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102 Oskar Becker.

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(S. 212)1. Ganz ähnlich wurde oben die Stufe mit dem Index an
das p oder A bezeichnet.
Wenn von I-Iufferl auch bereits alle abftrakten Möglichkeiten
durchdacht und auch für beliebig hohe endliche Iterationen
anfcbauliche Beifpiele gegeben iind (I. bei. S. 211), fo wird doch über
die offen endlofe Iteration niemals hinausgegangen und es ift auch
für dieíen Fortfchritt ins Transfinite bei feiner Betrachtungsweife
kein konkretes Motiv aufzuweifen.
Dagegen kann man einen derartigen transfiniten Progrefíus aus
einem wirklich lebendigen Motiv herleiten, wenn man auf eine be-=
fondere Hrt der Iteration der Reflexion aufmerkfam wird, die
Karl Löwith in feiner Diifertation über Nietzicbei betrachtet
und als ›Parenthefen-Refiexíon« bezeichnet hat. Im Hnfcblufie an
Doftojewskijs Erzählung »Die Stimme aus dem lIntergrund«3 wird
dort die Möglichkeit entwickelt, über das eigene Tun und leßtlich
die eigene Weife da zu fein in iterierender Weile zu reflektieren.
In diefer Erzählung wird eine Hrt Selbftgefpräch eines mit iich
zerfallenen Menfchen gegeben, der über fich felbft nachdenkt und
alle feine faktífchen Lebensäußerungen. Huch dies, daß er in diefer
unfruchtbaren Weife über fich nachdenkt, ift ein Gegenftand feines
Nachdenkens. Ferner, daß er über diefe feine Reflexion auch noch
nachdenkt und nachdenken kann, wird zum Thema weiterer Reflexion.
Hber auch die Iterationsmöglíchkeit felbft wird nach einigen der-

1) Die wichtige Stelle lautet in extenso: »In allen derartigen Stufen-


gebilden, die in ihren Gliederungen iterierte Vergegenwärtigungsmodifika~
tionen enthalten, konftituieren lich offenbar N o e m e n e n t fp r e ch e n d e r
Stu fenb ildun g. Im Hbbildungsbewußtfein zweiter Stufe iit ein ››Bild«
an fich, felbft als Bild zweiter Stufe, als Bild eines Bildes charakteriñert. . . . .
Jeder noeınatifchen Stufe gehört eine S t u f e n ch a r a k t e ri ft i k zu, als eine
Hrt Index, mit dem iedes Charakterifierte fich als zu feiner Stufe gehörig be~
kundet. . . . . Denn zu jeder Stufe gehören ia mögliche Ref-
fl exi o n en in ihr, fo z. B. hinfichtiich der in der zweiten Erinnerungs-
ftufe erinnerten Dinge Reflexionen auf die derfelben„Stufe angehörigen (alfo
in 2. Stufe vergegenwärtigten) Wahrnehmungen von eben jenen Dingem.
2) »Huslegung von Niegfches Selbftinterpretationen und von Niegfches
Interpretationen« M ü n ch e n e r Philof. Differt. 1923 (Mafchinem-Schrift=Exem~
plar in der M ü n ch e n e r LIniverfitäts~Bibliotbek).
3) »Die Stimme aus dem Untergrund. Hus den Papieren des Unter-
grundmenfdıem« Neu überlegt von K o n r a d P r a x m a r e r (Berlin, der
weiße Ritter-Verlag 1923). - Dies ift die getreuefte überfegung. In der Pi p e r~
fchen Gefamtausgabe Doftojewskijs beißt die Erzählung »Bus dem Dunkel der
Großftaclt«-=.
[543] Mathematifche Exiftenz. 103

artigen f-Infangsgliedern der wiederholten Reflexion erkannt und


wird felbft zum Gegenftand der Reflexion 1.
Das Wichtige ift nun, daß diefe wiederholte (iterierte) Reflexion
hier nicht nur ad hoc angeftellt, zum Zwecke der Demonftration
gewiffer komplizierter Strukturmöglichkeiten des Bewußtfeins er-
funden ift, fondern dem lebendigen Motiv entítammt, der Boden-
lofigkeit und Leere des eigenen Dafeins zu entfiiehen, einen inneren
Halt durch aufrichtige, fchonungslofe Selbftbefinnung zu finden. Frei-
lich fchlägt gerade bei diefer iterierten Parenthefen-Reflexion die
Hbiicht fehl und führt im Gegenteil nur zu dem immer troftloferen
Bewußtfein der völligen Haltlofigkeiti.
Dadurch unterfcheidet iich das hier vorliegende konkrete Phäno~
men von den von Huiferl befchriebenen, die ihre Komplikation
nur einer Hrt kombinatorifcher Phantaiie verdanken. Man kann
wohl in der Hrt, wie es Hufíerl belchreibt, derartige Stufenbil-
dungen gelegentlich ein Stück» weit beobachten und dann, darüber
theoretifierend, ihr Bildungsgefeg erfaffen. Hber es befteht kein
konkretes, nicht rein erkenntnismäßiges Motiv, die Iteration ins
Endlofe oder gar ins Transfinite weiter zu verfolgen. Dagegen ift
es im Falle der ››Parenthefen~Reflexion« die gewaltige Macht des
Fluchtimpulíes vor dem eigenen eigentlichen Dafein, vor der Not-
wendigkeit, fich felbft ins flngeíicht fehen zu müifen, die die Fort-
fegung der Refiexíon auf jeder bereits erreichten Stufe erzwingt3.
1) Es heißt beifpielsweife 1. c. (Praxmarer) S. 67 : [am Ende einer Wieder-
gabe eines 'I'agestraumes.]: ››. . . fiber wenigftens ift doch alles am Comer»
fee gewefen. übrigens, jedoch Sie haben ganz recht; es ift wirklich ab»
geichmackt und auch gemein. Das Gemeinfte ift aber, daß ich nun vor Ihnen
angefangen habe, mich zu rechtfertigen. Und noch gemeiner ift, daß ich jegt
diefe Bemerkung mache. llnd genug übrigens jegt, d enn f on ft h ö re ich
überhaupt nimmer auf: es wird immer noch eins gemeiner
als d as andere fein«. -~ jvon mir gefperrtl. Hier hat man alfo wirk=
lich eine Reflexion auf einen unendlichen Prozeß, alfo eine Reflexion wfef
Stufe. Die (co-1-1)f@ Reflexion findet fich allerdings nicht bei Doftojewskij. -
2) K. L ö wi t h ftellt a. a. 0. diefe unfruchtbare »Parenthefen-Reflexion«
(fo von ihm genannt nach den im Text von D o ft o j e W s k ij in fehr charak-
teriftifcher Weife auftretenden Parenthefen, in denen die Reflexionen höherer
Stufen jeweils ihren Plag finden) der echten »exiftentiellem Reflexion gegen-
über, bei der fchon die erfte Stufe ernftgenommen wird, und nicht die Intention
der Selbftbeiinnung fich in der Betrachtung der pfychologifchen Verwicklungs=-
möglichkeiten verliert und damit lich auf der Flucht vor ihrem urfprünglichen
Ziele befindet. Man vergleiche die fpäter im Text im Hnfchluß an L a sk ge=
machte Bemerkung. (S. 105 f.)
3) Diefer Gegenfag des faktifchen Lebens in der Hlltäglichkeit der »Welt«
und des eigentlichen Dafeins ift von H ei d e g g e r einer eingehenden phäno~
104 Oâkat Bed-let. r [5 441

Zugleich - und das ift ebenfalls wichtig - befteht eine vollendete


Kontinuität zwifchen dem Schritt von n auf n+ 1 und dem von
irgend einem endlichen S zu w, von da zu w+1 uiw. Es ift jedes
Mal genau derfelbe Schritt - phänomenologifch gefehen -,der
ausgeführt wird.
Man kann dies ganz klar einfehen, wenn man eine Überlegung
heranzieht, die E. Lask in feiner »Logik der Philofophie« (Tü-
bingen 1911, S. 112) angeftellt hat. Lask macht bekanntlich den
llnterfchied zwifchen einem beftiınmten, gewiffermaßen als Thema
dienenden »Inhalt« und einer ihn »umgreifendem kategorialen Form.
»Hlle .unfinnliche Form ift Geltungsgehalt, d. h. geltendes, von der
Kategorie »Gelten« umkleidbares Material.« Diefes llmkleiden des
Materials mit Form ift offenbar etwas ähnliches, wie die Reflexion
auf ein beftimmtes Erlebnis»material«. Diefes llmkleiden kann
nun ebenfo wie die Reflexion iteriert werden. Wie alles LInfinn=-
liche, fo ift auch jede logifche Form Gleltungsgehalt, in der Kategorie
›Gelten« ftehendes Llnfinnliche. llnd wie jede logifche Form, io
fteht auch die logifche Form »6elten« felbft in der Kategorie ›Gelten«.
Es liegt alfo hier eine Rückbezüglichkeit (negırgonfıj) vor. fiber
Lask fährt fort: »Das ift in keiner Hinficht paradox. Im oberen
Stockwerk find Form wie Material beide unfinnlich, und es kann
deshalb die Form dieferunfinnlichen Form der Form
nicht anders lauten als die Form der unterften Form.
Es ift in keiner Weife zirkelhaft, wenn die Kategorie des Geltens
auf die Kategorie des Geltens wiederum angewandt und vom Gelten
felbft behauptet wird, es fei ein kategorialer Geltungsgehalt, ein
logifch Geltendes. Man ift hierbei lediglich gleíchfam ein Stockwerk
des theoretifdaen Sinnes höher geftiegenl und bemerkt dabei, daß
es in diefem dritten Stockwerk keine neue Kate-
gorie mehr gibt. Die Form der Form der Form kann ebenfo
wie die Form der Form nur »Geltem heißen. Damit wird aller-
dings der regreffus in infinítum zugeftanden. Hber er befagt nichts
anderes, als daß die Kategorie ins llnendliche Material der Kategorie
zu werden vermag. . . . . . und es ift auch ganz in der Ordnung,
daß die Kategorie des Geltens ins Unendliche in der Kategorie
des Geltens fteht, da ja die Form der Form ins Llnendliche uniinn=
lich ift. Vom zweiten Stockwerk an gibt es eben in diefer Hinfidıt-
menologifchen Hnalyfe unterzogen worden (teilweife in Freiburger Vor.
lefungen mitgeteilt, vergl. jegt die Hbhandlung »Sein und Zeit«).
1) Was hier L ask ››Stockwerk« nennt, entfpricht genau dem von uns
früher mit ››Stufe« Bezeichneten.
[545] Mathematifche Exiftenz. 105

nichts Neues mehr. Die Kluft zwifchen Sinnlich und llnfinnlich liegt
im unterften Stockwerk, zwifchen Llrmaterial und unterfter Form.
Das unterfte und das obere Stockwerk zeigen uns die legten Gegen-
iäglichkeiten in der Rolle des Kategorienmaterials. Mit dem Mate-
rial des zweiten Stockwerks ift die Kluft bereits überfchritten. Di e
übrigen Stockwerke dürfen deshalb von der Kate-
gorienlehre vernachläffigt werden. Ins lln-endliche
eine Logik der Logik zu fordern, ift allerdings über-
flüifig. . . . .-
Hus diefen Laskfchen Darlegungen geht hervor, daß im Falle
von Form-Inhalt die Iteration zwar möglich, aber belanglos ift, fchon
die 4. Stufe »Form der Form der Form- bringt nichts Neues gegen-
über der 3. Stufe -Form der Form-=.
Wie verhält es fich damitbei der Reflexion? Hnalog wie bei
Lask zwifchen »l.Irmaterial« und -unterfter Form- befteht ein
grundlegender llnterfchied (››eine Kluft-) zwifchen dem naiven, un-
reflektierten, geraden Erleben und dem reflektierten. Geht man
dann weiter, fo ift das Refiektieren auf die Reflexion (1. Stufe)
ebenfalls vom Typus des reflektierten Erlebens überhaupt. D. h.
die Reflexionserlebniffe alle r Stufen ftehen g e m e i n fa m in einem
beftimmten Gegenfag zum urfprünglichen, naiven Erlebenl. Nach
der Erkenntnis diefer Sachlage gibt es zwei Möglichkeiten, für die
das Leben fich entfcheiden kann. Entweder: Die Eitelkeit
der iterierten Reflexion überhaupt wird erkannt: man bleibt bei der
Reflexion erfter Stufe ftehen und íucht diefe wirklich mit vollem
Ernft zu vollziehen, dem Hnblick des eigenen Selbft nicht auszu-
weichen. Man ftellt fich gewiffermaßen der Selbftprüfung. Oder:
man fcheut den Ernft des echten Vollzugs der Reflexion und flüchtet
fich, diefem Vollzug immerfort ausweicbend, in immer neue Itera-
tionen. S- Im erften Fall kommt es offenbar überhaupt zu keiner
höheren Stufenbíldung. Im zweiten aber tritt nun folgende eigen-
tümliche Wendung ein: Bei wiederholter Iteration wird die Ein-
förmi gkeit der konkreten, aufeinanderfolgenden lterationsftufen
erkannt. Diefe führt zu dem Gedanken, die unbegrenzte Ite-
rationsmöglichkeit ins Huge zu fallen, Zahl begriffe einzuführen.

1) Das ift es ja auch, was die llmwendung von der unechten und un-
fruchtbaren »Parenthefen=Reflexion« zur eigentlichen und echten »exiftentíellen-=
Reflexion ermöglicht. In diefer Wefensgleichheit der Reflexionen a lle r Stufen
zeigt iich eben die Leere der Iteration der Reflexion. Die fiufmerkfamkeit,
beffer die Sorge oder die Bekümmerung muß fich der urfprünglichen »Kluft-
zwifchen geradem und reflektiertem Erleben zuwenden.
106 Oskar Becker. [546]

von der Iteration nf“ Stufe zu reden ufw. Indem man aber
dies tut, wird die Gefahr drohend, daß man -ftedlen bleibt-, zu
einem feften Standort gelangt, daß die »Flucht vor der Faktizität-
ein Ende hat. Der Fluchtimpuls treibt alfo weiter - -über das
Unendliche hinaus«! Denn: Die Stufe der Reflexion auf die
Möglichkeit der unbegrenzten Iteration der Reflexion ift die cu“,
die von dem Fluchtimpuls vor der Stillegung auf jener eben ge-
nannten Stufe weitergetriebene Reflexion die (w -1-1)“.
So kommt man alfo tatfächlich in dem Beiípiel
der Parenthefen-Reflexion aus konkreten, -hiftori-›
fchen«-Lebensmotivenzu einer transfiníten Iteration
der Reflexion.
Man kann gegen die foeben dargelegte ontologifche Interpre-
tation des transfiníten Prozeifes einen Einwand, erheben, der auf
den erften Blick viel für fich hatl, der aber doch, wie wir meinen,
widerlegt werden kann, wobei fich ein tieferer Einblick in die
phänomenologifche Struktur des transfiníten Progrefíus ergibt.
Betrachten wir den Vorgang der Iteration der Reflexion auf
fich felbft genau, d. h. ganz konkret, fo beobachten wir folgendes:
Ich reflektiere auf meine foeben vollzogene Reflexion, dann
wiederum auf diefe foeben vollzogene Reflexion zweiter Stufe ufw.
ufw. Nachdem ich fo eine beftimmte endliche Hnzahl, fagen wir W.,
ineinandergefchachtelter Reflexionen vollzogen habe, erhebe ich mich
- indem ich mit der Weiterverfolgung der fich immer öfter inein-
anderlegenden Reflexionsakte aufhöre -- auf eine Stufe der Be-
trachtung, die über allen díefen ins Endloíe fich umichließenden
Hkten liegt. Huf diefer Stufe, der ml“, ift das Objekt (das Thema
oder die Materie) meines aktuellen Reflexionsaktes, in dem ich jegt
lebe, die gefamte endlofe Folge der früher vollzogenen Reflexi-
onen. -› Zähle ich nun die wirklich vollzogenen, foeben einzeln ge-
nannten Reflexionen ab, fo habe ich erftens die n erften nach-
einander vollzogenen und jeweils auf den unmittelbar vorhergehen-
den Hkt bezogenen Hkte und d an n z w ei te n s als (n -|- 1)"°" Hkt die
zulegt genannte Reflexion von angeblich wm Stufe. Ich habe alfo
im ganzen keineswegs w (oder ng), fondern nur n-I-1 Reflexionen
wirklich vollzogen. Das geht auch ganz klar aus der Bemerkung
hervor, daß doch jeder Refiexionsakt eine gewiffe Zeit braucht, alfo
in endlicher Zeit auch nur endlich viele Hkte nacheinander aktuell

1) Ich verdanke die Kenntnis diefes Einwandes Herrn Dr. Frit;


K a u f m a n n.
[547] Mathematifıhe Exiftenz. 107

vollzogen werden können. -~ Daraus kann man fchließen, daß der


legten Reflexion die Stufen-Charakteriftik w zu Unrecht zugefchrie-
ben wurde, es kommt ihr bloß der Index n + 1 zu. Das heißt:
Die gefamte gefchilderte Lebens-›(oder Bewußtíeins-) ftruktur ift
gar nicht transfinit, fondern nur flnit: unfere ontologifche
Llnterbauung des transfiníten Progreffus erweiít fich als eine I l l u f i o n.
Man kann diefen fehr ernft zu nehmenden Einwand nicht mit
der billigen Bemerkung widerlegen, die Zeit gehöre nicht in die
Phänomenologie, fondern in die Pfychologie; hier handele es fich
um überzeitliche, rein intentionale Strukturen u. dgl. Derartige Lehren
halten wir für grundfalfch. In unferem Falle ift es wefentlich,
daß die Reflexionen nacheinander vollzogen werden, denn fie
beziehen fich jeweils auf das foeben vom Bewußtfein Geleiftete. Es
ift in der Tat richtig, daß nur endlich viele Reflexionen nachein-
ander in der endlichen Zeitfpanne, in der unfere Betraditung voll-
zogen oder verftanden (d. h. mitvollzogen) wird, wirklich ›gefchehen«
können. llnd die Zählung ergibt ja auch einwandfrei, daß es ge-
rade n-|-1 find. Hlfo ift es auch richtig, daß die ganze Betrachtung
eine finite Struktur (vom Index 1/z,+1)befit3t.
Sollte alfo der Einwand Recht behalten? Wir meinen nicht,
trog allem.
Denn es ift im Vorhergehenden eine wichtige Unterfcheidung
nicht beachtet worden: Man muß die Struktur der Betrachtung
über die Ineinanderfchachtelung der Intentionalitäten forgfältig
unterícheiden von der Struktur diefer Ineinanderfchachtelung felber.
Die erfte Struktur ift von finiter, die zweite von transfiniter
Komplikation. Nicht jede einzelne Intentionalität, die -vorhanden
ift-, d. h. im Sinn des Phänomenzufammenhanges notwendig liegt,
muß auch einzeln betrachtet werden. Sind unendlich viele Inten-
tionalitäten in einem Phänomenzuiammenhang ›› vorhanden-, -- fo
können fie gar nicht einzeln betrachtet werden.
Dies erfcheint vielleicht auf den erften Blick erftaunlich, aber
die gleiche Sachlage liegt bei jedem I-lorizontphänomen vor.
Nach einer grundlegenden Erkenntnis Hufferls ift es gerade das
Wefen des endlofen »offenen Horizontes« , des »und fo weiter-=, daß
unendlich viele Glieder »vorliegen-, die aber mit ein em Blick über-
íchaut werden. Die Beherrfchung des llnendlichen durch einen
endlichen -Gedanken-=, das ift der Sinn jedes ››Horizonts«1.
ıııııı | ___ ~ 'W' _; † 7

1) Mathematifch entfpricht di el' em Horizontphänomen nicht die Wahl-


folge, fondern die gefeßmäßige Folge.
as*
108 Oskar Becker. [548]

