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Alona Nitzan-Shiftan
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ter dazu stießen, in den zwanziger Jahren aus Osteuropa nach Pa- moderner Architektur als nationalem Ausdruck der jüdischen Bevöl-
lästina gekommen.7 Sie wurden sofort in die Arbeiterkreise inte- kerung Palästinas.
griert, die Hochburg des Links-Zionismus. Als sie das Mandatsge- Der Unterschlagung des lokal Spezifischen in der späteren Publi-
biet einige Jahre später verließen, um in Europa Architektur zu kation des Chug, die eine enger gefasste Botschaft einer funktiona-
studieren, waren ihre politische Verbundenheit mit dem sozialisti- len, internationalen »neuen Architektur« andeutete, folgten grö-
schen Zionismus ebenso wie ihre Identität als Mitglieder der jüdi- ßere kulturelle und politische Prozesse im Jischuw. Als Teil der
schen Gesellschaft im Land Israel – *Erez Israel – bereits etabliert. jüdischen Wiedergeburt in Palästina waren die Aktivitäten des Chug
Aufgrund dieser Identität spürten sie während der späten zwanziger in diesem historischen Moment untrennbar mit dem Streben des
Jahre in den Architekturschulen von Wien, Rom, Dessau und Paris Jischuw nach einer Revolution verbunden: die Verneinung der Dias-
neue Trends auf. Als sie in den frühen dreißiger Jahren nach Palästi- pora und Befürwortung einer zu schaffenden »nationalen Heimat«
na zurückkehrten, war es eine Heimkehr. Sie besaßen bereits gute (letztendlich in Gestalt eines Nationalstaats), die Verneinung des
Beziehungen zum Jischuw und waren Alteingesessene im Vergleich Bürgertums und Befürwortung einer Arbeiter- und Bauerngesell-
zu den Architekten, die in den dreißiger Jahren nach dem Aufstieg schaft sowie die Verneinung des Orientalismus sowie Befürwortung
des Faschismus in Europa kamen.8 eines neuen kollektiven Bildes, das den *Sabre-Mythos hervorbrin-
Die fruchtbare Zusammenarbeit von Sharon, Neufeld und Rechter gen würde – das Stereotyp des gebürtigen Israeli, des Eingebore-
nach ihrer Rückkehr fußte ebenso auf einem gemeinsamen Glauben nen des Gelobten Landes. In der Verlängerung gestaltete diese drei-
an die moderne Architektur wie auf den beruflichen Interessen ein- fache Verneinung das kollektive physische Bild der jüdischen
zelner junger Profis, die Erfolg auf dem lokalen Markt haben wollten. Besiedlung Palästinas.
Den undogmatischen Charakter ihrer Architektur verdankten sie Die Umsetzung der zionistischen Bewegung in Palästina vollzog
ihren unterschiedlichen europäischen Ausbildungen. Neufeld hatte sich weit von ihrer Entstehung in Europa. Das Streben des jüdischen
bei Mendelsohn und Taut gearbeitet, Rechter in Frankreich unter Le Volkes nach einer nationalen Identität im Palästina der Mandatszeit
Corbusiers »Bann«, während andere bei Le Corbusier selbst gearbei- konnte sich daher nicht auf eine jüngere Vergangenheit oder lokale
tet hatten. Die Affinität zwischen Sharons Kibbuzhintergrund und Kultur stützen. Der »Mangel an eigenen Gebräuchen und die
Hannes Meyers Bauhauspädagogik ist ein besonders gutes Beispiel Bewunderung für das Bauen im modernen Stil«11 wurden für Julius
für dieses aktive Einverständnis zwischen einer zionistischen Ideolo- Posener zum notwendigen Ausgangspunkt für die jüdischen Siedler
gie und einem Modernismus, der noch ein pluralistisches, auf keine in Palästina. Das Fehlen eines gemeinsamen visuellen Erbes erlaub-
Form festgelegtes architektonisches Konzept war. te es, die Region als tabula rasa zu betrachten. So war der Boden für
Der Chug lancierte 1934 seine erste Publikation, »Habinyan das positivistische zionistische Projekt bereitet, dessen visuelle
Bamizrah Hakarov« (Gebäude im Nahen Osten). Ein der organischen Form von der modernen Architektur bestimmt wurde, dem erklärten
Architektur zugewandter Aufmacher von Neufeld9 gab den Ton die- Sinnbild universeller Rationalität.
