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Ist unser Schulsystem ungerecht?

Wer arme Eltern hat, wird mit großer Wahrscheinlichkeit selbst auch arm. Das ist seit
Jahrzehnten bekannt, doch geändert hat sich bis heute nicht viel daran. Professor Klaus
Klemm forscht seit Jahren über den Zusammenhang zwischen Herkunft und
Bildungschancen:
5 „Wir haben eine eindeutige Schlechterstellung von Kindern aus sozial schwächeren Familien,
aus Familien, die eine Migrationsgeschichte haben. Diese Befunde haben wir seit den 60er
Jahren immer wieder erhoben. (…) Um Bildungsgerechtigkeit zu messen, wird oft die Zahl
derer herangezogen, die einen Hochschulabschluss machen. Das sind derzeit ungefähr 70
Prozent Absolventen aus Akademikerhaushalten und rund 30 Prozent Absolventen aus sozial
10 schwächeren Familien. Hier besteht ein deutliches Ungleichgewicht. Der Hochschulabschluss
ist aber nur das Ende eines sehr langen Prozesses. Ungleichheit ist auch schon in vielen
Stufen unterhalb des Hochschulabschlusses zu beobachten. (…) Es geht los mit der Frage:
Bekomme ich einen Krippenplatz oder nicht. (Derzeit erhalten Kinder aus sozial schwächeren
Familien viel seltener einen Krippenplatz als Kinder aus besser gestellten Milieus1). Der
15 Krippenplatz ist besonders wichtig für Kinder mit Migrationshintergrund, denn da wird im
sprachlichen Bereich schon gefördert. Dann geht es weiter mit dem Kindergarten und dann
kommt die nächste Stufe: Schule. Ganz gravierend verantwortlich für meine
Bildungschancen ist auch der Wohnort, in dem ich aufwachse. Ob ich zum Beispiel im
Ruhrgebiet in einer Stadt im Süden aufwachse, wo es bürgerlich geprägt ist oder im Norden,
20 wo früher die Bergarbeiter und heute mehrfach die Zugewanderten wohnen, das
entscheidet schon über meinen Bildungsweg. In Akademikerfamilien erhalten Kinder mehr
Hilfe von zu Hause. Für sie ist es zum Beispiel nicht so schlimm, wenn der Unterricht mal
ausfällt. Die Eltern können das auffangen. In Familien, in denen das nicht stattfinden kann,
haben die Kinder Nachteile.“ Klemm kritisiert, dass unser Bildungssystem vom Kindergarten
25 bis zum Schulabschluss die vorhandene Ungleichheit noch befördert: „Wir wissen, dass
Kinder am Ende der vierten Klasse bei gleichen Leistungen unterschiedliche Empfehlungen in
Richtung Gymnasium oder Hauptschule erhalten, je nachdem aus welchem Milieu sie
kommen. So bekommen Kinder aus sozial schwachen Schichten seltener eine Empfehlung
für das Gymnasium. Da verstärkt Schule die in den Familien (erzeugte) Ungleichheit noch
30 mal ganz massiv.“ Klemm räumt ein, dass das Schulsystem allein die Mängel der Gesellschaft
nicht beheben kann. Er fordert jedoch: „Die Schule darf die Ungleichheit aber nicht
verschärfen. Sie darf nicht verhindern, dass Kinder den Weg gehen, den sie gehen könnten.
Genau das tut sie aber, wenn Kindern mit der gleichen Leistung unterschiedliche
Empfehlungen für die weiterführende Schule ausgestellt werden – je nach Herkunft.“
Klaus Klemm in einem Interview mit dem swr. In: swr.de vom 12.11.2019 (https://www.swr.de/wissen/artikel-
bildungsungleichheit-klemm100.html – Zugriff vom 7.4.2021)

1
Das Milieu: soziales Umfeld
AUFGABEN

1. Klaus Klemm benutzt in seinen Aussagen den Begriff „Bildungsgerechtigkeit“.


Definiere, was für dich Bildungsgerechtigkeit bedeutet und stelle deine Definition in
der Klasse vor.
2. Klemm beschreibt einige Vorteile, die Kinder aus sozial bevorteilten Familien in
Deutschland haben. Skizziere die Vorteile in einer Mindmap. Ist dir der eine oder
andere Vorteil schon einmal in der Schule aufgefallen?
3. Schau dir deinen eigenen Unterricht, deine Schule genauer an. Wo siehst du
Möglichkeiten zur Verbesserung der Bildungschancen für Kinder sozial
benachteiligter Familien? Formuliere konkrete Maßnahmen, tausche deine
Ergebnisse mit Mitschüler*innen aus und erstellt ein Plakat mit Forderungen.
4. Laut Ulrich Lilie ist Bildungspolitik die beste Sozialpolitik (Zitat). Schau dir an, was du
bisher über den Sozialstaat und die damit verbundene Sozialpolitik gelernt hast und
beziehe Stellung zu Lilies Aussage.

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