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Mager
Schillernde Unschärfe
Gedruckt mit großzügiger finanzieller Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der
VG WORT.
ISBN 978-3-11-045727-8
e-ISBN (PDF) 978-3-11-045834-3
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045728-5
Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2015
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Einbandabbildung: Detail der Fassade des Hôtel Fouquet’s Barrière von Édouard François
(Foto: Tino Mager)
Satz: Satzstudio Borngräber, Dessau-Roßlau
www.degruyter.com
Inhalt
Dank
Einleitung
I. Teil: Theorie
1 Der Authentizitätsbegriff
1.1 Etymologie
1.2 Authentizität als Gegenwartsphänomen
2 Historischer Überblick zum Umgang mit materiellem Erbe
2.1 Entdeckung der Vergangenheit
2.2 Begriffe und Werte im 19. Jahrhundert
2.3 Vorstöße und Verluste
3 Das Dogma der Authentizität
3.1 Von der Charta von Venedig zum Welterbe
3.2 Nara’94 und die Authentizitätsdebatte
3.3 Die Entmaterialisierung des Authentischen
II. Teil: Fallstudien
1 Ise-Schreine
1.1 Objekt
1.2 Periodische Erneuerung
2 Neues Museum
2.1 Objekt
2.2 Sanierung
3 Vergleichende Analyse der Authentizität
3.1 Materielle Substanz
3.2 Gestalt
3.3 Funktion
3.4 Ort
3.5 Tradition
Schluss
Bibliographie
Abbildungsnachweis
Register
Fußnoten
Dank
Dieses Buch basiert auf meiner Dissertationsschrift, die im August
2014 vom Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik
der Technischen Universität Berlin angenommen wurde.
Eine anspruchsvolle wissenschaftliche Arbeit, die profunde
Erkenntnisse voraussetzt und komplexe interdisziplinäre Fragen
berührt, entsteht nicht ohne das Wissen, die Unterstützung und die
Gewogenheit anderer, denen ich dafür sehr verbunden bin.
Insbesondere möchte ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Kerstin
Wittmann-Englert aufrichtig und von Herzen danken. Ihr
motivierender Enthusiasmus für meine Forschung, ihre Bereitschaft,
ein wertvolles und anregendes Fachwissen zu teilen sowie ihr Interesse
daran, schwierige Aspekte klar und offen gemeinsam mit mir zu
durchdenken, haben die Arbeit an diesem Buch nicht nur erleichtert,
sondern zu einer Freude gemacht. An dieser Stelle möchte ich mich
auch für die zahlreichen und nützlichen Anregungen bedanken, die ich
im Rahmen ihres Doktorandenkolloquiums von Freundinnen und
Freunden, Kommilitoninnen und Kommilitonen erhalten habe. Meiner
Zweitgutachterin Prof. Dr. Gabi Dolff-Bonekämper gebührt ebenfalls
herzlicher Dank. Sie hat mir neue gedankliche Perspektiven eröffnet
und der Arbeit mit entscheidenden Impulsen zu der inhaltlichen Tiefe
verholfen, die der Relevanz des Themas gerecht wird. Für wichtige und
erfrischende Fachgespräche möchte ich mich darüber hinaus bei Prof.
Dr. Adrian von Buttlar, Prof. Dr. Lars Blunck, Prof. Dr. Laurent Stalder
und PD Dr. Michael Falser bedanken. Bodo Buczynski und Wulfgang
Henze verdanke ich sehr hilfreiche Einsichten zu Problemen der
Restaurierung in der Praxis.
Meine Forschung wurde durch ein Elsa-Neumann-Stipendium des
Landes Berlin gefördert, wodurch ich die wertvolle Möglichkeit zu
einem konzentrierten und ertragreichen Arbeiten erhielt. Ein
Reisestipendium nach Japan und ein Forschungsaufenthalt an der
University of California, Los Angeles haben die Arbeit inhaltlich
bereichert und einen ergiebigen wissenschaftlichen Austausch
ermöglicht. Für neue Erkenntnisse und wichtige Ratschläge möchte
ich mich vor allem bei Prof. Dr. Michio Hayashi, Prof. Dr. Dell Upton
und Prof. Dr. Kenneth Breisch bedanken. Ein Lehrauftrag an der
Technischen Universität Istanbul gab mir zudem die Gelegenheit,
relevante archäologische Fragen zu erörtern, wofür ich Prof. Dr.
Zeynep Kuban sehr danke.
Die großzügige finanzielle Unterstützung des Förderungsfonds
Wissenschaft der VG WORT hat die Drucklegung in der vorliegenden
Form ermöglicht. Bedanken möchte ich mich diesbezüglich auch bei
Dr. Katja Richter und Dr. Verena Bestle vom De Gruyter Verlag für die
freundliche und sehr kompetente Zusammenarbeit.
Ein besonderer Dank geht an meine Eltern für ihre fortwährende
Unterstützung und die mir gegebene Freiheit. Fabiola Bierhoff danke
ich für ihre Liebe, meinen Freundinnen und Freunden danke ich für
ihre unbewusst geleistete Hilfe.
Gewidmet ist dieses Buch meinem Großvater Helmut Reibig (1912–
2006), Historiker und Ehrenbürger der Stadt Meißen, dem widrige
Zeitumstände die Verwirklichung seiner eigenen Dissertation
verwehrten. Ich verdanke ihm mein Interesse an den Dingen, die über
die sichtbare Welt hinausgehen.
Einleitung
Il est plus facile d’élever un temple que d’y faire descendre l’objet du culte.1
Samuel Beckett, L’innommable
Strategie
Eine Arbeit über einen Begriff bringt zwangsläufig das Manko mit sich,
sich auf keine optimale Herangehensweise gründen zu können und
angesichts der Komplexität des Themas auch unvollständig bleiben zu
müssen. Zudem beruht sie auf der Verwendung anderer Begriffe, die
nicht mit der gleichen Sorgfalt betrachtet werden können und daher
stets eine gewisse Unschärfe bedingen. So muss betont werden, dass
keineswegs der vorab zum Scheitern verurteilte Versuch unternommen
werden soll, eindeutige Kriterien aufzustellen oder gar eine Definition
zu geben. Im Sinne des Architekturkritikers und Denkmalpflegers
Hanno Rauterberg – „Gerade weil die Denkmalpflege keine
grundsätzlich objektive Wissenschaft sein kann und das Denkmal kein
in sich abgeschlossenes, musealisiertes Exponat, gerade deshalb ist sie
ja so wertvoll. Weil sie keine Fix- und Fertig-Antworten verheißt, keine
endgültigen Antworten parat hält, sondern immer wieder zu Fragen
einlädt“35 – soll es vielmehr darum gehen, die Genese des
Authentizitätskriteriums nachzuvollziehen, seine Facetten zu
beleuchten und die Validität der Inanspruchnahme des Begriffs im
Spannungsfeld zwischen dogmatischer Bewahrung und
Rekonstruktion von Bauwerken zu hinterfragen. Die Arbeit soll sich
dem Authentizitätsbegriff in Bezug auf architektonisches Erbe durch
eine kritische Auseinandersetzung mit dem stattfindenden Diskurs,
einer theoretisch-philosophischen Betrachtung des Begriffsinhalts
sowie der Analyse architektonischer Fallbeispiele nähern. Der Bezug
auf reale Objekte ist dabei auf die Überprüfbarkeit und
Sachdienlichkeit der Resultate ausgerichtet.
Der erste Teil der Arbeit widmet sich der historisch-theoretischen
Betrachtung. Dabei wird zunächst die Etymologie des Begriffs
Authentizität in den Blick genommen und seine Bedeutung als ein
Leitwort der Spätmoderne herausgestellt. Im Anschluss erfolgt ein
geschichtlicher Überblick über den Umgang mit architektonischem
Erbe zu verschiedenen Zeiten, sowie den dafür zu Grunde liegenden
Anschauungen. Neben architektonischen Beispielen wird dabei auf
Schlüsseltexte eingegangen, anhand derer sich über die Zeit beständige
Wertvorstellungen herauskristallisieren und Paradigmenwechsel
aufzeigen lassen, in denen bereits der Ursprung der Debatte – die erst
im Nachhinein unter dem Begriff der Authentizität subsumiert wird –
gesehen werden kann.
Hauptaspekt des ersten Teils der Arbeit ist eine Analyse des im
Anschluss an die Charta von Venedig erfolgten Werdegangs des
Authentizitätsbegriffs. Darin werden die Genese dieses neuen
Leitsterns der Denkmalpflege, die damit verbundenen Kontroversen
und uneinheitlichen Standpunkte darlegt. Insbesondere ist die
Etablierung des Begriffs im Rahmen des Welterbes zu betrachten,
worin er als Grundvoraussetzung für die Zuschreibung des
Welterbetitels erheblich beansprucht wird. An dieser Stelle soll auch
ein Blick darauf geworfen werden, inwiefern er als Projektionsfläche
willkommener Denkmalqualitäten beansprucht wird und somit der
politischen Vereinnahmung preisgegeben ist, da er für verschiedene
Welterbestätten bisher ganz unterschiedlich ausgelegt wurde.36
Im Rahmen der Prüfung des Begriffs wird auch die gesellschaftliche
Relevanz der Authentizität historischer Architektur näher betrachtet.
Sie ist nicht nur für die Bauwerke selbst von Bedeutung, sondern vor
allem für deren Rolle innerhalb der Geschichtsschreibung und
Erinnerungskultur. Hierfür ist das Verhältnis von Authentizität und
Rekonstruktion näher zu beleuchten. Die Architekturzeitschrift
ARCH+ eröffnete ihre der Rekonstruktion gewidmete Ausgabe im
Oktober 2011 mit den Worten: „Nicht schon wieder die
Rekonstruktionsdebatte, nicht schon wieder Berlin, nicht schon wieder
das Stadtschloss. Alle Argumente scheinen ausgetauscht, die
Positionen verhärtet.“37 Im Bewusstsein um diese Problematik ist zu
betonen, dass es nicht darum geht, die Rekonstruktionsdebatte um –
insofern überhaupt möglich – weitere Positionen zu bedienen, sondern
lediglich der Frage nach der Möglichkeit der Authentizität von
Rekonstruktionen, wofür der Begriff zunehmend in Anspruch
genommen wird, nachzugehen.
Der zweite Teil der Arbeit wird sich des Problems der Authentizität
historischer Bauten exemplarisch anhand der Analyse zweier Beispiele
annehmen. Dabei kommt es zum einen darauf an, zu untersuchen,
inwiefern diverse architektonische Aspekte mit Authentizität in
Verbindung zu bringen sind. Zum anderen soll gezeigt werden, welches
Verhältnis zwischen der Evaluierung von Authentizität und dem
jeweiligen kulturellen Hintergrund von historischen Bauwerken
besteht. Hierfür werden zwei Gebäude gewählt, in denen konträre
Positionen deutlich werden und die diesbezüglich einen Symbolstatus
besitzen. Neben Deutschland, seit über 100 Jahren Ort intensiver
Debatten um die Art und Weise des Umgangs mit architektonischem
Erbe, wird ein Vergleichender Blick in ein Land geworfen, das eine
wichtige Rolle für den Anstoß der Erörterung des Begriffs der
Authentizität gespielt hat: Japan.
Insbesondere der Bauhistoriker Niels Gutschow, der Architekt
Knut Einar Larsen und der Kunsthistoriker und Japanologe Christoph
Henrichsen haben wertvolle Beiträge über die Erhaltung traditioneller
japanischer Bauten vorgelegt und der westlichen Welt eine zuvor
unbekannte Art der Erhaltung nahegebracht.38 Dennoch fehlt eine
eingehende Betrachtung zum Thema Authentizität, die sich detailliert
mit japanischen Erhaltungsstrategien auseinandersetzt und diese in
den kulturellen Gegebenheiten des Landes verankert. Es ist besonders
ergiebig, ein Bauwerk als Beispiel zu wählen, das dem Namen nach
wahrscheinlich jedem Denkmalpfleger geläufig ist und gern
Erwähnung findet, wenn von Authentizität die Rede ist, das aber
dahingehend tatsächlich nie untersucht wurde.39 Es ist fraglos an der
Zeit, einen präzisen und ausführlichen Blick auf den „vielbemühten
Shinto-Schrein“40 zu werfen, auf ein Bauwerk, dass trotz
ungenügenden Wissens „für eine angeblich postmoderne Praxis
herbeigewünschter, bildhafter und geschichtsbeladener
41
Denkmalrekonstruktionen instrumentalisiert“ wird und das
„Mißverständnis einer aus Asien importierbaren ,zyklischen‘
Verjüngungsmethode für Denkmale in die europäische Diskussion
brachte.“42 So sollen die über Jahrhunderte hinweg im Rhythmus von
20 Jahren – zuletzt 2013 – immer wieder erneuerten Ise-Schreine (伊
勢神宮, auch Ise-Jingū oder Ise-Daijingū), die Bruno Taut als die
„höchste ästhetische Sublimierung“43 in Holz bezeichnete und in
ihrem kulturhistorischen Rang mit dem Parthenon verglich, womit er
sie in die Höhepunkte der Weltarchitektur einreihte, als japanisches
Analysebeispiel dienen. Anhand der Ise-Schreine ist es möglich, die
Hintergründe und Bedingungen eines ephemeren und nicht
substanzgebundenen Architekturbegriffs herauszustellen, auf dessen
Grundlage sich ein spezifisches Authentizitätsverständnis ergibt.
Als zweites Fallbeispiel wird ein Bauwerk gewählt, über dessen
Schicksal jüngst leidenschaftlich debattiert wurde und das als
Paradebeispiel eines in letzter Zeit nicht unumstrittenen
,Substanzfetischismus‘ gelten kann. Das Mitte des 19. Jahrhunderts
erbaute und seit dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte ein
Ruinendasein fristende Neue Museum in Berlin wurde im Oktober
2009 wiedereröffnet und sorgte ob der an ihm erfolgten Sanierung für
erhebliche Spannungen zwischen Befürwortern behutsamer
Restaurierung und Teilen der Öffentlichkeit. Die Sanierung des Neuen
Museums ist insofern bemerkenswert, als sie in hohem Maße einer
denkmalpflegerisch beispielhaften Instandsetzung mit Bindung an die
Vorgaben der UNESCO, dem Berliner Denkmalschutzgesetz, der
Charta von Burra sowie einem individuell erstellten, wissenschaftlich
fundierten Sanierungskonzept verpflichtet ist. Damit stellt sie die
Verkörperung einer substanzgebundenen Authentizitätsvorstellung
dar und bildet mit der Verweigerung der Erzählung einer heilen
Vorkriegsgeschichte einen Kontrast zu der Tendenz der
Rekonstruktion verlorener Bauten. Darin findet es auch die
ausdrückliche Anerkennung des damaligen ICOMOS-Präsidenten
Michael Petzet.44 Im Neuen Museum, Teil des Weltkulturerbes
Berliner Museumsinsel, wird seine historische Authentizität regelrecht
demonstriert, es wird selbst zum Exponat.
Das Neue Museum und die Ise-Schreine sind ungleiche Bauwerke
aus verschiedenen Kulturen. Der den Schreinen zu Grunde liegende
Erhaltungsansatz scheint dem des Neuen Museums fundamental zu
widersprechen und offenbart völlig andere Wertvorstellungen
bezüglich historischer Architektur. Doch gerade in dieser
Gegensätzlichkeit liegt das Potential des Vergleichs. Anhand der
Beispiele ist es möglich zu zeigen, welche Bezüge zwischen
Authentizität und architektonischen Aspekten wie materieller
Substanz, Gestalt, Ort, Funktion und Tradition bestehen und welche
kulturellen Einflussfaktoren für die unterschiedlichen Begriffsinhalte
von Bedeutung sind. Aus dem vergleichenden Ansatz lassen sich des
Weiteren wertvolle Rückschlüsse auf die Genese des hiesigen
Authentizitätsverständnisses sowie auf die Universalität einzelner
Aspekte ziehen.
Forschungsstand
Begriffe
Die Arbeit beruht zwangsläufig auf der Verwendung von Begriffen, die
auch innerhalb der Disziplin – wobei wir uns wiederum zwischen
Denkmalpflege, Architektursoziologie und Kulturwissenschaften
bewegen – kaum eindeutig zu fassen sind. Insbesondere wenn
beispielsweise von Original, Wahrheit, Erbe, oder Identität die Rede
ist, besteht die Gefahr, den Begriff der Authentizität auf der Basis
ähnlich komplexer und uneindeutiger Konzepte zu betrachten. Daher
sollen einige grundlegende Begriffe zumindest umrissen und
abgegrenzt werden. Der Fokus der Untersuchung liegt auf
architektonischem Erbe. Diese Formulierung bewegt sich relativ nah
am Denkmalbegriff, ist jedoch nicht mit diesem gleichzusetzen, wie
nachstehend noch gezeigt wird. Da sich die der Arbeit zugrunde
liegende Problematik aber im Wesentlichen auf dem Gebiet der in der
Denkmalpflege behandelten Aspekte bewegt, sollen die Definitionen
einiger Termini technici der Denkmalpflege sowie Bemerkungen zum
Denkmalbegriff folgen.
Die 1999 verabschiedete Charta von Burra bezieht sich auf den
„denkmalpflegerischen Umgang mit Objekten von kultureller
Bedeutung“55 und weist nützliche Definitionen der dafür relevanten
Begriffe auf, die hier kurz wiedergegeben und für die vorliegende
Arbeit übernommen werden sollen. Die Maßnahmen der
Denkmalpflege umfassen unter anderem die Konservierung,
Restaurierung und Rekonstruktion von Objekten. Unter
Konservierung ist die „Erhaltung der Substanz in ihrem bestehenden
Zustand und das Verzögern des weiteren Verfalls“56 zu verstehen.
Demgegenüber sind Restaurierung und Rekonstruktion als Reparatur
gekennzeichnet. Während sich Restaurierung auf „die Rückführung
der BESTEHENDEN Substanz eines Objektes in einen bekannten,
früheren Zustand durch das Entfernen von Anlagerungen oder durch
erneute Zusammenfügung der Komponenten ohne die Einführung
neuen Materials“57 bezieht und somit auch Anastilosis als
Wiedererrichtung unter Verwendung der noch vorhandenen
Bausubstanz umfasst, bedeutet Rekonstruktion „die möglichst genaue
Rückführung eines Objektes in einen bekannten Zustand und wird
gekennzeichnet durch die Einführung von Materialien (alten oder
neuen) in die Substanz. Dieses darf weder mit einer Neuschöpfung
noch mit einer hypothetischen Rekonstruktion verwechselt werden.“58
Daneben wird der Begriff Sanierung für die Gesamtheit der einem
Gebäude im Zuge seiner Instandsetzung widerfahrenden Maßnahmen
verwendet.
An dieser Stelle soll noch ein Blick auf die Begriffe Originalität und
Identität geworfen werden. Originalität leitet sich vom lateinischen
Wort origo, Ursprung ab. Dem Begriff Original kommen dabei zwei
Bedeutungen zu, die einerseits einen räumlichen andererseits einen
zeitlichen Bezug aufweisen. So bezeichnet Original zunächst als
Abgrenzung von Kopie und Fälschung das Werk, welches allen
Reproduktionen als Vorlage dient. Darüber hinaus bezieht sich
Original auch auf den ursprünglichen Zustand, die Urfassung eines
Werkes. Zur besseren Unterscheidbarkeit soll daher im Folgenden von
Original und Original- beziehungsweise Ursprungszustand die Rede
sein. Architektonische Werke befinden sich im Prinzip nie in ihrem
Originalzustand, da schon innerhalb kürzester Zeit nach deren
Entstehung Alters- und Gebrauchsspuren eintreten und
Veränderungen erfolgen. Sie sind aber immer ein Original, wenn deren
Identität (die Identität des Objektes) stets gewahrt blieb. Identität (lat.
ĭdem, dasselbe) kann als „in der Zeit als beständig erlebte Kontinuität
und Gleichheit“59 verstanden werden. Die Einbeziehung des
Zeitfaktors ermöglicht es dabei Veränderungen und somit das zeitliche
Werden zu akzeptieren. (Identität ist hierbei auf Bauwerke selbst
bezogen und nicht auf deren identitätsstiftende Funktion.)
Der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl führte 1903 die
Unterscheidung zwischen ungewollten und gewollten Denkmalen ein.
60 Mit ersteren bezeichnete er Denkmale, denen keine
Denkmalen und lässt sich auf die durch die Historiker Johann Gustav
Droysen und Ernst Bernheim erfolgte Aufteilung von Quellentypen in
Überreste und Tradition zurückführen.63 Demnach sind
Überrestquellen analog zu ungewollten Denkmalen als unwillkürliche
Zeugnisse der Vergangenheit zu betrachten, hingegen bezeichnen
Traditionsquellen analog zu gewollten Denkmalen eine willkürliche
Überlieferung im Hinblick auf die historiographische Unterrichtung
der Nachwelt. Überrestquellen sind folglich Quellen, denen – sofern
sie von der Nachwelt verstanden werden – eine ungefilterte,
gemeinhin als authentisch bezeichnete, historische Information
entnommen werden kann. Die Information von Traditionsquellen ist
indessen gewissermaßen im Jargon der Sekundärliteratur verfasst.
