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Zur Notwendigkeit einer Neuorientierung bei der Beurteilung der rechtfertigenden

Pflichtenkollision im Angesicht der Corona-Triage


Von Prof. Dr. Christian Jäger, Wiss. Mit. Johannes Gründel, Erlangen*

I. Einführung in die Problematik station eingewiesen werden. Allerdings wird man innerhalb
Die durch das Coronavirus ausgelöste Pandemie zwingt Ärzte der Gruppe der beatmungspflichtigen Patienten in Fällen der
gegebenenfalls zur Entscheidung darüber, wer mit der Aus- Ressourcenknappheit ebenfalls das Kriterium der Erfolgsaus-
sicht auf Überleben behandelt wird und wer sterben muss, sicht als Entscheidungshilfe über Leben und Tod heranziehen
weil ihm keine Behandlung mehr zuteilwird. Notwendig wird müssen. Hier können – und dies ist der eigentliche Unter-
diese Entscheidung, wenn die Zahl der auf ein Intensivbett schied zu sonstigen Fällen der Triage, da sich die Auswahl in
mit Beatmungsmöglichkeit angewiesenen Patienten die An- der Aufnahmestation des Krankenhauses abspielt – gegebe-
zahl der zur Verfügung stehenden Behandlungsplätze über- nenfalls unterschiedliche genesungsrelevante Faktoren in die
steigt. Die dann notwendige Auswahl wird als Triage1 be- Entscheidung einfließen, wie etwa die Sauerstoffsättigung
zeichnet, ein Begriff, der ursprünglich aus Kriegszeiten des Blutes, der Kreislaufzustand des Patienten, schwerwie-
stammt und kennzeichnend für die Entscheidung ist, die von gende gesundheitliche Vorschädigungen sowie gegebenen-
den Ärzten getroffen werden muss.2 Dass diese Wahl zwi- falls die Gebrechlichkeit. Dies ändert aber nichts daran, dass
schen zwei Menschenleben jeden Mediziner in schwerste der übergeordnete Gesichtspunkt der Erfolgsaussicht zum
Konflikte stürzt, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Dies ausschlaggebenden Kriterium bei der Entscheidung über
ist in Kriegszeiten nicht anders als im Falle der Bekämpfung Leben und Tod erhoben wird. Als problematisch stellt es sich
eines Virus, ganz abgesehen davon, dass auch dieser Kampf daher dar, wenn etwa die Empfehlungen der Schweiz oder
in der Vergangenheit bereits als Krieg gegen einen unsichtba- die Vorgaben Italiens ein Lebensalter von 85 Jahren und
ren Feind bezeichnet wurde.3 Auch wenn die Konfliktlagen mehr oder die verbleibende Lebenszeit des Patienten als
vergleichbar sind, so unterscheidet sich der Vorgang der absolute Auswahlkriterien benennen.5 Denn auf diese Weise
Triage im Kriegsfall oder im Falle einer Unfallkatastrophe werden „triage-untypische“ Verteilungskriterien herangezo-
von der Triage, die im Kampf gegen das Virus eingesetzt gen,6 die nicht mehr das Überleben möglichst vieler zum Ziel
werden muss, doch erheblich. Denn im Krieg oder bei Unfäl- haben, sondern dem einzelnen Menschenleben kraft hohen
len erfolgt die Einordnung durch grobe Sichtung zunächst Alters bzw. kraft reduzierter Lebenszeiterwartung einen ge-
nach Dringlichkeit und innerhalb der dringlichen Fälle wiede- ringeren Wert zuweisen. Augenfällig wird dies beispielsweise
rum nach der Aussicht auf Erfolg der Behandlung. Letztlich in einem Fall, in dem ein 85-jähriger nicht vorgeschädigter
muss auch die Triage im Kampf gegen das Virus an diesen Patient mit noch vergleichsweise guten Überlebensaussichten
beiden Kriterien der Dringlichkeit und der Erfolgsaussicht zu Gunsten eines 30-jährigen schwer vorgeschädigten Patien-
anknüpfen.4 So wird man etwa diejenigen Patienten, die nur ten mit vergleichsweise schlechten Überlebenschancen ab-
vergleichsweise geringe Beschwerden zeigen, auf die Nor- gewiesen wird. Auch wenn dies juristisch möglich wäre, so
malstation verlegen, während schwere Fälle in die Intensiv- müsste man dies ethisch als problematisch einstufen, da eine
Bewertung von Handlungspflichten ohne Einbeziehung der
Erfolgsaussichten als intransparent erscheinen muss.7
* Prof. Dr. Christian Jäger ist Inhaber des Lehrstuhls für
Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medizinstraf-
5
recht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn- Vgl. die von der Schweizerischen Akademie der Medizini-
berg; Johannes Gründel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter schen Wissenschaften und der Schweizerischen Gesellschaft
und Doktorand am selben Lehrstuhl. Die Verfasser bedanken für Intensivmedizin veröffentlichen Richtlinien, S. 5, abruf-
sich bei Frau Anja Knobloch und Herrn Fabian Meinberger bar unter
für die Unterstützung bei Erstellung des Beitrags und für https://www.samw.ch/dam/jcr:4c30e233-6357-4b1a-98fa-
dessen Durchsicht. Dank gilt schließlich auch den Mitglie- 27323db77ccc/richtlinien_v2_samw_triage_intensivmedizini
dern des Klinischen Ethikkomitees am Universitätsklinikum sche_massnahmen_ressourcenknappheit_20200324.pdf
Erlangen für intensive Diskussionen zur hier behandelten (7.4.2020), sowie die von der italienischen Gesellschaft für
Thematik. Anästhesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI)
1
Von französisch „trier“ (auslesen, aussuchen, sortieren). herausgegebenen Empfehlungen, S. 9, abrufbar unter
2
Vgl. dazu Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch http://www.quotidianosanita.it/allegati/allegato6382982.pdf
des Arztrechts, 5. Aufl. 2019, § 21 Rn. 24. (7.4.2020).
3 6
So etwa Emmanuel Macron, Spiegel-Online v. 16.3.2020, Vgl. dazu Weyma Lübbe, Telepolis v. 22.3.2020, abrufbar
abrufbar unter unter
https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronakrise-macron- https://www.heise.de/tp/features/Corona-Triage-
schraenkt-bewegungsfreiheit-der-franzosen-drastisch-ein-a- 4687590.html (7.4.2020).
7
d5e204f6-bba9-4758-abf0-1de53e6f930a (14.4.2020).. Dazu Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetz-
4
Diese beiden Kriterien liegen letztlich auch der Entschei- buch, Kommentar, 30. Aufl. 2019, Vor § 32 ff. Rn. 74; zur
dung über eine Organtransplantation zugrunde, vgl. dazu berechtigten Kritik an einem absoluten Altersausschlussgrund
Scholz/Middel, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, Kom- aber die Stellungnahme von Dabrock und Augsberg für den
mentar, 3. Aufl. 2018, TPG § 12 Rn. 8. Ethikrat vom 7.4.2020, abrufbar unter
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Christian Jäger/Johannes Gründel
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II. Bisherige Ansätze für die juristische Lösung der Triage- 1.).13 Nach juristischen Kriterien konkurrieren hier daher
problematik und ihre Übertragbarkeit auf die Ressour- mehrere Handlungspflichten zur Versorgung von mehreren
cenverteilung bei der Bewältigung der Coronapandemie Patienten mit einem Beatmungsplatz. Dagegen ist nach Auf-
Bislang herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass medizi- fassung des Ethikrates eine ex-post-Konkurrenz gegeben,
nische Auswahlentscheidungen, die wegen mangelnder Res- wenn alle verfügbaren Beatmungsplätze belegt sind (Fortset-
sourcen am Ende dazu führen, dass Patienten zugunsten an- zungs-Triage; im Folgenden 2.).14 Übertragen in rechtliche
derer möglicherweise mit tödlicher Wirkung keine Behand- Kategorien konkurriert hier eine Handlungspflicht zur Beat-
lung mehr erfahren, auf Rechtswidrigkeitsebene zu lösen mungsversorgung eines Patienten mit einer Unterlassungs-
sind.8 Dies hat gleichzeitig zur Folge, dass Ärzte, die sich zu pflicht in Form der Untersagung der aktiven Beendigung der
der schwerwiegenden Entscheidung durchringen, einen Pati- Beatmung bei einem anderen Patienten.
enten – etwa wegen zwar noch gegebener, aber deutlich ge-
ringerer Erfolgsaussichten – zugunsten eines anderen Patien- 1. Die Kollision zweier Handlungspflichten (Aufnahme-
ten nicht mehr zu behandeln, weil die zeitlichen, persönlichen Triage)
oder sächlichen Ressourcen fehlen, grundsätzlich den Tatbe- Innerhalb der ersten Fallgruppe ist wiederum zu unterschei-
stand einer Tötung durch Unterlassen nach §§ 212, 13 StGB den, ob es sich um gleichwertige oder um ungleichwertige
verwirklichen. Schon hieran könnte man freilich zweifeln, Handlungspflichten handelt.
weil fraglich erscheint, wie sich der Arzt, der in einer Man-
gellage nur eine von zwei ihm zur Verfügung stehenden a) Kollision gleichwertiger Handlungspflichten
Möglichkeiten ergreifen kann und dies letztlich auch tut, dem aa) Grundsätzliche Rechtfertigung bei Pflichterfüllung im
Vorwurf der Pflichtverletzung aussetzen kann. Insoweit liegt Rahmen des Möglichen
die Forderung nahe, den Grundsatz des „ultra posse nemo
Bei der Kollision zweier gleichwertiger Handlungspflichten,
obligatur“ bereits als Tatbestandsausschluss durchschlagen zu
von denen aber nur eine erfüllt werden kann, wird von der
lassen. Auf diesen Gesichtspunkt wird noch später (IV. 1. d)
h.M.15 eine Rechtfertigung angenommen, wenn der Täter
bei der Pflichtenkollision zurückzukommen sein. Für die
wenigstens einer Pflicht nachkommt, wenn also etwa der
vorliegende Untersuchung soll allerdings zunächst die ganz
Garant von zwei ihm anvertrauten Personen nur eine retten
herrschende Meinung zugrunde gelegt werden, wonach we-
kann und dies auch tut. Die Rechtfertigung folgt hier daraus,
gen fehlender Verrechenbarkeit der Pflichten nur eine Lösung
dass das Recht als Verhaltensordnung mit seinen Geboten
auf Rechtfertigungsebene in Frage kommt.9 Die konkreten
nichts Unmögliches verlangen kann, weshalb der Verpflichte-
Rechtfertigungsmöglichkeiten richten sich dabei unter Zu-
te eine Wahlmöglichkeit habe, mit der Folge, dass seine Ent-
grundelegung der h.M. nach Art und Umfang der kollidieren-
scheidung, wie auch immer sie ausfällt, vom Recht akzeptiert
den Pflichten.10 Dabei ist zunächst die Grundsatzunterschei-
wird.16 Bezogen auf die Auswahlentscheidungen, die Medi-
dung zu treffen, ob zwei Handlungspflichten kollidieren oder
ziner bei Covid-19-Erkrankten treffen müssen, könnte man
ob eine Handlungs- und eine Unterlassungspflicht aufeinan-
hier etwa an den Fall denken, in dem für zwei gleich schwer
dertreffen.11 Von dieser Grundüberlegung geht letztlich auch
Betroffene nur ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht und
die ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats vom 27. März
der Arzt sich daher für einen der beiden entscheiden muss.