In unferem Falle ift nun in der Folge der zuerft betrachteten


n Reflexionen ein Horizontphänomen zugleich mitgegeben. Wir
hatten ja fchon vorhin (S. 105) dargelegt, daß gerade das Bewußt-
fein des gleichförmigen weiteren Fortgangs das Motiv für das
llnterlaffen der Weiterverfolgung diefes Fortgangs ift. Sobald
die Hnwendbarkeit der Kategorie »Und fo weiter- gefichert ift, ift
eine Weiterverfolgung in concreto in der Tat überflüifig und lang-
weilig. (I-legels -fchlechtes Unendlich-.) Das heißt: Die in der
-Betrachtung-= (fn+1)*° Reflexion kommt nur zuftande, infofern die
Endlofigkeit der Kette der früher vollzogenen und der in Fo rt-
fetjung der urfprünglichen Vollzugstendenz weiter
vo llz i e h b a r e n Reflexionen eingefehen wird. Der Übergang von
der in der »Betrachtung« 723°“ Reflexion zur (n+1)*°“ ift ein fei-
nem intentionalem Sinn nach toto coelo anderer Schritt
als der Übergang von der entfprechenden (fn- - 1)*°" zur cite“ Re-
flexion. Die transfinite Komplikation der intentionalen Strukturen
bleibt durchaus beftehen 1.
fiber trogdem ift die Erwägung des Einwands nicht ohne Nugen.
Denn fie hat auf die neue, bisher nicht beachtete, phänomenologifche
»Schicht« (oder -Dimeniion-=) der fogenannten »Betrachtung der Re-
flexion« aufmerkfam gemacht. Diefe neue Schicht hat die grund-
fägliche Bedeutung, daß fie den finiten Mechanismus ans Licht
zieht, der die transfiníten Strukturen in ihrer eigentümlichen Be-
wegtheit gewiffermaßen fteuert, der dem endlichen Menfchen-
geift ihre Beherrfchung ermöglicht 2. Das Gefeg, das den trans-
finíten Progreß regelt, ift feinem Inhalt nach finit, wie jeder In h alt
des Bewußtfeins finit ift. Das ift gewiffermaßen die Kehrfeite der
anderen von uns immer wieder hervorgehobenen Tatfache, daß

1) Huf eine ganz ähnliche Sachlage ftießen wir bei dem Beifpiel der
ineinandergefchachtelten Bilder, das früher verwandt wurde (f. oben S. 98 ff.).
Wir wiederholen nochmals den entfcheidenden Punkt: Es ift natürlich un-
möglich, unendlich viele ineinandergefchachtelten Bilder wirklich zu zeichnen.
flber der »Logik der Sache« nach müffen unendlich viele Bilder vorhanden
fein. Wenn z. B. der kleine Junge auf dem Deckel des Bilderbuches ein
genaues Bild eben diefes Bilderbuchs in der Hand halten foll, fo muß lich
diefe Beziehung ihrem eigenen Sinn nach endlos fortpflanzen. Wir -fehen››
,da deutlich die unendliche Stufung der Bilder ihrer Idee nach, dem
Sinne ihrer Intention entfprechend. fiber ebenfo deutlich fehen wir - mit
den Eugen -, daß nur eine ganz kleine Zahl von Stufen, vielleicht 4 oder 5,
wirklich körperlich vorliegt. Beides widerfpricht fich keineswegs.
2) Man könnte diefen ››Mechanismus« mit O. I-Iölder (Die mathe-
matifche Methode, Berlin 1924, §§ 116,117) als ››überbauung« bezeichnen.
[549] Mathematifche Exiftenz. 109

phänomenal das Unendliche immer ein offener Horizont, ein endlofer


Prozeß ift 1. (Vgl. Math. Hnh. zu § 5, IV. [über Brouwer.])
Nachdem der Einwand gegen unfere ontologifche Interpretation
des transfiníten Progreffes nunmehr erledigt ift, wollen wir die
Tragweite und die Fruchtbarkeit diefer Interpretation erörtern.
Zu diefem Zwecke ftellen wir folgende beiden Fragen:
Führt die gefchilderte Motivation nun wirklich zu al le n C a n t o r-
fchen Transfiniten? llnd wie verhält es fich mit der paradoxen
Ordnungszahl W?
I. Um die erfte diefer Fragen zu beantworten, liegt es nahe,
auf die beiden ››Erzeugungsprinzipien« Cantors
hinzuweifen. Diefe find gegeben darin, daß
1. zu einer vorhandenen fchon gebildeten Zahl eine Einheit
hinzugefügt wird,
2. »wenn irgend eine beftimmte Sukzeffion definierter ganzer
realer Zahlen vorliegt, von denen keine größte exiftiert,
auf Grund diefes zweiten Erzeugungsprinzips eine neue Zahl
gefchaffen wird, welche als Grenze jener Zahlen gedacht,
cl. h. als die ihnen allen nächftgrößte Zahl definiert wird- 2.
Diefe beiden Erzeugungsprinzipien find nach Cantor derart,
»daß durch ihre vereinigte Wirkung jede Schranke in der Begriffs-
bildung realer ganzer Zahlen durchbrochen werden kann.«3)
Man fieht nun leicht, daß diefen b eiden Erzeugungsprinzipien
bei dem Vorgang der Reflexion im Grunde derfelbe Schritt der
Zurückbiegung der Intention auf fich felbft (das ift ja eben re-flexiol)
entfpricht: einmal, beim Fortfchreiten von der ßfe“ zur (/3-!-1)*°“ Stufe,
durch Reflexion auf das foeben vorhergegangene =° geradeaus gerichtete-
Erlebnis, das andere Mal, beim Fortfchreiten von einer endlofen
Reihe von ineinander gefchachtelten Reflexionen zur Grenze diefer
_ '___ __;1______ __ı____ ' 7 1 _ 1 7*

1) Mathematifch drückt lich diefer eigentümliche Sachverhalt in der


bei der Kritik der PI ck erm ann fdven Theorie befprochenen Tatfache
aus, daß die Reihe der transfiníten Ordinalzahlen gewiffermaßen in der
Richtung nach rückwärts finit ift, d. h. man kann von jeder transfiníten Zahl
rückwärts in endlich vielen Schritten zur Eins zurückgelangen, weil dabei
eben alle Limesübergänge gewiffermaßen »überfprungen-= werden, während
fie nach vorwärts durch den Grenzprozeß -überklettert-« werden müffen.
Diefen llmftand will F1 ck e r in a n n benugen, um feine eigentlich transfiníten
Betrachtungen als finit auszugeben. Fiber finit daran ift nur die =-Überbauung-,
nicht die betrachtete Materie felbft. Vgl. Math. Hnh. zu § 3, II.
2) G. C a n t o r, Math. I-Inn. XXI, S.577. Weiteres über iich hier anfchließende
mathematifchen Fragen f. § 5aIV und Math. Hnh. zu § 5, II u. VI.
3) l. c. S. 547.
110 Oskar Becker. [550]

Reihe, durch Reflexion auf den Vollzug der Erfaffung der Gefeglichkeit
diefes endlofen Prozeffes. Man kann alfo mit Recht fagen, daß das
gefchilderte konkrete und konkret motivierte Phänomen der
»Reflexion -cc als phänomenologifcher Unterbau b ei d e r C a n t o r fcher
Erzeugungsprinzipien dienen kann. (Vgl. Math. Hnh. zu § 5, I).
Es ift vielleicht noch ein weiterer Sdıritt möglich: Verfucht man
fich in die C an t o r fchen Gedankengänge felbft (wie fie in der »Mannig-
faltigkeitslehre« im XXI. Band der »Mathemat Hnnalen- niedergelegt
find) hineinzudenken, fo erkennt man, daß das, was man eigentlich
vollzieht, eine Hrt »Reflexion auf das foeben Getane- ift-- foweit
wenigftens das zweite Erzeugungsprinzip in Frage kommt. Denn
um zur »Grenze<< überzugehen, muß man fich die Gefegmäßigkeit
des reihenbildenden Prozeffes, der die Reihe konftituiert, deren Limes
man fucht, vor Hugen halten. Das ift aber nur möglich durch Re-
flexion. Ift diefe Huffaffung richtig, fo ift die phänomenologifche
ffnalyfe der Reflexion nichts anderes als ein analyfierendes Bewußt-
machen deffen, was in der mathematifchen Limesbildung eigentlich
fchon latent vorhanden war.
II. Die zweite Frage war nach der Paradoxie der
Menge W. In der Tat ift diefe Frage für die gegenwärtige Be-
trachtung von entfcheidender Bedeutung und keineswegs nur die
fpielerifche Befchäftigung mit einem fpigfindigen Sophisma. Denn,
wenn es wirklich gelungen ift, der Reihe der Cantorfchen Trans-
finiten ein konkretes Phänomen unterzulegen, müffen Widerfprüche
innerhalb diefer Gegenftändlichkeít unmöglich fein. Ein abftrakt
durch beftimmte Hnnahmen poftuliertes bzw. konftruiertes Gegen-
ftandsgebiet kann an Widerfprüchen leiden, ihm gegenüber hat daher
der Nachweis feiner Widerfpruchsfreíheit einen guten Sinn, --
aber eine phänomenologifch aufweisbare Entität ift eo ipfo wider-
fpruchsfrei. Wenn fich alfo die Hntinomie von Burali-Forti
nicht aufklären und zum Verfchwinden bringen ließe durch ein-
fache konkrete Verfolgung der phänomenalen Ge-
gebenheiten, fo wäre das ein fehr triftiger Grund, die Richtig-
keit der in Frage ftehenden phänomenologifchen flnalyfe anzu-
zweifeln.
Die beiden C antorfchen -Erzeugungsprinzipien« durchbrechen
jede Schranke bei der Erzeugung der transfiníten Zahlen. Das
2. Prinzip fcheint zur größten Ordnungszahl W (dem Ordnungstypus
der Menge aller Ordnungszahlen) zwangsläufig zu führen. Hat
man aber einmal W eingeführt, fo ermöglicht das 1. Erzeugungs-
prinzip den Fortfchritt zu W'+1, womit die angeblich -größte« Ord-
[551] Mathematifche Exiftenz. 111

nungszahl W überfchritten ift. Dies ift, nochmals wiederholt, die


Burali-Fortifche Hntinomie.
Geht man nun zurück auf die konkreten Phänomene der »Refle-
xion« , die den beiden abftrakt-formalen Erzeugungsprinzipien
C an t o r s untergelegt wurden, fo ift offenbar die entfcheidende Frage:
Welches konkrete Reflexions-Phänomen entfpricht
d er O r dnung s z a hl W? Es müßte dies diejenige Reflexion R(WO
fein, die auf alle möglichen Reflexionsftufen zurückblickt, fich auf
fie >›zurückbiegt<<. - Gibt es eine folche Reflexion d. h.: Ift fie als
ein konkretes Phänomen aufweisbar?
Es muß daran erinnert werden, daß jede Reflexion fidv bezog
auf den jeweils vollzogenen geraden Hkt, das jeweils unmittelbar
vorher vollzogene Erleben. Diefes Erleben konnte von zweierlei
Hrt fein: 9
1) Entweder war es ein einfacher gerader Hkt, ein einfaches
fchlidıt vollzogenes Erlebnis. (Dem entfpricht formal die Hnwendung
des erften Erzeugungsprinzips, der Übergang von a zu a+ 1).
2) O de r: es war die Erfaffung einer beftimmten gefegmäßigen
Reihe möglicher Einfchachtelungen von Erlebnifien (nicht unmittelbar
einander umfchließender Einfchachtelungen, fondern einander irgend-
wie, in irgendwelchen >>Hbftänden<<, durch irgendwelche Vermittlungen
einfchließender Einfchachtelungen.) Diefe offene, in ihrem möglichen
»Werdenr erfaßte Reihe wurde durch die Reflexion zu einem
Gefamterlebnis zufammengefaßt. (Dem entfpricht formal die flnwen-
dung des z weiten Erzeugungsprinzips, der Übergang von der
Reihe aß... ay... aå... zu ihrem Limes.)
fluch im zweiten Fall bezieht iich aber die Reflexion auf ein
ins Huge gefaßtes beftimmtes Reihengefegfi für das keine obere
Schranke exiftiert: in dem Sinn, daß keine ins Huge gefaßte Reihen-
entwicklung die legte ift, daß die fortgefegte und ftets fortfegbare
Reflexion immer auf neue weiter reichende Reihengefege führt.
(Dies äußert fich in der Cantorfchen Symbolik in dem Huftreten
immer neuer Verknüpfungsfymbole und der Einführung immer neuer
Buchftaben wie w,a,52.... ufw. ufw.)
fiber niemals kann die Reflexion fich auf alle in diefer Weife
-möglichen« Reihengefege überhaupt beziehen. Diefe fügen iich
nidıt zu einem ›Gefamt-Reihengefeg« zufammen. Oder vielmehr:
genauer ausgedrückt verhält fich die Sache fo: die nacheinander

1) -Reihengefeg-= bedeutet hier und im folgenden nicht ohne weiteres


dasfelbe wie »Funktionsgefeg-. S. Math. Finh. zu § 5, II (Bem. zu H i lb e rt).
1 12 Oskar Bediet. [552]

eingeführten Reihengefege verhalten fich wie Hnfangsftüdc und


Fortfegung, die früher eingeführten Gefege find in allen ,nachfolgen-
den aufgehoben, d. h. bewahrt (Hegel), fie bilden das Gefeg des
Hnfangsftücks der nach dem höheren Gefeg gebildeten Zahlenreihe.
So fügen fich allerdings alle nacheinander zu Tage tretenden Gefege
zu einem einzigen zufammen, aber diefes ift niemals in feiner Voll-
endung gegeben, fondern immer im Werden begriffen (dvváμar öv)_
Das ift nun freilich auch bei den einzelnen konkreten Gefegen
der Fall, aber es befteht folgender enticheidende llnterfdıied:
das jeweils neu eingeführte Reihengefeg, das durch eine neu ein-
geführte transfinite Zahl bezeichnet wird, ift feinem Charakter
nach eben durch diefe Bezeichnung eindeutig gekennzeichnet (wobei
natürlich diefe Bezeichnung jeweils die Beziehung zu fchon früher
eingeführten Zahlen eindeutig feftlegen muß). Der Fortfchritt zu
immer neuen, erweiterten Reihengefegen ift nur möglich durch die
Einführung immer neuer Symbole und immer neuer (rekurrent
definierter) Verknüpfungsprinzipien zwifchen ihnen. llm einen
folchen Fortfchritt zu erzielen, ift es alfo notwendig, gewiffermaßen
immer neue Mannigfaltigkeitsformen einzuführen. (Wie das fehr deut-
lich aus Veblens und M a hlo s Hrbeitenı über die Fortfegung der
Reihe der Transiiniten hervorgeht. Solche Hrbeiten wären ja gar
nicht finnvoll, wenn ein mechanifch zu errechnendes Gefeg für
alle möglichen derartigen Bezeichnungen exiftierte2.) Es gelingt
alfo prinzipiell nicht, ein llniverfal-Gefeg aufzuñnden, das die
gefamte Reihe der transfiníten Zahlen, wie fie durch die beiden
-Erzeugungsprinzipiem zuftande kommt, beherrfchte. In der Ter-
minologie der Intuitioniften ausgedrückt: Die Folge der fuk-
zeffive einzuführenden formalen Reihengefetze ift
eine werdende Folge, deren -Zukunft-= nicht voraus-
fehbarift
In Hnbetracht diefes Tatbeftandes hat es keinen
Sinn, von der Möglichkeit einer konkreten phäno-
menalen llnterbauung der Zahl Wzu reden.
Diefer Zahl Wentfpricht nur der gänzlich unbe-
ftimmte -freie« Horizont des von den beiden Er-
m I if; I _ 7 __

1) Trans. Hm. Math. Soc. 9; Lpz. Ber. (math. Kl.) 63, 64, 65. (Zu V eblen
vgl. Math. Hnhang zu § 5, Vl B.)
2) Es liegt alfo auch hier wieder der fchon früher (in § 4 a) befprochene
Fall vor, daß die Mathematik die Kunft ift, frei werdende Folgen gefeglich
zu beherrfchen oder das llnendliche mit endlichen Mitteln auszudenken.
[553] Mathematifche Exiftenz. l 1 13

zeugungsprinzipien ins Endlofe ,weitergetriebe-


nen transfinitenProzeffes. Ü
Man errät, daß die philofophifch (d. h. ontologifch) legte Be-
deutung diefes fo zur Gegebenheit gebrachten transfiniten Prozeffes
darin beftehen wird, daß in ihm das Phänomen des E ndlof en,
des Vorftoßes in die unbekannte Zukunft zu feiner zugefpigteften
begrifflichen Geftalt kommt, - daß in ihm das formal-anzeigende
Schema des wahrhaft unendlichen in Erfcheinung tritt, das niemals
- wie Hegel fo oft eindringlich auseinandergefegt hat - mit der
durch die gewöhnliche Zahlenreihe fchematifierten »fchlechten Un-
endlichkeit« verwechfelt werden darf. (Dies wird- erft fpäter näher
unterfucht werden.) _
Es ift offenbar widerfinnig, diefen fo verftandenen -freien-
transfíniten Prozeß -fortfegen« zu wollen. Die Stufe der Reflexion
über diefen Prozeß, die man mit dem Index W zu bezeich-
nen verfucht ift, fteht nicht auf der gleichen Linie mit irgend einer
anderen Reflexionsftufe. Der W-Prozeß kann nicht vollzogen
werden, wie fonft ein a-Prozeß oder ß-Prozeß. l
Es ift daher fehlerhaft , diefe Stufe durch einen Index W
in Hnalogie mit dem Index a oder ß zu bezeidvnen. Wenn man
dies doch tun wollte, fo wäre es unvermeidlich, auch über diefe
Reflexion, über ihre Möglichkeit ufw. zu reflektieren und man käme
unweigerlich zu einer -fupra-transfinitem (ultrafiniten) Reflexions-
ftufe mit dem Index W+ 1. Fiber damit hätte man eben den W.
Prozeß zu einem endlich charakterifierten cr- oder /›'-Prozeß um-
gebogen, feinen »freien-= Grundcharakter zu einem gefegmäßigen
denaturiert -- d. h. den Grundfinn des durch W fymbolifierten
Phänomens mißverftanden. 4
Bezieht man diefe Betrachtung auf die konkrete Lebens-Be-
deutfamkeit der -Parenthefen-Reflexion« zurüdc, fo erfcheint das
Wals Symbol der vollendeten, radikalen »Bodenlofigkeit-1
des fo in -Parenthefen-= reflektierenden Lebens. Das eigentüm-
liche Gefühl des S ch wi n d e l s , das den einfichtigen Betrachter hier
ergreift, deffen fiusdrudc in gewiffem Sinne die Hntinomie von
Burali-Forti ift, ift echt, es beweift die Unmöglichkeit, daß
das Leben wahrhaft vor fich felbft entfliehen kann, - daß es auf
dem Wege der iterierten Reflexion jemals zur Ruhe kommt.

