
›meco, teco‹ = ich mit dir, du mit mir, unter vier
Augen. R. hatte ein Techtelmechtel mit B.

See  mask.: See 2 fem.: Meer; ahd. ›seo‹, mhd. ›se‹,


gemeingerm. (got. ›saiws‹, engl. ›sea‹). Ursprüngl. nur
mask., Differenzierung erst seit dem 6. Jh. »Es lächelt
der See, er ladet zum Bade« (Schiller, Wilhelm Tell);
»Die Generalin hatte den Bullenkrug für den Sommer
gemietet, um hier an der See ihre Familie um sich zu
versammeln« (E. v. Keyserling, Wellen).

Sie legten sich auf meine Haut wie Tätowierungen, wie


diese zarten Abziehbilder, die ein Bad wegwaschen kann.
Am liebsten hätte ich meinen ganzen Körper damit be-
deckt, aber ich traute mich nicht. Ich bin sicher, sie hätten

29
mich taktvoll und verlockend gestreichelt, wie es die Art
der Wörter ist.
Aber da Thomas mich aus den Augenwinkeln beobach-
tete, gab ich meine verrückten Ideen auf und machte es
wie er: Ich sammelte die Wörter mit meiner hohlen Hand
auf, wobei ich meine Finger so sanft wie möglich spreizte,
um das Wasser abtropfen zu lassen. Danach breitete ich
sie sorgfältig auf dem Sand aus, damit sie in der Sonne
trocknen konnten. Eine Sonne, die im Übrigen immer
heißer wurde – würde sie womöglich unsere kleinen Da-
vongekommenen verbrennen? Thomas lächelte mich an
(bravo, meine Schwester, manchmal bist du gar nicht so
dumm). Wir gingen und holten Blätter, um sie zu schüt-
zen, lange Bananenbaumblätter.

Hinter uns sang jemand. Über unserer Arbeit hatten wir


ihn nicht kommen hören.

Ach, schöne Blume mein,


Ach, Inselvögelein

Eine Stimme wie die einer Mutter, die ihr Kind in den
Schlaf singt, sanft und ein wenig traurig, wie ein leichter
Regen an einem Sommerabend. Eine Stimme, flüchtig

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wie Träume. Ich drehte mich ganz langsam um, um sie
nicht zu erschrecken. Eine solche Stimme würde wahr-
scheinlich ebenso schnell davonfliegen wie ein Vogel.
Eine Erscheinung aus einer anderen Welt lächelte uns an:
ein kleiner, dunkelhäutiger Herr, aufrecht wie ein i, in
weißem Leinenanzug, mit einem flachen Strohhut auf
dem Kopf. Von welchem Planeten war er zu uns gekom-
men? War er einem alten französischen Musikfilm oder
einem vergessenen Karneval entsprungen? Ich habe nicht
so viel Erfahrung im Schätzen des Alters von Schwarzen.
Aber an den Falten, die ihre Krallen um seine Augen-
winkel legten, und an den helleren Flecken auf seiner
Haut erriet ich, dass er nicht mehr der Jüngste war. Er
trat näher. Fasziniert betrachtete ich seine Schuhe, zwei-
farbige Mokassins, rot und beige. Nicht die geringste
Andeutung von Socken. Er schien eher über den Sand zu
tanzen als, wie wir, auf ihm zu gehen. Ich hob den Kopf
gerade noch rechtzeitig, um die Hand, die er mir hin-
streckte, zu drücken.
»Willkommen, kleines Fräulein. Alle nennen mich Mon-
sieur Kasimir. Habt keine Angst, wir sind Schiffbrüche
und Schiffbrüchige gewohnt. Das hier ist mein Neffe. Wir
werden uns eurer annehmen …«
Ein im Unterschied zu ihm in schreiende Farben geklei-

3
deter, riesiger Jüngling mit geblümtem Hemd, gelben
Schlaghosen und einer Gitarre über der Schulter beglei-
tete ihn. Er schwieg, zweifellos war er zu sehr damit be-
schäftigt, seine großen, grünen Augen bewundern zu las-
sen. Keine Frage, ein erhabener Neffe.
»… Ihr könnt nicht mehr sprechen, oder? Macht euch
keine Sorgen, das ist normal nach den wahnsinnigen Stö-
ßen, die euch der Sturm versetzt hat. Wir haben euch vom
Ufer aus beobachtet. Was habt ihr dem Meer nur ange-
tan, dass es sich so heftig gebärdet hat? Und der Wind,
mein Gott, solche Böen! Es ist ein Wunder, dass ihr über-
haupt noch einen Kopf auf den Schultern habt.«
Wir hatten uns taumelnd erhoben.
»Willkommen bei uns. Ein bisschen Schlaf und morgen
wird es euch schon besser gehen. Kommt, wir werden
euch eure Unterkunft zeigen.«
Mehr schlecht als recht folgten wir ihnen. Wir kamen zu
einem Dorf mit Strohhütten. Monsieur Kasimir öffnete
die Tür der ersten und dort erwarteten uns zwei niedrige
Betten.
»Wenn euch der Hunger nicht schlafen lässt, findet ihr in
diesem Korb frisches Wasser und getrockneten Fisch. So.
Habt keine Angst, wir werden euch die Wörter wiederge-
ben, die euch der Sturm geraubt hat. Und noch ein paar

32
mehr, an denen ihr sicher Spaß haben werdet. Unsere
Insel hat Kräfte, wie soll ich sagen, Kräfte eher magischer
Natur. Ihr werdet eure Eltern in Erstaunen versetzen.
Übrigens, das nächste Schiff kommt in einem Monat.
Wir haben alle Zeit der Welt …«
Der erhabene Neffe spielte den Unbeteiligten, indem er
vor sich hinpfiff, unruhig mit dem Fuß auf dem Boden
scharrte und in eine andere Richtung schaute. Aber ich
sah sie genau, seine grünen Augen, sie funkelten im Halb-
schatten und hörten nicht auf, mich zu streifen. Unsere
neuen Freunde schlossen die Tür. Sonnenstrahlen, die
sich durch die Jalousien hereinstahlen, streichelten den
Fußboden. Die schüchterne Melodie einer Gitarre wiegte
uns in den Schlaf. Wer spielte sie für uns? Wer verstand,
dass wir nach dem chaotischen Getöse des Sturms Musik
brauchten? Monsieur Kasimir, der alte Elegant, oder sein
Neffe, der Erhabene mit den grünen Augen?

33
ie Sonne thronte schon hoch im Zenit.
Auf dem kleinen Platz bellte ein Hund,
drei Ziegen knabberten an einem Auto-
reifen, ein Schmetterling flatterte vor der
Nase einer fetten, schwarzen Katze hin
und her.
Nach so viel Unruhe verursachte diese Ruhe Schwindel.
Monsieur Kasimir saß auf einem Baumstumpf und strei-
chelte seine Gitarre. Von Zeit zu Zeit spazierten seine
Finger über die Saiten und lockten dieselbe Melodie wie
am gestrigen Abend hervor, die, die uns in den Schlaf ge-
wiegt hatte. Vielleicht hatte er die ganze Nacht über ge-
spielt, um unsere Alpträume zu vertreiben, die entsetz-
lichen Alpträume, von denen die Überlebenden eines
Unglücks zwangsläufig heimgesucht werden? Wer waren
diese Menschen, die es so gut verstanden, die Schiffbrü-
chigen zu umsorgen? Und welches waren ihre magischen
Kräfte? Ich verging vor Neugier, mehr darüber zu er-
fahren. Wenn mich die Ungeduld packt, dann muss ich

34
mich bewegen. Ich unterdrückte nur mit Mühe drei Tanz-
schritte.
Monsieur Kasimir lachte.
»Anscheinend geht es uns schon besser. Es ist schon spät.
Ich nehme euch mit auf den Markt. Ihr werdet verstehen,
was auf unserer Insel vor sich geht.«

Pfeffergirlanden, in Stücke geschnittene Schwertfische,


Thunfische und Barrakudas, zerlegte Ziegen, andere zer-
teilte Tiere, Augen, Zungen, Lebern und dicke, braune,
kugelförmige Klumpen (Rinderhoden), Berge voll gelb-
licher Süßkartoffeln, weiße Flaschen (selbst hergestellter
Rum), Salatschüsseln, Nussknacker, rosa Saugglocken,
um die Toiletten zu entstopfen, Hasenpfoten (Glücks-
bringer), eingetrocknete Fledermäuse (Unglücksbringer),
Knabberstangen, so genannte Steifmacher (um schlaffe
Ehemänner auf Touren zu bringen) … und eine bunte
Menge, die gackerte und schnatterte, handelte, sich be-
schimpfte und laut lachte … dazu noch eine doppelte
Armee am Boden, Kinder, die heftig weinten und »Mama«
brüllten, und Hunde, die mit offenen Mäulern herum-
geiferten, die reinsten lebendigen Müllschlucker. Sie

35
schnappten alles, was auf den Boden fiel, und verschwan-
den damit, um es gedankenverloren in der Sonne zu zer-
kauen.
Am Ende der Allee eine völlig andere Stimmung: Vier
enge Läden standen um ein Rondell. Man hätte es für den
Marktplatz eines Miniaturdorfes halten können … Die
Kunden kamen flüsternd herbei und warfen ängstliche
Blicke nach rechts und links, wie Leute, die ein Geheim-
nis zu verbergen haben.
»Ich stelle euch unseren Wörtermarkt vor«, sagte Mon-
sieur Kasimir. »Das ist der Ort, wo ich meine Einkäufe
mache. Hier findet ihr alles, was ihr braucht oder was ihr
verloren habt.«
Und er ging auf den ersten Laden zu; auf dessen flattern-
dem Spruchband stand:

FREUND DER DICHTER UND LIEDER

Ein sonderbarer Freund, dieser Kaufmann, ein magerer


Riese mit einem verschlafenen Gesicht, in dessen Laden
es nichts gab. Nichts, außer einem alten, abgestoßenen
Buch. Nach den üblichen Komplimenten und Umar-
mungen äußerte Monsieur Kasimir seine Wünsche:
»Ich zerbreche mir den Kopf über meinen letzten Re-

36
frain, hast du nicht vielleicht einen Reim auf ›Glanz‹ und
einen anderen auf ›Mama‹?«
Solange er seine Besorgung machte, schlichen Thomas
und ich zu dem Laden links daneben.

ZUM WORTSCHATZ DER LIEBE


Verbilligte Preise für Trennungen

Gerade bat eine Frau unter Tränen:


»Mein Mann hat mich brutal verlassen. Ich hätte gerne
ein Wort, damit er meinen Schmerz begreift, ein fürchter-
liches Wort, das ihm die Schamröte ins Gesicht treibt.«
Der Verkäufer, ein junger Kerl, bestimmt ein Anfänger,
wurde zuerst rot, dann sagte er: »Gleich«, und er beugte
sich über ein altes Buch und begann wie ein Rasender
darin herumzublättern: »Gleich habe ich, was Sie brau-
chen, einen kleinen Augenblick. Hier, Sie können wäh-
len: ›Kummer‹ …«
»Das klingt schlecht.«
»Neurasthenie …«
»Das hört sich an wie ein Medikament.«
»Enthoffnet.«
»Das nehme ich, das gefällt mir. Enthoffnet, ich bin völlig
enthoffnet!«

37
Sie ließ ein Geldstück in die Hand des Verkäufers gleiten
und ging aufgeheitert weg. In den Armen trug sie ihr neues
Wort, enthoffnet, enthoffnet … Sie war nicht mehr allein,
sie hatte wieder jemanden, mit dem sie reden konnte.
Der nächste Kunde war ein Greis von mindestens vierzig
Jahren; ich konnte mir nicht vorstellen, dass man sich in
diesem Alter immer noch mit der Liebe abgibt.
»Folgendes. Meine Frau erträgt mein ›Ich liebe dich‹
nicht mehr. Sie sagt: ›Zwanzig Jahre immer dasselbe, lass
dir zur Abwechslung mal was Neues einfallen oder ich
gehe.‹«
»Sie könnten ganz einfach zu ihr sagen: ›Mich juckt ein
Floh im Ohr.‹«
»Damit sie glaubt, ich wasche mich nicht?«
»Oder: Du bist der Hut auf meinem Kopf.«
»Was soll das denn heißen?«
»Meine Liebe zu dir ist wie ein zu großer Hut, der mir die
Sicht nimmt. Ich sehe nur noch dich …«
»Ich werd’s damit versuchen. Wenn es nicht funktioniert,
bringe ich es zurück.«

Wir hätten bis in die Nacht hinein bleiben können. Die


Kunden standen Schlange. Auch Thomas spitzte die Oh-
ren: »Ich werde sie küssen, bis ihr die Luft ausgeht«, man

38
wird »das Tier mit den zwei Rücken« spielen. Seine Au-
gen funkelten, er schien diese Dinge zu verstehen. Wenn
er wieder zu Hause wäre, würde er wissen, wie er mit
ihnen reden musste, mit den Mädchen, sie würden ihr
blaues Wunder erleben. Schon seit langem suchte er ein
Rezept, um die großen anzubaggern, die, die eigentlich zu
groß für ihn waren.
Auch vor den anderen Läden drängte sich die Menge. Ich
hätte gerne noch einige Zeit bei

GOTTGABS
DIPLOMIERTER NAMENGEBER
FÜR PFLANZEN UND TIERE

oder bei der geheimnisvollen

MARIE-LOUISE
ETYMOLOGISTIN IN VIER SPRACHEN

zugebracht.
Als Antwort auf meinen fragenden Blick erklärte Mon-
sieur Kasimir:
»Die Etymologie erzählt die Herkunft der Wörter. Das
Wort ›Ferien‹ zum Beispiel kommt vom lateinischen

39
feriae, das bedeutet ›arbeitsfreie Tage‹, und es ist verwandt
mit dem lateinischen Wort festus, von dem unser ›festlich,
feierlich‹ abstammt. Ihr seht, dass Ferien und Fest et-
was miteinander zu tun haben. Aber kommt, ich muss
euch noch andere Orte auf der Insel zeigen. Ihr kennt
jetzt die Adresse. Ihr könnt jederzeit wieder hierher kom-
men.«
Er zog uns schon weg. Ich hatte gerade noch Zeit, eine
hübsche Liste von Schimpfwörtern aufzuschnappen, die
jemandem vorgeschlagen wurden, der seinen Chef nicht
mehr ertrug. »Arschgeige«, »Kotzbrocken«, »Weichei« …
Ich sagte mir, dass sie alle wie für meinen Bruder gemacht
und wesentlich wirkungsvoller waren als meine üblichen
harmlosen Beschimpfungen »Dummkopf«, »Blödmann«,
»Versager«.
Jetzt würde ich ihn wirklich anpöbeln können, meinen
Bruder. Das Wort »anpöbeln« hatte ich gerade gelernt, es
bedeutet »beleidigen«; ich würde ihn beleidigen, bis er es
leid wäre, mein angebeteter, verhasster Bruder, ich würde
ihn so anpöbeln, dass er sich, sobald ich nur den Mund
aufmachte, zu meinen Füßen winden und um Gnade
flehen würde.
Von diesem Augenblick an schämte ich mich für mein
früheres Leben, das vor dem Schiffbruch, das Leben einer

40
Armen, eine sozusagen stumme Existenz. Wie viele
Wörter habe ich vor dem Sturm gebraucht? Vielleicht
zweihundert oder dreihundert, immer dieselben … Hier,
darauf könnt ihr euch verlassen, werde ich reich werden,
ich werde mit einem Schatz zurückkehren.

4
m Nachmittag brachen wir in einem Ein-
baum mit Außenbordmotor auf.
Es war ein Glück, dass das Meer ruhig war
und dass mich die grünen Augen des er-
habenen Neffen durch ihre langen Mädchenwimpern
hindurch immerzu anblickten. Ohne sie wäre ich vor
Angst gestorben. Die Erinnerung an die riesigen Wellen
überfiel mich ungebeten. Wie sollte man auch den An-
blick unseres unglücklichen Schiffs, das kopfüber ver-
schlungen wurde, vergessen?
Aber das Wasser blieb glatt und durchsichtig wie Glas.
Man brauchte sich nur hinauszulehnen, um dem ruhigen
Tanz der Fische zuzusehen; manche waren lila, andere
gelb mit roten Streifen, wieder andere f lach wie ein
Handteller oder rund wie ein Ballon, es war ein Fest hei-
terer Farben und Formen. Trotz der Schönheit dieses
Schauspiels war in mir ein Rest von Traurigkeit. Ich
musste an unsere alten Reisegenossen denken, an die
Champions, die Wörter mit vielen Qs und Ys fanden.

