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OSKAR BECKER

Mathematische Existenz
Untersuchungen zur Logik unde0ntologie
mathematischer Phänomene

2., unveränderte Auflage

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN


1973
Die erste Auflage ersdıien im
Jahrbuch für Philosophie und phänomeııo-logische Forschung
herausg egeben von Edmund Husserl
u Band VIII, 1927

Die Paginierung der Erstauflage steht im Neudruck in eckigen Klammern

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ISBN 3 484 7011-3-7

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1973


Alle Rechte vqrbehalten. Printed in Germany - -
Nadıdruck, photomeehanisdıe Wiedergabe und Übersetzung
nur mit ausdrückliizheı' Genehmigung des Verlages gestattet
Einband von Heim-. Koch Tübingen
Inhalt.

Mathematííche Exiftenz.
llnteriuchungen zur Logik und Ontologíe mathematiicher Phänomene.
P Von O s k a r B e dr e r (Freiburg i. B.) am
Vorbemerkung.....--.----------›1
§ 1. Der gegenwirtigeßtreit um die Grundlegung der
_ ı a ı 0 ı ı ı 1 0 0 ı I' 0 0 ' 0 U ' 5

a) intuitionismus (Brouwer) . . . . . . . . . . . . . 6
b)Formaliamus(I-iilbert). . . . . . . . . . . . . . . 13
§ 2. Formulierung des Problems der mathematiichen
i
s
Exiitenz..................... 21
§3. lmmanente Kritik der Hilbertidıen Theorie. . . 32
3.
I
a
a) Der Sinn der Forderung der Wideriprudısfreiheit g . . . . . 32
b) Das Transflnite und das imaginäre . . . . . . . . . . . 36
c) Die llnvermeidlidıkeit des llnendlichen in der Metamatbematik 45
§4. Logiicbe Hnalyie der intuitioniftiidmn Theien .r 54
a) Die Leugnung des-Sages vom ausgeicblolienen Dritten . . . 54
4"'-PI -¬.'›ı-Iívwıqg-uı.~ı;.\_ıvyı-:

b) Koniequenz und Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . 69


§ 5. Ontologiiche Probleme des Intuitionismus . . . 81
a) Der transfinite Progreiius und feine ontologiiche Deutung . . 82
P I. Die Reihe der Cantorfchen Transfiniten in der traditionellen
lnterpretation..................R2
ll. Transfinite Strukturkomplikationen des Bewußtieins . . . 96
H. Die Stufen der Relativierung von Husiagen . . . . 96
B. Die Stufen der Bildgegebenheit . . . . . . 93
C. Die Stufen der Reflexion auf lich felbft . . . 101
Hnmerkung (über Schelling) . . . . . . . 114
Ill. Die mathematiichen Theorien über die Menge W . . . . 116
. IV. Die transflnite Komplikation des Bewußtieins und die
Mengenlehre-................~.119
H. Die transfinite Progreiñon und der überlieferte Mengen-
begriff...................119
B. Phänomenologiiche und mathematiiche Theorie des Trans-
finiten 126
Inhaltsverzeichnis.
Seite
b) llnterfuchungen zum Kontinuumproblem . . . . 129
I. Die geichichtlicben Wurzeln in der flntike . . . . . . . 130
8 H. Die antike Definition der mathematifchen Exiitenz durch
8Konl`truktion................. 130
B. Die antike Lehre von den irrationalen Verhältniiíen . . 133
C. Das Kontinuum in der Hntike . . . . . . . . . . 143
il. Die weitere Entwicklung in der neueren Mathematik bis auf
Hilbert........l........... 148
H. Die abendländifdıe Definition durdı konvergente unend-
licheProzeiie. . . . . . . . . . . . . . . . . 148
B. Die Entwicklung des allgemeinen Funktionsbegritis bis1750 149
C. Die Idee der »ganz willkürlidıen« Funktion . . . . . 153
D. Das moderne Kontinuumproblem . . . . . . . . 160
Ill. Hilberts Löfungsverfuch des Kontinuumproblems . . . 170
Fi. Die angebliche Rolle der Beweistheorie bei der Hilbert-
id'›enLöiung........i......... 170
B. I-lilberts Hauptbetrachtung. . . 171
C. Das Lemma II . . . . . . . . . . . . 173
D. Das Lemma I . . . . . . . . . . . - . . . . . 176
E. Die íachlidae Bedeutíamkeit der H i lbertichen Löfung . 180

Das philoiophiiche Problem der mathematifchen


ı o uı ı Q Q ı n ı G ı 0 ı ı ı ı a ı ı g ı 181
a) Hermeneutifche Hnalyfe der demonftrativen und der deduk-
tivenMathematik.................. 181
b) Die enticbeidende Rolle der Zeitlichkeit für den Seinscharakter
der mathematiichen Gegenftände . . . . . . . . . . . . 19.7
I. Die grundlegenden antiken Theorien . . . . . . . . . 197
H. Geometriiche Figuren . . . . . . . _ . . . . . . 197
B. Zahlen. (Die Entwieklung von der Geftalt zur Reihe) 199
C. Das llnendliche . . . . . . . . . . . . . .R . . . 201
D. Zahl, Llnendlichkeit und Zeit . . . . 209
II. K ant über Zeit, Zahl, Unendlichkeit .. . . . 213
lII.Sy1'tematifche Llnteriuchungen . . . . . . . _ . . . 217
H. Die verfchiedenen Hrten der unendlichen Progreíiion . . 217
B. Die hiftoriiche und die naturhafte Zeit . . . . . . . 220
C. Mathematik und Zeitlichkeit . . . . . . 228
c) Der ontologiiche Sinn mathematiicher Exiftenz . . . 234
I. Einführung in die Problemftellung . . . . . . . . . 234
ll. Hiftoriiche Orientierung an der Hntike . . . _ u. . . . 236
H. Das Problem der ,-.ué.'›-„arg (Vor-platoniker [ñrchytas] und
Plato).................›. 236
B. Das Hpriori und die åvaëμwμnç. (Der junge Plato) . . 239
C. Die Hbftraktion (åıpmhsoıç) als das Kennzeichen des
Mathematiichen (H ri ft ot el e s) . . . . . . . . . 243
Inhaltsverzeichnis. VII
Seite
D. fixiomatifcher Elementaraufbau '(aroqsı'w<n;). (Der fpätere
P l a t o) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