ser pluralistisch modernen Veröffentlichung vor, in der die ganze Der Chug war dem Erbe der Aufklärung verhaftet. Seine Mitglie-
Gemeinschaft repräsentiert werden sollte. Ein Streit über dieses Ziel der betrachteten das zionistische Projekt als eine Art Experiment, in
führte zu einer Spaltung der Redaktion. Danach etablierte der Chug dem die Architektur Teil der historischen Wiederbelebung des Gelob-
seine reife und exklusivere Publikation, »Habinyan« (Gebäude). Die ten Landes war. »Das neue Dorf«, erklärte Posener, »wird auf dem
redaktionelle Rhetorik der drei Ausgaben von »Habinyan«10 unter- Boden wissenschaftlicher Annahmen gebaut, auf moderne Weise
stützte einerseits die dem Zeitgeist entsprechende Darstellung der oder genauer: Es gründet auf Hypothesen.«12 Dieser Gedankengang
rationalen Prinzipien der modernen Bewegung und andererseits ähnelt Hannes Meyers Neudefinition der Architektur als »funktiona-
ihre Verwurzelung in Programm, Funktion, Ökonomie und Bauweise. le, biologische Interpretation«, die »logischerweise zu purer Kon-
Beide waren vollkommen kompatibel mit dem Geist zionistischer struktion«13 führt. Meyers Abtun der Architektur als »emotionaler
Erneuerung. Diese Position drückten Arieh Sharon und Julius Pose- Akt des Künstlers«14 kam der sozialistischen Grundhaltung der
ner besonders tiefgreifend in Artikeln aus, die der ideologischen Chug-Mitglieder entgegen. Ebenso wählten sie das Wort binyan, was
Hauptströmung des Jischuw entgegenkamen. Eine solche klare, ge- Gebäude bedeutet, und nicht »Architektur« als Titel ihrer Veröffentli-
einte Botschaft war ein starkes Instrument zur Institutionalisierung chungen. Meyers Einfluss auf Sharon, seinen Schüler und Angestell-
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Erich Mendelsohn
»[…] weil ich Eretz Israel liebe und mich sein wahres Kind nenne.
Was ich gearbeitet habe – besonders meine irrealen Ausbrüche in
Skizzen und Vorprojekten – hat seine beste Kraft von dieser bibli-
schen Einfachheit, die sich selbst erfüllt und gleichzeitig die ganze 245c Erich Mendelsohn, Haus Weizmann, Ansicht des Innenhofes, Rehovot
Welt umfaßt. Ich weiß, daß das Unnachahmliche meiner ersten Kon- 1936-1937, Archive of the Weizmann Institution
schen Persönlichkeit mit dem Ziel der nationalen Wiedergeburt zu lismus, der zum »neuen Krieg von heute« geführt hatte, schien ihm
verknüpfen. das Geschenk einer »nationalen Heimat in Palästina« zweischnei-
Ursprünglich war Buber dem kulturellen Zionismus Ahad Ha’ams dig, weil es das jüdische Volk dazu verleite, einen Staat als den sei-
gefolgt. Während sich jedoch Ahad Ha’am mit dem Verlust des Glau- nen zu betrachten, und es von seinem Hauptziel abbringe, ein
bens in der Aufklärung identifizierte, war Buber genau von dieser gleichwertiges Mitglied der semitischen Staatengemeinschaft zu
Aufklärung desillusioniert. Wie Ahad Ha’am war auch ihm klar, dass werden.26
die Emanzipation der Juden in Europa den endgültigen Bruch mit Neben der Kritik am Nationalismus des 19. Jahrhunderts zeigt
der Tradition jüdischer religiöser Praxis bedeutete. In seiner Suche Mendelsohns Gedanke einer semitischen Staatengemeinschaft,
nach einer Kontinuität der spirituellen Tradition verurteilte er die dass sein Zionismus von der im Deutschland der Jahrhundertwende
Rechte und Praktiken der jüdischen Diaspora als starre, autoritäre verbreiteten Begeisterung für den »mythischen Orient« beeinflusst
Religion. Seine Rekonstruktion jüdischer Kultur als einzigartige war.27 In diesem Umfeld polarisierten Bubers frühe Schriften (die
Spiritualität und Ästhetik baute auf dem auf, was er die Religiosität Bibel der Deutschen Zionisten28, die Mendelsohn 1915 abonnierte)
des ursprünglichen biblischen Juden nannte. Palästina war der Ort Osten und Westen. Buber erklärte, die großen spirituellen Traditio-
