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Armin Nassehi

Institut für Soziologie

Vorlesung
Soziologische Theorie
SoSe 2019
Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax

24. Juni 2019

Jürgen Habermas:
Gesellschaft als System und Lebenswelt/
Soziologie als Aufklärungsprojekt

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Armin Nassehi:
Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen
2. Aufl.
Wiesbaden: VS-Verlag 2011.

Hans Joas/Wolfgang Knöbl:


Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen
Aktualisierte Auflage
Frankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.

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Programm

29.04.
Die Vorgeschichte: Rousseau, Hobbes, Hegel und Marx
Die Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Kritik
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Band 7, Frankfurt/M. 1970, 182-188, S. 339-346;
Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1, Berlin (DDR) 1969, S. 378-
391.

06.05. (Julian Müller)


Emile Durkheim:
Gesellschaft als integrierte Einheit/Soziologie als Moralwissenschaft
Emile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 152-173 und 437-450. Emile Durkheim: Regeln der
soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 115-128.

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13.05.
Max Weber:
Soziologie ohne Gesellschaft
Max Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgew. v. Dirk Käsler, Stuttgart
2002, S. 275-313.

20.05. (Julian Müller)


George Herbert Mead:
Gesellschaft als universe of discourse/Soziologie als Verhaltenswissenschaft
George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Hrsg. von Charles W. Morris. Frankfurt/M. 1992, S. 194-221 und 230-265.

27.05.
Talcott Parsons:
Gesellschaft als politische Einheit/Soziologie als Theorie sozialer Systeme
Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12-42.

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03.06.
Alfred Schütz/Peter Berger/Thomas Luckmann:
Gesellschaft als Lebenswelt/Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie
Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Die Lebenswelt des Alltags und die natürliche Einstellung, in: dies.: Strukturen der Lebenswelt. Band
1, Frankfurt/M. 2003, S. 29-50.

10.06. Pfingstmontag

17.06.
Gary S. Becker/James Coleman
Gesellschaft als Situation/Soziologie als Theorie rationaler Wahl
Gary S. Becker: The Economic Way of Looking at Life, Nobel Lecture, Oslo 1992.

24.06.
Jürgen Habermas:
Gesellschaft als System und Lebenswelt/Soziologie als Aufklärungsprojekt
Jürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen,
Frankfurt/M. 1985, S. 390-425.

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01.07.
Niklas Luhmann:
Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/Soziologie als Aufklärung
Niklas Luhmann: Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11-49.

08.07.
Pierre Bourdieu:
Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)Aufklärung
Pierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und ‘Klassen’. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S.
49-81.

15.07.
Bruno Latour:
Gesellschaft posthumaner Kollektive/Soziologie als Theorie hybrider Akteure
Bruno Latour: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der
Wissenschaften, Berlin, S. 15-84.

22.07.
Klausur

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Weitere Informationen:

Die Texte werden in den Tutorien bearbeitet und sollen von allen sonstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vorlesung
mitgelesen werden.
Die Anmeldeformalitäten für die Klausur bzw. für die Anmeldung zu den Theorie II-Veranstaltungen werden im Laufe der Vorlesung
erläutert.
Sonntags ab spätestens 23.00 Uhr (meist früher) lassen sich die Folien des darauf folgenden Montags von der Homepage des
Lehrstuhls herunterladen (www.nassehi.de).

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Jürgen Habermas (*1929)

„Ästhetik und Kommunikation“


Interview (1981)

S. 152: Wenn man sich ... an Wahrheitsfragen


orientiert und sich dabei nicht selber mißverste-
ht, dann darf man nicht, wie es Heidegger und
Adorno gemeinsam versuchen, Wahrheiten an
den Wissenschaften vorbeiproduzieren wollen und auch auf irgend-
eine höhere Einsicht setzen, auf ein Andenken des Seins oder auf
ein Eingedenken der gequälten Natur. Meine tiefe Überzeugung ist,
daß man, wenn man sich aufs Denken einläßt, das nicht darf.

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S. 151: Ich habe ein Grundmotiv und eine grundlegende Intuition.