E. Der platoniích-ariftoteliíche Gegenfag . . . 254

F. Die finfänge des Mathematifch~Formalen . . . . . . 255

III. Die Weiterentwicklung des Mathematiich -Formaten im


ñbendland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
H. Begrenzung der Darftellung .8 . . . 264
B. Descartes und feine Zeit . . . . . zes)
C. Leibniz . . . _ . . . . . . . . . . . . . . 274
D. Kant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
IV. Syftematiiche Erörterung der Frage nach dem Seinsiinn
des Matbematifchen. (fibichließende Bemerkungen über die
gegenwärtigeProblemlage) . . . _ . . . . . . 307

Mathematifcher Hnhang- - ~ › ~ - - - - - _ - - 329


Vorbemerkung...............(..... 329
E r g ä n z u n g e n z u § 3. (Das Unendliche in der Metamathematik) . 330
I. Der metamathematifche Hnfag von ]. v. N eumann . . . . . 330
II. Die (halb-)transfinite Induktion in W. Hckermanns Beweis-
theorie....................... 330
Ill. Zum Problem des »genügend kleinen« Bndlichen in der Meta-
mathematik 332
Ergänzungen zu §4. (Fragen der Brouwerichen Logik) . . 335
I. Zum Problem des ››Quartum non datur« . . . . . . . . 335
ll. Die Iteration der fibiurdität. . . . . . . . . . . . . . . 339

E r g ä n z u n g e n z u § 5. (Zur Lehre von den transfiniten Ordnungs-


zahlen und zum Kontinuumproblem) . . . . . . . . . . 340
I. J. v. Neumanns allgemeine Theorie der transfiniten Ord-
nungszahlen..............3.....__ 341
II. Iiilberts Theorie der Variablentypen und Ordnungszahlen . 343
III. Heffenbergs induktive Begründung der Rechnung mit Ord-
nungszahlen.................... 349
IV. Brouw ers Theorie der zweiten Zahlklaffe . . . . . . . . 350
V. Beifpiel für die transfinite Iteration der Bildintentionalität . . . 352
Vl. über gewiffe Schwierigkeiten in der Transfinitentheorie und die
Möglichkeiten zu ihrer Überwindung . . . . . . . . . . . 354
H. Die Löwenftein-›Skolemfche Paradoxie . . . 354
B. über ein Verfahren zur íyftematiíchen Bezeichnung (Kon-
ftruktion) aller Transfiniten der zweiten Zahlklatíe . . . . 356
C. Zur Frage der Begründung des zweiten I-lilb e rtfchen Lem-
mas zum Kontinuumfag und diefes S:-ıges felbft . . . . 4. 365
Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . _ . . . 368
Vorbemerkung.
Der Husdruck ›Mathematifche Exiftenz« entftammt der m at h e -
ma tiiche n Fachfprache und dieíe Hrbeit geht auch von dieiem
Wortgebrauch innerhalb der poñtiven Wiifenfchaft aus. Fiber ihre
Hbíicht ift nichtsdeftoweníger eine philoiophíicheı íie íft nämlich
auf die Ergründung des Seinsiinns der mathematiichen
Phänomene geridvtet. Sie umfaßt nicht nur logiiche, íondern
gerade in den Teilen, auf die idw am meiften Gewicht legen möchte,
ontolo giiche Llnteríuchungen. Der fiusdruck ››ontologífch« iit
nidıt gemeint im Sinne des Rationalismus des 17. und 18. ]ahr=
hunderts, auch nicht im Sinne einer Wefensbetrachtung, die iich kon-
[titutiv-phänomenologiicber Llnterfudıung noch enthält, íondern er
ioll gerade die konititutive Frageitellung ielbft und in gewiííem
Sinne iogar noch mehr oder wenigftens eine beíonders konkrete
Form konititutiven Fragens bezeichnen. Es wird in dieier Hrbeit
weitgehend außer den natürlich gerade bei mathematiíchen Gegen-
ftändllchkeiten zunächft grundlegenden Methoden der formalen,
tranizendental-konftitutiven Phänomenologie (fo, wie in Hui ie rls
›Logil'chen llnteriuchungenı und »Ideen zu einer reinen Phäno=
menologie« ihren heute bereits klaíiifch gewordenen Husdruck ge»
funden hat) die von Hei degger begründete Forichungsweiíe der
hermeneutii chen Phänomenologie verwandt. (Vergl. deíien
fibhandlung »Sein und Zeit« in díefem Jahrbuchband). Heideg g e r
bezeichnet mit ›Ontologie« die ›Hermeneutik der Faktizität«, die
Huslegung menichlid›en Daieins. Und fo ift auch in der gegen-
wärtigen llnterfuchung immer wieder verfucht worden, die »mathe-
matifche Exiftenz« in den Zuiammenhang meníchlichen Dafeins
hineinzuftellen, der als der allenthalben grundlegende Interpreta=
tionszuiammenhang überhaupt anzuíehen ift. Freilich ift damit von
vornherein die Frage nach dem Seinsñnn des μáåıßua, des »Mathe-
matifchen« im allgemeinften Sinn, hingedrängt auf den Hníag des
μáäøgμa als μáäiyaıg als ›Mathematiñerendes Daieím. Das ›Mathe=
matiíierem (μaäøgμarızsıšeaåaı) analog dem Philofophieren ielbft oder
etwa auch dem Muíizieren, als eine Weite des lebendigen Dafeins
des Menichen, íit das Thema phänomenologifcher in t e rp r e t ati o n
.-

2 Oskar Becker. [442]

und kann allein nur Thema einer wirklichen Interpretation fein.