42
Konnte man etwas unternehmen, um die Ertrunkenen
wieder in die freie Luft hochzuholen?
Ein anderer düsterer Gedankenschwarm umschwirrte
mich, wie Wespen, die den günstigsten Augenblick zum
Zustechen abpassen. Als wir den Einbaum bestiegen,
hatte ich ein Gespräch belauscht, das mein Erhabener
und sein Onkel mit gesenkten Stimmen führten.
»Man hat sie lange nicht gesehen.«
»Ja, das erstaunt mich. Für gewöhnlich hat man sie nach
einem Schiffbruch gleich am nächsten Tag auf dem Hals.«
»Wir wollen hoffen, dass sie unsere jungen Freunde in
Ruhe lassen.«
»Armes, reizendes kleines Fräulein! Ich kann es mir
schlecht eingesperrt vorstellen …«
Von wem sprachen sie? Und wer wollte mich ins Gefäng-
nis stecken?
Wie unsere Begleiter suchte ich ängstlich den Horizont
ab. Von wo würden meine Feinde kommen?
Zum Glück dauerte unsere Überfahrt nicht einmal eine
Viertelstunde, und niemand tauchte auf, um sie zu stören.

43
Diese Insel war verbrannt wie ein Geburtstagskuchen, den
man zu lange im Ofen gelassen hat. Und leer, ohne alles,
ohne Pflanzen, Lebewesen oder Bauten, ein Weltmeister
in der Kategorie »Wüsten«, unschlagbar im Guinnessbuch
der Rekorde (Kapitel »Nichts«). Eine felsige, kastanien-
braune, ausgespülte, ausgewaschene, abgeschliffene Flä-
che … An diesem reizenden Ort waren wir gelandet.
Eine komische Wahl für einen Ausflug! Aber Monsieur
Kasimir klärte uns unverzüglich darüber auf, warum wir
hierher gekommen waren.
»Wisst ihr, weshalb die Wüsten sich überall auf unserer
Erde mehr und mehr ausbreiten …? Wenn ihr die Augen
schließen würdet, könntet ihr sie auf uns zukommen se-
hen, diese fürchterliche Sandarmee. Man behauptet, die
Erwärmung der Erde und die abgeholzten Wälder seien
daran schuld … Das stimmt sicher. Aber das Wichtigste
wird dabei vergessen. Hier existierten vor hundert Jah-
ren zwei Dörfer mit allem, was man zum Glücklichsein
braucht, mit Pflanzen, Strohhütten, klarem Wasser, Frau-
en, Männern, Kindern, Tieren …«
Ich konnte es nicht glauben.
Leben, hier? Auf diesem wüsten Eiland? Wie das! Ich
wollte mein Gehirn zwingen, sich das vorzustellen, aber es
weigerte sich, es sträubte sich, es hielt mich für verrückt.

44
»… Eines Tages gab es auf der Insel einen ebenso hefti-
gen Sturm wie den euren. Natürlich wurden Bäume aus-
gerissen und die Häuser flogen davon. Aber alles Übrige
blieb erhalten. Es hätte genügt, alles wieder aufzubauen,
und das Leben wäre weitergegangen wie zuvor, bis zum
nächsten Sturm.«
Seit einiger Zeit sah ich, dass auf dem Meer immer mehr
schwarze Dreiecke auftauchten. Sie umkreisten uns wie
in einem Ringelreihen. Ich begriff erst mit der Zeit, dass
es Haie waren. Vielleicht ernährten sich diese Tiere nicht
nur von frischem Fleisch, sondern auch von unheim-
lichen Geschichten? Und diejenige, die Monsieur Kasi-
mir erzählte, war alles andere als heimelig.
»Den Bewohnern ist es damals ergangen wie euch, alle
ihre Wörter sind weggefegt worden. Anstatt zu uns zu
kommen und sie sich wieder zu besorgen, glaubten sie,
sprachlos leben zu können. Sie haben nichts mehr be-
nannt. Versetzt euch an die Stelle der Dinge, versetzt euch
in das Gras, die Ananasbäume, die Ziegen … Sie wurden
alle traurig, weil sie nicht mehr gerufen wurden, sie mager-
ten immer mehr ab und schließlich sind sie gestorben. Ge-
storben aus Mangel an ihnen erwiesener Aufmerksamkeit;
gestorben, eins nach dem andern, an Entliebung. Und die
Männer und Frauen, die sich für die Sprachlosigkeit ent-

45
schieden hatten, sind ebenfalls gestorben. Die Sonne
trocknete sie aus. Bald war von jedem nur noch die Haut
übrig, dünn und braun wie ein Bogen Packpapier, und für
den Wind war es ein Leichtes, sie wegzublasen.«
Monsieur Kasimir schwieg. Seine Augen füllten sich mit
Tränen. Bestimmt waren Großmütter und Großväter von
ihm unter den Ausgetrockneten gewesen. Dann führte er
uns zu dem Einbaum zurück. Die Haie waren verschwun-
den, als die Geschichte zu Ende war.
»Wisst ihr, wie viele Sprachen jedes Jahr aussterben?«
Wie hätten wir ihm antworten sollen? Unsere Wörter
und vor allem auch unsere Zahlen waren uns ja geraubt
worden. Ich erinnere euch daran, dass unsere armen Köpfe
keinen einzigen Satz mehr herstellen konnten, seitdem
der Sturm sie durchgeschüttelt und der Wind sie leer ge-
fegt hatte! Es gelang uns gerade noch, dasjenige zu verste-
hen, was man uns sagte.
»Fünfundzwanzig! Fündundzwanzig Sprachen sterben
jedes Jahr! Sie sterben, weil sie nicht mehr gesprochen
werden. Und die Dinge, die diese Sprachen bezeichnen,
verschwinden mit ihnen. Deswegen dringen die Wüsten
immer weiter vor. Ihr seid gewarnt! Die Wörter sind die
kleinen Motoren des Lebens! Wir müssen sie hegen und
pflegen.

46
Er fixierte uns, Thomas und mich, einen nach dem ande-
ren. Seine Heiterkeit und Freundlichkeit waren mit einem
Mal verschwunden, ein Furcht erregender Ernst war an
ihre Stelle getreten. Wütend murmelte er vor sich hin,
mit einer Hand hielt er den Außenbordmotor, mit der
anderen zählte er an seinen Fingern die fünfundzwanzig
ab, die jedes Jahr untergingen. Es gab noch fünftausend
lebende Sprachen auf der Welt, im Jahr 200 würde nur
noch die Hälfte davon übrig sein, und dann?
Die hereinbrechende Nacht nahm die Wut von ihm. Als
ob die Dunkelheit, zusammen mit der Musik, die einzig
wahre Heimat von Monsieur Kasimir gewesen wäre, der
Ort, an dem er nach seinem Gefallen leben konnte, ohne
irgendeine Gefahr fürchten zu müssen.
Als wir am Ufer angelegt hatten, überließ er es uns, den
Einbaum zu vertäuen, und ging schon los, um sich mit
einem Orchester zu treffen, das etwas weiter oben unter
den Bäumen spielte.
Der richtige Moment, sich auf dem Sand auszustrecken
und die Sterne höflich zu grüßen – und schon war ich ein-
geschlafen.

47
ür gewöhnlich hasse ich ältere Damen. Es
gibt nichts Scheinheiligeres als diese Bies-
ter. Solange unsere Eltern sie beobachten, sind sie
scheißfreundlich zu uns Kindern, sie streicheln
uns und machen da-da. Aber wenn die Eltern den
Rücken kehren, rächen sie sich an unserer Jugend, sie
kneifen uns mit ihren spindeldürren Fingern, pieksen uns
mit ihren Stricknadeln oder, was die schlimmste Folter
ist, sie küssen uns alle naselang, um uns dafür zu strafen,
dass wir so gut riechen und eine so weiche Haut haben.
Aber diejenige, die mir an diesem Tag gezeigt wurde, die
Benennerin, habe ich vom ersten Augenblick an gemocht.

Ein kleines Haus, wie man sie zu hunderten an allen


Stränden antrifft: Allerweltshäuser, weiß, einstöckig, mit
zwei Fenstern und einem Balkon, um sich an der Aussicht
zu berauschen. An der Tür ein Schild:

48
T R ET E N SI E E I N, OH N E A NZ U K LOPF E N,
A BE R WA RT E N SI E BI T T E
DA S E N DE DE S WORT E S A B.
DA N K E

Und man hörte ein Gewisper, Laute, die eher geraschelt


als gesprochen klangen, wie das Zwitschern kranker
Spatzen oder wie Gebete in der Kirche. Später verstand
ich übrigens, dass es sich tatsächlich um ein Gebet han-
delte.
Monsieur Kasimir öffnete. Niemand. Wir durchquerten
ein Wohnzimmer voll ausgestopfter, mottenzerfressener
Tiere und zerfetzter Bücher. Vielleicht liebten die Men-
schen auf dieser Insel die Romane so sehr, dass sie sie fra-
ßen? Sonst war nichts im Raum. Das Murmeln war unser
einziger Führer. Eine weitere Tür. Der Garten. Ein win-
ziges Quadrat, in dem drei Palmen standen und ein run-
der Tisch mit einer Spitzendecke, auf dem ein dickes, auf-
geschlagenes Wörterbuch lag.
Und auf einem Stuhl mit einer sehr hohen Lehne, der den
Stühlen ähnelte, die man in Schlössern sieht, saß in einem
weißen Festgewand die älteste Person, die ich je getroffen
habe. Versteht ihr: Sie war nicht nur runzelig, sie war zer-
klüftet, zerfurcht von wahren Schluchten, ihre Augen

49
versteckten sich unter unvorstellbaren Falten und der
Mund verschwand tief in einem Loch. Das Ganze über-
ragt von einer schlohweißen Mähne, der Mähne einer
Eislöwin. Ich wagte nicht mir vorzustellen, wie viele Jahre
es gebraucht hatte, um diese Spuren in die Haut zu mei-
ßeln und diese Haare wieder und wieder zu waschen.
Ein Ventilator bewachte diese Antiquität. Man hätte ihn
für einen Hund halten können, diesen Ventilator. Sein
einziges Riesenauge war auf seine Herrin gerichtet und
knurrte bei Bedarf.
»Frieseln.«
Die Antiquität formte die Silben dieses Wortes mit einer
sanften Stimme, wie ich sie noch nirgendwo gehört hatte,
mit einer schüchternen Zärtlichkeit, sie sprach sie aus wie
eine Verliebte. Vielleicht hatte sie deshalb ein Hochzeits-
kleid gewählt. Warum hatte niemand jemals meinen Na-
men so ausgesprochen?
Wie in der Aufschrift am Eingang erbeten, warteten wir
»das Ende des Wortes« ab.
»Frieseln.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was diese zwei
Silben bedeuten könnten. Ich brauchte nicht lange zu
warten.
Eine rosa Hand erschien in dem winzigen Garten und

50
legte sich auf die Spitzendecke. Auf der Hand wuchsen
lauter rote Bläschen.
»Das ist es«, f lüsterte Monsieur Kasimir. Er hatte sich
über das Wörterbuch gebeugt und las die Definition:
Frieseln: kleine rote Bläschen, die während der Sommerhitze
auf der Haut entstehen.
Sieben Minuten verstrichen in vollkommener Stille. In
der Ferne hörte man nur den Gesang einiger Vögel und
die Wellen, die über den Sand rollten. Dann verschwan-
den die Hand und die Bläschen. Aber das Wort blieb zu-
rück, die beiden glitzernden Silben flogen durch die Luft
wie ein Schmetterling. Dann verschwanden sie und be-
wegten dabei die Flügel, um »Danke« zu sagen, »Danke,
dass wir ausgesprochen worden sind«. Die älteste Dame
der Welt wandte sich uns zu. Man konnte unmöglich er-
kennen, ob sie uns sah. Ich habe es euch ja erzählt: An der
Stelle, wo für gewöhnlich die Augen sind, hatte sie nur
Falten.
Dem Ventilator war unsere Gegenwart nicht geheuer. Als
guter Wachhund knurrte und schnaubte er. Man spürte,
dass er bereit war, den Besucher anzuspringen und in Stü-
cke zu reißen, wenn es galt, seine Herrin zu verteidigen.
Zum Glück blätterte der Wind, den er machte, ein paar
Seiten um. Und mit derselben sanften, zärtlichen, ver-

5
liebten Stimme las die Benennerin, ohne sich weiter um
uns zu kümmern, langsam die sechs Silben eines anderen
Wortes vor:
»Echinoideae.«
Auf der Stelle tauchte eine Seeigelfamilie aus dem Rasen
des Gartens auf. Monsieur Kasimir sagte leise zu uns:
»Habt ihr ihre Arbeit verstanden? Sie gibt den seltenen
Wörtern ihr Leben zurück. Ohne sie würden sie für alle
Zeiten in Vergessenheit geraten.«

Wir blieben lange in dem Garten, fasziniert von dem


Schauspiel dieser Auferstehungen. Was ist ein »Vertiko«?
Ein zierlicher, kleiner Schrank mit einem Aufsatz spa-
zierte über die Wiese. Was ist ein »Pillendreher«? Ein
kleiner Käfer aus der Familie der Scarabäen, ein Mistkä-
fer, krabbelte über die Wiese und trug ein Kügelchen aus
Exkrementen, das er sich als Proviant gedreht hatte, zwi-
schen seinen Hinterbeinen …
Und wie sich diese Wörter darüber freuten, dass sie aus
der Vergessenheit hervorgeholt wurden! Sie reckten und
streckten sich, manche waren wahrscheinlich seit Jahr-
hunderten nicht mehr an die frische Luft gekommen.
Was ist ein »Gestübe«? Verklumpter Kohlenstaub, den
die Kinder der Bergarbeiterfamilien früher auf den Hal-

52
den aufstöberten, um die Stube heizen zu können. Und
was ist ein »Holzweg«? Ein Waldweg zum Abführen des
geschlagenen Holzes, der im Dickicht endet. Ich er-
innerte mich, wie mein Vater ärgerlich zu mir sagte: »Du
bist auf dem Holzweg«, als ich damals dachte, ich könnte
Mama und ihn wieder zusammenbringen. Ich wusste nicht
genau, was diese Redewendung zu bedeuten hatte, aber
ich begriff, dass die Sache ausweglos verfahren war.
Die Nacht brach herein. Auf Zehenspitzen verließen wir
unsere alte Freundin.
»Teure Benennerin! (Monsieur Kasimirs Augen wurden
so zärtlich wie die eines Kindes, das den Namen seiner
Mutter ausspricht.) Könnte sie doch tausend Jahre alt wer-
den! Wir brauchen sie so nötig! Wir müssen sie vor Nekrol
beschützen.«
Als er meinen ängstlichen Gesichtsausdruck sah (wer
mochte dieser Nekrol sein?), legte er seinen Arm um
meine Schulter und sprach mit mir wie mit einer Erwach-
senen über Politik.
»Nekrol ist der Gouverneur dieses Archipels, er ist finster
entschlossen, hier Ordnung zu schaffen. Unsere Liebe zu
den Wörtern ist ihm unerträglich. Ich bin ihm einmal
begegnet. Stell dir vor, was er zu mir gesagt hat: ›Alle Wör-
ter sind Werkzeuge, nicht mehr und nicht weniger. Werk-

53
zeuge zur Kommunikation. Wie die Autos. Fabrizierte
Werkzeuge, nützliche Werkzeuge. Wie kann man sie nur
wie Götter anbeten? Betet man etwa einen Hammer oder
eine Kneifzange an? Im Übrigen gibt es viel zu viele Wör-
ter, ich muss sie unter allen Umständen auf 500 bis 600
reduzieren, auf die, die absolut unerlässlich sind. Der Sinn
für die Arbeit geht verloren, wenn man zu viele Wörter
hat. Du siehst es ja an den Inselbewohnern: Sie haben
nichts im Kopf als reden oder singen. Aber verlass dich
drauf, das wird sich ändern …‹ Von Zeit zu Zeit schickt
der Gouverneur Helikopter zu uns, die mit Flammen-
werfern ausgerüstet sind, und setzt eine Bibliothek in
Brand …«
Ich zitterte. Das waren also die berühmten Feinde, die
uns bedrohten. Vor Wut gruben sich Monsieur Kasimirs
Finger immer tiefer in meinen Hals. Ich unterdrückte
einen Schrei. Mir wurde fast übel.
»Und glaube ja nicht, Nekrol sei alleine. Viele denken wie
er, vor allem Geschäftsleute, Bankiers, Wirtschaftsexper-
ten. Die Vielfalt der Sprachen stört sie bei ihren Geschäf-
ten: Sie hassen es, Übersetzer bezahlen zu müssen. Und es
stimmt ja auch, wenn sich das Leben aufs Geschäfte-
machen, auf Geld, auf Kaufen und Verkaufen beschränkt,
dann braucht man nicht unbedingt seltene Wörter. Aber

54
keine Sorge, wir wissen seit langem, wie wir uns schützen
können.«

So endete unser dritter Tag auf der Insel, und so begann


für mich eine neue Gewohnheit, ein kleines Ritual, das
mir nur Glück gebracht hat: Jeden Sonntagabend vor
dem Einschlafen mache ich einen kleinen Spaziergang in
einem Wörterbuch, ich wähle ein Wort aus, das ich noch
nicht kenne (die Auswahl ist groß: Wenn ich daran denke,
wie viele ich nicht kenne, schäme ich mich), und ich spre-
che es mit lauter Stimme sehr liebevoll aus. Ich schwöre
euch, dass meine Lampe jedes Mal den Tisch verlässt, auf
dem sie für gewöhnlich steht, und sich aufmacht, um ir-
gendeine Gegend der Welt, die ich bisher nicht kannte,
zu erhellen.