Traditionsquellen können folglich in Bezug auf die zeitgenössische
Rezeption von Ereignissen oder Überresten wiederum zu
Überrestquellen werden. Das bedeutet, dass gewollte Denkmale in
ihrem Wesen ihrer Entstehungszeit verhaftet sind und somit wiederum
ungewollte Informationen übermitteln. Das betrifft auch den Umgang
mit architektonischem Erbe. Alle durch menschliche Hand erfolgten
Veränderungen, auch Restaurierungen und Rekonstruktionen lassen
Rückschlüsse auf die Wertschätzung und Rezeption des Denkmals zur
Zeit ihrer Ausführung zu.
Problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang, dass der
Begriff Denkmal eine rezeptionsabhängige Wertzuweisung bedeutet.
Schon 1885 stellte der preußische Landrat Alexander von Wussow fest:
„Das Denkmal ist dem Begriff nach nicht zu definieren […] nur
darüber ist die Meinungsverschiedenheit ausgeschlossen, dass der als
Denkmal anerkannte Gegenstand aus der Vergangenheit stammen
muss.“64 Der historische Wert und die Authentizität architektonischen
Erbes sind zunächst aber als von dieser Zuweisung unabhängig zu
betrachten. Zwar ermöglicht die Benennung konkreter Überreste als
Denkmale spätere Aussagen über die Wertvorstellungen zum
Zeitpunkt der Benennung, Denkmale dürfen jedoch nicht
verallgemeinert als „Medium gesellschaftlicher Verständigung über
dauerhaft verbindliche Werte“65 verstanden werden. Schließlich ist die
Zuweisung und Aberkennung respektive unterlassene Zuweisung der
Qualität Denkmal auch mit Kontroversen sowie der Durchsetzung
politischer Interessen verbunden, wie etwa die Soziologin Babette
Scurrell aufschlussreich herausgearbeitet hat.66 Es ist kaum möglich,
einen zeitlich als auch räumlich verbindlichen Begriff für die kulturell
bedeutsamen architektonischen Relikte früherer Zeiten zu finden. Was
zunächst Alterthümer waren und sich in der Folge zu Denkmalen und
Kulturerbe entwickelte und erweiterte, waren andernorts ancient
monuments und antiquités, national memories und trésors
nationaux, bevor sie im heritage und patrimoine aufgingen, wobei die
Begriffsvariationen im Zusammenhang mit unterschiedlichen
konzeptuellen Spielarten zu sehen sind, die sich durch ihren Gebrauch
stets neu konstituieren.67 Auch innerhalb der UNESCO wird durch die
Welterbekonvention der Begriffswandel von cultural property zu
cutural heritage vollzogen, um kulturelle Werte vor ökonomische
Anklänge zu stellen.68 Dabei ermöglichte der neu eingeführte
Erbebegriff die Aufnahme intangibler Elemente in die Welterbeliste,
was ursprünglich nicht vorgesehen war.69 So bedeutend der
soziologische Aspekt eines Erbebegriffs, der die prinzipielle Offenheit
einer Erbgemeinschaft und deren Deutungshoheit bezüglich des Erbes
unterstreicht, auch ist, so schwierig stellt er sich für eine sich auf
materielle Fakten beziehende Geschichtsschreibung dar: „Kulturelles
Erbe war und ist [..] eine Projektionsfläche für verschiedenste
politische und kulturelle Ziele, ein sogenannter ,empty signifier‘.“70
Erbe konstituiert sich jedoch nicht allein dadurch, dass es angetreten
oder ausgeschlagen wird, sondern birgt etymologisch auch die
Bedeutung ,Hinterlassenschaft‘ in sich.71 In einem weiteren Sinne ist
das architektonische Erbe somit auch die Gesamtheit der
architektonischen Relikte vergangener Zeiten, unabhängig von der
Zuweisung von Denkmalwerten. Diese Relikte sind als Dokumente
anzusehen, die Informationen über die Zeit ihrer Entstehung und ihres
Daseins beinhalten. Es sind die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit
dieser Dokumente, zunächst ganz unabhängig von der Möglichkeit,
objektive und zutreffende Schlüsse aus ihnen ziehen zu können, die
zum Begriff der Authentizität führen. Er bürgt somit für die
Berechtigung des Vertrauens, das historischen Objekten sowie der
Historizität dieser Objekte entgegengebracht wird. Historische
Authentizität suggeriert in diesem Sinne eine von der Gegenwart nicht
in Anspruch nehmbare Vergangenheit, die zwar interpretierbar, jedoch
nicht frei gestaltbar ist. In diesem Sinne plädiert Hanno Rauterberg
dafür, „das Denkmal als Angebot zu begreifen, um sich darüber klar zu
werden, dass die Welt einst ganz anders war, dass sie ganz anders
hätte werden können und dass sie auch in Zukunft ganz anders werden
könnte“, was allerdings nicht möglich ist, wenn die Vergangenheit
„ganz vordergründig nur Teil einer selbstgeschaffenen Gegenwart ist.“7
2 Das authentische Relikt ist folglich Basis, wenn nicht gar Garant
1.1 Etymologie
In jedem Fremdwort steckt der Sprengstoff von Aufklärung, in seinem kontrollierten
Gebrauch das Wissen, daß Unmittelbares nicht unmittelbar zu sagen, sondern nur durch
alle Reflexion und Vermittlung hindurch noch auszudrücken sei.73
Theodor W. Adorno, Wörter aus der Fremde
Abb. 1: N-Gramm-Analyse des deutschen Google Books Korpus für den Begriff ,Authentizität‘
Damit wirft er die moralische Frage nach dem Recht zur Verfügung
über diese Bauwerke auf und prangert zugleich deren Zerstörung an.
Er bezeichnet das architektonische Erbe als ,Mark der Heimat‘, über
das sich die Verbindung zu den Ahnen konstituiert. Somit entwirft er
bereits eine historisch begründete Identität. Petrarca formuliert seinen
Aufruf zum Erhalt auf der Basis einer kulturellen Verpflichtung, die
sich bereits mit Pietät bezeichnen ließe, einem Begriff, der schließlich
um 1900 eine größere Rolle spielen wird.
Mit dem Aufbruch in die nova aetas geht die künstlerische
Orientierung an der aetas antiquas einher. Dabei wird den Bauwerken
der Antike nun erstmals wissenschaftliches Interesse gewidmet. Rom
entwickelt sich zu einer Pilgerstätte der Künstler, die anreisen um die
antiken Werke in Augenschein zu nehmen und sich an ihnen zu
schulen, wie es der Architekt Filippo Brunelleschi und der Bildhauer
Donatello tun, die um 1402 gemeinsam Rom besuchen um unter den
ersten eine Vielzahl antiker Bauten zu vermessen und zu skizzieren.236
Ein halbes Jahrhundert darauf wird unter Papst Nikolaus V. (1447–
1455) der universal talentierte Leon Battista Alberti zum conservator
urbis Romae berufen. Alberti befasst sich eingehend mit den alten
Bauten, indem er ihre Maße bestimmt und sie als architektonische
Vorbilder für die Gegenwart heranzieht.237 Dabei betont er sogar, „daß
ein ehrwürdiges Alter den Tempeln kein geringeres Ansehen verleiht
als Schmuck und Würde.“238 Sein zwischen 1443–1452 entstandener
Traktat De Re Aedificatoria beinhaltet im zehnten Buch die erste
schriftliche Auseinandersetzung mit dem Erhalt von Bauwerken.
Betrübt verzeichnet er die Zerstörung antiker Tempel und Theater, die
er als „Tatzeugen der Vergangenheit“ begreift und kritisiert deren
Substitution durch die „wahnwitzigen Albernheiten“239 der Gegenwart.
Indem Alberti ein Gebäude als einen Körper betrachtet, „der wie
andere Körper aus Linien und Materie besteht“240, unterscheidet er,
wie auch Vitruv, zwischen der Gestalt und der materiellen Substanz,
die beide in ihrem Zusammenspiel das Bauwerk ergeben. Allerdings
berührt er bei seiner Auseinandersetzung mit dem Erhalt von Bauten
weder den von ihm beobachteten Wert des Alters, noch setzt er sich
mit stilistischen Fragen auseinander, sondern ergeht sich
ausschließlich in praktischen Überlegungen, die der Reparatur von
fehlerhaften und beschädigten Bauten sowie der ästhetischen
Optimierung von Bauteilen gewidmet sind.
Während sich das Interesse der Humanisten auf antike Bauwerke
konzentriert, offenbaren Leonardo da Vinci und Donato Bramante
angesichts der zu vollendenden Vierung des 1386 begonnenen
Mailänder Domes Überlegungen, die bereits ein weiteres historisches
Bewusstsein aufweisen. Ähnlich wie Alberti, der am Ende des neunten
Buches seines Traktats empfiehlt, sich bei
generationsüberschreitenden Bauprojekten am ursprünglichen Plan
des Bauwerks zu orientieren, den der zeichnende Architekt wohl
durchdacht habe, geht Leonardo da Vinci in seinen Betrachtungen zur
Vervollkommnung des Bauwerks davon aus, wie sich die „Erfindung
des ersten Architekten des Domes […] in dem begonnenen Bau
bestätigt“241 und gleicht seinen Entwurf in Symmetrie, Beziehung und
Konformität daran an. Auch der richtungsweisende Architekt der
Hochrenaissance, Donato Bramante, betont in seinem um 1489
erstellten Gutachten die einzuhaltende conformità mit dem gotischen
Bau.242 Die Neuartigkeit dieser Idee verdeutlicht sich in Anbetracht
der Angleichungen an den Zeitgeschmack, der die mittelalterlichen
Bauten während ihrer oftmals langen Entstehungszeiten in den
meisten Fällen unterworfen waren.243
Um 1515 wendet sich Raffael in einem Brief an Papst Leo X., worin
er sich zu den antiken Bauwerken Roms, deren beklagenswertem
Erhaltungszustand und der Notwendigkeit ihres Schutzes äußert.244
Raffael erwähnt gleich zu Eingang seine intensive Beschäftigung mit
den Gebäuden, die er vermisst, um in päpstlichem Auftrag die antike
Stadt zu zeichnen und betont, dass es gerade die Betrachtung der
realen Objekte sei, die die Glaubwürdigkeit schriftlicher Quellen
sicherstellt. Durch den Vergleich seiner Beobachtungen mit den
Texten habe er sein Wissen über antike Architektur erlangt.245 Was
heute selbstverständlich anmutet, stellt zu Beginn des 16.
Jahrhunderts allerdings eine neue Art der Auseinandersetzung mit
historischer Architektur dar. Zwar nähern sich die humanistische
philologische Archäologie und die durch die Architekten betriebene
visuelle Analyse der antiken Bauten während des 15. Jahrhunderts
gegenseitig an, Vorrang gebührt jedoch weiterhin dem Wort.246
Demgegenüber sieht Raffael die schriftlichen Quellen allerdings erst in
der Tatsächlichkeit der Monumente bestätigt. Dem antiken Bauwerk
liegt nach seiner Betrachtung ein unumstößliches Zeugnis inne, dessen
Wahrheitsgehalt außer Zweifel steht.
Die Anerkennung dieser Aussagekraft der Relikte wird von Leo X.
offenbar geteilt, was Raffaels weiteren Worten zu entnehmen ist:
Eure Heiligkeit hat mir befohlen, das antike Rom zu zeichnen, soviel man heute davon
nach dem, was man noch sieht, wissen kann. Auf der Zeichnung werde ich diejenigen
Gebäude rekonstruieren, welche genug Überreste aufweisen, dass sie durch richtige
Schlussfolgerungen zuverlässig in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden
können, indem man jene Glieder, die gänzlich zerstört und unsichtbar geworden sind,
denen entsprechend gestaltet, die noch aufrecht stehen.247
Als Beweggrund für sein Handeln nennt Raffael ein Gefühl der
Verpflichtung, die ewige Stadt zumindest anhand eines Bildes zu
überliefern. Diese Verpflichtung vergleicht er mit der „Pietät den
Eltern und dem Vaterlande gegenüber“248, womit er sie als
unveräußerlich charakterisiert. Erstmalig wird hier die Möglichkeit
einer wahrheitsgetreuen Rekonstruktion reflektiert und bedingt ,durch
richtige Schlussfolgerungen‘ auch als umsetzbar betrachtet.249 Raffaels
Plan einer Roma instauranda, der nun die Wiederherstellung von
Roms zerstörten antiken Bauten vorsah, erfährt jedoch keinen Erfolg
und bleibt Idee.250
Anhand zahlreicher Beispiele offenbart sich allerdings auch die
Schwierigkeit, die Architektur der Antike unabhängig von
zeitgenössischen Prinzipien zu erfassen. So auch in der ersten
umfassenden Publikation zur antiken Architektur, Il terzo libro nel
qual si figurano, e descrivono le antiquita di Roma, die 1540 von
Sebastiano Serlio abgeschlossen wurde. Die von ihm darin
ausgeführten Rekonstruktionsvorschläge weisen einige freie
Erfindungen auf, die im Widerspruch zu den noch vorhandenen
Relikten stehen und den architektonischen Idealen der Renaissance
geschuldet sind, die von ihm retrospektiv in die antike Architektur
hineininterpretiert werden.251 Zum umgekehrten Phänomen kommt
es, wenn der Tempietto di Bramante (um 1500) mehrfach Eingang in
Bücher über die Bauwerke der Antike findet, weil er wahrscheinlich als
ein Peripteros verstanden wurde.252 Der Tempietto ist jedoch nicht an
ein konkretes Werk angelehnt, sondern lediglich die zeitgenössische
Ausführung eines antiken Bautypus – übrigens die einzige, die
während der Renaissance realisiert wird. Zur Ausführung von
Rekonstruktionen antiker Architektur kommt es nicht, sie findet
lediglich auf literarischem und zeichnerischem Wege statt.253 Der
Renaissance gilt die Architektur der Antike als ein Vorbild, als
Inspiration und Beispiel, das es vermag, die zeitgenössischen
Gedanken bereichernd anzuregen, jedoch nicht als
nachzuempfindendes Ideal, dem unreflektiert zu folgen sei.
Ähnlich wie mit dem Tempietto verhält es sich mit der
zeichnerischen Rekonstruktion des Salomonischen Tempels durch den
gelehrten Jesuiten Juan Bautista Villalpando (1604). Basierend auf
Hesekiels Beschreibung des Tempels versucht Villalpando, dessen
Übereinstimmung mit der vitruvianischen Architekturlehre
nachzuweisen. Dabei erschafft er ein komplexes hypothetisches
Gebilde, das er in 15 Abbildungen darstellt und beschreibt.
Interessanterweise hat diese freie Rekonstruktion erheblichen Einfluss
auf die Monumentalarchitektur des Barock.254 Eine durch die
Architektur des späten 16. Jahrhunderts geprägte Vorstellung der
Antike wird somit zu einem Orientierungspunkt der Architektur des
17. Jahrhunderts. Auch andere Autoren, die sich der ursprünglichen
Gestalt des Tempels widmen, präsentieren diesen, beeinflusst durch
die jeweilige zeitgenössische Ästhetik, in einem Gewand voller
Anklänge von der Gotik bis hin zum Klassizismus.255 Die theoretische
Rekonstruktion von Bauwerken bleibt dabei dem zeitgenössischen
Verständnis von Architektur unterworfen.256
Die Vermittlung antiker Architektur erfolgt noch vorrangig durch
Bilder, aber die Zahl der Reiselustigen, die die Bauten auf der Grand
Tour direkt in Augenschein nehmen können, nimmt zu. Mitte des 18.
Jahrhunderts stellt der Kunstliebhaber Anne Claude Philippe de
Tubières Graf von Caylus im Hinblick auf die Methode der Rezeption
von Architektur durch Abbildungen fest: „les copies multipliées,
quoique destituées de cette vie et de cette âme qu’on admire dans les
originaux, ne laissent pas de répandre au loin le goût de l’antique.“257
Damit stellt er die Vermittlung durch Radierungen, von denen er selbst
zahllose anfertigte, zwar als wertvoll heraus, ordnet sie jedoch der
Betrachtung der Originalobjekte unter, womit er die für die
raumbildenden Werke der Architektur grundlegende
Rezeptionsbedingung unterstreicht.
Im gleichen Zeitraum erfährt auch der Begriff der Originalität, der
als ästhetisches Problem seit dem Ende des 17. Jahrhunderts
aufkommt, eine Vertiefung, wenn Johann Joachim Winckelmann im
Streit um die Vorherrschaft griechischer oder römischer Kunst die
Kategorien Original und Kopie reflektiert und in der Folge eine
kritische Haltung zu auf Vermutungen basierender Restaurierung
einnimmt, die das künstlerische Konzept eines Werks zu verfälschen
drohe.258 In seiner 1756 entstandenen, unvollendeten Schrift Von der
Restauration der Antiquen beschreibt er fehlerhaft ergänzte
Skulpturen als beinahe groteske Werke unfähiger Restauratoren und
prangert die Schäden an, die sich aus der unreflektierten Rezeption
dieser Werke ergäben.259 Winckelmann wird sich des Verlustes an
Wissen und Kunstwerken bewusst, der aus dem fehlerhaften Umgang
mit historischen Werken hervorgeht. Er befasst sich vorrangig mit
Skulptur, die Tragweite seiner Überlegungen geht jedoch darüber
hinaus. Er sieht die gleichen Missstände auch in der Architektur, wenn
er dem bereits in der Antike restaurierten Tempel des Saturn auf dem
Forum Romanum bescheinigt, dieser sei „aus einem anderen Gebäude
gebauet worden, welchen man ohne Verstand zusammengesetzet hat.“
260 In diesem Kontext der Betrachtung restaurierter antiker
In Nietzsches Reflexionen über die Art und Weise der Einbindung von
Geschichte in die Gegenwart spiegelt sich die Erkenntnis vom Ende
der Tradition wider, die wir bereits anhand Ruskins und Morris’
Dilemma sich abzeichnen sahen. Tradition als den Rahmen der
Gegenwart gestaltendes Fortwirken der Vergangenheit wird durch eine
aus der Gegenwart heraus betriebene kognitive Bewertung und
Selektion der Vergangenheit verdrängt. Der Soziologe Heiner Treinen
spricht in diesem Zusammenhang von ,historischem Bewußtsein‘, also
der Reflexion von Geschichte, die eine Grundbedingung des heutigen
Begriffs vom authentischen Geschichtszeugnis darstellt.357 Die
Konsequenz der geistigen Reflexion kultureller Wandlungsvorgänge
resultiert in der „Überführung instrumentaler Kulturobjekte in
expressive, also der wissensbezogenen Loslösung von Objekten aus
ihren traditionalen Nutzungen.“358 Erst dadurch kann ihnen der Status
eines Originals oder der Echtheit qualifizierend zugeschrieben werden.
Die Bauwerke der Vergangenheit waren im heutigen Sinne folglich so
lange authentisch, bis sie historisch wurden. Erst damit stellte sich die
Frage nach ihrer Authentizität, erst dann konnte sie sich stellen –
allerdings mit einer gewissen Vergeblichkeit, wie auch in den
Gedanken des Historikers und Geographen David Lowenthal zu Sinn
und Zweck von Erhaltungsmaßnahmen zum Ausdruck kommt:
„preservation itself reveals that permanence is an illusion. The more
we save, the more aware we become that such remains are continually
altered and reinterpreted.“359
Um die Jahrhundertwende kommt es in Deutschland zu
wegweisenden Debatten um den Umgang mit historischen Bauwerken,
sowie zur Verabschiedung mehrerer Denkmalschutzgesetze.360 Auch
bietet der seit 1900 jährlich stattfindende Tag für Denkmalpflege eine
Plattform für den Austausch zwischen den deutschen Ländern.361 Die
bereits 1899 gegründete Zeitschrift Die Denkmalpflege stellt ein
wichtiges Organ zur Vermittlung und Popularisierung der Disziplin
dar.362 Zu ihrem wesentlichen Beitrag zählt auch die Vermittlung der
sich in den anderen europäischen Ländern vollziehenden, teils als
vorbildhaft betrachteten Diskurse.363 Ruskins Werk wird nun in
größerem Umfang auch in deutscher Sprache publiziert.364
In Zusammenhang mit diesen Ereignissen steht ein
Paradigmenwechsel, der sich im Umgang mit dem architektonischen
Erbe vollzieht und für den beispielhaft der denkwürdige Disput um das
Heidelberger Schloss steht.365 Die sich im Schlagabtausch zwischen
den Rekonstruktions- und Konservierungsbefürwortern offenbarenden
Argumentationslinien geben grundlegende Begriffsvorläufer des
Authentischen wieder.366 So leistet der Historiker Georg Dehio
ästhetischen Argumenten keinen Vorschub mehr und hebt Objektivität
hervor.367 Bereits 1885 sprach sich der Berliner Oberbaudirektor Paul
Emanuel Spieker unter der Prämisse der Pietät für das Vermeiden des
Einbringens „moderner Schönheitsvorstellungen“ zugunsten der
„Rücksichtnahme auf den geschichtlichen Bestand“368 aus. Noch
einmal zehn Jahre zuvor hatte Friedrich Nietzsche in seiner kritischen
Stellungnahme zur Geschichtswissenschaft Pietät als „das Bestehende
mit behutsamer Hand“369 zu pflegen bezeichnet, und damit als
notwendige Voraussetzung der Inanspruchnahme von Geschichte
beschrieben. Pietät ist nun auch ein von Dehio immer wieder in
Anspruch genommener Begriff, der keinerlei ästhetischer
Voraussetzungen bedarf und zugleich Objektivität und Hingabe
suggeriert.370 Diese Hingabe, die auch schon Petrarca als eine Pflicht
formuliert hatte, entwickelt sich nun mehr und mehr zu einem
moralischen Grundsatz. In diesem Sinne bezeichnet auch Max Dvořák
seine konservatorischen Forderungen als „Pietät für den überlieferten
Denkmalbesitz und dessen möglichst unverminderte Erhaltung in der
alten Umgebung, Form und Erscheinung“371, und Paul Tornow,
Dombaumeister des Bistums Metz, spricht von einer „tiefwurzelnden
Pietät“372, die eine seiner 1900 aufgestellten Grundregeln und
Grundsätze beim Wiederherstellen von Baudenkmälern ausmacht.
