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Ulrich Kobbe
Diplom-Psychologe
Gießen, den 09. Juni 1989
"Die Konzentration der Teamdiskussionen auf das Thema Lockerungen bei der
Beurteilung eines Untergebrachten vermittelt mitunter den paradoxen Ein-
druck, daß die wegen der vermuteten Gefährlichkeit angeordnete Freiheits-
entziehung eigentlich nur den Sinn hat, die Gewährung von Lockerungen zu
ermöglichen" (Rasch 1986, 100).
Einleitung
Die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 63 bzw. § 64 StGB) stellen
für die behandelnden Therapeuten angesichts der Dilemmata Parteilichkeit
versus Neutralität, Diagnostik und Therapie versus strafrechtliche Konse-
quenzen, juristischer versus psychiatrisch-psychologischer Diskurs nicht
nur im Bereich des therapeutischen Alltags, sondern auch bezüglich der
für die Lockerungsentscheidungen erforderlichen Prognosestellung bei den
einzelnen Patienten erhebliche Probleme dar (vgl. z.B. Schorsch 1983).
Aus juristischer Sicht heißt es im Maßregelvollzugsgesetz (MRVG) für das
Land Nordrhein-Westfalen im § 15, "das Maß des Freiheitsentzugs richtet
sich nach dem Erfolg der Behandlung", doch fordert § 9 Abs. l der Durch-
führungsverordnung zum Maßregelvollzugsgesetz (DV-MRVG) für Nordrhein-
Westfalen, "die Lockerungen der Unterbringung sind so anzuordnen und zu
gestalten, daß die durch den Vollzug gebotenen Freiheitsbeschränkungen
im frühestmöglichen Zeitpunkt verringert und allmählich abgebaut werden".
Erläuternd heißt es weiter in der Begründung der Durchführungsverordnung
zum Maßregelvollzugsgesetz von Nordrhein-Westfalen: "Vollzugslockerungen
sind Bestandteil der Behandlung eines Patienten; die Entscheidung hierüber
ist deshalb unter vorwiegend ärztlichen Gesichtspunkten von einem Arzt zu
treffen" (S. 18). - Insgesamt stellt sich somit für die Therapeuten im
Maßregelvollzug die Frage nach dem 'richtigen1 Zeitpunkt für sogenannte
Vollzugslockerungen, d.h. die effektive schrittweise Erweiterungen von
tionen (s. Bruner u. Tagiuri 1954, Taft 1955, Merz 1962) deutlich zu
verringern und Fehlerquellen psychiatrisch-psychologischer Prognosen
(vgl. Pfäfflin 1978, Rasch 1982) erheblich zu reduzieren. Des weiteren
soll ein einheitlicher Beurteilungsbogen der Tendenz zur Kriterien-
reduktion als Verringerung kognitiver Dissonanz (vgl. Festinger 1957)
vorbeugen: sein Aufbau zielt darauf ab, daß auch bei langjährig unter-
gebrachten Patienten das zur Verurteilung und Unterbringung führende
Delikt nicht 'vergessen' wird, sondern vielmehr durch eine Wiederbe-
arbeitung aktualisiert und kontextuell betrachtet werden muß.
Die Formalisierung der Gefährlichkeitsprognose und der Lockerungsentschei-
dung verhindert u.E. darüberhinaus, daß dem Drängen der zwangsunterge-
brachten Patienten auf die Erweiterung ihrer Freiräume allzu schnell nach-
gegeben wird. Zugleich ermöglicht er u.E., dem Spannungsverhältnis zwischen
dem Freiheitsanspruch des einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allge-
meinheit dahingehend Rechnung zu tragen, daß die im Beschluß des Bundes-
verfassungsgerichts vom 08.10.85 (s. Eisel 1986) ausführlich dargelegte
Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs auch im Rahmen von Vollzugs-
lockerungen gilt. Nicht zuletzt bietet der Umgang mit dem Instrument des
Beurteilungsbogens ggf. auch Argumentationshilfen gegenüber dem den einzel-
nen Patienten vertretenden Anwalt (s. hierzu Schuler 1988, 8).