1) Der Begriff der Bodenloñgkeit ift vom Graf en P aul Yorck in


die Philofophie eingeführt worden; vgl. den Briefwechfel D i l t h e y - Y o r dc
(Halle, Niemeyer, 1923) und die demnächft in diefem Jahrbuch erfcheinende
Hrbeit von F. K aufm an n: -Die Philofophie des Grafen Yorck-.
114 Oskar Becker. [554]

H n m e r k u n g.
Es ift von hiftorifchem Intereffe, auf zwei fiußerungen
S ch ellin gs aus feiner erften Periode aufmerkfam zu machen, die
mit bewunderungswürdigem Scharffinn den Grundgedanken der
transfiníten Iteration der Reflexion auf fich felbft und zugleich da-
mit die wefenhaft hier auftretende flntinomie, die wir heute mit
dem Namen Burali-Fortis bezeichnen, vorausahnen.
1. Ideen zu einer Philofophie der Natur, Ein-
leitung zur 1. ffuflage (1797) [Gef. Werke, Hbt. 1, Bd. II, S. 16]:
-Indem ich frage: wie kommt es, daß ich vorftelle, erhebe ich
mich felbft über die Vorftellung; ich werde dur ch diefe Frage
felbft zu einem Wefen, das in flnfehung alles Vorftellens fich ur-
fprünglich frei fühlt, das die Vorftellung felbft und
den ganzen Zufammenhang feiner Vorftellungen
unter fi ch e rbli ck t. Durch diefe ganze Frage felbft werde ich
ein Wefen, das, unabhängig von äußeren Dingen, ein Sein in fich
felbft hat.-
2. Briefe über Dogmatismus und Kritizismus,
lWerke, Hbt. 1, Bd. I, S. 320, f'-Inm. 1; S. 60 der Originalausgabel: »Daß
wir unfers eigenen Ichs nie los werden können, davon liegt der
einzige Grund in der abfoluten Freiheit unfers Wefens, kraft welcher
das Ich in uns kein D ing , keine S a ch e fein kann, die einer
objektiven Beftimmung fähig ift. Daher kommt es, d a ß unf e r
Ich niemals in einer Reihe von Vorftellungen als
Mittelglied begriffen fein k ann, fondern jedesmal
vor jede Reihe (l) wiederum als erftes Glied tritt,
das die ganze Reihe von Vorftellungen fefthält: daß
das handelnde Ich, obgleidı in jedem einzelnen Falle beftimmt,
doch zugleich nicht beftimmt ift, weil es nämlich jeder objek-
tiven Beftimmung entilieht, und nur d urch fi ch f elb ft beftimmt
fein kann, alfo zugleich das beftimmte und das be-
fti mm en d e ift «. (Die ganze Säge betreffenden Sperrungen
find von mir, einzelne gefperrte Wörter ftehen fchon fo im
Original.)
Diefe Stellen, von denen die zweite, zeitlich frühere (1795) die
klarere ift, zeigen, daß S chelli ng die Idee einer trans finiten
Iteration der reilexiven Intentionalität bereits lange vor G. Cantor
klar vor fich fah, natürlich ohne fie mathematifch zu erfaffen.
Denn, wenn das Ich -jedesmal vor jede Reihe wiederum als erftes
Glied tritt- bedeutet das (in fpiegelbildlicher Verkehrung gewiffer-
maßen, fodaß alfo die Inverfen wohlgeordneter Typen tw, 1+*w
[555] Mathematifche Exiftenz. 115

ufw. erzeugt werden) offenbar nichts anderes, als den Fortfchritt


von dem einer Transfiniten vorausliegenden Hbfchnitt zu diefer felbft,
ein Fortfchrittsprinzip, welc:hes die beiden C a n t o r fchen Erzeugungs-
prinzipien in eins zufammenfaßtl.
Befonders intereffant ift aber der im legten Sag liegende Hin-
weis auf die Burali-Fortifche fintinoınie: das Ich ift zwar -in
jedem einzelnen Falle beftimmt-, nämlich als unmittelbar »vor-< der
ganzen jeweiligen Reihe feiner Vorftellungen unfichtbar (nach
Hufferls fiusdruck »anomym-) ftehend. D. h. jede Transfinite
folgt ihrem flbfchnitt oder jedem Hbfchnitt folgt unmittelbar eine
eindeutig beftimmte Transfinite. Trogdem ift es doch -- vom ein-
zelnen Falle abgefehen -- nicht ein für alle Mal -objektiv« beftimm-
bar, es entflieht ftändig, d. h. zu jeder Reihe von Ordnungszahlen
gibt es eine größere, die Reihe aller Ordnungszahlen kann nicht
als Objekt feftgelegt werden. Vielmehr ift das Ich legtlich -zugleich
das beftimmte und beftimmende-, d. h. wollte man dem Ich abfolut
genommen, die maximale Ordnungszahl "U1" entfprechen laffen, die
allen übrigen Ordnungszahlen nachfolgt, es alfo rein »beftimmend-
fein laffen, fo ergäbe fich fofort, daß es eben durch diefe Gedanken-
wendung auch fchon zum Gegenftand der Betrachtung gemacht, alfo
-beftimmt« wäre, fodaß das -anonyme-, es beftimmende Ich bereits
wieder »vor-= es getreten wäre - entfprechend dem Fortfdvritt
von W zu W'+ 1.
Die Hntinomie von Burali-Forti löft fich alfo ontologifch
dahin, daß ihre latente Vorausfegung, es ließen fich alle Ordnungs-
zahlen überhaupt zu einem Hbfchnitt zufammenfaffen, irrtümlich
ift; es läßt fich nur je cl e beliebige Ordnungszahl zufammen mit fämt-
lichen ihr vorhergehenden in einem Hbfchnitt zufammennehmen.
Die Transfiniten zählen eben nicht Reihen von Din g e n (-Objekten“,
»Sachen-) ab, fondern Reihen refiektiver Ichakte und es ift ontolo-
logifch durchaus nicht paradox, fondern geradezu evident, daß die
Gefamtheit derartiger Ichakte nicht einen beftimmten ftarren llm-
fang hat.. Denn die Hnnahme einer -umfangsdefiniten Mannig-
faltigkeit« von Ich-Reflexionen würde die -Freiheit« des Ich
aufheben.
Die Betrachtung S ch el lin g s geht natürlich auf K a n t s Begriff
der transzendentalen fipperzeption zurück (-Das »Ida denke« muß
alle meine Vorftellungen begleiten können-), aber das eigentüm-

1) Vgl. dazu v. N eum ann, auf deffen flrbeit im Math. Hnhang, zu


§ 5, Nr. I näher hingewiefen ift.
116 Oskar Becker.. [556]

liche Prinzip der Überfchreitung jeder (auch unendlichen) Vorftellungs-


reihe findet fich nur bei Schelling.
Das Vorftehende zeigt, daß der Grundgedanke des transfiniten
Prozeffes in den Grundanfchauungen des deutfchen Idealismus tief
verwurzelt ift. (Es gibt allerdings fchon in der antiken Philofophie
eine Iteration des Seinsbegriffs [am früheften wohl bei Plato,
Parmenides 142 B - 143 Bl, die zu einer transfiniten Wiederholung
ausgeftaltet werden k ö n n t e.)

III. Die mathematifchen Theorien über die Menge W.


Nach diefer Hbfchweífung ins eigentlich philofophifche Gebiet
kehren wir jegt zu den mathematifchen Theorien zurück. Es ift
nämlidv offenbar von Wichtigkeit, die foeben gegebene -Erklärung-
des Paradoxes der Zahl W mit den in der mathematifchen Wiffen-
fdvaft hervorgetretenen -fluflöfungen« diefer Hntinomie in Beziehung
zu fegen.
5 Da ift nun zunächft eine fiußerung anzuführen, die fchon vor
den eigentlichen -Löfungs-Theorien-= der mengen-theoretifchen Hnti-
nomien getan wurde: Heffenberg (Grundbegriffe der Mengen-
lehre § 99) fagt nämlich: >>Das Paradoxon der Menge W erinnert
an diejenigen fintinomien, die nach Kant entftehen, wenn wir die
Natur als abgefchloffenes Ganze betrachten. Nach Fries entfpringt
ferner die Unendlichkeit des Raumes, der Zeit und der Zahlen auch
daraus, daß fie als formale Bedingungen der Erfahrung deren un-
vollendeten Charakter widerfpiegeln müffen . . . . . Die Menge aller
Dinge ift kein abgefchloffenes Ganze, weil unfere Erkenntnis jeder-
zeit unabgefchloffen ift, und -die Menge W ift als formales
»Gerippe-= 1 des unvollendbaren Prozeffes der
Bildung wohlgeordneter Mengen felbft unvollend-
bar<<1. Heffenberg hat mit dem fcharfen Blick des an Kant
gefchulten Forfchers des Wefentliche bereits gefehen, wenn er auch
nicht den Mut hatte, daraus die notwendigen Konfequenzen zu
ziehen, vielmehr ausdrücklich ablehnt den eben angeführten Gedanken
für eine >>Löfung« des Paradoxes zu erklären.
Huch alle fpäteren »Löfungen-= der Fintinomie von Burali-
Forti haben das Gemeinfame, daß fie die rechtmäßige Exiftenz
der Menge W leugnen. . Zum Teil wird das erreicht durch eine
axiomatifche Begründung der Mengenlehre, bei der gleich bei der
impliziten Definition des Mengenbegriffes durch die Hxiome

1) 1. c. S. 141/4s (ess/34).
[557] Mathematifche Exiftenz. 117

dafür geforgt wird, daß Wkeine zuläffige Menge darftellt (Z e r m elo,


Fraenkel, v. Neumann). Zum .andern Teil ftügt man fich
auf eine Theorie der logifchen Typen (B. Ruffell und in etwas
abweichender Weife auch J. König). Diefe zweite Hrt der
-Löfung« (denn die erfte ift ja nichts als eine Vermeidung des ge-
fährlichen Gebiete überhaupt) bei viel ñbnıiebkeir mit den im
vorígen ausführlich betrachteten Ineinanderfchachtelungen von Hus-
fagen, mit den Stufencharakteriftiken ufw. In der Tat ift der Be-
griff der »Stufe- im wefentlichen derfelbe wie der des »logifchen
Typus- im Sinne Ruffells- (I-Iufferl bezieht fich nicht auf Ruffell,
.da er von ganz anderen, viel allgemeineren Motiven her, nämlich
phänomenologifchen, auf die -Stufencharakteriftik« geführt wurde).
Ruffells und Königs (frühere) Theorien unterfcheiden fich
dadurch, daß der erftere nur endliche Ordnungszahlen (Indizes)
der Typen zuläßt, der zweite auch transfinite (wie wir oben
auch).
Die Formulierung R u f fe lls ift fo eigenartig, daß fie angeführt
zu werden verdientl. Der Hauptpunkt ift, daß es zwar »diefelbe
Behauptung« in allen- Typen (auf allen Stufen) geben kann, aber
daß keine Möglichkeit befteht, diefe Tatfache in Form einer Be-
hauptung auszudrücken. So werden z. B. die logifchen Grundaxiome(!)
der Reihe nach, je nach Bedarf, in immer höhere »Typen-c einge-
führt: »Wir können von jedem neuen Funktionstypus (=Sagftufe)
handeln, ohne die Tatfache in Rückficht zu ziehen, daß es fpätere
(höhere) Typen gibt. Durdv die fymbolifche flnalogie »fchen-
wir, daß der Prozeß unbegrenzt oft wiederholt werden
kann-. -- »Wenn wir in irgend einem Stadium von einer Klaffe
zu handeln wünfchen, die definiert ift durch eine Funktion vom
30000 ften Typus, fo werden wir unfere Schlußweifen und finnahmen
30000 Mal zu wiederholen haben. fiber es befteht immer noch
keine Notwendigkeit, von der Hierarchie (der Typen) als von einem
Ganzen zu fprechen, oder vorauszufegen, daß fiusfagen gemacht
werden können über 'alle Typen'-. _
Befonders merkwürdig ift die (an verfchiedenen anderen Stellen
fich wiederholende) f-Iusdrucksweife: »wir fehen<<, wo doch diefes
»Sehen-< nicht legitim ausgedrückt werden kann. Ruffell zeigt zwar.
daß man bei konkreten Beweifen immer fchrittweife vorgehen kann
und alfo die Husfagen über jenen sgefehenen- Sachverhalt nicht

1) B. R u ffe ll und fl. N. W h i t e h e a d, Principia Mathematica, Vol. II,


p. XI, XII, XIII, XV; das Zitat fteht auf p. XI (von mir überlegt).
118 Oskar Becker. [558]

braucht, - aber wenn auch der mathematifche Logiker auf diefe


Weife die »gefährliche-= Zone vermeiden kann, fo bleibt das in ihr
liegende Problem doch beftehen und ihm kann von dem tiefer For-
fchenden nicht ausgewichen werden.
Die Löfung von Burali-Fortis Hntinomie wird von
Ruf fell folgendermaßen ausgedrücktı: >> . . . . . eine Reihe ift eine
Relation und eine Ordinalzahl ift eine Klaffe von Reihen . . . . Daher
ift eine Reihe von Ordnungszahlen eine Relation zwifchen Klaffen
von Relationen und ift vom höherem Typus als irgend eine der
Reihen, welche Glieder der fraglichen Ordnungszahl find (die ja eine
Klaffe ift). B.-F.s -Ordnungszahlen aller Ordnungszahlen- muß
die Ordnungszahl aller Ordnungszahlen eines beftimmten Typus
fein, und muß daher von höherem Typus fein, als irgend eine diefer
Ordnungszahlen und es liegt kein Widerfpruch darin, daß fie größer
als jede beliebige von ihnen ift.« Obwohl unfere Stufenbildung auf
einem anderen Prinzip als die Ruffells beruht, fo ift doch diefe
Formulierung ganz analog der unfrigen: auch bei uns konnte der
Ordnungszahl W kein Stufenindex zugeordnet werden. --
In feinem legten Werk -Neue Grundlagen der Logik, Hrithmetik
und Mengenlehreflg (das eigentlich den Titel -Synthetifche Logik«
tragen folltel) hat J. König eine abweichende Löfung derfelben
Hntinomie gegeben (S. 254 ff.) Befonders wichtig ift finmerkung 3
zu S. 254, wo es heißt: -Wenn wir »die Menge der Ordnungs-
zahlen« W genau betrachten, fehen wir, daß die Erlebniffe, die
dem die Menge W definierenden Denkbereich (W) angehören,
durchweg Mengen- und Ordnungsrelationen find . . . . . In
diefen Erlebniffen . . . . findet fich aber keine Spur der Tat-
fache, daß die Menge alle Ordnungszahlen als Elemente
enthält. Erft wenn wir diefen Denkbereich felbft ob-
jektivieren, als Ding betrachten, deffen Eigen-
fchaften in einem höheren Denkbereiche befchrieben
werden, kann diefe Tatfache in Evidenz tretena. In
diefem Sinne ift die Eigenfchaft der Menge, alle Ordnungszahlen zu
enthalten, kein Erlebnis, das dem Denkbereiche (W) angehört, fondern
eine flnfchauung, die an dem »fertigen-= Denkbereiche erlangt
wird... fillerdings können wir diefe Tatfache felbft mit anderen für
jene Hnfchauung notwendigen zufammen axiomatifieren, gelangen
IflíIífl¬ _

1) Principia mathematica, Vol. I, p. 66.


2) Leipzig 1914.
3) Von mir gefperrt!
[559] Mathematifche Exiftenz. 119

aber dadurch zu einem höheren Denkbereiche (W)', der von (W)


wefentlich verfchieden ift. . . . Die Verwechfelung der Denkbereiche
(W) und (W)', die offenbar nicht geftattet ift, führt zur fogenann-
ten flntinomie der IV-Menge. Es foll fogleich näher auseinander-
gefegt werden, wie das -finhängen eines Elementes- an W als Er-
weiterung des Denkbereiches (W) ausgeführt wird und nachträglich
diefes -Hnhängen« als Erweiterung des Denkbereichs (W)' aufgefaßt
wird. In dem einen Falle ift diefe Erweiterung ausführbar, in dem
andern unmöglich. Die Verwechslung, eine quaternio terminorum,
ergibt die fintinomie . . . .-
Diefe Husführungen ftimmen mit unferen entfprechenden durch-
aus überein; die Wendung -Objektivierung des Denkbereichs- ift
genau das, was in unferer Darlegung das konkrete Erfaffen der
gefegmäßigen Reihenbildung ift. 2- Im Einzelnen find die Stufen-
bildungen bei uns anders (verwickelter, mit transfinitem Index),
aber das Wefentliche ift doch die Huffaffung, daß der »transfinite
Prozeß im ganzen« gar nicht verglichen werden kann mit feinen
konkreten Teilprozeffen (daß der Denkbereich (W)' von (W) gänz-
lich verfchieden ift).
Die Husführungen Ruffells und Königs beftäti-
gen alfo nur die im vorigen dargelegte Interpreta-
tion des transfiniten Prozeffes.
Im ganzen kann man fagen, daß die Betrachtung der iterierten
Reflexion imftande ift, fogar die am weiteften vorgetriebene Be-
zeichnung der transfiníten Zahlen zu erfaffen, alfo die Theorie der
transfiniten Zahlen weit über das von Ruffell z. B. zugelaffene
Maß hinaus fichert. Diefes Ergebnis ift in flnbetracht des »intuitío-
niftifchen« fiusgangspunktes fehr merkwürdig und unerwartet. Es
hat feinen Grund darin, daß der Gedanke neu ift, die Verwirk-
lichung der -großen« Mengen nicht in irgendwelchen objektiven
-Gegenftänden« von beftimmter Bauart, mit parataktifch geordneten
-Elementen«-= zu fuchen, fondern in der Komplikation der Struktur
des Bewußtfeins felbft, am konkreteften in der Iteration der
Reflexion auf fich felbft. Diefe Gedankenwendung enthält aber ein
ferneres Problem, zu deffen Behandlung wir nunmehr übergehen.

IV. Die transfinite Komplikation des Bewußtfeins


und die Mengenlehre.
H. Die transfinite Progreffion und der überlieferte Mengenbegriff.
Die ontologifche llnterbauung des transfiníten Progeffus, wie fie
in ñbfchnitt II vermittels der finalyfen der fogenannten Bewußt-
120 Oskar Becker. [560]

feinsftufen gelungen war, ift in philofophifcher I-Iinficht ficherlich von


einer erheblichen Tragweite. Insbefondere war ja die legte analy-
fierte Bewußtfeinsftruktur, die iterierte Reflexion auf fich felbft,
nicht nur eine in der relativ abftrakten Weife der ifolierten Defkrip-
tion erfaßbares Phänomen, fondern war einer hermeneu-
tifchen Explikation, einer Huslegung auf den Sinn des konkret
lebendigen D af e i n s, des L eb e ns (nicht des reinen abftrakten Be-
wußtfeins) fähig und zu ihrem tieferen Verftändnis auch bedürftig.
Die transfinite Komplikation der Struktur der Reflexion erwies fich
als ein befonders zugefpigter Husdruck der radikalen Bodenlofigkeit
des umweltlichen alltäglichen Dafeins. Damit ift es gelungen den
Cantorfchen transfiníten Progreffus im eigentlichften Sinn onto-
lo gif ch zu interpretieren, ihm eine ganz genau beftimmte Bedeu-
tung für den Sinn der Faktizität felbft zu geben.
Es bleibt indeffen bei aller diefer gewonnenen flufhellung der
Natur des transfiníten Progreffus (doch noch die Frage nach feiner
math ematifchen Tragweite und Bedeutung ungelöft.) Insbefon-
dere erhebt fich das Problem: Ift mit der erwähnten ontologifchen
Interpretation des transfiníten Progeffus (d. h. des Prozeffes,
der von einer transfiníten Zahl, ftreng als Ordnungszahl genommen,
nämlich als Indexbezeichnung der Stufencharakteriftik gewiffer
Bewußtfeinskomplikationen, zur anderen führt) fchon die mathema-
tifche Exiftenz der entfprechenden wohlgeordneten transfiniten M e n-
g en bewiefen? Ift alfo de r Teil der Cantor fchen Mengenlehre, der
von den wohlgeordneten Mengen handelt, gefichert und kann man
von diefer Bafis aus vielleicht zu einem intuitiven Begreifen
auch weiterer C an tor fcher transfiniter Mengen vorzudringen
verfuchen?
Hier muß nun davor ge warnt werden, in den in Hbfchnitt II
gegebenen Darlegungen bereits eine intuitive Sicherftellung der
Exiftenz der wohlgeordneten Mengen zu fehen. 5
5 Denn, von anderen noch zu erwähnenden Schwierigkeiten ab-
gefehen, involviert der Begriff der Cantorfchen Mengen eine
Nebenordnung (Parataxe) fämtlicher formal gleichberechtigter Mengen-
elemente. Die Mengenelemente find zunächft einmal da, dann
erft werden fie ››wohlgeordnet<<; »diefelben-= Elemente können auch
anders geordnet werden; umgekehrt kann (vielleicht) eine beliebige
Menge wohlgeordnet werden.
Dagegen ift es offenbar fınnlos, die Komplikationsftufen eben
der iterierten, Reflexion, deren Stufencharakteriftiken (Indizes)
transfinite Zahlen ñnd, anders anordnen zu wollen, oder fie
[561] Mathematifche Exiftenz. 121

fich erft ungeordnet vorhanden zu denken, um fie dann erft -wohl-


zuordnen-. Sofern alfo das ontologifche Fundament der trans-
finiten Zahlen (nach der Betrachtung des Hbfchnitt II) lediglich darin
liegt, daß fie als Stufencharakteriftiken der Reflexionsftufen fun-
gieren können, ift eine Freiheit der Hnordnung der Elemente der
>>Menge<< jener Stufen durchaus nicht gewährleiftet. Oder, anders
ausgedrückt: Sofern man in dem Begriff der Menge die Möglichkeit
der verfchiedenartigen ffnordnung der Mengenelemente gleich nıit
aufnimmt, bilden die -fämtlichen« Stufen (bzw. ihre Indizes) gar
keine Menge. Von allen Stufen im Sinne einer Menge zu
reden ift finnlos. Hber nicht nur das: es ift auch fchon unmöglich,
von einer transfiniten Teilmenge von -einigen-= Stufen zu reden, fo-
fern, man fich diefe Stufen irgendwie abftrakt und ungeordnet
nebeneinandergelegt denkt, gewiffermaßen in einem homogenen
Medium ausgebreitet.
Dazu kommt noch ein zweites: fluch als von Haufe aus ge-
ordnete Mengen kann man die transfiníten Indizes nicht ohne
weiteres faffen. Zwar kann man wohl unterfcheiden zwifchen konkreten
Fällen transfiniter Komplikation (etwa zwifchen der iterierten Bild-
intention oder der iterierten Reflexion auf fich felbft) und dem
diefen Fällen gemeinfamen, von ihnen abftrahierten Ordnungstypus
der Folge der transfiniten Indizes; aber die eben genannten konkreten
Fälle ftellen doch keineswegs aktual-unendliche wohlgeordnete
Mengen dar, fondern potentiell-«unendliche Prozeffe.
Man kommt zwar mit der flnnahme aktualer wohlgeordneter Mengen
nicht auf einen Widerfpruch, aber eine pofitiven, kategoriale Hufchau-
ung ift nicht mehr möglich. Die ontologifche Fundierung des trans-
finiten Progressus qua pro-greffus (genauer als das (verbale) pro-
gredi, procedere felbft) ift nicht übertragbar auf die entfprechenden
transfiníten, wohlgeordneten Mengen. Der Progreffus »exiftierti im
ontologifchen Sinn, die wohlgeordnete Menge nicht. (jedenfalls
exiftiert fie nicht auf Grund des Progreffus). Wenn man alfo alle
Säge über transfinite wohlgeordnete Mengen als folche über
pure transfinite Ordnungszahlen (denen gar nichts »Mengen-
haftes« anhaftet und die auch nicht felbft zu >>Mengen<< zufammen-
gefaßt werden können) deutet, dann kann man von einer onto-
logifchen Fundierung der Lehre von den transfiníten Z a h le n reden.
fiber keineswegs ift das berechtigt, wenn man - wie gerade in den
neueren Darftellungen der »Mengenlehre-~ allgemein üblich ift -
die Theorie der wohlgeordneten M en g e n zur Grundlage der Lehre
von den transfiníten Zahlen macht.
122 Oskar Becker. [562]