dieser Erneuerung. Dort entstand der Judaismus als schöpferischer nen des Orients würden die materiellen Exzesse des Westens aus-
religiöser Gedanke, der einen moralischen Beitrag zur Weltge- balancieren. Die Juden sah er in dieser Mission als Mediatoren, da
schichte leistete.22 sie sich bereits die ganze Weisheit und das Können des Okzidents
Buber bestand auf der Unterwerfung eines globalen National- angeeignet hätten, ohne ihren orientalischen Charakter zu verlie-
staatensystems unter ein höheres Wertesystem, das ein Gegengift ren.29
zur Krankheit des Nationalismus schaffen sollte. Ein »Volk« war für Die Semiten waren von den Nazis zum Tode verurteilt – Mendel-
Buber ein organischer Impuls, eine »Nation« ein Konstrukt, das die- sohns Antwort war, mit einer semitischen Wiedergeburt zurückzu-
sem Impuls nachkam, und »Nationalismus« nicht mehr als ein Sche- schlagen. Der Prozess der Neugestaltung der Welt würde mit der
ma von Kanonen, Flaggen und militärischen Auszeichnungen, das semitischen Welt als Signal der nationalen Renaissance des Mittel-
sich von Nation zu Nation mehr oder weniger wiederholte. Statt meerraumes beginnen.30 Eine solche architektonische Schöpfungs-
identischer, sorgfältig abgegrenzter Einheiten, die gegeneinander geschichte ging von der Zusammenarbeit zwischen Arabern und
prallten, forderte Buber, dass Nationen den unterschiedlichen Juden aus, deren Verwandtschaft in die biblische Zeit zurückreichte,
»Impulsen« verschiedener Völker Gestalt verleihen sollten. In seiner auf der Mendelsohn seine jüdische Identität aufbaute. Eine Voraus-
»Sozialutopie« der »Überstaatlichkeit« ergänzen Nationen einander setzung für diesen Prozess war der erfolgreiche Wiederaufbau einer
und stellen die ganze Bandbreite menschlicher Kulturen dar.23 semitisch-zionistischen Identität in Palästina, die sich von jener der
Mendelsohns Vorlesung von 1919 folgt dieser Analyse. Er erklärt: europäischen Kolonialherren unterschied.
»Internationalismus ist Verwischung der Grenzen, ist Kompromiss In Palästina versuchte Mendelsohn, sich zwischen Ost und West
und Uferlosigkeit, ist Phantastik und Ästhetentum […]«. Und im anzusiedeln, wo tragende Wände und an den Boden geduckte
Gegensatz dazu: »Überstaatlichkeit […] umfaßt nationale Abgren- Gebäude mit der heiteren Anmutung und den leichten Materialien
zung als Voraussetzung, ist freies Menschentum […]«.24 Seine poli- moderner Architektur kontrastierten. Mendelsohns erster Auftrag
tischen Überzeugungen reichten bis in die Architektur. 1923 hielt er in Palästina, die Villa für Chaim Weizmann, den Führer der Zionis-
eine Vorlesung gegen die Auslöschung des kulturell und geogra- tischen Weltorganisation, ist ein hervorragendes Beispiel für die
fisch Spezifischen. Über die Bauhausausstellung jenes Jahres sagte Schwierigkeit, die zionistische Identität in der Lücke zwischen
er, diese scheinbare Konformität (des neuen architektonischen Kon- Orient und Europa anzusiedeln (vgl. Abb. 245c). Erstens, räumte
zeptes) einfach international zu nennen, sei eher verbale Trägheit Mendelsohn ein, gehörten die Juden noch nicht dazu, und zweitens
als Ausdruck einer Überzeugung.25 Die Verbreitung des »Interna- gehörten sie nicht mehr dazu.31 So sind in diesem symbolischen
tionalismus« ähnelte nach seinem Dafürhalten der global einheit- Entwurf verschiedene Architektursprachen einander gegenüberge-
lichen Struktur des Nationalismus im politischen Diskurs. Sein stellt, anstatt sich zusammenzufügen. Die zionistische Identität
Widerstand gegen beides vertiefte sich nach seiner Ausbürgerung schwebt also zwischen Ost und West, in jenem unbeschreiblichen
aus Deutschland. Vor dem Hintergrund des europäischen Nationa- Abstand zwischen den beiden.
