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(S. 212)1. Ganz ähnlich wurde oben die Stufe mit dem Index an
das p oder A bezeichnet.
Wenn von I-Iufferl auch bereits alle abftrakten Möglichkeiten
durchdacht und auch für beliebig hohe endliche Iterationen
anfcbauliche Beifpiele gegeben iind (I. bei. S. 211), fo wird doch über
die offen endlofe Iteration niemals hinausgegangen und es ift auch
für dieíen Fortfchritt ins Transfinite bei feiner Betrachtungsweife
kein konkretes Motiv aufzuweifen.
Dagegen kann man einen derartigen transfiniten Progrefíus aus
einem wirklich lebendigen Motiv herleiten, wenn man auf eine be-=
fondere Hrt der Iteration der Reflexion aufmerkfam wird, die
Karl Löwith in feiner Diifertation über Nietzicbei betrachtet
und als ›Parenthefen-Refiexíon« bezeichnet hat. Im Hnfcblufie an
Doftojewskijs Erzählung »Die Stimme aus dem lIntergrund«3 wird
dort die Möglichkeit entwickelt, über das eigene Tun und leßtlich
die eigene Weife da zu fein in iterierender Weile zu reflektieren.
In diefer Erzählung wird eine Hrt Selbftgefpräch eines mit iich
zerfallenen Menfchen gegeben, der über fich felbft nachdenkt und
alle feine faktífchen Lebensäußerungen. Huch dies, daß er in diefer
unfruchtbaren Weife über fich nachdenkt, ift ein Gegenftand feines
Nachdenkens. Ferner, daß er über diefe feine Reflexion auch noch
nachdenkt und nachdenken kann, wird zum Thema weiterer Reflexion.
Hber auch die Iterationsmöglíchkeit felbft wird nach einigen der-
nichts Neues mehr. Die Kluft zwifchen Sinnlich und llnfinnlich liegt
im unterften Stockwerk, zwifchen Llrmaterial und unterfter Form.
Das unterfte und das obere Stockwerk zeigen uns die legten Gegen-
iäglichkeiten in der Rolle des Kategorienmaterials. Mit dem Mate-
rial des zweiten Stockwerks ift die Kluft bereits überfchritten. Di e
übrigen Stockwerke dürfen deshalb von der Kate-
gorienlehre vernachläffigt werden. Ins lln-endliche
eine Logik der Logik zu fordern, ift allerdings über-
flüifig. . . . .-
Hus diefen Laskfchen Darlegungen geht hervor, daß im Falle
von Form-Inhalt die Iteration zwar möglich, aber belanglos ift, fchon
die 4. Stufe »Form der Form der Form- bringt nichts Neues gegen-
über der 3. Stufe -Form der Form-=.
Wie verhält es fich damitbei der Reflexion? Hnalog wie bei
Lask zwifchen »l.Irmaterial« und -unterfter Form- befteht ein
grundlegender llnterfchied (››eine Kluft-) zwifchen dem naiven, un-
reflektierten, geraden Erleben und dem reflektierten. Geht man
dann weiter, fo ift das Refiektieren auf die Reflexion (1. Stufe)
ebenfalls vom Typus des reflektierten Erlebens überhaupt. D. h.
die Reflexionserlebniffe alle r Stufen ftehen g e m e i n fa m in einem
beftimmten Gegenfag zum urfprünglichen, naiven Erlebenl. Nach
der Erkenntnis diefer Sachlage gibt es zwei Möglichkeiten, für die
das Leben fich entfcheiden kann. Entweder: Die Eitelkeit
der iterierten Reflexion überhaupt wird erkannt: man bleibt bei der
Reflexion erfter Stufe ftehen und íucht diefe wirklich mit vollem
Ernft zu vollziehen, dem Hnblick des eigenen Selbft nicht auszu-
weichen. Man ftellt fich gewiffermaßen der Selbftprüfung. Oder:
man fcheut den Ernft des echten Vollzugs der Reflexion und flüchtet
fich, diefem Vollzug immerfort ausweicbend, in immer neue Itera-
tionen. S- Im erften Fall kommt es offenbar überhaupt zu keiner
höheren Stufenbíldung. Im zweiten aber tritt nun folgende eigen-
tümliche Wendung ein: Bei wiederholter Iteration wird die Ein-
förmi gkeit der konkreten, aufeinanderfolgenden lterationsftufen
erkannt. Diefe führt zu dem Gedanken, die unbegrenzte Ite-
rationsmöglichkeit ins Huge zu fallen, Zahl begriffe einzuführen.