55
itten in der Nacht weckte mich ein
Schluchzer. Ich kannte ihn gut, die-
sen Schluchzer. Es ist eine Art
Kloß, der sich in meinem Hals fest-
setzt, genau unter der Stelle, an der sich meine Rachen-
mandeln befanden, ehe sie mir ein Metzger von einem
Chirurgen herausgenommen hat. Der Kloß taucht auf,
wenn ich zu einsam bin, um mir selbst Gesellschaft zu leis-
ten. Ganz unter uns, ich würde jemand anders als Gesell-
schaft vorziehen. Aber man kann sich seine Freunde nicht
immer aussuchen und alles ist besser als Einsamkeit.
Ich setzte mich in meinem Bett auf. Wenn ich liegen
bleibe, hindert mich dieser Schluchzer am Atmen.
»Und wenn ich’s einfach mal versuchte?«
Das Bild der Benennerin ging mir nicht aus dem Kopf.
Ob ich auch die Kunst beherrschte, etwas erscheinen zu
lassen? Ich zögerte. Mein Herz klopfte. Meine Hände
zitterten. Ganz sanft, um Thomas, der endlich einge-
schlafen war, nicht zu stören, sagte ich: »Mama.«

56
Eine Sekunde später war sie da, sie stand neben mir,
meine Mama, wie sie leibt und lebt, ihre blonden Haare,
ihr Seifengeruch, ihr Jungmädchenlächeln, ihre Augen-
fältchen, ihre Hand, die immer bereit war, meine Wange
zu streicheln.
Wir sahen uns an, sahen uns an, bis es fast wehtat, ohne
miteinander zu reden. Es wäre an mir gewesen, etwas zu
sagen, aber ich konnte ja nicht sprechen. Ich hatte meine
Wörter noch nicht wiedergefunden. Ich war noch nicht
vom Sturm geheilt.
Mama blieb im Mondschein viel zu kurz. Mit dem einen
Auge schaute ich auf die Leuchtziffern meiner Uhr und
mit dem anderen auf meine Mutter. Sieben Minuten sind
eine so kurze Zeit.
Und dann ging sie wieder, mit ihren Fingerspitzen winkte
sie auf Wiedersehen. Den Schluchzer nahm sie mit. So ist
meine Mutter, sie nimmt alle meine Schluchzer an sich.
Ich hoffe, dass sie sie nicht für sich aufbewahrt. Später
einmal würde ich Abfalltonnen für Schluchzer erfinden.
Dann könnte man sie auf den Müllhaufen werfen, wo die
Ratten sie fräßen. Es heißt, den Ratten sei es egal, wovon
sie sich ernähren. Wir würden uns leichter fühlen. Dann
schlief ich wieder ein.

57
asst sie in Ruhe!«
Schon seit einiger Zeit vernahm ich im Schlaf
ein Geflüster, das immer zorniger klang: »Verschwin-
det!«, »Ihr seht doch, dass sie schläft«, be-
gleitet von dem Schlagen winziger Flügel
und einem leichten Sirren, das sich anhörte wie das von
Mücken, bevor sie stechen.
Langsam öffnete ich die Augen. Ein Schwarm von unge-
fähr dreißig Wörtern belagerte mich. »Epitrope«, »Kar-
fiol«, »Gipüre«, »Mastaba« und noch andere, die ich heute
nicht mehr weiß.
Der erhabene Neffe versuchte, diesen Mückenschwarm
mit dem Wedeln eines Fächers zu vertreiben.
»Dummköpfe! Wie könnt ihr nur glauben, ihr würdet sie
verführen, indem ihr sie aufweckt!«
Ich verstand das Ansinnen der hübschen Wörter genau.
Aber was sollte ich machen? Ich hatte weder die Beru-
fung noch die Geduld unserer alten Freundin, ich konnte
nicht den ganzen Tag benennen. Mein Beruf in meinem
Alter war, rund um die Uhr zu spielen, zu schwimmen

58
und zu leben, nicht, Silben zu flüstern. Ich sprang zum
großen Schrecken meiner Belagerer mit einem Satz auf.
Die Wörter verstanden, dass sie ihre Zeit mit mir ver-
taten, und machten sich davon, um anderswo Hilfe zu
suchen.
Mit einem noch breiteren Lächeln als gewöhnlich hatte
Monsieur Kasimir die Szene von der Türschwelle aus be-
obachtet. Thomas war genauso zärtlich bestürmt worden
wie ich. Nur hatte er, da er stärker war, seine Besucher auf
der Stelle mit seinem Kopfkissen, das er wie Windmüh-
lenflügel herumwirbelte, vertrieben.
»Sagt nur, ihr beiden, es scheint, unsere Freunde haben
euch ins Herz geschlossen! Hoffentlich leidet ihr nicht zu
sehr unter der Invasion.«
Ehrlich gestanden, ich, die ich es hasse, mein Zimmer
aufzuräumen, ich hätte gerne ein wenig Ordnung in mei-
nem Kopf hergestellt. Die Wörter hatten sich überall
eingenistet, unter meinen Haaren, hinter meiner Stirn,
hinter meinen Augen. Ich spürte, wie sie sich aufs Gera-
tewohl und auf gut Glück in jedem noch so verborgenen
Winkel meines Gehirns versammelten. Ich spürte, wie
mit Riesenschritten ein unangenehmer Kopfschmerz
nahte …
Umso mehr, als Monsieur Kasimir begonnen hatte, sei-

59
ner Gitarre schauderhafte Töne zu entreißen, Töne, wie
er sie gerade traf, ein wirklich gräuliches Chaos, eine Ka-
kophonie, die in die Ohren eindrang und meine Trom-
melfelle durchbohrte. Was überkam ihn, dass er uns so
quälte?
»Ihr seht, mit den Wörtern ist es wie mit den Noten. Es
genügt nicht, dass man sie aufhäuft. Ohne Regeln keine
Harmonie. Keine Musik. Nur Geräusche. Die Musik
braucht die Tonlehre, wie die Sprache die Grammatik
braucht. Erinnert ihr euch noch an die Grammatik? …«
Ach du Schande!
Ich erinnerte mich mit Schrecken an jede Menge teuf-
lische Regeln …
Thomas verzog das Gesicht noch mehr als ich.
»Sollen wir eine Wette abschließen?«, fuhr Monsieur
Kasimir fort. »Wenn ihr die Grammatik nicht in einer
Woche liebt, dann zerschlage ich meine Gitarre.«
Wir lächelten gutmütig, um ihm eine Freude zu machen.
Er schien sich so sicher zu sein.
Aber uns dazu bringen, dass wir die Grammatik liebten?
Niemals! Arme Gitarre! Wenn wir die Wette erst gewon-
nen hätten, würden wir um Gnade für sie bitten.
Der Erhabene wartete draußen mit vier Pferden auf
uns.

60
»Die Stadt der Wörter liegt in vier Kilometer Entfernung.
Wer zuerst dort anlangt, bekommt ein Lied von mir.«
Wir galoppierten so schnell, dass uns die Puste ausging.
Ich glaube, die beiden andern ließen Thomas gewinnen.

6
ir hatten den Gipfel eines Hügels
erreicht, wo uns das merkwürdigste
und lustigste Schauspiel erwartete.
»Jetzt müsst ihr mucksmäuschenstill
sein«, flüsterte Monsieur Kasimir, »man
darf sie nicht stören.«
Ich fragte mich, was für wichtige Persönlichkeiten das
waren, derentwegen wir solche Vorsichtsmaßnahmen er-
greifen mussten. Vielleicht eine Prinzessin, die gerade
ihren heimlichen Liebhaber küsste, irgendwelche Schau-
spieler beim Drehen eines Films? Die Antwort, die viel
einfacher und dennoch ganz unvorhersehbar war, ließ
nicht lange auf sich warten. Leise trat ich an ein altes,
wackliges Holzgeländer heran. Unter uns lag eine Stadt,
eine richtige Stadt mit Straßen, Häusern, Läden, einem
Hotel, einem Rathaus, einer Kirche samt Kirchturm-
spitze, einem prächtigen Gebäude in arabischer Bauart,
ebenfalls flankiert von einem Turm (vielleicht eine Mo-
schee?), einem Krankenhaus, einer Feuerwehrkaserne …

62
Eine Stadt, die in allem unseren Städten glich, abgesehen
von drei Unterschieden:
. Die Größe: Alle Gebäude waren im Vergleich zu den
normalen Dimensionen um die Hälfte verkleinert. Man
hätte meinen können, man habe ein Modell oder eine
Bühnendekoration vor sich.
2. Die Stille: Für gewöhnlich machen die Städte einen
Höllenlärm: Autos, Mopeds, die unterschiedlichsten
Motorengeräusche, Wasserspülungen, lautes Stimmen-
gewirr, das Getrappel der Schuhsohlen auf den Bürger-
steigen … Hier nichts von alledem. Nichts, nur ein leich-
tes Knistern, ein kaum wahrnehmbares Rascheln.
3. Die Bewohner: Keine Frauen, keine Männer, kein ein-
ziges Kind. In den Straßen tummelten sich nur Wörter,
zahllose Wörter, die seelenvergnügt im Sonnenschein
herumgingen, als wären sie hier zu Hause. Sie breiteten in
aller Ruhe ihre Silbenglieder in der frischen Luft aus. Die
einen bewegten sich ernst und im vollen Bewusstsein
ihrer Wichtigkeit, sie liebten die Ordnung und die vor-
geschriebenen Wege (das Wort »Verfassung«, die beiden
Wörter »Urin« und »Untersuchung« Arm in Arm, das
Wort »Katalysator«). Es war höchst amüsant, sie dabei
zu beobachten, wie sie an den roten Ampeln anhielten,
obwohl sie kein Auto bedrohte. Die anderen waren viel

63
fantasievoller und unberechenbarer, sie flogen, tänzel-
ten und machten Luftsprünge wie winzige, losgelassene
Pferde oder trunkene Schmetterlinge: »Vergnügen«,
»Büstenhalter«, »Olivenöl« … Ich verfolgte gespannt ihr
Treiben. Ich hatte den Wörtern bisher nie genügend Auf-
merksamkeit geschenkt. Nicht eine Sekunde lang hätte
ich gedacht, dass sie alle, wie wir, ihren eigenen Charakter
haben.
Monsieur Kasimir legte seine Arme um unsere Schultern,
um meine und um die meines Bruders, und flüsterte uns
die Geschichte dieser Stadt ganz leise ins Ohr.
»Eines schönen Tages haben sich die Wörter auf unserer
Insel aufgelehnt. Das war schon vor langer Zeit, Anfang
des Jahrhunderts. Ich wurde gerade geboren. Eines Mor-
gens haben sich die Wörter geweigert, weiter ihr Skla-
venleben zu führen. Eines Morgens hatten sie keine Lust
mehr, zu jeder beliebigen Tageszeit ohne den geringsten
Respekt herbeizitiert und dann wieder zum Schweigen
gebracht zu werden. Eines Morgens ertrugen sie den
Mund der Menschen nicht mehr. Ich bin mir sicher, ihr
habt nie an die Qual der Wörter gedacht. Überlegt ein-
mal, wo schmoren die Wörter, ehe sie ausgesprochen wer-
den? Im Mund. Zwischen den verfaulten Zähnen und
den alten darin verkeilten Kalbfleischresten, eingehüllt

64
65
in den Gestank des schlechten Atems, aufgescheuert
durch die schwerfällige Zunge, ertränkt im sauren Spei-
chel. Würdet ihr etwa in einem Mund leben wollen? Und
so sind die Wörter eines Morgens geflohen. Sie haben
eine Bleibe gesucht, ein Land, wo sie unter sich und weit
weg von den verhassten Mündern leben konnten. Und sie
sind hier gelandet, in diesem alten Bergwerk, das aufge-
geben wurde, als dort kein Gold mehr zu finden war. Hier
haben sie sich eingerichtet. Nun wisst ihr alles. Ich lasse
euch jetzt alleine bis zum Abend, ich muss mein Lied
vollends fertig machen. Ihr könnt die Wörter beobach-
ten, solange es euch Spaß macht, sie werden euch nichts
tun. Aber lasst euch ja nicht einfallen, ihre Stadt betreten
zu wollen. Sie verstehen sich zu verteidigen. Sie können
schlimmer stechen als Wespen und besser beißen als
Schlangen.«

Ich vermute, euch geht es, wie es mir ging, bevor ich auf
die Insel kam: Ihr kennt nur Wörter, die in Gefangen-
schaft sind, Wörter, die traurig sind, selbst wenn sie so
tun, als ob sie lachten. Aber glaubt mir: Die Wörter füh-
ren ein lustiges Leben, wenn sie frei über ihre Zeit verfü-
gen können und nicht ständig gezwungen werden, uns zu

66
dienen. Sie bringen ihre Tage damit zu, sich zu verklei-
den, sich herauszuputzen und sich zu verheiraten.
Oben von meinem Hügel herunter habe ich zuerst nichts
von dem Treiben da unten verstanden. Es waren so viele
Wörter. Ich sah nur ein entsetzliches Durcheinander und
ich verirrte mich in dieser Menge. Ich brauchte eine
ganze Weile und erkannte erst nach und nach die wich-
tigsten Stämme, die das Volk der Wörter bilden. Denn
die Wörter gliedern sich in Stämme wie die Menschen.
Und jeder Stamm hat seine eigene Aufgabe.
Die erste Aufgabe besteht darin, den Dingen ihre Namen
zu geben. Ihr habt wahrscheinlich schon einmal einen bo-
tanischen Garten besucht. Dort steckt vor jeder seltenen
Pflanze ein kleines Schild, eine Bezeichnung. Dieselbe
Aufgabe haben die Wörter: Sie heften allen Dingen eine
Bezeichnung an, damit man sich in der Welt zurecht-
finden kann. Das ist die schwierigste Aufgabe. Es gibt so
viele und so komplizierte Dinge und auch Dinge, die sich
unablässig verändern, und für alle muss eine Bezeichnung
gefunden werden! Die Wörter, denen diese fürchterliche
Arbeit zufällt, heißen Hauptwörter oder Substantive. Der
Stamm der Substantive ist der vornehmste und größte
Stamm. Es gibt männliche Hauptwörter, das sind die
Maskuline, und weibliche Hauptwörter, die Feminine,

