"Kunst ist Denken in Bildern." Diesen Satz kann man von einem
Primaner hören, aber auch der gelehrte Philologe geht von ihm aus,
wenn er auf dem F~lde der Literaturtheorie ein Lehrgebäude errichten
will. Dieser Gedanke ist vielen ins Bewußtsein eingegangen; für einen
seiner Urheber muß man Potebnja halten: .Ohne Bild gibt es keine
Kunst, insbesondere keine Dichtung". sagt er (in: "Iz zapisok po teorii
slovesnosti" [Aus den Aufzeichnungen zur Literaturtheorie]. Char'kov
1905, S. 83). "Dichtung ist, wie auch Prosa, vornehmlich und haupt-
sächlich eine bestimmte Art des Denkens und des Erkennens", sagt er
an anderer Stelle (op. cit., S. 97).
Dichtung ist eine besondere Art des Denkens, und zwar eine Art
des Denkens in Bildern; dieses Denken ermöglidtt eine bestimmte
Okonomie der Geisteskräfte, "das Empfinden relativer Leichtigkeit
des Prozesses", und Reflex dieser Ökonomie ist das ästhetische Gefühl.
So hat es - aller Wahrsdteinlidtkeit nadt richtig - das Akademie-
mitglied Ovsjaniko-Kulikovskij, der zweifellos die Bücher seines Leh-
rers aufmerksam gelesen hat, verstanden und zusammengefaßt. Po-
tebnja und seine zahlreichen Schüler halten die Dichtung für eine be-
sondere Form des Denkens - eines Denkens mit Hilfe von Bildern,
und die Aufgabe der Bilder sehen sie darin, daß mit ihrer Hilfe
verschiedenartige Gegenstände und Vorgänge in Gruppen zusammen-
gefaßt werden und das Unbekannte durch das Bekannte erklärt wird.
Oder, mit Potebnjas Worten: "So sieht das Verhältnis des Bildes zu
dem, was dadurch erklärt werden soll, aus: a) Das Bild ist das
konstante Prädikat zu variablen Subjekten - der konstante Anzie-
hungspunkt für veränderliche Apperzeptionsvorgänge. b) Das Bild
ist etwas weit Einfacheres und Klareres als das zu Erklärende"
(S. 314), d. h.• weil es Aufgabe der Bildlidtkeit ist, die Bedeutung des
Bildes unserem Verständnis nahezubringen, und weil sonst Bildlich-
keit sinnlos wäre. muß das Bild uns bekannter sein als das durch das
Bild zu Erklärende" (S. 291).
Es wäre interessant, dieses Gesetz auf Tjutcevs Vergleich des Wet-
terleuchtens mit taubstummen Dämonen anzuwenden oder auf Gogol's
Vergleich des Himmels mit den Gewändern des Herrn.
Viktor Sklovskij, Kunst als Verfahren 5
nicht die Bilder, deren Veränderung das Wesen der Bewegung der
Dichtung ausmacht.
Wir wissen, daß jene Fälle der Wahrnehmung häufig sind, in denen
Ausdrücke als etwas Poetisches, zum künstlerischen Ergötzen Geschaf-
fenes wahrgenommen werden, die nicht im Hinblick auf eine solche
Wahrnehmung geschaffen wurden; man vergleiche etwa die Meinung
Annenskijs, die slavische Sprache sei besonders poetisch, oder die Be-
geisterung von Andrej Belyj über das Verfahren russischer Dichter des
18. Jahrhunderts, die Adjektive hinter die Substantive zu stellen.
Belyj begeistert sich daran als an etwas Künstlerischem, oder genauer
- da er das für Kunst hält - als an etwas Beabsichtigtem - in
Wirklichkeit ist das die allgemeine Eigenheit der gegebenen Sprache
(Einfluß des Kirchenslavischen). Somit kann eine Sache 1) geschaffen
sein als prosaische und wahrgenommen werden als dichterische, 2) ge-
sdiaffen sein als dichterische und wahrgenommen werden als prosa-
ische. Das zeigt, daß das Künstlerische, das, was sich auf die Poesie
einer gegebenen Sache beziehen läßt, Resultat der Art unseres Wahr-
nehmens ist; künstlerisch nun, im engen Sinne, wollen wir Dinge nen-
nen, die in besonderen Verfahren hergestellt wurden, deren Zweck
darin bestand, daß diese Werke mit größtmöglicher Sicherheit als
künstlerisch wahrgenommen würden.