Wir kommen alfo gerade zur alten Cantorfchen Idee der


-Fortfegbarkeit der -Zahlenreihe über das Unendliche hinaus« zurüdc,
eine Idee, in der der dynamifche Prozeß-Charakter im Vorder-
grund fteht 1. Es ift alfo gerade diejenige (ältere) Betrachtung, der man
heute im allgemeinen nur mehr einen heuriftifchen Wert beimißt,
die fich vom philofophifch-ontologifchen Gefichtspunkt aus als die
fundamentale und die Exiftenz begründende erweift. Dagegen ent-
behren die axiomatifch-formalen Betrachtungsweifen durdiaus des
ontologifch faßbaren Hintergrundes. Es ift dies ein Beifpiel von
vielen für die (i. a. unbewußte) flbwendung der modernen Mathe-
matik von ihrer philofophifch-ontologifchen Bafis. (Vgl. dazu § 6a).
[Es ift wichtig, fich darüber klar zu werden, ob von diefer Ein-
fchränkung der Tragweite unferer ontologifchen Begründung des
Transfiniten die Hnwendung der transfiniten Induktion ge-
troffen wird, die der Metamathematik W. ficke rmann s zugrunde
liegt. (Vergl. Math.flnh. z. § 3,11.) Man fieht leicht, daß das nicht
der Fall ift. Die Hnwendung, die Hckermann vom Transfiniten
macht, benugt nur den transfiniten Prozeß als folchen, nicht die
ftatifche, fimultane Menge der Komplikationsftufen. D. h.: Es ift
notwendig und hinreichend für die Hckermannfche Theorie, die
Reihe der transfiniten Zahlen als ein beftimmtes Gefeg des Fort-
fchreitens aufzufaffen, durch das die immer komplizierteren trans-
finiten Formeln eine nach der anderen formal konftruiert werden
können (was aber natürlich noch nicht befagt, daß auch die in jenen
Formeln gemeinten mathematifchen Gegenftändlichkeiten oder Pfeudo-
gegenftändlichkeiten konftruiert werden können 2).]
Die fo gewonnene Hufklärung über das Transfinite Cantors
macht auch verftändlich, daß die ontologifche Fundierung aller über-
haupt irgendwie bezeichenbaren transfiníten Zahlen gelingt, d. h.
'*'* ' 'ıífff 7' _ _ _ _ R __

1) Man erinnere fich der Darlegungen in Hbfchnitt I ; befonders der


Diskuffion C a n t o rs mit dem Kardinal F r a nz elin, wobei befonders der
Kardinal das dweëμe: öv der ganzen Reihe der Transfiniten mit großem Scharf-
ñnn fchon damals betont hat.
2) Eine weitere merkwürdige Beftätigung des Gefagten bildet der legte
H i l b ertfche Huffag -Über das Unendliche- (Math. Hnn. 95, S. 161 ff.), der
mir zur Zeit der Niederfchrift des Textes noch unbekannt war. - In diefem
Huffag wird (zum Zwedce der Löfung des Kontinuumproblems) der trans-
finite Prozeß als formales fibbild der möglichen Komplikationsftufen der
Funktionen einer Zahlenvariablen (d. h. der Zahlfolgen) aufgefaßt. (Näheres
darüber in §5 b). Es wird alfo das Transfinite de facto -inhaltlich« und
ganz in unferem Sinne gebraucht: als Index, nicht als Ordnungstypus
einer aktuell unendlichen M e n g e.
[563] Mathematifche Exiftenz. 123

foweit die Kraft der Erzeugungsgefege reicht; andrerfeits aber die


intuitive Erfaffung fchon viel weniger ›reicher« (-großer-= im popu-
lären Sinn) Mengen mißlingt. Die Stufenreihe, die die Mengen
nach ihrer-Größe« (alfo etwa ihrer Mächtigkeit und der Kompli-
kation ihres Ordnungstypus) und nach der Möglichkeit ihres Exiftenz-
beweifes auf Grund beftimmter Exiftenzialaxiome in der traditionellen
Mengenlehre bilden 1, ift nicht die maßgebende im Sinne unferer
Ontologie. Die formaliftifche Mathematik ift hier nicht einfach das
weitere -Gebiet B-, das das engere intuitiv erfaßbare »Gebiet fi«
umfchließt. Vielmehr bleibt die Merkwürdigkeit (die aber nunmehr
wohl nicht mehr paradox erfcheinen dürfte) beftehen, daß von der
intuitiven Grundpofition aus ein Vorftoß in Gebiete vorgetrieben
werden kann, die von den üblichen formalen Exiftenzialaxiomen aus
nicht erreicht werden könnten. Eine Paradoxie liegt aber deshalb
nich t vor, weil das durch jenen ››intuitioniftifd1en- Vorftoß Erreichte
nicht eine Theorie der betreffenden »riefigem transfiniten Men-
gen ift, fondern nur gewiffer rein ordinaler Indizes, die einer
eigentlich mengentheoretifchen Huffaffungr nicht ohne weiteres zu..
gänglich find. Der vorliegende Tatbeftand macht auch andererfeits
den Gang der gefchichtlichen Entwicklung verftändlich, im Verlauf
welcher ja die fiuifaffung der transfiniten Zahlen als rein ordinaler
Indizes zuerft auftrat, als Erweiterung einer Beobachtung von nur
durch folc:he Indizes charakterifierbaren Strukturen an abftrakten
Mengen und der Reihe ihrer -Hbleitungen-= 2. fille derartigen
»mengentheoretifchen-= Beifpiele gaben aber immer nur den erften
flnfang der Reihe der Transfiniten, gingen jedenfalls nie über die
-zweite Zahlenklaffe« hinaus.
Hls nach diefem Vorftadium dann (in der klaffifchen flbhandlung
Cantors von 1883 im 21. Band der Math. Finn.) die beiden »Er-
zeugungsprinzipien-= der transfiniten Zahlen gefunden wurden, durch
die die Reihe der Transfiniten eine Llnendlichkeit im echten Sinne
gewann (nicht nur im Sinne von H e g e ls »fchlechter l.lnendlichkeit«),
war mit erftaunlichem Scharfblick der ontologifch entfcheidende Vor-

1) Für die Möglichkeit verfchiedener zugrunde zu legender Exiftenzial-


axiome vgl. man die Darftellung fi. Fra enk els, »Einleitung in die
Mengenlehrec, §13; ferner: v. N eumann, journ. f. Math. 154, S. 219 ff.
2) C anto r, zuerft Math. Hnn. 17, S. 358 (1880): vgl. dazu S ch ö n =
fli e ß - I-[ah n, Entwicklung der Mengenlehre I (Leipzig und Berlin 1913),
S. 92, Hum. 1 ; ferner S ch ö n fl i e ß, Enzyklopädie der math. Wifi., Bd. I; I H 5
(-Mengenlehre-) Nr. 1; Young, The theory of sets of points (Cambridge
1906). §12-14.
36*
124 Oskar Becker. [564]

ftoß ins Transfinite gemacht und zwar genau in der Weife, wie er
ontologifch haltbar ift. Unglückfeligerweife verließ Cantor fpäterl
(1897) felbft diefe freifchöpferífche Begründungsweife und ging zur
Theorie der wohlgeordneten Mengen über, und dadurch erft wurde
- indem nunmehr die aktual-unendliche Menge für alle Teile
der Theorie des Unendlichen grundlegend wurde -- die Möglichkeit
der ontologifchen Begründung preisgegeben.
flllerdings find doch auch pofitive mathematifche Motive vor-
handen, die zur Theorie der wohlgeordneten Mengen geführt haben,
nämlich erftens die großen Schwierigkeiten, die fich einer -kon-
ftruktiven-, nur auf die C antorfchen Erzeugungsgefege geftügten
Theorie der transfiniten Zahlen in mathe matif cher Hiniicht
entgegenftellen. Darüber werden wir noch zu reden haben.
Zweitens aber die nicht geringeren Schwierigkeiten des Über-
gangs von einer rein ordinalen Theorie der transfiniten Z a h l en zur
allgemeinen Lehre von den unendlichen, auch nicht-wohlgeordneten
Mengen. Wir fahen, daß eine M e n g e , auch eine geordnete, o nto -
log i ich eine ganz andere Struktur hat als ein unendlicher Prozeß;
nur durch eine Hrt nivellierender Reduktion gelangt man von dem
»geftuftem Hufbau des Prozeffes zur -Menge-, in der alle Trans-
finiten ftreng parataktifch auftreten. Will man alfo den Vorftoß auf
ganz fchmaler Front ins 1 Gebiet des Unendlichen, den man auf
Grund der transfiniten Komplikation der Bewußtfeinsftrukturen
wagen kann, verbreitern zu einer Okkupation eines ganzen abge-
rundeten Gebiets, fo muß man vielleicht notgedrungen den onto-
logifchen Unterbau zum mindeften teilweife im Stich laffen und nur
noch mit rein formalen Hnalogien arbeiten.
Diefes merkwürdige Verhängnis ift tief verankert in dem Wefen
des Formalen überhaupt. Und von diefer Seite aus gewinnt die
eigentümliche foeben gefchilderte Sachlage eine philofophifch, genauer
gefagt logif ch grundfägliche Bedeutung. Es handelt fich näm-
lich um den Übergang von der von einem konkreten Lebensphäno-
men (das als folches der hermeneutifchen »fiuslegung-= zugänglich
ift) in beinahe wörtlichem Sinne »abgezogenem Form zu einer
nivellierten, in gewiffem Betracht »allgemeinen-, aber deshalb auch
in ganz beftimmter Hinficht »verblaßten-= Formalität. Sind bei dem
erften formalen Charakter die kategorialen Eigentümlichkeiten des
konkreten Phänomens voll erhalten, - was man daran erkennen
.1-._í

1) Beiträge zur Begründung der transfiníten Mengenlehre II, S. 208.


(Math. I-Inn. 49.)
[565] Mathematifche Exiftenz. 125

kann, daß fie rückwärts wieder beinahe unmittelbar durch eine firt
konkreter Deutung (»Entformalifierung-) zum lebendigen Phänomen
zurückführenl -~ , fo ift bei der zweiten Hrt des Formalen diefe
kategoriale Struktur -eingeebnet-. Das heißt: der Übergang von
der erften zur zweiten Weife des Formalen kann bezeichnet werden
alsdie Nivellierung der fpezififch kategorialen Diffe-
renziertheit des urfprünglichen formalen Charak-
ters des Phänomens.
Das Mathematifch-Formale der traditionellen Hrt ift durch eben
jene Nivelliertheit der kategorialen Differenzen gekennzeichnet gegen-
über dem -Formal-finzeigenden« 2 (H ei d e g g e r), das fich wie ein
dünnes Gewand der plaftifchen Eigentümlichkeit des Phänomen-
Körpers anfchmiegt. Flndrerfeits ift auch diefes Formale der -an-
zeigenden Hrt« unter gewiffen Umftänden einer gewiffermaßen mathe-
matifchen Behandlung fähig. Dies ift einigermaßen überrafchend,
wenn man bedenkt, daß das Formale der anzeigenden flrt eigent-
lich die methodifche (-begriffliche«) Grundlage der interpretierenden
Geifteswiffenfchaften (Philologie, Gefchichte ufw.) ift. Hllerdings ift
zu betonen, daß diefe Möglichkeit der mathematifchen Explika-
tion formal-anzeigender Charaktere nicht allgemein befteht, fondern
ihren Grund im vorliegenden Falle in der iterativen Struktur
des Phänomens hat. Hier ,eröffnet fich die Möglichkeit eines tiefen
Einblicks in den Wefenscharakter des Mathematifchen überhaupt, bei
dem die Iteration, die -Wiederholung-= des in irgend einem

1) Denn, genau befehen, ift das Verftändnis jenes formalen Charakters


nur möglich im Vollzug eines Lebensbezugs von der Fırt des entformalifıerten
Bezugsfinns des konkreten Phänomens. flm -Beifpiel- der transfiníten
Reflexion auf ñch felbft gezeigt: das Verftändnis der Wirkungsweife der
C ant orfchen Erzeugungsprinzipien involviert im Grunde ftets den Voll-
zug von Reflexionen auf das eigene Tun, alfo -- in einer beftimmten Zu-
fpigung auf das gerade jeweilig lebendige Tun - eben nichts anderes als
die konkrete Reflexion auf fich felbft. (Vgl. oben S. 110.)
Daraus ergibt iich allerdings, daß, genau befehen, das angebliche -Bei-
fpiel« von der iterierten Reflexion auf iich felbft im Grunde gar kein beliebiges
Beifpiel ift - fondern die Sache felbft. Keine andere transfinite Stufung des
Bewußtfeins ift jener legten Konkretion fähig wie die Reflexion auf fich
felbft. Etwa transfinite Iterationen von Erinnerungen, Phantaiien u. dgl. find
doc:h immer nur künftli che, abftrakte, analogifche Bildungen nach dem
Mufter der iterierten Reflexion und ohne deren Hilfe in concreto gar nicht
-auszudenken«, d. h. der phänoınenologifchen -Hnfchauung-= nicht zugänglich.
2) So genannt, weil es auf das jeweilig gemeinte konkrete Seiende
gleíchfam hinzeigt, es anzeigt, aber nicht wie eine leere Form
-umgreift« (L a s k).
126 Oskar Becker. [566]

Betracht G l e i ch e n (bzw. I d e n ti f ch e n) eine entfcheidende Rolle


fpielt. (Vgl. § 6 b u. c.)1.

B. Phänomenologie und mathematifche Theorie der Transfiniten.


Nach den vorangehenden ontologifchen Bemerkungen muß
nun das Verhältnis zur math ematifchen Theorie noch genauer
beleuchtet werden. Die phänomenologifche Unterbauung des trans-
finiten Progreffus mittels der iterierten Reflexion auf fich felbft
und dergleichen beabfichtigt nicht, einen Erfag für die mathe-
mati fche Theorie der transfiniten wohlgeordneten Mengen bzw.
Ordinalzahlen zu bieten. Sie ift überhaupt nicht in der früher üb-
lichen Weife auf die philofophifche Begründung einer als fakrofankt an-
gefehenen mathematifchen Theorie eingeftellt. (Die Marburger neu-
kantifche Schule hatte bekanntlich die Philofophie gewiffermaßen zur
ancilla scientiarum [praecipue mathematicarum] erniedrigt. Demgegen-
über ift es die unverkennbare philofophifche Tendenz der Hu ff e rl-
fchen Lehre von der phänomenologifchen Reduktion, daß die phäno-
menologifche Philofophie nicht nur von den pofitiven Wifienfchaften
unabhängig fein foll, fondern daß fie auch die Grundlegung, die jene
fich felbft gegeben haben, einer (vor allem ontologif ch en) Kritik
zu unterwerfen hat). Was unfere phänomenologifche Unterbauung
beabfichtigt und auch leiftet, ift dies, daß ein »fachlich exiftierendes«,
d. h. konkret aufweisbares Phänomengebiet aufgezeigt wird, zu
deffen Hnalyfe wirklich transfinite Prozeffe benötigt werden.
Man könnte mit einem gewiffen Recht fagen, die in diefem
Sinne »fachliche- Mathematik der transfiniten Ordnungszahlen fei
angewandte Mathematik. Die eigentümliche Struktur des fin-
wendungsgebiets, die jenes von Haufe aus wefenhaft befige, fei es,
die die Einführung der transfiniten Ordnungszahlen zu feiner Be-
herrfchung erzwungen habe. Zu vergleichen wäre etwa die Hrt,
wie die Faradayfche zunächft ganz unmathematifche Konzeption
des elektrifchen Feldes die Vektoranalyf is (und fpäter die
Tenforanalyfis) hätte entftehen laffen, die ja auch in ihren Hnfängen
durch die Phyfiker (Maxwell, Gibbs, Heavifide ufw.) und
nicht durch die Mathematiker gefchaffen worden fei.

1) Hiftorifdı ift noch anzumerken, daß die Problematik der kategorialen


Nivellierung zuerft bei H ri f t o t el e s, im I. Buch der Phyfi k auftritt, welche
Erkenntnis uns durch die eindringende Interpretation diefes Textes durch
M. H e i d e g g e r (in feiner Freiburger Vorlefung im Sommer-Semefter 1922)
wiedergegeben wurde.
fin diefer Stelle kann darauf nicht näher eingegangen werden.
[567] Mathematifche Exiftenz. 127

fiber freilich ift doch noch ein wefentlidver Unterfchied zwifchen


jenen phyfikalífchen »finwendungen-= einer mathematifchen Theorie
(mögen fie auch mitunter hiftorifch der fyftematifchen Entwicklung
der reinen Theorien vorangegangen fein) und jener in manchem
Betracht analogen Beziehung der Theorie der transfiniten Ordinal-
zahlen zu der Iterationsmöglichkeit von Intentionalitäten im »reinen
Bewußtfein«. Denn während jene sphyfikalifchen- Entitäten tran-
fzendente Gegenftändlichkeiten find, handelt es fich hier um t r a n fz e n -
dentale Gegebenheiten, d. h. um folche Phänomene, in denen fich
Gegenftände im eigentlichen Sinne überhaupt erft konfti tuieren.
Dies äußert fich in evidenter Weife vor allem darin, daß jene ite-
rierten Intentionalitäten bei der konkreten Konftitution des rein
mathematifchen Begriffs der transfiniten Ordinalzahlen felbft
die fchlechthin entfcheidende Rolle fpielen. G. Cantors geniale
Konzeption der beiden Erzeugungsprinzipien für die transfiniten
Zahlen ift ja konkret genommen nichts anderes als die transfinite
Iteration einer Intentionalität.
fin diefer Stelle entfteht aber eine entfcheidende Schwierigkeit, die
eine weitere Betrachtung unbedingt erfordert. Die Begründung der
Lehre von den Transfiniten mittels der Erzeugungsprinzipien, wie
fie Cantor in feiner -Mannigfaltigkeitslehre« (Math. f-Inn. 21) zu-
erft andeutungsweife gab, ift von ihm felbft fpäter (in den -Beiträgen zur
Begründung der transfiniten Mengenlehre; Math. Finn. 46 u. 49) als
undurchführbar angefehen worden. Notgedrungen trat dafiir die
Begründung mittels des Begriffs der wohlgeordneten Menge ein, die,
wie foeben gezeigt wurde, ontologifch fchweren Bedenken unterliegt.
Die Schwierigkeit liegt darin, daß der Zweifel berechtigt erfcheint,
daß die Cantorfchen Erzeugungsprinzipien, fobald man fie fcharf
zu formulieren verfucht, gar nicht zu allen transfiniten Zahlen
führen, ja vielleicht nicht einmal zu allen Zahlen der II. Zahlenklaffe!
Was mit diefer paradoxen Behauptung gemeint ift, ift folgendes:
Cantor hat fchon felbft die ›-erften« Transfiniten, von m ab, konkret
U
O
Ü

und lückenlos benannt, bis zur erften »Epfilonzahle s = ww”


und darüber ein Stück hinaus. Man hat es früher als felbftverftändlich
angefehen, daß diefe lückenlofe Benennung auf die ganze II. Zahlklaffe
ausgedehnt werden kann. Damit ift gemeint, daß zwar nicht alle
Transfiniten der II. Klaffe durch ein beftimmtes finites Bezeichnungs-
fyfteın benannt werden können (denn das ift ja nach dem bekannten
-Sag von der endlichen Bezeichnung- für jede nichtabzählbare Menge
ausgefchloffen), daß aber nur eine endliche finzahl neuer Zeichen
123 Oskar Becker. [568]

erforderlich ift, um zu jeder beliebigen Zahl der II. Klaffe zu ge-


langen. »Es ift alfo jede Zahl der II. Klaffe einer endlichen Bezeich-
nung fähig, die ganze Klaffe felbft dagegen nicht« 1.
Für diefe im allgemeinen ftillfchweigend ge-
machte f-Innahme gibt es bis jegt keinen Beweis.
Charakteriftifdı ift, daß B r o uw e r , dem wir die bisher einzige
ftreng durchgeführte konftruktive Theorie der Transfiniten. ver-
danken 2, keineswegs eine Flngabe über die Grenze oder Unbegrenzt-
heit feiner Konftruktionen macht. Er gibt eine fyftematifche Theorie
bis zur zweiten Epfilonzahl 8, = š ef' ' ' 8 (1- Buchftaben e) und Zeigt
1/-11.