2020 aus, wenn dort zwischen der Triage bei ex-ante-
An dieser Stelle soll nicht übersehen werden, dass es auch
Konkurrenz und der Triage bei ex-post-Konkurrenz unter-
eine Auffassung gibt, die selbst bei der Kollision gleichwer-
schieden wird.12 Als ex-ante-Konkurrenz werden dort ersicht-
tiger Handlungspflichten nur von einer Entschuldigungsmög-
lich diejenigen Fälle angesehen, in denen die Zahl der unbe-
lichkeit ausgeht.17 Begründet wird dies vor allem damit, dass
setzten Beatmungsplätze kleiner ist als die Zahl der Patienten,
demjenigen, dem in einer Pflichtenkollision keine Rettung
die ihrer akut bedürfen (Aufnahme-Triage; im Folgenden
durch den Handlungspflichtigen zuteilwird, ein Notwehrrecht

https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-
13
Dateien/Pressekonferenzen/pk-2020-04-07-dabrock- Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates vom 27.
augsberg.pdf (14.4.2020); siehe dazu näher unten IV. 2. März 2020, S. 4, 3b Spiegelstrich 1.
8 14
Vgl. Erb, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommen- Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates vom 27.
tar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 41; März 2020, S. 4, 3b Spiegelstrich 2.
15
Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor § 32 ff. Rn. 74. Erb (Fn. 8), § 34 Rn. 41; Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor
9
Erb (Fn. 8), § 34 Rn. 41; Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor § 32 § 32 ff. Rn. 73.
16
ff. Rn. 74. Erb (Fn. 8), § 34 Rn. 41; Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor
10
Vgl. etwa Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, § 32 ff. Rn. 73, 74.
17
Kommentar, 67. Aufl. 2020, Vor § 32 Rn. 11 ff.; Sternberg- So etwa Momsen/Savic, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.),
Lieben (Fn. 7), Vor § 32 ff. Rn. 71/72. Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand:
11
Kühl, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 1.11.2019, § 34 Rn. 24; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des
29. Aufl. 2018, § 35 Rn. 15; Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 33 V. 2.;
§ 32 ff. Rn. 71/72. Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
12
Vgl. ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrates vom Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 5. Aufl. 2017,
27. März 2020, S. 4. Vor § 32 Rn. 174; Fischer (Fn. 10), Vor § 34 Rn. 11a, 15.
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Beurteilung der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Angesicht der Corona-Triage
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zur zwangsweisen Durchsetzung seiner eigenen Rettung nicht verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften, u.a. der
abgesprochen werden dürfe. Dem ist aber entschieden zu Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und
widersprechen. Würde man in einer Triage-Situation dem Notfallmedizin, herausgegebenen Empfehlungen zur Ent-
einen Schwerverletzten ein Notwehrrecht zubilligen, so scheidungsfindung bei nicht ausreichenden Intensiv-Ressour-
müsste das gleiche Recht dem anderen Schwerverletzten cen,22 an denen sich der Arzt orientieren kann, durchaus
zustehen und auch er könnte daher den Arzt gerechtfertigt sinnvoll. Dort werden Indikatoren für eine geringere Erfolgs-
dazu zwingen, ihm zu Hilfe zu kommen. Wenn also beide aussicht der Behandlung angeführt.23 Genannt sind in dem
bewaffnet wären, könnte dies dazu führen, dass sie im Ergeb- Papier insbesondere aktuelle Erkrankungen (und hier vor
nis jede Rettung gerechtfertigt blockieren könnten. Dieses allem der Schweregrad der Erkrankung, etwa in Form eines
Teufelskreisargument zeigt, dass eine bloße Entschuldigung akuten Lungenversagens; begleitende akute Organversagen;
das Rechtsinstitut der Pflichtenkollision im Ergebnis ad ab- gegebenenfalls prognostische Marker für Covid-19-Patien-
surdum führen würde.18 ten). Erwähnt ist auch der allgemeine Gesundheitsstatus (der
etwa durch Gebrechlichkeit herabgesetzt sein kann); schließ-
bb) Gleichwertigkeit der Handlungspflichten trotz unter- lich werden auch Komorbiditäten mit deutlich eingeschränk-
schiedlicher Erfolgsaussichten beim Aufeinandertreffen ter Langzeitprognose namhaft gemacht (wie chronische Or-
von Lebensgefahren ganversagen, schwere Organ-Dysfunktion, weit fortgeschrit-
Die schwierigsten Probleme stellen sich bei der Kumulierung tene neurologische Erkrankungen, weit fortgeschrittene onko-
von Lebensgefahren. Bei Brech heißt es hierzu: „Kollidieren logische Erkrankungen oder schwere Immunschwächen). 24
wie im Fall der Triage mehrere menschliche Leben derart All dies sind selbstverständlich Merkmale, die dem Arzt in
miteinander, dass nicht alle Leben gerettet werden können, so der konkreten Entscheidungssituation Anhaltspunkte geben
muss auch hier im Sinne eines maximalen Interessenschutzes können. Jedoch sollte man die Rechtfertigung nicht von der
das Ausmaß des drohenden Schadens (also der Toten) so strikten Befolgung dieser Empfehlungen abhängig machen.
niedrig wie möglich gehalten werden. D.h. höherwertig ist Vielmehr muss eine Rechtfertigung auch dann möglich sein,
diejenige Handlungspflicht, bei der so viele Menschenleben wenn sich der Arzt in seiner Konfliktlage für die Rettung
wie möglich gerettet werden. Andernfalls handelt die triagie- auch nur eines Menschenlebens entscheidet, das in seiner
rende Person rechtswidrig.“19 Unabwägbarkeit nicht geeignet ist, eine Minderwertigkeit der
Dies ist freilich eine fragwürdige Betrachtung, da es ei- einen Handlungspflicht gegenüber der anderen zu begrün-
nem strafrechtlichen Grundsatz entspricht, dass Menschenle- den.25 Dem entspricht es auch, dass die h.M. als subjektives
ben weder relativierbar noch quantifizierbar sind.20 Zwar Rechtfertigungselement der rechtfertigenden Pflichtenkollisi-
stammt dieser Grundsatz aus der Diskussion um eine mögli- on nur ein Handeln in Kenntnis der rechtfertigenden Situation
che Notstandsrechtfertigung im Wege der Abwägung von verlangt.26 Eine pflichtgemäße Prüfung oder ein achtenswer-
Leben. Jedoch wäre es widersprüchlich, dieses Prinzip bei tes Motiv ist danach nicht erforderlich. Dies ist nur erklärbar,
§ 34 StGB uneingeschränkt anzuwenden und im Rahmen der wenn man den Standpunkt zugrunde legt, dass Menschenle-
rechtfertigenden Pflichtenkollision wieder aufzugeben. Die
Unabwägbarkeit menschlichen Lebens muss daher grundsätz- 22
Vgl. Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Ver-
lich auch bei der Triage zu dem Ergebnis führen, dass der einigung für Intensiv-und Notfallmedizin (DIVI), der Deut-
Arzt gerechtfertigt ist, selbst wenn er sich für die Rettung schen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akut-
desjenigen Patienten entscheidet, der weniger Überlebensaus- medizin (DGINA), der Deutschen Gesellschaft für Anästhe-
sichten hat. Würde man dies anders sehen, so liefe der Arzt siologie und Intensivmedizin (DGAI), der Deutschen Gesell-
auch stets Gefahr, sich falsch zu entscheiden und einer Straf- schaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin
barkeit nach § 222 StGB ausgesetzt zu sein. Denn nimmt der (DGIIN), der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und
Arzt in der Situation der Triage bei zwei Patienten ein Risiko Beatmungsmedizin (DGP), der Deutschen Gesellschaft für
im Verhältnis von 60 zu 40 an, während es in Wahrheit genau Palliativmedizin (DGP) und der Akademie für Ethik in der
umgekehrt liegt, so könnte ihn nur noch die Berufung auf Medizin (AEM) vom 25. März 2020, im Folgenden: Covid-
einen Erlaubnistatbestandsirrtum vor einer Vorsatzbestrafung 19-Empfehlungen.
schützen. Die Fahrlässigkeitsbestrafung wäre davon jedoch 23
Hier und im Folgenden Covid-19-Empfehlungen (Fn. 22),
unberührt.21 Allerdings sind diese Überlegungen theoreti- S. 6, 12.
scher Natur, weil sich der Arzt in der kritischen Situation 24
Covid-19-Empfehlungen (Fn. 22), S. 7.
selbstverständlich dafür entscheiden wird, eine möglichst 25
So möglicherweise auch Zimmermann, LTO v. 23.3.2020,
große Zahl der Patienten zu retten. Daher sind auch die von abrufbar unter
https://www.lto.de/persistent/a_id/40967/ (7.4.2020);
18
Dazu schon Jäger, in: Stein/Greco/Jäger/Wolter (Hrsg.), Hilgendorf, LTO v. 27.3.2020, abrufbar unter
Festschrift für Klaus Rogall zum 70. Geburtstag, 2018, https://www.lto.de/persistent/a_id/41115/ (7.4.2020),
S. 171 (176). der fordert, dass der Arzt in derartigen Situationen gerechtfer-
19
Brech, Triage und Recht, 2008, S. 351. tigt sein sollte, wie auch immer er sich entscheidet, soweit er
20
Erb (Fn. 8), § 34 Rn. 116 ff.; Fischer (Fn. 10), § 34 Rn. 14 f. in einem vertretbaren Rahmen handelt.
21 26
Vgl. dazu Joecks, in: Joecks/Miebach (Fn. 8), § 16 Rn. 123 Vgl. statt vieler Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor § 32 ff.
ff. Rn. 77.
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Christian Jäger/Johannes Gründel
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ben einer Abwägung nicht zugänglich sind.27 Anders verhält Kreislauf-Patienten) um Beatmungsplätze. So ist durchaus
es sich freilich, wenn eine Rettung bereits gänzlich ausge- denkbar, dass sich etwa aus einer Patientenverfügung ergibt,
schlossen erscheint. Dann aber ist die Behandlung bereits dass eine Person in ihrem konkreten Krankheitszustand oh-
nicht mehr indiziert, mit der Folge, dass eine Handlungs- nehin keine Weiterbehandlung mehr wünscht. Dann liegt
pflicht zugunsten der konkreten Person nicht mehr besteht. bereits eine mögliche Rechtfertigung für einen Abbruch vor,
Dementsprechend kann in einem solchen Fall auch nicht von sodass es an einer Kollisionslage durch gleichwertige Hand-
der Kollision zweier gleichrangiger Handlungspflichten aus- lungspflichten fehlt.
gegangen werden.