Die Schlußfolgerung Potebnjas, die man formulieren kann: Dich-
tung = Bildlichkeit, hat die ganze Theorie begründet, nach der Bild-
lichkeit = Symbolisches ist, die Fähigkeit des Bildes, konstantes Prä-
dikat bei verschiedenen Subjekten zu werden. (Eine Schlußfolgerung,
in die sich die Symbolisten wegen ihrer Ideenverwandtschaft verliebt
hatten - so Andrej Belyj und Merdkovskij mit seinen .Ewigen
Gefährten" -, und die der Theorie des Symbolismus zugrunde liegt.)
Diese Schlußfolgerung ergibt sich zum Teil aus dem Umstand, daß
Potebnja keinen Unterschied zwischen der Sprache der Dichtung und
der Sprache der Prosa gemacht hat. Deshalb hat er nicht beachtet, daß
es zwei Arten des Bildes gibt: das Bild als praktisches Mittel des
Denkens, als Mittel, Gegenstände zu Gruppen zusammenzufassen,
und das dichterische Bild - als Mittel zur Verstärkung des Eindrucks.
Ich will das anhand eines Beispiels erklären. Ich gehe auf der Straße
und sehe, daß ein vor mir gehender Mann mit Schlapphut ein Päck-
chen fallen gelassen hat. Ich rufe ihn an: .He, Schlapphut, du hast
dein Päckchen verloren!" Dies ist das Beispiel eines Bildes, das eine
rein prosaische Trope darstellt. Ein anderes Beispiel. Eine Abteilung
von Soldaten steht in Reih und Glied. Der Zugführer sieht, daß einer
von ihnen schlecht, einfach unmöglidt, dasteht, und sagt ihm: "He,
Viktor Sklor;;kij, K11nst als Verfahren 9
Smlapphut, wie stehst zu da!" Das ist ein Bild, das eine dimterisdte
Trope darstellt. (In dem einen Fall war das Wort Smlapphut eine
Metonymie, im anderen eine Metapher. Aber darum geht es mir jetzt
nimt.} Das dimterisme Bild ist eines der Mittel zur Herstellung des
stärksten Eindrucks. Als Mittel ist es in seiner Funktion mit den
anderen Verfahren der dimterismen Sprame gleimberedttigt, es ist
gleimberemtigt mit dem einfamen und dem negativen Parallelismus,
es ist gleimberemtigt mit dem Vergleim, der Wiederholung, der Sym-
metrie, der Hyperbel, es ist allgemein mit dem gleichberedttigt, was
man gewöhnlim Figur nennt, es ist gleimberemtigt mit all diesen
Mitteln zur Verstärkung des Empfindens einer Same (aum Wörter
können Samen sein, sogar die Laute eines Werks}, aber das dimterische
Bild ist dem Fabel-Bild und dem Gedanken-Bild nur äußerlich ähnlich.
Man vergleiche etwa den Fall (s. dazu Ovsjaniko-Kulikovskijs .Spra-
che und Kunst")*, wo ein Mädchen eine runde Kugel Melone nennt.
Das dimterische Bild ist eines der Mittel dimterischer Sprache. Das
prosaisme Bild ist ein Mittel der Abstraktion: Melone statt runder
Lampenschirm, oder Melone statt Kopf, bedeutet nur, daß vom Gegen-
stand eine seiner Eigensmaften abstrahiert wird, und untersd1eidet sich
in nichts von Kopf = Kugel, Melone = Kugel. Das ist ein Denk-
vorgang, hat aber nichts mit Dichtung zu tun.