Die Mathematik erfcheint als der Niederichlag smathematiiierenden«
Lebens, fo wie die Kunft Niederidılag des künftleriich ichaffenden
Lebens ift.
fiber, fo iehr fie das ift, ift die Mathematik ionft nichts? Geht
fie nicht gerade am eheften von allen menichlichen Betätigungen
auf Gegenftändliches, Ob-iektives, En-iich-ewig-Seiendes? Es läßt
iich nicht leugnen, daß sμáäqμa.. (trog aller feiner Gebundenheit an
verbale μaväáμaw, die es zum vóvıyμa ftempelt) auch dieien rein
gegenitändlichen Sinn hat. Es ift die Frage nicht abzuweiien,
was es denn befage, daß die »äußere Welt« doch offenbar von
mathematifcher Harmonie in ungeahntem, iich mit iedem neuen
Fortfchritt der Wiiienidvaft für uns ins Llnermeßliche fteigernden
Maße durchherrícht und durchleuchtet ift. Diefes große Problem
der Exiftenz des Mathematiidıen in der Natur, das durd› die fchon
ieit Jahrhunderten andauernden, gar nicht ielbftverftändlichen E r-
folge der theoretiiclıes Phyiik geftellt wird, bleibt als ungelöfter
Reit unterer konftitutiven und hermeneutifchen Llnteriuchungen be-
ftehen. Prinzipiell in ganz ähnlicher Weite folgt auch in der Kan-
tí ich en Philofophie die Kritik der teleologifchen Llrteilskraft noch auf
die Kritik der reinen Vernunft (die im Grunde die [kantifchen] Kon-
ftitutionsprobleme alle fchon erledigt hat). Für diefes Reftproblem
ift weder die konftitutive noch die hermeneutiiche Hnalyie eine zu-
reichende Methode; es verdient den Namen einer im eigentlichen
Sinn meta ph y íiidıen Frageftellung, der man iich - vielleicht -
auf dem Wege der N a t ur-D e utun g , eines Verfahrens, das nicht
mit irgend einer Hrt von fiuslegung zuiammenfällt, nähern kann.
In der gegenwärtigen Schrift bezeichnet diefes Problem nur die
Grenze, die von der llnterfudøung nicht überfchritten wird. -
Wenn auch das eigentliche Thema der Hbhandlung, wie ange-
deutet, ein philoiophifch-prinzipielles ift, fo geht die Betrachtung
doch aus von der aktuellen und bis zu einem gewiiien Grade natür-
lich zufälligen Problemlage der gegenwärtigen mathematifchen Grund-
lagenforíchung. Der Streit zwiíchen dem - Intuitionismus« (B r o u w e r)
und dem .›Formalismus« (Hilbert) dient als Fınfagpunkt der
llnterfudmng. Das Ergebnis enticheidet für den Intuitionismus und
feine ›i ach lich e« Mathematik, die allein wirkliche Phänomene ent-
deckt, die orginärer und adäquater Hnichauung zugänglich und exiften-
tialer Huslegung fähig iind. Insbefondere erweift iich das Unend-
liche in der Form des Prozeffes, undzwar nicht bloß des
indefiníten fonde rn auch des transfiniten, als ein echtes
[443] Mathematiiche Exiftenz: 3

Phänomen des reinen formalen Bewußtieins und auch fogar des


konkreten hiftorifchen Dafeins; es ift fowohl der konftitutiven Hna-
lyfe wie der ontologifchen Interpretation erreichbar. Fiber es ift
freilich nicht zu verkennen, daß diefe Enticheidung von den Schranken,
die fich die llnteriuchung íelbft auferlegt, bedingt ift. Es iít keines-
wegs geiagt, daß die »Sachlichkeih für das ››metaphyiifche«
Problem der Natur-Deutung, das im vorigen berührt wurde, nodı die-
felbe entícheidende Rolle fpielt wie für die Interpretation im Zu-
fammenhange hiftoriichen Dafeins. Es muß insbefondere fpäterer
Forfdmng vorbehalten bleiben, die Rolle zu klären, die der neuer-
dings von I-I. Weyl auf Grund der I-Iilbertfchen Forfchungen
vertretenen Idee einer rein Iymboliichen Mathematik im
Zuiammenhang mit der Frage deutenden Naturerkennens zukommt.
Die zum Teil icharfe Kritik, die an Hilberts Philofophie der
Mathematik in dieier Hrbeit geübt wird, läßt alio nicht nur (was eigent-
lidı felbftverftändlich ift) die hohe Bedeutung dertiefen mathe-
matiichen Gedanken Hilberts unangetaftet (fie gibt ihnen nur
eine von der eigenen Huffafiung Hilberts vielfach abweichende Deu-
tung, die aber zeigt, in wie erftaunlichem Maße gerade die »forma-
liftifchen« Forfdıungen Hilberts zum Kontinuumproblem von ladi-
licher Bedeutfamkeit iind), fondern fie hält auch die Möglichkeit einer
-metaphyiiíchen« Bedeutung der Hilbertfchen transfiniten Mathe-
matik offen. Nur darf man die ››Seinsart- der -tranfzendenten« meta-
phyñfdven Gegenftändlichkeiten, die jenieits der phänomenologifdv aus-
weisbaren -immanenten« Sadvlichkeit liegen, nicht mit eben jener uns
aus den bisher angeftellten konftitutiven und hermeneutiichen Unter-
iuchungen vertrauten phänomenologiichen Sachlichkeitver wechfeln.
Es handelt iich da um »Gegenftände«, die in gewifiem Sinne nach
Platons Worten årvéztwa rfig oıiaíag, ›jenfeits des Seinsiinns« - --
i ind, io paradox dies auch klingt; Dinge die eine von der bisher
betrachteten radikal verfdıiedenen transphänomenale, wenn auch viel-
leidıt nicht metaphänomenologíídwe › n e u e S a ch lich ke i t « an fich
tragen. .
Llnd fo ift es ein Hauptziel diefer Hrbeit, ein unbeionnenes
Hineingleiten in eine methodiidı unklare ››Metaphyük« zu ver-
hindern, das Einíchneidende der Grenze, die vor jenem ›]enIeits«
liegt, zu betonen und die Gefdflofíenheit, die auch hier den konfti-
tutiv-hermeneutifchen Problemkreis auszeichnet, zur Geltung zu
bringen. Der Weg über jene Grenze hinaus, den die Forfchung
vielleicht idıon bald zu beidvreiten genötigt fein wird, ioll und wird
dadurch nicht veríperrt werden.
4 Oskar Becker. [444]