1) Das ift es ja auch, was die llmwendung von der unechten und un-
fruchtbaren »Parenthefen=Reflexion« zur eigentlichen und echten »exiftentíellen-=
Reflexion ermöglicht. In diefer Wefensgleichheit der Reflexionen a lle r Stufen
zeigt iich eben die Leere der Iteration der Reflexion. Die fiufmerkfamkeit,
beffer die Sorge oder die Bekümmerung muß fich der urfprünglichen »Kluft-
zwifchen geradem und reflektiertem Erleben zuwenden.
106 Oskar Becker. [546]
von der Iteration nf“ Stufe zu reden ufw. Indem man aber
dies tut, wird die Gefahr drohend, daß man -ftedlen bleibt-, zu
einem feften Standort gelangt, daß die »Flucht vor der Faktizität-
ein Ende hat. Der Fluchtimpuls treibt alfo weiter - -über das
Unendliche hinaus«! Denn: Die Stufe der Reflexion auf die
Möglichkeit der unbegrenzten Iteration der Reflexion ift die cu“,
die von dem Fluchtimpuls vor der Stillegung auf jener eben ge-
nannten Stufe weitergetriebene Reflexion die (w -1-1)“.
So kommt man alfo tatfächlich in dem Beiípiel
der Parenthefen-Reflexion aus konkreten, -hiftori-›
fchen«-Lebensmotivenzu einer transfiníten Iteration
der Reflexion.
Man kann gegen die foeben dargelegte ontologifche Interpre-
tation des transfiníten Prozeifes einen Einwand, erheben, der auf
den erften Blick viel für fich hatl, der aber doch, wie wir meinen,
widerlegt werden kann, wobei fich ein tieferer Einblick in die
phänomenologifche Struktur des transfiníten Progrefíus ergibt.
Betrachten wir den Vorgang der Iteration der Reflexion auf
fich felbft genau, d. h. ganz konkret, fo beobachten wir folgendes:
Ich reflektiere auf meine foeben vollzogene Reflexion, dann
wiederum auf diefe foeben vollzogene Reflexion zweiter Stufe ufw.
ufw. Nachdem ich fo eine beftimmte endliche Hnzahl, fagen wir W.,
ineinandergefchachtelter Reflexionen vollzogen habe, erhebe ich mich
- indem ich mit der Weiterverfolgung der fich immer öfter inein-
anderlegenden Reflexionsakte aufhöre -- auf eine Stufe der Be-
trachtung, die über allen díefen ins Endloíe fich umichließenden
Hkten liegt. Huf diefer Stufe, der ml“, ift das Objekt (das Thema
oder die Materie) meines aktuellen Reflexionsaktes, in dem ich jegt
lebe, die gefamte endlofe Folge der früher vollzogenen Reflexi-
onen. -› Zähle ich nun die wirklich vollzogenen, foeben einzeln ge-
nannten Reflexionen ab, fo habe ich erftens die n erften nach-
einander vollzogenen und jeweils auf den unmittelbar vorhergehen-
den Hkt bezogenen Hkte und d an n z w ei te n s als (n -|- 1)"°" Hkt die
zulegt genannte Reflexion von angeblich wm Stufe. Ich habe alfo
im ganzen keineswegs w (oder ng), fondern nur n-I-1 Reflexionen
wirklich vollzogen. Das geht auch ganz klar aus der Bemerkung
hervor, daß doch jeder Refiexionsakt eine gewiffe Zeit braucht, alfo
in endlicher Zeit auch nur endlich viele Hkte nacheinander aktuell
1) Huf eine ganz ähnliche Sachlage ftießen wir bei dem Beifpiel der
ineinandergefchachtelten Bilder, das früher verwandt wurde (f. oben S. 98 ff.).
Wir wiederholen nochmals den entfcheidenden Punkt: Es ift natürlich un-
möglich, unendlich viele ineinandergefchachtelten Bilder wirklich zu zeichnen.
flber der »Logik der Sache« nach müffen unendlich viele Bilder vorhanden
fein. Wenn z. B. der kleine Junge auf dem Deckel des Bilderbuches ein
genaues Bild eben diefes Bilderbuchs in der Hand halten foll, fo muß lich
diefe Beziehung ihrem eigenen Sinn nach endlos fortpflanzen. Wir -fehen››
,da deutlich die unendliche Stufung der Bilder ihrer Idee nach, dem
Sinne ihrer Intention entfprechend. fiber ebenfo deutlich fehen wir - mit
den Eugen -, daß nur eine ganz kleine Zahl von Stufen, vielleicht 4 oder 5,
wirklich körperlich vorliegt. Beides widerfpricht fich keineswegs.
