Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Kommunikation
Kommunikation
an den Grenzen
Herausgegeben von Jo Reichertz
Sonderdruck
VELBRÜCK
WISSENSCHAFT
Erste Auflage 2020
© Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2020
www.velbrueck-wissenschaft.de
Printed in Germany
ISBN 978-3-95832-199-1
1. Einleitung
Befasst man sich mit grenzüberwindender Kommunikation, so ist es ein-
fach, den Blick zunächst in die Ferne zu richten: Denn in der Begeg-
nung mit andersartigen Kulturen und fremden Sprachgemeinschaften
werden kommunikative Grenzen schlagartig deutlich. In derartigen Be-
gegnungen wird die von Schütz (2010) in phänomenologischer Genauig
keit beschriebene alltagsweltliche ›Generalthese der Reziprozität der Per
spektiven‹ offenkundig herausgefordert. Ansonsten gehen wir im Alltag
üblicherweise davon aus, dass die von mir mit dem Ziel gesetzten Zei-
chen dem Anderen meinen subjektiven Sinn nachvollziehbar zu machen,
durch die Ähnlichkeit unserer Wissensvorräte und Relevanzsysteme von
diesem tatsächlich auch nachvollzogen werden können. Treffen wir aber
auf offensichtlich »Fremdes«, so weicht diese Reziprozitätserwartung
der Unsicherheit, ob die gegenseitige Auslegung den gewünschten Zweck
des wechselseitigen Verständnisses überhaupt erreichen kann.
Im Bruch üblicher Alltagserwartungen und im ausdrücklichen Versuch,
sich dem Anderen verständlich zu machen, manifestieren sich kommu-
nikative Grenzen, deren Analyse tiefe Einblicke in die Grundstrukturen
menschlicher Kommunikation und der sozialen Konstruktion der Wirk-
lichkeit ermöglichen. Doch auch der Blick in die Lebenswelt des Alltags
zeigt, dass die sich hier vollziehenden Interaktionen und die wechselsei-
tigen kommunikativen Handlungen maßgeblich durch die Überwindung
kommunikativer Grenzen determiniert sind. Bewusst mit dem Ziel gesetz-
te Zeichen, dem Anderen den eigenen subjektiven Sinn deutlich zu ma-
chen, versuchen intersubjektive Grenzen zu überwinden und eine Syn-
chronisation der Situationsauslegung zu erreichen. Stellen wir uns zur
Verdeutlichung folgende Situation vor: Eine Person wartet am Bahnhofs-
gleis auf ihren Zug. Eine andere Person geht auf sie zu und deutet mit ei-
ner zum Ohr weisenden Geste und einem Kopfschütteln an, dass sie ge-
hörlos ist. Daraufhin zeigt sie der ersten Person ihr Bahnticket, deutet auf
das darauf gedruckte Ziel, dann auf das Gleis und hebt sodann die Au-
genbraue zu einem fragenden Gesichtsausdruck. Die erste Person nickt
303
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
304
REZIPROZITÄT UND IRREZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN
S’’ verbunden (vgl. ebd.). Dabei bezeichnet der Terminus des objektiven
Sinns die Betrachtung einer sich in der intersubjektiv geteilten Lebenswelt
vollziehenden Handlung in der Außenperspektive (Srubar 1988: 101). Da
der subjektive Sinn S des Handelnden nur aufgrund von Anzeichen in der
Außenwelt wahrnehmbar und interpretierbar ist, stellt der Terminus des
gemeinten Sinns also einen »Limesbegriff« (Schütz 2016a, 42) dar, »wel-
cher selbst bei einem Optimum adäquater Deutung mit S’ und S’’ niemals
zur Deckung gebracht werden kann« (ebd.).2
Bevor wir uns dem intersubjektiven Prozess der Kommunikation im
Fremdverstehen im Zuge der Auslegung des objektiven Sinns zuwenden,
wollen wir zunächst die subjektiven Konstitutionsprozesse im Bewusstsein
sinnhafter Erfahrungen des einsamen Ego in der natürlichen Einstellung
betrachten, die die Grundlage für alltagsweltliches Handeln und darauf
aufbauend die sinnhafte Auslegung Anderer darstellten. In der sinnhaften
Auslegung von Welt bezeichnet ›Sinn‹ das Resultat der Auslegung vergan-
gener Erlebnisse unter reflexiver Bezugnahme auf vorab gemachte Erfah-
rungen und die daraus resultierenden, aktuell gültigen Bezugsschemata.