Diese geht übrigens auf religiöse Traditionen, etwa der protestan-
tischen oder der jüdischen Mystiker zurück, auch auf Schelling.
Der motivbildende Gedanke ist die Versöhnung der mit sich selber
zerfallenden Moderne, die Vorstellung also, dass man ohne Preis-
gabe der Differenzierungen, die die Moderne sowohl im kulturel-
len wie im sozialen und ökonomischen Bereich möglich gemacht
haben, Formen des Zusammenlebens findet, in der wirkliche Au-
tonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhältnis treten.

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Theorie des kommunikativen Handelns (TKH), FfM 1981.

Bd. 1, S. 524f.: Die Strukturen einer Vernunft, auf die Adorno nur
anspielt, werden der Analyse erst zugänglich, wenn die Ideen der
Versöhnung und der Freiheit als Chiffren für eine wie auch immer
utopische Form der Intersubjektivität entziffert werden, die eine
zwanglose Verständigung der Individuen im Umgang miteinander
ebenso ermöglicht wie die Identität eines sich zwanglos mit sich
selbst verständigenden Individuums - Vergesellschaftung ohne Re-
pression. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Handlungs-
theorie: vom zielgerichteten zum kommunikativen Handeln ... .
Nicht mehr Erkenntnis und Verfügbarmachung einer objektivierten
Natur sind, für sich genommen, das explikationsbedürftige Phäno-

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men, sondern die Intersubjektivität möglicher Verständigung ... .


Der Fokus der Untersuchung verschiebt sich damit von der kogni-
tiv-instrumentellen zur kommunikativen Rationalität. Für diese ist
nicht die Beziehung des einsamen Subjekts zu etwas in der objek-
tiven Welt, das vorgestellt und manipuliert werden kann, paradig-
matisch, sondern die intersubjektive Beziehung, die sprach- und
handlungsfähige Subjekte aufnehmen, wenn sie sich miteinander
über etwas verständigen.

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Technik und Wissenschaft als Ideologie, FfM 1968

S. 163: Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es


kann a priori eingesehen werden. Das, was uns aus Natur heraus-
hebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach
kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für
uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen
und ungezwungenen Konsensus unmissverständlich ausgespro-
chen.

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Was heißt Universalpragmatik?, in: Karl-Otto Apel (Hg.):


Sprachpragmatik und Philosophie, FfM 1976.

S. 180: Ich möchte die These vertreten, dass nicht nur Sprache,
sondern auch Rede, also die Verwendung von Sätzen in Äuße-
rungen, einer logischen Analyse zugänglich ist. Wie die elemen-
taren Einheiten der Sprache (Sätze), so lassen sich auch die ele-
mentaren Einheiten der Rede (Äußerungen) in der methodischen
Einstellung einer rekonstruktiven Wissenschaft analysieren.

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Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommuni-


kativen Kompetenz, in: ders. und Niklas Luhmann: Theorie
der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, FfM 1971.

S. 137: [Nur in der idealen Sprechsituation] „herrscht ausschließ-


lich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes,
der die methodische Überprüfung von Behauptungen sachverstän-
dig zum Zuge kommen läßt und die Entscheidung praktischer Fra-
gen rational motivieren kann.“

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Sprechaktklassen und Geltungsansprüche

1. Kommunikativa Geltungsanspruch: Verständlichkeit

2. Konstativa (obj. Welt) Geltungsanspruch: Wahrheit


“Es regnet.”

3. Expressiva (subj. Welt) Geltungsanspruch: Wahrhaftigkeit


“O Gott, es regnet!”

4. Regulativa (soz. Welt) Geltungsanspruch: Richtigkeit


“Wenn es regnet, sollten wir das Fest absagen.”

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Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und


Reflexion, Pfullingen 1973.

S. 258: Die ideale Sprechsituation ist weder ein empirisches Phä-


nomen noch bloßes Konstrukt, sondern eine in Diskursen unver-
meidliche reziprok vorgenommene Unterstellung. Diese Unter-
stellung kann, sie muss nicht kontrafaktisch sein; aber auch wenn
sie kontrafaktisch gemacht wird, ist sie eine im Kommunikations-
vorgang operativ wirksame Fiktion.

