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Angela Wegscheider1

Soziale Krankenkassen und Krankenfürsorgeanstalten in Oberösterreich bis 1938


(Kurzfassung)

Schon vor der gesetzlichen Verankerung der Sozialversicherungen gab es im Falle von
Krankheit Gegenseitigkeitsvereine, die nach dem Versicherungsprinzip arbeiteten und die von
regionalen Kräften, vor allem aus der Arbeiterschaft, aufgebaut und somit selbst verwaltet
wurden. Nach der Einführung des ersten Arbeiter-Krankenversicherungsgesetzes 1889
wurden die regionalen Einrichtungen, nach den gesetzlichen Bestimmungen und sofern es die
Finanzen zuließen, erweitert. Die einheitliche Sozialversicherung 2 fußt auf dem
Äquivalenzprinzip, welches durch die Idee des sozialen Ausgleichs, orientiert am
Solidaritätsprinzip, ergänzt wurde. Die Ziele der Krankenkassen waren von Beginn an
wirtschaftliche Existenzsicherung, medizinische Hilfe zur Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit, Prävention sowie lohnverteilendes Ansparen.3 Seit Beginn erfolgte die
Finanzierung durch Beiträge der Versicherten und der Dienstgeber, abhängig von der Höhe
des Einkommens. Die Arbeitgeber/innen befreiten sich durch ihren Beitrag zur
Sozialversicherung von ihren gesetzlichen Fürsorge- und Haftpflichten. Die Beitragslasten für
Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen waren über alle Versicherungszweige gerechnet
paritätisch aufgeteilt. Jedoch war nach den Stammgesetzen die Beitragsverteilung je nach
Sozialversicherungszweig von Anfang an verschieden. Zur Krankenversicherung steuerten
Arbeitnehmer/innen zwei Drittel bei, die Arbeitgeber/innen nur ein Drittel. Für die
Unfallversicherung wurden wegen der Haftpflicht die Arbeitgeber/innen als überwiegende
Beitragszahler bestimmt.4

Der eingereichte Artikel analysiert die Entwicklung der sozialen Krankenversicherung bis
1938, und legt dabei den Fokus auf die Arbeiterkrankenkassen, die Krankenversicherung der
Land- und Forstarbeiter/innen und ihre Kassen, die Wolfsegg-Traunthaler Bruderlade bzw.
Betriebskrankenkasse und die Krankenfürsorgeanstalten für Pflichtschullehrer/innen,
Gemeinde-, Landes- sowie Linzer und Steyrer Magistratsbedienstete. Der Schwerpunkt der
Analyse von Genese, Entwicklung und Organisation der sozialen Krankenversicherungsa-

1
Kontakt: Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik, Johannes Kepler Universität Linz,
angela.wegscheider@jku.at, 0732 2468 7154
2
Als Stammgesetze der Sozialversicherung werden das Unfallversicherungsgesetz vom 28. Dezember 1887, das
Krankenversicherungsgesetz vom 30. März 1888, das Bruderladengesetz vom 28. Juli 1889 und das
Hilfskassengesetz vom 16. Juli 1892 bezeichnet.
3
Lederer, Max: Grundriss des österreichischen Sozialrechtes (Wien 1932)
4
Lederer: Grundriss 423
1
nstalten liegt in der Zwischenkriegszeit und in Oberösterreich, die Zeit davor und danach wird
mitberücksichtigt. Ebenso wird die politische, wirtschaftliche und soziale Situation der
Versicherten als auch die Rolle der Selbstverwaltung dargestellt. Neben einschlägiger
Literaturanalyse wurden Akten aus Archivbeständen ausgewertet.