2) Man könnte diefen ››Mechanismus« mit O. I-Iölder (Die mathe-
matifche Methode, Berlin 1924, §§ 116,117) als ››überbauung« bezeichnen.
[549] Mathematifche Exiftenz. 109
Reihe, durch Reflexion auf den Vollzug der Erfaffung der Gefeglichkeit
diefes endlofen Prozeffes. Man kann alfo mit Recht fagen, daß das
gefchilderte konkrete und konkret motivierte Phänomen der
»Reflexion -cc als phänomenologifcher Unterbau b ei d e r C a n t o r fcher
Erzeugungsprinzipien dienen kann. (Vgl. Math. Hnh. zu § 5, I).
Es ift vielleicht noch ein weiterer Sdıritt möglich: Verfucht man
fich in die C an t o r fchen Gedankengänge felbft (wie fie in der »Mannig-
faltigkeitslehre« im XXI. Band der »Mathemat Hnnalen- niedergelegt
find) hineinzudenken, fo erkennt man, daß das, was man eigentlich
vollzieht, eine Hrt »Reflexion auf das foeben Getane- ift-- foweit
wenigftens das zweite Erzeugungsprinzip in Frage kommt. Denn
um zur »Grenze<< überzugehen, muß man fich die Gefegmäßigkeit
des reihenbildenden Prozeffes, der die Reihe konftituiert, deren Limes
man fucht, vor Hugen halten. Das ift aber nur möglich durch Re-
flexion. Ift diefe Huffaffung richtig, fo ift die phänomenologifche
ffnalyfe der Reflexion nichts anderes als ein analyfierendes Bewußt-
machen deffen, was in der mathematifchen Limesbildung eigentlich
fchon latent vorhanden war.
II. Die zweite Frage war nach der Paradoxie der
Menge W. In der Tat ift diefe Frage für die gegenwärtige Be-
trachtung von entfcheidender Bedeutung und keineswegs nur die
fpielerifche Befchäftigung mit einem fpigfindigen Sophisma. Denn,
wenn es wirklich gelungen ift, der Reihe der Cantorfchen Trans-
finiten ein konkretes Phänomen unterzulegen, müffen Widerfprüche
innerhalb diefer Gegenftändlichkeít unmöglich fein. Ein abftrakt
durch beftimmte Hnnahmen poftuliertes bzw. konftruiertes Gegen-
ftandsgebiet kann an Widerfprüchen leiden, ihm gegenüber hat daher
der Nachweis feiner Widerfpruchsfreíheit einen guten Sinn, --
aber eine phänomenologifch aufweisbare Entität ift eo ipfo wider-
fpruchsfrei. Wenn fich alfo die Hntinomie von Burali-Forti
nicht aufklären und zum Verfchwinden bringen ließe durch ein-
fache konkrete Verfolgung der phänomenalen Ge-
gebenheiten, fo wäre das ein fehr triftiger Grund, die Richtig-
keit der in Frage ftehenden phänomenologifchen flnalyfe anzu-
zweifeln.
Die beiden C antorfchen -Erzeugungsprinzipien« durchbrechen
jede Schranke bei der Erzeugung der transfiníten Zahlen. Das
2. Prinzip fcheint zur größten Ordnungszahl W (dem Ordnungstypus
der Menge aller Ordnungszahlen) zwangsläufig zu führen. Hat
man aber einmal W eingeführt, fo ermöglicht das 1. Erzeugungs-
prinzip den Fortfchritt zu W'+1, womit die angeblich -größte« Ord-
[551] Mathematifche Exiftenz. 111
1) Trans. Hm. Math. Soc. 9; Lpz. Ber. (math. Kl.) 63, 64, 65. (Zu V eblen
vgl. Math. Hnhang zu § 5, Vl B.)
2) Es liegt alfo auch hier wieder der fchon früher (in § 4 a) befprochene
Fall vor, daß die Mathematik die Kunft ift, frei werdende Folgen gefeglich
zu beherrfchen oder das llnendliche mit endlichen Mitteln auszudenken.
[553] Mathematifche Exiftenz. l 1 13
H n m e r k u n g.
Es ift von hiftorifchem Intereffe, auf zwei fiußerungen
S ch ellin gs aus feiner erften Periode aufmerkfam zu machen, die
mit bewunderungswürdigem Scharffinn den Grundgedanken der
transfiníten Iteration der Reflexion auf fich felbft und zugleich da-
mit die wefenhaft hier auftretende flntinomie, die wir heute mit
dem Namen Burali-Fortis bezeichnen, vorausahnen.