Pietät begreift er als Garant, subjektiven Entscheidungen
zuvorzukommen und allen historischen Werken ungeachtet ihrer
künstlerischen Qualität die gleiche Fürsorge zuteil werden zu lassen.
Mit wissenschaftlichem Interesse hebt er den dokumentarischen Wert
der Baudenkmale hervor, indem er fordert, dass jegliche Maßnahmen
so zu unternehmen seien, dass „die ursprüngliche Erscheinung des
Werkes und dessen eigenartiges Gepräge in seinem ganzen Umfange
erhalten bleibt“, des weiteren sei alles zu unterlassen, was dazu diene,
„die für seine Baugeschichte den Werth von Urkunden besitzenden
Anhaltspunkte zu verwischen.“373
Neben Pietät steht besonders der Begriff der Wahrheit in seinen
verschiedenen Facetten im Vordergrund. So stellt Dehio in Bezug auf
das Heidelberger Schloss das ,unverkürzt Überlieferte‘, ,Echte‘ dem
,Willkürlichen‘ gegenüber und bezieht sich damit auf einen
geschichtswissenschaftlichen Wahrheitsbegriff, dem er Vorrang vor
allen ästhetischen Überlegungen einräumt.374 Das Wahre beginnt sich
als ein grundlegender Parameter in Abgrenzung zu künstlerischer
Nachahmung und historischer Korrektur zu manifestieren, indem die
Ruine als Dokument betrachtet wird, das unverfälscht seine eigene
Geschichte wiedergibt. Sie verkörpert einen Text, der zwar lediglich
fragmentarisch erhalten, in diesen Fragmenten aber – im
textkritischen Sinne – authentisch ist. Schäfers fehlerhafter
Rekonstruktionsentwurf und die politische Vereinnahmung des
Vorhabens versinnbildlichen die künstlerische, politische und
historische Unterminierung dieses Wahrheitsbegriffs.375 Allerdings
wird Wahrheit auch für die Rekonstruktion reklamiert, die in der
Ansicht Bodo Ebhartds, des späteren Präsidenten der Deutschen
Burgenvereinigung, „wahre und große Kunst“376 sein könne. Der
Berliner Stadtbauinspektor Otto Stiehl hinterfragt darüber hinaus die
Gültigkeit des Begriffs, wenn er keine Abstriche in einer
Rekonstruktion erkennt: „eine Fälschung eines ›kunstgeschichtlichen
Dokuments‹ steht ja überhaupt nicht in Frage.“377 „In Wirklichkeit ist
fast jede Kunstform kraft historischer Entwicklung eine Täuschung […]
was in der Kunst wahr ist entzieht sich der wissenschaftlichen
Feststellung“378, womit er seinen Kontrahenten begegnet, die zuvor
von „Selbsttäuschung und Fälschung“379, von „Lüge, für unabsehbare
Zeit in Stein verewigt“380 und „Imitationskunst“381 sprachen. Das
Heidelberger Schloss steht symbolisch für die Abwendung der
Denkmalpflege von jeglichem Historismus, mit dem sie um ihrer
eigenen Legitimation Willen brechen musste.382 Die Stimmen, die den
Historismus für obsolet erklären und an seiner Statt „selbständige
Werke“383 fordern, die „aus dem Geist unserer Zeit heraus“384
entstehen, werden lauter.385 Dennoch ist es gerade die theoretische
Auseinandersetzung mit den Fragen der Denkmalpflege, die zu dieser
Zeit von überragender Bedeutung für die Entwicklung der Disziplin.
Der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl veröffentlicht 1903 eine
Systematik der Denkmalwerte, deren Nutzen insbesondere darin
besteht, dass die in ihr entwickelten Begriffe der „Bestimmung der
gesellschaftlichen Beziehung zum Denkmal“386 dienen. Riegl hält fest,
dass es „keinen absoluten, sondern bloß einen relativen, modernen
Kunstwert“387 gibt. Ein objektives Kunstideal ist somit hinfällig, die
kanonische Klassifizierung der Kunstwerke arbiträr und zeitgebunden.
Er kommt zu dem Schluss, die Bezeichnung Denkmale könne „nicht in
objektivem, sondern bloß in subjektivem Sinne gemeint sein: nicht den
Werken selbst kraft ihrer ursprünglichen Bestimmung kommt Sinn
und Bedeutung von Denkmalen zu, sondern wir modernen Subjekte
sind es, die ihnen dieselben unterlegen.“388 Was Riegl übersieht, ist,
dass die aus der Rezeption der Denkmale erfolgende
Wertzuschreibung, die aufgrund bestimmter Eigenschaften des
Objekts erfolgt, die zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen
Akteuren als unterschiedlich bedeutend erachtet werden, selbst ein
historischer Prozess ist. Sie wird zwar in der Gegenwart vollzogen,
findet aber stets, zu jeder Gegenwart, statt. Auch wenn der Wert dabei
immer neu ausgehandelt wird, darf nicht außer Acht gelassen werden,
dass die einstige Bedeutung eines Werkes unabhängig von dessen
gegenwärtiger Wertzuschreibung ist. Sie kann zwar historiographisch
umgeschrieben, jedoch nicht retroaktiv verändert werden.
Grundbedingung dafür ist die Unterscheidung zwischen Geschichte
und Geschichtsschreibung, die Akzeptanz, dass erstere ein singulärer
Vorgang ist, der sich unabhängig von der Genauigkeit unserer
Kenntnis über ihn vollzieht, zweitere lediglich eine Interpretation
dieser Kenntnisse darstellt. Nur so können Denkmale tatsächlich eine
historische Bedeutung haben, die für Dehio in deren Anteil am
„nationalen Dasein“389, also an der zwar national beschränkten, aber
untrennbar mit der Gegenwart verbundenen Vergangenheit besteht.
Die nationale Beschränkung besitzt für Riegl keine Gültigkeit mehr, er
negiert sie ebenso wie das Vorhandensein objektiver stilistischer
Kriterien – ein wegweisender Schritt in Richtung Welterbe. Allerdings
geht es Riegl vorrangig um etwas ganz anderes:
Die sich spätestens seit Ruskin als bedeutendes Element eines
Baudenkmals herauskristallisierte Qualität des Alters wird durch Riegl
in eine zentrale Position gebracht, indem er sie als Alterswert
gemeinsam mit dem historischen Wert, jedoch Priorität vor diesem
genießend, die Erinnerungswerte konstituieren lässt. Was Riegl
herausstellt ist nun allerdings nicht mehr die durch das Alter
geschlagene Brücke zur Vergangenheit, sondern einzig die seitdem
vergangene Zeitspanne, das Vergehen an sich und dessen subjektive
Erfahrbarkeit. Dem Alterswert liegt dabei ein ästhetischemotionales
Prinzip zugrunde, das auf der Verflechtung des kulturellen Werdens
mit dem natürlichen Vergehen beruht.390 Er steht somit in
dialektischer Spannung sowohl zum Neuheitswert, der sich auf die
Makellosigkeit des Erscheinungsbildes bezieht, als auch zum
Gebrauchswert, der das Vorhandensein einer für die Gegenwart
relevanten Funktion bezeichnet. Erstaunlich ist, worin für Riegl ein
bedeutender Sinn der Denkmale liegt. Indem der historische Wert für
ihn nur zweitrangige Bedeutung hinter dem Alterswert besitzt, löst er
die Bauwerke aus ihren historischen Zusammenhängen. Die
Bedeutung einer subjektiv-emotionalen Rezeption steht für ihn ganz
im Zeichen einer transzendentalen Erfahrung, die in der „Vorstellung
des gesetzlichen Kreislaufes vom Werden und Vergehen“391 besteht. Es
geht somit nicht um das Problem des Erhalts von Denkmalen als
Zeugnisse der Geschichte oder der Kunst, sondern um deren Potential,
dem entfremdeten modernen Subjekt eine Rückbindung an eine
höhere Wahrheit zu ermöglichen und somit eine authentische religiöse
Erfahrung zu machen. Norbert Huse unterstreicht, dass Riegl den
Denkmalbegriff letztendlich aufweicht, indem er ihn zwar allen
Objekten gegenüber öffnet, seinen Sinngehalt allerdings
homogenisiert, der nun auf die „tiefsinnige Trivialität“392 einer
Vanitaserfahrung hinausläuft. Gerade in diesem Punkt ist Riegls Text
hochaktuell. Was er wegweisend vorwegnimmt, ist die
spätkapitalistische Apotheose des Erlebniswertes, der gegen Ende des
20. Jahrhunderts untrennbar mit dem Begriff der Authentizität
verbunden sein wird, das mit dem Genuss von Kunstobjekten
assoziierte Versprechen einer wie auch immer gearteten authentischen
Erfahrung.
Dehio hingegen sieht die Wahrhaftigkeit der Denkmale in ihrem
„an materielle Substrate“393 gebundenen geistigen Gehalt. Er grenzt
rückblickend auf das 19. Jahrhundert die Denkmalpflege von der
Restaurierung ab und fasst beider Grundprinzipien mit den Begriffen
der Wirklichkeit und der Fiktion zusammen.394 Die Wirklichkeit der
Denkmale bleibe, auch wenn sie verringert sei, durch Nichteingriff
oder lediglich konservatorische Maßnahmen stets Wirklichkeit. Dehio
erkennt dabei an, dass die Rezeption der Bauwerke subjektiv und
epochenabhängig ist, allerdings sei die überzeitliche Wertschätzung
von Kunstwerken durch eine aus geschichtswissenschaftlicher
Leistung resultierende Sensibilisierung des historischen Sinns zu
bewerkstelligen.395 Aus Restaurierungen hingegen gehen Täuschungen
hervor, die lediglich „Illustrationen zum dermaligen archäologischen
Wissen“396 darstellen. Dabei beruft er sich auf die Erfahrung, dass
bislang keine Restaurierung den ihr zugrunde liegenden Zeitgeist mehr
als zwei Jahrzehnte zu verbergen imstande war.
Anhand der Argumente wird bereits ersichtlich, dass weder eine
essentialistische noch eine relativistische Perspektive
Wahrheitsanspruch erheben können.397 Weder ist den historischen
Bauwerken eine abgeschlossene, determinierte und lediglich aus den
Umständen ihrer Entstehung heraus verständliche Bedeutung zu
eigen, noch sind sie bloße Projektionsflächen gegenwärtiger
Auslegungen der Vergangenheit. Als Manifestationen von Geschichte
sind sie zwar Träger konkreter historischer Informationen, gleichzeitig
sind sie als historische Objekte jedoch auch ein Teil der Gegenwart und
der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Wie
auch Menschen und Gesellschaften nicht statisch, sondern in stetem
Wandel begriffen sind, sind historische Bauwerke weder fertig noch
unfertig, vielmehr ist ihr Wesen aufgrund ihrer Vergänglichkeit, der
sich verändernden Rezeptionsbedingungen und der sich an ihnen
vollziehenden, kulturbildenden Interaktion, die sowohl Rückschlüsse
aus dem Werk als auch Eingriffe in dieses umfasst, als ein
dynamisches, sich unablässig in unsteter Vollendung Befindendes, zu
betrachten. Ein der Denkmalpflege grundlegendes Paradigma wird
diesem Umstand Rechnung tragen müssen, wird gleichsam sowohl
dem historischen Dokument als auch dessen Verflechtung mit der
Gegenwart verpflichtet sein müssen. Bevor es gut ein halbes
Jahrhundert später mit dem Begriff der Authentizität bezeichnet wird,
werden die Ereignisse des 20. Jahrhunderts den hier skizzierten
Diskurs jedoch mit aller Gewalt erschüttern.
sie hat gezeigt, dass es die gesuchten universal gültigen Kriterien für
den Umgang mit architektonischem Erbe kaum geben kann, sondern
diese immer im Hinblick auf den kulturellen Kontext der Objekte zu
ermitteln sind. Ihre Bedeutung ist daher in dem Anstoß zu sehen, den
sie gab, um erstmalig die Welterbekriterien auf internationaler Ebene
und unter Berücksichtigung regionaler Aspekte zu überprüfen sowie
eine große Bandbreite unterschiedlicher Gedanken zum Thema
Authentizität und Kulturerbe zur Verfügung zu stellen.
Das konkludierende Nara-Dokument wurde von Herb Stovel und
Raymond Lemaire, der bereits die Charta von Venedig mitverfasste,
redigiert. Es hebt die Bedeutung der Authentizität als „essential
qualifying factor concerning values“601 für das Welterbe hervor. Dabei
bezieht es Authentizität – trotz der Hervorhebung des Bezugs auf die
Charta von Venedig – dezidiert nicht mehr auf die Denkmale als
Geschichtszeugnisse, sondern auf das kollektive Gedächtnis der
Menschheit.602 Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Betonung
der kulturellen Vielfalt des Erbes. Es wird unterstrichen, dass alle
Kulturen und Gesellschaften über eigene Werte und deren
Ausdrucksmöglichkeiten verfügen. Diese Diversität gelte es auch im
Hinblick auf ein gemeinsames Welterbe mit regionalen Objekten von
globaler Bedeutung zu respektieren.603 In Anbetracht dessen kommt
es zu der Schlussfolgerung, dass es nicht möglich sei „to base
judgements of value and authenticity on fixed criteria.“604 Im Anhang
zum Nara-Dokument wird darüber hinaus vermerkt, dass es die
kulturelle Diversität sowie die Vielfalt des Erbes sogar verlangen, fixe
Formeln und Standardisierungen zu vermeiden, deren Intention es ist,
Authentizität zu definieren oder zu beurteilen.605 Daher wird die
Evaluierung der Authentizität von Kulturerbe als abhängig von einer
großen Bandbreite an Informationsquellen betrachtet, zu denen
lediglich Vorschläge gemacht werden, ohne dabei die Bedeutung
einzelner Kriterien hervorzuheben: „Aspects of the sources may
include form and design, materials and substance, use and function,
traditions and techniques, location and setting, and spirit and feeling,
and other internal and external factors. The use of these sources
permits elaboration of the specific artistic, historic, social, and
scientific dimensions of the cultural heritage being examined.“606
Aussagen darüber, wie diese Aspekte zu analysieren sind, inwiefern
die Evaluierung im lokalen kulturellen Kontext mit einer globalen
Bedeutung des Welterbes vereinbar sind, sowie die Frage, was unter
der Authentizität kulturellen Erbes – also historisch tradierter Objekte
– überhaupt verstanden werden kann, finden sich jedoch nicht.
Bemerkenswerterweise weicht die ebenfalls offizielle französische
Fassung in einem wichtigen Punkt von der englischen ab. Anstatt sich
wie die englische Version nicht auf die Kriterien festzulegen („may
include“, „other internal and external factors“), führt sie explizit
(„comprennent“) die Berücksichtigung der Aspekte auf und fügt diesen
den wichtigen Zusatz, „état original et devenir historique“607, hinzu.
Unterstreicht der Relativismus des Nara-Dokument einerseits dessen
Bedeutung, macht er es andererseits auch etwas hinfällig. „Ging es um
Authentizität der Gestalt und des Entwurfs, des Materials und der
Substanz, der Tradition und Technik, des Gebrauchs und der Funktion
des Ortes und des Kontextes oder des Geistes und des Gefühls?“608
fragt der Denkmalpfleger Leo Schmidt angesichts des drohenden
Verlusts des Überblicks über ein im Zuge der versuchten Klärung
immer unverständlicher werdendes Kriterium. Die Beiträge der
Tagungsteilnehmer verdeutlichen eine zunehmend von
übergeordneten, westlichen Standpunkten sich lösende und auf
regionale Gegebenheiten eingehende Tendenz, den Denkmalbegriff zu
fassen und Denkmale zu evaluieren. Dabei kann festgehalten werden,
dass die Tagung wahrscheinlich bedeutender für die Erörterung eines
postmodernen Kulturerbebegriffs ist, als für die Untersuchung des
Begriffs der Authentizität. Sie führt die Bedeutung der
Regionalisierung und kulturellen Diversifizierung von
Denkmalkonzepten vor Augen und zeigt, dass der Suche nach einem
universell zu verbürgenden Authentizitätskriterium kaum Sinn
beschieden ist. Daraus entspringt aller Wahrscheinlichkeit nach auch
die Ambiguität des Nara-Dokuments.
In der Folge der durch die Nara-Konferenz gegebenen Anregungen
kommt es zu einer Fülle von Beiträgen, die sich des
Authentizitätsbegriffs annehmen. Ein großer Teil davon nutzt
allerdings lediglich dessen Aktualität, nimmt ihn als Interesse
gewährendes Schlagwort in Gebrauch, wiederholt, vermischt oder
missversteht einzelne Aspekte der Problematik. Herb Stovel erwähnt
eine durchaus nachvollziehbare Langeweile, die sich dabei in die
Diskussionen um die Bedeutung der Authentizität einschleicht.609 Drei
Jahre nach Nara wird die Stichhaltigkeit des Authentizitätskriteriums
innerhalb des Welterbekomitees erstmalig in Frage gestellt.610 Dabei
wird in einer Resolution von griechischer Seite angeregt, „to re-
examine the criteria concerning the inscription of cultural heritage and
notably criterion (i) as well as that of authenticity.“611 Im Folgejahr
benennt Koichiro Matsuura, der Vorsitzende der Jahresversammlung
des Welterbekomitees, Authentizität als eines der drei Hauptprobleme
des Welterbekonzeptes.612 Auch die griechische Delegation äußert sich
in einer Erklärung erneut zu der Problematik. Dabei unterstreicht sie
deutlich die semantische Unbestimmtheit des Begriffs sowie dessen
mangelnde Anwendbarkeit als konkretes Kriterium: „l’authenticité est
une notion complexe et l’emploi du mot ,authenticité‘, non assorti
d’une spécification appropriée, est vide de toute signification valable.
Aucun monument ancien n’est ,authentique‘ dans le sens absolu et
complet du terme.“ In der Erklärung wird weiterhin auf die Gefahr
hingewiesen, die von dem zwar grundlegenden, dennoch ungeklärten
Ernennungskriterium ausgeht: „Une vaste réflexion sur le thème
prenant en compte des différences et les nuances des cultures
permettra de clarifier bientôt une notion aujourd’hui utilisée, mais
marquée par une ambiguïté qui ne peut être que défavorable à une
bonne politique de sauvegarde.“613 Neben der griechischen Delegation
bezweifeln nun auch andere Seiten die Prämisse der Authentizität in
ihrem Sinngehalt. So findet im gleichen Jahr ein Expertentreffen in
Amsterdam statt, das unter anderem zur Aufgabe hat, „to review the
criteria and the conditions of authenticity.“614 Daraus geht eine
Empfehlung an das Welterbekomitee hervor, die Kriterien für das
Natur- und Kulturerbe zu vereinheitlichen, sowie auf den
Authentizitätsbegriff zugunsten von Integrität zu verzichten.615
Unverständlich erscheint in dieser Hinsicht, dass das Nara-Dokument
trotz mehrerer Anregungen von vorrangig japanischer Seite, dieses zu
berücksichtigen, durch ICOMOS erst 1999 als Referenztext anerkannt
und den Welterberichtlinien schließlich als Anhang beigefügt wird.616
Dabei bleibt der zu diesem Zeitpunkt bereits als gänzlich überholt zu
betrachtende test of authenticity weiterhin bestehen und wird erst
2005 gestrichen. Er wird durch Ausführungen zur Authentizität, die an
das Nara-Dokument angelehnt sind, sowie eine knappe Bibliographie
zum Thema ersetzt.617
Auf regionaler Ebene gibt die Nara-Konferenz allerdings einen
entscheidenden Impuls zu weiteren theoretischen
Auseinandersetzungen, um die kulturellen Aspekte jeweils genauer
erörtern zu können – auch wenn praktische Umsetzungen davon kaum
beeinflusst werden. In diesem Zusammenhang finden Treffen statt: im
Oktober 1995 in Český Krumlov für den Europäischen Kontext, im
März 1996 in San Antonio (Texas) für die Amerikanischen Staaten und
2000 in Groß Simbabwe (Simbabwe) für den Afrikanischen Raum
sowie in Riga (Lettland) für Osteuropa.618 Im Mai 2007 wird in Peking
ein Symposium für Ostasien veranstaltet.619 Dabei werden jeweils
regionalspezifische Probleme erörtert und weitere Chartas aufgestellt,
beispielsweise die 1996 aus dem Interamerican Symposium on
Authenticity in the Conservation and Management of the Cultural
Heritage of the Americas620 hervorgegangene Declaration of San
Antonio, die sich als Weiterentwicklung und lokale Präzisierung des
Nara-Dokuments versteht.621 Sie betrachtet Authentizität im Hinblick
auf sieben Aspekte: identity, history, materials, social value, dynamic
and static sites, stewardship sowie economics, die jeweils in wenigen
Zeilen erläutert sind.622
Dabei wird unter identity kulturelle Identität verstanden, und
darauf hingewiesen, dass sich diese im Falle der amerikanischen
Staaten vom Rest der Welt unterscheide, „because of their unique
development and influences“623, sie andererseits aber keine
homogenen nationalen Identitäten aufweisen können. Daher müssen
die Wertesysteme der betreffenden Kulturen hierarchielose Beachtung
finden. Gleiches gelte auch für die history, damit diese nicht für die
Zwecke bestimmter Gruppen zu Ungunsten anderer missbraucht
werden könne. Unter materials wird „design, materials, manufacture,
location and context“624 verstanden, diese Aufschlüsselung jedoch
nicht weiter ausgeführt. Ausschließlich historisches Material wird als
authentisch betrachtet, „interpretations achieved through restoration“
können allerdings „authentically represent the meaning of a site as
understood in a given moment.“625 Auf diese hochinteressante
Unterscheidung zwischen authentisch und authentisch repräsentieren
wird in der Declaration leider nicht weiter eingegangen, sie verdient es
jedoch an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen zu werden (Kapitel
I.3.3). Des Weiteren wird gefordert, leicht vergängliche und notwendig
zu ersetzende Materialien mittels traditioneller Techniken zu erstellen.