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Die Villa lebt von der Spannung zwischen ihrer opaken, schach- Mendelsohn und Mitglied des Chug, verlor keine Zeit, dessen Archi-
telartigen Umhüllung, die ihr eine gewisse Introvertiertheit verleiht, tekt-Bauherr-Exklusivität noch in derselben Ausgabe abzutun.
und ihrem leichten, offenen modernen Kern. Die Spannung speist Stattdessen forderte er eine umfassende »Transparenz«, die »den
sich aus unterschiedlichen Bauweisen – Mauerwerk gegen Säulen Beruf« in gesellschaftlicher Verantwortlichkeit verwurzeln sollte.34
und Balken; aus unterschiedlichen Beschaffenheiten – eine durch- Der eigentliche Streitpunkt war Mendelsohns Anspruch auf die spi-
gehende, von wenigen, sorgfältig gewählten Öffnungen durchbro- rituelle Überlegenheit des Künstlers (für den das Kunstwerk ein reli-
chene Wand gegen einen von großzügigen Fensterwänden umgebe- giöses Ventil war) – eine mit dem säkularen Sozialismus des Chug
nen Peristylhof; schließlich aus unterschiedlichen Typologien – ein völlig unvereinbare Vorstellung.
Objekt, um das herum eine Prozession stattfindet, gegen einen zen-
tralen Ort, eine Leere, die mithilfe eines monumentalen Treppen- Zusammenfassung
hauses den gesamten Entwurf beherrscht. Mendelsohns europäi- Mendelsohns Aufgabe, der ganzen Welt Osten und Westen als eine
sche Darstellung eines Gebäudes als großartige, umfassende Geste gemeinsame Botschaft zu vermitteln, verhalf dem kulturellen Zio-
wich hier einer Sequenz »statischer« Bilder, aus denen eine archi- nismus Ahad Ha’ams, wie Martin Buber ihn lehrte, zu einer greifba-
tektonische Prozession komponiert wurde.32 Diese Anregung durch ren Gestalt. Im Gegensatz dazu spiegelte der Internationale Archi-
das Parthenon belegt weitere Aspekte von Mendelsohns mediterra- tekturstil des Chug den Herzl´schen Willen, eine Nation wie jede
ner Vision. andere zu werden. Das sozialistische Verständnis Herzls in Gestalt
des Links-Zionismus unterstützte eine Architektur, die sich nicht auf
Die Konfrontation mit dem Chug ein bestimmtes Land bezog, sondern ein »zivilisiertes« Manifest
Als Mendelsohn 1934 nach Palästina kam, wurde er gebeten, für die jenes Zeitalters war. Am Ende der dreißiger Jahre war sich die über-
Zeitschrift des Chug zu schreiben. In einem Absatz aus zwölf knap- wältigende Mehrheit des Jischuw über das Ziel der zionistischen
pen Sätzen unterminierte er nicht nur dessen Programm, sondern Bewegung einig: ein souveräner Nationalstaat für die Juden. Men-
das der Hauptrichtung des Zionismus, die er repräsentierte.33 Er delsohns unbeirrbare Unterstützung einer jüdisch-arabischen bina-
begann beim allgemeinen Konsens, dass die Hoffnung des hebräi- tionalen Lösung für Palästina widersprach völlig der Position der
schen Volkes die Schaffung ihrer nationalen Heimat sei, und stimm- Führung des Jischuw.
te zu, dass diese Schaffung zum großen Teil ökonomischer Natur Sie enthüllte den semitischen Kern von Mendelsohns zionisti-
sei. »Allerdings«, schränkte Mendelsohn sofort ein, »wird die Welt schen Überzeugungen. Nur zusammen konnten die Semiten – Ara-
uns nicht an der Menge unserer Ausfuhr von Zitrusfrüchten mes- ber und Juden – die spirituelle Wiedergeburt des Ostens bewirken,
sen.« Stattdessen, sagt er, werden wir gemessen »am spirituellen die er anstrebte: die Dämmerung einer Renaissance des Mittel-
Wert unserer spirituellen Produktion.« Mendelsohn äußerte hier die meerraumes.
