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Ethik am Lebensende

Fragestellungen anhand Formen der Sterbehilfe

Sebastian Heinlein
24. Januar 2023
Basiskurs Palliative Care 160 für Pflegende, Akademie Travebogen
Übersicht
Formen der Sterbehilfe1

• Verbreitete Unterscheidung in aktive, passive und indirekte Sterbehilfe, welche viele


Unklarheiten lässt
• International wird der Begriff Euthanasie für Sterbehilfe verwendet
• Ethikrat hat 2006 eine neue Begrifflichkeit angeregt mit Sterbebgeleitung, Therapien
am Lebensende, Sterbenlassen, Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen
• Gesellschaftlich, kulturell sowie rechtlich historisch gewachsener Rahmen für unser
Handeln

1 Nationaler Ethikrat (2006). Selbststimmung Und Fürsorge Am Lebensende. Stellungnahme.

2
Totschlag / Mord
Totschlag / Mord

• Tötung eines Menschen ohne dessen Einwilligung oder Aufforderung23


• Vorsätzliche Unterlassung von Maßnahmen wird durch Garantenstellung (besondere
Schutzpflicht von Behandlern und Pflegenden) zum (versuchten) Totschlag
• Verboten und mit Gefängnisstrafe bedacht §212 StGB

• Sonderfall Spätabtreibung und insbesondere Fetozid4

2 Ärzteblatt 2020.
3 LTO 2021.
4 Bundegerichtshof (11. Nov. 2020). Bundesgerichtshof, Berliner Zwillingsfall, Beschluss Vom 11. November 2020

– 5 StR 256/20.
3
Tötung auf Verlangen
Töten auf Verlangen (früher aktive Sterbehilfe)

• Tötung auf ausdrückliches und ernstliches Verlangen hin


• Verboten und mit Gefängnisstrafe bedacht §216 StGB

• Strafbar in der Schweiz


• Nicht strafbar in den Niederlanden (ärztlich bei unerträglichem Leid und
Aussichtslosigkeit ab 16 Jahren, ab 12 Jahren mit Zustimmung der Eltern, Meldepflicht,
schriftliche Verfügung möglich, ca. 4 % aller Sterbefälle), Belgien (ärztlich bei
unerträglichem Leid und Aussichtslosigkeit, Meldepflicht, für Kinder jeden Alters),
Luxemburg (analog zu Belgien nur ohne Kinder) Spanien (ärztlich bei
unterträglichem Leid und Aussichtslosigkeit, Kommission muss zu stimmen), Portugal
(im Gesetzgebungsverfahren)5

5 Deutsche Stiftung Patientenschutz (Apr. 2022). Strafbarkeit Der Sterbehilfe in Europa – Übersicht.
4
Sterbebegleitung
Sterbebegleitung6

• Maßnahmen zur Pflege und Betreuung von Todkranken und Sterbenden (körperliche
Pflege, das Löschen von Hunger- und Durstgefühlen, das Mindern von Übelkeit,
Angst, Atemnot, aber auch menschliche Zuwendung und seelsorgerlicher Beistand)
• Erlaubt und geboten!

6 Bundesärztekammer (Feb. 2011). „Grundsätze Der Bundesärztekammer Zur Ärztlichen Sterbebegleitung“. In:
Dtsch Arztebl 108.7, A346–348.
5
Sterben (zu)lassen
Sterben (zu)lassen (früher passive Sterbehilfe)

• Es wird zugelassen, dass durch die Beendigung oder Nichtaufnahme von


lebensverlängernden bzw. -erhaltenden Maßnahmen ein Patient an seiner
Grunderkrankung oder Komplikationen verstirbt
• Die Maßnahmen müssen entweder nicht mehr sinnig/zielführend aus ärztlicher Sicht
(nicht indiziert) oder nicht nicht mehr vom Patienten gewollt sein (§1901b und
§1904 BGB bis 31.12.2022, §1828 und §1829 BGB ab 1.1.2023)
• Rechtlich wird von einem „Behandlungsabbruch“ gesprochen, weitere Begriffe sind
„Therapiezieländerung“ oder „Behandlungsbegrenzung“
• Erlaubt und geboten!