67
und es gibt die sächlichen Hauptwörter, das sind die, die
sich nicht entscheiden können, welches Geschlecht sie
wählen wollen, die Neutren. Dann gibt es Substantive, die
den Menschen ihre Namen geben: die Vornamen. Eine
Jeanne zum Beispiel ist kein Thomas (zum Glück!). Es
gibt Substantive, die Dinge bezeichnen, die man sieht,
und solche, die Dinge bezeichnen, die es gibt, obwohl sie
unsichtbar bleiben, die Gefühle zum Beispiel: die Wut,
die Liebe, die Traurigkeit … Ihr begreift, warum es am
Fuß unseres Hügels nur so wimmelte von Substantiven.
Die anderen Wortstämme müssen kämpfen, um sich Platz
zu verschaffen.
Zum Beispiel der ganz kleine Stamm der Wörter, die das
Geschlecht anzeigen, die Artikel. Ihre Rolle ist einfach
und ziemlich überflüssig, das müsst ihr zugeben. Sie mar-
schieren vor den Substantiven her und schwingen eine
Glocke: Achtung, das Substantiv, das mir folgt, ist ein
Maskulinum, Achtung, dieses ist ein Femininum und
dieses ein Neutrum! Der Tiger, die Kuh, das Schaf.
Die Substantive und die Artikel spazieren von morgens
bis abends zusammen durch die Gegend. Und von mor-
gens bis abends besteht ihre Lieblingsbeschäftigung da-
rin, Kleider oder Verkleidungen zu entdecken. Wahr-
scheinlich fühlen sie sich sonst nackt, wenn sie nur so

68
in der Stadt herumlaufen. Vielleicht frieren sie ja auch,
selbst wenn die Sonne scheint. Sie verbringen ihre Zeit
also in den Läden.
Die Läden werden vom Stamm der Eigenschaftswörter,
der Adjektive, geführt.
Lasst uns das Schauspiel beobachten; aber wir dürfen kei-
nen Lärm machen (sonst bekommen die Wörter Angst
und flattern in alle Richtungen davon und dann werden
sie sich für lange Zeit nicht mehr sehen lassen):
Das Substantiv »Haus« stößt die Ladentür auf.
»Guten Tag, ich komme mir etwas schmucklos vor, ich
möchte mich ausstaffieren.«
»In unseren Regalen liegen ganze Stapel von dem, was Sie
brauchen«, entgegnet der Ladenbesitzer und reibt sich
schon die Hände in Erwartung des guten Geschäfts.
Das Substantiv »Haus« beginnt mit der Anprobe. Welche
Unschlüssigkeit! Wie schwierig ist es, sich zwischen den
verschiedenen Adjektiven zu entscheiden! Das Haus
geht mit sich zu Rate. Die Auswahl ist groß. Will es
»blau«, »hoch«, »befestigt«, »bayrisch«, »kinderfreund-
lich«, »blumengeschmückt« nehmen? Die Adjektive tan-
zen verführerisch um das Haus herum, um von ihm er-
wählt zu werden.
Der lustige Tanz dauerte zwei Stunden, dann verließ das

69
Haus den Laden mit der Eigenschaft, die ihm am meisten
gefiel: »verhext«. Hocherfreut über seinen Kauf wieder-
holte es, zu seinem ständigen Begleiter, dem Artikel, ge-
wandt:
›»Verhext‹, denk nur, wo ich doch Gespenster so gerne
mag, ich werde nie mehr einsam sein. ›Haus‹, das ist ge-
wöhnlich. ›Haus‹ und ›verhext‹, verstehst du? Ich werde
von jetzt an das interessanteste Haus in der ganzen Stadt
sein, ich werde den Kindern Angst einjagen, ach, ich bin
ja so glücklich!«
»Warte«, unterbrach es da das Adjektiv, »so schnell geht
das nicht. Wir sind noch nicht vereinigt.«
»Vereinigt? Was meinst du damit?«
»Lass uns aufs Rathaus gehen. Du wirst schon sehen.«
»Aufs Rathaus? Willst du mich etwa heiraten?«
»Ja, das muss ich wohl oder übel, wo du mich ausgewählt
hast.«
»Ich frage mich schon, ob das klug war. Bist du vielleicht
ein besonders anhängliches Adjektiv?«
»Alle Adjektive sind anhänglich. Das gehört zu unserer
Natur.

70
Thomas, der neben mir stand, verfolgte diesen Wort-
wechsel mit derselben Leidenschaft wie ich. Die Zeit ver-
ging, ohne dass wir ans Mittagessen dachten. Das Inter-
esse an dem Schauspiel hatte das Knurren unserer Mägen
zum Verstummen gebracht. Umso mehr, als es jetzt vor
dem Rathaus ein Gedränge gab. Gleich würde es Zeit
sein für die Hochzeiten, die wir unter keinen Umständen
verpassen wollten.

7
ch muss schon sagen, das war eine komische Art,
Hochzeit zu feiern. Ich hätte alles darum gegeben,
wenn ich hätte dabei sein können. Aber das Rat-
hausdach versperrte mir die Sicht. Mit einem
Mal hörte ich einen Heidenlärm, und plötzlich
rannten zwei Häuser aus dem Bürgermeisteramt, das
eine, das wir schon kennen, und ein zweites. Sie trieben
ihre Partner vor sich her und wollten sie in den Laden
zurückbringen.
Folgendes war geschehen:
Als unser Haus vorhin mit seinem »verhext« an der Hand
den Laden verlassen hatte, waren kurz nacheinander
noch zwei Häuser dort aufgetaucht. Und weil das Adjek-
tiv schon einmal Erfolg gehabt hatte und seine Verfüh-
rungskünste weiter erproben wollte, war es beide Male
von seinem Stapel heruntergehüpft und auch diesen bei-
den Häusern dicht vor der Nase herumgetanzt. Und sie
waren beide darauf hereingefallen. Der Ladenbesitzer
verlangte von dem zweiten Haus mehr als von dem ers-

72
ten, darum verließ das zweite den Laden »verhexter«.
Und als die Wahl des dritten Hauses unbegreiflicherweise
wieder auf »verhext« fiel, da forderte der Ladenbesitzer
den Höchstpreis und das »verhexteste Haus« stolzierte
davon.
Im Vorraum des Standesamts waren die Häuser aufei-
nander getroffen. Plötzlich sah sich jedes Haus zwei Riva-
linnen gegenüber und das »verhexteste Haus« machte den
beiden anderen den Rang streitig. Es erhielt seinen Wert
zwar nur dadurch, dass es im Vergleich mit dem verhexten
und dem verhexteren Haus besser abschnitt. Aber das war
für die beiden anderen ein schwacher Trost und sie rann-
ten tödlich beleidigt davon.
Jetzt standen sie im Laden und wollten ihre Partner um-
tauschen. Dieses Mal würden sie ein Adjektiv von einem
Stapel wählen, der am Ausgehen war. Dann konnte es
keine Rivalinnen mehr geben. Das eine Haus dachte an so
etwas wie »verträumt« oder »rosenbewachsen« und das
andere an »verrucht« oder »grimmig«. Von Neuem begann
die Qual der Wahl.
Oh, ihr reizenden Adjektive, ihr unentbehrlichen Genos-
sen! Wie fad wären die Substantive ohne die Geschenke,
die ihnen die Adjektive machen, sie steuern den Pfeffer
bei, die Farbe, die Einzelheiten …

73
Und wie schlecht werden sie trotzdem behandelt!
Ich werde euch ein Geheimnis verraten: Die Adjektive
haben eine empfindsame Seele. Sie denken, ihre Ehe dau-
ere ewig … Damit verkennen sie aber die angeborene Un-
treue der Substantive. Die sind nämlich richtige Machos,
sie wechseln die Eigenschaften wie die Socken. Kaum
sind sie verheiratet, verstoßen sie das Adjektiv, gehen in
den Laden zurück und suchen sich, ohne sich dabei zu ge-
nieren, ein neues aus, mit dem sie wieder zur Hochzeit
aufs Rathaus gehen.
Das verhexteste Haus zum Beispiel ertrug es nicht, dass es
nur noch das einzige verhexte Haus in der Stadt war.
Jetzt, wo die beiden anderen Häuser ihr »verhext« und
»verhexter« eingetauscht hatten, nützte ihm sein »verhex-
testes« überhaupt nichts mehr. Es wollte es loswerden.
Auf einmal bevorzugte es »historisch«. »Das historische
Haus«, stellt euch das vor! Warum nicht gleich »könig-
lich« oder »kaiserlich«? Und das bedauernswerte Adjektiv
»verhextestes« irrte alleine und mit schwerem Herzen
durch die Straßen und flehte, man möge es doch wieder
aufnehmen: »Möchte mich denn niemand haben? Den-
jenigen, der mich wählt, umgebe ich mit einem dunklen
Geheimnis. Mit mir wird selbst der kleinste Wald zu der
aufregendsten Sache …

74
Schade für das Adjektiv »verhextestes«, die Substantive
gingen an ihm vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen.
Alle diese verstoßenen Adjektive konnten einem schon
das Herz zuschnüren.

Thomas lächelte stillvergnügt. Er brauchte nichts zu sa-


gen, ich verstand ihn schon immer auch ohne Worte. Ich
las in seinem Kopf wie in einem aufgeschlagenen Buch.
Seine Gedanken waren mir vertraut, es waren Allerwelts-
gedanken, typische Machogedanken: »Diese Stadt ist das
reinste Paradies! So stelle ich mir die Ehe vor, man holt
sich ein Mädchen aus dem Laden und feiert Hochzeit im
Rathaus. Und am andern Morgen: weg damit, ein neues
Mädchen her und wieder aufs Rathaus.«
Ich hätte vor Wut und Abscheu weinen mögen.
Aber rasch wurde ich von einem anderen Schauspiel ab-
gelenkt. Vor dem Beschwerdeamt hatte sich eine Gruppe
von Wörtern versammelt. Jeweils zwei standen sich ge-
genüber und redeten aufgeregt aufeinander ein. Jedes
Wort ist stolz auf seine Einmaligkeit. Umso ärgerlicher
wird es, wenn es sein Double trifft, das sich nur durch sein
Geschlecht, den Artikel, von ihm unterscheidet. Vor allem

75
die männlichen Wörter sind in ihrer Eitelkeit gekränkt,
wenn ihnen ihre weibliche oder sächliche Gestalt begeg-
net. Der Leiter eines Büros war gezwungen gewesen, auf
eine Leiter zu steigen, um Akten vom Schrank zu holen;
der Tau hatte eines Morgens bemerkt, dass er seine Trop-
fen an einem Tau aufgehängt hatte; der Tor war in Ge-
danken gegen ein Tor gerannt: der Leiter und die Leiter,
der Tau und das Tau, der Tor und das Tor und noch viele
andere, der Marsch und die Marsch, der Heide und die
Heide, der Kiefer und die Kiefer, und auch der See und die
See, die ich am Strand getrocknet hatte – alle standen sie
vor dem Beschwerdeamt, um ihrem Double das Ge-
schlecht absprechen zu lassen. Aber der Beamte, der ein
besonnener Mann war, lehnte ihren Einspruch ab. Er war
der Ansicht, dass das Geschlecht ausreiche, um sie von-
einander zu unterscheiden und jedem von ihnen seine
Einmaligkeit zu garantieren. Die Wörter palaverten noch
eine Weile miteinander, dann zerstreuten sie sich in alle
Himmelsrichtungen.

76
as sagt ihr nun? Hasst ihr die
Grammatik immer noch?
Über dem Schauspiel hatten wir
gar nicht gehört, dass Monsieur
Kasimir zurückgekommen war.
Wir begannen allmählich, ihn besser zu verstehen. Unter
seiner immer heiteren Miene (Lachen war die ihm eigene
Art der Höflichkeit) strahlte er an diesem Abend vor
Glück. Er musste den Reim gefunden haben, den er für
sein Lied suchte.
»Spannend, nicht wahr? Ich komme oft hierher, um
ihrem Treiben zuzusehen. Ich liebe die Gesellschaft der
Wörter. Schaut her, ihr habt bestimmt noch nicht den
Stamm der Eingebildeten entdeckt. Ja, die Eingebilde-
ten! Lasst uns leiser sprechen. Die Wörter haben sehr
empfindliche Ohren. Und es sind verletzliche Geschöpfe.
Siehst du das Grüppchen, das dort hinten auf den Bänken
unter den Straßenlaternen sitzt? ›Ich‹, ›du‹, ›diese‹, ›das-
jenige‹, ›ihr‹. Siehst du sie? Sie sind leicht zu erkennen.

77
Sie mischen sich nicht unter die anderen. Sie bleiben im-
mer unter sich. Das ist der Stamm der Pronomen.«
Monsieur Kasimir hatte Recht. Die Pronomen musterten
alle anderen Wörter verächtlich.
»Man hat ihnen eine sehr wichtige Rolle übertragen: In
bestimmten Fällen können sie für ein Substantiv stehen,
sie heißen deshalb auch Fürwörter. Anstatt zum Beispiel
zu sagen: ›Jeanne und Thomas haben Schiffbruch er-
litten, Jeanne und Thomas sind auf einer Insel gelandet,
wo Jeanne und Thomas wieder sprechen lernen …‹, an-
statt also immer wieder ›Jeanne‹ und ›Thomas‹ zu wieder-
holen, sagt man besser ›sie‹.«
Während sie sich unterhielten, stand das Pronomen
»diese« von seiner Bank auf und sprang auf ein Substan-
tiv, das gerade in Begleitung seines Artikels gemächlich
vorbeiging, »die Fußballer«. Im Handumdrehen waren
»die Fußballer« verschwunden, gerade als hätte sie das
»diese« verschluckt. Keine Spur mehr von den Fußbal-
lern, »diese« hatte sie ersetzt. Ich traute meinen Augen
nicht.
»Ihr seht, die Pronomen sind nicht nur eingebildet. Sie
können auch gewalttätig sein. Wenn sie zu lange warten
müssen, bis jemand vorbeikommt, den sie ersetzen kön-
nen, dann verlieren sie die Geduld.

78
Monsieur Kasimir amüsierte sich sehr über unser Er-
staunen.
»Was glaubt ihr denn? Lasst euch nur nicht durch ihre
sanfte, liebenswürdige, poetische äußere Erscheinung
täuschen. Die Wörter kämpfen miteinander, sogar häu-
fig, und sie können morden, wie die Menschen.«
Er setzte seine Musterung fort:
»Schaut euch das an, man könnte meinen, die Singles
suchten eine Braut für den Abend!«
Auch dieser Stamm war uns noch nicht aufgefallen, es
war der einzige, der sich nicht für das Rathaus zu interes-
sieren schien. Heiraten kam für diese Leute offenbar
nicht in Frage. Sie suchten nur kurzlebige Abenteuer.
Monsieur Kasimir bestätigte unseren Verdacht.
»Oh, diese Adverbien! Wahre Unveränderliche! Sie blei-
ben immer sie selbst. Man kann sie auf keine Weise dazu
bringen, sich anzupassen. Sie sind sich ihrer Bedeutung
bewusst, denn sie sagen wo, wann, wie, warum etwas ge-
schieht oder so und nicht anders ist, sie malen die näheren
Umstände eines Ereignisses aus, deshalb werden sie auch
Umstandswörter genannt.«
Ich merkte, dass ich lächelte. Die große Unordnung, die
der Sturm in meinem Kopf angerichtet hatte, verflog all-
mählich. Substantive, Artikel, Adjektive, Pronomen, Ad-

79
verbien … früher waren es Begriffe für mich gewesen,
jetzt tauchten sie langsam aus dem Nebel auf und nahmen
Gestalt an. Ich wusste jetzt für alle Zeiten, dass die Wör-
ter in Stämme gegliederte lebendige Wesen sind, die un-
sere Achtung verdienen und die, wenn man ihnen ihre
Freiheit lässt, ein ebenso reiches Leben führen wie wir,
mit einer ebenso großen Sehnsucht nach Liebe, mit einer
ebenso heftigen geheimen Leidenschaft und mit einer
lustvolleren Fantasie.
Thomas’ Bedarf an Grammatik war gedeckt. Wie hyp-
notisiert hing sein Blick an den Fingern des erhabenen
Neffen, die mit der Anmut einer Katze über die Saiten
seiner Gitarre glitten.
»Es scheint, die Musik begeistert dich mehr als die Spra-
che. Ich werde dich an einem der nächsten Tage in eine
andere Stadt mitnehmen, wo die Töne unter sich leben,
so wie hier die Wörter. Du wirst dort schöne Klänge
hören.«
Die Augen meines Bruders leuchteten so (man hätte sie
für zwei glühende Kohlenstücke halten können, die im
Begriff waren, aus ihren Höhlen herauszufallen), dass der
Neffe ihm die Gitarre in die Arme legte.
»Vorsicht! Wenn du dich mit der Musik einlässt, dann ist
es fürs ganze Leben, du kannst nie mehr ohne sie sein.«