Bedeutend ist die Aufführung des Bezugs von Authentizität zu social
value, der bis dahin stets zu wenig Beachtung fand und nun eine
Anerkennung erfährt. Er wird mit der spirituellen Bedeutung eines
Objekts sowie der Bewahrung von Erinnerung in Verbindung gebracht.
Dabei wird auf den Konflikt zwischen traditionellen Kulturen und
deren zunehmender Orientierung an westlich-kommerziellen Werten
hingewiesen. Dynamic and static sites ist analog zu lebenden und
toten Denkmalen zu verstehen. Während die im Zuge von
Erhaltungsmaßnahmen mit sich eintretenden Veränderungen bei
dynamic sites durchaus positiv bewertet werden können, sei dem
Erhalt der materiellen Substanz von static sites höchste Priorität
einzuräumen, da diese nicht mehr im Kontext einer lebendigen
Tradition stehen und nun ausschließlich durch intensive
Forschungsarbeit verstanden werden können, die sich auf verlässliche
Fundamente stützen muss. Der Bezug von Authentizität zu
stewardship bleibt offen, es wird lediglich auf das notwendige
Verständnis für den Wert eines Objekts hingewiesen. Unter economics
wird in erster Linie auf die Bedrohung durch Tourismus, der häufig zu
Rekonstruktionen motiviere, eingegangen und die Bedeutung der
Schaffung eines regionalen Bewusstseins für die kulturellen
Reichtümer einer Region unterstrichen. Damit stellen die beiden
letzten Punkte eigentlich keinen direkten Bezug zu Authentizität her,
dienen jedoch als Anregung zu der Überlegung, aus welchem
kulturellen Blickpunkt ihre Evaluation erfolgen solle.
Die Declaration of San Antonio enthält weiterhin Empfehlungen
zum Umgang mit kulturellem Erbe, die mögliche Indikatoren als
„proofs of authenticity“626 aufführen: reflection of the true value,
integrity, context, identity sowie use and function. Seltsamerweise
unterscheiden sich diese von den zuvor mit Authentizität in
Verbindung gebrachten Aspekten. Weiterhin ist der Declaration ein
Kommentar des als ,incomplete‘627 bezeichneten Nara-Dokuments
angehängt. Darin wird die Änderung von sechs Punkten des
Dokuments angeregt, wovon sich zwei direkt auf Authentizität
beziehen. So wird gefordert, das Verständnis kultureller Werte als
dynamischen Prozess aufzufassen und daher statische Kriterien zu
vermeiden, sowie den Umfang von cultural context auf die
erschaffende Kultur, die gegenwärtig besitzende Kultur und den
„broader cultural context to the extent possible“628 zu beziehen. Die
Anregungen sollten in der Folge jedoch keine Beachtung erfahren.
Insgesamt weist die Declaration of San Antonio einige über das Nara-
Dokument hinausgehende Gedanken auf, aber auch ihr ist
vorzuwerfen, dass sie kein deutliches Verständnis von Authentizität
zum Ausdruck bringt. Die Declaration lässt einen klaren Fokus
vermissen und basiert auf Kategorien, die einer unscharfen Systematik
entspringen.
Dem Expert Meeting on Authenticity and Integrity in an African
Context (2000) in Groß Simbabwe entspringt kein konkludierendes
Dokument, jedoch gehen aus ihm Empfehlungen hinsichtlich der
Welterberichtlinien hervor. In diese sollen Teile des Nara-Dokuments,
nach einer Revision derselben, inkorporiert werden.629 So wird die
Aufnahme einer „broadened definition of authenticity“630 gefordert,
die vor allem durch eine Modifikation von § 13 des Nara-Dokuments
zustande kommen soll: die der Authentizitätsevaluierung zugrunde
liegenden Informationsquellen seien um management systems,
language sowie other forms of intangible heritage zu erweitern.
Ferner werden die Informationsquellen als „all physical, written, oral
and figurative sources“ definiert, die „the nature, specificities, meaning
and history“631 des Kulturerbes verständlich machen.
Diese Ergebnisse der beiden Konferenzen verdeutlichen
exemplarisch, wie sehr das Problem der Authentizität eine beinahe
nicht mehr zu überblickende Weite angenommen hat. Der
ursprünglich als unproblematisch betrachtete Begriff, der als Garant
für die Unverfälschtheit architektonischer Objekte in die Charta von
Venedig einging, hat sich in der Breite seiner Diskussion als ein
Grundproblem hinsichtlich der Evaluation dieses Erbes als auch im
Umgang mit diesem Erbe herausgestellt. Der in einem
zentraleuropäischen Kontext auf den Denkmalbegriff der
Jahrhundertmitte bezogene Begriff erweist sich sowohl in globaler
Hinsicht als auch auf die ,neuen‘ Arten von Denkmalen bezogen, als
nur bedingt geeignet, wie die immer umfangreicher werdende Anzahl
von Aspekten, aus denen die Authentizität von Erbestätten hervorgehe,
zeigt. Auch außerhalb des Welterbekontextes hat die Verwendung des
Begriffs Authentizität stark zugenommen. Die Anzahl der
Publikationen zum Thema hat sich bereits zwischen den siebziger bis
zum Beginn der neunziger Jahre verfünffacht, stellt David Lowenthal
fest und folgert: „Over-use has in fact utterly debased the term
authenticity itself.“632 Während die genannte Verfünffachung
angesichts der wenigen Publikationen der siebziger Jahre noch kaum
ins Gewicht fällt, kommt es ab Mitte der neunziger Jahre, wohl auch in
Folge der Nara-Konferenz, zu einem wahren Boom des Themas.
Zudem findet seine Verhandlung, die sich neben den großen
Konferenzen im UNESCO-Kontext auch in zahlreichen Artikeln und
Debatten auf regionaler Ebene abspielt nun in einer Zeit statt, in der
die Rekonstruktion von historischen Bauwerken eine bislang nicht
gekannte Konjunktur erlebt. Die verstärkte Auseinandersetzung mit
und das Verlangen nach Authentizität fallen somit in eine Epoche, in
der eine neue Begeisterung für das Historische in ästhetischer und in
mythologischer Hinsicht erwacht.
In diesem Rahmen wird die Regional Conference on Authenticity
and Historical Reconstruction in Relationship to Cultural Heritage an
zweit Tagen im Oktober 2000 in Riga veranstaltet. Die aus ihr
hervorgehende Riga Charter vermerkt, dass sich internationale
Richtlinien im Wesentlichen gegen Rekonstruktion aussprechen, diese
aber im Rahmen bestimmter Bedingungen als akzeptabel einstufen.633
Weiterhin akzeptiert sie Authentizität im Sinne des Nara-Dokument
als Maß der glaubwürdigen und genauen Bezeugung der Bedeutung
diverser Aspekte des Kulturerbes, und dass die Replik kulturellen
Erbes „a misrepresentation of evidence of the past“634 darstelle. Herb
Stovel, Co-Autor sowohl des Nara-Dokument als auch der Riga
Charter, bemerkt, dass sich ihre Verabschiedung gegen eine „sudden
proliferation of ,in-authentic reconstructions‘ in the newly liberated
former Soviet Union republics“635 wende. Scheint die Riga Charter in
diesem Sinne zunächst die Rahmenbedingungen für mögliche
Rekonstruktionen scharf einzugrenzen, stellt sie letztendlich eine
Legitimation für die „reconstruction of cultural heritage, lost through
disaster, whether of natural or human origin“636 dar. Auch wenn dies
nur in Ausnahmefällen, deren Bedingungen in der Charta aufgeführt
werden, geschehen dürfe, autorisiert sie die Berechtigung von
Rekonstruktionen unter den genannten Umständen.637 Darüber
hinaus reklamiert die Riga Charter den Begriff der Authentizität für
Rekonstruktionen und verbrieft ihm somit eine vom historischen
Dokument gänzlich unabhängige Dimension.
Die schiere Anzahl an Chartas, Documents etc. erscheint nahezu
grotesk, so dass dem niederländischen Restaurierungsexperten Paul
Meurs nur zugestimmt werden kann, wenn er feststellt: „There are so
many charters on heritage conservation and heritage development,
that almost every intervention can be justified by shopping quotes and
articles.“638 Dabei ist es nicht einmal mehr notwendig, in mehreren
Chartas zu ,shoppen‘, da diese immer mehr zu Konglomeraten aus
Passagen bereits existierender Werke werden. So zitiert das 2007
verabschiedete Beijing Document on the Conservation and
Restoration of Historic Buildings in East Asia beinahe wörtlich die
Artikel 9 und 13 des Nara-Dokument, nur um vier Absätze später
Rekonstruktionen im Geiste der Riga Charter unter Hinweis auf
Wissenschaftlichkeit und Ausnahmecharakter zu legitimieren.639
Spätestens an dieser Stelle – nach Warschau, dem test of authenticity
und der Riga Charter – muss die Frage gestellt werden, was eigentlich
unauthentisches Kulturerbe ist? Der Begriff der Authentizität scheint
weder eine Klärung erfahren zu haben, noch hat seine Einführung in
diverse Grundsatzpapiere der Denkmalpflege und Kulturerbetheorie
eine scharfe Einschränkung der Bewertungskriterien mit sich
gebracht. Vielmehr ist in seiner breiten Anwendung die
Inanspruchnahme seiner legitimierenden Aura zu sehen, die möglichst
in alle Bereiche und Maßnahmen des Kulturerbes eindringen soll.
Authentizität bedient dabei die gegenwärtige Sehnsucht nach dem im
Wandel der Zeit verflüchtigten und einst als gegeben geglaubten Geist
der Dinge und reift zu einem ob seiner Unschärfe dehnund gleichzeitig
unerfüllbaren und daher stets faszinierenden neuen Wahrheitsbegriff
heran.
Abhängig von der Art des Erbes und dessen kulturellem Kontext wird
Authentizität folglich als die Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit des
ihm zugeschriebenen kulturellen Wertes verstanden. Bemerkenswert
daran ist insbesondere, dass dabei nirgendwo die historische
Dimension des Erbes im Sinne seiner materiellen Verkettung mit dem
Lauf der Geschichte mit einbezogen wird.648 Weiterhin heißt es: „In
relation to authenticity, the reconstruction of archaeological remains
or historic buildings or districts is justifiable only in exceptional
circumstances. Reconstruction is acceptable only on the basis of
complete and detailed documentation and to no extent on conjecture.“
649 Damit wird Authentizität, sogar im Wortlaut, auf die 1980 erfolgte
1.1 Objekt
Erst nach dem Besuch von Ise weiß man, was Japan ist. Es ist nicht die Versteinerung
menschlicher Ideen und Vorstellungen, des menschlichen Werkes zur erwünschten Ewigkeit
hin. Es ist ganz im Gegenteil dazu das ewig Vergängliche, das in den Generationen immer
weiter lebt. Es ist die Verfeinerung des Vorübergehenden, die Projizierung des Augenblicks
ins Universum, und nicht die Herabziehung des Universums zum schwachen Menschen, zu
seinem Werk, damit es möglichst die Jahrtausende überlebt.717
Bruno Taut, Das japanische Haus und sein Leben
Es ist nicht genau bekannt, welche Kriterien für die Wahl des
Zeitraums der Erneuerungen ausschlaggebend waren. Dieser wird
häufig mit 20 Jahren angegeben.759 Die sich daraus ergebenden
Spekulationen sind allerdings insofern unfruchtbar, da sich
nachvollziehen lässt, dass die Rekonstruktionen bis 1325 vorrangig in
Intervallen von 19 Jahren erfolgten.760 Die Wahl dieses Zeitraums
ließe sich dabei relativ schlüssig anhand der damaligen japanischen
Zeitrechnung erklären. Japans erster Kalender wurde im 6.
Jahrhundert aus Paekche (Korea) eingeführt und war ein
Lunarkalender.761 Ein solcher stimmt jedoch aufgrund seiner
Abweichung vom Sonnenumlauf der Erde nicht mit den Jahreszeiten,
die in Japan für das agrikulturell geprägte Leben maßgeblich waren,
überein. Erst nach 19 Jahren, dem so genannten Meton-Zyklus,
kommt es wieder zu einer Kongruenz von Lunarkalender und
Solarkalender. Sicherlich war ein Zeitraum von rund zwei Jahrzehnten
darüber hinaus auch gut mit der Haltbarkeit des Holzes vereinbar.
Zudem ermöglichte es das gewählte Intervall, die Handwerker der
vorhergehenden Schreinerneuerung in die aktuelle mit einzubeziehen,
wodurch die Weitergabe der Fertigungstechniken sichergestellt
werden konnte.
Für den Neubau werden 14.000 mindestens 200 Jahre alten
Bäume benötigt, die sorgfältig ausgewählt, geschlagen und nach Ise
verbracht werden.762 In letzter Zeit kommen sie aus ganz Japan, da die
Bestände der für den benötigten Holzeinschlag vorgesehenen Wälder
von Ise erst in rund einem Jahrhundert wieder regelmäßig die
erforderliche Anzahl Bäume zur Verfügung stellen können.763 Daneben
werden 25.000 Bündel Schilfgras, 3,25 kg Gold und mehrere Tausend
Helfer benötigt.764 Die gewaltige Menge des Baumaterials verdeutlicht
den Aufwand der Erneuerung, welcher in Anbetracht der relativ
geringen Größe der Bauten kaum zu ermessen ist.
An der letzten Schreinerneuerung waren 160 Handwerker beteiligt.
Diese wurden durch die Wiederaufbauorganisation des Ise Schreins
(Jingu Shikinen Zouei Cho) eingestellt, wobei 30 Handwerker zum
festen Kern gehören. Die übrigen werden nur für die achtjährige
Wiederaufbauphase angeheuert. Erstmalig wurden Handwerker aus
Gegenden außerhalb Ises hinzugezogen.765 Für die Arbeiten kommen
auch moderne Maschinen zum Einsatz. Die für den inneren Bereich
der Tempel vorgesehenen Bauteile wurden jedoch ausschließlich mit
traditionellen Werkzeugen in althergebrachter Technik bearbeitet. Die
fertiggestellten Teile werden auch heute noch behutsam in Papier
eingeschlagen und eingelagert, sie dürfen keinesfalls mit Blut in
Berührung kommen, da sie nach shintoistischer Auffassung dadurch
unrein und somit unbrauchbar würden. Der Verlauf der Arbeiten lässt
sich anhand der mit ihnen einhergehenden Feierlichkeiten
nachvollziehen.766
Nach zwei vorausgehenden rituellen Zeremonien (山口祭,
Yamaguchisai; 木本祭, Konomotosai) begannen am 3. Juni 2005 in
Anwesenheit von 300 Gästen die Holzfällarbeiten. Als erstes wurde ein
rund 300 Jahre alter Hinokibaum, aus dem das bootsförmige
Aufbewahrungsgefäß für den Spiegel gefertigt wird, in den Kiso Bergen
mit Äxten von Hand gefällt (御杣始祭, Misomahajimesai). Am 12. April
2006 fand das Okihikihajimeshiki (御木曳初式) statt, wobei das erste
Holz von Anwohnern der ehemaligen Ländereien des Schreins feierlich
auf das Gelände getragen wird. Die Schreinerarbeiten begannen kurz
darauf am 21. April. Es ist ein besonderes Erlebnis, die Spezialisten
dabei zu beobachten, wie sie das Material mit äußerster Präzision
bearbeiten und in Handarbeit hauchdünne, beinahe durchsichtige
Holzschichten abtragen, um perfekte Verbindungen und makellose
Oberflächen herzustellen. Jeweils Ende Juni 2006 und 2007 halfen
circa 170.000 Freiwillige im Rahmen großer Feierlichkeiten, Holz für
den Neubau der Schreine in traditionellen Karren und auf dem Isuzu-
Fluss zu transportieren (御木曳行事, erstes und zweites Okihikigyōji).
Nach Abschluss der Schreinerarbeiten wurden am 4. März 2012 die
ersten Gebäudepfeiler errichtet, bis zum 21. Juli waren die Dächer
gedeckt und die Goldbeschläge angebracht. Im Rahmen der
Fertigstellung des Shōden wurden unter der Beteiligung von insgesamt
230.000 Helfern zwischen dem 26. Juli und 12. August 2013 die
Kieselsteine der Schreingrundstücke erneuert (Oshiraishimochigyōji,
御白石持行事). Dabei handelt es sich um weiße Quarzsteine aus dem
nahe liegenden Becken des Miyagawa Flusses.
Am Ende der achtjährigen Konstruktionsphase war neben den
Schreinen ihre exakte Kopie in frischem, weißlich glänzendem
Hinokiholz entstanden. Dann wurden die neuen Pfeiler des Herzens
unter den Shōden in die Erde eingebracht und rituelle Reinigungen
vorgenommen. Am 2. Oktober wurde schließlich der Innenraum des
Shōden mit Gewändern ausgekleidet und am Abend fand mit der
Schreinverlegung (遷御, Sengū) die höchste Feierlichkeit statt, wobei
geladene Gäste der Überführung des Shintai Amaterasus in den
Neubau beiwohnen konnten. In der Folge wurden die alten Gebäude
abgetragen, ihr noch brauchbares Material aufgearbeitet und für
Nebengebäude verwendet beziehungsweise an mehr als 100 andere
Schreine verkauft, der Rest rituell verbrannt. Die Goldbeschläge der
Schreine werden heute nicht mehr in den heiligen Wäldern von Ise
vergraben, sondern ebenfalls verkauft.767 Auf den leeren Kodenchi
wird an jener Stelle, wo sich im Erdboden der Pfeiler des Herzens
befindet, der bis zur Errichtung des neuen Shōden an dieser Stelle
verbleibt, eine kleine Hütte errichtet (Abb. 10).768 Dadurch ist sein
exakter Standpunkt vermerkt, über dem einmal wieder der Shintai im
Shōden positioniert wird.
Abb. 10: Ise-Schreine, Überdachter Pfeiler des Herzens auf einem leeren Kodenchi
Die Erneuerung der Schreine wurde seit dem Mittelalter durch eine
Reissteuer von allen Japanern getragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg
kam es zum Ende der Finanzierung mit öffentlichen Mitteln, da die
Alliierten einen zu starken Zusammenhang zwischen Shintō und
japanischem Nationalismus sahen. Aus der am 15. Dezember 1945
verabschiedete Shintō-Direktive (神道指令, Shintō Shirei) ging die
Trennung von Staat und Religion hervor.775 Seither werden die
Schreinerneuerungen vorrangig durch den Verkauf von Talismanen
sowie durch private Spenden finanziert.776 Die Schreinadministration
verweist ferner auf die Wiederverwendung des noch brauchbaren
Holzes in anderen Schreinen sowie auf das ehrgeizige Forstprogramm,
das in Zukunft die Selbstversorgung der Schreine mit Bauholz
gewährleisten soll. 777
2 Neues Museum
2.1 Objekt
Was für Wochen würde man im Berliner Museum zubringen, umgeben von den Särgen der
Pharaonen und den monströsen Götzenbildern, die das schwache Licht noch
geheimnisvoller erscheinen lässt, wenn der Professor Lepsius einem Gesellschaft leisten und
die hieroglyphischen Inschriften erläutern wollte, welche diese Mauern und die finsteren
Sarkophage bedecken!778
Marie Pauline Rose Blaze de Bury, Reise durch Deutschland
Das Neue Museum wurde zwischen 1841 und 1855 von Schinkels
bedeutendstem Schüler Friedrich August Stüler geplant und errichtet.7
79 Als zweites Museum der heutigen Museumsinsel sollte es zunächst
Abb. 13: Berlin, Neues Museum (rechts) in einer Darstellung von Henry Albert Payne (um
1850)
In den Jahren 1943 und 1945 zerstörten Bomben das Dach der
Treppenhalle sowie deren komplette Innenausstattung, den
Nordwestflügel, den südöstlichen Eckrisalit und den Übergang zum
Alten Museum. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte eine
Notsicherung der noch intakt gebliebenen Räumlichkeiten, die als
Depot und Werkstätten genutzt wurden. Das Gebäude sollte jedoch ein
Ruinendasein fristen. Erst 1985 konnte das auf dem schlecht
tragenden Boden stehende Fundament gesichert werden, was vorher
technisch nicht möglich war.796 Die Maßnahmen am Fundament
wurden auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands fortgesetzt
und 1994 abgeschlossen, der verabschiedete Aufbauplan allerdings
verworfen. Am 2. und 3. Oktober 1991 trat erstmalig eine
Denkmalkommission zum Neuen Museum zusammen und
bescheinigte, dass auch in den Innenräumen „ein hoher Prozentsatz
wertvoller Substanz erhalten ist“797, woraufhin sie sich für
Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten durch ausgewählte
Fachleute aussprach.