große Buber’sche Nationalismuskritik, die sich gegen einander In offensichtlichem Gegensatz zu Mendelsohns Vertrauen auf
ähnelnde national-ökonomische Einheiten stellt, die im Wettbewerb eine Zusammenarbeit mit den Arabern war der Erfolg des zionisti-
um die materialistische Vorherrschaft stehen. Das Streben danach, schen Projektes, was den Chug betraf, unabhängig von der arabi-
eine Nation wie alle anderen zu sein, war Mendelsohns kulturellem schen Kultur und ihr gegenüber bewusst gleichgültig. Der Chug
Zionismus völlig fremd. stellte den »Neuen Hebräer« und nicht den »Semiten« ins Zentrum
Auch der soziale Aspekt rangierte bei Mendelsohn nicht sehr der zionistischen Identität. Sein zionistischer Unternehmungsgeist
weit oben. Er wanderte nach der Kodifizierung des Links-Zionismus wandte sich nach innen, er wollte das Land Israel bearbeiten, be-
ein, der dem osteuropäischen Umfeld entstammte. Für Mendelsohn bauen, besiedeln und seine (weltliche) hebräische Kultur wiederer-
hing das Zustandekommen eines »Welt-Vorbildes« einzig von Mut wecken.35 Je mehr die Vorstellung einer bedrängten Nation inmitten
und Verantwortungsbewusstsein des Architekten und seines Bau- arabischer Feindseligkeit um sich griff, desto mehr verblasste die
herren ab. Mendelsohns Bauherren waren wohlhabende Einzelper- Affinität zu einem größeren Orient.
sonen wie Weizmann und Schocken; die meisten Chug-Mitglieder Die Aktivitäten des Chug zielten nicht darauf ab, die neue Archi-
arbeiteten für sozialistische Organisationen oder Hausbesitzer im tektur im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, sondern sie zu
rasch wachsenden Tel Aviv. Carl Rubin, ein früherer Angestellter von institutionalisieren und damit ihr Unterfangen zu legitimieren. Als
Kollektiv strebten sie danach, durch professionelle Mechanismen Mendelsohn wich von der Hauptströmung des zionistischen
Normen für die Architektur festzulegen, zum Beispiel durch Wettbe- Projekts ab. Es gelang ihm, die existierende Situation provokativ
werbe, Bauvorschriften (durch die Vertretung in städtischen Bauko- zu analysieren, doch er unterschätzte die Wucht des entstehenden
mitees) und Veröffentlichungen.36 Dieses Streben nach Institutio- Nationalstaates. Vor dem Hintergrund der unsicheren Aufbaujahre
nen sollte dem transitorischen Leben im Exil etwas entgegensetzen. machten die religiöse Färbung von Mendelsohns Orientalismus, sei-
So wurde die Moderne, diese radikale Infragestellung jeglicher vor- ne Beziehung zum »Arabischen« sowie seine Opposition gegen den
gefassten Meinung, die »Speerspitze« europäischer Architektur, in Nationalstaat seine Position unvereinbar mit der Hauptströmung
Palästina zu einem Klassiker. israelischer Architektur. In den achtziger Jahren wurde seine ideolo-
Ein solches Bild moderner Architektur vertrug sich weder mit gische Abweichung heruntergespielt, sodass Mendelsohns Archi-
Mendelsohns expressionistischem Modernismus noch mit Bubers tektur als wichtiger Beitrag in die israelische Architektur aufgenom-
Zionismus. Auch bei der vergleichbaren Ausformulierung des Inter- men werden konnte. Diese Haltung entsprach dem Streben nach
nationalen Stils in den USA blieb Mendelsohn unerwähnt, weil einem geeinten, konfliktfreien architektonischen Erbe, einem Sym-
seine Form der Architektur sich nicht an die Regeln hielt, die John- bol für die weltliche hebräische Kultur Israels.