1. Ideen zu einer Philofophie der Natur, Ein-
leitung zur 1. ffuflage (1797) [Gef. Werke, Hbt. 1, Bd. II, S. 16]:
-Indem ich frage: wie kommt es, daß ich vorftelle, erhebe ich
mich felbft über die Vorftellung; ich werde dur ch diefe Frage
felbft zu einem Wefen, das in flnfehung alles Vorftellens fich ur-
fprünglich frei fühlt, das die Vorftellung felbft und
den ganzen Zufammenhang feiner Vorftellungen
unter fi ch e rbli ck t. Durch diefe ganze Frage felbft werde ich
ein Wefen, das, unabhängig von äußeren Dingen, ein Sein in fich
felbft hat.-
2. Briefe über Dogmatismus und Kritizismus,
lWerke, Hbt. 1, Bd. I, S. 320, f'-Inm. 1; S. 60 der Originalausgabel: »Daß
wir unfers eigenen Ichs nie los werden können, davon liegt der
einzige Grund in der abfoluten Freiheit unfers Wefens, kraft welcher
das Ich in uns kein D ing , keine S a ch e fein kann, die einer
objektiven Beftimmung fähig ift. Daher kommt es, d a ß unf e r
Ich niemals in einer Reihe von Vorftellungen als
Mittelglied begriffen fein k ann, fondern jedesmal
vor jede Reihe (l) wiederum als erftes Glied tritt,
das die ganze Reihe von Vorftellungen fefthält: daß
das handelnde Ich, obgleidı in jedem einzelnen Falle beftimmt,
doch zugleich nicht beftimmt ift, weil es nämlich jeder objek-
tiven Beftimmung entilieht, und nur d urch fi ch f elb ft beftimmt
fein kann, alfo zugleich das beftimmte und das be-
fti mm en d e ift «. (Die ganze Säge betreffenden Sperrungen
find von mir, einzelne gefperrte Wörter ftehen fchon fo im
Original.)
Diefe Stellen, von denen die zweite, zeitlich frühere (1795) die
klarere ift, zeigen, daß S chelli ng die Idee einer trans finiten
Iteration der reilexiven Intentionalität bereits lange vor G. Cantor
klar vor fich fah, natürlich ohne fie mathematifch zu erfaffen.
Denn, wenn das Ich -jedesmal vor jede Reihe wiederum als erftes
Glied tritt- bedeutet das (in fpiegelbildlicher Verkehrung gewiffer-
maßen, fodaß alfo die Inverfen wohlgeordneter Typen tw, 1+*w
[555] Mathematifche Exiftenz. 115
1) 1. c. S. 141/4s (ess/34).
[557] Mathematifche Exiftenz. 117
ftoß ins Transfinite gemacht und zwar genau in der Weife, wie er
ontologifch haltbar ift. Unglückfeligerweife verließ Cantor fpäterl
(1897) felbft diefe freifchöpferífche Begründungsweife und ging zur
Theorie der wohlgeordneten Mengen über, und dadurch erft wurde
- indem nunmehr die aktual-unendliche Menge für alle Teile
der Theorie des Unendlichen grundlegend wurde -- die Möglichkeit
der ontologifchen Begründung preisgegeben.
flllerdings find doch auch pofitive mathematifche Motive vor-
handen, die zur Theorie der wohlgeordneten Mengen geführt haben,
nämlich erftens die großen Schwierigkeiten, die fich einer -kon-
ftruktiven-, nur auf die C antorfchen Erzeugungsgefege geftügten
Theorie der transfiniten Zahlen in mathe matif cher Hiniicht
entgegenftellen. Darüber werden wir noch zu reden haben.
Zweitens aber die nicht geringeren Schwierigkeiten des Über-
gangs von einer rein ordinalen Theorie der transfiniten Z a h l en zur
allgemeinen Lehre von den unendlichen, auch nicht-wohlgeordneten
Mengen. Wir fahen, daß eine M e n g e , auch eine geordnete, o nto -
log i ich eine ganz andere Struktur hat als ein unendlicher Prozeß;
nur durch eine Hrt nivellierender Reduktion gelangt man von dem
»geftuftem Hufbau des Prozeffes zur -Menge-, in der alle Trans-
finiten ftreng parataktifch auftreten. Will man alfo den Vorftoß auf
ganz fchmaler Front ins 1 Gebiet des Unendlichen, den man auf
Grund der transfiniten Komplikation der Bewußtfeinsftrukturen
wagen kann, verbreitern zu einer Okkupation eines ganzen abge-
rundeten Gebiets, fo muß man vielleicht notgedrungen den onto-
logifchen Unterbau zum mindeften teilweife im Stich laffen und nur
noch mit rein formalen Hnalogien arbeiten.