2.2 Sanierung
An der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dürfte es schwer fallen, ein
Bauwerk in Deutschland zu finden, das derart voller Geschichte steckt wie das unlängst
restaurierte Neue Museum in Berlin.798
Kenneth Frampton, Das Museum als Palimpsest
Abb. 15: Neues Museum, westliche Fassade nach der Sanierung (2009)
Auch die vom Putz befreiten Wände der Treppenhalle wurden als
Zeugen der Zerstörung in ihrem vorgefundenen Zustand erhalten (Abb
. 17). Da hier abgesehen vom Raumvolumen nur noch wenige
Fragmente des früheren Glanzes vorhanden waren und eine
detaillierte Rekonstruktion zwangsläufig nur eine Interpretation
verkörpert hätte, wurde entschieden, lediglich die einstige
Raumaufteilung durch neue Architekturelemente zu skizzieren. Diese
Lösung entging der Gefahr einer auf mangelhaften Unterlagen
beruhenden, hypothetischen Rekonstruktion und eröffnete die
Möglichkeit, die Geschichte des Museums in der Sprache
zeitgenössischer Architektur weiterzuschreiben.835 In diesem
Zusammenhang ist die Freilassung der Mauerflächen insofern
gerechtfertigt, als dass der Raum ohnehin nur eine gänzlich neue
Qualität erhalten konnte. Der Marmorbeton der neuen Treppe und die
bloßgelegten Ziegel des Mauerwerks verdeutlichen die Differenz
zwischen ihren Entstehungszeiten, machen dem künftigen Besucher
die Vergangenheit des Baus greifbar und weisen in ihrer Rohheit auf
einen tragischen Verlust fragiler Kulturgüter sowie die Unmöglichkeit
der Wiederholung von historischen Bauwerken hin. Ergänzende
Restaurierungen vorhandener architektonischer Elemente erfolgten im
Nordostrisalit und im südwestlichen Flügel. In den östlichen Flügeln
des Erdgeschosses und des ersten Obergeschosses wurden darüber
hinaus auch die gemalten Dekorationen ergänzend wiederhergestellt.
Diese Maßnahmen sind in einer Art und Weise getroffen, dass sie die
Vermittlung eines harmonischen Gesamteindrucks unterstützen, dabei
aber als Ergänzungen erkennbar bleiben. Die Innenräume der neu
erstellten Gebäudeteile sind durch sandgestrahlte Marmoroberflächen
gekennzeichnet. Ihre neutrale Oberfläche stellt dabei indirekt einen
Bezug zu der um 1920 im Modernen Saal realisierten und heute
verlorenen Ausstellungssituation des White Cube dar.
Das Aufsehen, das mit der Art und Weise der Wiederherstellung
des Neuen Museums einherging, verdeutlicht, wie unkonventionell
sich der von Chipperfield und Harrap eingeschlagene Weg ausnimmt.
An immer weniger Stellen der Stadt kommt ihre Geschichte der Brüche
und Kontinuitäten so eindringlich und bemerkenswert zur Geltung.
Das ist in jedem Falle verwunderlich, denn:
Berliner Erde ist mit Geschichte durchtränkt. Doch anders als, sagen wir, in Rom,
begegnet einem diese Geschichte nicht aus sicherem Abstand oder in Form heiterer,
mythologisierender (Nach-)Erzählungen. Hier scheint es vielmehr, als hätte jemand ein
perverses Experiment durchgeführt, um herauszufinden, wieviel dramatische
Weltgeschichte sich auf engstem Raum innerhalb kürzester Zeit und mit
geringstmöglichem Abstand zur Gegenwart verstauen lässt.836
3. Materielle Substanz
Keine Wunde ist in mir so vernarbt, dass ich sie ganz vergessen könnte.844
Francesco Petrarca, Gespräche über die Weltverachtung
Materielle Substanz und formale Gestalt sind die sinnlich fassbaren
Grundlagen der Architektur. Beide bedingen einander gegenseitig und
treten erst in ihrer Kombination als dreidimensionale Umsetzung der
architektonischen Idee hervor. Die materielle Substanz eines Gebäudes
beeinflusst dabei aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften und
ihrer Oberflächentextur dessen Gestalt. In der Geschichte des
Abendlandes waren Werke der bildenden Kunst bis zum Aufkommen
der Möglichkeit industrieller Massenfertigung und technischer
Reproduzierbarkeit untrennbar mit ihrer materiellen Substanz
verbunden. An ihr lässt sich die Individualität eines Kunstwerks
festmachen. Anders als reine Form ist Materie im Sinne einer
bestimmten Menge eines Stoffes nicht zu vervielfältigen, nicht
wiederholbar. Daher kommt ihr eine große Beglaubigungsfunktion zu,
die – wie gezeigt wurde – ab der Renaissance diejenige von
überlieferten Texten übertraf.845
Durch Dehios an Hermann Grotefend angelehntes Credo
,konservieren, nicht restaurieren‘846 wurde der Denkmalpflege der
Erhalt des Vorgefundenen zum Grundprinzip. Friedrich Mielke
unterstreicht die Bedeutung der Substanz als Grundlage des
Denkmalbegriffs: „Solange wir das Baudenkmal als Urkunde
betrachten, kann auf den Originalzustand der Bausubstanz nicht
verzichtet werden.“847 Das Kriterium der Authentizität muss daher als
eng mit der materiellen Substanz verbunden betrachtet werden. Nur
sie gewährleistet das Potential der Bauwerke, verlässliche Antworten
auf unsere und auch auf zukünftige Fragen an die Vergangenheit zu
erhalten.848
Die grundlegende Bedeutung materieller Substanz für die
abendländische Kultur ist keineswegs ein modernes Phänomen, wie
mitunter gemutmaßt wird.849 Die enge Verkettung zwischen Materie
und Identität wurde in Kapitel I.2.1 historisch nachvollzogen.850 Sie
kommt bereits in einem populären Beispiel der antiken Philosophie
zum Ausdruck: dem Schiff des Theseus. Plutarch (um 45–um 125)
berichtet in der Vita Thesei, dass der mythologische Held Theseus,
nachdem er den Minotaurus besiegt hatte, nach Athen zurückkehrte,
wo sein Schiff von den Bewohnern der Stadt aufbewahrt wurde.
Darüber stellten sich die Philosophen die Frage, ob dass Schiff König
Theseus’, zu dessen Erhaltung es notwendig war hin und wieder
Planken zu erneuern, trotz des Materialaustauschs immer noch das
gleiche sei, beziehungsweise ab welchem Punkt von einem anderen
Schiff gesprochen werden müsse.851 Es existiert keine definitive
Antwort auf diese Frage, sie wurde im Laufe der Jahrhunderte stets
überdacht, ohne sie abschließend zu beantworten.852 Daran zeigt sich,
dass der Identität von materiellen Objekten komplexe Aspekte
zugrunde liegen, die sich kaum auf eindeutige Kriterien reduzieren
lassen.
Bei der Sanierung des Neuen Museums stand die Wahrung der
noch vorhandenen Substanz im Vordergrund. Nach der Aussage Julian
Harraps ging es dabei um den „Erhalt der Originalsubstanz, und zwar
aller Bedeutungsebenen.“853 Die Forderung: „Soviel Altbausubstanz
wie möglich soll erhalten werden, auch wenn es sich nur um kleine
oder lose Fragmente handelt“854 wurde weitgehend eingehalten. Dabei
galt dies nicht nur der Bausubstanz an sich, sondern, wie am Objekt zu
erkennen ist, auch deren Oberflächengestaltung durch Putz, Stuck und
Farbe. Darüber kam der Unterscheidbarkeit von neuem und altem
Material große Bedeutung zu, obwohl Ergänzungen mit ähnlichem,
nach Möglichkeit historischem Material vorgenommen wurden.
Komplette Erneuerungen von Bau- und Gebäudeteilen im Innenraum
sind aus modernem Material geschaffen. Abbildung 18 verdeutlicht
den Aufwand der Integration kleinerer Elemente des historischen
Bestands. Überall am Gebäude sind die durch den Kontrast zu den
Erneuerungen deutlich ausgewiesenen Reste der noch erhaltenen
Oberflächen zu sehen. Wand- und Deckengemälde wurden unter
hohem Aufwand konserviert und erhaltene Gewölbe sowie Säulen und
Fußböden mittels Belastungstests auf ihre Stabilität hin untersucht,
um ihren Fortbestand gewährleisten zu können. In vielen Fällen wäre
es einfacher und billiger gewesen, die vorhandenen Elemente durch
neu angefertigte Kopien zu ersetzen – dies stand jedoch nicht zur
Diskussion.
Der materiellen Substanz kam bei der Sanierung des Neuen
Museums die Rolle eines bedeutenden Informationsträgers zu. Viele
Bauteile und selbst Fragmente gaben dabei Aufschluss über die
Fertigungstechniken in Preußen Mitte des 19. Jahrhunderts. So
konnten aus Bruchstücken der Drahtputzdecke des Bernwardzimmers
problematische Details über dieses damals neue Verfahren ermittelt
werden, zu denen keinerlei Anmerkungen in den Bauakten zu finden
waren.855 Auch die zahlreichen im Gebäude vorgefundenen Elemente
aus künstlichem Marmor, Marble-Cement genannt, hielten wertvolle
Informationen zur Verwendung sowie der Herstellung und
Verarbeitung dieses mittlerweile in Vergessenheit geratenen Materials
bereit (Kapitel II.3.5).856 Darüber hinaus birgt die materielle Substanz
des Neuen Museums auch Informationen über historische Ereignisse.
In den Malen des Krieges, den Zerstörungen und Einschusslöchern, ist
ein Zeugnis dieser Katastrophe verankert, das seinen Zeugencharakter
einzig und allein aus der Authentizität der materiellen Substanz
schöpft. Sie trägt die direkten Folgen des historischen Ereignisses in
sich eingeschrieben und verbürgt damit deren Tatsächlichkeit. Nur
durch die Erhaltung der Materie konnte diese indexikalische
Beziehung aufrechterhalten werden.
3. Gestalt
Essentially, Japanese culture does not distinguish the original from the copy. We see the
most typical example in the construction of Ise Shrine. The newly built shrine is always the
original, which hands over its life as the original to the new one as soon as it is built. The
copy becomes the original. Such a concept about culture still occupies the deepest parts of
our minds today.904
Mishima Yukio, Defense of Culture
Abb. 21: Ise-Schreine, der Naiku aus der Vogelperspektive, Illustration in den Ise sangū
meisho zue (1797)
3.3 Funktion
Nous comprenons la rigueur de ces principes, nous les acceptons complètement, mais
seulement, lorsqu’il s’agira d’une ruine curieuse, sans destination, et sans utilité actuelle.942
Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, Projet de restauration de Notre-Dame de Paris
Die Funktion eines Gebäudes ist die Basis für dessen Existenz, sie ist
die Grundlage der sozialen Einbindung des Bauwerkes und bedingt
durch die mit ihr verbundenen konkreten Anforderungen maßgeblich
sein Erscheinungsbild. Historische Monumente geben immer auch ein
Zeugnis über ihre Nutzung ab und lassen damit neben den
künstlerischen und technischen Einblicken in eine Epoche auch
soziokulturelle Rückschlüsse zu. Gebäude können im Laufe der Zeit
verschiedene Nutzungen erfahren haben, wodurch sie jeweils mehr
oder weniger modifiziert wurden. Gebäude, deren Funktion vollständig
verloren ging und die in der Folge auch nicht mehr durch Umnutzung
in Gebrauch genommen wurden, verfielen. Denkmale können
einerseits nicht mehr genutzte Bauten sein, ,tote Denkmale‘, deren
Funktionsverlust einer Stagnation ihres historischen Zustands
gleichkam und ihnen somit einen musealen Wert antrug. Andererseits
können sie als ,lebendige Denkmale‘, deren Funktion nach wie vor
gegeben ist, die Authentizität ihrer soziokulturellen Rolle insofern
wahren, wie es die entwicklungsbedingte Wandlung dieser Funktion
zulässt.
Das Neue Museum wurde wiederaufgebaut, um erneut als
Kunstmuseum im Verband der Berliner Museumsinsel genutzt zu
werden. Damit behielt es seine ursprüngliche Funktion zwar bei,
allerdings unterlag diese in der Zeit seit der Entstehung des Neuen
Museums und auch seit seiner Zerstörung einem fundamentalen
Wandel. Dieses Problem zeigt sich auch in der Begründung für die
Eintragung der Museumsinsel in die Welterbeliste. Sie wird darin als
„an unique ensemble of museum buildings, which illustrated the
evolution of modern museum design over more than a century“943
bezeichnet. Somit ist die Bedeutung der einzelnen Bauten auch in der
Zeugenschaft für den im Laufe der Zeit vollzogenen Wandel ihrer
Funktionen begründet. So war auch die Innenausstattung des Neuen
Museums eng auf die Exponate abgestimmt, die wiederum durch die
Vorrangstellung der Gipsabgusssammlung in der ersten
Ausstellungskonzeption den Wandel der Intention vom
kontemplativen Betrachten hin zur Bildung versinnbildlichten.
Infolgedessen mahnte ein Gutachter der Kommission, dass neben den
Gebäuden auch die Erhaltung der jeweiligen Sammlungen essentiell
sei.944
Da ein Museum als wissenschaftliche Einrichtung einem
permanenten Wandel, einer Entwicklung unterliegt, ergibt sich ein
Konflikt zwischen seiner Funktion als zeitgemäßes Kunstmuseum und
seiner Funktion als Museum für ein historisches Kunstmuseum. Seit
dessen Zerstörung hat sich das museologische Konzept des Neuen
Museums zwangsläufig nicht weiterentwickelt, die Kollektion wurde
verstreut. Die Reste der Innenausstattung sowie die Raumstrukturen
der noch erhaltenen Elemente des Gebäudes zeugen von Stülers
Konzept „in der Haltung und Decoration der Localien die Sammlungen
so viel als möglich zu ergänzen“945, das im Laufe des
Museumsbetriebs, abgesehen von wenigen Räumen, kaum verändert
wurde. Diese enge Bindung der Räume an die in ihnen präsentierten
Exponate stand aber aktuellen Ansprüchen an ein Museum, das
möglichst flexibel auf die Konjunktur des Massentourismus und der
Erlebniskultur reagieren soll, entgegen. Der Ägyptologe Dietrich
Wildung hebt diesbezüglich die Möglichkeit hervor, im Neuen
Museum die Ägyptische Kunst „en passant“946 erleben zu können und
unterstreicht damit den Wandel der Ansprüche, respektive
Anforderungen an ein Museum.
Auch die Einbindung in den Masterplan Museumsinsel erforderte
letztendlich ein zeitgemäßes Konzept. Ohnehin wurden durch den
Neubau der zerstörten Gebäudeteile und die in einigen Räumen fast
gänzlich verlorene Innengestaltung ein beträchtlicher Teil der
Ausstellungsflächen entkontextualisiert. Im Zuge der Umgestaltung
der Sammlung bot es sich daher an, Räume mit weitgehend erhaltener
Ausstattung wieder mit entsprechenden Exponaten zu bestücken,
während sich für die anderen Bereiche eine größere Freiheit ergab.
Beispielsweise bestimmen die konservierten Fragmente der Gestaltung
des Mythologischen Saales, die Decke mit den Verweisen auf Lepsius’
Ägyptenexpedition, auch heute, um verständlich zu bleiben, die
Auswahl der Exponate und legen Zeugnis von Stülers
Vermittlungsansatz ab, während die in den 20er Jahren erfolgte
Umgestaltung in der Dekoration der Wände als solche ablesbar ist und
Schlüsse über ein Neuarrangement der Exponate zulässt.
Demgegenüber ist der Moderne Saal weitgehend frei von
pädagogischen Verweisen und einer offeneren Nutzung unterzogen,
zumal die ehemals in ihm ausgestellten Gipsabgüsse schon nach dem
Ersten Weltkrieg entfernt wurden und auch künftig nicht mehr zu den
im Neuen Museum präsentierten Sammlungen gehören werden.947
Allerdings waren es gerade die Gipsabgüsse, auf denen ehemals der
Hauptakzent lag und die den mit der Eröffnung des Neuen Museums
erfolgten Anspruchswandel der Preußischen Museumslandschaft
versinnbildlichten. Anhand der Kopien sollten sich die Besucher ein
Bild der Kunst machen können, die in Berlin im Original nicht
anschaubar war, aber deren Form und Ausdruck doch ausgewiesen
werden konnte. Darin zeichnet sich ein epochaler Unterschied zur
Sammlung des Alten Museums ab, in welchem ausschließlich die
tatsächlichen Errungenschaften der preußischen Expeditionen, nicht
zuletzt als materielle Kostbarkeiten, gezeigt wurden. In der
Repräsentation dieses Wandels vom Museum als Schatzkammer zum
Ort der Bildung und Vermittlung ist der zentrale kulturhistorische
Wert des Neuen Museums als Institution begründet. Von ihm daher
lediglich als Erweiterung des Alten Museums zu sprechen, wird diesem
Wert nicht gerecht.948 Nach seiner Wiedereröffnung kam das Museum
zwar seiner ursprünglichen Funktion wieder nach, vergegenwärtigt
diese aber nur noch zu geringen Teilen. Gerade in dem daraus
resultierenden Kontrast der Paradigmen zeichnet sich die
Authentizität seiner Funktion ab. So ermöglicht es das Neue Museum,
durch die fragmentarische Erhaltung seiner Dekoration und den
teilweisen Wiedereinzug der ursprünglichen Sammlung, die einstmals
enge Verbindung zwischen der Architektur und den Exponaten und die
damit einhergehende Vermittlung im Sinne einer ganzheitlichen
musealen Enzyklopädie abzulesen. Andererseits führt es seine
Bestimmung mit Rücksicht auf heutige Anforderungen weiter und
wird als Teil der gegenwärtigen Museumswelt seiner
wissenschaftlichen und soziokulturellen Funktion gerecht, der es als
bloßes Exponat seiner selbst als ein historisches Kunstmuseum nicht
nachkommen könnte. In der authentischen Ausweisung seiner
Geschichte verbürgt es sich darüber hinaus metaphorisch für die
Authentizität der von ihm beherbergten musealen Objekte.
Die Funktion der Ise-Schreine hat sich im Laufe ihres Bestehens
nicht verändert, sie sind nach wie vor Shintō-Kultstätten und auch
ihren ursprünglichen Gottheiten gewidmet. Damit einhergehend
haben sich Riten, Feste und Zeremonien über Jahrhunderte erhalten.
Diese sind nicht nur in täglichen beziehungsweise regelmäßig
wiederkehrenden Handlungen begründet, sondern finden auch
anlässlich der Schreinerneuerungen statt. 32 Zeremonien begleiten
den Neubau der einzelnen Schreingebäude.949 Darin spiegelt sich das
jahrhundertealte Weltbild des Shintō, in dem die Gottheiten der Natur
verehrt werden. In gewisser Hinsicht bildet die Funktion der Schreine
nicht nur die Konstante des Gebäudekomplexes, sondern ist auch eng
mit dem zentralen Fixpunkt der gesamten traditionellen japanischen
Gesellschaft, dem Kaiserhaus, verwoben. Unter den weltweit noch
existierenden Monarchien ist die japanische die älteste und lebt seit
dem 6. Jahrhundert ohne Dynastiewechsel fort.950 Auch in den Zeiten
der Shogunherrschaft wurde die Monarchie nicht abgeschafft, sondern
zur Legitimation der Machthaber durch den als gottgleich verehrten
Kaisers gebraucht. Der einflussreichste japanische Philosoph des 20.
Jahrhunderts und Begründer der Kyoto-Schule, Kitaro Nishida,
bezeichnete die Institution des Japanischen Thrones als die kulturelle
Konstante des Landes, den immerwährenden geistigen Hintergrund
der japanischen Kultur, vor dem die Dimension der Zeit negiert
werden könne.951 Die Kontinuität der Vergänglichkeit, das Konzept des
shogyō mujō, findet somit in der Institution der Monarchie ein
allgegenwärtiges und beständiges Widerlager, vor dessen Hintergrund
sich das stete Werden und Vergehen abspielt. Die mythologischen
Wurzeln des Kaiserhauses sind eng mit der Gottheit des Naiku
verbunden, dessen Funktion somit Mythologie und reale Gegenwart
verklammert und die kontinuierliche Identität der Schreine darstellt.