Menschen und von Pferden. Für ein und dieselbe Sache vereinbaren sie, daß
nur einer sagt: mein. Und wer "VOn der größten Anzahl von Dingen nach
diesem unter ihnen ausgemachten Spiel sagt: mein, der wird von ihnen für
den Glüddichsten gehalten; weshalb es so ist, weiß ich nicht, aber es ist so. Ich
habe mich lange bemüht, mir das mit irgendeinem unmittelbaren Nutzen, den
sie davon haben, zu erklären, aber das erwie.i sich als ungerecht.
Viele von den Leuten, die mim zum Beispiel ihr Pferd nannten, sind nicht
auf mir geritten, dafür ritten mich ganz andere. Gefüttert haben mich auch nicht
sie, sondern ganz andere, Gutes getan haben mir wiederum nicht die, die midt
ihr Pferd nannten, sondern die Kutscher, Roßärzte und überhaupt außenstobende
Menschen. Später, als ich den Kreis meiner Beobadnungen erweitert hatte, kam
ich zu der Überzeugung, daß nicht nur in Bezug auf uns Pferde der Begriff
m e i n keine andere Grundlage hat; als den niedrigen und animalischen mensch-
lichen Instinkt, den sie Gefühl für Besitz oder Recht auf Besitz nennen. Ein
Mensch sagt: .Das Haus gehört mir" und wohnt niemals darin, sondern kümmert
sich nur um den Bau und die Instandhaltung des Hauses. Ein Kaufmann sagt:
.mein Geschäft", .mein Tuchgeschäft" zum Beispiel und hat dabei keinen Anzug
aus gutem Tuch, das doch in seinem Laden liegt.
Es gibt Leute, die Land ihr eigen nennen, aber dieses land nie gesehen haben
und niemals darauf gegangen sind. Es g;bt Menschen, die andere Menschen ihre
Menschen nennen, aber diese Menschen nie gesehen haben; und ihre ganze Be-
ziehun;; zu diesen Menschen besteht darin, daß sie ihnen Böses tun. Es gibt
Menschen, die Frauen ihre Frauen nennen, oder Ehefrauen; aber diese Frauen
leben mit anderen Männern zusammen. Und die Menschen streben in ihrem
Leben nicht danach, das zu tun, was sie für gut halten, sondern danach, möglichst
viele Dinge i h r e Dinge zu nennen.
Ich bin jetzt überzeugt, daß eben darin der wesentliche Unterschied zwischen
den Menschen und uns besteht. Und darum - ganz zu schweigen von unseren
anderen Vorzügen vor den Mens<hen - können wir schon allein deshalb ruhig
sagen, daß wir auf der Stufenleiter der Lebewesen höher stehen als die Menschen;
die Tätigkeit der Menschen, wenigstens derer, mit denen ich Beziehungen hatte,
wird voh Wo r t e n bestimmt, unsere aber durch Tu n. •
Auf diese Weise sehen wir, daß am Schluß der Erzählung das Ver-
fahren auch außerhalb seiner zufälligen Motivierung angewendet
wird.
In diesem Verfahren hat Tolstoj alle Schlachten in .Krieg und Frie-
den" beschrieben. Alle werden sie vornehmlich als etwas Seltsames
dargeboten. Ich will diese Beschreibungen l::ier nicht wiedergeben, sie
sind sehr lang - man müßte einen sehr beträchtlichen Teil des vier-
bändigen Romans abschreiben. Ebenso hat er die Salons und das
Theater beschrieben.
• Auf der Bühne waren in der Mitte glatte Bretter, an den Seiten standen
gemalte Bilder, die Bäume darstellten, hinten war auf Bretter T um gespannt. In
der Mitte der Bühne saßen junge Mädmen in roten Miedern und weißen Röcken.
Eine, die sehr did< war und ein weißes Seidenkleid anhatte, saß für sim auf
einem niedrigen Bänkchen, an das von hinten ein grüner Karton angeklebt war.