Diefes merkwürdige Verhängnis ift tief verankert in dem Wefen
des Formalen überhaupt. Und von diefer Seite aus gewinnt die
eigentümliche foeben gefchilderte Sachlage eine philofophifch, genauer
gefagt logif ch grundfägliche Bedeutung. Es handelt fich näm-
lich um den Übergang von der von einem konkreten Lebensphäno-
men (das als folches der hermeneutifchen »fiuslegung-= zugänglich
ift) in beinahe wörtlichem Sinne »abgezogenem Form zu einer
nivellierten, in gewiffem Betracht »allgemeinen-, aber deshalb auch
in ganz beftimmter Hinficht »verblaßten-= Formalität. Sind bei dem
erften formalen Charakter die kategorialen Eigentümlichkeiten des
konkreten Phänomens voll erhalten, - was man daran erkennen
.1-._í
kann, daß fie rückwärts wieder beinahe unmittelbar durch eine firt
konkreter Deutung (»Entformalifierung-) zum lebendigen Phänomen
zurückführenl -~ , fo ift bei der zweiten Hrt des Formalen diefe
kategoriale Struktur -eingeebnet-. Das heißt: der Übergang von
der erften zur zweiten Weife des Formalen kann bezeichnet werden
alsdie Nivellierung der fpezififch kategorialen Diffe-
renziertheit des urfprünglichen formalen Charak-
ters des Phänomens.
Das Mathematifch-Formale der traditionellen Hrt ift durch eben
jene Nivelliertheit der kategorialen Differenzen gekennzeichnet gegen-
über dem -Formal-finzeigenden« 2 (H ei d e g g e r), das fich wie ein
dünnes Gewand der plaftifchen Eigentümlichkeit des Phänomen-
Körpers anfchmiegt. Flndrerfeits ift auch diefes Formale der -an-
zeigenden Hrt« unter gewiffen Umftänden einer gewiffermaßen mathe-
matifchen Behandlung fähig. Dies ift einigermaßen überrafchend,
wenn man bedenkt, daß das Formale der anzeigenden flrt eigent-
lich die methodifche (-begriffliche«) Grundlage der interpretierenden
Geifteswiffenfchaften (Philologie, Gefchichte ufw.) ift. Hllerdings ift
zu betonen, daß diefe Möglichkeit der mathematifchen Explika-
tion formal-anzeigender Charaktere nicht allgemein befteht, fondern
ihren Grund im vorliegenden Falle in der iterativen Struktur
des Phänomens hat. Hier ,eröffnet fich die Möglichkeit eines tiefen
Einblicks in den Wefenscharakter des Mathematifchen überhaupt, bei
dem die Iteration, die -Wiederholung-= des in irgend einem
dann nur, daß man auch noch größere Zahlen bezeichnen kann.
Keineswegs aber zeigt er, daß die fo oder fonftwie bezeichenbaren
Zahlen je d e Zahl der II. Zahlenklaffe übertreffen können. Es wäre
alfo die Möglichkeit denkbar, daß der transfinite Prozeß fich fchließ-
lich an einer oberen Grenze feftläuft, was zunächft verborgen bleibt
und nur dann zu Tage kommt, wenn man ihn exakt zu faffen fucht3.
fiber auch nach der üblichen Huffaffung wird die Reihe der
Transfiniten, fobald man über die II. Klaffe hinauskommt, immer unbe-
ftimmter. So ift z. B. keinesfalls die lückenlofe Bezeichnung aller
Transfiniten bis zur flnfangszahl der III. Klaffe .Q1 möglich, felbft
wenn jede Transñnite unter 521 von einer geeigneten Bezeichnungs-
weife erreicht werden könnte. Vollends die Transfiniten, die
Mahlo definiert hat* (die über Qw weit hinausgehen) find in ihrer
Exiftenz von gewiffen hypothetifchen Poftulaten abhängig.
Hngefichts diefer unleugbaren Unficherheiten und Schwierig-
keiten innerhalb der m a t h e m a ti f ch e n Theorie der Transfiniten
fragt es fich, ob unferer ontologifdi-phänomenologifchen Deutung
wirklich eine reale Bedeutung zukommt. Man könnte meinen:
Wenn die transfiniten Zahlen wirklich formale Strukturen an kon-
_ _ _ _____ ;_ mir" fir; :;:†f
eine primitive Figur. - S. 124 über das Poftulat der Gleichheit der
rechten Winkel, wozu der Kommentar des P r o klo s zur Stelle (in Euclidem
p. 188 Friedlein) zu vergleichen ift. - Die Zeuthenfche Interpretation ift aller-
dings, was diefen Punkt betrifft, nicht allgemein anerkannt. Für das Ganze
ift diefe Einzelheft aber nicht von großer Bedeutung.