Wie bereits angesprochen, wird der Originalzustand der Schreine
durch deren periodische Rekonstruktion ungreifbar und auf eine
ideelle Ebene gehoben, seine Manifestation ist nur in der Erneuerung,
nicht jedoch in einem historischen Zustand fassbar. Damit wird ein
Punkt berührt, der die Funktion der Schreine über ihre räumliche
Manifestation setzt. Die Authentizität der Ise-Schreine liegt vor allem
in ihrer Funktion. Im Engishiki wird die Wahrung der Funktion als
Grundbedingung der Erneuerung der Schreine festgelegt.952 Diese
geht auch der formalen Erscheinung voraus und zeigt sich
beispielsweise durch die Anbringung des erwähnten Vordaches am
Shōden des Naiku, welches die Durchführung von Zeremonien bei
schlechter Witterung begünstigt, aber die formale Harmonie des
Bauwerkes in Bedrängnis bringt.
Japans Architektur hat in ihrer Entwicklung weniger Brüche
erfahren als die europäische. Bis zu deren gegenseitiger Konfrontation
ist die Baukunst in Japan stets der nutzungsgerechten Form treu
geblieben, während mit dem Formenreichtum und der Bildhaftigkeit
der Bauwerke in Europa eine Abkehr vom rein ästhetisch-
raumbildenden Zweck erfolgte. Dieser Abkehr widerfuhr Ende des 19.
Jahrhunderts eine Distanzierung, die in Louis Sullivans berühmtem,
auf den Bildhauer Horatio Greenough zurückgehenden Bonmot form
follows function zum Leitmotiv der Architektur der Moderne wurde. In
Japan blieb die Architektur stets der Vorrangstellung der Funktion
verbunden. Die Konstruktion des traditionellen Hauses erlaubt es,
dieses den wechselnden Anforderungen, die sich im Laufe der Zeit
daran ergeben, nachzukommen und es entsprechend zu modifizieren.
So war die Raumstruktur aufgrund des Einsatzes von Schiebetüren
und Stellwänden nicht fest vorgeschrieben und auch die Konstruktion
des Daches mittels Pfetten und Pfosten sowie Haupt und
Nebendächern räumte die Möglichkeit notwendiger Erweiterungen
und Abstimmungen ein.953 Roland Barthes verglich das japanische
Haus in seiner funktionsorientierten Flexibilität gar mit der
Vielseitigkeit eines Möbelstücks.954
Die Wertschätzung der Funktion ist auch in der Genese der
japanischen Denkmalschutzgesetzgebung zu erkennen. Mit der
Richtlinie zur Bewahrung von Altertümern von 1871 wurden 539
Schreine und Tempel bis 1894 finanziell unterstützt. Dabei kamen
über 80% der Zuwendungen im Wesentlichen der Aufrechterhaltung
der Aktivitäten und somit der Funktion der Schreine, nicht etwa der
Wahrung beziehungsweise Restaurierung materieller oder formaler
Aspekte zugute.955 Die 1897 im Gesetz zur Erhaltung alter Schreine
und Tempel (古社寺保存法, koshaji hozon hō) erfolgte Verankerung
der Achtung bedeutender Architektur ist erst auf das Drängen
ausländischer Stimmen hin geschehen, wie der von Ernest Francisco
Fenollosa, dem ersten überseeischen Connaisseur japanischer Kunst,
die die japanische Architekturtradition im Zuge der durch die
Kulturerneuerung (文明開化, bummei kaika) angeregten rasanten
Verwestlichung Japans akut bedroht sahen.956
Eine besonders radikale Form des Funktionserhalts zeigt sich im
1968 erfolgten Abriss des Tokyo Imperial Hotels von Frank Llloyd
Wright. Als eines der wenigen Gebäude Tokyos, die das Kantō-
Erdbeben von 1923 und den Zweiten Weltkrieg überstanden, war es
dem Gästeaufkommen nicht mehr gewachsen und wurde schlichtweg
durch einen Neubau ersetzt. Dabei ist Wright in Japan sehr angesehen,
er verdankte seiner Zeit dort wesentliche Einflüsse für seine
Architektur und hatte großen Einfluss auf die Rezeption japanischer
Architekturprinzipien in der Moderne. Auch am Schicksal der wenigen
Gebäude in Hiroshima, die den Krieg überstanden, ist eine klare
Vorrangstellung der Funktion ablesbar. Als Beispiel seien hier das
1928 erbaute Rathaus sowie das Rotkreuz Hospital von 1939 genannt.
Letzteres spielte eine wichtige Rolle als Anlaufstelle für die
Überlebenden des Atombombenabwurfs. Beide Gebäude wurden nach
dem Krieg saniert und dienten bis 1985 beziehungsweise 1993 noch
ihren Bestimmungen. Im Zuge veränderter Anforderungen wurden sie
dann jedoch ungeachtet ihrer Zeitzeugenschaft und ihrer Bedeutung
als eine der wenigen architektonischen Brücken ins Hiroshima vor der
nuklearen Katastrophe durch zeitgemäße Zweckbauten ersetzt. Dieses
Vorgehen wurde von einem Überlebenden, dessen Vater 1945 im
Rotkreuz Hospital starb, folgendermaßen verteidigt: „Isn’t it better
that the ageing hospital be drastically renovated so that it can serve
those of us who survived?“957 Diese Bindung der Lebensspanne von
Architektur an die von ihr ausgehende Gewährleistung ihrer
Funktionserfüllung ist darüber hinaus nicht nur für Einzelschicksale
von Gebäuden, sondern eben auch für Japans Stadtbilder als
Gesamtheit verantwortlich (Abb. 22).
Allein zwischen 1983 und 1993 hat sich die Zahl der vor dem
Zweiten Weltkrieg entstandenen Bauten in Kyoto, der einzigen nicht
durch Bomben zerstörten japanischen Großstadt, aufgrund
funktionaler Aspekte halbiert.958 Aus der Betrachtung der rigorosen
Opferung des Alten als fortschrittsorientierte Lösung resultieren die
„ungeheuer hässlichen und lieblosen Stadtbilder“959 Japans, wie der
Architekturtheoretiker Manfred Speidel bemerkte. Aus japanischer
Perspektive wird der Funktionalität und Anpassungsfähigkeit einer
Stadt und deren Gebäuden ein hoher Stellenwert beigemessen.
Yoshinobu Ashihara betont, dass Gebäude in Japan mit einer
Lebensspanne von wenigen Jahrzehnten konzipiert werden und sieht
im daraus resultierenden städtebaulichen Kontext einen erheblichen
Vorteil gegenüber den konsolidierten Stadtstrukturen Europas. Deren
Unflexibilität betrachtet er aufgrund der Berücksichtigung ihres
historischen Wertes er als Verneinung der notwendigen organischen
Entwicklungsmöglichkeit des menschlichen Lebensraumes.960 Auch in
diesem Sinne werden Bauwerke in Japan als temporäres Phänomen
verstanden, ihre Daseinsberechtigung findet mit dem Wechsel der an
sie gestellten Ansprüche ein jähes Ende.
Abb. 22: Tokyo, Straße in Ueno (2013)
Die Funktion der Gebäude wird sowohl im Neuen Museum als auch in
den Ise-Schreinen gewahrt. Während sie in ersterem nach einer
Unterbrechung von mehr als sechs Jahrzehnten sowie zeitgemäßen
Anforderungen entsprechend modifiziert wieder aufgenommen wird,
sind die Ise-Schreine kontinuierlich als Kultstätte zur Verehrung
japanischer Gottheiten genutzt worden. In Deutschland gibt es aber
auch eine Vielzahl von historischen Bauwerken, die ihre Funktion
verloren haben, jedoch weiterhin als architektonisches Relikt, als ,tote
Denkmale‘ fortbestehen. In Japan hat hingegen kaum ein Bauwerk den
Verlust seiner Funktion überdauert, insofern es keiner Umnutzung
unterzogen wurde. Die dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
eingerichteten ersten Fördermaßnahmen zum Schutz historischer
Bauwerke dienten zunächst im Wesentlichen dem Erhalt der Funktion
der Bauten, nicht jedoch dem Erhalt ihrer Gestalt oder materiellen
Substanz. Die Bedeutung der Funktion geht in Japan soweit, dass ihr
weite Zugeständnisse gemacht werden, die sogar Abstriche hinsichtlich
der stark im Fokus der Denkmalpflege stehenden Bewahrung der
Gestalt rechtfertigen, wie beispielhaft anhand der 1953 hinzugefügten
Vordächer der Haupthallen der Ise-Schreine ersichtlich wird. Damit
werden die üblicherweise angestrebten Rekonstruktionen der ältesten
nachweisbaren Form teils ad absurdum geführt. Dem raschen Wandel
der Funktionsansprüche moderner Einrichtungen fielen obendrein
zahlreiche Bauten des frühen 20. Jahrhunderts zum Opfer. Deren
kultureller Wert wurde in Japan mangels Alters bis vor wenigen
Jahren überhaupt nicht anerkannt.
3. Ort
Die Kirschblüten sind gefallen – zwischen den grünen Zweigen erscheint der Tempel.963
Yosa no Buson
Die heiligen Wälder von Ise bilden unverändert das Ambiente der
Schreine seit deren Entstehung. Im direkten Umfeld der
Hauptschreine sind keine modernen Objekte vorhanden, es besteht
eine reine Harmonie zwischen den Gebäuden und der sie umgebenden
Natur, die einen erheblichen Anteil an der ästhetischen Wirkung der
Gebäude ausmacht. Die Wahrung der Umgebung der Ise-Schreine
stellt in Japan keineswegs den Normalfall dar. Zwar befanden sich
Schreine und Tempel zumeist im Randbereich von Gemeinden, wo sie
auch heute noch in ihrem räumlichen Kontext anzutreffen sind,
insofern sich aber der Siedlungsbereich weitläufig über das
ursprüngliche Territorium hin ausgedehnt hat, ist aufgrund der auf
funktionale Aspekte sowie kurze Zeiträume ausgerichteten
Stadtplanung in Japan deren bezugslose Einbindung in urbane
Strukturen mit radikalen Kontrasten verbunden (Abb. 24).
Die Durchführung der periodischen Erneuerung der Schreine
verweist darüber hinaus auf eine Problematik, die sich in extremer
Form auch bei weiteren japanischen Bauten antreffen lässt. Die
Schreine verfügen über je zwei Orte, an denen sie sich abwechselnd
befinden. Darüber hinaus wurde die Position der Schatzhäuser des
Naiku im Laufe der Zeit variiert. Der Blick auf andere historische
Gebäude in Japan, allen voran die Teehäuser, lehrt, dass bereits in
vergangenen Jahrhunderten relativ aufwändige Translozierungen
durchgeführt wurden.969 Diese Praxis hat auch verbreiteten Eingang in
die aktuelle Denkmalpflege gefunden.970 Dabei begünstigt die
Holzskelettkonstruktion der Gebäude die Möglichkeit, sie zu
demontieren und anschließend zu versetzen. Diese häufig
angewendete Methode unterstreicht eine weitere Facette der
japanischen Auffassung von Architektur als nicht-statischem
Phänomen. Die Ise-Schreine sind jedoch schon durch ihre
mythologische Entstehungsgeschichte, nach welcher die Göttin
Amaterasu an eben dieser Stelle zu residieren verlangte, an ihren Ort
gebunden. Dieser wird ganz konkret durch den Pfeiler des Herzens
bezeichnet, der auch nach dem Abtragen der Shōden in der Erde
verbleibt. Der Ursprung der Verehrung des Pfeilers des Herzens ist
sicherlich darin zu sehen, dass Bäume von den alten Japanern, wie
auch in anderen Kulturen, als Aufenthaltsort der Götter angesehen
wurden.971 Da viele Schreine einen Felsen, Berg, Baum oder sogar eine
Insel als Residenz eines Kami kennzeichnen und nicht selbst als das
Heiligtum gelten, sind sie auf einen konkreten Ort bezogen und
untrennbar mit diesem verbunden.
Die relativ häufigen Translozierungen in Japan fanden
hauptsächlich bei bestimmten Gebäudetypen wie den bereits
erwähnten Teehäusern, Tor- und Wehrbauten Anwendung oder
erfolgten im Zuge der häufigen Verlegungen der Hauptstadt.972 Diese
Gebäude befanden sich hauptsächlich in urbanen Zusammenhängen
und besaßen keine nennenswerten Landschaftsbezüge.973 Daneben
gibt es Bauwerke, die sich durch eine enge Verbindung zum Ort ihrer
Existenz auszeichnen, der einen wesentlichen Einfluss auf deren
Charakter nimmt. Bereits Frank Lloyd Wright war von dem, aus ihrem
Ort hervorgehenden Charakter japanischer Bauten überwältigt, deren
Inspiration ihn zum berühmten Vertreter und Begriffsschöpfer der
,Organic Architecture‘ machte.974 So berücksichtigt die japanische
Architektur vielfältige Landschaftsbezüge, weist aber auch eine hohe
Anpassungsfähigkeit an kompliziert geschnittene und mitunter
winzige Grundstücke auf.975 Darüber hinaus spielten und spielen die
auf den konkreten Ort Bezug nehmenden Prinzipien shintoistischer
Geomantie sowie des aus dem chinesischen Taoismus kommenden
Feng Shui eine Rolle bei der Positionierung, Ausrichtung und
Aufteilung von Gebäuden.976 Bruno Taut beschrieb erstaunt diese
Einflüsse als er sich mit der seinen architektonischen Überzeugungen
gegenläufigen Planung seines Wohnhauses in Japan
auseinandersetzte.977
Der Ort sowie die Ortsbezüge werden in beiden Fällen als Aspekt der
Authentizität geachtet. Das Neue Museum befindet sich trotz der
Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg in einem historisch gewachsenen
Umfeld. Mit der Eintragung der Museumsinsel in die Welterbeliste der
UNESCO ging die Festlegung einer umgebenden Pufferzone einher,
innerhalb derer Veränderungen weitgehend vermieden werden sollen,
um die städtebaulichen Bezüge zu wahren. Die Schreine von Ise
befinden sich seit ihrer Gründung in einem ursprünglichen Wald,
umgeben von anderen weitläufigen Waldgebieten. Die im Zyklus der
Schreinerneuerungen alternierende Position der Anlagen zeigt sich an
anderen Bauwerken in extremerer Form. Konstruktionsbedingt war es
in Japan möglich, Gebäude zu zerlegen und an anderer Stelle
wiederzuerrichten. Dadurch kam es in der Vergangenheit häufig zur
Verlegung von Bauwerken, wodurch deren Ablösung vom Ort ihres
Entstehens erfolgte. Während eine Vielzahl japanischer Gebäude in
enger Beziehung an die sie umgebende Natur errichtet wurde, nehmen
Ortsbezüge im städtebaulichen Umfeld, im Gegensatz zu Deutschland,
keine ausschlaggebende Stellung ein.
Abb. 25: Shakkei am Beispiel des Entsū-ji Tempels in Kyoto
3.5 Tradition
Der vermeintliche Bruch mit der Geschichte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts hat
schließlich doch in unserem Bewußtsein Fäden echter Tradition zerschnitten, die nicht wie
ein Spielzeug wiederaufgenommen werden können.980
Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie
Abb. 26: Japanische Baustelle zu Beginn des 14. Jahrhunderts, Detail der Kasuga gongen
genki-e (1309)
142 Taylor, Charles: The Ethics of Authenticity. Harvard: University Press, 1991.
143 Assmann 2012, S. 36.
144 So beispielsweise bei: Baugh 1988, S. 477 ff.; MacNeil 2007, S. 29.
145 Heidegger 2001, S. 42–43, § 9.
146 Demmerling 2007, S. 95 f.; Luckner 2007, S. 150.
147 Sartre 1983a, S. 224.
148 Sartre 1943, S. 111.
149 Baugh 1991, S. 103.
150 Valéry 1973, S. 47.
151 Benjamin, Walter: „L’oeuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée“. In:
Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 5, 1936, S. 40–68.
152 Benjamin, Walter: Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1955.
153 Beispielsweise bei Huyssen 2006, S. 235; Jones 2010, S. 189; MacNeil 2007, S.
5; Müller 2006, S. 58; Pirker 2010b, S. 18; Starn 2002, S. 3.
154 Benjamins Grundanliegen ist eine Politisierung der Kunst, um sie gegen die
„Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt“ (Benjamin 2008, S.
28) in Position bringen zu können. In diesem Zuge unternimmt er seine Analyse
der veränderten Reproduktions- und Rezeptionsbedingungen.
155 Benjamin 2008, S. 7, Fn. 8.
156 Benjamin 2008, S. 4.
157 Benjamin 2008, S. 4.
158 Benjamin 2008, S. 4, Fn. 3.
159 Benjamin 2008, S. 7 Fn. 7.
160 Benjamin 2008, S. 7.
161 Benjamin 2008, S. 7 Fn. 8.
162 Eindrucksvolles Beispiel dieses Bewusstseins ist Oswald Spenglers Der
Untergang des Abendlandes, München: C. H. Beck, 1923.
163 Zeller 2010, S. 10 f.
164 Zeller 2010, S. 10.
165 Benjamin 2008, S. 7 Fn. 8.
166 Müller 2006, S. 60.
167 Die Ausführungen zu Adornos Kritik am Authentizitätsbegriff bei MacNeil
2007, S. 29 sind schlichtweg falsch. Adorno bezieht sich in der von den
Autorinnen herangezogenen Passage seines Werks Jargon der Eigentlichkeit
(1964) auf den Begriff Auftrag, nicht auf Authentizität (Adorno 2006, S. 34).
Wie bereits bei Heidegger erwähnt, unterliegt auch Adornos Text einem
Übersetzungsproblem, wenn er mit The Jargon of Authenticity
beziehungsweise Jargon de l’authenticité übersetzt, fälschlicherweise als eine
Abhandlung zum Authentizitätsbegriff verstanden wird. Eine eingehende
Betrachtung von Adornos Authentizitätsbegriff bietet Müller 2006.
168 Müller 2005, S. 52 ff.
169 Horkheimer 1987, S. 144.
170 Fritz 2009, S. 4.
171 Adorno 1970b, S. 121.
172 Adorno 1970b, S. 127.
173 Adorno 1970b, S. 129.
174 Adorno 1970b, S. 128 f.
175 Adorno 1970b, S. 127.
176 Adorno 1970b, S. 128.
230 Waiblinger 2005, S. 183; Ob die Besteigung des Mont Ventoux tatsächlich an
diesem Tag stattgefunden hat, ist nicht gesichert, da Petrarcas Datierung des
Briefes, in dem er von seinen Erlebnissen berichtet, wahrscheinlich nicht
korrekt ist. Siehe Hofmann 2011.
231 Petrarca 1958, S. 229.
232 Waiblinger 2005, S. 193.
233 Burke 1964, S. 2.
234 Petrarca 2004, S. 181.
235 Petrarca 2004, S. 183.
236 Manetti 1957, S. 178.
237 Alberti 1975, S. 359, 460.
238 Alberti 1975, S. 351.
239 Alberti 1975, S. 290.
240 Alberti 1975, S. 14.
241 Zit. n. Huse 2006, S. 12.
242 Kruft 1987, S. 69.
243 So setzt Benedikt Ried im etwa zur gleichen Zeit entstehenden Wladislawsaal
auf dem Prager Hradschin gleichzeitig sowohl spätgotische als auch
Renaissanceformen ein, die zwar angeglichen werden, dabei aber nicht zu einer
Einheit verschmelzen. Die Frage der Ästhetik stellt sich ansonsten zunächst im
Umgang mit antiker Skulptur, die im Gegensatz zur Architektur keinen
Nutzungsund Konstruktionsproblemen unterworfen ist. Besonders die 1506
wiederaufgefundene und von Plinius dem Älteren als das Kunstwerk der antiken
Kunstwerke beschriebene Laokoongruppe regt in der Differenz zwischen ihrem
tatsächlichen Zustand und der einstmaligen Vollkommenheit zur
Auseinandersetzung mit der Wiederherstellung des Verlorenen an (Plinius 1765,
S. 783). Die von den Bildhauern Jacopo Sansovino, Baccio Bandinelli, und
Giovanni Angelo Montorsoli vorgeschlagenen Rekonstruktionen folgen dabei
unterschiedlichen Idealvorstellungen und offenbaren ihren rein spekulativen
Charakter, als vierhundert Jahre später der fehlende Arm des Laokoon
gefunden wird. Die Anstrengungen der Bildhauer folgen allerdings gar nicht der
Erfahrbarmachung des Verlorenen. Bandinelli rühmt sich sogar, dass seine
Interpretation das antike Werk noch übertreffe (Jokilehto 1999, S. 25). Er weist
sein Werk damit als die Suche nach absoluter Perfektion aus, deren Umsetzung
als eigenständiges Kunstwerk zu verstehen ist, keineswegs als bloße
Ergänzungsmaßnahme. Dieses Verständnis der künstlerischen Weiterführung
eines Werkes sollte bis in das 17. Jahrhundert hinein bestehen (Ferretti 1987, S.
274).
244 Die Autorschaft des auch als Raffaelbrief bekannten Schreibens, das um das
Jahr 1515 entstand ist umstritten. Siehe Germann 2005, S. 271 f.