Wie jede phänomenologiiche Hrbeit, ift auch die vorliegende


den methodiich und inhaltlich in fo weitem Umfang grundlegenden
Forichungen H u I I e rls (die leider nur zum kleinften Teil verötient-
licht find) in erfter Linie verpflichtet. Dies gilt von fait allen Teilen
der Hbhandlung; beionders hervorgehoben tei die Llrteilstheorie
(§ 4 a), die Llnterídveidung von -Wahrheit-= und »Konfequenz-= (§ 4b)
und der Begriff der -Stufencharakteriftik« (bei der phänomeno-
logifchen Hnalyfe des transfiniten Prozeifes in §5a).
Für die hermeneutifchen, d. h. die wefentlich ontolo-
gi ich e n Teile (insbefondere § 6a, b und teilweife auch § 5a und 6c)
gebührt mein Dank den bahnbrechenden Llnterfuchungen He i deg g ers.
Sie konnten im allgemeinen noch nicht in der jegt vorliegenden,
abíchließenden Faiiung, wie iie in »Sein und Zeit- iich darftellt, be-
nugt werden, iondern gehen auf Vorleiungen und übungen vor
allem feiner Freiburger Lehrtätigheit 1919 -› 1923 zurück. Trogdem
habe ich nachträglich einige wenige Einzelhinweife auf »Sein und
Zeit- zur Erleichterung des Verftändniíies für den Lefer hinzu-
gefügt. Die hermeneutiíche finalyie der Zeitlichkeit ift nach einem
im Juli 1924 in Marburg gehaltenen Vortrag dargeftellt. Es tei
noch bemerkt, daß aus verfchiedenen Gründen meine Terminologie
nicht überall den oft Iubtilen Llnterfcheidungen Heideggers genau
folgt; fo z. B. unterfcheide ich nicht ›ontologifch« und ›ontiich« und
gebrauche die Termini ›-Dafeim, ›Exiftenz- u. ä. nicht in der fcharfen
Begrenzung wie er.
Was am Schluiie der Hrbeit (im § 6c:IV, am Ende) über die
Idee einer fymboliichen, Natur deutenden Mathematik geíagt wird.
verdankt entfcheidende Hnregungen der neuften philofophifchen
Schrift H. Weylsl und außerdem mir liebenswürdiger Weile zu-
teil gewordenen brieflichen Äußerungen. Für wertvollfte Hilfe
zum Verftändnis Leíbnizens (vgl. §6c III E) bin ich endlich
D. M a hn k e s bekannten Hrbeiten, die ihr Verfaifer durch einige für
mich iehr lehrreiche briefliche Mitteilungen freundlicherweiíe ergänzte.
zu großem Danke verpflichtet. „
,Y I7

1) =-Philoiophie der Mathematik und Naturwiiienichaft« (Handbuch der


Philofophie, her. v. Fi. Bäumler u. M. Schröter, München u. Berlin 1926, Hbt.II,
Beitrag H.); die Schrift erichien leider zu ipät, um außer in § 6c IV noch
íyftematifch benugt werden zu können. - Ebenio konnte die wichtige Fıbhand-
lung J. v. Neumanns -Zur I-lilbertichen Beweistheorie.. (Math. Zeitfch. Bd. 26,
S. lff. [1927], die gerade in einem für mich bedeutfamen Punkte den Hilbert-
Bernayfchen Standpunkt modifiziert, nur noch im »M a t h e m a ti Ich e n
F1 n h a n g « am Schluß der Hrbeit berückñchtigt werden.
[445] Mathematifche Exiftenz. 5