• Strafbar in Polen

6
Wie kommt eine medizinische Behandlung zu Stande?

Festlegung des Therapieziels Ärzt:in + Patient:in

Bei fehlender Einwilligung


Indikationsstellung Ärzt:in

Bei negativem Ergebnis


Aufklärung Ärzt:in

Einwilligung Patient:in

Durchführung der Maßnahmen Ärzt:in + Patient:in

Überprüfung Ärzt:in + Patient:in

Abbildung 1: Entscheidungsbaum zur Festlegung und Durchführung einer medizinischen Maßnahme nach
S3-Leitlinie Palliativmedizin Für Patienten Mit Einer Nicht Heilbaren Krebserkrankung

7
Therapieziele am Lebensende7

• (Heilung)
• Lebenszeitverlängerung
• Verbesserung/Erhalt der Lebensqualität/Symptomlinderung
• Ermöglichung eines Sterbens in Würde

7 Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen


Fachgesellschaften e. V. (AWMF), Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und Deutschen Krebshilfe (DKH),
Hrsg. (Aug. 2019). S3-Leitlinie Palliativmedizin Für Patienten Mit Einer Nicht Heilbaren Krebserkrankung. 2.0.
8
Indikation8

• Häufig verwendeter Begriff, jedoch keine feststehende Definition


• Bestimmung der Behandlungsmaßnahmen zur Erreichung des Therapieziels unter
einer Risiko-Nutzen-Abwägung
• Medizinische Indikation aufgrund von Leitlinien/Forschung (empirisch, final, und
kausal) und ärztliche Indikation im Hinblick auf die individuelle Patient:in
• Bei fraglicher Sinnhaftigkeit sollte von einer „grenzwertigen“oder
„zweifelhaften“Indikation gesprochen werden

8 GeraldNeitzke (o.D.). „Unterscheidung Zwischen Medizinischer Und Ärztlicher Indikation. Eine Ethische
Analyse Der Indikationsstellung“. In:
9
Positionen in der Debatte zur futility (Aussichtslosigkeit)9

physiologisch Falls die physiologischen Ziele nicht erreicht werden können (z. B.
Reanimation einer enthaupteten Person)
quantitativ Falls der ärztlichen Erfahrung/Wissen nach in keinem von 100 Fällen das
Behandlungsziel erreicht wurde (Schneidermann-Kirterium, 100% mit
einem Konfidenzbereich von 96%-100%)
qualitativ Sehr ungünstiges Schaden-Nutzen-Verhältnis (ärztliche Perspektive)

9 Robert D. Truog (6. Dez. 2016). „Medical Futility: When Is Enough Enough?“; V. Lipp und D. Brauer (15. Mai

2013). „Behandlungsbegrenzung und „Futility“ aus rechtlicher Sicht“. In: Zeitschrift für Palliativmedizin 14.03,
S. 121–126. issn: 1615-2921, 1615-293X. doi: 10.1055/s-0033-1343112; Zentrale Ethikkommission (13. Mai 2022).
„Ärztliche Verantwortung an Den Grenzen Der Sinnhaftigkeit Medizinischer Maßnahmen. Zum Umgang Mit
„Futility"“. In: Deutsches Ärzteblatt Online. issn: 2199-7292. doi: 10.3238/arztebl.zeko_sn_futility_2022.
10
Wahrscheinlichkeiten10

♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Lebendentlassung CPC 1 oder 2
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Lebendentlassung CPC unbekannt
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Lebendentlassung CPC 3 oder 4
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Tod im Krankenhaus zwischen 1 und 30 Tagen
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Tod im Krankenhaus innerhalb 24 Stunden
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Tod ohne Krankenhauseinweisung
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
Abbildung 2: Outcome Reanimationsversuch am Einsatzort Pflegeheim, ab 65 Jahren (n=2900)

10 Andreas Günther u. a. (6. Nov. 2020). „Chancen Und Risiken von Reanimationsversuchen in
Pflegeeinrichtungen: Fakten Für Pflegeheimbewohner Und Versorger“. In: Deutsches Ärzteblatt international.
issn: 1866-0452. doi: 10.3238/arztebl.2020.0757.
11
Noch mehr Wahrscheinlichkeiten11

♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Lebendentlassung CPC 1 oder 2
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Lebendentlassung CPC unbekannt
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Lebendentlassung CPC 3 oder 4
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Tod im Krankenhaus zwischen 1 und 30 Tagen
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Tod im Krankenhaus innerhalb 24 Stunden
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ Tod ohne Krankenhauseinweisung
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂ ♂
Abbildung 3: Outcome Reanimationsversuch nach Einsatzort außerhalb Pflegeheimen, ab 18 Jahren (n=27.992)

11 Andreas Günther u. a. (6. Nov. 2020). „Chancen Und Risiken von Reanimationsversuchen in

Pflegeeinrichtungen: Fakten Für Pflegeheimbewohner Und Versorger“. In: Deutsches Ärzteblatt international.
issn: 1866-0452. doi: 10.3238/arztebl.2020.0757.
12
Chance oder Risiko?12

• Sind es 15 % Chance eine außerklinischeklinische Reanimation zu überleben oder


85 % Risiko für unnötige Belastungen?
• Probleme von Framing und Kontexteffekten (Kinder, junge Eltern) sowie
selbsterfüllende Prophezeiungen bei Behandelnden
• Entscheidung können nur gemeinsam mit Patient:innen bzw. ihre Stellvertretung
getroffen werden im Sinne eines Shared Decision Making

12 K.
Wegscheider (Dez. 2012). „Gibt es eine Evidenz für medizinische Aussichtslosigkeit?“ In: Notfall +
Rettungsmedizin 15.8, S. 667–670. issn: 1434-6222, 1436-0578. doi: 10.1007/s10049-011-1541-x.
13
Positionierung der Ärztekammer Schleswig-Holstein

Der Arzt darf - unter Vorrang des Willens des Patienten - auf lebensverlängern-
de Maßnahmen nur verzichten und sich auf die Linderung der Beschwerden be-
schränken, wenn ein Hinausschieben des unvermeidbaren Todes für die sterben-
de Person lediglich eine unzumutbare Verlängerung des Leidens bedeuten wür-
de.13

13 Ärztekammer Schleswig-Holstein (2. Juni 2019). Berufsordnung (Satzung) Der Ärztekammer


Schleswig-Holstein.
14
Verhältnis Indikation und Patientenwille14

• Indikation und Einwilligung stehen nicht objektiv für sich, sondern sind Teil eines
dialogischen Prozesses
• Kein alleiniges Behandlungsrecht der Ärzten und Ärztinnen / Abwehrrecht
• Kein alleiniges Behandlungsgebot von Patienten und Patientinnen
(Wunschbehandlung)
• Verpflichtung zu einer angemessen ärztlichen Aufklärung
• Ärzte und Ärztinnen können indizierte Behandlungen ablehnen, wenn für diese nicht
mit ihrem Gewissen vereinbar sind (z. B. Abtreibung)
• Eine Behandlung gegen den Willen ist eine strafbare Körperverletzung

14 RGSt 25, 375 von 1894, §630d BGB, §1901b BGB bis 31.12.2022, §1828 BGB ab 1.1.2023, §223 StGB, Artikel 1 und 2
GG
15
Was tun, wenn Patient:innen nicht einwilligen können?

Aktuell erklärter Wille des aufgeklärten und einwilligungsfähigen Pati-


ent (immer vorrangig, wenn vorhanden)

Wenn nicht Vorausverfügter Wille, durch schriftliche Patientenverfügung er-


gegeben klärt (fortwirkend und verbindlich, sofern anwendbar)

Wenn nicht Behandlungswunsch aus früheren schriftlichen oder münd-


vorhanden lichen Äußerungen zur vorliegenden Situation

Wenn nicht Mutmaßlicher Wille aufgrund der Wertvorstellungen


vorhanden zu ermitteln

Wenn nicht Entscheidung zum Wohl des Patienten (medi-


möglich zinisch indizierte Maßnahme durchführen)
Abbildung 4: Rangfolge des Patientenwillens modifziert nach Borasio, Heßler und Wiesing 2009

16
Therapien am Lebensende
Therapien am Lebensende (früher indirekte Sterbehilfe)

• Palliativ-medizinische Maßnahmen mit dem Ziel der Leidenslinderung am Lebesende


• Inkaufnahme einer geringfügigen Verkürzung der Lebenszeit als ungewollte
Nebenwirkung
• Indikation, Einwilligung und fachgerechte Durchführung müssen gegeben sein
• Ziel der Behandlung und Verhältnismäßigkeit der Mittel sind entscheidend für eine
Abgrenzung zu Totschlag, Töten auf Verlangen oder Beihilfe zur Selbsttötung
• Besondere Form ist die tiefe kontinuierliche gezielte Sedierung bis zum Tode
• Erlaubt und geboten!