245 Germann 1987, S. 95.
246 Choay 1997, S. 41; Momigliano 1950, S. 291.
247 Zit. n. Germann 1987, S. 98.
248 Raffael Zit. n. Huse 1984, S. 14.
249 Der Wunsch nach der Erfahrbarmachung der antiken Bauten äußerte sich
bereits einige Jahrzehnte zuvor in zahlreichen literarischen als auch
zeichnerischen Rekonstruktionen. So veröffentlichte der Humanist Flavio
Biondo Ende der 1440er Jahre seine Roma Instaurata, die erste systematische
Topographie des antiken Roms, das er darin literarisch rekonstruiert (Eine
bislang desiderate kritische Edition der Roma Instaurata wird derzeit durch
Prof. Dr. Marc Laureys an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
Bonn erstellt.). Der Architekt, Bildhauer und Maler Francesco di Giorgio
betätigte sich zusätzlich auf visuellem Gebiet, indem er seinem 1480
entstandenen Trattato di Architettura, Ingegneria e Arte Militare zahlreiche
Skizzen antiker Bauten beifügt, da er befürchtete, sie würden alsbald
verschwinden und der Nachwelt somit verloren sein. Er legt dabei allerdings
fantasievolle Rekonstruktionen vor, in denen eine unkritische Übertragung von
Architekturprinzipien der Renaissance in die Antike zu erkennen ist (Kruft
1987, S. 62).
266 Der Architekt Jean-François Felibien des Avaux differenziert noch 1687 die
mittelalterlichen Bauten lediglich zwischen „d’anciens & de modernes“ (Felibien
des Avaux 1705, preface), ersteren bescheinigt er, abgesehen von ihrer Stabilität
und Größe, keinerlei Qualitäten.
267 Milman 1908, S. 359.
268 Milman 1908, S. 359.
269 Neyrémand 1604, wiedergegeben in: Perrot 1920, S. 302.
270 Seng 2010, S. 228.
271 Neyrémand 1604, wiedergegeben in: Perrot 1920, S. 302.
272 Perrot 1920, S. 308 f.
273 Von Deutscher Baukunst (1772), erst die erneute Veröffentlichung durch
Johann Gottfried Herder 1773 sorgt für die bedeutungsvolle Resonanz.
274 Goethe 1771, S. 25.
275 Dazu ausführlich: Dolff-Bonekämper 1992; Niehr 1999. Goethe sollte sich später
der klassischen Kunst zuwenden und der nationalistischen Vereinnahmung von
Kunst entgegenhalten, dass die großen Werke als ein Gut aller Menschen zu
betrachten sind. Die Gotik wurde jedoch auch von anderen Nationen als ihr
ureigener Stil in Anspruch genommen, so etwa 1795 und 1814 von dem
Engländer John Carter in The ancient architecture of England und 1801 von
dem Franzosen François René Victome de Châteaubriand in Génie du
christianisme. Allerdings scheint Goethe als Erster die Diskussion über den
erhabenen Charakter der Gotik in Schwung zu bringen und den Gotikbegriff neu
auszulegen.
276 Auch wenn sich künstliche Ruinen bereits für das frühe 16. Jahrhundert
nachweisen lassen, treten sie erst im 18. Jahrhundert verstärkt auf. Zur
künstlichen Ruine siehe: Buttlar 1989, Hartmann 1981; Zimmermann 1989.
277 Switzer 1718, S. 198.
278 Hirschfeld 1780, S. 114. Hirschfeld bezieht sich dabei auf Henry Homes
Elements of Criticism (1762), um die Antwort auf dessen Frage „Whether
should a ruin be in the Gothic or Grecian form?“ um ein weiteres Argument
zugunsten der Gotik zu bereichern (Home 2005, S. 446).
279 Mason 1783, S. 105.
280 Mason 1783, S. 186.
281 Im Einklang damit stehen Vanbrugh Castle (1718–26) und Strawberry Hill
(1749–1776), Bauten, die aus der Überzeugung von der stilistischen
Wiederholbarkeit historischer Architektur heraus entstehen.
282 Muthesius 1902, S. 118.
283 Mann 2001, S. 51.
284 Hierzu ausführlich Tschudi-Madsen 1976. Die Auseinandersetzung mit dem
Phänomen der Restaurierung schlägt sich in der Folge besonders in
Zeitschriften wie z.B. The Ecclesiologist, The Builder oder Athenæum nieder.
285 Milner 1798, S. 16 Die Kathedrale von Sailsbury wurde nach Lichfield und
Hereford als eine der ersten von Wyatt restauriert.
286 The Gentleman’s Magazine and Historical Chronicle for the year
MDCCLXXXIX, London 1789 (Urban 1789), S. 873, 1064, 1194; 1790, S. 787,
908.
287 Milner 1798, S. 51.
288 Encyclopædia Britannica 2013.
289 Dodsworth 1814, S. 178 ff.; Urban 1789, S. 1064 ff.
290 Aus der Vielzahl seien lediglich genannt: die Westfassade von St. Ouen in
Rouen, Abtei St. Albans, La Catedral de la Santa Creu i Santa Eulàlia in
Barcelona, Schloss Pierrefonds etc.
291 Johnson 1828, S. 296.
292 Siehe dazu Falser 2008, S. 21 ff.
293 Gillys Zeichnungen erfuhren als zwischen 1799 und 1802 publizierte Serie von
24 Kupferstichen weite Verbreitung.
294 Schinkel 1819, S. 209.
295 Schinkel 1819, S. 211.
296 Schinkel 1817, S. 164.
297 Moller 1821, S. 5. Auch August Welby Northmoore Pugin, ein Verfechter des
gotischen Stils, erwähnt die von seiner Zeit verschiedenen geistigen
Voraussetzungen aus denen die Gotik hervorging. Allerdings sieht er diese im
Katholizismus begründet, den er entschieden propagiert (Jokilehto 1999, S. 111).
298 Kugler 1854, S. 226.
299 Kugler 1854, S. 226.
300 Georg Dehio hielt in dieser Hinsicht treffend fest: „Durch die Romantik war die
Künstlerwelt stofflich für das Mittelalter gewonnen; in ihren formal-
ästhetischen Anschauungen blieb sie im Banne ihrer akademisch-
klassizistischen Erziehung.“ (Dehio 1914, S. 277).
301 Quast 1837, S. 80.
302 Quast 1837, S. 79 f.
303 Quast 1837, S. 83.
304 Zit. n. Huse 2006, S. 69.
305 Ferdinand von Quasts Restaurierung (1858–1866) der Stiftskirche St. Cyriakus
in Gernrode offenbart den Widerspruch zwischen seinen theoretischen
Schriften und seinem praktischen Schaffen. Vergleichbare Gegensätze finden
sich in den Werken George Gilbert Scotts und Eugène Emmanuel Viollet-le-
Ducs.
306 Reichensperger 1845, S. 96.
307 Zit. n. Wussow 1885b, S. 28.
308 Bereits im Almanach aus Rom von 1810 werden „authentische Ruinen“ von
Ciceros Geburtshaus erwähnt, die hier jedoch eher als archäologisches Artefakt
denn Architektur angesehen werden können; Sickler 1810, S. 40.
309 Smirke 1844, S. 3
310 Fergusson 1847, S. 98; Fergusson 1849, S. 297.
311 Scott, George Gilbert: A Plea for the Faithful Restoration of our Ancient
Churches. London: John Henry Parker, 1850. Hierbei ist zu bemerken, dass sich
Scotts Werk durch einen eklatanten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis
auszeichnet.
312 Scott 1850, S. 2.
313 In Reaktion auf Ruskins Lamp of Memory schreibt Scott: „But, alas! the
damage is already effected; the neglect of centuries and the spoiler’s hand has
already done its work“ (Scott 1850, S. 121).
314 Scott 1850, S. 21.
315 Scott 1850, S. 31.
316 Mertens 1851, S. 448.
317 Scott 1862, S. 31.
318 UNESCO 2013b, S. 21 ff.
319 Scott 1862, S. 31. Scott bezieht sich in seiner Rede auf Ruskin und antwortet
ihm, dabei unterstreicht er auch den notwendigen Erhalt der
Funktionstüchtigkeit von Kirchen und anderen Bauwerken.
320 Auch der britische Architekt John James Stevenson bezieht sich letztendlich auf
den Ursprungszustand, wenn er die Authentizität von Restaurierungen
bezüglich ihrer Aussagekraft hinsichtlich des „old work“ infrage stellt
(Stevenson zit. n. Jokilehto 1986, S. 316).
321 Regolamento del Pubblico Ornato vom 3. November 1891, Art. 2 (Comune di
Bagnacavallo, S. 44). („Es ist verboten, die Integrität, die Authentizität und die
malerische Erscheinung der Gebäude, die in der obigen Liste enthalten sind, zu
vermindern oder zu zerstören.“ Übersetzung TM). Siehe dazu auch Jokilehto
1986, S. 351.
322 Tschudi-Madsen 1976, S. 44.
323 Ruskin 1889, S. 186.
324 Ruskin 1889, S. 194.
325 Ruskin 1889, S. 196 f.
326 Ruskin 1889, S. 195. So dürfen sie, um ihren Untergang hinauszuzögern,
ungeachtet ästhetischer Einschränkungen abgestützt und stabilisiert, niemals
jedoch durch moderne Zusätze oder gar Kopien verfälscht werden (Ruskin
1889, S. 196 f.; Ruskin 1854, S. 10).
327 Ruskin 1889, S. 195.
328 Ruskin 1889, S. 197.
329 Ruskin 1854, S. 12 f.
330 Ruskin 1854, S. 12.
331 Ruskin 1889, S. 178; Ruskin schreibt: „we cannot remember without her“,
benutzt im Anschluss jedoch auch den Begriff memory: „Memory may truly be
said to be the Sixth Lamp of Architecture.“
332 Vergleichbar bezeichnet Gottfried Semper 1869 historische Monumente als „die
fossilen Gehäuse ausgestorbener Gesellschaftsorganismen.“ (Zit. n. Kruft 1985,
S. 358).
333 Zu den von Ruskin genehmigten inhaltlichen Übernahmen siehe Burman 2010,
S. 60 f.
334 Morris 1877.
335 Morris 1877.
336 Victor Hugo hat in diesem Sinne bereits 1831 konstatiert, „Les grands édifices,
comme les grandes montagnes, sont l’ouvrage des siècles. […] ils se continuent
paisiblement selon l’art transformé. L’art nouveau prend le monument où il le
trouve, s’y incruste, se l’assimile, le développe à sa fantaisie, et l’achève s’il
peut.“ (Hugo 1837, S. 54).
337 Hierzu auch Muthesius, der Morris retrospektiv bestätigt, wenn er 1902
schreibt: „Ein bekanntes bitteres Urteil über das Tun der Architekten im
neunzehnten Jahrhundert lautete dahin, daß sie neue Bauten wie alt und alte
wie neu gemacht hätten.“ Muthesius fordert noch zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, „selbständige Werke statt historischer Maskeradenscherze“ zu
schaffen und stellt die Ingenierusleistungen des 19. Jahrhunderts als dessen
Architektur überlegen dar (Muthesius 1902, S. 121).
338 Morris 1877.
339 Morris 1877.
340 Zur Präferenz der Form und Gestalt über die historische Substanz auch
Hammer 1995, S. 88 f. sowie Sarrazin 1899, S. 1 f.
341 Zit. n. Tschudi-Madsen 1976, S. 62.
342 Natürlich gab es auch außerhalb Englands wichtige und einflussreiche Kritiker
der Restaurierungen, hier seien lediglich Victor Hugo, Camillo Boito, August
Reichensperger und Wilhelm Lübke genannt. Eine weitere wichtige
Voraussetzung für die rationale Betrachtung der Baudenkmale war die
zunehmende Verbreitung von Publikationen, die einen breiten analytischen
Überblick über die Kunst und Architektur der Vergangenheit boten. Siehe
Hammer 1995, S. 92 f. Ruskins Werk war bis Ende des 19. Jahrhundert mit
Ausnahme von zwei Aufsätzen nicht ins Deutsche übersetzt worden.
343 Viollet-le-Duc 1866, S. 14–34, hier S. 14.
344 Viollet-le-Duc 1866, S. 14.
345 Viollet-le-Duc 1866, S. 16.
346 Zunächst stellt er fest, dass es weder in der Antike noch im Mittelalter
Restaurierungen gab, da Reparaturen aus der Notwendigkeit hervorgingen und
jeweils im Stile der Zeit erfolgten. Die Besonderheit der Gegenwart nun liege in
dem enormen gesellschaftlichen Fortschritt, der durch seinen rasanten Vollzug
eine intensive Betrachtung der Vergangenheit erfordere, die wiederum durch
die moderne Wissenschaft und deren analytische Methoden begünstigt werde.
Verallgemeinernd, nichtsdestotrotz erstaunlich sachkundig, erwähnt er, dass
alternde Paläste in Asien einfach wieder neu erbaut oder ihnen neue
nebenangestellt werden, wodurch die Gebäude nicht zerstört, lediglich die sie
vereinnahmende Vergänglichkeit außer Kraft gesetzt würde – ein Vorgehen, mit
dem wir uns an späterer Stelle noch intensiv beschäftigen (Teil 2).
347 Im gleichen Atemzug diskreditiert Viollet-le-Duc die französische
Zentralisation, die schädliche Auswirkungen auf die regionale Architektur habe
und zu einem Absterben des Wissens, der Traditionen und des Könnens führe.
348 Viollet-le-Duc 1866, S. 27.
349 Viollet-le-Duc 1866, S. 33.
350 Hierfür steht exemplarisch seine Publikation Du style gothique au dix-
neuvième siècle (Paris: Didron, 1846).
351 Viollet-le-Duc 1866, S. 31.
352 Wegweisend erwähnt er auch die Möglichkeiten der Fotografie, deren
Dokumentationswert er höher einstuft als den der Zeichnung und die mit
äußerster Präzision klarstellt, was am Monument selbst nur schwer beobachtet
werden könne. Bereits 1842 hatte Viollet-le-Duc Notre Dame de Paris durch
einen Fotografen dokumentieren lassen, 1851 fand mit der Mission
héliographique ein umfangreicher Einsatz des Mediums durch die französische
Denkmalpflege statt. Sie sei ein modernes, unbedingt zu Rate zu ziehendes
Hilfsmittel, dass den ausführenden Restaurator bei der Ermittlung der richtigen
Lösung helfe, an deren Existenz Viollet-le-Duc nicht zweifelt. Der Restaurator
müsse „achever son oeuvre avec la conscience de n’avoir rien abandonné au
hasard et de n’avoir jamais cherché à se tromper lui-même.“ (Viollet-le-Duc
1866, S. 34).
353 Als Beispiel seien hier die Restaurierungen von Notre Dame de Paris,
Carcassonne oder Pierrefonds genannt.
354 Nach Swenson liegt der Ursprung der Begriffe im 19. Jahrhundert, auch wenn
ihre weite Verbreitung erst ab den 1920er Jahren erfolgt (Swenson 2007, S. 70).
355 Zur Frage der zeitgemäßen Architektur auch Heinrich Hübsch: In welchem
Style sollen wir bauen? Karlsruhe: Müller, 1828; weiterhin Hammer 1995, S.
88.
356 Nietzsche 1996, S. 13.
357 Treinen 1987, S. 180.
358 Treinen 1987, S. 183.
359 Lowenthal 2002, S. 410.
360 Beginnend 1902 mit dem Denkmalschutzgesetz von Hessen-Darmstadt;
Hammer 1995, S. 151 ff.
361 Tag für Denkmalpflege: Stenographischer Bericht / Tag für Denkmalpflege.
Berlin: Ernst, 1900 ff.
362 Schriftleitung des Centralblattes der Bauverwaltung: Die Denkmalpflege.
Berlin: Ernst 1899 ff. In der Folge: Denkmalpflege und Heimatschutz,
Zeitschrift für Denkmalpflege und Deutsche Kunst und Denkmalpflege, heute:
Die Denkmalpflege. Wissenschaftliche Zeitschrift der Vereinigung der
Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland.
363 Hammer 1995, S. 141.
364 Hermann Muthesius erwähnte mit Unverständnis in seinem Nachruf zu John
Ruskin, „daß wir in Deutschland […] von Ruskin noch so gut wie nichts wissen.“
(Muthesius 1900, S. 44).
365 Hierzu ausführlich Falser 2008, S. 43 ff.
366 Sein 1901 formulierter Appell gegen die von Carl Schäfer vorgeschlagene, nicht
auf historischer Evidenz beruhende Rekonstruktion des Ottheinrichsbaus ist
entschieden. Weniger radikal als Ruskin, dafür durchsetzbar proklamiert Dehio:
„Nach langen Erfahrungen und schweren Mißgriffen ist die Denkmalspflege nun
zu dem Grundsatze gelangt, den sie nie mehr verlassen kann: erhalten und nur
erhalten! ergänzen erst dann, wenn die Erhaltung materiell unmöglich
geworden ist; Untergegangenes wiederherstellen nur unter ganz bestimmten,
beschränkten Bedingungen.“ (Dehio 1914b, S. 252). Diese, letztendlich das
Resultat der Schlossdebatte darstellende Auffassung nimmt die ideelle
Ausrichtung der Denkmalpflege der nächsten Jahrzehnte vorweg (Fischer 2010,
S. 342). Angesichts der Frage um den Wiederaufbau der Hamburger
Michaeliskirche wich Dehio allerdings von seinen eigenen Grundsätzen ab,
indem er forderte: „seid von Zeit zu Zeit auch einmal tolerant! […] tolerant
gegen die Hamburger Anschauungen, die der Michaeliskirche ihre alte Gestalt
wieder geben wollen.“ (Dehio 1909, S. 167).
367 Dehio 1901, S. 111; Dehio 1905, S. 141.
368 Spieker 1899, S. 101.
369 Nietzsche 1996, S. 30.
370 Dehio 1901, S. 111; Dehio 1905, S. 141.
371 Dvořák 1918, S. 36.
372 Tornow 1900, S. 114.
373 Tornow 1900, S. 114.
374 Dehio 1901, S. 111, 115. An anderer Stelle spricht Dehio vom „Nimbus sog.
Echtheit“, der Restaurierungen fälschlicherweise zugesprochen werde (Dehio
1905, S. 143).
375 Schäfer war gezwungen seinen Rekonstruktionsvorschlag zu revidieren,
nachdem 1902 im Wetzlaer Skizzenbuch eine Zeichnung des Ottheinrichsbaus
gefunden wurde. Auch sein zweiter Entwurf bleibt eine zeitgenössische
Ausführung. Die Rekonstruktion wurde mitunter als gegen Frankreich
gerichtete Revanche verstanden (Hubel 2006, S. 81).
376 Ebhardt 1905, S. 161.
377 Zit. n. Falser 2008, S. 49.
378 Zit. n. Falser 2008, S. 49.
379 Gurlitt (1901) zit. n. Hanselmann 1996, S. 61 f.
380 Haupt 1902, S. 8.
381 Society for the Protection of Ancient Buildings (1901) zit. n. Hanselmann 1996,
S. 63.
382 Hubel 2006, S. 85.
383 Muthesius 1902, S. 121.
384 Lange 1906, S. 515.
385 Sie sprechen auch aus den Maßnahmen an Bauten, die im Gegensatz zum
Ottheinrichbau einer Nutzung unterliegen und daher auf Eingriffe angewiesen
sind. So erhält beispielsweise die 1897 ausgebrannte Kreuzkirche in Dresden
zwei Jahre darauf keine historistische, sondern eine zeitgenössische
Ausstattung in Anklang an den Jugendstil (Hubel 2006, S. 96).
386 Dolff-Bonekämper 2010, S. 27. Gabi Dolff-Bonekämper unterstreicht in ihrem
Artikel die Aktualität von Riegls Denkmalwerttheorie und ergänzt diese
gewinnbringend.
387 Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung. Leipzig: W.
Braumüller (Riegl 1903, S. 5).
388 Riegl 1903, S. 7.
389 Dehio 1905, S. 141.
390 Der „Herstellung geschlossener Werke“ durch den Menschen steht die
„Auflösung des Geschlossenen“ (Riegl 1903, S. 24) durch die Zeit
komplementierend gegenüber.
391 Riegl 1903, S. 27.
392 Huse 1984, S. 129 f.; Riegl fasst den Kern seiner gefühlsbetonten Anschauung
als Erfahrung des Zeitlichen folgendermaßen zusammen: „Die Denkmale
entzücken uns hienach als Zeugnisse dafür, daß der große Zusammenhang, von
dem wir selbst einen Teil bilden, schon lange vor uns gelebt und geschaffen
hat.“ (Riegl 1905, S. 94).
393 Dehio 1905, S. 139. Wolfgang Seidenspinner deutet diese Passage als Dehios
Kritik an der Betrachtung von Denkmalen als körperliche Wesen. Seiner Ansicht
nach ist die von Dehio geäußerte Besorgnis, die Existenz der Denkmale sei an
den Fortbestand derer materiellen Substrate gebunden, eine Abkehr von der
grundlegenden Bedeutung der materiellen Substanz. Ich lese in Dehios Worten
hingegen eine Besorgnis um den sorgfältigen Erhalt der materiellen Substanz
(Seidenspinner 2007a, S. 2).
394 Dehio 1905, S. 141.
395 Dehio 1905, S. 139.
396 Dehio 1905, S. 142.
397 Dazu ausführlich Dolff-Bonekämper 2011c, S. 202 ff.
398 Eßbach 1997, S. 18.
399 Wussow 1885b, S. 241 ff.
400 Bereits seit 1878 wird der Congrès international des architectes, zunächst in
Paris und später auch in Brüssel, London und Madrid veranstaltet. Dabei
werden auch Restaurierungen besprochen, jedoch keine allgemein gültigen
Grundsätze aufgestellt.
401 Normand 1889, S. 14.
402 Vattel 1758, § 168. Allerdings rechtfertigt Vattel die Zerstörung, insofern sie
dem Kriegsziel dient (Vattel 1758, § 168; § 173).