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Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, FfM


1976.

S. 161f.: Wir können also die Produktivkraftentfaltung als problem-


erzeugenden Mechanismus verstehen, der die Umwälzung der Pro-
duktionsverhältnisse und eine evolutionäre Erneuerung der Produk-
tionsverhältnisse zwar auslöst, aber nicht herbeiführt. ...

Die Antwort, die ich vorschlagen möchte, heißt: die Gattung lernt
nicht nur in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden Di-
mension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der
für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des
moralisch-praktischen Bewusstseins. Die Regeln kommunikativen

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Handelns entwickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im


Bereich des instrumentellen und strategischen Handelns, aber sie
folgen dabei einer eigenen Logik.

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S. 117: Die neue Identität einer erst im Entstehen begriffenen Welt-


gesellschaft kann sich nicht in Weltbildern artikulieren. ... Eine sol-
che Identität braucht keine fixen Inhalte mehr, um stabil zu sein;
aber sie braucht jeweils Inhalte. Identitätsverbürgende Deutungssy-
steme, die heute die Stellung des Menschen in der Welt verständ-
lich machen, unterscheiden sich von traditionellen Weltbildern nicht
so sehr in ihrer geringeren Reichweite, als vielmehr in ihrem revi-
sionsfähigen Status.

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TKH

Bd. 2, S. 192: Die Strukturen der Lebenswelt legen die Formen der
Intersubjektivität möglicher Verständigung fest. Ihnen verdanken
die Kommunikationsteilnehmer, die extramundane Stellung gegen-
über dem Innerweltlichen, über das sie sich verständigen können.
Die Lebenswelt ist gleichsam der transzendentale Ort, an dem sich
Sprecher und Hörer begegnen; wo sie reziprok den Anspruch erhe-
ben können, dass ihre Äußerungen mit der Welt (der objektiven, der
sozialen oder der subjektiven Welt) zusammenpassen; und wo sie
diese Geltungsansprüche kritisieren und bestätigen, ihren Dissens
austragen und Einverständnis erzielen können.

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Bd. 2, S. 208f.: Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung


dient kommunikatives Handeln der Tradition und der erneuerung
kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung
dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität;
unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikati-
ves Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten. Die sym-
bolischen Strukturen der Lebenswelt reproduzieren sich auf dem
Wege der Kontinuierung von gültigem Wissen, der Stabilisierung
von Gruooensolidarität und der Heranbildung zurechnungsfähiger
Aktoren.

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Bd. 2, S. 228: Die Formel, dass Gesellschaften systemisch stabili-


sierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen dar-
stellen, [bedeutet] (...), die Gesellschaft als eine Entität zu betrach-
ten, die sich im Verlaufe der Evolution sowohl als System wie als
Lebenswelt ausdifferenziert. Die Systemevolution bemisst sich an
der Steigerung der Steuerungskapazität einer Gesellschaft, während
das Auseinandertreten von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit
den Entwicklungsstand einer symbolisch strukturierten Lebenswelt
anzeigt.

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Bd. 2, S. 273: Die Umstellung der Handlungskoordinierung von