son und Hitchcock festlegten – aber auch, weil sein Architekturstil Mendelsohn ging während des Krieges in die USA und kehrte
resistent gegen Indoktrination war. Desillusioniert vom europäi- trotz seines andauernden Interesses an Israel nicht zurück. Zu die-
schen Materialismus träumte Mendelsohn von einem Palästina, das ser Zeit fügte sich seine Forderung einer organischen statt einer
Brutkasten für den Stil einer neuen Ära war. Er sah das Neue aus rationalen Architektur nicht in den vorherrschenden Diskurs ein,
dem Existierenden entstehen, aktiviert durch den schöpferischen seine kulturelle und politische Kritik wurde als intellektueller Luxus
Akt des zionistischen Unterfangens. Der Architekturstil für die neue betrachtet. Seit den Achtzigern hat man die Alternative, die seine
Ära, darauf bestand Mendelsohn, sollte eine kulturelle Hybride Architektur darstellte, unterschätzt, weil er fälschlicherweise zu den
zwischen Ost und West, Ratio und Spiritualität sein. Durch die An- zentralen Vertretern des »internationalen« oder »Bauhausstils« ge-
eignung und Wiederverwertung eines existierenden architektoni- zählt wurde.
schen Vokabulars konnte seine Mission nicht annährend erfüllt
werden: »Das neue Palästina muss noch geschaffen werden«, be-
kannte er 1937.37
Dieser Essay besteht aus Auszügen aus einem längeren Aufsatz, der ursprünglich 3 Dieser Aufsatz erhebt nicht den Anspruch, das Architekturschaffen während
in »Architectural History«, Band 39, September 1996, S. 147-180 veröffentlicht der Mandatszeit umfassend zu behandeln. Zu diesem Thema haben die oben
wurde. genannten Bücher viel beigetragen. Mendelsohn und der Chug sind zwei
bedeutende Beispiele, an denen ich ideologische Gegensätze innerhalb der
1 Die wichtigste neuere Veröffentlichung zum Thema, die erschien, nachdem der Architektengemeinschaft aufzeigen möchte.
Aufsatz 1996 herauskam (und auf die hier nicht Bezug genommen wird), ist: 4 Die Unterscheidung zwischen kulturellem und politischen Zionismus, auf die
Regina Stephan und Charlotte Benton (Hrsg.), Erich Mendelsohn: Architect, ich mich beziehe, entspricht vor allem dem konzeptionellen Unterschied zwi-
1887-1953, New York 1999. Eine Weiterentwicklung der Argumentation, die ich schen Ahad Ha’ams Versuch, Licht über die Nationen zu bringen (´or la ´goy-
hier präsentiere, ist zu finden in: Alona Nitzan-Shiftan, «Whitened Houses«, in: im´) und Herzls Willen, eine Nation wie alle anderen zu sein (´am ke ´chol
Theory and Criticism 16 (2000), S. 227-232. Ha´amim´), wie ich unten erläutern werde.
2 Ich verdanke es ursprünglich Royston Landau, dessen Andenken ich in tiefer 5 Die neuere Forschung bestätigt diese Verbindung, siehe: Fiedler, Social Utopi-
Verbundenheit bewahre, dass dieser Aufsatz geschrieben und bei der Society as of the Twenties: Bauhaus, Kibbutz and the Dream of the New Man und
of Architectural Historians of Great Britain eingereicht wurde. Ich danke für die Ingersoll, Munio Gitai Weintraub: Bauhaus Architect in Eretz Israel, siehe oben.
Auszeichnung, die diese einem früheren Manuskript verliehen hat. Diese Gilbert Herbert vertritt den Standpunkt, der größte Einfluss auf den Moder-
Arbeit wurde durchgeführt an der Abteilung für Geschichte, Theorie und Kritik nismus der 1930er Jahre in Israel seien Gropius, das Bauhaus und die verschie-
am Fachbereich für Architektur des MIT, wo ich sehr von den Erkenntnissen denen Siedlungsprojekte gewesen. Siehe: Gilbert Herbert, »On the Fringes of
Sibel Bozdogans, Akos Moravanszkys und Mark Jarzombeks profitierte. Des International Style«, in: Architecture SA (Cape Town, September-October
weiteren geht mein Dank an Gwendolyn Wright, Sarah Ksiazek, Zeev Rosenhek 1987), S. 36-43.
und Hadas Steiner.