2. Die Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht
b) Kollision ungleichwertiger Handlungspflichten Kein Fall der rechtfertigenden Pflichtenkollision soll nach
aa) Ungleichwertigkeit der Handlungspflichten wegen klaren herrschender Meinung vorliegen, wenn nicht zwei Hand-
Rechtsgutgefälles lungspflichten, sondern eine Handlungspflicht mit einer Un-
Unbestritten ist, dass der in einer Pflichtenkollision Befindli- terlassungspflicht kollidiert.32 Diese Fälle der Pflichtenkolli-
che dann gerechtfertigt ist, wenn er die eindeutig höherwerti- sion unterliegen nach herkömmlicher Auffassung ausschließ-
ge Handlungspflicht auf Kosten der geringwertigen erfüllt.28 lich und unmittelbar den Notstandsregeln, da die Pflichten-
In diesem Fall wird aber bereits regelmäßig eine Rechtferti- kollision nur ein Wahlrecht zur Normbefolgung, aber kein
gung nach § 34 StGB möglich sein.29 So liegt der Fall etwa, Eingriffsrecht zur Normverletzung geben kann.33 So liegt
wenn der Arzt einen zwar behandlungsbedürftigen, aber nicht etwa keine rechtfertigende Pflichtenkollision vor, wenn der
lebensgefährlich betroffenen Patienten auf die Normalstation Vater, der von zwei an sich klammernden Kindern nur eines
verbringen lässt und die Rettung des schwer betroffenen retten kann, das andere dadurch tötet, dass er es unter Wasser
einleitet. Dieser Fall ist nach Notstandsregeln zu behandeln, drückt, um wenigstens mit dem einen Kind an Land zu kom-
sodass wegen des sich hier schon aus dem Rechtsgütergefälle men. Übertragen auf die Corona-Fälle führt dies zu einer
ergebenden klaren Interessenübergewichts eine Rechtferti- bislang viel zu wenig beachteten Problematik: Eine gerecht-
gung nach § 34 StGB möglich ist. Hiervon gehen letztlich fertigte Auswahl unter zwei Patienten könnte möglicherweise
auch die Covid-19-Empfehlungen30 aus, wenn dort in einem nur dann erfolgen, wenn nicht bereits einer von ihnen an
ersten Schritt die Frage nach der intensivmedizinischen Be- einem Beatmungsgerät angeschlossen ist. So scheint dies
handlungsnotwendigkeit aufgeworfen wird und die Lösung auch der Ethikrat zu sehen, wenn es in dessen ad-hoc-
des Konflikts im Falle der Verneinung in einer Verlegung auf Empfehlung zur ex-post-Konkurrenz heißt:
eine Allgemeinstation gesehen wird.
„In diesem Szenario, in dem alle verfügbaren Beat-
bb) Ungleichwertigkeit der Handlungspflichten bei auf einem mungsplätze belegt sind, müsste – bei für alle Versorgten
Rechtfertigungsgrund beruhender Nichterfüllung fortbestehender Indikation, deren Feststellung der ärztli-
chen Urteilskraft obliegt – die lebenserhaltende Behand-
Sofern die mangelnde Erfüllung einer Handlungspflicht
lung eines Patienten beendet werden, um mit dem dafür
durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist, kann man
erforderlichen medizinischen Gerät das Leben eines ande-
ebenfalls nicht von einer Gleichwertigkeit der Handlungs-
ren zu retten. Solche Entscheidungen sind erheblich prob-
pflichten ausgehen, zumal es dann ersichtlich an einer Kolli-
lematischer. Hier können Grenzsituationen entstehen, die
sionslage fehlt.31 Auch diese Fälle können im hier interessie-
für das behandelnde Personal seelisch kaum zu bewälti-
renden Zusammenhang der Triage im Rahmen der Corona-
gen sind. Wer in einer solchen Lage eine Gewissensent-
pandemie durchaus relevant werden. Zwar wird der Fall
scheidung trifft, die ethisch begründbar ist und transpa-
selten, wenngleich nicht ausgeschlossen, sein, dass ein Co-
renten – etwa von medizinischen Fachgesellschaften auf-
vid-19-Erkrankter zugunsten eines anderen sein Leben opfert,
gestellten – Kriterien folgt, kann im Fall einer möglichen
indem er selbst auf Weiterbehandlung zugunsten eines ande-
(straf-)rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens mit einer
ren verzichtet. Jedoch konkurrieren Corona-Patienten nicht
entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rechnen.
nur untereinander, sondern gegebenenfalls auch mit anderen
Objektiv rechtens ist das aktive Beenden einer laufenden,
Erkrankten (etwa mit schwer Krebskranken oder mit Herz-
weiterhin indizierten Behandlung zum Zweck der Rettung
eines Dritten jedoch nicht. Hier muss an den oben formu-
27
Näher hierzu unten IV. 2. a). lierten prinzipiellen Imperativ erinnert werden: Auch in
28
Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor § 32 ff. Rn. 73; Erb (Fn. 8), Katastrophenzeiten hat der Staat die Fundamente der
§ 34 Rn. 41. Rechtsordnung zu sichern.“34
29
Vgl. dazu etwa für den Fall der Konkurrenz von leichter
32
und schwerer bzw. lebensgefährlicher Verletzung Schlehofer, Vgl. statt vieler Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 7), § 34
in: Joecks/Miebach (Fn. 8), Vor § 32 Rn. 247; Rönnau, JuS Rn. 4.
33
2013, 113 (114); Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor § 32 ff. Erb (Fn. 8), § 34 Rn. 41; Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor
Rn. 74 m.w.N. § 32 ff. Rn. 71/72; Perron (Fn. 32), § 34 Rn. 4.
30 34
Vgl. Covid-19-Empfehlungen (Fn. 22), S. 6, 12. Abrufbar unter
31
Vgl. Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht, https://apps.ethikrat.org/i-net/dl/0752882001585229198.pdf
Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2016, § 21 Rn. 97. (7.4.2020).
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Hier wird ganz deutlich, dass eine Rechtfertigung aus Sicht eine Gefahrengemeinschaft von mehreren Patienten vorfin-
des Ethikrates nach bereits erfolgter Versorgung mit dem det, die er jedoch wegen Ressourcenknappheit nur zum Teil
Beatmungsgerät nicht mehr möglich ist, selbst wenn die retten kann. Da sich hier alle Patienten in Lebensgefahr be-
Aussichten des Patienten weit weniger vielversprechend sind finden, liegt der Fall anders als der berühmte Weichensteller-
als diejenigen des neu hinzukommenden Covid-19-Erkrank- Fall. Dort lenkt der Weichensteller einen führerlosen Zug zur
ten. Damit folgt der Ethikrat dem Dogma der bisher ganz Rettung von zehn auf den Gleisen spielenden Kindern um
h.M., wonach eine rechtfertigende Pflichtenkollision nur und bewirkt auf diese Weise, wie von ihm vorhergesehen,
dann gegeben sein kann, wenn gleichrangige Handlungs- dass zwei zuvor ungefährdete Gleisarbeiter getötet werden. 39
pflichten kollidieren (zwei Patienten kommen in die Klinik- Dagegen befinden sich in den hier zu beurteilenden Fällen
aufnahme und es steht nur ein Beatmungsgerät zur Verfü- alle Patienten in Lebensgefahr, sodass eine Entschuldigung
gung, das für eine Erfüllung der Handlungspflichten, nämlich wegen übergesetzlichen entschuldigenden Notstands analog
die Rettung der beiden, nicht ausreicht).35 Nicht dagegen ist § 35 StGB durchaus naheliegt. Der Verantwortungsausschlie-
eine Rechtfertigung möglich, wenn die Handlungspflicht ßungsgrund des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands
(Rettung des einen Patienten durch Anschließen an das Be- beruht dabei nach einer starken Literaturauffassung – anders
atmungsgerät) mit der Unterlassungspflicht (Unterlassen der als etwa § 20 StGB – nicht auf einer fehlenden normativen
Tötung des anderen durch Abnahme vom Beatmungsgerät) Ansprechbarkeit, sondern auf der Anerkennung einer fehlen-
kollidiert.36 Dies führt freilich zu der merkwürdigen Situati- den präventiven Bestrafungsnotwendigkeit. Die Gesellschaft
on, dass gegebenenfalls wenige Minuten der konkreten Ein- hat für den Täter in seiner Konfliktsituation Verständnis und
lieferungszeitpunkte darüber entscheiden, ob der Arzt ge- verzichtet daher auf Strafe, gerade weil der übergesetzliche
rechtfertigt oder nur entschuldigt sein kann.37 Die juristischen entschuldigende Notstand auf einer sozialethischen Konflikt-
Folgen sind dabei zumindest nach h.M. elementar: Ist der lösung beruht. Dies aber sollte dann auch zu einem sozial-
Arzt bei der Konkurrenz von Handlungs- und Unterlassungs- ethischen Ausschluss des Nothilferechts führen.40 Selbst der
pflicht nicht gerechtfertigt, sondern nur entschuldigt, so Ehemann müsste hier daher mit Blick auf die Ausübung
könnte nach herkömmlicher Auffassung ein Ehemann den seines Nothilferechts als Teil der Gesellschaft Verständnis für
Arzt niederschießen, wenn Letzterer im Begriff ist, seine den Täter aufbringen und wäre allenfalls seinerseits nach § 35
Frau vom Beatmungsgerät zu trennen.38 Dies wirft freilich StGB entschuldigt, wenn er den Arzt gewaltsam an einer
die Frage auf, ob eine Nothilfebefugnis gegen entschuldigtes Trennung seiner Frau vom Beatmungsgerät hindern würde.
Verhalten stets zu gewähren ist (sogleich III.) und noch Lediglich das – allerdings sehr theoretische – Notwehrrecht
grundsätzlicher, ob das strenge Dogma der Notwendigkeit eines Patienten bliebe insoweit erhalten, da dieser selbstver-
einer Konkurrenz von zwei gleichwertigen Handlungspflich- ständlich das gesellschaftliche Verständnis nicht in gleicher
ten für die rechtfertigende Pflichtenkollision für die Fälle der Weise zu teilen hätte, weil er als unmittelbar Betroffener
Triage überdacht werden muss (anschließend IV.). gerade kein Extraneus wäre.41 Jedenfalls zeigt sich, dass die
Gewährung eines Nothilferechts auch bei Bejahung einer
III. Die Rechtsfolgen einer bloßen Entschuldigungslösung Entschuldigungslösung keinesfalls zwingend vorgezeichnet
Sofern man die vom Ethikrat in Bezug genommene h.M. als wäre. Dies entbindet allerdings nicht von der Beantwortung
richtig unterstellen und daher annehmen würde, dass bei der der weitergehenden Frage, ob die Annahme einer bloßen
ex-post-Triage allenfalls eine Entschuldigung des Arztes Entschuldigung im Falle der ex-post-Triage rechtlich plausi-
infrage kommt, so würde sich tatsächlich das von Kubiciel bel erklärbar ist, wenn man im Falle der ex-ante-Triage eine
adressierte Folgeproblem anschließen, ob der Ehemann den Rechtfertigung zulässt.
Arzt in Nothilfe erschießen dürfte, um eine Trennung seiner
Frau vom Beatmungsgerät zu verhindern.