Alle sangen etwas. Als sie mit ihrem Lied fertig waren, ging das junge Mädmen
in Weiß zum Souffleurkasten, und zu ihr trat ein Mann in prallsitzenden Sei-
denhosen an den dicken Beinen, mit einer Feder, und fing an zu singen und die
Arme auszubreiten. Der Mann in den enganliegenden Hosen sang eine Weile
allein, dann sang sie eine Weile. Dann smwiegen beide, die Musik erdröhnte,
und der Mann fing an, mit seinen Fingern an der Hand des jungen Mädmens
im weißen Kleid herumzudrücken und wartete offenbar wieder darauf, seine
Partie zusammen mit ihr anzufangen. Sie sangen eine Weile zu zweit, und
alle im Theater fingen an zu klatsmen und zu S<nreien, und die Männer und
Frauen auf der Bühne, die Verliebte darstellten, fingen an sim lämelnd und
mit ausgebreiteten Armen zu verbeugen.
Im zweiten Akt gab es Bilder, die Monumente darstellten, und im Tum war
ein Loch, das den Mond darstellte, und an der Rampe smob man Limcsmirme
hodt, die Trompeten und Kontrabässe begannen !m Baß zu spielen, und von
rechts und links kamen viele Leute in smwarzen Umhängen herein. Die Leute
fuchtelten mit den Armen, und in den Händen hatten sie so etwas wie Dolche;
dann liefen noch irgendwelme Leute herbei und begannen, das junge Mädmen
wegzuzerren, das vorher ein weißes und jetzt ein blaues Kleid anhatte. Sie
zerrten es aber nicht gleich weg, sondern sangen lange mit ihm, und erst dann
zogen sie es weg, und hinter den Kulissen schlugen sie dreimal an etwas Metal-
lenes, und alle fielen auf die Knie und sangen ein Gebet. Einige Male wurden
alle diese Handlungen von begeisterten Rufen der Zuschauer unterbromen. •
Im vierten Akt:
.Da war so ein Teufel, der so lange sang Wld mit den Händen fumte!te, bis unter
1hm die Bretter auseinandergezogen wurden und er hinuntersank. •
wird von ihm nimt nur mit dem Ziel angewandt, eine Same simtbar
zu mamen, zu der er sim negativ verhielt.
• Pierre verließ seine neuen Gefährten und ging zwischen den Lagerfeuern auf die
andere Seite des Weges, wo, wie er gehört hatte, Kriegsgefangene sieb befinden
sollten. Er wollte sich mit ihnen ein wenig unterhalten. Auf dem Wege hielt ihn
ein französischer Posten an und befahl ihm umzukehren. Pierre kehrte auch um,
aber nicht zum Lagerfeuer, zu den Gefährten, sondern zum ausgespannten
Fuhrwerk, wo sonst niemand war. Er setzte sidJ. mit angezogenen Beinen und
gesenktem Kopf auf den kalten Boden an die Räder des Fuhrwerks und saß
lange unbeweglich und in Gedanken versunken da. Es verging mehr als eine
Stunde. Niemand störte Pierre. Auf einmal lachte er mit seinem dicken, gut-
mütigen Lachen so laut auf, daß sidt von verschiedenen Seiten die Leute mit
\'erwunderung nach diesem offensichdich seltsamen Lachen umschauten.
,Ha, ha, ha", lachte Pierre. Und er führte ein Selbstgespräch: ,Der Soldat
hat mich nicht durchgelassen. Gefangen haben sie mich, eingesperrt haben sie
mich. Mich, mich, meine unsterblich• Seele. Ha, ha, ha", lachte er, daß ihm die
Tränen aus den Augen traten ....