80
Mein Bruder nickte langsam mit dem Kopf, mit einer
Ernsthaftigkeit, die ich noch nie an ihm gesehen hatte.
Die Frau ist noch nicht geboren, der er ein solches »Ja«
schenken wird.
»Ausgezeichnet. Zeig mir einmal deine linke Hand.«
Ich hörte Monsieur Kasimirs Stimme an meinem Ohr.
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir die beiden Virtuosen
jetzt allein lassen. Keine Sorge, Jeanne, du wirst keinen
schlechten Tausch machen. Folge mir ganz leise. Den
Wörtern geht es wie uns. Nachts zittern sie vor Angst. Sie
fliehen beim geringsten verdächtigen Geräusch.«

8
ie Wörter schliefen.
Sie saßen auf den Zweigen der Bäume
und rührten sich nicht. Wir gingen ganz
vorsichtig auf dem Sand, um sie nicht
aufzuwecken. Ich war so töricht, die Ohren
zu spitzen: Zu gerne hätte ich ihre Träume belauscht. Ich
hätte so gerne gewusst, was sich in den Köpfen der Wör-
ter abspielte. Natürlich vernahm ich nichts. Nichts als das
dumpfe Grollen der Brandung in der Ferne hinter dem
Hügel. Und einen leichten Wind. Vielleicht nur den
Atem des Planeten Erde, der sich in der Dunkelheit be-
wegte.
Wir kamen zu einem Gebäude, das nur durch ein schwan-
kendes rotes Kreuz schwach beleuchtet wurde.
»Das hier ist das Krankenhaus«, flüsterte Monsieur Ka-
simir.
Ich zitterte.
Das Krankenhaus? Ein Krankenhaus für die Wörter? Ich
konnte es nicht glauben. Scham befiel mich. Irgendetwas

82
sagte mir, dass wir, wir Menschen, an ihren Leiden schuld
waren. Ihr wisst schon, so wie die Indianer in Amerika an
den Krankheiten sterben mussten, die die europäischen
Eroberer einschleppten.
Im Krankenhaus der Wörter gab es keinen Empfang und
keine Krankenschwestern. Die Flure waren leer. Nur die
blauen Lichter der Nachtlampen zeigten uns den Weg.
Obwohl wir vorsichtig waren, quietschten unsere Schuh-
sohlen auf dem Boden.
Als Antwort war ein schwaches Geräusch zu vernehmen.
Zweimal hintereinander. Ein ganz sanftes Stöhnen. Es
glitt unter einer der Türen hindurch, wie ein Brief, den
man taktvoll durchschiebt, um nicht zu stören.
Monsieur Kasimir warf mir kurz einen Blick zu und ent-
schloss sich einzutreten.
Da lag er auf dem Bett, bewegungslos, der kleine be-
kannte, allzu bekannte Satz:

Ich
liebe
dich.

Drei magere und bleiche, ach so bleiche Wörter. Die


zwölf Buchstaben hoben sich kaum von dem weißen

83
Laken ab. Drei Wörter, die jeweils mit einem Plastik-
schlauch an ein Gefäß voller Flüssigkeit angeschlossen
waren.
Es schien mir, der kleine Satz lächle uns an.
Es schien mir, er rede mit uns:
»Ich bin ein wenig müde. Ich habe offenbar zu viel gear-
beitet. Ich muss mich ausruhen.«
»Nur Mut, Ich-liebe-dich«, antwortete Monsieur Kasi-
mir. »Ich kenne dich. Schon so lange es dich gibt. Du bist
unverwüstlich. Einige Tage Ruhe und du bist wieder auf
den Beinen.«
Er wiegte den kleinen Satz lange mit all den Lügen, die
man Kranken erzählt. Und er legte ihm einen mit fri-
schem Wasser befeuchteten Waschlappen auf die Stirn.
»Nachts ist es ein wenig mühsam. Am Tag kommen die
anderen Wörter, um mir Gesellschaft zu leisten.«
»Ein wenig müde«, »ein wenig mühsam« – Ich-liebe-dich
jammerte nur mit Einschränkungen und fügte allen sei-
nen Sätzen dieses »ein wenig« hinzu.
»Sprich nicht weiter. Ruh dich aus, du hast uns so viel ge-
schenkt. Komm wieder zu Kräften, wir brauchen dich un-
bedingt.«
Monsieur Kasimir sang ihm seinen zärtlichsten Refrain
ins Ohr:

84
Kleine Hirschkuh auf der Flucht,
Der böse Wolf im Wald dich sucht.
Huhu! Huhu!
Schon kommt der tapfre Rittersmann
Und rettet dich im finstern Tann.
Lala! Lala!

»Komm jetzt, Jeanne, er schläft. Wir kommen morgen


wieder.«

»Armer Ich-liebe-dich. Wird es den Ärzten gelingen, ihn


zu retten?«
Monsieur Kasimir war ebenso erschüttert wie ich. Die
Tränen blieben mir im Hals stecken, es gelang ihnen
nicht, bis in die Augen aufzusteigen. Wir tragen Tränen
in uns, die zu schwer sind. Diese Tränen werden wir nie
vergießen können.
»… Ich-liebe-dich. Jedermann sagt und wiederholt: ›Ich
liebe dich.‹ Erinnerst du dich an den Markt? Man muss
vorsichtig mit den Wörtern umgehen. Man darf sie nicht
alle naselang wiederholen. Man darf auch nicht aufs Ge-
ratewohl eins für das andere verwenden und dabei Lügen
erzählen. Wenn man nicht vorsichtig mit den Wörtern

85
umgeht, nützen sie sich ab. Und manchmal ist es zu spät,
um sie zu retten. Möchtest du noch andere Kranke besu-
chen?«
Er sah mich an.
»Du wirst mir doch nicht ohnmächtig werden?«
Er nahm meinen Arm und wir verließen das Kranken-
haus.

86
m nächsten Tag wurde ich entführt.
Thomas war die ganze Zeit mit dem
erhabenen Neffen zusammen und
legte seine Gitarre nicht mehr
aus der Hand. Er hatte einen Verbündeten, einen Freund
gefunden. Ich existierte nicht mehr für ihn.
Von Eifersucht geplagt (ich habe es euch schon gesagt:
Man kann seinen Bruder mit derselben Heftigkeit has-
sen, mit der man ihn liebt) beschloss ich, am Strand spa-
zieren zu gehen.
Immer noch wurden Plastikbuchstaben auf den Sand
gespült. Die Vögel ließen sich nicht mehr an der Nase
herumführen. Hoch am Himmel zogen sie feixend ihre
Kreise.
Und dann erschienen die schwarzen Helikopter.
Ehe ich noch um Hilfe rufen konnte, wurde ich einge-
laden.

87
»Wo ist dein Bruder?«
Seit meiner Ankunft auf der Hauptinsel schwieg ich. Wie
hätte ich im Übrigen etwas herausbringen sollen? In mei-
nem Kopf wirbelte durch die Folgen des Sturms noch
alles durcheinander.
Hinter einem großen Schreibtisch saß ein kahlköpfiger
Kerl und fixierte mich mit einem gefährlichen Lächeln.
Ein Polizist an seiner Seite sagte an seiner Stelle:
»Wenn dir der Gouverneur Nekrol eine Frage stellt, wür-
dest du gut daran tun, ihm zu antworten …«
Im Augenblick war Nekrol die Freundlichkeit selbst.
»Es ist zu deinem Besten …«
Die Alarmglocken schrillten. Wenn ein Erwachsener ei-
nen Satz mit den Worten »Es ist zu deinem Besten« be-
ginnt, ist höchste Vorsicht angebracht. Das »zu deinem
Besten« hat im Allgemeinen katastrophale Folgen: einen
Mittagsschlaf halten (»Es ist zu deinem Besten, du siehst
so müde aus«), die Hausaufgaben wiederholen (»Es ist
zu deinem Besten, du willst doch nicht sitzen bleiben,
oder?«), den Fernseher ausschalten (»Es ist zu deinem
Besten, Fernsehen macht dick«).
»Es ist zu deinem Besten, meine Kleine« (ich hasse es,
wenn man mich so nennt. Zugegeben, ich bin erst .54 m
groß, aber ich habe mindestens noch sechs Jahre Zeit zum

88
Wachsen). »Sieh mich nicht so an. Ich will dir nichts tun.
Wir haben dein schreckliches Abenteuer verfolgt. Hab
keine Angst. Wir werden uns deiner annehmen. Wir sind
mit Schiffbrüchen vertraut. Wir kennen die grammatiko-
phonischen (wie bitte?) Beschwerden, die sie verursachen.
Wir werden dich so schnell wie möglich reparieren. Dann
kannst du mit deinem Bruder wieder nach Hause zurück-
kehren. Keine Angst, wir werden ihn schon finden. Du
hast Glück. Gerade ist die weltbeste Spezialistin für den
deutschen Satz auf einer Inspektionsreise bei uns. Einen
guten Aufenthalt! Du brauchst dich nicht bei mir zu be-
danken, ich tue nur meine Pflicht. Bis bald, ich werde
kommen, um mich von deinen Fortschritten zu überzeu-
gen.«
Er beugte sich zu mir herunter. Bestimmt wollte er mich
küssen, wie es alle bedeutenden Persönlichkeiten mit al-
len kleinen Mädchen machen, um menschenfreundlich
zu erscheinen. Natürlich wich ich ihm aus und flüchtete.
Natürlich fingen mich die Polizisten wieder ein. Und ein
neues Leben begann.

89
m Flur, eine Stimme.
Eine Stimme aus der Zeit vor dem Schiffbruch.
Eine Stimme, die ich aus allen anderen heraus
erkannt hätte.
»Die Analyse des Dialogs zwischen dem Wolf
und dem Lamm zeigt eine Missachtung des prototypi-
schen Modells: keinerlei formelhafte Sequenz zur Einlei-
tung und zum Schluss.«
Ich steckte mir die Finger in die Ohren, aber die Stimme
glitt wie eine eiskalte Schlange zwischen ihnen hindurch.
»Die vorausgesetzten Prämissen spielen nicht die ge-
ringste Rolle in der Beweisführung, die der Wolf für sein
Streitgespräch gewählt hat.«
Es war unmöglich zu fliehen. Der Polizist hielt mich an
der Schulter fest.
»Hier ist es«, sagte er zu mir. »Wir sind da. Das ist die Tür
zu deinem Klassenzimmer. Bis heute Abend.«

90
Alte Leute. Wie in der Schule, in einer Reihe, auf Stüh-
len, hinter Tischen, aber nichts als alte Leute. Männer
und Frauen. Versteht mich recht: nicht ganz alt, so um die
dreißig bis vierzig Jahre, aber für mich ist das ein hohes
Alter!
Und Frau Regelhuber lächelte mir zu:
»Willkommen, meine Kleine. Willkommen in unserem
Kurs. Ist dir bewusst, was für ein Glück du hast? Hier sind
nur Lehrer. Es erübrigt sich zu sagen, dass du schnell wie-
der sprechen lernen wirst!«
Ich hatte verstanden: eine ganze Klasse nur mit Lehrern.
Sie nahmen an einer dieser berühmten pädagogischen
Nachhilfekuren teil.
Arme Lehrer!
Sie sahen mich mit einem trostlosen Blick an. Ein Großer,
Dunkler zeigte mir einen leeren Stuhl in seiner Nähe.
Und Frau Regelhuber fuhr mit ihrem Unterricht fort. Hier
ihr unverständlicher Gesang:
»Durch die Berufung auf die anderen, das ›man hat mir
gesagt‹ in Vers 26, bricht die Logik des Gebäudes vollends
in sich zusammen und es gilt nur noch die Sophistik des
Wolfs. Kommen wir zum Schluss der Fabel:

9
Er packt das Lamm, (27)
Und ohne nach dem Recht zu fragen, (28)
Frisst er es auf im finstern Wald. (29)

Die Verse 27 und 29 bestehen aus zwei erzählenden Satz-


teilen, die als Agens S (Wolf) und als Patiens S2 (Lamm)
haben, die Prädikate packen/fressen werden durch eine
räumliche Bestimmung (Wald) ergänzt. In diesem erzäh-
lenden Schlusssatz ist das Nichtgenannte (der Hunger
von S2), das schon zu Beginn der Fabel als Movens für die
eintretenden Komplikationen eingeführt wird, elliptisch
aufgefangen. Gibt es noch Fragen?«

Ich bin zwei Wochen in der Darre geblieben.


Mir fällt keine andere Bezeichnung ein für unser pädago-
gisches Institut.
Morgens brachte man uns bei, die Sprache in Stücke zu
schneiden. Und nachmittags brachte man uns bei, diese
am Morgen zerschnittenen Stücke zu trocknen, ihnen
alles Blut zu entziehen, allen Saft, die Muskeln und die
Haut.
Am Abend waren nur noch lederne Fetzen übrig, alte, ver-

92
dorrte Fischfilets, die selbst die Vögel nicht mehr moch-
ten, so platt, hart und schwärzlich waren sie.
Dann war Frau Regelhuber zufrieden. Sie stieß mit ihren
Lehrern an.
»Ich bin stolz auf Sie. Unsere Arbeit macht die gewünsch-
ten Fortschritte. Morgen werden wir Goethe auseinander
nehmen und übermorgen Schiller …«
Arme Sprache! Wie konnte man sie aus dieser Falle be-
freien?

Und arme Pauker!


Der Prüfungstermin rückte näher. Am meisten fürchte-
ten sie das »Glossar«, eine Liste von Begriffen mit ihren
Definitionen, deren Kenntnis die Schulbehörde verlangte.
Um sie auswendig zu lernen, arbeiteten sie den ganzen
Tag und selbst noch nachts, wenn das Licht schon ausge-
schaltet war. Von meinem kleinen Zimmer aus, dessen
Fenster zum Schlafsaal hinüberging, hörte ich im Dun-
keln leise, raunende Stimmen:
»Apposition: Appositionen sind substantivische Attribute,
die einem Bezugswort nachgetragen und durch keine be-
sonderen syntaktischen Mittel mit ihm verknüpft sind, in
der Regel aber im Kasus mit ihm kongruieren.

93
Modus: Modi sind verbale Kategorien zur Verdeutli-
chung des Geltungsgrades einer Aussage, die Aussage-
weise. Folgende Modi sind zu unterscheiden: Indikativ,
Konjunktiv, Imperativ.«
Einige, denen es immer noch nicht gelungen war, alles im
Gedächtnis zu behalten, knipsten eine Taschenlampe an.
Sie schimpften und fluchten und brachen fast in Tränen
aus, wenn sie das Kauderwelsch lasen: »Consecutio tem-
porum: Die Abfolge der Tempora sowohl im zusammen-
gesetzten Satz als auch auf der Textebene ist grundsätzlich
frei, ungeachtet der Tatsache, dass in konkreten Texten ge-
wöhnlich entweder das Präsens oder das Präteritum vor-
herrscht …«
Arme Lehrer, die ihr euch die Nacht um die Ohren schla-
gen müsst!
Ich wäre ihnen gerne zu Hilfe gekommen. Immerhin war
dieses »Glossar« für mich, eine Schülerin der ersten Gym-
nasialklasse, zusammengestellt worden. Aber war es meine
Schuld, wenn ich nichts davon verstand?

