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NIKOLAUS CUSANUS – EIN DENKER ZWISCHEN MITTELALTER UND NEUZEIT

geboren 1401 als Nikolaus Cryfftz (Krebs) im Winzerdorf Kues an der Mosel als Sohn
eines Moselschiffers und Winzers; studierte in Heidelberg, der dritten deutschsprachigen
Universität nach Prag und Wien (sehr traditionell, wenig fort-
schrittlich), wechselte nach einem Jahr nach Padua (sehr aufge-
schlossen, beeinflusst von der italienischen Frührenaissance), wird
Doktor des Kanonischen Rechts, studiert daraufhin Theologie und
Philosophie in Köln, steile kirchliche und diplomatische Karriere,
philosophisches Hauptwerk „De docta ignorantia“, stirbt 1464 in
Umbrien

Rechtsanwalt, Priester, Bischof (Brixen 1450-1460), Kardinal, Theologe, Philosoph, Kirchenpolitiker,


Mathematiker, Universalgelehrter (Medizin, Botanik, Kartographie, Experimente [mit Waagen],
Quadratur des Kreises, Kalenderreform ...)

Er gilt vielen als bedeutendster Philosoph und einer der bedeutendsten Mathematiker des 15. Jahrhunderts.
Vieles wurde vergessen und erst später von Historikern und Philosophen wiederentdeckt.

HISTORISCHER HINTERGRUND
Mit dem einen Gesicht scheint die Zeit des 14. und 15. Jahrhunderts zurück in die Vergangenheit zu schauen, ins
Mittelalter, mit dem anderen schaut sie weit nach vorne in die Zukunft und legt die Grundlagen für die künftige
Entwicklungen. Das erstarrte mittelalterliche System der Scholastik wird durch die beginnende Renaissance bezwun-
gen. Damals erlangte erstmals im christlichen Abendland das Individuum seine Bedeutung und trat als Persönlich-
keit in Kunst, Wissenschaft und Technik sowie als Entdecker fremder Erdteile aus der Anonymität heraus. [1] Als
1453 das Byzantinische Reich mit dem Fall Konstantinopels endgültig unterging, richtete sich Cusanus‘ Augenmerk
auf den Islam und andere Religionen. In seiner Schrift „Vom Frieden im Glauben“ diskutieren Vertreter verschie-
dener Glaubensrichtungen in toleranter Weise miteinander. In der Schrift „Sichtung des Koran“ setzt er sich mit
dem muslimischen Glaubensbuch auseinander.

MODERNE IDEEN
▪ Das All ist unendlich.
▪ Die Erde ist nicht im Mittelpunkt des Universums.
▪ Die Erde dreht sich um sich selbst.
▪ Es gibt (bewohnte) extrasolare Planeten.
▪ Maße sind relativ.

METAPHYSIK UND RELIGIONSPHILOSOPHIE


[2] Gott übersteigt die Fassbarkeit des menschlichen Verstandes. Er ist das
Unendliche, das Absolute, das Zusammenfallen des Gegensätzlichen („co-
incidentia oppositorum“). Cusanus lehrt – anders als jene, die eine Natürliche
Theologie vertreten –, eine negative Theologie, d.h. wir können über Gott
keine positiven Aussagen zu seinen Eigenschaften machen und sein Wesen
nicht erfassen. In anderen Worten: Wir können nicht sagen, was oder wie Gott
ist, nur wie oder was er nicht ist.

[3] Das Wesen Gottes sah er in der „complicatio“ (Einfaltung), dem unendli-
chen Zusammenfall aller Gegensätze (dem „Einen“, vgl. Neuplatonismus) und
die Welt als „explicatio“ (Ausfaltung) Gottes. Die Dinge in Gott und die Din-
ge in der Welt sind aber von anderer Seinsweise, deshalb vertritt er keinen
Pantheismus. Die Zahlen sind die Ausfaltung der Eins (1), der Raum des
Punktes, die Zeit des Augenblicks. Denn: Die Eins bleibt in allen Zahlen vor-
handen, der Punkt überall im Raum, der Augenblick in jeder Zeitspanne, so wie
Gott in der Welt bleibt.