Jeder neue Moment schafft neue Erfahrungen, die auf der Grundlage vor-
angegangener Erfahrungen sinnhaft ausgelegt werden können und die da-
bei den Vorrat an Erfahrungen stetig erweitern. Der Gesamtzusammen-
hang meines Erfahrungsvorrates, mein subjektiver Wissensvorrat, stellt
das fraglos-gegebene Fundament der alltäglichen Weltauslegung dar, das
jedoch nicht als ein logisch gegliedertes und in sich kohärentes System zu
erfassen ist, sondern vielmehr eine Mischung von nicht hinterfragten und
von Situation zu Situation variierenden Selbstverständlichkeiten darstellt.
Durch den fraglos-gegebenen Charakter des subjektiven Wissensvorrates
stellt dieser einen gewohnheitsmäßigen Vorrat an Problemlösungen und
Handlungsrezepten zur Verfügung, die erst dann fraglich werden, wenn
die aktuelle Situation nicht kongruent durch den vorhandenen Erfahrungs-
vorrat ausgelegt werden kann und dieser somit problematisch wird. Die
so fraglich gewordenen Erlebnisse müssen auf der Grundlage des vorhan-
denen Bezugsschemas neu ausgelegt werden. Um die situationsbedingte
Problematik zufriedenstellend zu lösen, muss durch Erfahrung neues Wis-
sen über die adäquate Auslegung generiert werden, sodass diese wieder in
Fraglosigkeit überführt werden kann (Schütz 2016a: 103ff., Schütz/Luck-
mann 1994a: 30ff.).
Sowohl das eigene Verhalten als auch das Verhalten anderer Mit-
menschen wird demnach erst retrospektiv auf der Grundlage des je
305
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
3 Dies mag den Anschein erwecken, dass die eigenen Handlungen erst nach
ihrem Vollzug durch den Handelnden sinnhaft ausgelegt werden können.
Vielmehr werden jedoch die Handlungen in ihrem subjektiven Entwurf kon-
stitutiv in Vor-Erinnerung als bereits abgelaufene Erlebnisse phantasierend
in der Denkform des modo futuri exacti reflexiv in den Blick genommen.
Im Entwurf der Handlung wird auf der Grundlage des subjektiven Wis-
sensvorrates davon ausgegangen, dass die antizipierten Erwartungen durch
die Durchführung spezifischen Handelns erfüllt werden (vgl. Schütz 2016a:
74ff.).
306
REZIPROZITÄT UND IRREZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN
307
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
308
REZIPROZITÄT UND IRREZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN
309
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
Fassen wir bis hierher zusammen: Auf der Ebene sowohl der anthro
pologischen als auch der sozialen Intersubjektivität basiert die Ausle-
gung des Anderen auf den eigenen subjektiven Deutungsschemata in
der reinen Selbstauslegung. Erst die kulturelle Intersubjektivität und die
Möglichkeit, sich kommunikativ über die divergierenden Auslegungs-
schemata auszutauschen, ermöglicht es, sich dem subjektiven Sinn des
Handelnden im echten Fremdverstehen zuzuwenden (Eberle 2007:
263ff.). In einem soziologisch vollständigen Sinne geschieht die von
Schütz beschriebene Reziprozität der Perspektiven eigentlich erst hier,
da hier »meine« und »deine« – also »unsere« – Relevanzsysteme als ei-
nander ausreichend ähnlich wahrgenommen werden.
Zusätzlich zu diesen kategorialen Unterschieden ist der Grad des
Fremdverstehens immer von einer Reihe situativer Faktoren mitbe-
stimmt. Die Ausprägung meines Wissens über den Anderen und die
verschiedenen Anonymitätsgrade, mit denen sich Handelnde im Alltag
begegnen, spielen hier eine zentrale Rolle. Fremdverstehen variiert je
nachdem, (I) ob ich dem Anderen als Vertreter einer Kategorie als Funk-
tionstypus (›der Postbote‹) oder in seinem ihm individuell spezifischen
Set an Deutungs- und Handlungsschemata als personaler Typus (›Pe-
ter der Lustige‹) begegne. (II) Die Tiefe meiner Auslegung des Anderen
ist durch die Situation mitbestimmt und variiert je nach Gelegenheit.