• Strafbar in Polen

17
Gezielte Sedierung zur Leidenslinderung15

• Gezielte Bewusstseinsverringerung zur Linderung eines unerträglichen und


therapierefaktären Leidens
• Etablierte und normale Behandlungsform in der Palliativmedizin
• Große begriffliche Bandbreite an Definitionen mit kulturellen und ethischen
Aspekten, daher Bestrebung Begriff der palliativen Sedierung aufzugeben
• Abgrenzung zu Totschlag, Töten auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung ist
elementar

15 Christoph Ostgathe u. a. (31. März 2021). Handlungsempfehlung Einsatz Sedierender Medikamente in Der
Spezialisierten Palliativversorgung. Hrsg. von Forschungsverbund SedPall.
18
Sedierungsformen

Vorübergehende Sedierung: verabreicht für einen


vorab definierten Zeitraum, z.B. 24 Stunden („Ruhe-
pause“ für die Patient:in), anschließend Reevaluation

Leichte Sedierung: verbale oder non- Tiefe Sedierung: Bewusstlosigkeit, Kom-


verbale Kommunikation möglich munikationsfähigkeit gänzlich aufgehoben

Dauerhafte Sedierung (bis zum Tod): verabreicht für


einen unbestimmten Zeitraum und ohne Unterbrechung

Abbildung 5: Formen der Siederung nach Schildmann, Rémi und Bausewein 2021
19
Therapierefaktäres Symptom16

• Keine Aussicht auf geeignete Maßnahmen, die Linderung erreichen könnten oder
• Keine Maßnahmen mit für Patient:in zumutbaren Nebenwirkungen oder
• Keine Maßnahmen mit einer Wirkung in einer angemessenen Zeit

16 NathanI. Cherny und Russell K. Portenoy (Juni 1994). „Sedation in the Management of Refractory Symptoms:
Guidelines for Evaluation and Treatment“. In: Journal of Palliative Care 10.2, S. 31–38. issn: 0825-8597,
2369-5293. doi: 10.1177/082585979401000207.
20
Indikationen für eine gezielte Sedierung17

• Unerträgliches Leiden an therapierefraktären körperlichen Symptomen (z. B. Delir,


agitierte Verwirrtheit, terminale Unruhe, Dyspnoe, Schmerzen) sowie existenzielles
Leiden und psychischen Symptomen (z. B. Depression oder Angst) erfordern eine
besondere Sorgfaltspflicht
• Krisensituationen (z. B. akute, starke Blutungen, akute Verlegung der Atemwege)
• Zu erwartendes Leiden bei der Durchführung oder Beendigung von Maßnahmen (z. B.
Beendigung einer invasiven oder nichtinvasiven Beatmung)

17 Christoph Ostgathe u. a. (31. März 2021). Handlungsempfehlung Einsatz Sedierender Medikamente in Der
Spezialisierten Palliativversorgung. Hrsg. von Forschungsverbund SedPall.

21
Problematik des Leidens in Medizin und Pflege18

• Die Fähigkeit zu leiden ist Teil des Menschseins und gleichzeitig weckt Leiden den
Impuls es zu lindern (Leidenlinderungsimperativ)
• Absolute Leidenslinderung bedeutet Abschaffung der leidenden Person
• Leiden ist ein subjekties Empfinden (Grund und Unerträglichkeit)
• Psycho-existentielle Leiderlebnissen umfassen u. a. Sinnlosigkeit, Angst, anderen zur
Last zu fallen, Abhängigkeit, Angst vor dem Tod, Wunsch den Todeszeitpunkt selbst zu
bestimmen, Kontrollverlust, Einsamkeit sowie Isolation
• Leidensbegriff in der Medizin nur wenig beleuchtet und drohende Überforderung
• Gefahr der Pathologisierung und Medikalisierung von exisitentiellen, spirituellen
oder psycho-soziale Aspekte des Leidens
18 ClaudiaBozzaro (Feb. 2015). „Der Leidensbegriff Im Medizinischen Kontext: Ein Problemaufriss Am Beispiel
Der Tiefen Palliativen Sedierung Am Lebensende“. In: Ethik in der Medizin 27.2, S. 93–106. doi:
10.1007/s00481-015-0339-7.