[4] Die Beschäftigung mit ihm führt uns aber zum Begreifen unseres Nichtbegreifens („docta ignorantia“). Jede
Religion spiegle einen Teil der unendlichen göttlichen Wahrheit wider. Er spricht von der „einen Religion in verschiedenen
Riten“. Mit seiner Idee vom „wissenden Nichtwissenden“ verfolgt er eine ähnliche Strategie wie Sokrates („Ich weiß,
dass ich nicht(s) weiß.“). Menschen, die zu früh stehen bleiben, weil sie meinen, schon Vieles oder alles zu wissen, sollen
aus ihrer Erstarrung erweckt werden, damit sie tiefer bohren und zu echtem Wissen gelangen.

PHILOSOPHIE
[5] Cusanus unterscheidet zwischen Verstand („ratio“) und Vernunft („intellectus“). Der Verstand denkt in Ge-
gensätzen und akzeptiert den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Es ist eine Logik des Endlichen und kann somit
die Unendlichkeit nicht erfassen. Die Vernunft hingegen vereint alles Gegensätzliche im Absoluten. Im Unendlichen
gilt der Satz vom Widerspruch nicht mehr. An seine Stelle tritt das Zusammenfallen aller Gegensätze, die schon er-
wähnte „coincidentia oppositorum“, ein Grundkonzept von Cusanus.

Logik des kein Weg zu Gott


ratio Denken
in Gegensätzen
Endlichen („ignorantia
Dei“)
(n-Eck)

Erfassen des Zugang zu Gott


intellectus Denken
in Ideen
Unendlichen („coincidentia
oppositorum“)
(Kreis)

Die Lehre von der „coincidentia“ schlägt eine Brücke von der antiken Ideenlehre Platons zur modernen Dia-
lektik Hegels, indem sie das bis dahin kritiklos akzeptierte und von den Scholastikern gelehrte starre aristotelische
Gegensatzdenken überwindet.

Ein Beispiel: Kreis und Quadrat sind verschiedene geometrische Figuren. Das eine kann nicht zugleich das andere
sein. Wird aber aus dem Viereck ein Fünfeck, dann ein Sechseck, schließlich ein n-Eck, wobei n gegen unendlich
geht, so geht es in einen Kreis über. Damit ist im Unendlichen Bewegung in der Ruhe, Licht gleich Finsternis, Geist
gleich Materie. Ein weiteres Beispiel veranschaulicht dies
mit einer unendlichen Geraden. Diese ist nicht nur
Gerade, sondern zugleich auch ein Dreieck (mit größter
Grundseite und kleinster zugehöriger Höhe), ein Kreis
bzw. Kugel (mit unendlich großem Durchmesser).

[6] Alles rationale Erkennen ist ein Vergleichen, ein


Zueinander-in-Proportion-Setzen. Kein Ding existiert für
sich allein, sondern stets in Beziehung zu anderen. In-
dem der Mensch die Welt als vielfältiges Beziehungsgefü-
ge begreift, vermag er sie mit Hilfe physikalisch-mathe-
matischer Messungen schrittweise immer genauer – wenn auch nicht vollständig – zu erfassen.

MATHEMATIK
[7] Cusanus hat sich mit der Quadratur des Kreises beschäftigt. Man kann dies auch so formulieren, dass er ver-
sucht hat Krummes gerade zu machen. Nach dem mathematischen Schuldenken der damaligen Zeit war das aber
unmöglich, weil „krumm/gerade“ als Paar gegensätzlicher Begriffe gemäß dem aristotelischen Satz vom ausgeschlos-
senen Dritten stets unvereinbar bleiben. Er stellt die prinzipielle Unlösbarkeit nicht in Frage, begründet sie aber neu.
Auch wenn sich das Vieleck noch so sehr an den Kreis anschmiegt, sie bleiben unvereinbar. Erst in der Unendlich-
keit, in Gott, findet das Problem eine Lösung. Daneben hat er für Pi ein einfaches, aber gutes Näherungsverfahren
entwickelt. Zudem weisen weitere Gedanken zum Grenzwertbegriff und zur Infinitesimalrechnung.

UND DAMIT IST NOCH NICHT GENUG ...


▪ Wie viele (italienische) Humanisten ging auch Cusanus an das philologische
Studium antiker Handschriften und entlarvte z. B. die Konstantinische
Schenkung, die legale Grundlage des Kirchenstaats, als Fälschung.
▪ Die Waage war für Cusanus das mechanische Universalgerät. Er schlug
vor, in der medizinischen Diagnostik das spezifische Gewicht des Harns zu
prüfen und sich nicht (wie bis dahin üblich) nur auf Farbe, Geruch und Ge-
schmack zu verlassen.
▪ Die Cusanus-Akademie, das Bildungshaus in Brixen, wurde nach Nikolaus von Kues benannt.

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