Beim gemeinsamen Holzsägen, in akademischen Disputen oder beim
Gespräch unter Liebenden richtet sich mein Interesse, den Anderen zu
verstehen, auf jeweils sehr unterschiedliche Aspekte seiner Äußerungen.
(III) Schließlich hängt der Charakter meines Fremdverstehens von unse-
rer gemeinsamen »Interaktionsgeschichte« ab: Begegne ich dem Ande-
ren ohne vorheriges Wissen über ihn, lege ich die in der aktuellen Situ-
ation von ihm wahrgenommenen Impressionen anhand der in meinem
biographisch geprägten subjektiven Wissensvorrat vorhandenen Katego-
rien aus und betrachte ihn auf der Basis der so konstruierten virtualen
sozialen Identität (vgl. Goffman 2018: 9). Durch die zunächst typenhaf-
te Auslegung des Anderen werden ihm spezifische Deutungs- und Hand-
lungsmuster zugeschrieben. In gemeinsamen Erfahrungen kann jedoch
die Auslegung des Anderen und der ihm so zugeschriebene subjektive
Sinn aufgrund dieser virtualen sozialen Identität als inadäquat, unzurei-
chend und auslegungsbedürftig erfahren werden. Durch die gemeinsame
Erfahrung mit diesem spezifischen Anderen und die gemeinsame Ausle-
gung problematisch werdender Situationen wächst mein Wissen über die
Deutungs- und Handlungsschemata des Anderen, wodurch dieser nicht
mehr als Vertreter bestimmter mehr oder weniger anonymer Kategorien,
sondern als spezifischer Mitmensch in seiner aktualen sozialen Identität
310
REZIPROZITÄT UND IRREZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN
(vgl. ebd.) mit einem ihm spezifischen Set an Deutungs- und Handlungs
mustern wahrgenommen wird. Begegne ich einem Anderen in einer so-
zialen Beziehung, so ist meine Auslegung durch den Grad der Vertraut-
heit mit den spezifischen Merkmalen des Anderen und dessen üblicher
Wirklichkeitsauslegung determiniert. Durch die gemeinsame Erfahrung
nimmt wechselseitig das Wissen über den jeweils Anderen an Detail-
schärfe zu und ermöglicht eine höhere Wahrscheinlichkeit der Deckungs-
gleichheit des zugeschriebenen subjektiven Sinns S’ und dem vom An-
deren tatsächlich mit der Auslegung verbundenen subjektiven Sinns S.
Bereits die Unterscheidung des gemeinsamen Holzsägens, des wissen-
schaftlichen Disputs und des Gesprächs unter Liebenden macht deut-
lich, dass der Grad und die Tiefe der Bezugnahme auf den Anderen in
alltagsweltlichen Prozessen des intersubjektiven Fremdverstehens durch
die spezifische Situation und die subjektive Handlungsrelevanz der In-
teragierenden beeinflusst sind. Der Grad und die Tiefe der Bezugnahme
auf den Anderen und somit auch der Anonymitätsgrad, in dem ich mich
dem Anderen zuwende, ist im Alltag somit durch das pragmatische Mo-
tiv determiniert.6 Betrachtet man nun die genannten Beispiele unter dem
Aspekt, dass ich sowohl das Holzsägen, den wissenschaftlichen Disput
als auch das Gespräch zwischen Liebenden nicht nur mit unterschiedli-
chen Akteuren, sondern auch mit nur einem spezifischen Anderen durch-
führen kann, so zeigt sich der situativ schwankende Charakter der Aus-
legungstiefe im intersubjektiven Fremdverstehen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bezugnahme auf den
Anderen in alltagsweltlichen Interaktionen durch mehrere Aspekte be-
einflusst wird. Die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung des An-
deren als Vertreter eines Funktionstypus oder als personaler Typus in
Ergänzung durch Goffmans Begriffe der virtualen und der aktualen so-
zialen Identität zeigt, dass (I) der Andere zunächst als Vertreter spezifi-
scher Kategorien oder hinsichtlich seiner subjektiven sinnhaften Ausle-
gung der Situation betrachtet werden kann. Während die Auslegung des