Zwingend wäre die Bejahung eines Nothilferechts des
Ehemanns allerdings selbst dann nicht. Denn der Verantwor-
tungsausschluss des Arztes würde hier in einem übergesetzli- 39
In diesem Weichensteller-Fall kann man wegen der Tötung
chen entschuldigenden Notstand begründet liegen, da dieser zuvor gänzlich Ungefährdeter an einer Entschuldigung zwei-
feln, vgl. Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht, Allgemei-
35
Vgl. nur Erb (Fn. 8), § 34 Rn. 41; Sternberg-Lieben ner Teil, 9. Aufl. 2019, Rn. 208.
40
(Fn. 7), Vor § 32 ff. Rn. 73. Vgl. zur Herleitung des übergesetzlichen entschuldigenden
36
Erb (Fn. 8), § 34 Rn. 40; Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor Notstands aus dem Gesichtspunkt der fehlenden Bestrafungs-
§ 32 ff. Rn. 75; Rönnau, JuS 2013, 113 (114 f.). notwendigkeit Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1,
37
Näher dazu unten IV. 1. a). 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 145 ff. Zum daraus abzuleitenden
38
Hierauf weist Kubiciel auf Twitter (abrufbar unter Ausschluss des Nothilferechts bereits Jäger, ZStW 115
https://twitter.com/m_kubiciel/status/1243109066878136320 (2003), 765 (788 f.); im Anschluss hieran auch Roxin, a.a.O.,
[7.4.2020]) zu Recht kritisch hin, wenn es bei ihm heißt: § 22 Rn. 151; krit. dagegen zu dieser Art des sozialethischen
„Wenn wir die Tat des Arztes nur entschuldigen, dürfte der Ausschlusses des Nothilferechts Pawlik, JZ 2004, 1045.
41
Ehemann den Arzt niederschießen, wenn letzterer im Begriff Näher Jäger, in: Fahl/Müller/Satzger/Swoboda (Hrsg.),
ist, seine Frau vom Beatmungsgerät zu trennen. Das kann Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, 2015,
nicht sein“. S. 127 (129).
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155
Christian Jäger/Johannes Gründel
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IV. Eigener Ansatz: Die rechtfertigende Pflichtenkollision Beispiel 8: Wie Beispiel 7, diesmal erfolgt die Beatmung
als Auflösung der Konkurrenz zweier Rettungspflichten jedoch jeweils durch ein fest installiertes Beatmungsgerät im
1. Die rechtfertigende Pflichtenkollision beim Behandlungs- GRTW.
abbruch Die Beispiele zeigen in anschaulicher Weise, dass die
h.M., auf die sich auch der Ethikrat in seiner ad-hoc-
a) Widersprüche der herrschenden Meinung
Empfehlung beruft, zu geradezu absurden Ergebnissen ge-
Dass die h.M., deren Auffassung auch der Stellungnahme des langt, indem sie die rechtfertigende Pflichtenkollision auf die
Ethikrats zugrunde liegt, bei medizinischer Ressourcen- Kollision zweier gleichwertiger Handlungspflichten (in den
knappheit und hier insbesondere in Pandemiesituationen, Beispielsfällen die Pflicht zur Beatmung zweier Patienten,
teilweise versagt und die Entscheidung über die (Un-)Recht- obwohl nur ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht) redu-
mäßigkeit rettenden Verhaltens von bloßen Zufällen und ziert. Folge ist nämlich, dass eine Rechtfertigung über den
zweifelhaften Wertungen abhängig macht, zeigen eindrück- Gesichtspunkt der Pflichtenkollision in allen Fällen ausschei-
lich folgende Beispielsfälle: det, in denen ein Patient bereits an das möglicherweise ret-
Beispiel 1: Patienten P und Q werden mit Covid-19- tende Beatmungsgerät angeschlossen wurde, weil dann eine
bedingter Atemnot gleichzeitig in die Intensivstation einge- Handlungspflicht (Rettung des noch unversorgten Patienten)
liefert. Aufgrund der höheren Überlebenschancen schließt und eine Unterlassungspflicht (Gebot einen bereits mit einem
Ärztin A den Q an das letzte freie Beatmungsgerät der Klinik Beatmungsgerät versorgten Patienten nicht aktiv vom Beat-
an. mungsgerät zu nehmen) konkurrieren. Zufälligkeiten ent-
Beispiel 2: Q wird unmittelbar nach dem Anschluss des P scheiden dann über eine mögliche Rechtfertigung, zu der die
an das letzte freie Beatmungsgerät der Klinik eingeliefert. h.M., deren Auffassung auch der Stellungnahme des Ethikra-
Aufgrund der wesentlich höheren Überlebenschancen nimmt tes zugrundeliegt, nur bei der Kollision gleichwertiger Hand-
A den P nun wieder vom Beatmungsgerät und schließt Q an. lungspflichten gelangen kann. Während A in Beispiel 1 da-
Beispiel 3: Diesmal wird Q in dem Zeitpunkt eingeliefert, nach gerechtfertigt ist, handelt sie in Beispiel 2 unter Zu-
in dem P gerade an das Beatmungsgerät angeschlossen wird. grundelegung der h.M. höchstens entschuldigt. Die Bewer-
A erkennt die wesentlich besseren Behandlungschancen des tung von Beispiel 3 hängt dagegen davon ab, ob man wer-
Q und bricht deshalb das Anschließen des P ab und versorgt tungsmäßig im Abbruch der Aufnahme von Rettungsbemü-
Q mit dem Atemgerät. hungen ein aktives Tun oder ein Unterlassen sieht. Im Bei-
Beispiel 4: Die Transportwägen von P und Q kommen spiel 4 hängt die Frage danach, wer beatmet wird – und damit
zeitgleich an der Einfahrt des Krankenhauses an. Da der auch die Frage, ob A im Falle eines Umentscheidens zuguns-
Wagen des P jedoch Vorfahrt hat, wird dieser zuerst eingelie- ten des Q gerechtfertigt oder bestenfalls entschuldigt ist –
fert und daher an das Beatmungsgerät angeschlossen. vom bloßen Zufall der Vorfahrtsregelung ab, während in
Beispiel 5: Diesmal schließt A nicht P an, sondern wartet Beispiel 5 eine Rechtfertigung anzunehmen wäre, sodass der
auf Q, dessen Einlieferung unmittelbar bevorsteht, da sie die A ihr vorheriges behandelndes, und damit potentiell rechts-
Werte von P und Q kennt und daraus zutreffend auf die höhe- gutserhaltendes Verhalten im Vergleich zu Beispiel 4 scha-
ren Behandlungschancen bei Q schließt. det. In den Beispielen 6 bis 8 tritt zu diesem Widerspruch
Beispiel 6: Die Covid-19 Patienten P und Q werden zur noch die Frage, auf welche Weise und in welcher Reihenfol-
Einlieferung ins Krankenhaus mit demselben Großraumret- ge die Erstversorgung vorgenommen wird.
tungswagen (GRTW) von zu Hause abgeholt. Da sich Q am All diese Aspekte sind jedoch Zufallsfaktoren, die mit
Beginn der Route des GRTW befindet, P dagegen an deren dem eigentlichen Rangverhältnis der kollidierenden Behand-
Ende, wird Q weiter hinten im GRTW positioniert, sodass P lungspflichten in keinerlei normativem Zusammenhang ste-
zuerst aus dem GRTW herausgeschoben und in die Intensiv- hen. Deshalb hat der BGH in der Entscheidung „Putz“ zutref-
station gebracht wird. fend festgestellt, dass die Abgrenzung zwischen aktiven
Variante 1: Während das Transportpersonal von der In- Handlungen und passiven Unterlassungen nach Maßgabe der
tensivstation zum GRTW zurückeilt, beginnt A bereits mit in Dogmatik und Rechtsprechung entwickelten Kriterien
dem Anschließen des P. problematisch sei, weshalb es sinnvoll und erforderlich er-
Variante 2: A wartet mit dem Anschließen des P auf Q, scheine, alle Handlungen in diesem Zusammenhang als Be-
um sich ein persönliches Bild vom Zustand beider Patienten handlungsabbruch zusammenzufassen.42 Hier weist Hoven zu
zu machen und entscheidet sich dann aufgrund der besseren Recht darauf hin, dass sich diese Rechtsprechung gut auf die
Behandlungschancen für Q. Triage-Situation übertragen lässt.43 Denn wenn man hier mit
Variante 3: A kennt die Reihenfolge der Route und die
Behandlungschancen von P und Q, weil die Krankheitswerte
42
bereits während der Fahrt durchgegeben worden sind, sodass BGHSt 55, 191 (202 f.).
43
sie von vornherein beschließt, Q anzuschließen. Hoven, FAZ-Online v. 31.3.2020, abrufbar unter
Beispiel 7: Wie Beispiel 6, allerdings werden P und Q be- https://www.faz.net/einspruch/triage-entscheidungen-auch-
reits im GRTW mittels eines (manuellen) Beatmungsbeutels auf-das-alter-kommt-es-an-16705931.html?premium
unterstützend beatmet, sodass die Behandlung des Q vor (7.4.2020); so offenbar auch Gaede/Kubiciel/Saliger/Tsambi-
derjenigen des P begann. A handelt wie in den Varianten des kakis in einer neuen Stellungnahme, die diesen Ansatz von
Beispiels 6. Hoven ebenfalls aufzugreifen scheint (zitiert nach LTO v.
9.4.2020, abrufbar unter
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ZIS 4/2020
156
Beurteilung der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Angesicht der Corona-Triage
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der h.M. zwischen Handlungs- und Unterlassungspflichten Sterbehilfe auch Fälle des aktiven Tuns in ein normativ ver-
differenzieren würde, würden sich die vom BGH festgestell- standenes Unterlassen umgedeutet. Dies stieß als dogmatisch
ten und in den oben genannten Beispielen verdeutlichten unzulässiger Kunstgriff zu Recht auf Kritik46 und wurde vom
Zufälligkeiten bei der Pflichtenkollision auf die Frage der BGH zugunsten einer einheitlichen Kategorie des Behand-
Rechtfertigung oder der Entschuldigung auswirken. Dies lungsabbruchs aufgegeben.47 Wie Hoven zutreffend feststellt,
hätte aber nach der h.M. zum einen zur Folge, dass dem Pati- lässt sich diese Rechtsprechung auf die rechtfertigende
enten, der aktiv vom Beatmungsgerät genommen wird, kon- Pflichtenkollision übertragen.48 Denn dieselben Zufälligkei-
struktiv ein Notwehrrecht zustünde, zum anderen aber dem ten, die den Unterschied zwischen zulässiger passiver Sterbe-
Arzt mit dem Hinweis, dass eine ex-post-Triage – wie es der hilfe und unzulässiger aktiver Sterbehilfe ausmachen, wirken
Ethikrat formuliert – nicht rechtens sein könne, ein Unrechts- im Pandemiefall gleichermaßen im Verhältnis zwischen zu-
vorwurf gemacht wird, der seinem Handeln in der Situation lässiger Entscheidung bei der Kollision zweier Handlungs-
der Ressourcenknappheit nicht gerecht wird. Die bloße Er- pflichten und vermeintlich unzulässiger Entscheidung bei der
möglichung einer Entschuldigung, zu der sich der Ethikrat Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflichten.
nicht einmal klar bekennt, bürdet dem Arzt in der kritischen Beispielhaft: Wenn ein Arzt in einem Katastrophenfall bei
Situation eine Verantwortung auf, die seiner Rolle bei der zwei Verunglückten eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch-
Lebenserhaltung möglichst Vieler nicht gerecht wird, und führen muss, sie aber nur bei einem von beiden durchführen
stigmatisiert ihn dadurch als rechtswidrig handelnd. kann (etwa weil sie an unterschiedlichen Unfallstellen zu
weit voneinander entfernt eingeklemmt sind), dann ist er
b) Die rechtfertigende Pflichtenkollision als Auflösung der gerechtfertigt, wenn er sie auch nur bei einem von beiden
Widersprüche durchführt (z.B. bei dem aussichtsreicheren Verunglückten).