94
omm …«
Während der Nacht musste ein Insekt in
mein Ohr geschlüpft sein, jetzt kitzelte das
freche Biest mein Trommelfell. Ich muss-
te etwas dagegen unternehmen. Mit
Bedauern verließ ich meinen Traum: Mein Boot war in
diesem Augenblick im Begriff unterzugehen, und ein
weißer, geräuschloser Helikopter tauchte auf, aus dessen
geöffneter Tür eine Strickleiter für mich herabgelassen
wurde. Ich machte die Augen auf.
»Hast du einen tiefen Schlaf. Schnell, zieh dich an …«
Ich folgte der Stimme in blindem Vertrauen, denn ich
konnte nichts sehen. Erst draußen erkannte ich Monsieur
Kasimir und auch nur schemenhaft, er war schwarz wie
ein Schatten. Um mich zu retten, hatte er sich als Kellner
(schwarzer Frack) verkleidet und mit dem Mond abge-
sprochen, dass dieser sich verziehen und anderswo leuch-
ten sollte.
An der Tür der Darre saß der Wachposten wie üblich auf

95
seinem Stuhl und schlief; der eine Mundwinkel war zu
einem Lächeln verzogen, im andern hing eine Zigarre.
Im Vorbeigehen tippte ihm Monsieur Kasimir auf den
Hut.
»Ich habe ihm O meine Insel im Sonnenschein gesungen.
Meinen Schlafliedern kann niemand widerstehen. Nekrol
wird morgen früh einen Wutanfall bekommen.«

Auf dem Heimweg, als wir der Gefahr entkommen wa-


ren, tranken wir auf diesen finstern Nekrol (Rum und
noch mal Rum), und dann tanzten wir und tanzten, so
dass wir tausendmal fast gekentert wären. Und dann san-
gen wir immer wieder das Wiegenlied meiner Befreiung:

O meine Insel im Sonnenschein,


Umgeben von vielen Geschwistern klein,
Hier meine Eltern das Licht erblickten
Und ihre Kinder ins Leben schickten.

Ihr versteht jetzt, warum ich, wenn der Schlaf nicht zu


mir kommen will, nur zu singen brauche:

96
Am frühen Morgen im Purpurglanz
Du ähnelst der Braut im Jungfernkranz.
Bei deinem Anblick die Sorgen weichen,
Ich fühle mich frei, unter meinesgleichen.

Ich erinnerte mich an Monsieur Kasimirs Geständnis, an


seine Schwierigkeiten, einen Reim auf »Glanz« zu finden,
und an sein Glück, als ihm das Bild des Brautkranzes ein-
fiel.
»Das Leben ist hart, Jeanne, du wirst sehen. Man muss
alles tun, um es zu besänftigen. Und nichts ist dazu so ge-
eignet wie die Reime. Sie verstecken sich zwar häufig und
sind nicht so leicht aufzustöbern. Aber wenn sie einmal
am Ende jeder Zeile sitzen, dann antworten sie einander.
Es ist, als ob sich ihre kleinen freundlichen Hände be-
wegten. Sie winken dir und wiegen dich. Ich glaube, ich
könnte nicht mehr leben ohne meine Reime.«

Thomas erwartete mich am Strand an der Seite des Nef-


fen, der ganz entschieden immer erhabener wurde. Ich
glaubte, als guter Bruder würde er bei meinem Auftau-
chen ins Wasser stürzen, um mich an sich zu drücken. In

97
seinen Augen würde ich lesen können, was er mir sagen
wollte: »Oh, meine Schwester, ich habe solche Angst ge-
habt, du hast mir so gefehlt. Sie haben dich wenigstens
nicht misshandelt, in dem Fall hätte ich sie umgebracht,
das schwör ich dir …«
Leider Gottes blieb mein Bruder mein Bruder.
Ein kurzer ärgerlicher Blick, der besagte: »Du kommst
reichlich spät!«
Und ohne sich weiter um seine gerettete Schwester zu
kümmern, klimperte er auf seiner Gitarre herum.

Ich denke noch oft an Frau Regelhuber und an die unse-


ligen Tage, die ich in ihrer Gesellschaft verbrachte. Es
überkommen mich keinerlei Rachegefühle oder Wutan-
fälle. Eher Trauer. Ich hätte gerne mehr Mut und Groß-
herzigkeit besessen, um meine Angst vor den schwarzen
Helikoptern überwinden und zurückkehren zu können
und sie von ihrer Krankheit zu erretten, einer Krankheit,
die sie grausamer zerfraß als Krebs und sie daran hinderte
zu leben. Die Ärzte verstehen es, den Krankheiten, die sie
entdecken, unverständliche Namen zu geben. Ich habe
weder ihr Talent noch ihren Sinn für Rätsel. Ich nenne die

98
Krankheit, die ich bei Frau Regelhuber entdeckt habe,
einfach Angst, panische Angst vor dem Vergnügen an
Wörtern.

99
Ich dachte, am nächsten Morgen könnte ich aus-
schlafen, um mich von meinen Abenteuern zu er-
holen. Da kannte ich Monsieur Kasimir aber
schlecht. Unter seinem sorglosen, lächelnden
Äußeren verbarg sich eine entsetzliche Hartnäckigkeit:
dieselbe, die ihn, wenn es sein musste, Tag und Nacht
nach Reimen jagen ließ. Gleich nach Tagesanbruch stieß
er meine Tür auf. Ihr habt sicher schon erraten, dass Tho-
mas mich verlassen hatte. Um sich besser seiner neuen
Freundin, der Gitarre, widmen zu können, war er in die
Nachbarhütte umgezogen, wo sein Lehrer wohnte.
»Aufgestanden, der Unterricht geht weiter! Du glaubst
doch nicht etwa, du hättest Ferien. Wir haben genug ge-
trödelt. Du musst so schnell wie möglich wieder sprechen
lernen. Sonst verwandelt sich deine rechte Gehirnhälfte,
die, in der die Sätze entstehen, in eine Wüste, deine
Zunge wird platt und schwärzlich wie die Fische, die man
in der Sonne trocknet, und dein Speichel wird dir aus dem
Mund rinnen, weil er darin nichts mehr zu tun hat.«

00
Diese Drohungen warfen mich, wie ihr euch denken
könnt, aus dem Bett. Im nächsten Augenblick ging ich an
der Seite meines Retters los.
»Frau Regelhuber hatte ihre Methode. Ich habe die
meine. Hast du schon viele Fabriken gesehen? Nein? Das
macht nichts. Diejenige, in die ich dich führe, ist sehr
eigenartig. Und vor allem wichtig. Es ist vielleicht unter
allen Fabriken die, die man am notwendigsten braucht.
Setz jetzt diese Imkermaske auf und zieh diesen weißen
Umhang an. Nekrol lässt dich nicht so einfach entkom-
men. Es wird dir darunter vielleicht etwas warm werden.
Aber draußen musst du diese Verkleidung die ganze Zeit
tragen, bis er dich vergessen hat. Und das kann lange dau-
ern! Nekrol hat ein gutes Gedächtnis.«

»Ich habe euch früher erwartet …«


Der Direktor der notwendigsten aller Fabriken musterte
mich unfreundlich. Es war ein ellenlanger Kerl. Man hätte
ihn für eine seelenlose Giraffe halten können, für eine Art
Riesenskelett, auf das man ein wenig Haut geklebt hat,
um die Leute nicht allzu sehr zu erschrecken. Ich war
drauf und dran, in Tränen auszubrechen. War ich etwa vor

0
Frau Regelhuber geflohen, um an jemand noch strengeres
zu geraten? War ich bis ans Ende meines Lebens dazu
verdammt, die Torturen der Grammatiker zu erdulden?
Und warum waren diese Grammatiker und Grammati-
kerinnen nur immer so mager?
Monsieur Kasimir gab mir, während wir mit der Besichti-
gung begannen, flüsternd seine Antwort auf diese Frage.
»Der Direktor sieht zum Fürchten aus. Aber er ist der
freundlichste aller Menschen. Nur liebt er die Wörter so
sehr und beschäftigt sich Tag und Nacht so unablässig mit
ihnen, dass er darüber das Essen vergisst. Deshalb besteht
er zwangsläufig nur aus Haut und Knochen. Einmal im
Monat muss man ihn einsperren. Dann wird sein Mund
mit Gewalt geöffnet und er wird gestopft. Sonst würde er
sterben.«
Ich habe eine andere Erklärung, ich weiß nicht, ob sie et-
was taugt, ich überlasse euch die Entscheidung: Die Lei-
denschaft der Grammatiker gilt der Struktur der Sprache,
ihrem Gerippe. Deshalb ist zwangsläufig das Skelett bei
ihnen sichtbar. Ich weiß, ich weiß, es gibt auch dicke
Grammatiker. Aber ist die Grammatik nicht das Reich
der Ausnahmen?

02
Das erste Gebäude der notwendigsten Fabrik der Welt
war eine riesige Voliere, in der es von Schmetterlingen nur
so wimmelte.
»Diese hier kennst du, glaube ich, schon«, sagte die Gi-
raffe zu mir.
Ich nickte mit dem Kopf (ich hatte inzwischen meine Im-
kermaske abgenommen). Alle meine Substantive, meine
Freunde aus der Stadt der Wörter, waren hier versam-
melt. Sie hatten mich wiedererkannt, sie drängten sich
am Gitter und begrüßten mich freundlich.
»Du bist offenbar beliebt!« Der Direktor schien verblüfft
über diesen Empfang. Er lächelte mir zu (das heißt viel-
mehr, er verzog das Gesicht: Wie kann man lachen, wenn
man keine Haut hat?) Ich war glücklich. Die Fabrik hatte
mich akzeptiert.
Wir gingen ein paar Schritte weiter zu einer großen Glas-
wand, hinter der sich andere Wörter in mehreren Stock-
werken eifrig zu schaffen machten. Nach der Art und
Weise, wie sie sich ruhelos kreuz und quer hin und her be-
wegten, hätte man sie für Ameisen halten können.
»Erinnerst du dich an diese da?«
Meine unglückliche Miene beantwortete seine Frage.
»Das sind die Tätigkeitswörter, die Verben. Schau sie dir
an, diese Workaholics. Sie arbeiten pausenlos.«

03
Es stimmte. Diese Ameisen, diese Verben, wie er sie ge-
nannt hatte, schoben, bohrten, nagten, bauten; sie gruben,
schmirgelten, feilten, schraubten, sägten; sie tranken, näh-
ten, molken, malten, wuchsen; es war eine entsetzliche
Kakophonie. Man hätte meinen können, es handle sich
um eine Werkstatt von Verrückten, in der jeder wie beses-
sen arbeitete, ohne sich um die anderen zu kümmern.
»Ein Verb kann nicht stillhalten«, erklärte mir die Gi-
raffe, »das liegt in seiner Natur. Es arbeitet rund um die
Uhr. Hast du die beiden da hinten schon bemerkt, die
überall herumrennen?«
Ich brauchte eine Weile, bis ich sie in diesem ungeheuren
Durcheinander entdeckte. Plötzlich sah ich sie: »sein« und
»haben«. Oh, sie waren rührend! Sie hasteten von einem
Verb zum andern und boten ihre Dienste an: »Braucht ihr
keine Hilfe? Wollt ihr keine Unterstützung?«
»Hast du gesehen, wie hilfsbereit sie sind? Deshalb nennt
man sie die Hilfsverben. Und jetzt ist es an dir zu spielen.
Du wirst deinen ersten Satz bauen.«
Und er reichte mir ein Schmetterlingsnetz.
»Fang mit dem einfachsten an. Geh zu der Voliere und
wähle dir zwei Substantive aus. Und dann such dir ein Verb
in dem Ameisenhaufen. Los, hab keine Angst, sie kennen
dich ja, sie mögen dich, sie werden dich nicht beißen.«

04
Er hatte reizende Quälgeister, der Giraffendirektor, ich
hätte ihn in der Voliere erleben mögen. Kaum hatte ich
die Tür aufgestoßen, da fielen die Substantive über mich
her, ich bekam keine Luft mehr und konnte nichts mehr
sehen. Sie stritten sich, sie flogen mir in die Augen, die
Nasenlöcher, die Ohren, ich nieste und hustete und wäre
fast gestorben. Alle wollten sie von mir gefangen werden,
offenbar langweilten sie sich entsetzlich in ihrem Ge-
fängnis. Der Ohnmacht nahe, packte ich auf gut Glück
zwei von ihnen an den Flügeln, »Blume« und »Rhino-
zeros«, und schloß bleich, zitternd und halb tot die Tür.
Die Giraffe ließ mich nicht zu Atem kommen.
»Los, jetzt fische ein Verb!«
Gewarnt durch die Erfahrung, die ich gerade gemacht
hatte, streckte ich nur die Hand hinein. In einer Sekunde
war sie übersät mit Verben, sie wurde abgeleckt, gebissen,
gekratzt, aber auch gestreichelt, gesalbt, geputzt und ange-
malt. Die Ameisenverben gaben sich dieser Beschäftigung
mit Leib und Seele hin. Gerührt über so viel Aufmerksam-
keit, ließ ich sie ein paar Sekunden arbeiten.
In der Zwischenzeit beobachtete ich, wie in einer Ecke
Ameisen um einen Vorratshaufen herumwimmelten. Sie
wühlten darin herum und umklammerten schließlich ei-
nen kleinen Brocken mit ihren Vorderbeinen. Nach kur-

05
zer Zeit schleuderten sie ihn weg, um einen anderen zu
packen.
»Das sind die Verben, die mit ihrer Aufgabe nicht zufrie-
den sind und sich deshalb eine zusätzliche Arbeit suchen«,
erklärte mir Monsieur Kasimir.
»Wühlen« konnte sich nur schwer zwischen »auf«, »he-
rum«, »durch« und »hindurch« entscheiden. Was sollte es
tun, aufwühlen, herumwühlen, durchwühlen oder vielleicht
sogar sich hindurchwühlen? Neben ihm schwankte »flie-
gen«, ob es lieber hochfliegen, nachfliegen oder hin- und
herfliegen sollte.
»Mit diesen Verben wirst du noch eine Überraschung
erleben«, prophezeite mir Monsieur Kasimir.
Meine Hand fühlte sich inzwischen an wie gemanikürt,
und ich zog sie mit den beiden Verben, die sich gerade zu-
fällig darauf niedergelassen hatten, heraus: »fressen« und
»anknabbern«.
»Gut so. Jetzt geh zu dem Artikelautomaten hinüber und
komm dann zu mir zurück«, befahl die Giraffe.
Die Artikel waren klüger. Im Automaten waren drei Säu-
len mit der Beschriftung »Maskulinum«, »Femininum«,
»Neutrum«. Ich musste nur auf den entsprechenden Knopf
drücken, und die Artikel, die ich brauchte, fielen in meine
Hand, ein »die« und ein »das«.