Die Einführung der Kranken- und Unfallversicherung in der österreichischen Reichshälfte der
Donaumonarchie bewegte sich auf zwei Ebenen: Zum einen ging es um die Schwächung der
organisierten Arbeiterbewegung durch Maßnahmen zur Besserung der sozialen Lage der
Lohnarbeiterschaft und um den Erhalt der Arbeitskraft. Zum anderen zielte das als
konservativ zu bezeichnende soziale Handeln auf den Erhalt des gesellschaftlichen und
politischen Systems, die Lösung der sozialen Frage, Ausgleich von gesellschaftlichen
Gegensätzen und Interessen, Prävention, Integration und Herstellung sozialen Friedens ab.5

Während man für die Unfallversicherung neue und vor allem zentrale Institutionen schuf,
stützte man sich, wie die vorliegende Arbeit zeigt, in der Krankenversicherung auf
vorhandene auf regionaler Ebene verankerte Krankenkassen aus der Arbeiterselbsthilfe. Das
bestehende Gefüge der Krankenkassen wurde Reformen unterworfen. Ein erster Schritt war
die bis zum Ende der Ersten Republik andauernde Fusionierung von lokalen Kleinkassen zu
leistungsfähigeren Kassen, die immer noch nahe am Versicherten operieren konnten. Die
österreichische Sozialversicherung konnte schon in den 1920er Jahren im Vergleich mit
Deutschland auf eine weitaus fortgeschrittenere Zentralisierung und Gleichartigkeit in der
Krankenversicherung verweisen, wurde jedoch andererseits durch die berufsständische
Gliederung in Angestellten-, Arbeiter- und Landarbeiterversicherung in drei große Gruppen
unterteilt. Die berufsständische und territoriale Organisation lässt sich, wie die Ergebnisse der
Analyse aus Oberösterreich zeigen, aus der Entwicklungsgeschichte herleiten.

Die Arbeiterkrankenkassen stellten einen treibenden Motor für Entwicklung, Zentralisierung


und Fortschritt in diesem Sektor dar. Der Linzer Arbeiterbildungsverein gründete 1869 (zwei
Jahre nach eigenem Entstehen) die „Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse“ als freie
Vereinskasse. Der anfänglich kleine Versicherungsverein stieg 1919 (50 Jahre nach
Gründung) durch das Engagement seiner Funktionäre und Mitarbeiter/innen zum größten
Versicherungsträger Oberösterreichs (1929 80.000 Versicherte) auf. Die Linzer Allgemeine
Arbeiterkranken- und Unterstützungskasse hatte in der Ersten Republik bis zu 100 Ortsstellen

5
Tálos, Emmerich: Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse (Wien 1981)
2
verteilt in ganz Oberösterreich, betrieb moderne Fachambulatorien in Linz, Wels und Steyr
und besaß Heil- und Kurhäuser. Die prosperierende Krankenkasse stand bis 1934 unter dem
Einfluss der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Nach dem Februar 1934 übernahmen
der Heimwehr und den Nationalsozialisten nahe stehende Personen mit Hilfe durch die
Regierung eingesetzte Kommissäre führende Positionen.

Spätestens in den 1930er Jahren war vergessen, dass es erst durch die drohende Gefahr des
politischen Umsturzes und die Durchsetzungsfähigkeit der Arbeiterbewegung nach dem
Ersten Weltkrieg (1918-1920) für die unselbstständig Beschäftigten zu bedeutenden
arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Errungenschaften kam. Ein Durchbruch war die
Ausdehnung der Krankenversicherung auf alle in einem Arbeits-, Dienst- und Lehrverhältnis
stehenden Personen. Dabei baute die junge Republik auf die noch vor dem Krieg geleisteten
Vorarbeiten auf und erweiterte nicht nur den Kreis der Versicherten mit Hilfe von
berufsständisch organisierten Kassen, sondern auch den Umfang des Versicherungsschutzes.
Die Krankenversicherung für Arbeitslose und die Familien- bzw. Angehörigenversicherung
wurde in dieser Zeit ermöglicht.