1) Gefchichte ufw., S. 120.
2) Proclus in Euclidem, p. 178,12-179,s (Friedlein).
3) Diefe Huffaffung hängt auch mit der allgemeingriechifchen flnfchau-
ung zufammen, die alle Dinge von der Seite ihres Werdens, fei es ihres Her-
geftelltwerdens (reifen), fei es ihres Wachfens (cpıimr), anfieht.
132 Oskar Becker. [572]
1) In diefem Sinn ift auch die fiftronomie der kyzikenifchen Schule rein
mathematifch, ohne fich in Spekulationen über die Geftirnfeelen, den unbe-
wegten Beweger u. dgl. zu verlieren. Darin ift lie Vorläuferin der fpäteren
-exakten-, ontologifch nicht mehr interefñerten alexandrinifchen flftronomie
(Eratofthenes, firiftarch, Hipparch ufw.). finalog ift in derreinen
Mathematik Euklid durchaus nicht explizit ontologifch intereffıert, wenn
auch gewiife ontologifche Momente bei ihm latent mitfpielen (z. B. bei der
Theorie der Irrationalitäten im X. Buch). fillerdings muß man fagen, daß er
darin in gewiffem Sinne Platons eigener finweifung folgt, der es für die
drávorfr, die mathematifche Erkenntnisweife für charakteriftifch hält, daß fie nicht
über beftimmte -Hypothefem hinausfragt. [Vgl. Staat, VI.Buch, p. 510B- 511 fI.]
Über Eu d ox o s felbft ift noch zu bemerken, daß er in die inneraka-
demifche Diskuflion über die Ideen eingriff [f. Hri fto t. Metaph. H9 (991 a,
9--19); fehr ähnlich (Dublette) M5 (1079 b, 12-23)]; in der er einer -Imma-
nenz- der Ideen in den Dingen das Wort redete (=-lie feien fo, wie dem Weißen
das Weiße beigemifcht -werden könnte-). Er fcheint fich alfo an dem Beifpiel
der -reinen-= Farben, die aus den empirifchen Farben als phänomenale Kom-
ponenten herauszufehen find, das Innewohnen der Ideen in den Sinnendingen
(alfo die -μë-2:5-;-) auf -poñtiviftifche-= Hrt klargemacht zu haben.
[573] Mathematifche Exiftenz. 133
1) Dafür geben fchon die -Pythagoreer« einen fehr alten Beweis -aus
dem Geraden und ,Ungeraden-, den E u kl i d X, 117 aus hiftorifchen Gründen
aufbewahrt hat.
134 Oskar Becker. [574]
modernen Sinn) ift. Bezeichnet man nun noch % mit dem einen
C 77.
Buchftaben a, -6-í mit ß und _-7%-/-mit 9, fo erhält man die Definition 5
in der folgenden Form:
Es ift a=ß dann und nur dann, wenn zugleich a und [6 größer
bzw. gleich bzw. kleiner als Q find, was für jede beliebige Rational-
zahl 9 gelten foll.
Denkt man fich alfo fämtliche Rationalzahlen gegeben, fo rufen
a und ß diefelben Einteilungen (-Schnitte-) in der Gefamtheit der
Rationalzahlen hervor. Denkt man fich durch a bzw. ß die Rational-
dasfelbe Verhältnis hat, wie der Reft (der kleinere Teil) zum größeren Teil.
Mißt man nun (gemäß dem E ukli difchen Teilerverfahren) den Reft am
größeren Teil, dann den neuen Reft am 1. Reft, den 3. Reft am 2.ufw. ufw.,
fo erhält man nach Definition immer dasfelbe Verhältnis. Das Verfahren
kommt alfo nicht von der Stelle und geht daher ins Unendliche. (Ganz
analog, wie etwa die Diviñon 1,000 : 3 niemals abbricht. - In der Tat entfpricht
audi in unferer modernen Sdireibweife dem -goldenen Schnitt- der Ketten-
bruch mit lauter Einfen als Teilnennern: 4
1__
1
1+__
1-1-..._...í
1_ı_fl_____.
In diefem Fall führt alfo ein Verhältnis, das Figuren von hödifter Har-
monie der Form entftehen läßt (man denke an feine Rolle in der Kunft und
für die Konftruktion des regulären 5- (Pentagrammsl), 10-, 15-Edcs und der
regulären 12- und 20-Flädiner), wenn man es -ausfprechen- will, zu einem
unendlidien Progreß.