06
»Perfekt. Jetzt setz dich hier an diesen Schreibtisch, leg
deine Wörter auf dieses Blatt Papier und bilde einen
Satz.«
Ich hielt meine Wörter, die ich mit so viel Mühe gefangen
hatte, immer noch an den Flügeln fest. Ich wollte sie
nicht loslassen, denn ich fürchtete, sie würden davonflie-
gen. Schließlich ist ein Satz ein Gefängnis für ein Wort.
Sie würden es sicher vorziehen, alleine herumzulaufen,
wie in der Stadt, die uns so ans Herz gewachsen war, als
wir sie mit Monsieur Kasimir besuchten.
Der kam mir jetzt zu Hilfe:
»Vertraue dem Papier, Jeanne. Die Wörter mögen das Pa-
pier, so wie wir den Sand am Strand oder die Laken im
Bett. Sobald sie eine Seite berühren, beruhigen sie sich,
sie schnurren, sie werden sanft wie Lämmer, versuch es
nur, du wirst sehen, es gibt keinen schöneren Anblick als
eine Folge von Wörtern auf einem Blatt.«
Ich gehorchte. Ich ließ erst »Blume«, dann »fressen«,
dann »anknabbern« und zuletzt »Rhinozeros« frei. Mon-
sieur Kasimir hatte mich nicht belogen: Das Papier war
die wahre Heimat der Wörter. Allerdings machten sich
»fressen« und »anknabbern« noch den Platz streitig. Ich
musste ihnen versprechen, dass sich alle beide, eines nach
dem anderen, zwischen »Blume« und »Rhinozeros« nie-

07
derlassen durften. »Anknabbern« gab nach und rutschte
auf den Rand des Blatts, um zu warten, bis es an der Reihe
war. Sobald alle auf dem Papier lagen, hörten sie auf, sich
zu bewegen, sie schlossen die Augen und räkelten sich wie
Kinder, denen man eine Geschichte erzählt.
»Bist du zufrieden mit dir?«
Die Stimme der Giraffe riss mich aus meiner rührseligen
Beschaulichkeit. Ich betrachtete den Satz, den ich gebil-
det hatte, den ersten seit meinem Schiffbruch, und ich
brach in Lachen aus:
»Die Blume fressen das Rhinozeros.«
»Wo hast du das denn gesehen, dass eine zarte Pflanze ein
Ungetüm frisst? Im Allgemeinen ist das erste Wort in
einem Satz das Subjekt, der Satzgegenstand. Es sagt dir,
wer oder was etwas tut. Das Substantiv, das an zweiter
Stelle steht, ist das Objekt, die Ergänzung des Gedankens,
den das Verb einleitet, es vervollständigt den Satz. Erst
durch die richtige Stellung bekommt der Satz einen
Sinn …«
Solange er redete, stellte ich schon die neue Ordnung her:
»Das Rhinozeros fressen die Blume.«
»Das ziehe ich vor. Unter uns gesagt, ich weiß nicht so
recht, ob diesen Tieren Blumen überhaupt schmecken.
Aber lassen wir das.«

08
Da machte sich »anknabbern« bemerkbar. Fast hätten wir
es vergessen. »Fressen« musste zur Seite rücken und »an-
knabbern« legte sich an seine Stelle: »Das Rhinozeros an-
knabbern die Blume.« Jetzt hatte ich zwei Sätze, einen
mit einem einfachen Verb und einen mit einem Verb, das
seinen Zusatz an sich klammerte.
»Nun zum letzten Schritt, wir werden die Verben datie-
ren. ›Fressen‹ und ›anknabbern‹ ist zu unbestimmt. Man
erfährt nicht, wann das geschehen ist! Sie müssen eine
Zeitform bekommen. Noch eine Anstrengung, konzen-
trier dich, Jeanne! Siehst du die großen Uhren da hinten?
Geh dorthin. Und wähle.«

Eine ganze Familie von Standuhren mit großen Messing-


pendeln war auf einer Art Podium aus Holz aufgebaut.
Man hätte glauben können, sie bewachten mit ihren Zif-
ferblättern die notwendigste Fabrik der Welt.
Ich stieg mit klopfendem Herzen die Stufen hinauf, das
Blatt mit den zwei kurzen Sätzen in der Hand.
Ich trat zu der ersten Uhr. Ihr Pendel beruhigte mich, es
ließ sich nicht stören und schlug weiterhin gleichmäßig
nach rechts und links aus. In der Uhr war ein Schlitz, wie

09
an einem Briefkasten. Als wäre es das Natürlichste von
der Welt, vertraute ich ihm mein Blatt an. Ich hörte das
Kreischen eines Zahnrads und drei Glockentöne. Dann
kam das Blatt mit meinen vervollständigten Sätzen wie-
der heraus: »Das Rhinozeros frisst die Blume.« »Das
Rhinozeros knabbert die Blume an.« Erst jetzt entdeckte
ich das Schild UHR FÜR DIE GEGENWART, DAS
PRÄSENS. Aber was war denn das? »Knabbern« stand
ganz alleine da, es hatte seinen Zusatz verloren, er hatte
sich ans Ende des Satzes geflüchtet. Ängstlich umklam-
merte »knabbern« die Blume, um sein »an« nicht zu ver-
lieren.
»Siehst du, ich habe dir gesagt, du wirst dich noch über
diese zusammengesetzten Verben wundern«, bemerkte
Monsieur Kasimir. »Im Satz werden sie fast immer aus-
einander gerissen, und manchmal, wenn der Satz sehr
lang ist, reichen die Arme des Verbs kaum aus, um seinen
Zusatz am Satzende noch festzuhalten.«
Monsieur Kasimir ermutigte mich, nun auch die anderen
Uhren aufzusuchen, und ich setzte meinen Ausflug in die
Zeit fort. Die Uhr daneben stellte sich selbst als eine der
Uhren der Vergangenheit, des Präteritums, vor. Ihr Pendel
schlug merkwürdig: Es blieb links oben stehen und fiel
nicht zurück. Man hätte meinen können, es sei kaputt.

0
Die Vergangenheit: In ihrem Reich befindet sich das, was
zu Ende ist und nicht wiederkehrt. Ich warf mein Blatt in
den Schlitz. Als es wieder herausfiel, las ich: »Das Rhi-
nozeros fraß die Blume.« »Das Rhinozeros knabberte die
Blume an.« Noch einmal war dem »knabbern« sein »an«
abhanden gekommen.
Ich ging zur nächsten Uhr, der Uhr der Zukunft. Auch ihr
Pendel war blockiert, aber auf der anderen Seite: Es stand
rechts oben. Wieder schob ich mein Blatt hinein und
diesmal stand, als es herauskam, darauf: »Das Rhinozeros
wird die Blume fressen.« »Das Rhinozeros wird die Blume
anknabbern.« Meine beiden Verben hatten wieder ihre
ursprüngliche Form, ihre Grundform, angenommen und
sich das Verb »werden« zu Hilfe gerufen. Die Zukunft
machte es sich einfach.
Bei der letzten Uhr, die etwas abseits stand, spielte das
Pendel verrückt. Es drehte sich in alle Richtungen, es war
mehr eine Wetterfahne als ein Pendel, man wusste nicht,
was ihm in den Sinn kam. Und auch ich wusste bald nicht
mehr, wo mir der Kopf stand.
»Das ist der Konjunktiv«, erklärte mir Monsieur Kasimir.
»Die Zeitformen der Gegenwart, der Vergangenheit und
der Zukunft sagen uns immer, was ist, was war oder was
sein wird. Da gibt es keinen Zweifel. Im Konjunktiv ist


nichts sicher, alles kann passieren, es hängt einfach von
den Umständen ab, die wir uns vorstellen oder herbei-
wünschen. ›Wenn es schönes Wetter gäbe, wenn der
Schnee schmölze, dann …‹; vielleicht kommt dir das et-
was altmodisch vor, weil deine Großeltern so reden und
weil du es in ganz alten Büchern gelesen hast. Du kannst
stattdessen auch einfach sagen: ›Wenn es schönes Wetter
geben würde, wenn der Schnee schmelzen würde, dann …‹
Ja, was wäre dann? Deine Großeltern würden sagen:
›Dann fräße das Rhinozeros die Blume, dann knabberte
das Rhinozeros die Blume an‹; und du würdest vielleicht
sagen: ›Dann würde es die Blume fressen …‹ Kannst du
mir folgen? Es könnte sein, dass es sie dann frisst, aber ich
kann es dir nicht garantieren.«
Der Konjunktiv schien eine verwirrende Sache zu sein.
Die Gegenwart, die Vergangenheit, die Zukunft = die
Wirklichkeit; der Konjunktiv = die Möglichkeit … Ich
schloss die Augen und sortierte alle diese Zeitformen und
Aussageweisen sorgfältig in meinem Kopf.
»Gut, Jeanne. Ich muss jetzt gehen. Die Fabrik steht zu
deiner Verfügung. Du siehst, ich habe dich nicht belogen.
Kennst du eine Fabrik, die nützlicher ist? Was kann man
auf der Welt für die Menschen Wichtigeres herstellen als
Sätze? Du hast die Grundregeln verstanden. Den Laden

2
mit den Adjektiven findest du hinter der Voliere der Sub-
stantive. Und dort ist auch ein Automat für die Präposi-
tionen, die Ortsbestimmungen: nach Paris gehen, aus New
York zurückkommen. Und ein letzter Rat: Pass gut auf
das Papier auf. Du hast gesehen, dass einzig und allein das
Papier in der Lage ist, die Wörter zu bändigen. In der
Luft sind sie zu leichtsinnig. Ich verlasse dich jetzt. Gute
Sätze! Du wirst sie mir heute Abend zeigen. Ein Lied
erwartet mich.«
Er tippte mir auf die Schulter und ging.
Das war seine Art zu sprechen und auch zu leben. Jeden
Augenblick wiederholte er: »Ein Lied erwartet mich.«
Als ob es seine Frau wäre, eine zerbrechliche, heiß ge-
liebte Frau, die verschwinden würde und sich in Luft auf-
löste, wenn er nicht rechtzeitig käme.
Ihr habt es sicher schon erraten: Ich war eifersüchtig. Seit
dieser Zeit träume ich oft, ich wäre ein Lied. Ein paar
Zeilen, Musik. Später einmal werde ich nachts meinen
Mund ganz dicht an das Ohr meines Mannes drücken
und ihn bitten, mir zu singen, nicht irgendetwas, keinen
Refrain, nein, mir mich selbst zu singen. Das wird die
allerschönste Art sein, mich zu lieben.

3
ch spielte den ganzen Tag. Ich hatte das Gefühl,
die Bauklötze meiner Kindheit wiedergefunden
zu haben. Ich suchte zusammen, türmte aufeinan-
der, baute aus. Beim Herumstöbern in der Fabrik
hatte ich noch andere Automaten entdeckt. Ei-
nen für die Ausrufe, die Interjektionen (Oh! Gut! Ver-
dammt!), und einen für die Bindewörter, die Konjunktio-
nen (aber, und, oder, denn, weil …). Bei ihnen konnte
man sich lauter kleine Wörter holen, die dabei helfen,
die verschiedenen Teile des Satzes miteinander zu ver-
binden.
Im Laufe der Stunden breitete sich mein Rhinozeros im-
mer mehr aus, es wurde länger, es nahm an Größe zu,
schlängelte sich wie ein Strom dahin und floss über den
Rand des Blatts, bis es sich schließlich verdoppelte …
Der Giraffendirektor traute seinen Augen nicht, als er
meine fertige Arbeit betrachtete: »Tief im undurchdring-
lichen Urwald vertraute das plumpe und gepanzerte Rhi-
nozeros seinen Freunden weinend an, dass es die zarte,

4
gelbe, weder europäische noch amerikanische, sondern
asiatische Blume, die ihm ein verängstigter Hausierer für
fast nichts verkauft hatte und auf die seine Braut, eine
hellhäutige, händelsüchtige, cholerische Rothaarige, die
es trotzdem sehr liebte, seit vielen Jahren ungeduldig war-
tete, aus Versehen gefressen hatte. / Das von Großwild-
jägern verfolgte Rhinozeros, das sich auf seiner Flucht
verirrt und seine Frau verloren hatte, stand erschöpft und
durchnässt auf einer einsamen Lichtung und knabberte,
um sie zu versuchen, hungrig und verzweifelt eine fremd-
artige, hochstängelige, lila Blume, deren Stacheln ihn aber
wie ein Reibeisen im Rachen kratzten, so dass es einen
Hustenanfall bekam, an.«
»Sätze sind wie Weihnachtsbäume. Du hast zuerst nur
die nackte Tanne, und dann schmückst du sie, du be-
hängst sie mit allem, was dir gefällt … bis sie umfällt.
Vorsicht mit dem Satz: Wenn du ihn mit Girlanden und
Kugeln, ich meine mit Adjektiven, Adverbien und Re-
lativsätzen, überlädst, dann kann auch er zusammenbre-
chen.«
Ich schwor mir, meine Sätze in Zukunft leichter zu
bauen.
»Sei unbesorgt. Die Anfänger überladen immer. Die Fa-
brik steht dir zur Verfügung. Ebenso wie allen Bewoh-

5
nern der Insel, die sich mit Sätzen vergnügen wollen.
Schau nur!«
Ich drehte mich um. Ich war so in meine Arbeit vertieft
gewesen, dass ich denen, die um mich herum tätig waren,
keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Und doch waren es
mehrere Dutzend, Männer und Frauen jeden Alters, die
wie ich spielten: Sie eilten von der Voliere zu den Auto-
maten, dann besetzten sie die Uhren und glucksten vor
Glück, wenn das Ergebnis auf dem Papier ihren Erwar-
tungen entsprach oder, noch besser, sie sogar übertraf.
»Die wahren Freunde der Sätze sind wie die Hersteller
von Halsketten. Sie fädeln Perlen und Gold auf. Aber die
Wörter sind nicht nur schön. Sie sagen die Wahrheit.«
»Und was ist hinter dieser Tür?«
Die Giraffe warf mir einen erfreuten Blick zu.
»Hast du dich gehört? Mir scheint, du bist geheilt, oder?
Sieh da, Fräulein Jeanne redet wieder. Der Alptraum des
Sturms ist vergessen!«
Fräulein Jeanne errötete. Fräulein Jeanne hätte fast ge-
weint. Aber Fräulein Jeanne hat ihren Stolz, sie schluckte
die Tränen hinunter. Fräulein Jeanne ist höflich. Sie flüs-
terte: »Danke schön.« Fräulein Jeanne ist auch hartnäckig.
Sie wiederholte ihre Frage:
»Was ist hinter dieser Tür?«

6
»Das ist der einzige Raum in meiner Fabrik, der nicht be-
treten werden darf. Jetzt mach dich auf den Weg, geh zu
Monsieur Kasimir und lass deine schöne neue Stimme
von ihm bewundern. Hörst du die Musik? Gleich beginnt
ein Fest.«

7
lle Inselbewohner hatten sich am Strand
versammelt, an dem Strand, an dem wir
angekommen waren.
Es war ein merkwürdiger Anblick!
Die einen lachten, sangen und fielen sich um den Hals.
Die anderen verzogen die Gesichter vor Wut und Trauer.
Was war hier nur los?
Wie immer hatte Monsieur Kasimir meine Frage ver-
standen und war schon dabei, sie zu beantworten, ehe ich
noch den Mund aufgemacht hatte. Man hätte meinen
können, seine Ohren hörten meine Gedanken. Hatte er
das, was man ein »absolutes Gehör« nannte? Und noch
andere Fragen gingen mir durch den Kopf. War diese
Kunst, etwas zu erraten, den Musikern vorbehalten? Oder
hatten unsere Freunde, die Freunde, die uns am nächsten
standen, auch diese Fähigkeit? Aber war dann die
Freundschaft nicht eine Art Musik?
»Hörst du mir zu, Jeanne?«
»Verzeihung, ich habe über etwas nachgedacht …«

8
»Oh, jemand der ›über etwas nachdenkt‹, zumal bei einer
solchen Hitze, der verdient meinen Respekt. Selbst wenn
jemand, der ›über etwas nachdenk‹ darüber vergisst, sich
zu bedanken.«
»Sich bedanken? Wer denn? Und wofür?«
»Nun, ich habe den Eindruck, du redest. Bist du nicht
glücklich, dass du die Sprache wiedergefunden hast?«
»Oh, Entschuldigung!«
Vor Scham wäre ich fast gestorben. Die Tränen traten mir
in die Augen (Mädchen ziehen es häufig vor zu weinen
statt zu sterben). Und ich warf mich Monsieur Kasimir in
die Arme (ich hatte längst begriffen, dass die wenigsten
Männer Mädchentränen widerstehen können).
»Beruhige dich, beruhige dich, du hast ja die beste aller
Entschuldigungen, du hast über etwas nachgedacht …«
»Machen Sie sich bitte nicht lustig über mich! Sagen Sie
mir lieber, was hier los ist.«
»Wir feiern den Geburtstag unserer alten Benennerin.
Niemand weiß, wann sie geboren ist. Aber was macht das
schon?«
In diesem Augenblick erscholl ein Geheul in Form eines
Vornamens. Es klang halb beleidigt, halb glücklich.
»Jeanne!« Es war mein Bruder.
»Wo warst du denn? Ich habe dich überall gesucht

9
(Lügner). Willst du wissen, was ich heute erfahren
habe?«
»Aber Thomas, du kannst ja auch wieder reden!«
»Das verdanke ich der Musik. Sie hat in meinem Gehirn
wieder Ordnung geschaffen.«
»Tonlehre und Grammatik kämpfen für dieselbe Sache?«
»So ist es.«
Monsieur Kasimir und sein Neffe waren verschwunden,
die jubelnde Menge hatte sie verschlungen. Wir beide,
mein Bruder und ich, waren nun ganz unter uns. Un-
mittelbar neben uns legte eine Riesenschildkröte in aller
Ruhe ihre Eier im Sand ab, ohne sich um uns oder den
Lärm zu kümmern. Ich beneidete sie. Ich hätte gerne spä-
ter einmal auch Eier gelegt, wenn die Zeit fürs Kinder-
kriegen gekommen war. Logisch, dass Eierlegen nicht so
wehtut wie ein Kind gebären. Mein Bruder spielte Mi-
chelle von den Beatles, ziemlich gut, wie ich zugeben
muss, ohne zu viele falsche Noten. Vielleicht waren die
Wörter für ihn nicht die richtige Sprache. Ich verstand
jetzt besser, warum er sich mir gegenüber häufig so unge-
schickt ausgedrückt hatte. Er hörte auf zu spielen. Das
Lied war offenbar zu Ende. Ich klatschte Beifall, um ihm
eine Freude zu bereiten. Kennt ihr ein besseres Mittel, um
das Familienleben erträglich zu machen, als seinem Bru-

20
der zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Freude zu be-
reiten?
»Übrigens …«
Thomas hat eine besondere Technik, wenn er mir etwas
Wichtiges mitteilen will: Er schaut unbeteiligt in die Ge-
gend. Seine zukünftige Frau tut mir Leid.
Ȇbrigens, morgen kommen Mama und Papa. Sie holen
uns mit dem Wasserflugzeug ab.«
»Gemeinsam?«
»Was du immer für große Worte gebrauchst!«
»Ich hoffe, die Insel wird ihnen gut tun.«
»Wie lange ist es her, dass sie nicht mehr miteinander ge-
redet haben? Glaubst du, sie reden im Wasserflugzeug
miteinander?«
»Unmöglich. Diese Dinger machen zu viel Krach.«

2
ine Tür.
»Du kannst überall in der Fabrik herumge-
hen«, hatte die Giraffe zu mir gesagt. »Aber
niemals, verstehst du?, niemals darfst du diese
Tür öffnen.«
Ich hatte gerade noch Zeit dazu, ehe es Nacht wurde.