Die oben unter III. angestellten Überlegungen, denen ein Aber auch wenn er die Mund-zu-Mund-Beatmung bereits bei
lediglich entschuldigtes Verhalten der Ärzte in der ex-post- einem Verunglückten durchführt und erst dann bemerkt, dass
Triage zugrunde gelegt wurde, befreien das medizinische es sich um ein wenig aussichtsreiches Unterfangen handelt,
Personal weder vom Stigma des rechtswidrigen Handelns weshalb er von diesem ablässt und sich dem andern zuwen-
noch verhindern sie ein Notwehrrecht des angeschlossenen det, stellt sich dies für den Betroffenen als Unterlassen dar.
Patienten, der den behandelnden Arzt gegebenenfalls sogar Hier würde niemand daran zweifeln, dass das Nichtfortsetzen
töten dürfte. Doch es ist auch dogmatisch nicht überzeugend, der Mund-zu-Mund-Beatmung ein Unterlassen darstellt, auch
den Unterschied zwischen gerechtfertigtem und rechtswidri- wenn sich der Arzt aktiv der anderen Person zuwendet. Auch
gem, allenfalls entschuldigtem Verhalten von Zufälligkeiten diese Rettungsverlagerung wäre daher zweifelsfrei einer
in den Abläufen wie den in den Beispielen 1 bis 8 beschrie- rechtfertigenden Pflichtenkollision zugänglich, weil zwei
benen, aber auch der technischen Gestaltung der bei der Be- Handlungspflichten (Beginn der Beatmung bei X und Fort-
handlung eingesetzten Maschinen abhängig zu machen. Wür- setzung der Beatmung bei Y) kollidieren. Soll sich dann
de man das Beatmungsgerät nämlich derart gestalten,44 dass ernsthaft an dieser Beurteilung etwas ändern können, nur weil
es stündlich einen positiven Impuls zur Fortsetzung der Be- der Arzt die Beatmung nicht mit dem Mund, sondern mit
atmungstätigkeit bräuchte, läge zweifellos ein Unterlassen einer Maschine durchführt, von der er den X zunächst ab-
vor, wenn der Arzt völlig untätig bliebe und deshalb diesen nehmen muss? Dies wäre geradezu absurd und sachlich nicht
positiven Impuls nicht setzen würde. Dies hätte zur Folge, gerechtfertigt.
dass er aufgrund einer rechtfertigenden Pflichtenkollision In Wahrheit kollidieren hier nämlich nicht zwei Hand-
gerechtfertigt wäre, wenn diese Untätigkeit darauf beruht, lungspflichten oder eine Unterlassungspflicht („Unterlasse es,
dass er den Patienten nach dessen Tod vom Beatmungsgerät X von der Beatmungsmaschine zu nehmen!“) mit einer
nehmen und dieses einem anderen Patienten mit höheren Handlungspflicht („Beatme Y!“), sondern zwei Behand-
Überlebenschancen zur Verfügung stellen möchte. Zieht er lungspflichten miteinander. Dabei bezieht sich eine Behand-
dagegen aktiv den Stecker eines Beatmungsgeräts, wäre er lungssituation und damit auch eine Behandlungspflicht, wie
nach h.M. nicht gerechtfertigt, da die Unterlassungspflicht
bei der Pflichtenkollision der Handlungspflicht vorgehen soll.
Dies würde wohl auch für ein solches Impulsgerät gelten, bei 46
Vgl. nur zur alten Auffassung allg. Eser, in: Schönke/
dem der Stecker, unmittelbar bevor der Impuls gesendet Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, Vor
werden müsste, gezogen würde, obwohl hier der Tod zur §§ 211 ff. Rn. 21 ff.; Fischer (Fn. 10), 57. Aufl. 2010, Vor
selben Zeit und in derselben Gestalt eintreten würde. Um §§ 211–216 Rn. 16 ff.; Otto, NJW 2006, 2217; Roxin, in:
solche Ungleichbehandlungen zu verhindern, hatte die frühe- Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts,
re h.L.45 vor dem Hintergrund der konsentierten passiven 4. Aufl. 2010, S. 83 ff.; vgl. auch Sterbehilfe und Sterbebe-
gleitung, Bericht der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz
https://www.lto.de/persistent/a_id/41273/ [14.4.2020]). v. 23.4.2004, S. 64 ff.
44 47
Beispiel nach Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, BGHSt 55, 191 (202 f.).
48
2003, § 31 Rn. 116. Hoven, FAZ-Online v. 31.3.2020, abrufbar unter
45
Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom- https://www.faz.net/einspruch/triage-entscheidungen-auch-
mentar zum Strafgesetzbuch, 2017, Bd. 4, 3. Aufl. 2017, Vor auf-das-alter-kommt-es-an-16705931.html?premium
§ 211 Rn. 98. m.w.N. (7.4.2020).
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157
Christian Jäger/Johannes Gründel
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der BGH zu Recht feststellt,49 fast regelmäßig auf eine Viel- eines davon retten kann, indem sie dessen Rollstuhl schiebt.53
zahl von aktiven Handlungen und passiven Unterlassungen, Da sie den Rollstuhl des B aufgrund geringerer Reibung für
sodass ein Herunterbrechen auf eine Handlungs- bzw. Unter- schneller und leichter zu schieben hält, rennt sie gleich zu B
lassungspflicht nicht sachgerecht erscheint. Akzeptiert man und rettet diesen, während A vom Löwen gefressen wird.
dagegen, dass hier zwei Behandlungspflichten miteinander Hier würde niemand an einer rechtfertigenden Pflichtenkolli-
kollidieren, sind diese beim Rechtsgut Leben aufgrund des- sion zweifeln.
sen Unabwägbarkeit als gleichwertig zu betrachten,50 sodass Dann muss aber auch eine Rechtfertigung kraft Pflichten-
dem Arzt die freie Wahl bleibt, ob er die bereits laufende kollision möglich sein, wenn die Mutter zunächst das ihr
Behandlung fortsetzt oder die Behandlung des neuen Patien- näher befindliche Kind A schiebt, kurz darauf aber erkennt,
ten aufnimmt. Gerechtfertigt ist er in beiden Fällen. dass der Rollstuhl des A aufgrund eines verformten Reifens
schwergängig ist, wodurch die Fluchtchancen geringer sind
c) Auf der Suche nach dem höheren Prinzip als mit B, deshalb den Rollstuhl des A loslässt und, während
Zurück bleibt ein ungutes Gefühl, hier ein „Sonderrecht für A ausrollt, zum Rollstuhl des B eilt, den sie dann vom Löwen
Ärzte“ zu schaffen, wenn man der Kollision (gleichwertiger) wegschiebt. Denn in diesem Fall befinden sich A und B in
Behandlungspflichten eine rechtfertigende Wirkung zu- einer Gefahren- und Rettungsgemeinschaft, aufgrund der
spricht. Doch tatsächlich handelt es sich bei der Kollision begrenzten personellen Ressourcen ist jedoch nur die Rettung
zweier Behandlungspflichten nicht um ein Sonderrecht für eines Kindes möglich, wenngleich nicht sicher. Dies ent-
Ärzte, sondern um die spezielle Ausprägung eines höheren spricht letztlich der Behandlungssituation: Der Löwe ent-
Prinzips. spricht der Atemnot54, die allein vor Ort befindliche Mutter
entspricht dem Arzt mit nur einem einzigen zur Verfügung
aa) Unzulässigkeit der allgemeinen Gleichsetzung von stehenden Beatmungsplatz, die Kinder entsprechen den Pati-
Handlungs- und Unterlassungspflichten enten. Sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behand-
lung gegenüber dem Arzt sind nicht ersichtlich.
Hoven erblickt dieses höhere Prinzip ganz offensichtlich in
Dass der Pflichtenkollision das übergeordnete Prinzip der
der Gleichwertigkeit von Unterlassen i.S.d. § 13 StGB und
Gefahren- und Rettungsgemeinschaft zugrunde liegt, zeigt
aktivem Tun. Bei ihr heißt es hierzu mit Blick auf die h.A.:
auch folgender Fall:
„Eine Mutter soll etwa nicht Kind A dem Löwen zum Fraß
Feuerwehrmann F löscht mithilfe einer Pumpe, mit der er
vorwerfen dürfen, damit er Kind B verschont – gerechtfertigt
Wasser aus einem Teich saugt, eines von zwei Häusern, in
ist sie hingegen, wenn sie nichts unternimmt und Kind B
denen sich jeweils eine Person befindet (in einem Haus der
stirbt. Ob diese Sichtweise zwingend ist, kann – und sollte –
X, im anderen der Y) und in denen beide (X und Y) vom
man hinterfragen.“51 Jedoch führt die Hinterfragung gerade
Feuer eingeschlossen um Hilfe rufen. A kann nur ein Haus
dieses Falles zu der Lösung, dass eine rechtfertigende Pflich-
löschen, da nur eine Pumpe mit einem Schlauch zur Verfü-
tenkollision ausgeschlossen sein muss. Denn das erstgenann-
gung steht. A beginnt sofort mit dem Löschen des Hauses des
te Verhalten der Mutter stellt mit Bezug auf das Opfer (Kind
X, weil er davon ausgeht, dass das Löschen und damit die
A) gerade kein Laufenlassen der ursprünglichen Gefahr durch
Rettung des X leichter möglich sein wird, während er bei
bloße Rettung des anderen Kindes dar, sondern die Mutter
einem Löschbeginn mit dem Haus des Y eher für möglich
erhöht hier das Risiko für das Kind A sogar, indem es dieses
hält, dass er letzteren doch nicht mehr retten kann. Hier wür-
dem Löwen zum Fraß vorwirft. Hiergegen muss sich das
de niemand an einer rechtfertigenden Pflichtenkollision zwei-
Kind aber im Wege der Notwehr widersetzen dürfen.52 Das
feln.
Abschneiden des Rechtfertigungsgrundes für das Kind A
Dann muss aber auch eine Rechtfertigung kraft Pflichten-
wäre hier grob unbillig.
kollision in Betracht kommen, wenn F nach kurzem Löschen
des Hauses des Y feststellt, dass das Feuer bei diesem – ent-
bb) Rettungspflichten als allgemeine Pflichtenform
gegen seiner ursprünglichen Erwartung – doch schon zu weit
Anders sähe es jedoch aus, um Hovens Beispiel abzuwan- vorangeschritten ist und die Aussichten auf Löschung des
deln, wenn Kind A und Kind B beide in einem Rollstuhl Hauses des X und damit dessen Rettung aussichtsreicher ist.
sitzend von einem Löwen verfolgt werden und die Mutter nur Für den Y stellt sich das aktive Umlenken des Schlauches auf
das Haus des X nämlich dennoch als ein Unterlassen der
Fortsetzung seiner (des Y) Rettung dar, weil er mit der ur-
sprünglichen Gefahr des Feuers allein gelassen wird.