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6 Eugene (Yohanan) Ratner, »Architecture in Palestine«, in: Palestine and Middle 18 Agnons Schriften über Mendelsohn siehe in: S.Y. Agnon, »Ad hena«, in: Ad
East Economic Magazine, 7-8 (1933), S. 293-96. Nachgedruckt in Sosnovsky, hena, S. 83ff.; »Pitche dvarim« und »Misha melech Moav« in: Pitche dvarim,
Yohanan Ratner, S. 25e. S. 121ff., 150, 92-96. Ich möchte Avraham Vachmann danken, dass er mich auf
7 Diese Emigrationswelle ist bekannt als der dritte Alija (wörtlich Anstieg) und diese Schriften hingewiesen hat.
gilt als stärker von zionistischen Überzeugungen motiviert als der fünfte Alija 19 Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden,
der 1930er Jahre, der eine Reaktion auf die Krise in Europa war. Gerlingen 1993.
8 Biografische Informationen zu den einzelnen Mitgliedern des Chug sind zu 20 Erich Mendelsohn schickte dieses Buch 1915 an Luise: »Ich schicke Dir hier die
finden im Architectural Heritage Centre des Technion, Haifa, sowie in den ›Drei Reden Bubers‹ mit einem Brief vom 7. September 1914 an Dich, der unge-
folgenden Büchern: Arieh Sharon, Kibbutz + Bauhaus, Stuttgart 1976; Ran wollt das strikte Bekenntnis meines Judentums enthält. Und zwar genau so,
Shechori, Zeev Recher, Jerusalem 1987; Kamp-Bandau, Tel Aviv; Metzger- wie es als Mischung Buber klar zu legen versucht.« Brief vom 02.04.1915 in:
Szmuk, Batim. Briefe eines Architekten, hg. von Oskar Beyer, München 1961, S. 31.
9 Neufeld definiert organisches Bauen als Harmonie zwischen menschlichen 21 Bubers Beziehung zu den Münchner Kunstkreisen ist beschrieben in: Peg
Bedürfnissen einerseits sowie baulichem Inhalt und Ausdruck andererseits, Weiss, Kandinsky in Munich: The Formative Jugendstil Years, Princeton 1979.
eine Harmonie zwischen sozialen Tendenzen und Form, die letztendlich in 22 Bubers frühes Gedankengut in: Paul Mendes-Flohr, From Mysticism to Dialo-
einem kompletten architektonischen Organismus resultiert. Neufeld aner- gue: Martin Buber´s Transformations of German Social Thought, Detroit 1989.
kennt individuelle Intuition, untergräbt jedoch den Kult um »Namen«, die 23 Auszüge aus Bubers frühen politischen Schriften in: Martin Buber, A Land For
angeblich die moderne Architektur anführen. Vielmehr trieb er den Glauben Two People: Martin Buber on Jews and Arabs, hg. von Paul Mendes-Flohr, New
seiner Zeit an das Kunstwollen voran. Neufeld, der hier das Moderne, Organi- York 1983.
sche und Schöne miteinander verwob, schrieb trotz seiner andauernden akti- 24 Erich Mendelsohn, »Das Problem einer Neuen Architektur«, Vorlesung im
ven Mitgliedschaft im Chug selten für die spätere Zeitschrift »Habinyan«. Arbeitsrat für Kunst, Berlin 1919. Zitiert in: Ita Heinze-Greenberg und Regina
10 Als der Chug im Dezember 1934 seine erste Architekturzeitschrift in Palästina, Stephan (Hrsg.), Erich Mendelsohn. Gedankenwelten, Ostfildern/Ruit 2000,
»Habinyan Bamishrah Hakarov« (Gebäude im Nahen Osten) veröffentlichte, S.44 und: Regina Stephan, Studien zu Waren- und Geschäftshäusern Erich
legte er die Publikation nicht nur auf eine geografische Region fest, sondern Mendelsohns in Deutschland, München 1992, S. 18.
wandte sich im Leitartikel auf Hebräisch, Arabisch und Englisch an sein 25 Erich Mendelsohn »Die internationale Übereinstimmung des neuen Bauge-
Publikum. Motiviert durch den Mangel an »jeglicher Bemühung um Analyse, dankens oder Dynamik und Funktion«, abgedruckt in: Erich Mendelsohn, Das
Richtung oder Einfluss« auf »die Baubewegung«, wurde sie als ein mächtiges Gesamtschaffen des Architekten. Skizzen, Entwürfe, Bauten, Berlin 1930. Re-
Instrument für die Beförderung moderner Architektur sowie professionellen print: Braunschweig/Wiesbaden 1988, S. 22-34.