§ 1.
Der gegenwärtige Streit um die Grundlegung der Mathematik.
Der Begriff der mathematifdıen Exiftenz ift derjenige
unter allen mathematifchen Begriffen, der am deutlichften verrät,
wo die p h i l o í o p h i f ch e n Fragwürdigkeiten in der mathematífchen,
fcheinbar fo feft gegründeten Wíffenfchaft beginnen. Er gewährt
daher am eheften die Möglichkeit, zu unterfuchen, welches die philo-
Iophifchen Wurzeln der mathematífchen Theorienbildungen find, d. h.
was den Sinn des Seins mathematifcher Gegenftändlichkeit und mathe-
matifcher Frageftellung ausmacht.
Man darf nicht hoffen, diefen Grundbegriff in den programmatifchen
Erklärungen philofophifcher Färbung, welche die um die Grundlagen
ihrer Wiifenfchaft bekümmerten Mathematiker ihren Darlegungen zu-
weilen vorauszufchicken pflegen, voll zu erfaffen. Er wird nur da
klar ans Licht treten, wo er in der ihm eigentümlichen Leiftung für
das Entftehen der Theorie beobachtet werden kann. Deshalb ift es
erforderlich, eine Schilderung und Würdigung der tatfächlidven
Leiftungen der gegenwärtigen mathematifchen Grundlagenforfchung
den weiteren Darlegungen vorauszufchicrken. Im Verlaufe diefer
kritifchen Bemühungen zeigt fich dann, daß die leitenden Geiidıts-
punkte für die Forfchungen der gegenwärtigen Mathematiker nicht
etwa unterer heutigen Zeit eigentümlich find, fondern aus hiftorifchen
Wurzeln entfpringen, die bis in die griechifche Philofophie und Mathe-
matik hinabreichen. Sofern eine echte philofophifche Klärung ohne
richtig verftandene hiftorifche Befinnung niemals wird geleiftet werden
können, erweíft fich damit eine llnterfuchung der antiken finfchau-
ungen über mathematiíche Exiftenz als unentbehrlich. Erft nach
diefen Vorunterfuchungen wird man genügend vorbereitet fein, um
an die eigentlichen philofophiíchen Fragen herantreten zu können.
Die gegenwärtige geiftesgefchichtlíche Lage der Philofophie der
Mathematik ift nun am fchärfften gekennzeichnet durch eine gewifie
Streitfrage, die um das Prinzip der Grundlegung der mathematifchen
Wiffenfchaften entftanden ift. Es erfcheint daher geboten, mit einer
Darítellung diefes fundamentalen Streitpunktes zu beginnen, den
man durch die Doppelfrage kennzeídmen kann: »Soll die Mathematik
intuitiv oder formal-.axíomatifch begründet werdenil«
6 Oskar Becker. [446]

Nachdem es in den 70 er Jahren des 19. Jahrhunderts anfcheinend


gelungen war, die höhere Hnalyfis nach langen vergeblichen Ver-
fuchen mit derfelben Strenge zu begründen wie die elementare
Mathematik (G. Cantor, Dedekind, Meray, Weierftraß).
íchritt man zu dem Unternehmen fort, die Lehre von den natürlichen
Zahlen im Zufammenhang mit der von C antor mit erftaunlicher
Kühnheit geichaffenen Lehre von den unendlichen Mengen ihrer-
feits auf eine angemeffen erweiterte formale Logik zu begründen
(G. Fre g e , B. Ruff e l 1). Dies mißlang jedoch, indem fich inner-
halb der anfcheinend ungebührlidv ausgedehnten formalen Logik felbft
unlösbare Wideriprüche ergaben, die fogenannten »Hntinomien der
Mengenlehre« (B u r a l i - F o r ti , R u 1' f e ll ufw.). Trog mannig-
facher, mehr oder weniger geglückter Verfuche von feiten der for-
malen Logiker, diefe Widerfprüche aus der Welt zu ídmffen (F r e g e ,
Ruifell, J. König u. a.), wurde dadurch das Vertrauen in die
Möglichkeit einer rein logifchen Begründung der gefamten Mathe-
matik ftark erichüttert. Man fuchte einen Husweg teils in Be-
gründungen nach axiomatiícher Methode (Z e r m e 1 o für die Mengen-
lehre, Hi lb e r t für die Hríthmetik), teilsbradı fich die Überzeugung
Bam-1, daß Logik und nrirbmefm eine unlösbare Einheit biıaen und
daher nur gemeiníam begründet werden können (H. Poincar é ,
Hilbert, Brouwer, Weyl), eine Hnficht, die fchon immer in
den Kreifen der fchöpferifchen, der Grundlagenforfchung ferner ftehen-
den Mathematiker verbreitet war. Hier ift nun der gemeinfame
Husgangspunkt der verfchiedenen Ric:htungen der g eg e nwärti g en
Grundlagenforfchung erreicht, die nun in ihrer Gegenfäglidıkeit zu
fchildern und zu würdigen find. Es handelt fich hierbei um .zwei
einander gegenüberftehende Grundauffaifungen der Hufgaben und
Löfungsmethoden des Grundlegungsproblems der Mathematik, die
man mit den Namen des »Intuitionismus - und des ››(axio-
matiiierenden) Formalismus « zu bezeichnen pflegt* Dieie
find nun der Reihe nach zu erörtern.
a) Der Intuitionismus.
g Wie ihr Name iagt, legt diefe Huffaífung entfcheidendes Gewicht
auf die Hnfchauung (intuitio), die allerdings nicht als ››íinnliche-
oder ››empirifche« Hnfchauung verftanden wird, iondern die Weite
der unmittelbaren Gewißheit bezeichnet, in der uns di e lo g i í ch e n ,
1) Wohl im Hnfchluß an den Titel von Brouwers Hntrittsrede
-Intuitionisme en formalisme- Hmfterdam 1912. (Engl. überf.: Bull. of the
Hm. Math. Soc. 20, S. 81 -96, [1913].)
[447] Mathematifche Exiftenz. 7