Zwischenergebnis
Der vorgestellte Beurteilungsbogen ist die 3. revidierte Fassung, der ein
erster Vorläufer in der Forensischen Abteilung der Klinik für Psychiatrie
Benninghausen und eine weiterentwickelte Form im Westf. Zentrum für Foren-
sische Psychiatrie Lippstadt zugrundeliegen. Die Zweitfassung des Beurtei-
lungsbogens war von 1985 bis 1987 in Gebrauch und wurde nach eingehender
Diskussion abermals zur vorliegenden, u.E. weiterhin vorläufigen Form
überarbeitet und ergänzt. - Der vorgestellte Beurteilungsbogen hat ins-
besondere insofern vorläufigen Charakter, als z.Z. am Lehrstuhl für Krimi-
nologie und Strafrecht der Fakultät für Rechtswissenschaft an der Univer-
sität Bielefeld ein Forschungsprojekt zur Untersuchung des Beurteilungs-
bogens durchgeführt wird: hierzu wurden insgesamt 202 Beurteilungsbogen
bis zum 31.12.87 erfaßt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann die aus Mit-
arbeitern der Universität Bielefeld sowie des Westf. Zentrums für Foren-
sische Psychiatrie Lippstadt bestehende Arbeitsgruppe die vorläufigen
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Fazit
Der gegenwärtige Beurteilungsbogen im Westf. Zentrum für Forensische
Psychiatrie Lippstadt stellt ein Evaluationsinstrument für die Praxis
dar, das in seiner Form der Komplexität der zu beurteilenden Person,
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Merz, F.
Die Beurteilung unserer Mitmenschen als Leistung,
in: 23. Kongr. Dtsch. Ges. Psychol.
Würzburg (1962)
Pfäfflin, F.
Vorurteilsstruktur und Ideologie psychiatrischer Gutachten über
Sexualstraftäter.
in: Schmidt, G.; E. Schorsch; V. Sigusch (Hrsg.)
Beiträge zur Sexualforschung Nr. 57.
Enke, Stuttgart (1978)
Rasch, Wilfried
Richtige und falsche psychiatrische Gutachten. Anmerkungen zu dem Urteil
des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 28.10.1981 zur Tätigkeit des Gerichts-
ärztlichen Ausschusses Nordrhein-Westfalen,
in: MschrKrim 65/5 (1982) 257-269
Rasch, Wilfried
Zur Praxis des Maßregelvollzuges. Verhalten in der Institution als Basis
der Prognosebeurteilung.
in: Eisenbach-Stangl, I.; W. Stangl (Hrsg.)
Grenzen der Behandlung. Soziale Kontrolle und Psychiatrie.
Westdeutscher Verlag, Opladen (1984) 128-138
Rasch, Wilfried
Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko.
in: Schwind, Hans-Dieter (Hrsg.)
Festschrift für GÜNTER BLAU zum 70.Geburtstag am 18. Dezember 1985.
Walter de Gruyter, Berlin (1985) 309-326
Rasch, Wilfried
Die Funktion von Lockerungen im Maßregelvollzug.
in: Pohlmeier, H.; E. Deutsch; H.-L. Schreiber (Hrsg.)
Forensische Psychiatrie heute. Ulrich Venzlaff zum 65. Geburtstag
Springer, Berlin Heidelberg (1986) 99-107
Schuler, Sigrid
"Maßnahmen der Besserung und Sicherung gemäß §§ 63,64 StGB" unter Berück-
sichtigung des Beschlusses des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes
vom 8.10.1985.
in: Forensia 9 (1988) 1-10
Schumann, Vera
Psychisch kranke Rechtsbrecher. Eine Querschnittuntersuchung.
Reihe Kriminologie. Abhandlungen über abwegiges Sozialverhalten Nr. 24.
Enke, Stuttgart (1987)
Schorsch, E.
Psychotherapeutische Aspekte bei der forensischen Begutachtung.
in: Psychiat. Prax. 10 (1983) 143-146
Schorsch, E.; M. Hauch; H. Lohse; H. Maisch; G. Röbbeling
Ist der Gefängispsychologe schuld?
in: Psychologie heute 9/3 (1982) 39-45
Stieglietz, R.-D.
Klinische Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren.
in: Diagnostica 34/1 (1988) 28-57
Taft, R.
The ability to judge people.
in: Psychol. Bull. 52 (1955)
Volckart, Bernd
Sachverständigenbeweis zur Kriminalprognose - darf das Gericht den Beweis-
antrag ablehnen?
in: R & P 3/1 (1985) 25-30