22
Beihilfe zur Selbsttötung
Dr. Gina Greeve (Deutscher Anwaltverein e. V.)19

Es wird nicht mehr darüber entschieden,


es ist entschieden.

19 Deutscher Bundestag (28. Nov. 2022). Stenografisches Protokoll Der 32. Sitzung Des Rechtsausschusses.
Aktuelle (Nicht-)Regelung der Beihilfe zur Selbststötung

• Strafrechtliches Verbot der gewerbsmäßigen Suizidbeihilfe wurde vom BVG außer


Kraft gesetzt im Februar 201920
• Ärztliches Standesrecht sah in Schleswig-Holstein nie ein Verbot vor. §16 der
Musterberufsordnung der Bundesärztekammer wurde im Mai 2021 geändert
• Pflegerisches Standesrecht wird es nach Abschaffung der Kammer nicht geben
• Urteil zur Garantenpflicht des BGH aus 1994 wurde revidiert 201921
• DIGNITAS-Deutschland, Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) und
Verein Sterbehilfe berichten von 350 Beihilfen zur Selbsttötung im Jahr 202122
• Nicht strafbar in den Niederlanden, Belgien, Luxenburg, Schweitz, Spanien,
Österreich, (Portugal), Finnland, Schweden und Estland
20BVerfG (26. Feb. 2020). Verbot Der Geschäftsmäßigen Förderung Der Selbsttötung Verfassungswidrig.
21 BGH (3. Juli 2019). Unterstützung Bei Selbsttötungen.
22 Robert Roßbruch u. a. (21. Feb. 2022). „Zwei Jahre Karlsruher Urteil: Praktische Erfahrungen Mit Sterbehilfe in

Deutschland“. Pressekonferenz (Tagungszentrum im Haus der Bundespressekonferenz).


23
Todeswünschen bei Palliativpatient:innen23

• Nicht jeder Todeswunsch ist mit der festen Absicht verbunden sich das Leben zu
nehmen
• Einem Todeswunsch ist auf den ersten Blick nicht anzusehen, wie sorgfältig bedacht
und anhaltend er ist
• Bei schwerkranken Menschen treten Todeswünsche häufig auf. Sie können
gleichzeitig neben einem Lebenswunsch bestehen, sich in ihrer Ausprägung
unterscheiden und wechseln
• Fester Entschluss zum konkreten Suizid ist eher selten
• Todeswünsche wurden in die S3-Leitlinie Palliativmedizin Für Patienten Mit Einer
Nicht Heilbaren Krebserkrankung 2019 aufgenommen
23 Kerstin
Kremeike u. a. (Nov. 2019). „Todeswünsche bei Palliativpatienten – Hintergründe und
Handlungsempfehlungen“. In: Zeitschrift für Palliativmedizin 20.06, S. 323–335. issn: 1615-2921, 1615-293X. doi:
10.1055/a-0733-2062.
24
Umgang mit Todeswünschen24

• Äußerung von Todeswünschen durch Patient:innen ist eine Einladung zum Gespräch
• Gespräch zu Todeswünschen sollte proaktiv gesucht werden
• Todeswünsche mit ihrer Ursache, Bedeutung und Intention sollten verstanden
werden (kein zwingendes Einverständnis)
• Todeswünsche sollen dokumentiert und im Team besprochen werden
• Suizidprävention (Orientierung zum Leben hin, ggf. psychiatrische und
psychologische Unterstützung einholen)

24 Kerstin
Kremeike u. a. (Nov. 2019). „Todeswünsche bei Palliativpatienten – Hintergründe und
Handlungsempfehlungen“. In: Zeitschrift für Palliativmedizin 20.06, S. 323–335. issn: 1615-2921, 1615-293X. doi:
10.1055/a-0733-2062.
25
Wo beginnt für Sie die Selbststötung?