dann nur, daß man auch noch größere Zahlen bezeichnen kann.
Keineswegs aber zeigt er, daß die fo oder fonftwie bezeichenbaren
Zahlen je d e Zahl der II. Zahlenklaffe übertreffen können. Es wäre
alfo die Möglichkeit denkbar, daß der transfinite Prozeß fich fchließ-
lich an einer oberen Grenze feftläuft, was zunächft verborgen bleibt
und nur dann zu Tage kommt, wenn man ihn exakt zu faffen fucht3.
fiber auch nach der üblichen Huffaffung wird die Reihe der
Transfiniten, fobald man über die II. Klaffe hinauskommt, immer unbe-
ftimmter. So ift z. B. keinesfalls die lückenlofe Bezeichnung aller
Transfiniten bis zur flnfangszahl der III. Klaffe .Q1 möglich, felbft
wenn jede Transñnite unter 521 von einer geeigneten Bezeichnungs-
weife erreicht werden könnte. Vollends die Transfiniten, die
Mahlo definiert hat* (die über Qw weit hinausgehen) find in ihrer
Exiftenz von gewiffen hypothetifchen Poftulaten abhängig.
Hngefichts diefer unleugbaren Unficherheiten und Schwierig-
keiten innerhalb der m a t h e m a ti f ch e n Theorie der Transfiniten
fragt es fich, ob unferer ontologifdi-phänomenologifchen Deutung
wirklich eine reale Bedeutung zukommt. Man könnte meinen:
Wenn die transfiniten Zahlen wirklich formale Strukturen an kon-
_ _ _ _____ ;_ mir" fir; :;:†f

1) Heffenberg, Grundbegriffe der Mengenlehre, § 94 (S. 138).


2) Verhandl. d. K. Fikademie van Wetenfchappen te Hmfierdam, I. Serie;
Deel XII, Nr. 5, S. 22 ff., vgl. befonders den Schluß S. 41--43.
3) Huf diefe ganze Schwierigkeit hat mich Herr Profeffor Weyl brief-
lich hingewiefen. Jede einzelne Definitionsweife, die auf Grund fchon defi-
nierter Transfiniten größere Transfinite beftimmt, verfage fchließlich. (Phäno-
men des »Einholens-= oder der -kritifchen Zahlen- Beifpiel: e, wo we = e ift.)
Es fei möglich, daß nicht nur jede einzelne derartige Definitionsweife verfage,
fondern daß es fogar eine Grenze -innerhalb der II. Zahlenklaffe- gäbe, unter-
halb welcher bereits alle möglichen Definitionsweifen verfagt h ätten. -
Diefes Problem wird im Math. flnh. zu § 5, VI B nähererörtert.
4) Leipziger Berichte, math.-phyf. Klaffe, Bd. 63, 64, 65.
[569] Mathematifche Exiftenz. 129

kreten Phänomenen darftellen, dann müffen fie auch felbft durchaus


beftimmt und ohne jede Unklarheit und jeden Widerfpruch fein.
Hber diefe Forderung ift übertrieben: Gewiß müffen die Unklar-
heiten der Theorie der Transfiniten befeitigt werden, aber diefes kann
nicht durch einen phänomenologifchen Machtfpruch gefchehen. Wir
fehen ja gerade, daß die phänomenologiiche Betrachtung nichts tut,
als die (rein ordinale) mathematifche Unterfuchung getreu nachzu-
zeichnen. Sie zeigt, daß die mathematifche Theorie eine fachliche,
ontologifch faßbare Bedeutung hat, - auch da, wo fie noch problema-
tifch oder von Hypothefen abhängig ift. Die Probleme der mathe-
matifchen Theorie find fachliche Probleme, ihre Hypothefen foldie
über echte mögliche - Sachverhalte- , ihre Fortfchritte fach-
liche Fortfchritte! Wir find imftande jedes (auf >>intuitioniftifcher-
Grundlage, d. h. ohne fchrankenlofe flnwendung des Satzes vom
ausgefchloffenen Dritten gewonnene) Ergebnis der mathematifchen
Theorie fadilich zu deuten, was noch fehr deutlich bei der folgenden
Betrachtung des Kontinuumproblems (§ 5b) fich zeigen wird. fiber
wir können natürlich nicht mathematifche Schwierigkeiten und Un-
ficherheiten durch phänomenologifche Betrachtungen umgehen oder
wegdeuten.
Der Grundgedanke unferer fachlichen Deutung der Transfiniten
bleibt von jenen Schwierigkeiten unberührt; ganz fıcher ift die
Theorie und fachliche Deutung der -erften« Transfiniten, bis in die
erften Epfilonzahlen hinein; diefe genügen auch für alle praktifch
vorkommenden Bedürfniffe der Hilbert-Hckermannfchen Be-
weistheorie, alfo für die praktifch notwendigen metamathematifchen
Verwendungen. Im Übrigen muß das Ergebnis der im Gange befind-
lichen mathematifchen Unterfuchungen abgewartet werden. Fiber,
wie es auch ausfallen möge, es wird einer völlig beftimmten phäno-
menologifch-ontologifchen, d. h. fachlidäen Interpretation fähig
und bedürftig fein.1 6

b) Unterfuchungen zum Kontinuumproblem.


Vorbemerkung
Im folgenden wird unter der Bezeichnung -Kontinuumproblem-
lediglich das math ematif che Problem der Klaffifikation aller
-Zahlfolgen.. (Irrationalitäten) und analog aller höheren Funktionen

1) Einige weiterführenden Bemerkungen zum jegigen Stand der mathe-


matifchen Theorie der Transfiniten find im -Mathematifchen finhang- zu
§ 5 vereinigt (liehe befonders Nr. VI).
130 Oskar Becker. [5 70]

(etwa der unftetigen Funktionen einer Variablen) verftanden. Es


ift alfo nicht gemeint das Problem der mathematifchen Bemeifterung
des a n f ch a uli ch e n Kontinuums, welches vom Verhältnis der Mor-
phologie räumlicher Geftalten und der eigentlichen Geometrie abhängt.
Für die Behandlung diefes Problems verweilen wir auf den I. Teil
unferer fibhandlung »Beiträge zur phänomenologifchen
Begründung der Geometrie und ihrer phyfikali-
fch e n H n w e n d u n g e n << (diefes Jahrbuch Bd. VI., S. 398 ff.).

I. Die gefchichtlichen Wurzeln in der flntike.


H. Die antike Definition der mathematifchen Exiftenz durch Konftruktion.
Es ift das bleibende Verdienft von H. G. Zeuthen die Prin-
zipien des Exiftenzbeweifes bei den filten aufgeklärt zu haben 1.
Nach feinen Forfchungen dient als alleiniges und ftets angewandtes
Mittel für den Exiftenzbeweis die Konftruktion. Und zwar, da
die antike Mathematik nur Geometrie ift (auch die ffrithmetik und
Hlgebra erfcheint im geometrifchen Gewand), Konftruktion von Fi-
guren. fils Grundlage dienen dabei zwei Fundamentalkonftruk-
tionen: Die Verbindung zweier gegebener Punkte durch eine Gerade
und das Schlagen eines Kreifes um einen gegebenen Punkt mit ge-
gebenem Radius. Daß diefe Konftruktionen m ö glich find oder, was
dasfelbe bedeutet, daß die durch fie gelieferten Figuren -exiftieren«, ift
der Inhalt zweier Poftulate (airıiμaza) des E ukli d. Es wird weiter
gefordert die eindeutige Exiftenz der Verlängerung einer begrenzten
Geraden (unter der Form, daß alle rechten Winkel gleich find) und
die Exiftenz des Schnittpunktes zweier nicht-parallelen Geraden (das
Parallelenaxiom). Die Schnittpunkte von Kreifen werden nicht in
einem befonderen Poftulate gefordert, ergeben fich aber aus der
Definition des Kreifes als einer gefchloffenen Figur. (Euklid,
Elemente I, 15) 2.
;†~ ff 7 --ff ' ¬:_f; __ -_:

1) Vgl. »Die geometrifche Konftruktion als Exiftenzbeweis in der antiken


Geometrie-, Math. I-Innalen, Bd. 47, S. 222-28 (1896), und -Gefchichte der
Mathematik im Hltertum und Mittelalter-, Kopenhagen 1896, [im folgenden
zitiert als »Gefchichte-], bei. S. 88--91; 118-126; 148-49; 175-76; 191-99
(bef.s.192); 212; 211.
2) Vgl. Zeuthen, Gefchichte ufw., S. 118-126. Nach S. 122 find die
Schnittpoftulate von Kreis und Geraden nicht aufgeführt; laffen fich aber aus
den einfachften Sägen (I, 1, 12, 22) ableiten. S. 123 wird gezeigt, daß die
Definition des Kreifes als gefchloffene Figur und ähnliches bei anderen ge-
fchloffenen Figuren das fog. fixiom von P a f ch erfegt, das nur vom Dreieck
als einfachfter gefchloffener Figur handelt. Indeffen betrachtet P af ch krumme
Linien überhaupt nicht. Für den Griechen aber war der Kreis
[571] Mathematifche Exiftenz. 131

Ze uthen äußert fich über die Bedeutung diefer Poftulate


folgendermaßenlz »In Übereinftimmung damit, daß die Probleme
der fllten im wefentlichen Säge über die Exiftenz, und ihre Löfungen
Beweife für die Exiftenz des Behandelten oder Gefuchten find, find
die Poftulate Behauptungen über deffenExiftenz, deren
flnerkennung ohne Beweis oder Nachweis verlangt wird.« Die hierin
ausgefprochene Parallelifierung von Poftulat (oåffmgμa) und Problem
(ngóßløgμa) einerfeits und Hxiom (zomj šifroıa bei Euklid, fpäter
åšíwμa) und Theorem (äseígiyμa) andrerfeits ift fchon in der Hntike
aufgeftellt worden, wie wir von Proklos wiffenö.
Proklos berichtet von einem Streit zwifchen der Hkademie
(vertreten durch S p e u s ip p o s) und der Schule von Kyzikos (ver-
treten durch Menaichmos, den Schüler des Eudoxos) über die
fiuffaffung des eigentlichen Wefens der geometrifchen Konftruktion.
Diefer Streit ift für die Kenntnis des ontologifchen Charakters
der mathematifchen Gegenftände in der Huffaffung der Hntíke von
Wichtigkeit und wird daher noch fpäter (in § 6b) näher zu er-
örtern fein.
Für die gegenwärtige Problematik genügen folgende Bemer-
kungen: 1
Die Notwendigkeit, die mathematifchen Gebilde durch die firt
ihrer Konftruktion zu definieren und in ihrer Exiftenz zu fichern,
wird zwar im flltertum allgemein anerkannt 3. fiber bezüglich des
näheren Charakters diefer Konftruktion gehen die Meinungen aus-
einander. Während die akademifche Partei jedes eigentliche Werden
und Entftehen geometrifcher Gebilde ablehnt, rückt die kyzikenifche
Sdıule die konkrete Herftellung in den Mittelpunkt der Be-
trachtung. (Dabei fcheint die Frage des ontologifchen (-metaphyfi-
fchen-) Charakters der mathematifchen Gebilde für die -pofıtiviftifchem
Eudoxos-Schüler keine entfcheidende Rolle zu fpielen, fondern
«___ 7, ' ' »ff

eine primitive Figur. - S. 124 über das Poftulat der Gleichheit der
rechten Winkel, wozu der Kommentar des P r o klo s zur Stelle (in Euclidem
p. 188 Friedlein) zu vergleichen ift. - Die Zeuthenfche Interpretation ift aller-
dings, was diefen Punkt betrifft, nicht allgemein anerkannt. Für das Ganze
ift diefe Einzelheft aber nicht von großer Bedeutung.
1) Gefchichte ufw., S. 120.
2) Proclus in Euclidem, p. 178,12-179,s (Friedlein).
3) Diefe Huffaffung hängt auch mit der allgemeingriechifchen flnfchau-
ung zufammen, die alle Dinge von der Seite ihres Werdens, fei es ihres Her-
geftelltwerdens (reifen), fei es ihres Wachfens (cpıimr), anfieht.
132 Oskar Becker. [572]

nur die eigentlich mathematifchen Eigenfchaften werden in Betracht


gezogenı.)
' Der Streit um die Benennung .der mathematifchen Säge, --
ob man fie als Theoreme oder Probleme bezeichnen folle - rührt
legten Endes her von diefer verfchiedenen Stellung zur Frage der
Zeitlichkeit, der Genefis der mathematifchen Gebilde. Ob
die Gebilde vom Denken (Geift, dıávoıa) gefchaffen werden oder
nur gefunden werden, das ift die Streitfrage. Ob fie an fich von
Ewigkeit her »da find- (man denke an Platos åváμmgaıg-Lehre
bezüglich des Mathematifchen im -Meno-1), oder von der dıávora
-zuwege gebradıt- werden (fı:og:'Cea.9m), das ift die fllternative-
Man fieht, es ift im Keime fchon die heutige Hlternative, ob die
axiomatifch-defcriptive Haltung gegenüber dem tranfzendent feien-
den Mathematifchen recht hat (der Exiftenzbegriff C a n t o r s, D e d e-
kinds und Ze rmelos, in gewiffem modifizierten Sinne auch
Hilberts), oder ob der Zugang durch die Konftruktion, nicht
bloß die abftrakt mögliche, fondern die wirklich ausgeführte, das
Entfcheidende ift. [Man denke an Brouwers Husfpruch: die
Mathematik ift vielmehr ein Tun als eine Lehre - d. h. ein .-roısiv
bzw. fıogíšsw, nicht eine Üswgıfall
Freilich, der Streit um die Benennung der mathematifchen
Säge blieb unentfchieden, keine der Parteien fiegte: bei Euklid
gibt es eine fyftematifche Trennung beider Bezeichnungen Problem
und Theorem [im wefentlichen allerdings gemäß der fchon von
L _77' im _* ___'_ ___ .7.__†

1) In diefem Sinn ift auch die fiftronomie der kyzikenifchen Schule rein
mathematifch, ohne fich in Spekulationen über die Geftirnfeelen, den unbe-
wegten Beweger u. dgl. zu verlieren. Darin ift lie Vorläuferin der fpäteren
-exakten-, ontologifch nicht mehr interefñerten alexandrinifchen flftronomie
(Eratofthenes, firiftarch, Hipparch ufw.). finalog ift in derreinen
Mathematik Euklid durchaus nicht explizit ontologifch intereffıert, wenn
auch gewiife ontologifche Momente bei ihm latent mitfpielen (z. B. bei der
Theorie der Irrationalitäten im X. Buch). fillerdings muß man fagen, daß er
darin in gewiffem Sinne Platons eigener finweifung folgt, der es für die
drávorfr, die mathematifche Erkenntnisweife für charakteriftifch hält, daß fie nicht
über beftimmte -Hypothefem hinausfragt. [Vgl. Staat, VI.Buch, p. 510B- 511 fI.]
Über Eu d ox o s felbft ift noch zu bemerken, daß er in die inneraka-
demifche Diskuflion über die Ideen eingriff [f. Hri fto t. Metaph. H9 (991 a,
9--19); fehr ähnlich (Dublette) M5 (1079 b, 12-23)]; in der er einer -Imma-
nenz- der Ideen in den Dingen das Wort redete (=-lie feien fo, wie dem Weißen
das Weiße beigemifcht -werden könnte-). Er fcheint fich alfo an dem Beifpiel
der -reinen-= Farben, die aus den empirifchen Farben als phänomenale Kom-
ponenten herauszufehen find, das Innewohnen der Ideen in den Sinnendingen
(alfo die -μë-2:5-;-) auf -poñtiviftifche-= Hrt klargemacht zu haben.
[573] Mathematifche Exiftenz. 133

Menaichmos behaupteten dıfzri; rrgoßolij, erftens des nrogıfaaoåaı.


rö Äigroıiμsvoıf und zweitens des rcsfrogıaμšvöv (od. rcsgıcogwμ.š;„›0;v)
idsifv, (Proclus in Eucl. p. 78, 10 - 11).] - fiber trogdem ift in dem
ftrengen Gefüge des Euklidifchen fyftematifchen Hufbaues der
Mathematik durchgängig die Konftruktion zur Grundlage eines
jeden Exiftenzfages gemacht. Dies ift von Zeuthen bis ins ein-
zelne gezeigt worden.
B. Die antike Lehre von den irrationalen Verhältniffen.
Für den Griechen find Zahlen nur die natürlichen Zahlen und
in zweiter Linie die Brüche, nicht aber die Irrationalen. Es gibt
nach griechifcher Huffaffung keine Zahl (ågiåiróç) die mit fich felbft
multipliziert 2 gibt 1.
Dagegen läßt fich die -Exiftenz« der Quadratdiagonale, die,
wenn die Seite s ift, nach dem pythagoräifchen Lehrfag sl/2 beträgt,
durch geometrifche Konftruktion beweifen. Die irrationalen Größen
(μsyáåiy oder häufiger eziâsíaı. äloyor genannt -- in der Frühzeit fagt
man dafür åíggiyror) werden als Verhältniffe einer Strecke zu einer
gegebenen Husgangsftrecke gefaßt. Euklid gibt im V. Buch (Def.4
u. 5) eine ganz allgemeine Definition des Verhältniffes (Äóyoç) oder
genauer gefagt, der Verhältnisgleichheit:
Def, 4; Äóyov åfçgsıv nfçôg öílliylà μsyšåiy Ãläg/szaı., åi ô151›cn›ı'aı.
zroÃÃ.arı:la0ia`g'óμsva ållnjlwv ünsgefxeıv.
Def, 5; šv zgö afåzgíi Ãóyfy μayá-91; ılšysrac sifvaı, frgcöror zvgôg
ôsıšrsgov kai zgıfrov fcgôg zéragrov, Eízav zå 200 fırgcôrov xoıi zgírov
icráxı.g_ zrolíafrláaıa záiv zoü ôsvrégov :cdi zsrágzov ioáxıg frollarrla-
Uíwv xaä' örroıovoüv nollarrlaacaaμôv šxaršgov šxaršgov ij ôíμa
ıifregäggj, ii å'μa: ifaa å, å'μ.a šl].sc'rı:37, 2.11503:-fifra xarálligla.
[Zu deutfcb: 2
Def. 4: Man fagt: Größen haben zu einander ein Verhältnis,
wenn fie vervielfältigt einander übertreffen können.
(Dies ift, in der Form einer Definition, das foge-nannte -archi-
medifche-, in Wahrheit von Eudoxos ftammende Hxiom.)
Def. 5. Man fagt: -Größen ftehen in demfelben Verhältnis, die
1. zur 2. und die 3. zur 4., wenn das gleich oft Vervielfachte der
1.und 3. das gleich oft Vervielfachte der2. und-1. g em ä ß welcher
Vervielfachung auch immer jeweilig entweder zugleich über-
" 'rw' 7' " 7 ı _

1) Dafür geben fchon die -Pythagoreer« einen fehr alten Beweis -aus
dem Geraden und ,Ungeraden-, den E u kl i d X, 117 aus hiftorifchen Gründen
aufbewahrt hat.
134 Oskar Becker. [574]

trifft oder ihm zugleich gleicht oder es zugleich unterfchreitet, ent-


fpredøend genommen-.
(D. h. in modernen Zeichen: a : b=~=c:d,_ wenn für beliebig e
ganze Zahlen m und iz, zugleich -ma>~nb und mc>f-ed; bzw.
ma = nb und mc -- nd; bzw. ma < nb und mc <nd.)
Diefe Definition ift nicht -entfcheidungsdefinih und daher im
Sinne K r o n e ck e r s nicht zuläffig 1.
Das zeigt fich in der charakteriftifchen Nebenbemerkung uad'
ôøroıovoüv rcollarrlaaıaaμóv. »gemäß was für einer Vervielfachung auch
immer-. Die Definition geftattet offenbar nicht, unmittelbar bei 4
vorgelegten Größen a, b, c, d feftzuftellen; ob ci : b-=c:ci ift. Denn
man kann nicht alle möglichen Paare ganzer Zahlen (m, iz) durch-
probieren, ob für jedes Paar ohne fiusnahme zugleich ma>nb
und mc>nd ift ufw. Denn es gibt unendlich viele voneinander
verfdiiedene Zahlenpaare (m, n).
findrerfeits ift es leicht, durch eine kleine finderung der Be-
zeidinungsweife, diefe Euklidifche Definition der Gleichheit der
Verhältniffe in genauer Parallele zu fegen mit Dedekinds Defi-
nition der reellen Zahlen durch -Schnitte-2. Man kann in der Tat
aus den drei charkteriftifchen Relationen:
fm a. % iz b zugleich mit m c š n ci erhalten:

az” zu leich mit C > W'


b<m 9 d<m'

wobei offenbar %-irgendeine reelle und -å eine rationale »Zahl-'(im

modernen Sinn) ift. Bezeichnet man nun noch % mit dem einen
C 77.
Buchftaben a, -6-í mit ß und _-7%-/-mit 9, fo erhält man die Definition 5
in der folgenden Form:
Es ift a=ß dann und nur dann, wenn zugleich a und [6 größer
bzw. gleich bzw. kleiner als Q find, was für jede beliebige Rational-
zahl 9 gelten foll.
Denkt man fich alfo fämtliche Rationalzahlen gegeben, fo rufen
a und ß diefelben Einteilungen (-Schnitte-) in der Gefamtheit der
Rationalzahlen hervor. Denkt man fich durch a bzw. ß die Rational-

1) Vgl. meine Firbeit, diefes Jahrbuch, Bd. VI, S. 409, finm. 3.