Dies ift für den Griechen etwas Unerhörtes. Denn es zeigt fich fdion
in ihrer frühen Ornamentik, im Dipylonftil, dem fog. -geometrifdien-= Stil,
daß die Figuren häufig mit dem Zirkel - der Zirkel ift nach Ovid,
Metam. VIII, 247, eine Erfindung des Perdix, des Schwiegerfohnes des
Dädalus (was ftets auf die Kunft des 7. und 8. Jahrh. zu deuten ift) --
konftruiert find und jedenfalls immer ganz elementar k o n ft r ui e r b a r find.
5-Ecke oder 5teilige Rofetten u. dgl. kommen nicht vor, wohl aber 4-, 8-,
6-Edle u. dgl. Dagegen kommen 5- und 7teilige Figuren fowohl im kre-
tifdi-mykenifdien wie im -organifcberem Stil des 7. Jahrh. (dem fog. -orien-
taliñerenden- Stil) vor: doch gibt es in diefen Stilen keine Zirkelkonftruk-
tion mehr.
In diefe Tendenz der frühen Ornamentik auf völlige Durchñditigkeit
der Verhältniffe paßt die fpätere Entwidclung in der Mathematik durchaus
hinein. Daß hier zunächft mit ganzen Zahlen alles zuftande gebracht werden
follte, ift naheliegend. (Im Einzelnen kann man fich das Problem der
verfdiíeden entftandendenken: aus der Geometrie oder audi aus der Muñk.
Vgl. Z e u t h e n in -Kultur der Gegenwart-, III, fibt. I, 1. Lieferung, S. 36-37.)
Es kommen natürlidi de facto fdion in den einfachften Figuren der pri-
mitiven Ornamentik (Quadrat, Sechseck) Irrationalitäten vor; aber das konnte
man nicht wiffen.
Intereffant und zu wenig bekannt ift, daß die richtige mathematifche
Sedisteilung des Kreifes als Ornament auf dorifchen geometrifchen Fibeln
(die fpäteftens aus dem 8. Jahrh. ftammen) vorkommt [Bufchor], alfo
nicht aus dem Orient ftammt, wie Zeuthen meint. Hllerdings entfteht
diefe Figur durch Spielen mit dem Zirkel gewiffermaßen von felbft; immerhin
ift merkwürdig, daß gerade mit fo ziemlich diefer felben Konftruktion (nämlich
der des gleichfeitigen Dreiecks) noch Euklid feine Elementa beginnt. (I, 1).
138 Oskar Becker. [578]
c 1) Die hiftorifdien Quellen find fehr dürftig, und es läßt fidi keinerlei
Entwicklung eindeutig konftruieren. Genau wiffen wir nur, 1. daß Zen o
das fiktual-Unendliche durch feine Paradoxa ad absurdum führte; 2. daß
es eine atomiftifche finite Mathematik gegeben hat, die bei Plato und
Xenokr ates noch vorhanden ift. Die Vermutung, daß Demokri t (und
vielleicht fdion Leuki p p) fie ausgebildet hat, liegt fehr nahe. (Sie wird
beftritten von Sir Thomas Heath, H history of Greek Mathematics,
Oxford 1921, Vol. I, p. 181; wie mir fdieint, nicht mit durchfchlagenden
Gründen.) - Hingewiefen fei aufStenz el (Zahl und Geftalt bei Plato und
Hriftoteles, S. 72 ff., der in Euklids befchreibenden Definitionen von Punkt,
Linie, Gerade ufw. atomiftifdie Refte erblickt (l. c. p. 75, flnm. 2). - Vgl.
audi O. Toeplig, -Mathematik und Hntike- (die fintike, Bd.I, S. 199);
3. daß fi n a x a g o r a s die unendlidie Teilbarkeit lehrte; 4. daß die Pytha-
g o r eer das Problem der Irrationalen (wenigftens im Falle 1/7) aufwarfen.
(Zu welcher Zeit ift fehr umftritten.)
2) Zeno felbft entwickelt als erfter den Gedanken eines folcIienPro-
zeffes, f. in § 6 b, I C. '
3) Demokrit entdeckte diefe Volumenbeftimmungen, wie wir jegt aus
H r ch i m e d e s, ad Eratofth. Methodus, praefatio wiffen. E u d o x o s bewies
fie dann ftreng, vgl. firchime d es, quadratura parabolae, praefatio.