• Nicht-Ergreifen von lebenserhaltenden Therapien


• Beendigung von lebenserhaltenden Therapien
• Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Essen (FVET, umgangssprachlich Sterbefasten)
• Einnahme von Mitteln, um den Tod herbei zu führen
• Bitten um die Gabe von todbringenden Mitteln

26
Wie weit würden Sie beraten?

• Keine Beratung, um Tat nicht zu unterstützen


• Information über allgemeine Möglichkeiten und Alternativen
• Individuelle Beratung über Alternativen
• Individuelle Beratung, welche zur einer Festigung des Entschlusses führen kann
• Individuelle Beratung, die Verweis auf konkrete Assistenzangebote oder
Durchführungsmöglichkeiten enthält
• Individuelle Beratung, die ein Zertifikat zur erlaubten Durchführung einer
Suizidassistenz beinhaltet

27
Wie weit würden Sie begleiten und helfen?

• Behandlungsabbruch bei konkreter Suizidabsicht


• Weiterbehandlung bis zur Durchführungshandlung des Suizids
• Verordnung von lindernden Medikamenten (Cave: tiefe kontinuierliche Sedierung bis
zum Tode kann zum Töten auf Verlangen werden!)
• Begleitung bei der Durchführung im Bewusstsein diese dadurch erst zu ermöglichen
z. B. Auffangen von Angehörigen, sicherer Rahmen
• Anlegen von Zugängen (Braunüle, Portnadel)
• Anhängen der todbringenden Infusion
• Verschreibung des todbringenden Mittels
• Hilfestellung beim Trinken des todbringenden Mittels z. B. bei Tetraparese25

25 BGH (28. Juli 2022). Abgrenzung Strafbarer Tötung Auf Verlangen von Strafloser Beihilfe Zum Suizid.
28
Zusammenfassung

Tabelle 1: Übersicht zu den Formen der Sterbehilfe

Form Einordnung
Sterbebegleitung erlaubt und geboten
Sterben (zu)lassen erlaubt und geboten
Therapien am Lebensende erlaubt und geboten
Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt (und geboten?)
Töten auf Verlangen strafbar
Totschlag / Mord strafbar