2) R. D e d e kin d, Stetigkeit und irrationale Zahlen, Braunfchweig 1878.
[575] Mathematifche Exiftenz. 135

zahlen in 2 Klaffen geteilt, je nachdem fie größer oder kleiner


(oder audi, wenn möglidv, gleidı) a bzw. ß find, fo erhält man nach
der Definition diefelben Klaffen, wenn a=ß ift und nur dannl.
Das ift aber nidvts anderes als die Dedekindfdıe Definition
der reellen Zahlen durch -Schnitte- im -Gebiet- der rationalen
Zahlen. -› ,
Es ift erftaunlich, daß die Übereinftimmungder alten und der
modernen Definition der -allgemeinen-= reellen Größe fo vollkommen
ift. Für den gegenwärtigen Zufammenhang ift nun befonders wichtig,
daß diefe Definition durdıaus gegen die konftruktive Definition
der mathematifdien Exiftenz bei den Hlten zu fpredien fdıeint.
fiber bei tieferem Eindringen in die Sadvlage erweift fich diefe
Übereinftimmung mit der modernen Dedekindfdven Theorie als
fehr eberfiäebıidı. Während namıieb D e a e 1« i n a die E x 1 ff e n Z
der Gefamtheit der reellen (rationalen und irrationalen) Zahlen durch
feine Definition mittels des Sdınittes für gefichert hält, wird bei
Euklid die Exiftenz aller irrationalen Zahlen (Verhältniffe) nir-
gends angenommen, fondern jedes neue einzuführende Verhältnis
wird konftruiert und damit in feiner Exiftenz gefidiert. (Dies
ift von Z e u t h en und anderen bis in alle Einzelheiten nadvgewiefen
worden.)
Huf diefe Weife, durdw die Konftruktion mittels Lineal und
Zirkel, gelangt man allerdings nur zu denjenigen Irrationalitäten, die
wir heute durch eine Kombination von Quadratwurzelzeidien aus-
drücken. Über diefes Größenmaterial geht E uk l i d nirgends hinaus.
Die Zahl er wird z. B. nidit von ihm eingeführt, nur der Sag, daß
fich zwei Kreife wie die Quadrate ihrer Radien verhalten, wird
bewiefen (XII, 2).
Diefe quadratifdıen Irrationalitäten werden bekanntlidı im X. Budo
von Euklid einer forgfältigen Klaffifikation unterworfen. Man hat
fich in neuerer Zeit mitunter über die pedantifdıe Sorgfalt E ukli d s
gewundert und die moderne algebraifche Bezeichnungsweife gelobt,
die den gefamten Inhalt des X. Budıes in ein paar Formeln faffen
könne. 5
Die fluffaffung, als ob es fidi hier beim Übergang zur alge-
braifchen Bezeichnungsweife und Darftellung um einen bloßen tech-
nifdien Fortfchritt handele, ift jedodı verfehlt. Sie verkennt durchaus
die fibficht, die Euklid im X. Buch leitete 2.
1) Vgl. zum Ganzen etwa Zeut h en , Gefchichte ufw., S. 141.
2) Man muß ñch auch erinnern, daß durch Euklids X. Buch die Lehre
zweier Mathematiker erften Ranges aus der Zeit Platons, nämlich des
136 'Oskar Bed-ler. [576]

Für ihn war die Konftruktion und Klaffifikation der Irrationali-


täten deshalb fo wichtig, weil fie die Seinsweife diefer
- Größen - herausftellte, in der flbftufung, in der fie
fich fdirittweife von den rationalen, durch - Zahlen -
(cigßμoí) ausdrückbaren Verhältnifferı entfernen. Den
unerhörten Eindruck, den die Entdeckung des Irrationalen (des öšggiyroif
oder öè'Ãoyoı›-,e des -Unfagbaren-= , -Unanfpredibaren-) machte, ift
bekannt; -- mag audi die Sage, die Hi p p af o s als Verräter diefes
Geheimniffes der Pythagoreer durdi göttlidie Fügung im Meere
umkommen läßt, eine fpäte Erfindung feinl. Daß etwas -exiftieren-=
follte, was mittels Verhältniffe ganzer Zahlen nidit ausdrückbar ift,
was fidi, wenn man es mittels ganzer Zahlen-Verhältniffe auszu-
drücken verfucht, fidi als unendlich (åínraıgov unbegrenzt) erweift,
fdiien die durchgehende I-ferrfdiaft der Fo rm , des ordnenden Prin-
zips zu gefährden, und zwar nicht im Gebiet des finnlidien, fließenden
Werdens, fondern in dem des exakt konftruierbaren (mittels den
öıávoıa erfaßbaren) Seienden. Die Schwierigkeit wurde überwunden
eben durdi die genaue Konftruktion und Klaffifikation der Irratio-
nalitäten felbft; ein neues Gebiet wurde dem Chaos entriffen und
dem Kosmos eingegliedert 1. lVgl. P la t o , Philebos 16 C - 18 C 2].
___ _' 'v' ı ml

Theätet und des Eudoxos, zu einem fyftematifdien (mindeftens vor-


läufigen) flbfchluß gebracht wird; während andererfeits einer der berühm-
teften nacheuklidifchen Mathematiker, H p ol lo n i o s von Perge, diefe Lehre
im Geifte Euklids erweitert (f. u.). Die Größten haben ñdi alfo um diefe
eigenartige Theorie der Irrationalitäten bemüht!
1) Vgl. hierzu Eva Sachs, die 5 platonifchen Körper. Berlin 1917.
(Philolog. Hbhandl., her. v. Wilamowig, Heft 24.) S. 38 u. 82 ff. Das Thema
der -5 platonifdien Körper- hängt mit dem gegenwärtigen aus folgendem
Grunde zufammen: Die Tatfadie, daß im Gegenfag zu den unendlich vielen
konftruierbaren regul'a'ren_Polygonen der Ebene nur 5 reguläre Polyeder im
Raum -exiftieren-, ift ein fchlagendes Beifpiel des konftruktiven Sinnes der
mathematifchen Exiftenz. Diefes Beifpiel hat daher auch bei den Griedien
ein foldies Hnfehen genoffen, daß das klaffifche Syftemi der griechifchen Ele-
mentarmathematik, das Euklidifche, in dem konftruktiven Exiftenz- und
Einzigkeitsbeweis der 5 regulären Polyeder gipfelt (Buch XIII), wobei dann
die Klaffifikation- der dazu notwendigen Irrationalitäten genau nach dem
X. Buch durchgeführt wird.
2) Die Belege im Einzelnen würden zu weit führen und auch nur bei
den Gefchichtsfchreibern der Mathematik (H a n k e l, Z e u t h e n, P. T ann ery
u. a.) Gefagtes wiederholen. - Hingewiefen fei nur auf den »goldenen Schnitt-,
bei dem iidi die Irrationalität durch das Nichtabbrechen des Euklidfdien
Verfahrens zur Herftellung des größten gemeinfamen Teilers fofort konfta-
tieren läßt. Der goldene Schnitt ift bekanntlidi dadurch gekennzeichnet, daß
eine Strecke durch ihn fo zerteilt wird, daß der größere Teil zum Ganzen
[577] Mathematifche Exiftenz. 137

Dies fdieint nun fo aufgefaßt worden zu fein, daß gewiffermaßen


Stufen und Hrten von Geformtheit, gewiffermaßen von relativer
--ııi±i±±

dasfelbe Verhältnis hat, wie der Reft (der kleinere Teil) zum größeren Teil.
Mißt man nun (gemäß dem E ukli difchen Teilerverfahren) den Reft am
größeren Teil, dann den neuen Reft am 1. Reft, den 3. Reft am 2.ufw. ufw.,
fo erhält man nach Definition immer dasfelbe Verhältnis. Das Verfahren
kommt alfo nicht von der Stelle und geht daher ins Unendliche. (Ganz
analog, wie etwa die Diviñon 1,000 : 3 niemals abbricht. - In der Tat entfpricht
audi in unferer modernen Sdireibweife dem -goldenen Schnitt- der Ketten-
bruch mit lauter Einfen als Teilnennern: 4
1__
1
1+__
1-1-..._...í
1_ı_fl_____.

In diefem Fall führt alfo ein Verhältnis, das Figuren von hödifter Har-
monie der Form entftehen läßt (man denke an feine Rolle in der Kunft und
für die Konftruktion des regulären 5- (Pentagrammsl), 10-, 15-Edcs und der
regulären 12- und 20-Flädiner), wenn man es -ausfprechen- will, zu einem
unendlidien Progreß.
Dies ift für den Griechen etwas Unerhörtes. Denn es zeigt fich fdion
in ihrer frühen Ornamentik, im Dipylonftil, dem fog. -geometrifdien-= Stil,
daß die Figuren häufig mit dem Zirkel - der Zirkel ift nach Ovid,
Metam. VIII, 247, eine Erfindung des Perdix, des Schwiegerfohnes des
Dädalus (was ftets auf die Kunft des 7. und 8. Jahrh. zu deuten ift) --
konftruiert find und jedenfalls immer ganz elementar k o n ft r ui e r b a r find.
5-Ecke oder 5teilige Rofetten u. dgl. kommen nicht vor, wohl aber 4-, 8-,
6-Edle u. dgl. Dagegen kommen 5- und 7teilige Figuren fowohl im kre-
tifdi-mykenifdien wie im -organifcberem Stil des 7. Jahrh. (dem fog. -orien-
taliñerenden- Stil) vor: doch gibt es in diefen Stilen keine Zirkelkonftruk-
tion mehr.
In diefe Tendenz der frühen Ornamentik auf völlige Durchñditigkeit
der Verhältniffe paßt die fpätere Entwidclung in der Mathematik durchaus
hinein. Daß hier zunächft mit ganzen Zahlen alles zuftande gebracht werden
follte, ift naheliegend. (Im Einzelnen kann man fich das Problem der
verfdiíeden entftandendenken: aus der Geometrie oder audi aus der Muñk.
Vgl. Z e u t h e n in -Kultur der Gegenwart-, III, fibt. I, 1. Lieferung, S. 36-37.)
Es kommen natürlidi de facto fdion in den einfachften Figuren der pri-
mitiven Ornamentik (Quadrat, Sechseck) Irrationalitäten vor; aber das konnte
man nicht wiffen.
Intereffant und zu wenig bekannt ift, daß die richtige mathematifche
Sedisteilung des Kreifes als Ornament auf dorifchen geometrifchen Fibeln
(die fpäteftens aus dem 8. Jahrh. ftammen) vorkommt [Bufchor], alfo
nicht aus dem Orient ftammt, wie Zeuthen meint. Hllerdings entfteht
diefe Figur durch Spielen mit dem Zirkel gewiffermaßen von felbft; immerhin
ift merkwürdig, daß gerade mit fo ziemlich diefer felben Konftruktion (nämlich
der des gleichfeitigen Dreiecks) noch Euklid feine Elementa beginnt. (I, 1).
138 Oskar Becker. [578]

-Husfpred›barkeit- unterfdiieden werden, die fidi mehr oder weniger


von dem völlig zu Ende -fiusfprechbaren-< entfernen. Man denke
etwa an den eigentümliciien euklidifdien Husdruck ssıißeíaı, dvváμs:
míμμargote (X, Def. 3) und entfprechend »dvváμeı êqrai« (X, Def. 6),
der befagt, daß wenigftens die Quadrate der Strecken kommenfurabel
find; ähnlidi die fog. -doppelt irrationalen- Strecken ufw.
Die Euklidifdie Klaffifikation führte, wie fdion gefagt, nur
zu den quadratifchen Irrationalitäten. In derfpäteren Entwicklung
gab es Erweiterungen in verfchiedener Richtung:
1. Durdi die Betrachtung -körperlicher Örter- (Kegelfdinitte), die
kubifdie Irrationalitäten mit fich braditen (ausgehend von der Drei-
teilung des Winkels und der Verdoppelung des Würfels) und bis zur
allgemeinften kubifchen Gleidiung führten. (firdiimeds Kugelteilungs-
problem).
Man kann an folchen Flufgaben, wie der Dreiteilung des Winkels
fidi gut die Weife der Erweiterung der Sphären der mathematifch
exiftierenden Gegenftände vor Flugen ftellen:
Im Sinne Euklids sind nur durch Kreife und Geraden kon-
struierbare Gebilde exiftent, dazu gehören (von einzelnen Flus-
nahmen abgefehen) die einen gegebenen Kreisbogen drittelnden
Teilungspunkte nidit. Indeffen fdieint andrerfeits durdi den
flugenfchein evident, daß es ein genaues Drittel jedes Winkels gibt,
ebenfo wie etwa audi ein Siebentel (z. B. ein regelmäßiges Siebeneck
ufw.). Man erweitert nun den Kreis der zugelaffenen Elementar-
konftruktionen und führt als neue Konftruktionsmittel etwa die
Kegelfdinitte ein. Dabei gelingt es, dadurch, daß man fie als
-körperliche Örter- auffaßt (dies tut nach Zeuthen zuerst
Menaidimos) die Kontinuität mit den urfprünglich eingeführten
Konftruktionsmitteln zu wahren. Es werden jegt eben als Kon-
ftruktionsmittel Kreife und Geraden im Raum, als ihr Produkt
Kreiskegel und deren Sdinitte mit Ebenen, eben die -Kegelfdinitte-=
verwendet. Dagegen tritt die praktifdi leidit ldurdiführbare, aber
theoretifdi nidit leidit (nur durdi Konchoiden) zu beherrfdiende
-Einfdiiebung- (vafšmg) zurück 1.
ähnlidi liegt die Sache beim Problem der Würfelverdoppelung,
wo fidi die Entwicklung von Hrdiytas über Eudoxos zu
Menaidimos durchaus im Sinne der fdiärferen Befchränkung der
Konftruktionsmittel und damit der ftrengeren Exiftenzbeweife abfpielti.

1) Vgl. Zeuthen, Gefchichte ufw., §8, S. 79ff.


2)Zeuthen, l.c.,§9,S.82ff. 5
[5 79] Mathematifche Exiftenz. 139

2. Durch Huffteigen zu immer höheren Graden: a) durdi Er-


forfdiung höherer Kurven, der fog. »linearen Örter« 1. Dodi gelangten
die Griedien auf diefe Weife wohl zu Kurven höheren Grades, aber
dodi nicht zur Gefamtheit aller algebraifdien Kurven 2. Es wäre
aber wohl denkbar gewefen, daß fie dazu gelangt, etwa mittels der
G r a ß m a n n fchen -linealen Mechanismen- 3.
3. Durch eine Fortführung und Verallgemeinerung der Eukli-
difchen Konftruktionen im X. Buch die in des Hpollonios ver-
loren gegangener Sdirift fzegè åıáitrwv åılóywv (de irrationalibus
inordinatís) vorgenommen wurde, die durdi F. Woepcket aus
einer arabifdien (von Flbu Othman herrührenden) Überlegung
eines Kommentars des P app os5 zum X. Budie E ukli ds in ihrem
Gedankengang rekonftruiert werden konnte. Danach beftehen die
Erweiterungen des flpollonios in zwei Hauptpunkten a) in der
Verallgemeinerung der in Euklids Klaffifikation auftretenden
Binomen zu Polynomen (nach moderner Husdrucksweife), b) in der
Betraditung zum wenigftens μm' Wurzeln aus gewiffen Potenzen,
nämlich fiusdrücken von der Form:
.4 __._._.-._-

1/fIl“"' B” (Woepcke, l.c.,p. 713/14).


fllfo audi hier kam man nidit zu der allgemeinften algebraifchen
Zahl, ja nicht einmal zu der allgemeinften durch Wurzelzeidien dar-
ftellbaren irrationalen Zahl. Man muß indeffen bedenken, daß unfere
von der algebraifdien Zeidienfpradie ausgehende Problemftellung
den Griedien notwendig fdion als Frage fernliegen mußte, vielleidit
fogar unerreichbar war. Man muß bedenken, daß fi p o ll o ni o s diefe
1 _ __ __ :Q

1) Vgl. Z e u t h e n, Die Lehre von den Kegelfdinitten im Hltertum.