146 Oskar Becker. [586]
1) Der erfte, der »die Grenze geradezu als eine durch Terme einer Folge
(series) definierte n e u e Zahl auffaßte, deren Ermittlungsart eine neu e
R e ch n u n g s art bedeuten iollte«, war vermutlich ja m e s G r eg o r y in der
Einleitung zu feiner »Vera circuli et hyperbolae quadratura«, Padua 1667
(Vgl. H. Wi el e i t n e r , Gefchichte der Mathematik II, 1; Sammlung Schubert
Nr. LXIII [Leipzig 1911] S. 116; Eneftröm, Bibliotheca mathematica X,
348f.). - Die Notwendigkeit der Konvergenz ift fehr fpät, eigentlich erft im
19. jahrhundert (G a u ß , H b e l , C a u ch y) voll eingefehen worden.
[539] Mathematifche Exiftenz. 149
Handfchrift ift auch in B afel (öífentl. Bibliothek, N° F III 31 [4°]; fol. 2' bis
fol. 29'). -- Du h em, Etudes sur Léonard de Vinci, III. Série (Paris 1913),
gibt nur franzöiifche Huszüge, Wieleitn er (l. c. II) gibt Stücke des latei-
nifchen Textes nach Duh ems Hbichrift.
O r e s m e gibt keine Darftellung von ››empiı:ifchen« Funktionen, wie man
häufig lieft. Das würde ihm zu Unrecht moderne Ideen unterichieben. Tat«
Iächlich gibt er fo etwas wie eine typifche Darftellung der Möglichkeit der
Variation von Intenñtäten (Wärme z. B.) mit der Zeit oder entlang einer
räumlichen Erftreckung. Die Figuren ichließen fich keinesweg an die Wirk~
lichkeit an, fondern entiprechen beinahe den Zeichnungen im Skizzenbuch
des Villars de Honnecourt. (Vgl. zur erften Orientierung über diefe etwa
J. v. Schloífer, Die Kunft des Mittelalters [die fechs Bücher der Kunft, 3. Buch,
Berlin-Neubabelsberg, Hkad. Verlagsgei. Fithenaion, o. ].], S. 83 u. 84. Man
beachte befonders die Zeichnung des Löwen [Fig. 94] »contrefait au vif«,
die durchaus nicht naturaliftifch ift.) Die »formae« lsubstantiales wie acciden-
talesl, deren »latitudo« [= Variationsweiie, Schwankungsmöglichkeit] darge-
ftellt wurde, waren zunächft durchaus keine phyfikalifchen Größen, fondern
etwa die ›charitas in homine«, die zu= und abnimmt und »magis et minus
per diversa tempora habetur« (P etrus L o mb ardus , Sententiarum
libri IV., lib. I, Diff. XVII. [ca. 1150], f. Wi e le i t n er , l. c. XIV, 195, Hnm. 3).
Heinrich (Goethales) von Gent (1217-~1293) ípricht dann zuerft
von intensio et remissio und daß ratio et causa augmentationis zu unter-
fuchen fei (l. c. XIV, 196). - Erwähnt fei noch, daß B r a d w a r di n e (1- 1399)
von den in finiti gradus in omni latitudine fpricht und daß G regor
von Rimini (1344) eine latítudo als doppelt fo groß wie eine andere
bezeichnet. alfo ñe mißt (l. c. XIV, S. 196/97).
Wi eleitner beftreitet, daß Oresme die Koordinatendarftellung er»
funden habe und billigt ihm höchftens eine »Ordinatengeometrie« (ohne
den Begriff der Hbfziiie) zu. Ferner tadelt er feine fchwankende und un«
fcharfe Begritfsbildung. Man muß aber bedenken, daß es iich hier um eine
frühe Stufe einer ielbftändigen (nur wenig von der I-Intike beeinflußten)
Konzeption neuer, ipezifiich »abendländifchem (alfo wohl »nordifch beftimmten)
mathematifcher Begriffe handelt.
Es liegt hier bei Oresme m. E. die llrfprungsftätte
der wichtigften Begriffe der neueren Mathematik: Funktion,
beftimmtes Integral, Hbleitungen aller Ordnungen (als Befchleunigungen
verfchiedener Ordnung auftretend), P ri n z i p d e r P e r m a n e n z d e r
f o r m ale n G e i e tg, e (gebrochene Exponenten), - dies legte im »Hlgoris--
mus proportionum«, vgl. H. H a n k e l , Zur Gefchichte d. Math. im ñltertum
u. Mittelalter, S. 350 f.
fluch in der Frage des Einflufies diefer Begriffsbildungen auf die ipätere
Zeit fcheint mir Wi el e i t n e r zu abfprechend zu fein. Es hat eben der
übermächtige Einfluß der Hntike feit der Renaiffance vieles Mittelalterliche
fcheinbar verfchwinden laffen. (Vgl. das von Wielei tner felbft Beigebrachte:
für Descartes, XIV, S. 2411. c., Hnm. 2, 4, 5; für Galilei, S. 242f.).
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