Sprache auf Steuerungsmedien bedeutet eine Abkoppelung der In-
teraktion von lebensweltlichen Kontexten. Medien wie Geld und
Macht setzen an den empirisch motivierten Bindungen an; sie co-
dieren einen zweckrationalen Umgang mit kalkulierbaren Wertmen-
gen und ermöglichen eine generalisierte strategische Einflussnahme
auf die Entscheidungen anderer Interaktionsteilnehmer unter Umge-
hung sprachlicher Konsensbildungsprozesse. Indem sie die sprach-
liche Kommunikation nicht nur vereinfachen, sondern durch eine
symbolische Generalisierung von Schädigungen und Entschädigun-
gen ersetzen, wird der lebensweltliche Kontext, in den Verständi-
gungsprozesse stets eingebettet sind, für mediengesteuerte Interak-
tionen entwertet: die Lebenswelt wird für die Koordinierung von
Handlungen nicht länger benötigt.
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Bd. 2, S. 488: Die Deformationen, für die sich Marx, Durkheim und
Weber je auf ihre Weise interessiert haben, sollen weder auf Ratio-
nalisierung der Lebenswelt überhaupt, noch auf wachsende System-
komplexität als solche zurückgeführt werden. Weder die Säkulari-
sierung der Weltbilder noch die strukturelle Differenzierung der Ge-
sellschaft haben per se unvermeidliche pathologische Nebenwir-
kungen. Nicht die Ausdifferenzierung und eigensinnige Entfaltung
der kulturellen Wertsphären führen zur kulturellen Verarmung der
kommunikativen Alltagspraxis, sondern die elitäre Abspaltung von
Expertenkulturen von den Zusammenhängen kommunikativen All-
tagshandelns. Nicht die Entkoppelung der mediengesteuerten Sub-
systeme, und ihrer Organisationsformen, von der Lebenswelt führt
zu einseitiger Rationalisierung oder Verdinglichung der kommuni-

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kativen Alltagspraxis, sondern erst das Eindringen von Formen öko-


nomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche,
die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widerset-
zen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und
Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanis-
mus der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben.
______________________________________________________
Bd. 2, S. 522: An die Stelle des falschen tritt heute das fragmentier-
te Bewusstsein, das der Aufklärung über den Mechanismus der Ver-
dinglichung vorbeugt. Erst damit sind die Bedingungen einer Kolo-
nialisierung der Lebenswelt erfüllt: die Imperative der verselbstän-
digten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers
entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren
in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation.
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Der philosophische Diskurs der Moderne, FfM 1986

S. 422f.: Autonom nenne ich Öffentlichkeiten, die nicht vom politi-


schen System zu Zwecken der Legitimationsbeschaffung erzeugt
und ausgehalten werden. Die aus den Mikrobereichen der Alltags-
praxis naturwüchsig entstehenden Zentren verdichteter Kommuni-
kation können sich nur in dem Maße zu autonomen Öffentlichkeiten
entfalten und als selbsttragende, höherstufige Intersubjektivitäten
festigen, wie das lebensweltliche Potential zur Selbstorganisation
und zum selbstorganisierten Gebrauch von Kommunikationsmitteln
genutzt wird. ... Autonome Öffentlichkeiten können ihre Stärke al-
lein aus den Ressourcen weitgehend rationalisierter Lebenswelten
beziehen. Das gilt vor allem für die Kultur.

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Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, in:


ders.: Nachmetaphysisches Denken, FfM 1988.

S. 184f.: Noch der Begriff der kommunikativen Vernunft wird vom


Schatten eines transzendentalen Scheins begleitet. Weil die ideali-
sierenden Voraussetzungen kommunikativen Handelns nicht zum
Ideal eines künftigen Zustandes definitiven Verständigtseins hypo-
stasiert werden dürfen, muß das Konzept hinreichend skeptisch an-
gelegt werden. Eine Theorie, die uns die Erreichbarkeit eines Ver-
nunftideals vorgaukelt, würde hinter das von Kant erreichte Argu-
mentationsniveau zurückfallen; sie würde auch das materialistische
Erbe der Metaphysikkritik verraten. Das Moment Unbedingtheit,
das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität

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aufbewahrt ist, ist kein Absolutes, allenfalls ein zum kritischen Ver-
fahren verflüssigtes Absolutes. Nur mit diesem Rest von Metaphy-
sik kommen wir gegen die Verklärung der Welt durch metaphy-
sische Wahrheiten an – letzte Spur eines Nihil contra Deum nisi
Deus ipse. Die kommunikative Vernunft ist gewiß eine schwan-
kende Schale – aber sie ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen,
auch wenn das Erzittern auf hoher See der einzige Modus ist, in der
sie Kontingenzen ‚bewältigt’.

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