In den 1920er Jahren entschied die Christlichsoziale Regierungspartei das unterschiedliche


Arbeitsrecht, die Besonderheiten der Berufsgruppen, aber auch die Interessen der
Standesvertreter machten nur eine Weiterentwicklung nach Berufsgruppen möglich. Nachdem
Gesetzgebung und Vollzug aller Zweige der Sozialversicherung 1925 nun endlich als
Angelegenheiten des Bundes bestätigt wurden, war eine Weiterentwicklung wieder möglich.
Der Bund stieß dennoch auf Vorbehalte in den Bundesländern, insbesondere was die
Umsetzung der Krankenversicherung für Land- und Forstarbeiter/innen und die Kranken-
versicherung bestimmter Gruppen von öffentlich Bediensteten betraf. In der Folge beteiligte
der Bund die Länder wesentlich mehr bei der Ausgestaltung der Krankenversicherung und
nahm auf regionale Eigenheiten Rücksicht. Veranschaulicht wird diese Entwicklung in der
eingereichten Arbeit insbesondere im Kapitel zur Krankenversicherung der Land- und
Forstarbeiter/innen und die Krankenfürsorgeanstalten6.

Obwohl ab 1921 sukzessive alle unabhängig Beschäftigten und ihre Angehörigen von der
gesetzlich verpflichteten Krankenversicherung erfasst wurden, blieben einige Berufsgruppen,
6
Ein oberösterreichisches Unikum sind die Häufung und die Langlebigkeit der speziellen
Krankenfürsorgeeinrichtungen für Landeslehrkräfte, Landes-, Gemeinde- und Magistratsbedienstete. Diese
Anstalten gibt es noch heute, ihr Weiterbestehen steht immer wieder zur Diskussion. Neu hinzugekommen ist
lediglich die Krankenfürsorge der Stadt Wels, die am 1. Jänner 1964 erstmals eingerichtet wurde.
3
wie Selbstständige, Tagelöhner/innen und Landwirte sowie ihre direkten Angehörigen, nicht
erfasst und manche, obwohl Versicherungspflicht bestand, waren einfach nicht
ordnungsgemäß gemeldet. Es gab hier insbesondere bei den Krankenkassen, insbesondere der
Land- und Fortarbeiter/innen, Probleme mit Unterversicherung und Umgehung der
Versicherungspflicht.

Die stetige Weiterentwicklung des Sozialversicherungsrechts fand mit der beginnenden


Wirtschaftskrise ein jähes Ende. Es mussten sogar Verschlechterungen in Kauf genommen
werden7. Der ersehnte Ausbau um die Altersversicherung für die Arbeiter/innen geriet,
obwohl bereits beschlossen, durch wirtschaftspolitisches Kalkül ins Stocken und wurde bis
1938 nicht mehr durchgeführt. Ende der 1920er Jahre kamen die Unfall- und
Invaliditätsversicherung, aber auch die Wolfsegg-Traunthaler Bruderlade durch die
monatlichen Provisionsversicherungsrenten durch Beschäftigungsrückgang und
Lohnkürzungen in Finanzierungsschwierigkeiten. Obwohl die Krankenkassen Ende ab Beginn
der Wirtschaftskrise (1929) nicht so dramatische Finanzierungsengpässe kannten, stiegen bei
den oberösterreichischen Versicherungsträgern die Ausgaben stärker an als die Einnahmen.
Dennoch konnten die Krankenversicherungsträger ihre Defizite aus eigener Kraft und mit
Hilfe von Kostenreduktion durch Leistungskürzungen ausgleichen. Die Krankenkassen
wirtschafteten während der 1930er Jahre gerade noch positiv.

Die erhöhte und länger andauernde Arbeitslosigkeit in den 1930er Jahren belastete die
wirtschaftliche Situation Österreichs, aber auch die der Sozialversicherungsträger.
Diskussionen über die Ursachen oder wirksame Strategien zur Behebung der Arbeitslosigkeit
wurden von politischer Seite eher nachrangig geführt. Trotz des positiven Finanzhaushaltes
und der gesellschaftlichen Anerkennung der Institution Krankenversicherung gab es immer
wieder Stimmen, die insbesondere in den 1930er Jahren die Abschaffung oder eine
fundamentale Reform forderten. Gerne wurde die Behauptung aufgestellt, die
Krankenversicherung sei wegen der Höhe der Beiträge eine Hauptursache für die hohe
Arbeitslosigkeit. Die damaligen Reformideen reichten von einschneidender
Krankenkassenkonzentration, über ein auf Steuern basierendes Finanzierungssystem bis hin
zu einer Staatsbürgerversicherung. Nichts davon wurde auch nur in Ansätzen angegangen,
sondern vielmehr gerieten einmal erreichte Sozialrechte in der Zeit der Wirtschaftskrise von
Seiten der Regierung und der Wirtschaftsverbände unter Beschuss. Die Zugangsregelungen zu
7
In den 1930er Jahren waren die Versicherten in allen Zweigen der Sozialversicherung, insbesondere in der
Arbeitslosenversicherung, mit restriktiveren Zugangsregelungen und niedrigerem Leistungsumfang konfrontiert.
4
Sozialversicherungsleistungen wurden mehrmals verschärft und der Leistungsumfang
reduziert.