Interesses in Szene gesetzt. Die Zeitschrift war pluralistisch modern mit 26 Mendelsohn, Palestine.
Betonung auf sozialem, ökonomischem, klimatischem und technischem 27 Paul Mendes-Flohr »Fin de Siècle Orientalism: The Ostjuden and the Aesthetics
Diskurs sowie beruflichen administrativen Kämpfen. Die Voreingenommenheit of Jewish Self-Affirmation«, Divided Passions: Jewish Intellectuals and the
für die Arbeit des Chug und die damit einhergehende Ideologie wurde jedoch Experience of Modernity, Detroit 1991, S. 77-132.
von Architekten aus Haifa angefochten, die sich um die Veröffentlichung küm- 28 Gershom Scholem, On Jews and Judaism in Crisis, New York 1976, S. 138.
merten. Am auffälligsten war ihr Versuch, die Zeitschrift zu diversifizieren und 29 Martin Buber, »Der Geist des Orients und des Judaismus« in: Über den
in Regionen aufzuteilen, um auch Nachbarstaaten einzuschließen. Der Unter- Judaismus, S. 77f.
titel »Itono shel Chug Adrichalim be ´Eretz Israel« (Zeitung des Architekten- 30 Mendelsohn, Palestine, S. 13f.
kreises im Land Israel) wurde auf die professionellere und weniger pluralisti- 31 Mendelsohn, Palestine, S. 11.
sche Zeitschrift »Habinyan« übertragen. Ein Vergleich der beiden hinsichtlich 32 Ita Heinze-Greenberg, »The Impossible Takes Longer«: Facts and Notes About
Berichterstattung und Qualität lässt keinen Zweifel an Macht und Einfluss des the Weizmann Residence in Rehovot’, in: Katedra 72 (Juni 1994).
Chug. »Habinyan« konzentrierte sich hauptsächlich auf Wohnungsbeschaf- 33 Erich Mendelsohn, Brief in: Habinyan Bamisrah Hakarov 3 (Februar 1935), S. 4.
fung und zionistische Dörfer, und lange Artikel legten alternative Pläne für das 34 Carl Rubin, Habinyan Bamisrah Hakarov 3, S. 1.
ultimative Miniapartment dar, in dem man eine Arbeiterfamilie unterbringen 35 Yoseph Gorny, Zionism and the Arabs 1882-1948: A Study of Ideology, Oxford
konnte. 1987.
11 Julius Posener, »One-Family Houses in Palestine«, in: Habinyan 2 (1937), S. 1. 36 Viele der Aktivitäten des Chug und der Vereinigung der Ingenieure und Archi-
12 Ebd. tekten, zu der er gehörte, konzentrierten sich auf berufliche Auseinanderset-
13 Hannes Mayer, »Building« in: Bauhaus (Cambridge, 1968), S. 153. zungen. Siehe zum Beispiel: Habinjan Bamisrah Hakarov 4, S. 16, 5-6, S. 2 und
14 Ebd. vor allem den Leitartikel der Ausgabe 8, die den großen Erfolg verkündet, dass
15 Julius Posener, »One-Family Houses in Palestine«, in: Habinyan 2 (1937), S. 1. die Architekten in das städtische Baukomitee von Tel Aviv aufgenommen wur-
16 Brief an Kurt Blumenfeld vom 11. 07. 1933, zitiert in: Ita Heinze-Mühleib, Erich den. In derselben Ausgabe befindet sich Ratners Artikel »The Influence of Buil-
Mendelsohn, Bauten und Projekte in Palästina (1934-1941), München, 1986, ding Regulation on the Architecture in Eretz Israel«, in dem er erklärt, welche
S. 22. Dies ist das umfangreichste Werk über Erich Mendelsohns Arbeit in Macht Verbote und kreative Bauregeln haben, das architektonische Gesamt-
Palästina. bild zu beherrschen und zu manipulieren.
17 Ebd. 37 Palestine Review.