Anderen in der virtualen sozialen Identität im Zuge des pragmatischen
Motivs oberflächlich vollzogen werden kann, zielt das Rekurrieren auf
den Anderen in seiner aktualen sozialen Identität auf eine tiefergehende
Analyse dessen spezifischen subjektiven Sinns ab. Stellt (II) die kulturel-
le Intersubjektivität die Grundlage des echten Fremdverstehens dar, so
kann mit dem Anderen in seiner aktualen sozialen Identität erst die Re-
ziprozität der Perspektiven greifen, wenn eine gemeinsame kommuni-
kative Basis besteht, man sich also über den jeweiligen subjektiven Sinn
311
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
312
REZIPROZITÄT UND IRREZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN
313
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
314
REZIPROZITÄT UND IRREZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN
315
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
316
REZIPROZITÄT UND IRREZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN
Literatur
Eberle, Thomas S. (2007): »Unter Aborigines. Reflexionen über eine
exotische Fremdheitserfahrung«, in: Dreher, Jochen/Stegmaier, Peter
(Hrsg.): Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz, Bielefeld:
Transcript, S. 235–268.
Goffman, Erving (2018 [1967]): Stigma, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gropper, Max (2019): Reziprozität und Irreziprozität der Perspektiven
im Fremdverstehen, Masterarbeit, Universität Bayreuth.
Hahn, Alois (1994): »Die soziale Konstruktion des Fremden«, in: S prondel,
Walter M. (Hrsg.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommuni-
kative Konstruktion, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 140–163.
8 Werden diese in der gemeinsamen Interaktion beidseitig als fraglos-gegeben
angenommen und durch die gemeinsame Interaktion bestätigt, wird die dem
Anderen zugeschriebenen Reziprozität der Perspektiven kontinuierlich vali-
diert und dadurch aufrecht erhalten.
317
MAX GROPPER / BERNT SCHNETTLER
318
Inhalt
1. Problemaufriss
Jo Reichertz
Einleitung:
Grenzen der Kommunikation –
Kommunikation an den Grenzen . . . . . . . . . . . . 11
Jonas Eickhoff
Anmerkungen zur Lektüre dieses Sammelbands
sowie Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Monika Kritzmöller
Von »Blue Velvet« bis »White Satin«.
Textile Haptik als un-begreifliches Phänomen . . . . . . . 51
Thomas Eberle
Die kommunikative Relevanz von Gerüchen . . . . . . . . 69
Thea D. Boldt
Stille Kommunikation: Die Geste der Meditation . . . . . . 87
Max Weigelin
Vom Schweigen zur Stille. Überlegungen zum Verhältnis
kommunikativer und sinnlicher Wechselwirkung . . . . . . 103
2.3 Kommunikations-Räume
Heiko Hausendorf
»Kommunizierende Räume« an den Grenzen des Sozialen?
Interaktionslinguistische Bemerkungen zur Kommunikation
mit und durch Architektur . . . . . . . . . . . . . . 118
Martina Löw
In welchen Räumen leben wir? Eine raumsoziologisch
und kommunikativ konstruktivistische Bestimmung
der Raumfiguren Territorialraum, Bahnenraum, Netzwerkraum
und Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Anna-Katharina Hornidge
Konstruierte Ortsungebundenheit und Körperlichkeit
in Orten der Wissenschaft. Feldstationen und Forschungsschiffe . . 165
Wolff-Michael Roth
Kommunikatives Handeln und die Zone der nächsten
Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Felix Tirschmann
Kommunikation mit Kommunikationslosen . . . . . . . . 255
4. Theoretisierungen
Max Gropper & Bernt Schnettler
Reziprozität und Irreziprozität der Perspektiven.
Zur kommunikativen Verschiebung von Grenzen im
intersubjektiven Fremdverstehen . . . . . . . . . . . . 303