Das 1935 verabschiedete Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz (GSVG) brachte eine


einheitlichere Kodifizierung im System der Sozialversicherung, nicht aber eine
Harmonisierung der Leistungen und Ansprüche. Wesentliche organisatorische Fortschritte
waren aber die Einführung der abgeleiteten Selbstverwaltung, die stärkere Festschreibung der
Rolle der Krankenkassen als Unterbau der Sozialversicherungen und die Einführung von
landesweit agierenden wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften. Die Einführung der indirekten
Wahl, das tragende Element der abgeleiteten Selbstverwaltung, stand schon länger zur
Diskussion, da die direkte Wahl bei größeren Kassen nicht praktikabel war. Das neue System
sah vor, dass die Zusammensetzung der Verwaltungskörper der Sozialversicherungsträger
durch die Nominierung der öffentlich-rechtlichen Interessenvertretungen von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern erfolgte. Jedoch glich im autoritären Ständestaat die Einführung der
abgeleiteten Selbstverwaltung einer de facto Aufhebung der Selbstverwaltung, da die
Staatsaufsicht erheblich verstärkt wurde, die freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften
verboten und die demokratische Wahl der Interessenvertretungen aufgehoben war.

Das GSVG stellte eigentlich einen Sanierungsplan dar und war als gesetzliches Provisorium
gedacht, denn nach fünf Jahren (1939) wollte die Bundesregierung prüfen, ob die neuen
Regeln auch dementsprechend wirksam waren. Zu einer Überprüfung der Wirksamkeit des
Sanierungsplanes kam es nicht mehr. Mit 22. Dezember 1938 trat die deutsche
Reichsversicherungsordnung in Kraft. Die österreichischen Sozialversicherungsträger wurden
den deutschen Regelungen angepasst, die Leistungen angeglichen und die Alterspension
eingeführt. Eine wesentliche organisatorische Änderung bedeutete die Abschaffung der
Selbstverwaltung durch das „Führerprinzip“. Die Krankenkasse für Angestellte wurde
aufgelassen und ging in die „Allgemeine Ortskrankenkasse“ (AOK), wie die
Gebietskrankenkasse nunmehr hieß, ein. Neben der AOK blieben die Landwirtschafts-
krankenkasse und einige wenige Betriebskrankenkassen bestehen.

Abschließend ist nochmals darauf hinzuweisen, dass es seit der Anfangsphase das Ziel des
selbstverwalteten Zusammenschlusses von Arbeitnehmer/innen war, für die Versicherten bei
eintretender Erwerbsunfähigkeit ausgleichend, lastenverteilend und wiederherstellend zu
wirken. Die soziale Krankenversicherung leistet einen wichtigen Beitrag zur

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Grundversorgung sowie Sicherung, Zugänglichkeit und Leistbarkeit von medizinischer
Versorgung. Was heute als selbstverständlich angesehen wird, wurde vor allem durch die
beharrliche Arbeit von ehrenamtlich tätigen Kassenfunktionären auf regionaler Ebene
aufgebaut. Die Entwicklung war von den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kräften
und Bedingungen geprägt und nahm in den Bundesländern unterschiedliche Verläufe. Gerade
deshalb ist der Blick auf Oberösterreich und seine Eigenarten besonders wichtig, um das
heute in diesem Bundesland bestehende System zu verstehen.

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