49 All diesen Fällen ist gemein, dass der Retter zunächst eine
BGHSt 55, 191 (202 f.).
50 aus Effizienzgesichtspunkten falsche, aus seiner späteren
Zur grundsätzlichen Unabwägbarkeit menschlichen Lebens
Jäger, ZStW 115 (2003), 765.
51 53
Hoven, FAZ-Online v. 31.3.2020, abrufbar unter Für die Parallele zu den Pandemiefällen muss dabei davon
https://www.faz.net/einspruch/triage-entscheidungen-auch- ausgegangen werden, dass der Mutter, genau wie dem Arzt,
auf-das-alter-kommt-es-an-16705931.html?premium keine (akute) Gefahr droht.
54
(7.4.2020). Unabhängig davon, ob die Patienten wegen Covid-19 oder
52
Allgemein zur Notwehrprobe Momsen/Savic (Fn. 17), § 32 einer anderen Erkrankung auf ein Behandlungsgerät ange-
Rn. 13. wiesen sind.
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ZIS 4/2020
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Beurteilung der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Angesicht der Corona-Triage
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Sicht schlechte oder schlicht eine andere Entscheidung ge- Entscheidend ist daher nicht die Situation des Behand-
troffen hat, sei es aufgrund einer tatsächlichen Fehleinschät- lungsabbruchs, sondern viel allgemeiner die Tatsache der
zung oder wegen (durchaus verständlicher) Unkenntnis zu- Nicht-Rettung in der Situation der Ressourcenknappheit. Eine
künftiger Umstände. Hätte er diese Umstände im Vorfeld rechtfertigende Pflichtenkollision liegt daher nicht nur dann
gekannt, die entsprechende Einschätzung zutreffend getroffen vor, wenn angesichts der Mangelsituation die Rettung des
oder hätte er sich schon zu Beginn anders entschieden, könn- einen Rechtsguts zugunsten des anderen Rechtsguts gar nicht
te er sich dabei auf eine rechtfertigende Pflichtenkollision erst aufgenommen wird, sondern auch dann, wenn die bereits
berufen.55 Das nach der h.M. mit ihrer Differenzierung zwi- begonnene Rettung des einen zugunsten des anderen abge-
schen Handlungs- und Unterlassungspflichten gerechtfertigte brochen wird. Maßgeblich muss nämlich die Tatsache sein,
Verhalten würde zu einer Perpetuierung dieses Fehlers zwin- dass auch bei einem späteren Abbruch die schicksalhaft be-
gen, es sei denn, der Retter kann diesen Konflikt durch bloße stehende Gefahr nicht vergrößert wird. Dies wird durch die
(vorübergehende) Untätigkeit auflösen. Dass sich aber ein oben angeführten Löwen- und Feuerwehrmann-Fälle unter-
Garant in einer Konstellation durch Untätigkeit rechtmäßig mauert, in denen sich der Retter jeweils in derselben Kollisi-
verhalten könnte, während das Tätigwerden zugunsten eines onslage wie der Arzt im Falle des Behandlungsabbruchs
anderen Rettungsbedürftigen, also ein pflichtgemäßeres Ver- befindet, weshalb er sich auch auf denselben Rechtferti-
halten als die vorübergehende bloße Untätigkeit beiden Ret- gungsgrund berufen können muss.
tungsbedürftigen gegenüber, rechtswidrig wäre, ist kaum mit Daran erkennt man auch, dass der von Hoven bemühte
dem Sinn der Garantenpflicht vereinbar und bildet einen Rekurs auf die Rechtsprechung des BGH am Ende doch in
nicht hinnehmbaren Wertungswiderspruch. die Irre führt, weil durch ihn verschleiert wird, dass hinter der
Man darf also bei den strafrechtlichen Verhaltenspflichten Rechtfertigung durch Pflichtenkollision ein höheres Prinzip
im Rahmen der Pflichtenkollision nicht, wie klassisch, einen steht. Die Rechtsprechung im Fall „Putz“ betrifft zwar wie in
Dualismus von Handlungs- und Unterlassungspflichten zu- den Coronakonkurrenzen einen Behandlungsabbruch. Darin
grunde legen, sondern man muss eine Trias aus Handlungs-, erschöpft sich aber bereits die Gemeinsamkeit. Der Fall, den
Unterlassungs- und Rettungspflichten anerkennen. Denn in der BGH zu entscheiden hatte, betraf die (mutmaßliche)
Konkurrenzfällen stellt das aktive Tätigwerden zugunsten Einwilligung in einen Behandlungsabbruch und damit einen
einer Person zugleich das passive Unterlassen der Rettung Sachverhalt, in dem nur eine Person betroffen war, zu deren
einer anderen dar. Darüber hinaus ist die Unterscheidung Autonomieverwirklichung, d.h. zu deren Gunsten auf die
zwischen Tun und Unterlassen teilweise von bloßen Zufällig- Differenz von Tun und Unterlassen verzichtet wurde. Der
keiten abhängig und häufig besteht auch die Rettungspflicht BGH wollte damals erreichen, dass der Einzelne den Ab-
einer Person aus Handlungs- und Unterlassungspflichten. bruch seiner Behandlung unter allen Umständen erwirken
Dies entspricht auch dem Wesen der rechtfertigenden kann, gleichviel, ob dies durch ein Untätigbleiben oder durch
Pflichtenkollision, die stets durch zwei Elemente gekenn- ein Handeln (im konkreten Fall: Entfernen einer PEG-Sonde)
zeichnet ist: durch eine Mangelsituation einerseits und durch erreicht werden soll. Aber natürlich kann kein Zweifel daran
ein teilweises Laufenlassen des Geschehens andererseits.56 bestehen, dass das aktive Entfernen der PEG-Sonde gleich-
Dabei kann die Mangelsituation vielfältige Ursachen ha- zeitig auch ein Unterlassungselement in sich trägt, nämlich
ben. Personalknappheit, Materialknappheit, zu hohes Patien- die Unterlassung der Behandlungsfortsetzung. Nur spielt dies
tenaufkommen oder – im schlimmsten Fall – eine Kumulati- im Falle der Betroffenheit einer Person keine Rolle, weil
on der genannten Gründe, wie dies häufig in Katastrophenfäl- dieses Unterlassen durch ein aktives Handeln bewirkt wird.
len zu verzeichnen ist und auch bei der Bekämpfung der In den Fällen der Pflichtenkollision liegt dies aber anders,
Coronapandemie in vielen Ländern der Fall war oder noch weil es dort um die Kollision mehrerer Rechtsgutsträger geht,
ist. nämlich um ein Handeln für eine bestimmte Person, die sich
Hinsichtlich des gerechtfertigten Laufenlassens des Ge- für die andere als Unterlassen mit Blick auf die von Anfang
schehens wird bislang davon ausgegangen, dass stets zwei an bestehende Gefahr darstellt und daher zu deren Lasten
oder mehrere Handlungspflichten kollidieren müssen.57 Der auswirkt. Soweit man dem mit dem Argument entgegentreten
Täter muss also mindestens eine von mehreren Handlungs- möchte, dass es in der Sache „Putz“ um eine Erweiterung des
pflichten unerfüllt lassen, um mindestens eine andere Hand- Schutzes des Patienten ging, während die Anwendung der
lungspflicht erfüllen zu können. Dies ist aber nicht das ent- rechtfertigenden Pflichtenkollision den Rechtsgüterschutz des
scheidende Kriterium. Maßgeblich ist vielmehr, dass sich das Patienten wieder verkürzt, ist dem der Unterschied zwischen
Verhalten des Täters bei wertender Betrachtung als Nicht- den Betrachtungswinkeln der verschiedenen Rechtfertigungs-
Rettung darstellt. Dies ist aber immer dann der Fall, wenn gründe entgegenzuhalten: Die (mutmaßliche) Einwilligung
eine Rettung entweder überhaupt nicht aufgenommen wird blickt auf die Autonomie des Rechtsgutsinhabers und ver-
oder wenn eine Rettung abgebrochen wird. sucht dem Prinzip „volenti non fit inuria“ Geltung zu ver-
schaffen.58 Demgegenüber fokussiert sich die rechtfertigende
Pflichtenkollision als einziger Rechtfertigungsgrund aus-
55 schließlich auf die Lage des Täters, der sich in einer Situation
Vgl. allerdings zu den Grenzen der Entscheidungsfreiheit
bei der Pflichtenkollision noch unten IV. 2.
56 58
Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor §§ 32 ff. Rn. 73. Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2019, § 23
57
Vgl. dazu auch die Verweise in Fn. 15. Rn. 7.
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Christian Jäger/Johannes Gründel
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befindet, in der er zu mehr verpflichtet als zu leisten imstande Tatbestandsmäßigkeit umfasst, während die Kollisionssitua-
ist. Dieser Rechtfertigungsgrund dient daher der Umsetzung tion einen Ausnahmeumstand darstellt, der dieses vorläufige
des Prinzips „ultra posse nemo obligatur“.59 Unwerturteil im konkreten Einzelfall zu beseitigen vermag.61
Alles in allem zeigt sich damit, dass auch die ex-post- Bei individueller Betrachtung ist der Arzt daher in einer sol-
Triage entgegen der vom Ethikrat geteilten h.M. einer Recht- chen Situation über die Pflichtenkollision gerechtfertigt.