403 Ministère des Affaires étrangères 1874, S. 5, § 8.
404 Manuel des lois de la guerre sur terre, dort Artikel 53.
405 Heinrich von Geymüller in Normand 1889, S. 20. Geymüller bezeichnet Viollet-
le-Ducs Artikel „Restauration“ (Kapitel I.2.2) als beispielhaft.
406 Vorschlg von Félix Ravaisson (Normand 1889, S. 19 f.).
407 Normand 1889, S. 28.
408 Normand 1889, S. 24 ff.
409 Normand, Charles: „Premières idées sur l’organiation de la Croix Rouge pour la
protection des monuments en temps de guerre“. In: L’Ami des monuments, Bd.
3, 1889, S. 272–277. Der Name gibt einen Hinweis auf die Inspiration durch das
1863 in Genf gegründete Comité International de la Croix Rouge.
410 Die Zerstörung von Bauwerken und die Wiederherstellung von Bauplastik
werden ausdrücklich verurteilt, als Ziel der Maßnahmen werden mitunter der
Erhalt aller Zeitschichten sowie die Konservierung genannt.
411 „Toute saisie, destruction ou dégradation intentionnelle de semblables
établissements, de monuments historiques, d’oeuvres d’art et de science est
interdite et doit être poursuivie.“ (Conférence internationale de la Paix 1899,
Art. 56) vgl. Ministère des Affaires étrangères 1874, S. 5, § 8.
412 Conférence internationale de la Paix 1899, Art. 27.
413 Cloquet in Cabello y Lapiedra 1906, S. 154 f.
414 Cabello y Lapiedra 1906, S. 155.
415 Totten in Cabello y Lapiedra 1906, S. 156.
416 Cabello y Lapiedra 1906, S. 166 f.
417 Das es zu jeder Zeit Wiederaufbaumaßnahmen gegeben hat, wurde bereits
gezeigt und steht außer Frage. Neu ist jedoch, dass nun nachantike Bauwerke,
die, mitunter vor sehr langer Zeit gänzlich zerstört wurden architektonisch
rekonstruiert werden.
418 Schmidt 2010, S. 413 f.
419 Problematisch ist in diesem Zusammenhang die begriffliche Unschärfe von
Rekonstruktion. Wenn Uta Hassler und Winfried Nerdinger schreiben,
„Rekonstruierende Wiedergewinnung ist historisch so selbstverständlich wie
Bauen, Reparieren und Abreißen“, gilt das lediglich für den Neubau bzw. die
Teilrekonstruktion von Gebäuden (Hassler 2010, S. 6). Rekonstruktion als
angestrebte 1:1 Wiederholung eines verlorenen Bauwerks ist ein erst im 20.
Jahrhundert aufkommendes Phänomen. Dieser Sachverhalt wird auch durch
die von Hassler und Nerdinger herausgegebene wertvolle Übersicht zum Thema
Wiederaufbau/Rekonstruktion unterstrichen (Nerdinger 2010). Der im
Lateinischen fehlende Begriff der Rekonstruktion beginnt erst ab dem 18.
Jahrhundert eine größere Bedeutung zu entwickeln, die sich schließlich Ende
des 19. Jahrhunderts steigert (Baus 2009b, S. 99).
420 Fischer 2010b, S. 343.
421 Beltrami begann bereits 1883 damit, das Erscheinungsbild des 1480 erbauten
und 1521 durch Explosion zerstörten Filareteturms des Mailänder Castello
Sforzesco zu recherchieren, um diesen letztendlich baulich wiederherzustellen.
Beltrami standen dafür einige Abbildungen sowie zeitgenössische Türme zur
Verfügung (Meissner 2010, S. 303). Zwischen 1903 und 1905 kommt es
schließlich zur Ausführung des von Beltrami entwickelten Filareteturms. Er
betonte, dass es ihm dabei nicht um eine Genauigkeit in Material, Abmessungen
oder Konstruktionsmethoden gehe, vielmehr richte sich die Rekonstruktion
„essenzialmente alla linea d’assieme, ed al movimento generale delle masse.“
(Zit. n. Jokilehto 1986, S. 364, FN 134).
422 Fenlon 2012, S. 145 ff.
423 Zit. n. Pittarello 2002; „sarebbe un voler falsificare la storia dell’architettura se
si ricostruisse il campanile nello stile antico“ (Übersetzung TM). Alois Riegl
erwähnte in Bezug auf den neu entstehenden Markusturm, dass sich daraus ein
„unlösbarer Konflikt mit dem Alterswert“ ergebe (Riegl 1903, S. 38).
424 Fischer 2010b, S. 344.
425 De Naeyer 1982, S. 170.
426 De Naeyer 1982, S. 172 ff.
427 De Naeyer 1982, S. 183.
428 Office international des musées: La Conservation des monuments d’art et
d’histoire, Paris: 1933.
429 Office international des musées, 1933, S. 401–407. Nicht zu verwechseln mit der
1933 im Rahmen des IV. Congrès internationaux d’Architecture moderne
(CIAM) mit dem Thema Die funktionale Stadt entstandenen Charta von Athen
(1943 publiziert). Die Bezüge zwischen Baudenkmalen und Städtebau wurden
bereits 1889 von Camillo Sitte in den Blickpunkt gerückt und fanden
insbesondere durch das Werk Max Dvořáks eine Aufnahme in den
Denkmaldiskurs, der sich in der Folge auch des Ensembleschutzes annahm
(Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Wien:
Graeser, 1889; Huse 1984, S. 160). Adolf Loos brachte 1919 als Richtlinie
hervor, dass das Stadtbild allein durch Neubauten „im Geiste ihrer Zeit“
harmonisch bleiben könne, schränkte diese jedoch sogleich ein auf „jene, die die
traditionelle Bauweise, die wir besaßen, bevor die Nachahmung der
verschiedenen Baustile einsetzte, bewußt mit Hilfe der letzten Erfindungen und
Erfahrungen fortsetzen“, und musste somit aus der Perspektive des Neuen
Bauens beinahe als historistisch angehaucht wahrgenommen werden (Loos
1919, S. 180). Hauptanliegen des CIAM ist der zukunftsweisende Städtebau
unter hygienischen und verkehrstechnischen Gesichtspunkten. Dennoch nimmt
er sich des architektonischen Erbes an und unterstreicht die Bedeutung dessen
Ausdrucks bezüglich vergangener Kulturleistungen. Dabei spricht er sich auch
gegen eine stilistische Adaption neuer Bauwerke an ihre historische Umwelt
aus. Baudenkmale können weiterhin nur dann als sakrosankt gelten, insofern
sie sich nicht mit den Prämissen der Gegenwart schneiden.
430 Office international des musées, 1933, S. 403.
431 Office international des musées, 1933, S. 403.
432 Beispielsweise stehen die Ansätze in Rotterdam, Brest und Le Havre denen in
Saint-Malo oder Warschau gegenüber.
433 Für einen Überblick über die architektonischen Verluste Siehe: Beseler,
Hartwig; Niels Gutschow; Frauke Kretschmer: Kriegsschicksale deutscher
Architektur: Verluste, Schäden, Wiederaufbau: Eine Dokumentation für das
Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Neumünster: Wachholtz, 1988; Götz,
Eckhardt; Horst Drescher: Schicksale deutscher Baudenkmale im Zweiten
Weltkrieg: Eine Dokumentation der Schäden und Totalverluste auf dem Gebiet
der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Henschelverlag, 1978.
434 Deutscher Werkbund 1947, S. 29.
435 Lill 1948, S. 3.
436 Bartning 1948, S. 29.
437 Bartning 1948, S. 31.
438 Vogt 1999, S. 20.
439 Dirks 1947, S. 200.
440 Dirks 1947, S. 200.
441 Dirks 1947, S. 201.
442 Wilhelm Heilig zit. n. Hammer 1995, S. 283.
443 Richard Hamann zit. n. Hammer 1995, S. 283.
444 Hammer 1995, S. 282 ff.
445 Dirks 1947, S. 199.
446 Heidegger 1982, S. 55.
447 Heidegger 1982, S. 85.
448 Heidegger 1982, S. 49.
449 Heidegger 1982, S. 62.
450 Adorno 1970b, S. 127.
679 Rauterberg 2002, S. 34. Auch Rauterberg steht der Inanspruchnahme des
Labels ,Disneyland‘ skeptisch gegenüber.
680 Beispielsweise Hertling 1996; Köpf 2011.
681 Eco 1995, S. 43. An dieser Stelle muss auf Daniel Boorstin verwiesen werden,
der von Eco zwar nicht erwähnt wird, jedoch bereits 1961 in seinem
bahnbrechenden Werk The Image: A Guide to Pseudo-Events in America von
der „menace of unreality“ als „the danger of replacing American dreams by
American illusions“ sprach (Boorstin 2012, S. 240). Boorstin beobachtet auf
gesellschaftlicher Ebene eine zunehmende Substitution spontaner, tatsächlicher
Ereignisse durch Erfindungen und Inszenierungen, wobei images mit
weitreichenden gesellschaftlichen Konsequenzen den Stellenwert von ideals
einnehmen (Boorstin 1012, S. 197, 241).
682 Baudrillard 2001, S. 175.
683 Baudrillard 2001, S. 170.
684 Baudrillard 1981, S. 41.
685 Baudrillard 2001, S. 170 f.
686 Winfried Nerdinger bezeichnet Rekonstruktionen als Neubau (Nerdinger
2010b, S. 10), was sich allerdings lediglich auf ihre materielle Substanz und
Konstruktion beziehen lässt. Sie verfügen allerdings weder über die Idee des
Neuen, noch über künstlerische und kulturelle Innovationskraft, da sie lediglich
eine Wiederholung darstellen.
687 Baudrillard 1981, S. 12.
688 Baudrillard 1981, S. 16.
689 Das verdeutlicht sich insbesondere anhand von Rekonstruktionen von seit
Jahrzehnten verschwundenen Bauwerken. Deren erneuerter Eintritt in das
kollektive Gedächtnis ist stets mit einer Neubewertung ihrer historischen
Symbolkraft verbunden.
690 Baudrillard 1981, S. 16.
691 Eco 1995, S. 16.
692 Thomaschke 2009, S. 49.
693 Burckhardt 2011, S. 61.
694 Nara-Dokument, Präambel, Punkt 4.
695 Boehm 2000, S. 77.
696 Nora 1989, S. 7.
697 Berek 2009, S. 193.
698 Halbwachs 2001, S. 86–88.
699 Boehm 2000, S. 77 f.; Moller 2010; Shanken 2009, S. 219, 226 f.
700 Baudrillard 1989, S. 13.
701 Nora 1984. Sabine Moller spricht gar von einer „Allgegenwart der Erinnerung“,
die momentan zu beobachten sei (Moller 2010); Mathias Berek beobachtet
bereits seit den 1970er Jahren einen „Boom der Erinnerung“ (Berek 2009, S.
10).
702 François, Etienne; Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1–3.
München: Beck, 2001. Sabrow, Martin: Erinnerungsorte der DDR. München:
Beck, 2009. Boer, Pim: Europäische Erinnerungsorte. München: Oldenbourg,
2011. Markschies, Christoph: Erinnerungsorte des Christentums. München:
Beck, 2010. Stein-Hölkeskamp, Elke; Karl-Joachim Hölkeskamp:
Erinnerungsorte der Antike: Die Römische Welt. München: Beck, 2006.
Henningsen, Bernd: Transnationale Erinnerungsorte: nord- und
südeuropäische Perspektiven. Berlin: BWV, 2009. 244 Nora 1984, S. XLI.
703 Als Bedingung nennt Tomaszewski den Verlust „infolge einer Katastrophe“,
wobei wohl jeglicher Verlust im gewissen Sinne als Katastrophe gewertet
werden kann. „Auf eine magische Weise“ komme es somit „zum Phänomen der
Reinkarnation“ (Tomaszewski 2011, S. 60).
704 Richard Krautheimers Zitat bezieht sich auf Leopold Ranke; Zitiert aus
Anderson 1995, S. 36.
705 Auch Berek konstatiert, dass kollektive Erinnerungen mit Sicherheit keine
„originalgetreue Abbildung vergangener Ereignisse und Wahrnehmungen, wie
sie gewesen sind“ leisten können (Berek 2009, S. 190).
706 Assmann 1999, S. 77. Bei aller Parallelität der Gedanken scheint Anderson
Assmanns zwei Jahre zuvor erschienenes Werk Das kulturelle Gedächtnis, das
erst 2011 in einer englischen Übersetzung vorlag, nicht gekannt zu haben. Schon
1939 hat Maurice Halbwachs in seinem einflussreichen Werk La mémoire
collective, das erst 1950 posthum erschien, darauf hingewiesen, dass kollektives
Gedächtnis und Geschichte zwei verschiedene Dinge sind.
707 Moller 2010.
708 Hollis 2010, S. 58.
709 Loewy 1996, S. 7.
710 Berek 2009, S. 22. Dazu auch Berek 2009, S. 111 ff.
711 Berek 2009, S. 22.
712 Berek 2009, S. 117 f.
713 Siehe dazu ausführlich Dolff-Bonekämper 2010, S. 31 f.
714 ICOMOS 2014.
715 ICOMOS 2014.
716 De Naeyer 2000, Präambel.
717 Taut 2005, S. 143 f.
718 Watanabe 1974, S. 27.
719 Es existieren keine verlässlichen Zahlen. Dem Verband der Shintō Schreine (神
社本庁, Jinja Honcho) gehören rund 80000 Schreine in Japan an (Jinja
Honcho 2009). Das Statistikbüro des Ministeriums für innere Angelegenheiten
und Kommunikation (統計局, tōkeikyoku) nennt für das Jahr 2005 circa 107,24
Millionen Glaubensanhänger, was rund 84% der Bevölkerung entspricht
(Statistikbüro des Ministeriums für innere Angelegenheiten und
Kommunikation 2006).
720 Assmann 2003, Klappentext.
721 Zwar erlangte der in Japan ab 552 u. Z. eingeführte Buddhismus großen
Einfluss und ging teilweise einen Synkretismus mit dem Shintō ein, hat diesen
jedoch nie verdrängt und kann selbst nicht als monotheistisch betrachtet
werden. Zwischen 1868 und 1945 wurde der Shintō sogar zur Staatsreligion mit
alleiniger Gültigkeit erklärt und der Synkretismus verboten.
722 Shintō-Rituale beziehen auch heute noch Opfertiere (Hühner) und Fetische
(Puppen) ein (Isozaki 2006, S. 142).
723 Die anderen beiden Reichsinsignien sind ein Schwert und Krummjuwelen.
724 Shimazu 2005.
725 Kawazoe 1965, S. 184 f.
726 Auch die beiden anderen Reichsinsignien, das Schwert Ame no murakumo no
Tsurugi und der Edelstein Yasakani no Magatama, sind weder der Öffentlichkeit
noch der Wissenschaft zugänglich.
727 Ostwald 1953, S. 244.
728 Watanabe 1974, S. 28.
729 Fahr-Becker 2000, S. 63.
730 Watanabe 1974, S. 27.
731 Ponsonby-Fane 1962, S. 46 f.
732 In der Literatur finden sich unterschiedliche Angaben zur Art der Bäume, was
wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass der Sugi (Cryptomeria japonica)
zwar zur Familie der Zypressengewächse gehört, jedoch mit ,Sicheltanne‘
übersetzt wird und darüber hinaus auch als ,Japanische Zeder‘ bekannt ist.
733 Jingu Administration Office 2002.
734 Maßangaben entsprechend Hvass 1999, S. 14.
735 Adam 2001, S. 121.
736 Taut 1937, S. 70.
737 Watanabe 1974, S. 58. Weshalb Taut den Bauten des Geku die größte Reinheit
zuschreibt, wird aus seiner Darstellung nicht ersichtlich (Taut 2005, S. 140). Die
meisten anderen Bauten der Ise-Schreine sind im Wesentlichen dem
Konstruktionsprinzip des Kotaijingu-Shōden vergleichbar, besitzen jedoch mit
Ausnahme des Toyoukedaijingu-Shōden keine Galerie. Sie variieren dabei stark
in Größe, Proportionen und Details, zudem wird neben Hinokirinde auch
Schilfgras zur Deckung der Dächer verwendet. Zu ihnen zählen auch
Speichergebäude, Gebäude zur rituellen Reinigung und Zubereitung von
Speisen, Aufenthaltsbauten für bestimmte Feierlichkeiten sowie strukturell
notwendigerweise abweichende Bauwerke wie Brücken, Tore und Brunnen. Alle
befinden sich in Benutzung und werden für die Durchführung von mitunter
täglich vollzogenen Zeremonien benötigt.
738 Hvass 1999, S. 54.
739 Watanabe 1974, S. 59; Auch Bruno Taut erkannte den chinesisch-
buddhistischen Einfluss, den das Geländer zeigt (Taut 2005, S. 140).
740 Kawazoe 1965, S. 187.
741 Schwind 1981, S. 16.
742 Die Dimensionen der Ise-Schreine weisen ferner darauf hin, dass die Relationen
japanischer Architektur stets durch den Rahmen ihrer unmittelbaren Funktion
gewahrt bleiben. Fast alle traditionellen Bauwerke des Landes berücksichtigen
in ihrer Raumentfaltung den menschlichen Körper als zentralen Maßstab. Sie
weisen eine Konzentration auf Details und die Harmonie der Komposition auf,
umfangreiches Dekor und physische Größe sind vergleichsweise unbedeutend.
Einige wesentliche Bestandteile des japanischen Hauses wie die Tatamimatte
sowie die Schiebetüren und -fenster sind in den Ise-Schreinen noch nicht
enthalten. Deren Voraussetzungen wie die Anhebung des Bodens und seine
damit verbundene Qualitätssteigerung sowie die durch Skelettbauweise erfolgte
Befreiung der Wände von konstruktiven Bestimmungen sind in Ise jedoch
bereits umgesetzt.
743 Kawazoe zit. n. Koolhaas 2011, S. 226.
744 Sengukan Museum (せんぐう館), Ise, Oktober 2013.
745 Kawazoe 1965, S. 200.
746 Watanabe 1974, S. 11.
747 Die 62. Erneuerung der Ise-Schreine wurde mit 55 Mrd. Yen veranschlagt
(Edahiro 2004).
748 Watanabe 1975, S. 51; Neben den Ise-Schreinen wurden der Izumo-Taisha-
Schrein (Shimame) alle 60 Jahre, der Nukisaki-Schrein (Gunma) alle 13, der
Kasuga-Schrein (Nara) alle 30 und die beiden Kamo-Schreine (Kyoto) alle 21
Jahre erneuert. Aufgrund der enormen Kosten ist der Prozess heute lediglich
auf Erhaltungsmaßnahmen reduziert (Picken 1980, S. 39; Bhat 2009).
749 Violet 1982, S. 23. In Japan bezieht sich die Bezeichnung Schrein auf einen
Kultbau des Shintō wohingegen eine buddhistische Sakralstätte Tempel genannt
wird.
1005 Hvass führt die Kategorien Koreisei, Rinjisai und Sengusai auf. Hvass 1999, S.
134.
1006 Baudrillard 1981, S. 17.
1007 Soweit dies aus den Berichten der UNESCO Jahrestagungen seit 1978
hervorgeht. Allerdings wird in den Monitoring-Berichten mehrfach auf einen
drohenden Authentizitätsverlust verschiedener Welterbestätten hingewiesen.
1008 UNESCO 1991, S. 28. Erst 1995 wurde festgelegt, dass ICOMOS für die
Bewertung der Authentizität nominierter Objekte zuständig ist. Bis dahin finden
sich kaum Aussagen darüber, inwiefern ein Objekt dem test of authenticity
unterzogen wird (UNESCO 1996, S. 75). In einigen Fällen, wie beispielsweise
den Jesuitenmissionen der Chiquitos in Bolivien wurde auf die zu Beginn des
20. Jahrhunderts durchgeführten Rekonstruktionen hingewiesen, ohne näher
auf die Problematik der Authentizität einzugehen (UNESCO 1994d, S. 26 sowie
ICOMOS 1990).
1009 Knaller 2006, S. 22.
1010 Lethen 1996, S. 228. Beispielhaft möge das durch das lange Zeit Rembrandt van
Rijn zugeschriebene Gemälde Der Mann mit dem Goldhelm verdeutlicht sein.
Das Bild „war für eine bestimmte Zeit der Inbegriff von Rembrandt, ohne von
Rembrandt zu sein“ (Busch 2006, S. 8). Seine Wahrnehmung als authentisches
Werk des Meisters trug natürlich unweigerlich zu dessen Popularität bei, und
die durch das Rembrandt Research Project erfolgte Abschreibung ging mit
vehementen Verlustgefühlen der Rezipienten einher (Kuhn 2006). Die
fehlerhafte Zuschreibung änderte jedoch nichts an den tatsächlichen
Entstehungsbedingungen des Bildes, auch wenn sich die Kenntnis darüber der
Forschung entzog.
1011 UNESCO 2014.
1012 Nietzsche 1996, S. 25 f.
1013 Beispielsweise in Wezel 2003, S. 210 ff.
1014 Hegel 1994, S. 29.
1015 Isozaki 2006, S. 141. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auch die
durch das Kaiserliche Hofamt untersagte Öffnung und wissenschaftliche
Untersuchung der Kofun (Grabanlagen) der Herrscher der Kofun-Zeit (250–
538) zu sehen.