Pierre blickte zum Himmel empor, den in die Tiefe entschwindenden fun-
kelnden Sternen nach. ,Und das alles gehört mir, und das alles ist in mir, und
das altes bin ich", dachte Pierre. ,Und das alles haben sie ergriffen und in den
Bretterverschlag einer Narrenbude gesetzt." Er lächelte und ging zu seinen Ge-
fährten, um sich schlafen zu legen. •
Jeder, der Tolstoj gut kennt, kann bei ihm einige Hundert Beispiele
des angeführten Typs finden. Diese Art, Dinge aus ihrem Kontext
herausgelöst zu betramten, hat dazu geführt, daß Tolstoj in seineo
letzten Werken bei der Behandlung von Dogmen und Riten zu ihrer
Besmreibung ebenfalls die Methode der Verfremdung anwandte,
indem er die gewohnten Worte des religiösen Gebraums durm die
normale Bedeutung ersetzte; es kam etwas Sonderbares, Ungeheuer-
limes heraus, das viele aufrimtig für Gotteslästerung hielten, und das
viele smmerzlim verletzte. Aber es war immer das gleime Verfahren,
mit dessen Hilfe Tolstoj wahrnahm und erzählte, was ihn umgab.
Die Wahrnehmungen Tolstojs haben den Glauben Tolstojs ersmüt-
tert, indem ste an Dinge rührten, die er lange nimt hatte antasten
wollen.
Subjekt bei variablen Prädikaten. Ziel des Bildes ist nicht die Annähe-
rung seiner Bedeutung an unser Verständnis, sondern die Herstellung
einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes, so daß er .gesehen"
wird, und nicht • wiedererkannt".
Am klarsten läßt sich jedoch das Ziel der Bildlichkeit in der eroti-
schen Kunst verfolgen. _
Hier ist die Darstellung des erotischen Objekts als etwas, was man
zum ersten Mal sieht, normal. Siehe Gogol' in den .Abenden auf dem
Vorwerk bei Dikan'ka", in der • Nacht vor Weihnachten":
.Hier trat er näher an sie heran, hüstelte, lachte, berührte mit den Fingern
ihren nackten, vollen Arm und sagte in einer Art, in der sich sowohl Ver-
sdlmiutheit als auch Selbstzufriedenheit ausdrückten:
,Und was haben Sie da, herrliche Solocha?' Und als er das gesagt hatte,
sprang er ein wenig zurück. -
,Was ich da habe? Meinen Arm, Osip Nikiforovic!' antwortete Solocha.
,Hm! Ihren Arm! He, he, he!' sagte der Schreiber herzlich zufrieden damit,
wie rr es angefangen hatte, und ging im Zimmer auf und ab.
,Und was haben Sie da, teuerste Solocha?' sagte er in derselben Art, indem
er wieder zu ihr trat und ihr leicht mit der Hand an den Hals faßte und genau
so wieder zurücksprang.
,Als ob Sie es nicht sehen, Osip Nikiforovil!' antwortete Solocha. ,Meinen
Hals, und am Hals eine Kette.'
,Hm! Am Hals eine Kette! He, he, he!', und der Schreiber ging wieder im
Zimmer auf und ab und rieb sich die Hände.
,Und was haben Sie da, unvergleichliche Solocha?'... Wir wissen nicht, was
der Schreiber jetzt mit seinen langen Fingern berührte ...•
Bei Hamsun im .Hunger•:
.Zwei weiße Wunder schimmerten durch ihr Hemd."
Oder die erotischen Objekte werden figürlich dargestellt, wobei ein-
deutig nicht darauf abgezielt wird, .es dem Verständnis anzunähern •.
Hierher gehört auch die Darstellung der GeschledltSteile in der Ge-
stalt von Schloß und Schlüssel (z. B. in den .Rätseln des russischen
Volks" von D. Sadovnikov, SPb., Nr.102-107)", in Form von Web-
geräten (ibid., 588-591), von Bogen und Pfeil, von Ring und Pflock,
wie in der Byline vom Staver (Rybnikov 30)"'*.
Der Mann erkennt seine Frau nicht, weil sie als Rec:ke verkleidet
ist. Sie gibt ein Rätsel auf: -
,.,Weißt du noch, Staver, erinnerst du dich,
Wie wir als Kinder auf die Straße gingen,
In einer anderen Variante der Byline ist auch die Auflösung ge-
geben:
.Da nahm der furmterwcckende Bote Va•il'juska,
Hob seine Kleider bis zum Nabel hod!,
Und da hat der junge Staver, der Sohn Godinovil,
Das Ringlein erkannt, das vergoldete ... •
(Rybnikov 171).