Kopenh. 1886, S. 226 ff.
2) Z e u t h e n, l. C., S. 489 - 90 (über den Irrtum D e s c: a r t e s' bezüglich
des von P a p p u s , Coll. math., ed. Hultfdi, p. 680 eingeführten -Orts zu 212
bzw. 212- 1 Geraden); vgl. Gefchidite d. Math. im Flltertum p. 237138;
Gefch. d. M ath. im 16. u. 17. Jahrh., S. 208/'9, 210.
3) Über diefe vgl. z. B. F. K l ei n, Vorl. über finwendung der Diff.-
u. Integr.-Redinung auf Geometrie (autograph., 2. flbdr. 1907), p. 266-69.
4) Darüber vgl. fipollonius ed. Heiberg, Vol. II, p. 119- 124, und
vor allem F. W o e p ck e, -Essai d'une restitution des travaux perdus d'Hpollo-
nius sur les quantités irrationelles d'après des indications tirées d'un manuscrit
arabe-. Mémoires présentés par divers savants à Pacadémie des s ciences
de l'institut impéri al de France, Sciences Mathématiques et physiques,Tome XIV.
Paris 1856.
5) W o e p ck e felbft fchrieb den Kommentar einem gewiffen V e t t i u s
V ale n s zu; H ei b e r g (Literaturgefchichtliche Studien zu Euklid, Lpz. 1882)
zeigte aber, daß P ap p os der Verfaffer ift.
37*
140 Oskar Becker. [530]

Irrationalitäten ohne Zweifel alle geometrifdi konftruiert hat 1, was


einen ganz anderen Problemafpekt hervorruft. , .
Merkwürdig ift nun, daß fidi in dem Kommentar des P a p p o s
Gefiditspunkte finden, die mit der vorhin gegebenen o n t o l o g i f di e n
Interpretation der Euklidifdien Konftruktionen im X. Budi über-
einftimmen. Darin möditen wir geradezu einen Beweis unferer
Huffaffung erblidcen, wie fogleidi näher erläutert werden wird.
Zunächft findet fidi in der Inhaltsüberfi dit des nidit über-
legten I. Budies des Kommentars Folgendes (Woepcke, l. c. § 19,
p.175):
_ Nr. 2. Du fini et de l'inñni comme principes de la commen-
surabilité et de Pincommensurabilité.
Nr. 7. De l'existence réelle des quantitês incommensurables
dans les dioses matérielles.
Nr. 8. Des principes métaphysiques (Dieu et la matière) de la
commensurabilité et de Pincommensurabilité.
Nr. 9. Que les lignes rationelles existent par convention et non
pas naturellement
Dann kommen folgende wörtlidi überlegte Stellen in Betracht:
p. 693. (Über Euklid): -la droite des deux noms est la premiere
des lignes formêes par addition, parce qu'elle est la ligne
qui a le plus d'affinité avec la ligne rationelle.
p. 701. (=fIpollonius, ed. Hei be rg , Vol. II, p. 124, fragm. 35):
-En premier lieu, Euclide nous a donné (la theorie de) celles
d'entre elles qui sont o r d o n n é e s et homogènes aux fractionelles;
car les irrationelles se divisent premièrement en in o r d o n n é e s ,
c'est-à-dire cellesqui tiennent de la matièrequ'on appelle
corruptible, et qui s'étendent à l'infini; et, secondement,
en ordonnées, qui forment le sujet limité d'une science, et
qui sont aux inordonnées comme les rationelles sont aux irrationelles
ordonnées. Or Euclide s'occupa seulement des ordonnêes qui
sont homogènes aux rationelles, et qui ne s'enéloi-
gnent pas considérablement; ensuite fipollonius s'occupa
des inordonées, entre lesquelles et les rationelles
la distance est très-grande.-=
Es ift alfo von der -Verwandtfdiaft mit den rationalen Linien-
die Rede, davon, daß -die åíramoı. ôíloyot an der 'fíliy g›3a9r1§ teil-

1) Vgl. Euklid-Scholien (Elementa Vol. V, ed. Heiberg), p. 414, 15-16


[ttíw ci:ırJ.ouo'mífwv a?d`íôv], cfw Grfvrcösμšvwv 9/:'ı›oi›i'cr: ıfneıçoc. å'Ã.o;-'0ı., 6511 rwcrç :ml ti
'-fífføllflív-vc ci 1» cc if 9 ci cp 1: c« (aufzeichnet, konftruiert).
[581] Mathematifdie Exiftenz. 141

haben (μszáμ-:rı›)<<, daß -die mit-:ai den Rationalen homogen find


und fidi nidit beträchtlich von ihnen entfernen-, daß -die Entfernung
(dtoicíramç, Öıáowiyμa) der åíıiaxzot. und der ëiyraí fehr groß ift- ufw.
Wir haben alfo das deutlídie Bewußtfein der verfchieden
abgeftuften Entfernung vom Rationalen (-nidit beträchtlidi-,
-fehr weit-) der größeren oder geringeren Verwandtfdiaft (óμoyewíg,
avyyewjg?) mit dem êiyzó-, endlidi die Teilhabe am Vergäng-
lidien feitens der åíraxzoı. (f. o. Nr. 7) und ebenfalls Beziehung
zum Unendlidien, der zazmi zum Endlidien (vgl. Nr. 2).
Man könnte fidi denken, dies feien erft neuplatonifche
Züge: Die Stufenreihe zwifdien dem dei iii» und der file; qiflagrıfi
fpricht dafür, und befonders, daß fie gemäß der Teilhabe am Ver-
gänglidien beftimmt wird. fiudi in manchen Sdiolien zu Euklid
finden fidi mit den Gedankengängen des Pappos-Kommentars
verwandte Bemerkungen undzwar vorzugsweife an foldien Stellen,
die einen neuplatonifdien Eindruck madienl und z. T. fehr enge
Beziehungen zu Proklos' Euklid-Kommentar zeigen. Findrerfeits
kann man nidit leugnen, daß eine foldie Stufenreihe doch fchon in
Platos diairetifdier Hierarchie, die Stenzel neuerdings behan-
delt hat, vorbereitet iftz. Man kann audi die Lehre des Speu-
sip p o s von den Stufen des Seienden gemäß der Folge der l idealen
Zahlen vergleidien, wie fie von E. Frank auseinandergelegt wor-
den ift3.
Endlidi ift zu fagen, daß der in Rede ftehende Kommentar des
Pappos, wie Eva Sachs bemerkt, in feiner nüditernen flrt fich
von dem Tone der Sdiolia Vaticana zu Euklid X, die deutlídie
Verwandtfdiaft mit Proclus (in Euclidem I) zeigen, wefentlidi
unterfdieidet 4. 6

1) Vgl. Euclidis Elementa ed. Heiberg, Vol.V, in librum X, Nr. 1, 2,


133, 135, insbefondere: p. 414, 16-415,-1; 415, 11-12; 417,11-zo; 417, 21-418,6;
484, 23-485, 1 (Nr.1, 2, 135 find aus den Scholia Vaticana); vgl. auch als
Parallelftelle zu p. 417,11-zo: Jambli dius, Vita,Pyth. § 247, ferner: Eva
Sadis, l.c. p. 38-39 zur Stelle, und p. 71-75.
2) J. Stenzel, Zahl und Geftalt bei Plato und firiftoteles. (Leipzig
u. Berlin 1924), p. 2-3, p. 7, p. 110ff., 119-120 und die bekannte Philebos-
Steue 161); »_ .. ngiv dv 'ng för iågtäμôv aåtoü' zroívra xarídy 'rôv μërašü roü
å:rrs1"gov re xml. roü šıfóç . . .- und 17 H: -μnà dä fd §11 êíneøga sıiöıíç, nl då μštm
rcåroüç šzrpsıíysl. . . .-
3) Plato und die fogenannten Pythagoreer, Halle a. S. 1923, Beilage XVIII,
bef. S. 244-251.
4) E v a S a ch s (l. c., S. 71 --75) fagt, daß die Scholia Vaticana zu Euklid
auf die (verlorene) Fortfegung des Kommentars des P r o k lo s zurückgehen.
142 Oskar Becker. [582]

fius diefen Erwägungen ergibt fidi, daß die fiuffaffung der


Irrationalen verfdiiedener Komplikationsftufe als Wefenheiten
verfdiiedenen Seinsdiarakters, der fidi ftufenweife vom Sein der
rationalen Gebilde, die den Ideen von allen mathematifdien Gegen-
ftändlidikeiten am nädiften ftehen, entfernt und damit fidi der
oöaía der 82.17 giäagmj entfprediend annähert, im Grunde fdion bei
Plato zum wenigften vorbereitet ift und in der frühen Hkademie
(Speusippos) wahrfdieinlidi fdion geherrfcht hatl.
Man kann alfo die philofophifdie Bedeutung der exakten Kon-
ftruktion der Irrationalen, die durch den genauen Hufweis erftens
der mathematifdien Exiftenz überhaupt, zweitens des Grades an
Komplikation der Synthefe der Kreife und Geraden den Seinsdiarakter
diefer Gegenftändlichkeiten feftftellt, fdion für die frühe Hkademie
aufrechterhalten. -
4. Endlidi gibt es in der Hntike vereinzelte tr a n f z e n d e n t e
Z a hle n (eigentlich nur vr; e wird explizit nicht erwähnt). Sie
treten bei firdiimedes durch Flädien und Rauminhalte gegeben auf.
Die Einführung diefer Größen erfolgt nicht im modernen Sinn
als Limiten geradliniger oder ebenflädiiger Figuren, fondern nadi
dem fixiom: Das Ganze ift größer als der Teil, vermittels deffen
die Inhalte ufw. zwifdien gewiffe Grenzen eingefdiloffen werden,
die beliebig wenig Spielraum haben. 2)
_ 35- -- 'W -Ü 1 _' __ "*4i' *fi

(Vgl. H ei b er g, der die Übereinftimmung mit P r o kl o s auf die Benugung


einer gemeinfamen Quelle, nämlich eben des P a p p o s - Kommentars, zurück-
führt.) Das fachliche Hauptargument ift eben die Verfchiedenheit des Tones:
fadilich bei Pappos, neuplatonifch-myftifch bei Proklos und den Scholien.
1) Es fei nodi auf die Bemerkungen von E. Sachs (1. c., S. 176-177)
zur Stelle G e f e g e, Budi VII, p. 820E, hingewiefen. E. S. verfteht die Stelle:
ni: :div μergijrtüv ami åμëfgwv nçôç ôíllıgla firwı. qiüdu yš;/01/6 (»Die Suche mit den
meßbaren und unmeßbaren Größen, in weldiem Wie- Sein (cf-ícf-s) fie im Ver-
hältnis zueinander geworden find.-) fo: -. . . wie lich rationale und irratio-
nale Größen ihrer Natur nach zueinander verhalten- und leugnet, daß
cpiícflc hier eine philofophifche (ontologifche) Bedeutung hat. (Gegen die Mei-
nung H. V o g t s , Bibliotheca mathematica (3) X, S. 139.) Sie meint, der Ver-
gleich mit dem Brettfpiel, der bei Plato dann folgt, gehe auf das kombinierende
Verfahren bei der Klaffıfikation der Irrationalitäten durdi Theätet und
Euklid. Der dabei auftretende flusdruck d`-ayvcóaxnv (p. 850C) bedeute
das -Herauserkennen und Unterfcheiden der verfdiiedenen Klaffen-. - fiber
man muß eben gerade bei diefer Klaffıfikation die dabei feftgeftellte -rpıicn;-
jeglidier Irrationalität ontologifch, als ihr fpezififdies Wie-Sein in der
Stufenleiter zwifdien 51' (dem Rationalen) und dem E-šnergov (modern etwa:
der transfzendenten Zahl) auffaffen.
2) Es bedarf dazu bei krummen Längen und Oberflächen befonderer
fixiome, vgl. Z euth e n, Gefch. d. M. i. flltertum, S. 175-77.
[583] , Mathematifdie Exiftenz. 143

Diefe Inhalte werden aber nidit d e fi ni ert als Limiten, fondern,


wohl auf Grund der anfdiaulidien Geftalt der einfachen Figuren wie
Kreis und Kugel ufw., als exiftent angenommen. Das Ex-
hauftionsverfahren beftimmt bloß ihre Größe.
Darin liegt die Einführung des irrationalen Verhältniffes zr
(etwa zwifdien Kreisflädie und Quadrat des Radius) ohne Kon-
ftruktion und daher ohne Beziehung zu der Klaffifikation der an-
deren Irrationalitäten. er fteht alfo ganz vereinzelt da und wird
gewiffermaßen »urfprünglich gefdiöpft-. Dies ift von der Hntike
aus gefehen nidit fo erftaunlich wie für uns. Denn für fie war der
Kreis eine einfa che Figur, wie ja aus feiner Verwendung als
elementares Konftruktionsmittel, d. h. als Beweismittel für die
mathematifdie E xi ft e n z zufammengefegter Figuren auf das klarfte
einleuchtet. Hndrerfeits würde es der antiken Grundanfchauung
durdiaus wíderfprechen, eine ins Unendlidie fortzufegende
konvergente Näherungskonftruktion als Exiftenzbeweis gelten zu
laffen. Es handelt fidi bei antiken Exiftenzbeweifen ftets um
endlidie Konftruktionenll
Sadilich liegt hier eine erfte, allerdings nur -gefühlsmäßige-=
Erfaffung der Tranfzendenz von fr vor; rr kann ja in der Tat
audi heute nidit in die algebraifdien Zahlen eingereiht werden.

C. Das Kontinuum in der fintike.


fius den vorhergehenden Darlegungen läßt fidi nunmehr leidit
entnehmen, daß das Kontinuum in der Hntike fämtlidie μe;/591; oder

1) Vgl. zur ganzen Frage H. Hankel, Zur Gefchidite der Mathematik


im filtertum und Mittelalter (Leipzig 1874), S. 123ff.; K.L aßwig, Gefdiichte
der fitomiftik (Hamburg und Leipzig 1896), Band I, S. 177f. - Hankel fagt
(1. c., S. 123): -Der Gedanke, daß man, wie weit man auch in der Reihe der
Vieledce gehen möge, jene Kreisflädie nie erreicht, obgleich man ihr immer
näher und ganz beliebig nahe kommt, fpannt das vorftellende Denken in
dem Maße, daß es um jeden Preis diefe Lücke, welche gleidifam zwifdien
der Wirklichkeit und dem Ideal liegt, auszufüllen ftrebt, und pfychologifch
gezwungen ift, den - unendlich kleinen oder unendlich großen? - Schritt zu
madien und zu fagen: der Kreis ift ein Polygon mit unendlidi vielen un-
endlidi kleinen Seiten. -Die Fllten aber haben diefen Schritt nidit getan;
folange es griechifche Geometer gab, find diefelben immer vor jenem Hbgrund
des Unendlichen ftehen geblieben . . . -. - Huf denfelben Sachverhalt fpielt
audi H. Weyl, Sympofion I, S. 6-7 an. Indeffen fdieint für Weyl das
antike Verfahren nidit legitim zu fein. "Diefer fiuffaffung können wir nidit
zuftimmen. Es liegt eben nur eine andere, in gewiffem Sinn primitivere
Grundauffaffung der mathematifdien Exiftenz vor, die an die reine Ge-
ft alt (z. B. des Kreifes) unmittelbar anknüpft.
144 Oskar Bedcer. [1

.lóyoı umfaßt haben muß, alfo die rationalen und irrationalen,


weit fie bekannt waren (alfo gewiffe algebraifdie Irrationalität
und dann als ifolierte Größe noch ff). 4
Trogdem findet fidi diefe fiuffaffung nirgends explizit ausg
fprodien. Dem ftand fdion der Unterfdiied zwifdien ågt.9μóg uı
μšysäog entgegen, die man keineswegs unter eine gemeinfame Gattuı
(etwa lóyoı. oder eääsíaı. oder gar mgμsia) explizit zufammenfaßt
Das abftrakte Schema alle r Äóyoı., wie es fidi aus den E
doxifchen Deñnitionen (Euklid, Elemente, V, Df. 3 - 5) ergeben würd
wird vollends niemals als Mannigfaltigkeit oder :dgl. gefaßt. fil
derartigen ”Mengenbildungen- waren der k laf fi f ch en griechifdie
Mathematik fremd. ,
Man hatte allerdings audi gute Gründe für diefe Sdieu. Si
entfprang der Furcht vor dem Widerfpruch oder zum wenigfte
den hoffnungslofen Paradoxien, die der Eleate Zenon - i;
fkeptifdier fibfidit -~ mittels des fiktual-Unendlidien zuftande ge
bradit hatte. Das Paradoxon von Pichilles und der Sdiildkröte läß
fich (vgl. dazu P. Tanneryı und B. Ruffell?) auf eine mengen
theoretifdie Form bringen. Die Paradoxie läuft, fo aufgefaßt, darau
hinaus, daß im Falle des Einholens der Schildkröte durch fichilles
der von diefem zurückgelegte, um ein Vielfadies längere Weg det
von jener in derfelben Zeit durdimeffenen, viel kürzeren Strecke
punktweife umkehrbar eindeutig zugeordnet werden kann, indem
die gleichzeitig von beiden Läufern innegehabten Punkte einander
entfpredien. Dies ift nichts andres als die bekannte mengen«
theoretifdie Tatfadie, daß zwei aktual unendliche Mengen gleich«
mäditig fein können, obwohl die eine ein editer Teil der andern ift,
fo wie hier der Weg der Sdiildkröte ein echter Teil des Wegs des
Hdiilles ift.
Dabei handelt es fidi hier um zwei verfdiieden lange konti-
nuierlidie Strecken. Für das Paradoxon ift es gleichgültig, wie man
die 'Kontinuität- diefer Strecken fidi dadite. Tatfädilich meinte
man in den flntike und weiterhin bis auf Cantor mit 'Stetig-
keit- einfadi, daß zwifdien je zwei Punkten noch unendlidi viele
andere liegen. Man dadite fidi dabei das Kontinuum durch fort-
gefegte Teilung entftanden (etwa flriftoteles). Damit ift aber
±*ıı_*'_íí 'f 1117 ' _7__i ı

1) -Le concept scientifique du continu: Zenon d'Elée et Georg Cantor,-=


Revue philofophique, XX, p. 385 ff. (octobre 1885).
2) The Principles of Mathematics, Vol. I, § 331 (p. 350) und §§ 340-41
(p. 358-60). Cambridge 1903.
[585] Mathematifdie Exiftenz. 145

ein neues geometrifdies Moment bereits geltend gemadit, was der


Entwicklung vorgreift.
Tatfädilich war (vermutlich 1) die Folge der Zenonifdien Para-
doxien eine Entwicklung in zweifacher Richtung: einmal zu einem
atomiftifdien Finitismus und andrerfeits zur methodifdien Vermeidung
wenigftens des Fiktual-Unendlichen unter Zulaffung des endlofen
Prozeffes (rig åbrscgov Zšrat 5),
Der mathematifdie Htomismus denkt fidi nidit mehr die gerade
Strecke aus aktual-unendlidi vielen Punkten beftehend, fondern aus
einer zwar großen, aber endlidien Zahl fehr kleiner Linien-
ftückdien zufammengefegt, die unteilbare Linien, -Linienatome-=
(äroμoı. ygaμμai) heißen. Man braucht von diefer finiten Mathematik
nicht gering zu denken, es gelang ihr, vermutlidi gerade deswegen,
weil fie eines Limesverfahrens entraten konnte, zum wenigften
eine große Entdeckung, die Volumenbeftimmung der Pyramide
und des Kegels 3. Ü 5
Der fitomismus behält alfo von Zenos aktual-unendlichen
Mengen die rflktualität- bei, aber nicht die Unendlichkeit. Um-
gekehrt verfährt die pythagoreifche Riditung, die in die große
klaffifche Entwicklung der griediifdien Mathematik durch den Hr-
diytas-Sdiüler Eudoxos einmündet. Sie bewahrt das Un-
endliche, gibt aber die flktualität preis. Dies Ende diefer Entwick-
lung läßt fidi mit firiftoteles (Phys. III, 7; p. 207b, 29--31) fo

c 1) Die hiftorifdien Quellen find fehr dürftig, und es läßt fidi keinerlei
Entwicklung eindeutig konftruieren. Genau wiffen wir nur, 1. daß Zen o
das fiktual-Unendliche durch feine Paradoxa ad absurdum führte; 2. daß
es eine atomiftifche finite Mathematik gegeben hat, die bei Plato und
Xenokr ates noch vorhanden ift. Die Vermutung, daß Demokri t (und
vielleicht fdion Leuki p p) fie ausgebildet hat, liegt fehr nahe. (Sie wird
beftritten von Sir Thomas Heath, H history of Greek Mathematics,
Oxford 1921, Vol. I, p. 181; wie mir fdieint, nicht mit durchfchlagenden
Gründen.) - Hingewiefen fei aufStenz el (Zahl und Geftalt bei Plato und
Hriftoteles, S. 72 ff., der in Euklids befchreibenden Definitionen von Punkt,
Linie, Gerade ufw. atomiftifdie Refte erblickt (l. c. p. 75, flnm. 2). - Vgl.
audi O. Toeplig, -Mathematik und Hntike- (die fintike, Bd.I, S. 199);
3. daß fi n a x a g o r a s die unendlidie Teilbarkeit lehrte; 4. daß die Pytha-
g o r eer das Problem der Irrationalen (wenigftens im Falle 1/7) aufwarfen.
(Zu welcher Zeit ift fehr umftritten.)
2) Zeno felbft entwickelt als erfter den Gedanken eines folcIienPro-
zeffes, f. in § 6 b, I C. '
3) Demokrit entdeckte diefe Volumenbeftimmungen, wie wir jegt aus
H r ch i m e d e s, ad Eratofth. Methodus, praefatio wiffen. E u d o x o s bewies
fie dann ftreng, vgl. firchime d es, quadratura parabolae, praefatio.
146 Oskar Becker. [586]