fertigung zugänglich ist. Entscheidend dafür ist aber nicht
eine ausschnitthafte Bezugnahme auf die Rechtsprechung des bb) Der Tatbestandsausschluss als Ausdruck einer
BGH im Fall „Putz“, sondern der übergeordnete Gesichts- kollektiven Betrachtung
punkt der Rettungsbemühung der einen Person durch Unter- Ein anderes Bild ergibt sich freilich, wenn man die Perspek-
lassen der Rettungsbemühungen zulasten einer anderen Per- tive auf die in der Pflichtenkollision bestehende Gefahren-
son in der Situation der Ressourcenknappheit, wobei gleich- und Rettungsgemeinschaft richtet, in der sich die Betroffenen
gültig ist, ob das Unterlassen von vornherein durch eine feh- befinden. Dann nämlich stellt sich das Handeln des Arztes in
lende Aufnahme von Rettungsbemühen oder durch deren Wahrheit als eine besondere Form der Risikoverringerung
späteren Abbruch bewirkt wird, solange dies nur zur Rettung dar.62 Denn der in die Situation der Pflichtenkollision gewor-
der anderen Person geschieht, die sich ebenfalls in der die fene Arzt sieht sich bei Lichte betrachtet vor die Wahl ge-
Ressourcenknappheit auslösenden Gefahr befindet, sodass stellt, einem Doppelrisiko den Lauf zu lassen oder das Dop-
von einer Gefahren- und Rettungsgemeinschaft gesprochen pelrisiko auf ein Einzelrisiko zu halbieren. Wenn sich die
werden kann. Opfer aus Sicht des Retters in einer Gefahrengemeinschaft
befinden und der Pflichtige keine getrennten Handlungsmög-
d) Tatbestandslosigkeit oder Rechtfertigung des Handelns in lichkeiten hat, ist es unter Zugrundelegung dieser Perspektive
der Pflichtenkollision unzutreffend, die Risiken zu trennen. Denn so wie die Opfer
Nach allem bleibt allerdings die Frage, ob eine Pflichtenkolli- in ihrem Schicksal miteinander verbunden sind, so lässt sich
sion tatsächlich – wie dies die h.M. vertritt – nur als Rechtfer- auch deren Gemeinschaftsrisiko in der echten Pflichtenkolli-
tigungsgrund in Ansatz zu bringen ist oder ob sogar eine sion nicht trennen. Im Ergebnis, wenn auch nicht in der Be-
tatbestandsausschließende Wirkung anzunehmen ist. gründung, stimmt dies auch mit der von Roxin vertretenen
Auffassung überein, wonach bei den Unterlassungsdelikten
aa) Die Rechtfertigung als Ausdruck einer individualisieren- die Tatbestandserfüllung zu verneinen ist, wenn der Täter in
den Betrachtung einer Pflichtenkollision auch nur eine der gebotenen Hand-
Gegen eine Lösung über den Wegfall der Garantenpflicht im lungen vornimmt. Er leitet dies daraus ab, dass bei den Unter-
Kollisionsfall könnte man den Einwand erheben, dass dies im lassungsdelikten von einem den Tatbestand und die Rechts-
Kollisionsfall zu einem gänzlichen Fortfall der Garanten- widrigkeit umspannenden Gesamtunrechtstatbestand auszu-
pflichten führen müsste. Sofern man nämlich die Garanten- gehen sei mit der Folge, dass dort die Bejahung einer auf dem
stellung dergestalt beschränkt, dass sie nur besteht, soweit sie Tatbestand aufbauenden Rechtswidrigkeit unpassend sei. Im
nicht mit einer anderen Garantenstellung kollidiert, wäre der Falle der Rechtfertigung habe der Unterlassende schon nicht
Arzt in Kollisionsfällen gar kein Garant mehr und müsste für den Nichteintritt des Erfolges einzustehen und darüber
niemanden der Patienten retten. Beschränkt man dagegen die hinaus entspreche das Unterlassen dann auch nicht einem
Reichweite der Garantenpflicht dergestalt, dass der Arzt in aktiven Tun. Hiergegen sprechen allerdings die soeben (unter
einem solchen Fall nur einen Patienten retten muss, würde aa) genannten individualisierenden Erwägungen. Erst wenn
die individuelle Garantenpflicht, die auf der Behandlungs- man den Blick auf die kollektive Dimension der Problematik
übernahme inter partes und damit regelmäßig auf einem Be- wirft, wird der eigentliche Gesichtspunkt der Risikoverringe-
handlungsvertrag beruht,60 zu einer allgemeinen Garanten- rung deutlich. Für die vorliegende Untersuchung kann die
pflicht, irgendeinen der Patienten zu retten. Dass dies typi- Frage allerdings offenbleiben, da die Straflosigkeit des Unter-
scherweise weder im Interesse des konkreten Patienten liegt lassens in der Pflichtenkollision nicht von der Einordnung als
noch von dessen tatsächlichen Willen erfasst wird und damit
auch keine Einigung hinsichtlich einer solchen Regelung der
Garantenpflicht erzielt wurde, liegt auf der Hand. Zudem 61
Vgl. dazu Fischer (Fn. 10), Vor § 13 Rn. 46; Kühl (Fn. 59),
ließe sich argumentieren, dass ein solcher Weg dem Wesen § 3 Rn. 2, § 6 Rn. 1; Rengier (Fn. 58), § 8 Rn. 3, § 17 Rn. 1;
von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit wider- Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 49. Aufl.
spricht, denn einen eigenen Patienten infolge eigener Untä- 2019, Rn. 134, 187, 397, 399; gegen eine Trennung zwischen
tigkeit nicht weiter zu behandeln und damit sterben zu lassen, Tatbestand und Rechtswidrigkeit aber die Lehre von den
ist regelmäßig Unrecht und damit von der Indizwirkung der negativen Tatbestandsmerkmalen, vgl. etwa Schroth, in:
Haft/Hassemer/Neumann/Schild/Schroth (Hrsg.), Strafge-
rechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Ge-
59
Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 18 burtstag, 1993, S. 595; Schünemann, GA 1985, 341 (347); für
Rn. 137; Freund, in: Joecks/Miebach (Fn. 8), § 13 Rn. 197. eine Lösung über die Rechtfertigung bei Unterlassen aus
60
Sommer/Tsambikakis, in: Clausen/Schroeder-Printzen (Hrsg.), eben diesen Erwägungen Brech (Fn. 19), S. 353 f.
62
Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 3. Aufl. 2020, Hierzu schon Jäger, Zurechnung und Rechtfertigung als
§ 3 Rn. 65. Kategorialprinzipien im Strafrecht, 2006, S. 30.
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ZIS 4/2020
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Beurteilung der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Angesicht der Corona-Triage
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Zurechnungsausschließungs- oder Rechtfertigungsgrund ab- großzügige Spende an das Krankenhaus als Dank für den
hängt.63 Einsatz verspricht, dann ist dies zweifellos moralisch ver-
werflich und kann ggfs. zu einer anderweitigen Strafbarkeit
2. Umfang und Grenzen der erlaubten Kollisionsauflösung in und standesrechtlichen Folgen führen.68 Mit Blick auf die
der Pflichtenkollision Tötung der Frau dagegen handelt das Personal weiterhin in
Nachdem die Darlegungen unter IV. 1. gezeigt haben, dass einer rechtfertigenden Pflichtenkollision, in der es sich für
entgegen der vom Ethikrat in seiner ad-hoc-Stellungnahme das andere, gleichwertige Interesse entschieden hat, und ist
geteilten h.A. eine rechtfertigende Pflichtenkollision sowohl daher nicht wegen Totschlags durch Unterlassen nach §§ 212,
bei der ex-ante- als auch bei der ex-post-Konkurrenz möglich 13 StGB strafbar.
sein muss, bleibt das Wie der Kollisionsauflösung zu be-
stimmen. Dabei wird man dem Arzt wegen der grundsätzli- b) Die medizinischen Standards als Grenzen der ärztlichen
chen Unabwägbarkeit des menschlichen Lebens einen weiten Entscheidungsfreiheit
Entscheidungsspielraum einräumen müssen (im Folgenden Rechtlich sollte die Entscheidungsfreiheit des Arztes aller-
a), der allerdings seine rechtlichen Grenzen in der Einhaltung dings dort ihre Grenze finden, wo sie der Einhaltung der
der medizinischen Standards findet (im Folgenden b) und medizinischen Standards eindeutig widerspricht. Denn an den
gegebenenfalls ethisch auch weitergehenden Vorgaben und Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis bleibt der Arzt auch
Beschränkungen unterworfen sein kann (im Folgenden c). in der Notlage gebunden. Wenn daher der Arzt bei seiner
Auswahlentscheidung eine Person mit zahlreichen Vorschä-
a) Grundsätzliche Freiheit des Arztes bei der Auflösung des digungen und daher geringsten Erfolgsaussichten einer ande-
Pflichtenwiderstreits ren Person mit hohen Überlebenschancen geradezu willkür-
Wegen der Unabwägbarkeit menschlichen Lebens wird man lich vorzieht, so wird man dies als Verletzung der ärztlichen
dem Arzt bei der Lösung des Pflichtenwiderstreits rechtlich Standards verstehen können, die jedenfalls eine Bestrafung
prinzipiell weitestgehende Entscheidungsfreiheit einräumen wegen fahrlässiger Tötung nicht ausschließt.69 Nichts anderes
müssen. Dies gilt bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision sollte etwa auch dann gelten, wenn ein Arzt einen Patienten,
in Bezug auf das Tötungsdelikt insbesondere grundsätzlich auf den die Behandlung bereits hervorragend angesprochen
auch für den Fall, dass sich der Arzt bei seiner Wahl von hat, wieder vom Beatmungsgerät zugunsten einer anderen
sachfremden Erwägungen leiten lässt, soweit dies noch vom Person trennt, deren Erfolgsaussichten wegen Vorschädigun-
subjektiven Rechtfertigungselement gedeckt ist.64 Denn das gen, wie er weiß, höchst fragwürdig sind. In derartigen Fällen
Handeln aus einem anstößigen Motiv hindert die Rechtferti- wäre die Entscheidung nicht nur unethisch, sondern auch
gung nicht, solange es in Kenntnis der Rechtfertigungslage medizinisch nicht nachvollziehbar, sodass eine Bestrafung
erfolgt.65 Gleichgültig, wie sich der Arzt entscheidet, entfällt wegen vollendeter oder versuchter70 Tötung durch Unterlas-
daher in derartigen Situationen das Erfolgsunrecht ebenso sen nach §§ 212, 13 StGB oder wegen fahrlässiger Tötung
wie das Handlungsunrecht.66 Hierfür streitet auch der durch Unterlassen nach §§ 222, 13 StGB nicht ausgeschlos-
Rechtsgüterschutz: Selbst wenn die Rettung eines Menschen- sen erschiene. Allerdings sind dies nur theoretische Erwä-
lebens aus sachfremden Erwägungen erfolgt, wird ein Leben gungen, da von den Ärzten zu erwarten ist, dass sie die in der
gerettet und damit der Verlust eines absoluten und damit Notlage erforderlichen Entscheidungen nach bestem Wissen
gleichwertigen Rechtsguts abgewendet. Andernfalls würde und Gewissen fällen werden. Soweit sie dies tun und ihre
man den Arzt nur aufgrund seiner inneren Motivlage bestra- Gründe nachvollziehbar dokumentieren, wird eine Strafbar-
fen, was letztlich auf die Befürwortung eines unzulässigen keit daher grundsätzlich ausscheiden, selbst wenn sich die
Gesinnungsstrafrechts hinausliefe.67 Wenn sich also bei- Einschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeiten später als
spielsweise das medizinische Personal entgegen der Covid- unzutreffend erweist. Denn eine Fehleinschätzung ist in der-
19-Empfehlungen zugunsten eines reichen Mannes mit ver- artigen Krisenlagen noch längst keine Verfehlung ärztlicher
gleichsweise schlechten Überlebenswahrscheinlichkeiten und Standards. Letztere könnte nur dann bejaht werden, wenn
gegen eine jüngere Frau mit besseren Erfolgsaussichten ent- eine nach medizinischen Kriterien gänzlich unvertretbare
scheidet, weil es sich von dem Mann oder dessen Erben eine Entscheidung getroffen worden ist.

63
Dies beruht letztlich darauf, dass Tatbestands- und Rechts-
widrigkeit gemeinsam das Gesamtunrecht bilden, vgl. Jäger,
68
in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafge- In Betracht käme u.U. beispielsweise eine Strafbarkeit
setzbuch, Bd. 1, 9. Aufl. 2017, Vor § 1 Rn. 59. gem. § 299a StGB.