arith metfichen und kombinatorifchen Grundtatfachenl


gegeben find; wie fie etwa in den üblichen Darftellungen der Zahlen-
theorie zu I-infang mehr feftgeftellt als begründet oder gar bewiefen
zu werden pflegen. Es ift für die intuitioniftifche Hnfchauung des
mathematifchen Grundlegungsproblems wefentlich, daß man jene
logifch-arithmetifchen Grundtatfachen wirklich als folche auffaßt, nicht
etwa als zweckmäßige oder gar willkürliche an die Spige der Er-
örterung geftellte finnahmen.
Die eben bezeichnete Grundauffaffung kann eine fachlichei
genannt werden, denn fie beftrebt fich, die »Sachen felbft« vor Eugen
zu haben und nicht bloße Vorausfegungen, die erft von der heutigen
Wiffenfchaft her ihre nachträgliche Rechtfertigung erhalten. Es er-
gibt fich aus diefer Hnfchauung gewiffermaßen von felbft der ungefähre
Inhalt des allem Weiteren zugrundeliegenden Llrgebiets: die Lehre
von den arithmetifchen und kombinatorifchen Eigenfchaften der e n d -
lichen und endlof en (daher notwendig diskreten) Mannigfaltig-
keiten, zufammen mit dem, was an formaler Logik zu ihrer geord-
neten Darftellung unumgänglich ift. J
Das E n cl 1 o fe 3 ergibt fich von ielbft mit der unbefchränkt fort-
íegbaren Reihe der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, . . . in inf., die
als der Gegenftand einer »arithmetiichen llrintuition« (Weyl) an-
gefehen wird. Die merkwürdigen Eigenfchaften von derartigen
endlofen Folg en ftehen im Mittelpunkt der intuitioníftifchen
Lehre uncl bedingen ihren eigentümlichen Inhalt. Sie find der eigent-
liche Grund ihres Gegenfages zur hergebrachten Mathematik, während
das Endliche, íobald man fich einmal zur Hnerkennung arithmetifcher
l1rtatIachen_ entichloffen hat, keine grundfäglichen Schwierigkeiten
mehr bereitet.
Im elementaren Sinn anfchaulich vorliegen können nur endliche
diskrete Gefamtheiten. Das Unendliche ift nach der intuitioniftifchen
1) Der Husdruck »Tatfache-= foll demgemäß durchaus nicht im Sinne
eines philofophifchen Empirismus verftanden werden, fondern als gleich-
bedeutend mit ››Tatbeftand«, »Sachverhalt-, »Wefensverhalt-« u. dgl. ganz farb-
los gebraucht werden. - In phänomenologifcher Redeweife handelt es fich
offenbar um Wefensverhalte.
2) Damit ift nicht das, was Hufferl als ››fac'hhaltig« bezeichnet,
iondern nur ein gewiffer Gegenfag zum »Formalen«, fo wie es der »Formalis-
mus- auffaßt, gemeint.
3) Diele Bezeichnung für die unbefchränkt fortfetgbarewffen unendliche-,
im Sinne Cantors -abzählbar unendliche« Mannigfaltigkeit ift Frege nach-
gebildet, der die -Hnzahh der natürlichen Zahlen (Cantors ti.-.) die -Finzahl
Endlos- nennt. 6 `
8 Oskar Becker. [443]

Huffaffung nur in der Form der Folge zugänglidv, die nidıt ift,
fondern wird. Die einzig als rechtmäßig zugelaffene Hrt des lln-
endlichen ift alfo das Endlofe (potentiell Llnendlíche). Das maß-
gebende Vorbild ift die Reihe der natürlichen Zahlen; alle anderen
endlofen Gebilde find von hier aus zu verftehen.
Indeiien ift hierbei noch ein entfdveidender Punkt zu beachten:
die Folge der natürlichen Zahlen ift eine gefeßmäßige. Es ift
genau beftimmt, welche Zahl auf jede vorgegebene unmittelbar folgt.
Mit der Zahl '/1» ift auch 1%' =~= '12 -l- 1 beftimmt. Das Gefeg des »Immer
noch eins«, das aus 12» das '12' erzeugt, ift das Llrblld einer jeden
gefetjmäßigen Folge, die durch ein allgemeines Glied gekennzeichnet
werden kann, das dann íeinerfeits die allgemeine Zahl N- enthält.
fils Beiipiele können etwa die Reihe der Quadratzahlen (ni),
der Partialiummen irgendeiner unendlidven Reihe (geometrilcbe
Reihe, Potenzreihe) ufw. dienen. Ein Gefeg kann auch rekurrent
fein, d. h. angeben, wie man das (H-|~1)*° Glied aus dem †l*°" Glied
erhält.
Es gibt aber im Gegeniag zu den gefegmäßig beftimmten Folgen
noch eine davon grundfät3lich verfdıiedene Hrt: die fogenannten
»frei werdenden Wahlfolgen-: Zunächft die völlig freie
Wahlfolge, bei der die einzelnen Zahlen ganz beliebig nadieinander
gewählt werden, dann Wahlfolgen mit gewiffen einfchränkenden
Bedingungen, endlich folche Folgen, bei denen Schritt für Schritt
nach beftimmten Regeln, gemäß anderweitig vollzogener Wahlen,
Würfen, Beobachtungen, Rechnungsergebniffen ufw. die einzelnen
Glieder feftgelegt werden.
Beifpiele. 1. Die Würfelfolge mit einem Würfel: Man
würfelt mit einem gewöhnlichen fechsfeitigen Würfel und fchreibt die Zahlen,
die lich ergeben, nieder. Diefe Folge kann offenbar nur die Zahlen 1, 2, 3,
4, 5, 6 enthalten, fie muß mindeftens eine diefer Zahlen enthalten, aber nicht
notwendig mehr als eine.
2. Die Su mmenfolge zweier völlig freien Wahlfolgen:
Man addiert die beiden erften, die beiden zweiten etc. Glieder der beiden
freien Wahlfolgen, die Summen bilden eine Zahl der gewünfchten Folge.
- Diefe Folge kann offenbar alle möglichen Zahlen enthalten außer 1. Denn
felbft wenn beide Summanden 1 wären, fo ergäbe fich doch Ichon 2, andern-
falls eine größere Zahl.
Es ift weientlich für diefe Folgen zweiter Hrt, daß fie niemals
als vollendet oder auch nur bis ins llnendliche beftimmt gedacht
werden können, fondern als Schritt für Schritt werdende. Die
Zukunft diefer Entwicklung ift ftets zum mindeften nach gewiffen
Seiten hin unbeftimmt. Es können alfo nur foldve Eigenfdıaften
[449] Matbematiiche Bxiftenz. z 9