charakteriíieren: (oi μaäøyμazmoi) oôôê wär ôšovraı, rot? ånreígov, oåôê


xgcüvraı, åÄÃ.å μóıfov afvaı, ö'm;ı› ßoıílwwaı, :«"verreQao'μšvø;v_ »Die
Mathematiker bedürfen weder jegt [mehr?] des Llnendlichen noch
gebrauchen íie es, fondern (íie brauchen) nur (die Tatfache), daß
es begrenzte Strecken gibt, io groß iie wollen« - d. h. die Mathe-
matik braucht beliebig große (und auch kleine) Größen, aber keine
aktual unendlichen. (Die außerordentlich tiefgehende Hnalyie des
llnendlichkeitsbegritfs durch Hri ftot e le s wird uns noch fpäter
(in § 6b IC) beichäftigen. Hier foll lediglich das auf das Kontinuum
Bezügliche kurz dargeítellt werden.)
Die Huseinanderietgung zwifdıen atomiftifcher und ”ftetiger<<
Mathematik ipíelt veríchíedentlich eine Rolle bei Hriftoteles und vor
allem in der perípatetifchen Schulichrift faegi åróμwv 9/gaμμájv (V e r -
faíier vermutlich Theophrast, gerichtet gegen Xeno-›
kr at es.) Die mathematifch tretfendften Hrgumente gegen die
»Líníenatome<< [ind er it e ns , daß irrationale Verhältniffe in der ato-
miftíichen Mathematik unmöglidı iind, da ja die unteilbare Strecke
felbft als univerielles Maß aller Strecken in ganzen Zahlen dienen
kann, womit alle Verhältniffe rational werden. Z w eit e n s, daß
man mittels der bekannten geometrifchen Konftruktion (Euklid I, 10)
jede noch io kleine Strecke halbieren kann. lm Grunde gehen aber
beide Flrgumente (was man zu wenig beachtet hat) auf ein e
Grundvorausíegung zurück, die in der griechífchen Grundvorftellung
vom Mathematifchen überhaupt tief verwurzelt ift.
Diefe Grundvorausíegung lautet: Es gibt abfolut
exakte einfadıe Figuren, wie den Kreis oder das
Quadrat, - oder: es gibt reine elementare Grund-
g e ft al t e n. Der Elementaraufbau (die aıoıxeíwaıg) der Mathematik
zeigt, daß mit der Geraden und dem Kreis alle anderen reinen Ge-
ftalten gegeben iind. Sowohl der Nachweis der Exiftenz irrationaler
Verhältniffe, wie auch die unbelchränkte Hnwendbarkeit der Halbie-«
rungskonitruktion beruht offenbar auf diefen *reinen " abfolut exakten
Figuren. Diefe iind für die Griechen auch durchaus nicht Ergebníiie
eines Grenzprozeiies, fondern e n dl i ch e Gegebenheiten. Das bedeutet
einen wefentlichen Unterfchied zur modernen Mathematik, wo die
Irrationalzahl durch einen unendlichen Prozeß definiert wird.
Sonft -- von diefen Beweifen gegen den Htomismus abgeiehen -
wird das Irrationale in der aríftoteliíchen Vorftellung des Konti-
nuums nicht berückiichtigt. H ri ft o t el es macht iich keine Gedanken
darüber, wie die irrationalen, durdv Konftruktion gegebenen Punkte
auf der Geraden lid) »z\vil'chen« die durch Teilung gegebenen ein=-
[587] Mathematifche Exiftenz. 147

tchieben, wo doch fchon diefe für iich ein »Kontinuum-= ausmachen.1


Hlle derartigen ›mengentheoretil'chen« Fragen ítellte die Hntike
nicht. Sie verlieren auch für eine koniequent »potentiellen ge-
netiíche Huffaiíung des Kontinuums fehr an Schärfe.
Das Kontinuum ift alfo für Hri ftoteles nichts aktual l1nend~
liches. Es wird, bei Gelegenheit der Erörterung des Llnendlichkeits-
begritfs felbft, oft betont, daß auch die endloíe Teilbarkeit des
Kontinuums keineswegs eine aktuale Llnendlichkeit impliziert 2. Piller-›
dings wird ein Unterfchied gemacht zwifchen dem unendlichen in
der (endlofen) Zeit und dem in der endlofen Teilung des Kontinu-
ierlicheng.
Das Unendliche ift zwar immer im Werden und Vergehen
(šv ya-:véaeı mi qıäoggi), aber doch mitunter (bei der Zeit z. B.) in der
Weite, daß das Gewordene oder das Erfaßte (rô ,laμßavóμevov
wieder vergeht, während ftändig etwas Neues entfteht (åíllo zai åíMo);
- mitunter aber auch io, daß das Entftehende bleibt. (Dies ift
bei der unendlichen Teilung des Kontinuierlichen der Fall.) D. h.:
die Teilpunkte der früheren Teilungen bleiben beftehen; es kommen
immer neue Zwífchenpunkte hinzu, das Neg der Teilung wird immer
dichter, die Teilpunkte häufen fich immer mehr, wenn auch ihre
Zahl und Dichte in jedem konkreten Stadium des Teilungsprozetíes
endlich bleibt.

1) Solche Fragen treten fchon innerhalb des rationalen Bereichs auf.


Ift etwa durch fortgefegte Dichotomie eine überall dichte Menge gegeben,
wie reiht ñch dann etwa der drittelnde Punkt ein? - Hnderieits ift ja fogar
die Menge aller algebraiichen Zahlen mit der der ganzen gleichmächtíg. Die
geiamten Deflnitionsmethoden der Hntike führten überhaupt nicht über die
abzählbare Menge hinaus. Huch iniofern war die mengentbeoretiiche lln-«
intereiñertheit der Hntike berechtigt. Nur, wenn man den iämtlichen
E u d o xii oh en lóyoı z u gleich die mathematifche Exiftenz zugefprochen
hätte, wäre man zu einer nicht abzählbaren Menge gelangt, zu derfelben,
die wir heute Kontinuum nennen. Freilich, was diefe Exiftenzíegung e n b l o c
eigentlich befagt, darüber lind wir uns heute noch nicht im klaren. Eine
folche gewagte Exiftenziegung widerfprach durchaus dem Geift der antiken
Mathematik.
2) Pbyf. III, 6 (205 2.16-18); 'rö cfš μšysäoç, 51:. μšı' mtr' švšgyëıav oåxsšdtıv
änêıgov, etgqtaø' dıaagšøeø ó"š6'rı'w' off yåg xalsnôw åvslsív 'råç åróμovç ygırμμršç.
3) Pbyf. Ill, 6 (206 8.25-29): Eillwç Ö" šv ni: rçå 196-ı›c_o dsñlov rô ôínaagov. ..
:cui šni. 'tñç daaıgšoswç râw μeyáäwv. ölwç μšv yåg oíírwç šori 'rö åíneıgov, fcfı' åsi,
ällo xml. Billa laμßávsoäaø' :mi rö Aırμ/3cwóμaıfo'ı› μêr åei eiäfozı nensgaoμá/ov, till'
rief ya íšregov .mi íšrsgov. (206 a33-b 3) till' âv μèv 'rofç μeyëäfflw, ífffμvμšvflvrøc
foü lıμpäšvroç, 'roüto o'uμßaı".vsı, šrri ó`š 'tüv åvägıónwv ami, 'roíı' Xgóvov cpäsaçoμšvwıf
oíírwç åíms μig årrılsínsıv.
148 Oskar Becker. [533]

Damit ift der klafiifche antike Begriff des Kontinuums erreicht,


in dem allerdings m a t h e m a ti ich keinerlei tiefere Probleme licht-
bar werden.
Diefe ergaben iich erft aus der neueren ››abendländifchen« Ent-
wicklung.
II. Die weitere Entwicklung in der neueren Mathematik
- bis auf Hilbert.
H. Die »abendländiíche« Definition durch konvergente unendliche Prozeffe.
` Es ift hier nicht der Ort, die Gefchichte des Kontinuumproblems
darzuftellen. Deshalb muß es genügen, nach den antiken Wurzeln
des Problems die hauptiächlichen modernen, d. i. ››abendländiichen«
Stellungnahmen dazu kurz zu erörtern.
Der grundlegende Unterfchied der fog. modernen, d. h. abend-
ländifchen neueren Mathematik gegenüber der antiken (die arabiiche
Mathematik möge außer Betracht bleiben) ift die Einführung der
unendlichen Konftruktion als legitimer Definition einer mathe-
matifchen Entität, (Definition durch ein Grenzverfahren (limes),
einen konvergenten unendlichen Prozeß)1. Es wurde fchon
gefagt und fei nochmals wiederholt: die antike Berechnung etwa
des Kreísinhalts durch Hrchimedes gibt zwar eine (im Prinzip
unbegrenzt genaue) Hnnäherung an die Zahl nz, aber diefe Zahl fr
wird keineswegs durch diefen approximatíven Prozeß definiert.
Vielmehr ift der Kreisinhalt als eine Grundeigenfchaft der einfachen
reinen Figur (Geftalt) Kreis a priori mathematifch exiftent. Dadurch
ift das Verhältnis Kreisinhalt zum Inhalt des Quadrats über dem
Radius eine legitime mathematifche Entität, trogdem es nicht im
üblichen Sinne als konftruíerbare Irrationalität in die Stufenfolge
der Irrationalitäten nach Euklid und Hpollonios eingegliedert
werden kann. Es ift übrigens, wie fchon erwähnt, die einzige
folche >>transfzendente« Zahl, die in der antiken Mathematik ver~
wendet wird. Hlle antiken Quadraturen, Kubaturen, Rektifikationen
ufw. find allein von nz abhängig. Llmfomehr iind alle antiken De-
finitionen algebraiícher Zahlen (mittels übereinander gebauter
____¬ııı____*ııııır _______ |_ __ __ » ,

1) Der erfte, der »die Grenze geradezu als eine durch Terme einer Folge
(series) definierte n e u e Zahl auffaßte, deren Ermittlungsart eine neu e
R e ch n u n g s art bedeuten iollte«, war vermutlich ja m e s G r eg o r y in der
Einleitung zu feiner »Vera circuli et hyperbolae quadratura«, Padua 1667
(Vgl. H. Wi el e i t n e r , Gefchichte der Mathematik II, 1; Sammlung Schubert
Nr. LXIII [Leipzig 1911] S. 116; Eneftröm, Bibliotheca mathematica X,
348f.). - Die Notwendigkeit der Konvergenz ift fehr fpät, eigentlich erft im
19. jahrhundert (G a u ß , H b e l , C a u ch y) voll eingefehen worden.
[539] Mathematifche Exiftenz. 149

Quadrat» und Kubikwurzeln ufw. ufw.) prinzipiell finit. Für uns


iind die Wurzelzeichen nur Hbkürzungen für unendliche Prozefie
(etwa Kettenbrüche u. dgl.); für die Flntike ftehen an ihrer Stelle
endliche Konftruktionen. Der Umfang der der Hntike bekannten
algebraiichen Zahlen war de facto begrenzt. »Grundíäglich wäre es
möglich gewefen, eine beliebige algebraifche Zahl durch die endliche
Konftruktion einer beliebigen algebraiichen Kurve mittels eines
Graßmanníchen »linealen Mechanismus« zu definieren.
über alle diefe endlichen Konftruktionen gehen die moder=
nen konvergenten unendlichen Prozefíe grundiäglich hinaus. Immer-
hin bleibt es zunächft bei einer beichränkten Benugung iolcher Pro-
zeiíe, indem diefe als Konftruktionen einzelner reeller Zahlen (ent-
fprechend den antiken Jlóyoı) verwandt werden. Von einer exiften-
tiellen Segung aller reellen Zahlen ift zunächft keine Rede, -- auch
nicht etwa bei Descartes anläßlich feiner Einführung der Koor-
dinaten. Denn auch Descartes fucht dod› nur das geometrifche
Hnalogon zu den elementaren arithmetifchmlgebraiichen Operationen
(wobei er, wie fchon bemerkt, die allgemeinften algebraifchen Ope-
rationen nicht einmal erreicht)1. Von transizendenten Zahlen ift
außer nf nur noch e bekannt, und zwar ebenfo wie rr geometrifch
definiert, mittels des Hyperbelinhalts. (Nicolaus Mercator, Loga~
rithmotechnica 1667.) [Zeuthen S. 56, 314f.; vgl. F. Klein,
Eıem. Mach. v. bös. scanapunm, Ba. 1, s.aaeff.1
Der Begriff einer völlig willkürlichen reellen Zahl und damit
der~Menge aller diefer Zahlen entwickelt iich erft im 19. Jahr-
hundert, und nicht etwa direkt, fondern auf Grund der Idee der
allgemeinen Funktion. Die Entwicklung des Funktionsbegriffs
ift alfo der Weg, der zum modernen Kontinuumproblem führt.
B. Die Entwicklung des allgemeinen Funktionsbegrifis bis 1750.
Schon im ípäten Mittelalter um 1370 hatte Nic ole O r esm ef
eine anl'chauliche Vorftellung, wenn auch keinen mathematifch klaren

1) Zeuthen, Gefchichte der Mathematik im XVI. und XVII. ]ahr=


hundert, S. 204. Die im Text folgenden Seitenzahlen beziehen iich alle auf
diefes Werk. G
2) Über Nicole Oresme 1'. vor allem H. Wi eleitner: I. »Der
Tractatus de latitudinibus formarum«, Bibliotheca mathematica (3) XIII›
S. 115-145 und II. ȟber den Funktionsbegriff und die graphiiche Dar-
ftellung bei 0resme«, Bibl. Math. (3) XIV, S. 193-243. -- Das Werk 0 r e s m e s
war bislang nur in einer verkürzten Bearbeitung bekannt, P. D uh em ent-
deckte drei Handfchriften des Originals in der Bibliothèque nationale in Paris
und überlegte Teile der einen: (fonds latins 7371, fol. 214”-2661); eine weitere
150 Oskar Becker. [590]

Begriff einer beliebigen Funktion. Er wurde darauf durch den


icholaftiíchen Begriff der intensio et remissio formarum (ieit Hein«
7 I77* W ¬iı':'_Z*'*"' ııı*__ıııııı

Handfchrift ift auch in B afel (öífentl. Bibliothek, N° F III 31 [4°]; fol. 2' bis
fol. 29'). -- Du h em, Etudes sur Léonard de Vinci, III. Série (Paris 1913),
gibt nur franzöiifche Huszüge, Wieleitn er (l. c. II) gibt Stücke des latei-
nifchen Textes nach Duh ems Hbichrift.
O r e s m e gibt keine Darftellung von ››empiı:ifchen« Funktionen, wie man
häufig lieft. Das würde ihm zu Unrecht moderne Ideen unterichieben. Tat«
Iächlich gibt er fo etwas wie eine typifche Darftellung der Möglichkeit der
Variation von Intenñtäten (Wärme z. B.) mit der Zeit oder entlang einer
räumlichen Erftreckung. Die Figuren ichließen fich keinesweg an die Wirk~
lichkeit an, fondern entiprechen beinahe den Zeichnungen im Skizzenbuch
des Villars de Honnecourt. (Vgl. zur erften Orientierung über diefe etwa
J. v. Schloífer, Die Kunft des Mittelalters [die fechs Bücher der Kunft, 3. Buch,
Berlin-Neubabelsberg, Hkad. Verlagsgei. Fithenaion, o. ].], S. 83 u. 84. Man
beachte befonders die Zeichnung des Löwen [Fig. 94] »contrefait au vif«,
die durchaus nicht naturaliftifch ift.) Die »formae« lsubstantiales wie acciden-
talesl, deren »latitudo« [= Variationsweiie, Schwankungsmöglichkeit] darge-
ftellt wurde, waren zunächft durchaus keine phyfikalifchen Größen, fondern
etwa die ›charitas in homine«, die zu= und abnimmt und »magis et minus
per diversa tempora habetur« (P etrus L o mb ardus , Sententiarum
libri IV., lib. I, Diff. XVII. [ca. 1150], f. Wi e le i t n er , l. c. XIV, 195, Hnm. 3).
Heinrich (Goethales) von Gent (1217-~1293) ípricht dann zuerft
von intensio et remissio und daß ratio et causa augmentationis zu unter-
fuchen fei (l. c. XIV, 196). - Erwähnt fei noch, daß B r a d w a r di n e (1- 1399)
von den in finiti gradus in omni latitudine fpricht und daß G regor
von Rimini (1344) eine latítudo als doppelt fo groß wie eine andere
bezeichnet. alfo ñe mißt (l. c. XIV, S. 196/97).
Wi eleitner beftreitet, daß Oresme die Koordinatendarftellung er»
funden habe und billigt ihm höchftens eine »Ordinatengeometrie« (ohne
den Begriff der Hbfziiie) zu. Ferner tadelt er feine fchwankende und un«
fcharfe Begritfsbildung. Man muß aber bedenken, daß es iich hier um eine
frühe Stufe einer ielbftändigen (nur wenig von der I-Intike beeinflußten)
Konzeption neuer, ipezifiich »abendländifchem (alfo wohl »nordifch beftimmten)
mathematifcher Begriffe handelt.
Es liegt hier bei Oresme m. E. die llrfprungsftätte
der wichtigften Begriffe der neueren Mathematik: Funktion,
beftimmtes Integral, Hbleitungen aller Ordnungen (als Befchleunigungen
verfchiedener Ordnung auftretend), P ri n z i p d e r P e r m a n e n z d e r
f o r m ale n G e i e tg, e (gebrochene Exponenten), - dies legte im »Hlgoris--
mus proportionum«, vgl. H. H a n k e l , Zur Gefchichte d. Math. im ñltertum
u. Mittelalter, S. 350 f.
fluch in der Frage des Einflufies diefer Begriffsbildungen auf die ipätere
Zeit fcheint mir Wi el e i t n e r zu abfprechend zu fein. Es hat eben der
übermächtige Einfluß der Hntike feit der Renaiffance vieles Mittelalterliche
fcheinbar verfchwinden laffen. (Vgl. das von Wielei tner felbft Beigebrachte:
für Descartes, XIV, S. 2411. c., Hnm. 2, 4, 5; für Galilei, S. 242f.).
[591] E Mathematifche Exiftenz. 151

rich von Gent) geführt, d. h. die allgemeine Idee des Wachfens


und Hbnehmens einer »Qualität-« oder -Intenfität«, wie wir heute
fagen würden, mit der Zeit. Diefer Funktionszufammenhang wurde
durch eine (allerdings im einzelnen, von ganz einfachen Fällen ab-
gefehen, phantaftífch ausgeftaltete) Kurve dargeftellt. Für unfere
gegenwärtige Fra-geftellung ift nun das Entfcheidende, daß hier bei
Oresme der allgemeine Begriff der Funktion mit tiefblicken-
der Hnfdıauungskraft entdeckt wird, wenn auch feine begriffliche
Faffung weit entfernt von legter Schärfe ift. Der allgemeine
Funktionsbegriff findet fich hier fchon eigentlich nach den beiden
Seiten, die fpäter von ausichlaggebender Bedeutung werden, kon-
zipiert. Einmal fkizziert Oresme einen fyftematifchen Hufbau
immer komplizierterer funktionaler Gefegmäßigkeiten (uniformis,
uniformiter difformis, difformiter difformis, uniformiter difformiter
difformis, difformiter difformiter difformis ufw. ufw.). Es werden
auch Zahlenreihen (arithmetifche Reihen höherer Ordnung u. dgl.)
zur Befchreibung der Gefegmäßigkeiten herangezogen. und dann
kommt zweitens bei ihm auch fo etwas wie eine ganz willkürliche
Funktion zur Geltung, in Geftalt einer beliebigen, aus irgendwelchen
Geftalten zufammengefegten Linie. Freilich wird der Hnfag nicht
durchgeführt; O r es m e kommt nur zu einer Kombination von end-
lich vielen elementaren Figuren (Kreisbögen und gebrochenen
Linien) 1. Immerhin ift dazu zu bemerken, daß Oresmes Erörte-
rung iich ftets nur auf eine ››hora«, eine ››Stunde« als begrenzten
Zeitabfchnitt bezieht. (Die Zeit bezeichnet i. H. die unabhängige
Variable.) Würde man immerfort Stunden bis ins Endlofe dazu-
nehmen, dann käme man zu einer Mannigfaltigkeit von Kombina-
tionen von der Mächtigkeit des Kontinuums. Denn man kann jede
auftretende Elementarfigur mit einer Zahl bezeichnentund kommt
dann auf eine Zahlfolge bzw. auf die Menge aller Zahlfolgen.
Oresme hat diefe Betrachtung nicht'-i, aber er denkt iich die
Elementarfiguren felbft »auf unendliche Weife variiert« 3.
Diefe genialen Vorahnungen wurden von der fyftematiich fort-
íchreitenden Mathematik, die allerdings ihre Begriffsbildung erft
wirklich ftreng zu üchern hatte, erft ganz allmählich wieder erreicht.
Der allgemeine Funktionsbegriff entwickelte fich fehr langfam.

1) f. Wieleitner, Bibl. Math. (3) XIII, S. 138, Fig. 9 u. 10.


2) l. c. XIV, 205, Hnm. 2.
3) l. c. XIII, S. 139: »quas pono gratia exempli [figuras] possunt
in fi n i t e v a ri altri semper repraesentando latitudinem de qua est intentio
sive sermo«.

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