64 69
Vgl. dazu Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor §§ 32 ff. Rn. 77. So wohl auch Hilgendorf, LTO v. 27.3.2020, abrufbar
65
Sternberg-Lieben (Fn. 7), Vor §§ 32 ff. Rn. 77 m.w.N. unter
66
Vgl. Fischer (Fn. 10), § 32 Rn. 27 m.w.N. zur Behandlung https://www.lto.de/persistent/a_id/41115/ (7.4.2020).
70
des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements. Eine vollendete Tötung der aussichtsreicheren Person käme
67
Vgl. zur Unzulässigkeit eines solchen Gesinnungsstraf- jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn nicht nachgewiesen
rechts Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2019, werden kann, ob die verstorbene Person überhaupt auf die
Rn. 702. Behandlung angesprochen hätte.
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Christian Jäger/Johannes Gründel
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c) Ethische Vorgaben und Beschränkungen für wünschenswert halten müssen. Wie diese Handhabung im
Damit ist bereits ein letzter Aspekt der hier vorgelegten Un- Einzelnen erfolgt, ist damit freilich nicht vorgegeben. Mög-
tersuchungen erreicht: Dieser betrifft die mit der Pflichten- lich, wenngleich fragwürdig und mit Blick auf das Ziel der
auflösung verbundene ethische Dimension. So kann kein Rettung möglichst Vieler bedenklich, wäre hier – zumindest
Zweifel daran bestehen, dass Vorgaben der medizinischen in den soeben unter b) dargestellten Grenzen – sogar eine
Fachgesellschaften einer verteilungsgerechten und transpa- Entscheidung durch das Los.72 Ebenso wäre es sicherlich
renten Bewältigung des Versorgungsdilemmas dienlich sein nicht einmal als unethisch zu betrachten, wenn lediglich die
können. Dabei ist es verständlich, wenn etwa die Covid-19- Gruppe der Corona-Erkrankten, nicht dagegen sonstige Pati-
Empfehlungen in ihrer konkreten Ausgestaltung eine gewisse entengruppen (etwa Krebspatienten, Herzkreislauf-Erkrankte
Offenheit zeigen und damit im Widerspruch etwa zu ameri- etc.), in die Triage-Entscheidung einbezogen würden.73
kanischen Vorbildern stehen, bei denen vielfach eindeutig Wichtig wäre nur, dass hier eine einheitliche Handhabung mit
messbare Krankheitswerte als Indikator dafür angesetzt wer- nachvollziehbarer Begründung (Verengung bzw. Erweiterung
den, wann eine medizinische Behandlung im Falle der Res- der Gefahrengemeinschaft) gefunden würde. All dies sind
sourcenknappheit eingestellt werden kann.71 Die offen formu- Fragen, die durch die Covid-19-Empfehlungen nicht beant-
lierten Covid-19-Empfehlungen tragen damit der Tatsache wortet werden und auf die im hier gesteckten Rahmen nicht
Rechnung, dass es sich bei abstrakten Vorgaben dieser Art weiter eingegangen werden kann. Erwähnt sei lediglich noch,
stets nur um Orientierungshilfen handeln kann, die den Arzt dass auch die Frage der verfügbaren Palliativbetten ein Aus-
in der kritischen Situation jedoch nicht von der Verantwor- wahlkriterium darstellen kann. Denn stets sollte sichergestellt
tung für die konkrete Entscheidung entheben können. Des- werden, wie die Covid-19-Empfehlungen zu Recht fordern,
halb ist es auch gut und richtig, dass das Lebensalter in den dass diejenigen Patienten, die von der Beatmung genommen
Empfehlungen nicht zu einem allein ausschlaggebenden Aus- werden, wenigstens menschenwürdig sterben können.74 Ne-
wahlkriterium erhoben wird. Andererseits bleibt das Papier ben der Erhöhung der Beatmungsbetten sollte daher auch für
an entscheidenden Stellen auch zu vage. So stellen sich Ärzte eine Erhöhung der Palliativbetten gesorgt werden.75
etwa die Frage, ob die Tätigkeit in einem systemrelevanten
Beruf als ausschlaggebender Gesichtspunkt bei der Auswahl- V. Fazit
entscheidung in der Triage eine Rolle spielen darf. Im Ergeb- Der Beitrag hat gezeigt, dass die herkömmlichen Versuche
nis wird man dies jedoch klar verneinen müssen, da mit einer der Bewältigung von Triage-Settings nicht zuletzt im Ange-
solchen Berücksichtigung die Kriterien der Erfolgsaussicht sicht der Coronapandemie neu zu überdenken sind (zur Prob-
und Dringlichkeit gänzlich verlassen werden. Auch müsste lematik allgemein oben I.). Nach überkommener Auffassung
eine derartige Vorgabe vor ethischem Hintergrund zu einer setzt eine rechtfertigende Pflichtenkollision die Kollision von
nicht hinnehmbaren Verunsicherung in der Bevölkerung gleichwertigen Handlungspflichten voraus, deren Erfüllung
beitragen. Des Weiteren sprechen sich die Covid-19-Empfeh- nur teilweise möglich ist (vgl. oben II.). Dementsprechend
lungen dafür aus, eine Entscheidung grundsätzlich nur im hat sich auch der Ethikrat der Auffassung der h.M. ange-
Mehraugenprinzip herbeizuführen. Hiergegen ist grundsätz- schlossen, wonach eine Rechtfertigung einer Auswahlent-
lich nichts einzuwenden. Jedoch sollten die Empfehlungen scheidung nur bei der ex-ante-Triage (Aufnahme-Triage),
dringend auf die Möglichkeit einer externen Hilfe bei der nicht aber bei der ex-post-Triage (Fortsetzungs-Triage) in
Auswahlentscheidung hinweisen, mit der Folge, dass nicht Betracht kommt (vgl. näher oben II. 2.). Zwar muss diese
oder jedenfalls nicht nur die behandelnden Ärzte zugleich
diejenigen sein sollten, die in der Triage tätig werden. Nur 72
Dafür Tonio Walter, Zeit Online v. 2.4.2020, abrufbar
auf diese Weise kann eine weitestgehende psychische Distan- unter https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-04/corona-krise-
zierung von den zweifellos schwer erträglichen Auswahlfol- aerzte-krankenhaeuser-ethik-behandlungen-medizinische-
gen gewährleistet werden. Zu erwägen ist in diesem Zusam- versorgung/komplettansicht (7.4.2020).
menhang bei verbleibenden Zweifeln eine – wenn nötig auch 73
Zwingend einbezogen werden müssten deren Beatmungs-
nur telefonische – Rücksprache mit Nichtbehandlern oder die plätze lediglich bei fehlender Indikation einer Weiterbehand-
Beiziehung einer externen Ethikberatung, sofern dies die lung. Dann aber läge auch nicht mehr ein Fall der Triage vor.
zeitlichen und personellen Ressourcen zulassen. Schließlich 74
Das Erfordernis einer möglichen palliativen Behandlung
äußern sich die Covid-19-Empfehlungen auch nicht dazu, ob im Falle der Aussichtslosigkeit betonen zu Recht auch die
die Auswahlentscheidungen stations- oder sogar kliniküber- beteiligten Fachgesellschaften, vgl. Covid-19-Empfehlungen
greifend stattfinden sollen. Auch hier würden sich Ärzte (Fn. 22), S. 5, 7 ff., 12.
sicherlich klare Vorgaben wünschen. Im Ergebnis wird man 75
Auf die Notwendigkeit der Einbeziehung der Palliativme-
dabei eine möglichst weitgehende einheitliche Handhabung dizin in die Überlegungen zur Vorbereitung auf die Pande-
miefolgen hat insoweit zu Recht der Präsident der European
71
Vgl. etwa die Ethical Considerations for Decision Making Association for Palliative Care und Vizepräsident der Deut-
Regarding Allocation of Mechanical Ventilators during a schen Gesellschaft für Palliativmedizin, Christoph Ostgathe,
Severe influenza Pandemic or Other Public Health Emergen- hingewiesen, vgl.
cy aus dem Jahre 2011, abrufbar unter https://eapcnet.wordpress.com/2020/03/20/start-thinking-
https://www.cdc.gov/about/advisory/pdf/VentDocument_Rel about-palliative-care-in-times-of-a-pandemic-the-case-of-
ease.pdf (7.4.2020). corona/ (7.4.2020).
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ZIS 4/2020
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Beurteilung der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Angesicht der Corona-Triage
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h.M., der zufolge bei einer ex-post-Auswahl allenfalls eine


Entschuldigung in Betracht kommt, nicht notwendig zu einer
Zulassung eines Nothilferechts Dritter führen, weil der über-
gesetzliche entschuldigende Notstand als Ausdruck einer
durch eine ethische Konfliktlage ausgelösten fehlenden Be-
strafungsnotwendigkeit einen sozialethischen Ausschluss von
Nothilfebefugnissen nach sich ziehen sollte (dazu oben III.).
Dies ändert aber nichts daran, dass eine partielle Entschuldi-
gungslösung zu schwer hinnehmbaren Zufälligkeiten und
Widersprüchen führt, deren Auflösung durch einen generel-
len Unrechtsausschluss dringend angezeigt erscheint (oben
IV. 1. a) und b). Dabei hat sich gezeigt, dass die Situation der
Triage durch die Konkurrenz zweier Behandlungspflichten
gekennzeichnet ist und der Rechtfertigung ein höheres Prin-
zip der Rettungspflichtenkonkurrenz in der Gefahrengemein-
schaft bei Ressourcenknappheit zugrunde liegt. Dieses Prin-
zip beansprucht unabhängig davon Geltung, ob es sich um
eine ex-ante- oder eine ex-post-Auswahl handelt, und ist
generell auf alle Fälle der Rettungspflichtenkollision über-
tragbar (oben IV. 1. c) aa) und bb). Diese Pflichtenkonkur-
renz in der Gefahrengemeinschaft gibt sogar Anlass dazu,
über einen Zurechnungs- und damit Tatbestandsausschluss
kraft kollektiver Risikoverringerung nachzudenken, auch
wenn diese Einordnung für das Ergebnis einer Straflosigkeit
keine Rolle spielt (oben IV. 1. d). Schließlich hat sich ge-
zeigt, dass dem Arzt bei seiner Auswahlentscheidung ein
weiter Ermessensspielraum zusteht, der seine Grenzen erst
dort findet, wo medizinische Standards klar verletzt werden
(oben IV. 2. a) und b). Jedoch sollte man sich davor hüten,
jeden Fehler bei der Gewichtung der Überlebenschancen als
Ausdruck einer Verletzung von Standards zu betrachten. Eine
Grenze dürfte erst dann überschritten sein, wenn der Stand
der medizinischen Erkenntnis klar und willkürlich verletzt
wird. Jenseits dessen bleibt der Arzt jedoch in seiner Ent-
scheidung frei. Dies ändert aber nichts daran, dass Empfeh-
lungen der medizinischen Fachgesellschaften als vereinheitli-
chende Entscheidungshilfen sinnvoll und nützlich sind (dazu
sowie zu möglichen Handhabungen im Einzelnen oben IV. 2.
c). Am Ende ist und bleibt das Erfordernis der Triage ein
Dilemma fast unmenschlichen Ausmaßes, bei dem nicht nur
der Arzt, sondern auch der Jurist unausweichlich mit den
Grenzen einer verteilungsgerechten Medizin konfrontiert
wird.

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