íinnvollerweiie von einer derartigen Folge ausgeiagt werden, für


welche die Entfcheidung, ob fie der Folge zukommen oder nicht zu-
kommen, fchon fällt, wenn die Folge in ihrer Entwicklung bis zu
einer gewiiien Stelle gekommen ift, ohne daß die Weiterentwicklung
über dielen Punkt des Werdens hinaus, wie iie aud) ausfallen möge.
die Entidıeidung wieder umftoßen kann. Mit anderen Worten: man
kann wohl über Geíchehenes licher urteilen, nicht aber über die Zu-
kunft. Prophezeihen kann man nur iníoweit, als Geletjmäßigkeiten
bekannt iind, die den zukünftigen Gang der Ereigniiie fi(das Ent-
ftehen der Glieder der Folge) mehr oder weniger beftimmen.
(Wahlfolge mit Nebenbedingung, Grenzfall der durchgehenden Be-
ítimmtheit: gelegmäßige Folge.)
B eifpiel: Die augenblicklich vorliegenden Glieder einer Wahlfolge F
feien: 1, 6, 28, 3, 9, 11 . . . Man kann im gegenwärtigen Hugenblick diefer
Folge die Eigenfchaft zufprechen: -F enthält die Zahl 9-, nicht aber -F ent=
hält die Zahl 4- noch auch -F enthält die Zahl 4 nicht-. (Denn darüber ift
noch keine Entldıeidung gefallen.)
Diefe Überlegung zeigt, daß die Folgen zweiter
Hrt ohne Zeitlichkeit nicht gedacht werden können.
Husíagen über iolche Folgen lind auf keine Weile von der augen-
blicklichen Lage, dem Stande der Entwicklung unabhängig zu machen.
Nun iind die völlig geíegmäßig (durch ein »allgemeines Glied..
u.dgl.) beftimmten Folgen erfter Hrt zwar aud) nicht ihrem eigent-
lichen Seinsiinn nach zeitlos oder überzeitlich, aber alle über íie
möglichen Husfagen laiíen iich unabhängig von irgendeinem Zeit-
punkt ausiprechen, io daß iie in einem gewiíien logifchen Sinn in
ihrer ganzen unendlichen Erftreckung wirklich gegeben iind. Bei
den Folgen zweiter ñrt iind derartige zeitunabhängige Husiagen
lediglich in genau dem Maße möglich, als manche ihrer Eigen-
ichaften (durch Nebenbedingungen oder die Regel ihrer ichrittweiíen
Erzeugung) gefegmäßig beítimmt iind.
Pius diefer Sachlage ergeben iich einige merkwürdige Folgerungen
bezüglich der logifchen Eigentümlichkeit von llrteílen über Folgen:
Es ídıeint nämlich, daß der Sag vom ausgeichloiienen
Dritten, nach dem von zwei kontradiktoriích entgegengeiegten
Urteilen eines wahr fein muß und eines falích, im Gebiete der end-
lofen Zahlfolgen gewiífe Husnahmen erleidet.
Die Urteile: S
1. Es gibt in der Folge F eine Zahl von der Eigenfdıaft E,
2. fllle Zahlen der Folge F haben die Eígenfchaft E,
haben nämlich unter Llmftänden beide kein ›eigentliches- kontra-
diktoriidves Gegenteil, d. h. das rein formal gebildete kontradikto=
fferl, jahrbuch f. Philofophie. VIII.
10 Oskar Becker. [450]