Aber die Verfremdurig ist nidtt nur ein Verfahren des erotisdten
Rätsels, des erotischen Euphemismus, sie ist Grundlage und aussdtließ-
licher Sinn aller Rätsel. Jedes Rätsel repräsentien entweder eine Er-
zählung von einem Gegenstand mit Worten, die ihn bestimmen und
sdlildern, die man aber normalerweise bei einer Erzählung von diesem
Gegenstand nidtt verwendet (der Typ .zwei Enden, zwei Ringe, in
der Mitte ein Nagel"), oder eine eigenartige Iaudime Verfremdung,
gleidtsam ein Nadtäffen.•Ton da totonok?" (pol i potolok) [Boden
und Decke] (D. Sadovnikov, 51) oder _Slon da kondrik?" (Zaslon i
konnik) [ Ofentür und Ofenbank], (ibid., 177).
Verfremdungen sind auch erotische Bilder, die keine Rätsel sind;
zum Beispiel, alle .Croquetsdtläger", .Aeroplane", .Püppdten",
.Brüderchen" u, ä. m. der Chansonetten..
Sie haben etwas nlit dem Niedenreten des Grases und dem Pflücken
des Schneeballstrauchs in der Volksdidttung gemeinsam.
Vollkommen klar ist das Verfahren der Verfremdung in dem weit-
verbreiteten Bild-Motiv der erotischen Stellung, in der der Bär den
Menschen nicht erkennt. (,.Der furchtlose Herr", in: Velikorusskie
skazki. Zapiski Imp. Russ. Geogr. ObSC. (Großrussische Märdten.
Schriften der Kaiserl. Russ. Geogr. Gesellsch.J, Bd. XLII, M. 1915,
Nr. 52).
Das ,.Nichterkennen" dieser Stellung, ihre Ahsonderlidtkeit. wird
in einem weißrussischen Märdten folgendermaßen dargestellt (Belo-
Viktor Skloflskij, Kanst als VeT/alrrtn 29
Bild ist nicht zu einem Sujet erweitert. Ebenso häufig wird die Ver-
fremdung bei der Darstellung der Geschlechtsorgane angewendet.
Eine ganze Reihe von Sujets beruht auf ihrem "Nichterkennen",
zum Beispiel in Afanas'evs "Geheimen Märchen": bei der "Scham-
haften Herrin" beruht das ganze Märchen darauf, daß ein Gegenstand
nicht beim Namen genannt wird, also auf dem Spiel mit dem Nichter-
kennen. Ebenso bei Oncukov: "Das Weibermal", Märchen 252"·, des-
gleichen in den "Geheimen Märchen", in "Bär und Hase": Bär und
Hase machen eine "Wunde".
Zum Verfahren der Verfremdung gehören auch Formen des Typs
"Stössel und Mörser" oder "Teufel und Hölle" (Decamerone).
über die Verfremdung im psychologischen Parallelismus habe ich
in meinem Artikel über die Sujetfügung geschrieben.
Hier wiederhole ich, daß beim Parallelismus das Empfinden der
Inkongruenz trotz Obereinstimmung wichtig ist.
Zweck des Parallelismus, wie überhaupt der Bildlichkeit, ist die
Übertragung eines Gegenstandes aus seiner normalen Wahrnehmung
in die Sphäre einerneuen Wahrnehmung, d. h. eine eigenartige seman-
tische Veränderung. ·
' N. E. Oncukov. Scverny< skazki [Märdten des Nordens]. SPb. 1905 (Zapiski
Jmpcratorskogo geograficeskogo obllestva po otdeleniju etnografii, XXXIII).
Viktor SftlOfl>kij, Kunst als Vn']ahrtn 33
Škovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur
allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 4. Auflage. Hrsg. von Jurij
Striedter. München: Fink 1988. S. 4-35.