29
Vielen Dank!
sebastian.heinlein@travebogen.de
Webseite www.megsh.de
E-Mail kontakt@megsh.de
Tel. 0451 583490–40
Ärzteblatt Redaktion Deutsches, Deutscher Ärzteverlag GmbH (11. Sep. 2020). Urteil
gegen Patientenmörder Högel rechtskräftig. Deutsches Ärzteblatt. url:
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/116435/Urteil-gegen-Patientenmoerder-
Hoegel-rechtskraeftig (besucht am 21. 01. 2023).
Ärztekammer Schleswig-Holstein (2. Juni 2019). Berufsordnung (Satzung) Der
Ärztekammer Schleswig-Holstein.
BGH (3. Juli 2019). Unterstützung Bei Selbsttötungen.
– (28. Juli 2022). Abgrenzung Strafbarer Tötung Auf Verlangen von Strafloser Beihilfe Zum
Suizid.
Borasio, Gian Domenico, Hans-Joachim Heßler und Urban Wiesing (2009).
„Patientenverfügungsgesetz. Umsetzung in Der Klinischen Praxis“. In: Dtsch Arztebl
106.40, A-A 1952–7.
Bozzaro, Claudia (Feb. 2015). „Der Leidensbegriff Im Medizinischen Kontext: Ein
Problemaufriss Am Beispiel Der Tiefen Palliativen Sedierung Am Lebensende“. In:
Ethik in der Medizin 27.2, S. 93–106. doi: 10.1007/s00481-015-0339-7.
Bundegerichtshof (11. Nov. 2020). Bundesgerichtshof, Berliner Zwillingsfall, Beschluss
Vom 11. November 2020 – 5 StR 256/20.
Bundesärztekammer (Feb. 2011). „Grundsätze Der Bundesärztekammer Zur Ärztlichen
Sterbebegleitung“. In: Dtsch Arztebl 108.7, A346–348.
BVerfG (26. Feb. 2020). Verbot Der Geschäftsmäßigen Förderung Der Selbsttötung
Verfassungswidrig.
Cherny, Nathan I. und Russell K. Portenoy (Juni 1994). „Sedation in the Management of
Refractory Symptoms: Guidelines for Evaluation and Treatment“. In: Journal of
Palliative Care 10.2, S. 31–38. issn: 0825-8597, 2369-5293. doi:
10.1177/082585979401000207.
Deutsche Stiftung Patientenschutz (Apr. 2022). Strafbarkeit Der Sterbehilfe in Europa –
Übersicht.
Deutscher Bundestag (28. Nov. 2022). Stenografisches Protokoll Der 32. Sitzung Des
Rechtsausschusses.
Günther, Andreas u. a. (6. Nov. 2020). „Chancen Und Risiken von Reanimationsversuchen
in Pflegeeinrichtungen: Fakten Für Pflegeheimbewohner Und Versorger“. In: Deutsches
Ärzteblatt international. issn: 1866-0452. doi: 10.3238/arztebl.2020.0757.
Kremeike, Kerstin u. a. (Nov. 2019). „Todeswünsche bei Palliativpatienten – Hintergründe
und Handlungsempfehlungen“. In: Zeitschrift für Palliativmedizin 20.06, S. 323–335.
issn: 1615-2921, 1615-293X. doi: 10.1055/a-0733-2062.
Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen
Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), Deutschen Krebsgesellschaft e. V.
(DKG) und Deutschen Krebshilfe (DKH), Hrsg. (Aug. 2019). S3-Leitlinie Palliativmedizin
Für Patienten Mit Einer Nicht Heilbaren Krebserkrankung. 2.0.
Lipp, V. und D. Brauer (15. Mai 2013). „Behandlungsbegrenzung und „Futility“ aus
rechtlicher Sicht“. In: Zeitschrift für Palliativmedizin 14.03, S. 121–126. issn: 1615-2921,
1615-293X. doi: 10.1055/s-0033-1343112.
LTO (4. Nov. 2021). Arzt wegen Sterbehilfe an Covid-Patienten verurteilt. Legal Tribune
Online. url: https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lg-essen-arzt-sterbehilfe-
covid-patient-totschlag-verurteilt/ (besucht am 21. 01. 2023).
Nationaler Ethikrat (2006). Selbststimmung Und Fürsorge Am Lebensende.
Stellungnahme.
Neitzke, Gerald (o.D.). „Unterscheidung Zwischen Medizinischer Und Ärztlicher
Indikation. Eine Ethische Analyse Der Indikationsstellung“. In:
Ostgathe, Christoph u. a. (31. März 2021). Handlungsempfehlung Einsatz Sedierender
Medikamente in Der Spezialisierten Palliativversorgung. Hrsg. von Forschungsverbund
SedPall.
Roßbruch, Robert u. a. (21. Feb. 2022). „Zwei Jahre Karlsruher Urteil: Praktische
Erfahrungen Mit Sterbehilfe in Deutschland“. Pressekonferenz (Tagungszentrum im
Haus der Bundespressekonferenz).
Schildmann, Eva, Constanze Rémi und Claudia Bausewein (Juni 2021). „Sedierung in der
Palliativversorgung – Schritt für Schritt“. In: DMW - Deutsche Medizinische
Wochenschrift 146.11, S. 763–768. issn: 0012-0472, 1439-4413. doi: 10.1055/a-1227-1842.
Truog, Robert D. (6. Dez. 2016). „Medical Futility: When Is Enough Enough?“
Wegscheider, K. (Dez. 2012). „Gibt es eine Evidenz für medizinische Aussichtslosigkeit?“
In: Notfall + Rettungsmedizin 15.8, S. 667–670. issn: 1434-6222, 1436-0578. doi:
10.1007/s10049-011-1541-x.
Zentrale Ethikkommission (13. Mai 2022). „Ärztliche Verantwortung an Den Grenzen Der
Sinnhaftigkeit Medizinischer Maßnahmen. Zum Umgang Mit „Futility"“. In: Deutsches
Ärzteblatt Online. issn: 2199-7292. doi: 10.3238/arztebl.zeko_sn_futility_2022.

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