Auf der anderen Seite saßen drei, nur drei, vor ihrem Blatt
Papier und arbeiteten.
Ich ging zu dem ersten hin.
»Wer bist du?«
»Ein Schriftsteller-Pilot.«
»Wo ist dein Flugzeug?«
»Auf dem Meeresgrund.«
»Fehlt es dir nicht sehr?«
»Ich habe die Wörter. Wenn man sie zum Freund hat, er-
setzen sie alles, selbst kaputte Flugzeuge.

22
23
»Wie heißt du?«
»Antoine. Aber man kennt mich besser unter meinem
Kürzel Saint-Ex.«
»So wie der Autor des Kleinen Prinzen?«
»Der bin ich. Die Insel hat mich aufgenommen wie dich.
Es ist der einzige Ort, wo sich ein toter Schriftsteller auf-
halten kann.«
»Aber du bist nicht tot, du sprichst noch mit mir!«
»Ich bin nicht tot, weil ich schreibe. Wenn du mich nicht
bald in Ruhe lässt, werde ich von neuem sterben. Geh
also, bitte! Viel Glück, Jeanne.«
»Viel Glück.«
Ehe ich ihn verließ, konnte ich es mir nicht verkneifen,
einen Blick über seine Schulter auf sein Blatt zu werfen.
Da war nur ein gelber Blitz dicht neben seinem Knöchel. Er
erstarrte einen Augenblick. Er schrie nicht. Er fiel langsam
um, wie ein gefällter Baum. Es gab nicht einmal ein Geräusch,
wegen des Sands.

Aus der Ferne hätte man meinen können, es sei halb ein
Geflügelhof, halb ein Zoo. Oder das Einschiffen auf
der Arche Noah. Ich sah Wölfe, Esel, Hunde, Papageien,
zwei Stiere, einen Fuchs, einen Hasen, Mäuse, einen Ad-

24
ler, ein Dutzend Löwen und Löwinnen, einen Raben,
eine Schlange …
Erst als ich näher kam, sah ich den Mann, den diese Me-
nagerie umgab. Er trug einen breitkrempigen Bauern-
hut. Trotz seines Aussehens musste er, wie mein voriger
Freund, ein Schriftsteller sein, denn er hielt ein aufgeschla-
genes Heft in der Hand, und hinter seinem Ohr steckte
ein fein gespitzter Gänsekiel. Ich bemerkte, dass er sich
mit einem Affen und einem Leoparden unterhielt, oder
vielmehr interessiert deren Diskussion lauschte. Die ge-
fleckte Raubkatze fand sich schön, der Affe fand sich
schlau. Was galt mehr auf dieser Welt, die äußere Er-
scheinung oder die Klugheit?
Ich wartete höflich, bis dieser altbekannte Streit beendet
war.
»Entschuldige, ich heiße Jeanne. Muss ein Schriftsteller
immer Tiere um sich haben?«
»Der Dichter ist in die Wahrheit verliebt, für die es kei-
nen besseren Freund als die Freiheit gibt. Die Tiere, in
Freiheit und ohne Dressur, sind immer ein Spiegel der
Menschennatur.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich alles verstanden hatte.
Aber ich hörte immerhin, dass dieser Mann, wie Mon-
sieur Kasimir, Reime liebte. Ich fühlte mich nicht wohl in

25
meiner Haut. Wenn der Affe mir zulächelte, knurrte der
Leopard. Aber bevor ich mich aus dem Staub machte,
wollte ich ihn noch um etwas bitten.
»Entschuldige, könntest du mir einen deiner Sätze zei-
gen? Ich sammle Sätze.« (Ich wusste, dass die Schmeiche-
lei das beste Mittel ist, um das Vertrauen eines Autors zu
gewinnen.)
»Ach, meine liebe Jeanne, wenn die Jugend von heute
deine Intelligenz besitzen würde … Ich heiße übrigens
Jean.«
Und schnurrend schlug er sein Heft für mich auf.
»Mit diesem hier, das muss ich zugeben, bin ich sehr zu-
frieden. Er sollte mir einigen Ruhm eintragen: Diese
Lehre ist wohl einen Käse wert.«
Ich klatschte Beifall (ein Hoch auf deine Kürze und Prä-
zision, du verstehst es, die Geschichte auf den Punkt zu
bringen!).
Aber nun wollte ich auch noch den dritten Schriftsteller
aufsuchen.

Er war steinalt, seine Lippen waren eingefallen, weil er


schon lange keine Zähne mehr hatte. Er trug einen
schwarzen Gehrock und stand nachdenklich an seinem

26
hohen Schreibpult. Er blickte auf und ich war überrascht
über seine jugendlichen Augen.
»Wie heißt du?«
»Jeanne. Und du?«
»Johann Wolfgang.«
»Das sind aber altmodische Vornamen.«
»Findest du? Und dabei ist mein erster mit dem deinen
verwandt. Jeanne ist das französische Pendant zu meiner
weiblichen Form: Johanna.«
Ich staunte. Zum ersten Mal sprach mich jemand auf
meinen französischen Vornamen an.
»Vielleicht haben dir deine Eltern diesen Namen gege-
ben, damit er dir immer zuruft: ›Frankreich ist schön, die
französische Sprache ist schön, lerne das Nachbarland
und seine Sprache kennen.‹«
Sollten meine Eltern so weit gedacht haben, als sie mich
vor zehn Jahren »Jeanne« taufen ließen? Und ich über-
legte, dass es jetzt, wo Monsieur Kasimir mir die Angst
vor der Grammatik genommen hatte, gar nicht mehr so
schwer sein würde, eine andere Sprache zu lernen. Ich
hätte über dieser Entdeckung fast vergessen, dass ich auch
von diesem alten Herrn einen Satz mitnehmen wollte.
Ich brachte meinen Wunsch vor.
»Interessieren dich Reime?«

27
Ich nickte mit dem Kopf.
Er schob mir sein Blatt hin. Ich musste mich auf die
Zehenspitzen stellen, um die Verse lesen zu können:

Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten!


Bleibt in euren Hütten, euren Zelten!
Und ich reite froh in alle Ferne,
Über meiner Mütze nur die Sterne.

»Gefällt es dir?«
Ich konnte vor Staunen nicht antworten. Darauf war ich
nicht gefasst gewesen. Es war, als hätte dieser Herr aus
den alten, alten Zeiten ein Gedicht für mich geschrieben,
für mich, die Jeanne, die ihre Freiheit und das Abenteuer
über alles liebte.
Stammelnd dankte ich ihm.
Ob diese Verse wohl alles in mir zum Klingen brachten,
weil sie in meiner Muttersprache geschrieben waren?
Vielleicht würden ja auch die Sätze von Saint-Ex. und
Jean eine noch schönere Melodie haben, wenn ich deren
Sprache verstehen könnte? Ich wollte meine Eltern bit-
ten, mich Französisch lernen zu lassen.

28
Ich war so aufgeregt und so sehr mit diesen Gedanken be-
schäftigt, dass ich zusammenzuckte, als sich die Finger
einer Hand wie Haken in meine Schulter krallten.
»Was machst du hier?«
Die Giraffe schüttelte mich entsetzlich, rasend vor Wut.
»Ich habe dir verboten, diesen Teil der Fabrik zu betre-
ten.«
Antoine, Jean und Johann Wolfgang, meine drei neuen
Freunde, kamen mir zu Hilfe.
»Jeanne ist uns jederzeit willkommen.«
Die Giraffe beruhigte sich:
»Hast du gesehen, wie spät es ist? Geh schnell schlafen.
Ich erinnere dich daran, dass deine Eltern morgen kom-
men. Du mußt fit sein zu ihrem Empfang.«
Ehe ich zu Bett ging, stellte ich ihm leise eine Frage, die
mir, seit ich die berüchtigte Tür geöffnet hatte, auf der
Zunge lag:
»Die drei dort drin, ich weiß nicht, sind sie tot oder leben-
dig?«
»Wenn der Tod einen großen Schriftsteller holen will,
dann tragen seine Freunde, die Wörter, ihn im letzten
Augenblick durch die Luft davon und setzen ihn hier ab.
Damit er weiterarbeiten kann.«
»Was ist ein großer Schriftsteller?«

29
Einer, der, ohne sich um Moden zu kümmern, Sätze
baut, einzig und allein, um die Wahrheit zu entdecken.«
»Und der Tod macht sich nicht auf die Suche nach ihm?«
»Die Erde ist zu groß, sie hat unzählige Verstecke. Und
zum Glück ist der Tod nicht gut in Geographie.«
»Danke.«
Und ich zog meine Beine unters Kinn.

30
atürlich habe ich nicht geschlafen.
Natürlich habe ich sie mehrere Male ge-
rufen.
Ohne Erfolg. Vielleicht konnte sie meine
Kunst in der Luft nicht erreichen.
Neben mir, in der Dunkelheit, die Finger von einer klei-
nen Lampe beleuchtet, übte Thomas auf seiner Gitarre,
immer wieder dasselbe. Er wollte ihnen eine Überra-
schung bereiten.
Auch ich hielt Geschenke für sie bereit. Ich würde ihnen
die ganze Insel zeigen. Ich würde ihnen die Sätze wieder
beibringen.
Am nächsten Morgen stand ich mit der Sonne auf.

Am Strand hatten sich alle versammelt, auch der Giraf-


fendirektor, die drei Schriftsteller mit ihren Stiften hinter
den Ohren und ihren Notizbüchern, die alte Benennerin

3
und ihr Ventilator-Leibwächter und die Ziegen und die
Pferde und die Schweine. Sie standen alle da und be-
obachteten den Himmel.
»Ich sehe sie!«, schrie Thomas und zeigte nach Westen.
»Ich sehe sie auch!«
»Du lügst, du schaust ja in die andere Richtung!«
»Jeanne hat trotzdem Recht. Eure Eltern kommen aus
verschiedenen Teilen der Welt.«
Wir senkten den Kopf. Man kann noch so viel Übung ha-
ben, es fällt doch immer wieder schwer, daran zu glauben,
dass die Eltern geschieden sind.
Plötzlich war ein lautes Flügelschlagen zu hören: Alle
Wörter flogen los, alle Wörter der Insel, die Wörter vom
Markt, die Wörter aus der Fabrik, die Wörter aus der
Stadt der Wörter, selbst die Wörter aus dem Kranken-
haus, ja sogar der kleine kranke Satz und die seltenen
Wörter aus dem alten Wörterbuch. Alle hatten sie sich
frei genommen, um die beiden Wasserflugzeuge in der
Luft zu empfangen.
»Was ist denn das?«, fragte Thomas.
Man hätte glauben können, es gäbe eine Sonnenfinster-
nis. All diese Wörter, diese Millionen von Wörtern, ver-
deckten uns die Sonne.
»Schaut her«, sagte Monsieur Kasimir.

32
Er hatte seine Gitarre in die Hand genommen und zu
singen begonnen:

Kleine Hirschkuh auf der Flucht,


Der böse Wolf im Wald dich sucht.
Huhu! Huhu!
Schon kommt der tapfre Rittersmann
Und rettet dich im finstern Tann.
Lala! Lala!

Die Wörter verließen nacheinander sein sanftes Lied und


flogen zu ihren Genossen in den Himmel hinauf.
»Ihr seht, nur meine Musik bleibt bei mir.«
»Was ist denn das ?«, wiederholte Thomas.
Monsieur Kasimir lächelte.
»Die Wörter sind kleine, sentimentale Geschöpfe. Sie has-
sen es, wenn zwei Menschen aufhören, sich zu lieben.«
»Warum? Das geht sie doch gar nichts an!«
»Sie denken aber, dass es sie etwas angeht! Für sie bedeu-
tet Entliebung, dass sich Stille auf der Welt ausbreitet.
Und die Wörter hassen die Stille.«
»So betrachtet …«
Thomas wollte es immer noch nicht einsehen.
»Die Wörter der Gefühle, zugegeben: Leidenschaft,

33
Schönheit, Ewigkeit … Aber Friteuse, Zahnbürste,
Schraubenschlüssel, die Wörter des alltäglichen Lebens,
warum interessieren sich die für meine Eltern, was haben
die mit der Liebe zu tun?«
»Auch wenn sie gewöhnliche Dinge bezeichnen, Aller-
weltstätigkeiten, so haben sie doch ihre Träume, wie wir,
Thomas, genauso wie wir.«
Ich schwieg.
Begleitet von ihrem Gefolge herumwirbelnder Wörter
landeten die beiden Flugzeuge nebeneinander auf dem
Wasser.
Mit einer tonlosen, kaum vernehmlichen Stimme brachte
ich die Frage heraus, die mir auf der Zunge brannte.
»Und die Wörter … können sie machen, dass die Liebe
zurückkommt?«
Monsieur Kasimir schüttelte den Kopf. Heute trug er
seine Gitarre komischerweise wie ein Werkzeug, wie
eine Hacke oder eine Axt, mit dem Griffbrett über der
Schulter.
»Darf ich offen mit dir reden, Jeanne? Du bist jetzt groß,
fast eine Erwachsene. Ich werde dir also die Wahrheit
sagen: Nicht immer, Jeanne. Die Wörter können nicht
immer machen, dass die Liebe zurückkommt. Weder die
Wörter noch die Musik. Leider.

34
Ein Orchester war herangekommen, zwei Trompeten
und mindestens zehn Trommeln, sie spielten fröhlich auf
für uns, immer lauter und immer lauter. Monsieur Kasi-
mir musste mir die Fortsetzung ins Ohr brüllen:
»Aber man muss es trotzdem versuchen. Man versucht es
seit zehntausend Jahren, Jeanne, man versucht alles …«
Die beiden Wasserflugzeuge standen nun mitten in der
Lagune, die Türen waren noch geschlossen. Die Vögel,
eifersüchtig auf all diese Ereignisse, schmollten hoch
oben am Himmel.
Erik Orsenna, geboren 947, war u. a. Professor für Wirtschaftswis-
senschaften, Leiter eines Literaturverlages und Berater des franzö-
sischen Staatspräsidenten Mitterrand. Er ist Mitglied der Académie
française und zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern des Nach-
barlandes. »La grammaire est une chanson douce« stand lange auf
Platz  der französischen Bestenliste. Bei Hanser erschien bereits der
Roman »Inselsommer«.

Wolf Erlbruch, geboren 948, zählt zu den großen Illustratoren der


Gegenwart. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a.
mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2003 für sein Gesamtwerk.
Bei Hanser erschien zuletzt das Bilderbuch »Ein Himmel für den
kleinen Bären« nach einem Text von Dolf Verroen.

Caroline Vollmann, geboren 933, übersetzte u. a. Flaubert und Maupas-


sant und arbeitete viele Jahre als Lexikographin am Goethe-Wörter-
buch. »Die Grammatik ist ein sanftes Lied« stellte eine besondere
Herausforderung dar, denn die Ausführungen des Autors über die
französische Grammatik mussten für deutsche Leser nicht übersetzt,
sondern in Ausführungen über die deutsche Grammatik umgewan-
delt werden. Wer die deutsche Fassung mit dem französischen Ori-
ginal vergleicht, kann sich vom Geschick und der Sorgfalt der Über-
setzerin bei dieser Arbeit überzeugen.
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