riicbe Gegenteil gehorcbt nicht dem Sage vom ausgeichloíienen Dritten,


weil es nämlich gar keine fachlich greifbare Bedeutung hat.
ln der Tat: Die negativen Urteile:
1. Es gibt in der Folge F keine Zahl von der Eigenichaft E,
2. Nicht alle Zahlen der Folge F haben die Eigenichaft E,
haben für frei werdende Folgen F im allgemeinen keinen fach-
lich klaren Sinn. Es läßt iich ja - was das erfte Llrteil betrifft - .
falls nicht eine geeignete einíchränkende Gelegmäßigkeit vorliegt,
bei einer frei werdenden Folge nicht iagen, was für Zahlen in ihr
noch auftreten werden, und deshalb auch nicht, ob etwa eine Zahl
mit der Eigenichaft E nicht doch noch ericheinen wird. Hhnlidı ift
es beim zweiten llrteil: es belteht unter den gemeinten Llmftänden
itets die Möglichkeit des Ericheinens einer Husnahme, aber ob dieie
ie zur Wirklichkeit wird, ift offenbar ganz unbeftimmt.
Die Disiunktion: -Entweder gibt es in der Folge eine Zahl mit
der Eigenicbaft E oder nicht- iit alfo keine echte vollftändige Dis-
junktion bzw., wenn man iie aus formalen Gründen für eine voll-
ftändige Disiunktion halten will, erleidet für iie der Sag vom aus-
geichloífenen Dritten eine Husnahme.
Wohlgemerkt, dieie Schwierigkeiten treten nur ein bei frei
werdenden Folgen, nicht bei geíetgmäßig beftimmten. Bei dieien
legten ermöglicht das Geieg einen Überblick über iämtliche -un-
endlich vielen- Glieder.
Das führt dann weiter zu dem eigentümlichen Verhalten der
Folgen ielbit, wenn man ihnen gegenüber die Frage ftellt -Gibt es
eine Folge F mit der Eigeníchaft E?-=.
Diefe Frage kann man dann beiahen, wenn F eine geiegmäßige,
vorliegende Folge ift, oder eine frei werdende Folge mit gewiifen
geiegmäßigen Eigenichaften, derer Konítruktion in ganz beitimmter
Weiie vorgelegt werden kann. Ihre Verneinung hat keinen Sinn,
íolange man die Folge noch als eine geiegmäßige auffaßt. Denn
ein Überblick über alle »möglidıem Geiege, die jemals aufgeftellt
werden können, fcheint nicht gewonnen werden zu können.1 Wendet
man aber die negative Hntwort auf die in Rede ftehende Frage
poiitiv: -Jede Folge hat die Eigenichaft nicht-E-, íohat das nur
1) Die im Text angegebene Meinung wird von intuitioniftiicher Seite
zumeift vertreten. Wir werden indefien fpäter (in § 5b) im Hnichluß an die
neueften Forfchungen Hilberts zum Kontinuumproblem (-über das Un-
endliche-, Math. I'-inn. Bd. 95) darlegen, daß die geleugnete Möglichkeit einer
Überficht über -alle möglichen- Gefege für eine endloie Folge im gewiiíen
Sinne doch befteht.
11 [451] Mathematifcbe Exiftenz. 11
l›
Sinn, wenn man unter Folge eine freie Wahlfolge (mit gewiiien
Nebenbedingungen) verfteht; nicht aber für geiegmäßige Folgen.
Beifpiele: »Jede Würfelfolge (mit einem Würfel) hat die Eigen-
U icbaft, die Zahl 21 nicht zu enthalten-. Das gilt natürlich auch für alle ge-
I

lı fegmäßigen Folgen, die innerhalb des -Rahmens-« der Würfelfolge betrachtet


ll' werden können. (Wenn z. B. an das Huftreten gewifier regelmäßiger Wurf-
folgen eine gewiffe Spielregel geknüpft ift, io liegt das Konftruktionsprinzíp
1
einer derartigen Folge »im Rahmen« des Begriffes der Würfelfolge.) - Ein
beiieres Beiipiel bietet das S ch achipiel dar. Eine Sdıachpartie kann als
eine frei werdende Folge mit Nebenbedingungen angefehen werden, die u. LI.
abbricht (wenn einer der Spieler Matt fegt), die aber auch endlos fein kann
(bei gewilien Hrten von Remis). unter befonderen Umftänden kann lie aber
auch, narhdem eine endliche Hnzahl von Gliedern vorliegt, in eine geiegmäßige
Folge übergehen. (bei gewifien Hrten von Zugzwang, wie -ewiges Schach-=).
(Y
Pffigfl
ı,Q
ıi
In dielem legten Fall liegt eine gefegmäßige Folge -im Rahmen« einer frei
werdenden Folge mit Nebenbedingungen vor.
t Die ioeben dargeitellten Betrachtungen hängen eng zufammen
E
mit der Frage der Enticheidbarkeit eines beftimmten
I
mathematiíchen Problems. Die Frage ift, ob jedes rein
I
mathematifdıe Theorem, alfo zunächft íchon jeder klar formulierte
zahlentheoretiiche Sag, entweder bewiefen oder widerlegt werden
i kann.
1 Beifpielsweiie kann man fragen: -Gibt es mehr als 5 Primzahlen von
l' der Form 2“+1? (Bekannt lind heute nur 5 Primzahlen diefer Form, näm-
lich für n=1, 2, 4, 8, 16.)1 Man kann diefe Frage nicht mit ja oder nein ent-
icheiden durch Probieren, denn die Hnzahl der Zahlen von der Form 2“+1
ift unendlich, und man kann doch immer nur eine nach der andern auf ihre
l
Teilbarkeit hin unteríuchen. Die Beziehung zur Lehre von den
endlofen Folgen wird klar, wenn man folgende Zuordnung ftiftet:
Man erzeuge eine werdende Folge nach der Regel: Man probiert die nach
der Größe geordneten Zahlen der gelegmäßigen Folge mit dem allgemeinen
Glied 2“+1 auf ihre Teilbarkeit der Reihe nach durch: erweiit ñch eine der
erwähnten Zahlen als teilbar, io wähle man die Zahl 1, wo nicht, die 2;
fo erhält man eine echte werdende Folge, die nur die Zahlen 1 und 2 ent-
halten kann, von der man aber nicht weiß, ob lie mehr als 5 oder gar un-
endlich viele Zweien enthält. Und zwar kann man dies erftere gar nicht willen,
bevor nicht eine iechfte Zwei aufgetreten ift (was bisher noch nicht der Fall
war), - und ob es in ihr unendlich viele Zweien gibt, könnte man überhaupt
nur dann jemals erfahren, wenn die Folge einmal durch ein Gefeg dargeftellt
würde, alfo ihren Charakter als »frei werdende« Folge verlöre.
Ein anderes Beiípiel ift die bekannte F e r rn at iche Behauptung, es gäbe
für n> 2 keine vier ganzen Zahlen n, tr, y, er die die Gleichung
xu +3/nix/n

befriedigen. Ob diefe Behauptung richtig oder fallch ift, läßt lich offenbar
nicht durch Probieren entlcheiden; man kann auch hier den fyftematilch an-

1) Dies Beiípiel nach Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre


(2. Hufl. Berlin 1923) S. 170.. *
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