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Technische Universität Dresden

Fakultät für Sprach-, Literatur und Kulturwissenschaften


Institut für Germanistik
Seminar: Kafka: Leben und Werk (WS 2015/2016)
Dozent: Dr. Helmut Mottel

Die Funktion Amerikas


in Kafkas Roman Der Verschollene.

Laura Santoni
Saxoniastr. 26, Dresden
Email: santoni.laura@live.it
Germanistik (HF)/Anglistik (HF); MA (Doppeldiplom)
3. Semester
Matrikelnummer: 4125765
Modul: Ausbaumodul Literatur und Kultur
Kombinierte Arbeit: 233310
Abgabetermin: 26.03.2016
Inhaltsverzeichnis.

1. Einführung..............................................................................................................................1

2. Das Amerika-Bild in der detuschen Literatur des 19. Jahrhunderts.......................................3

3. Das Amerika-Bild in Kafkas Roman „Der Verschollene“......................................................6


3.1. Einführung: Entstehungsgeschichte und Quellen............................................................6
3.2. Die Funktion Amerikas in Kafkas Roman.......................................................................9
3.2.1. Amerika als Metapher der „Rettung“...durch „Verstoßung“..................................9
A. Rettung durch Anpassung................................................................................11
B. Rettung durch Entfremdung............................................................................14
C. Rettung durch Gefangenschaft........................................................................16
3.2.2. Kafkas Amerika als Gegenbild zu Europa?.........................................................19
3.2.3. Kafkas Amerika als Stufe des „Sich-selbst-Findens“?.........................................21

4. Schluss..................................................................................................................................21

5. Literaturverzeichnis...............................................................................................................23
1. Einführung.
In dieser Arbeit werde ich mich mit Kafkas Amerika-Bild in dem Romanfragment Der
Verschollene beschäftigen und werde versuchen, seine „innovativen“ Aspekten im Vergleich
zu den Amerika-Darstellungen der Zeit zu betonen.
Im ersten Teil der Arbeit (Kapitel 2) wird der Fokus auf dem Amerika-Bild in der deutschen
Literatur des 19. Jahrhunderts liegen, das am Anfang insbesondere von konkreten
Erfahrungen geprägt war. Die Amerika-Darstellungen der Zeit vermittelten in großem Maße
ein positives Bild (Amerika als „Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten“, als
„Prototyp einer demokratischen Gesellschaft“, usw.), das oft auch mit den Erwartungen und
Vorstellungen der Auswanderer übereinstimmte und, wie Brenner behauptet, meistens auf
eine „romantische Idealisierung“ angelegt war (obwohl es auch Beispiele für negative
Darstellungen gibt). Es wird auch gezeigt, wie ab den fünfzigen Jahren des 19. Jahrhunderts
das Amerika-Bild schrittweise aufhört, ein „kontrastives Bild“ gegenüber Europa zu sein, und
wie es, dagegen, ein reines literarisches Motiv wird und als eine „verinnerlichte Lebensstufe
in den Bildungsroman“ einbezogen wird.
Der zweite Teil der Arbeit (Kapitel 3) beschäftigt sich spezifisch mit Kafkas Amerika-Bild in
Der Verschollene. In einer sehr zusammenfassenden Einführung wird zunächst die
problematische Entstehungsgeschichte des Fragments präsentiert, so wie die wichtigsten
Quellen (Holitscher, Soukup, usw.), auf die der Autor, der selbst nie in Amerika gereist hatte,
insbesondere für Realieninformationen Bezug nahm. Ausgehend davon, dass Kafkas Amerika
nicht nur ein „erlesenes Amerika“ ist, und dass es nicht als ein reines Abbild der Realität
anzusehen ist, sondern vielmehr als eine Großmetapher, werden dann unterschiedliche
mögliche „Funktionen“ Amerikas in Kafkas Roman in Betracht genommen.
In Bezug auf Sokel wird zum Beispiel gezeigt, dass Amerika als eine Metapher der
„Rettung“ und gleichzeitig der „Verstoßung“ angesehen werden könnte (Kapitel 3.2.1.),
indem der Roman durch einen alternierenden Rhythmus zwischen „Errettungen“ und
„Verstoßungen“ des Protagonisten Karl Roßmann gekennzeichnet ist, die schließlich in seiner
Gefangenschaft gipfeln, und tatsächlich eine Zweipoligkeit Amerikas widerspiegeln. Drei
mögliche „Rettungen“ in und durch Amerika werden hier diskutiert. Erstens das totale
Aufgeben der eigenen (europäischen) Vergangenheit und die völlige Anpassung an das
amerikanische System, das, wie gezeigt wird, von einer gesellschaftlichen Ungleichheit
geprägt ist, die durch bestimmte Verhaltensweisen (z.B. Logik des Konkurrenzkampfes,

1
Leistungsethik, Zweckrationalität, usw.) zementiert wird und zum Entstehen klarer
Hierarchiestrukturen führt. Die zweite mögliche „Rettung“ in Amerika besteht aus der
entfremdeten Arbeit, die durch eine großere Mechanisierung zur Verdinglichung und
Instrumentalisierung des Menschen führt. Schließlich bleibt dem Protagonisten nur noch die
Möglichkeit der Versklavung, wie man zum Beispiel in der Brunelda-Episode („Ein Asyl“)
sehen kann, oder in dem letzten, unvollendeten Kapitel „Das Naturtheater von Oklahoma“,
wo sich der Protagonist unglaublich den neuen Name „Negro“ - der die amerikanische
Sklaverei bezeichnet - auswählt und ein neues Leben anfangen will. Über dieses Kapitel wird
hier ausführlich diskutiert, weil es durch seine Rätselhaftigkeit zu vielen unterschiedlichen
Deutungen im Laufe der Jahren geführt hat.
Im Kapitel 3.2.2. wird gezeigt, dass Amerika in Kafkas Roman nicht mehr eine Funktion als
Gegenbild zu Europa hat, obwohl man trotzdem einige Aspekte in Bezug auf die
unterschiedlichen Mentalitäten sehen kann, die oft ein „kontrastives Bild“ enthüllen (z.B.
Moralvorstellungen, Höflichkeitsformen, usw.). Schließlich, im Kapitel 3.2.3., wird kurz
diskutiert, warum Kafkas Roman keine Entwicklungsgeschichte enthält und, so, nicht als ein
Bildungsroman angesehen werden sollte.

Dresden, 23.03.2016 Laura Santoni

2
2. Das Amerika-Bild in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts.

Wie Malsch behauptet, gehen die europäischen – und deutschen – Wunschbilder der „Neuen
Welt“ auf eine sehr alte Tradition zurück 1. Seit ihrer europäischen Kolonisierung ist Amerika
immer mehr zum Thema der europäischen und deutschen Literatur geworden, was zur
Bildung eines bestimmten Amerika-Bilds geführt hat, das sich im Laufe der Jahrhunderte
bedeutungsvoll verändert hat. In diesem Kapitel wird der Fokus auf einigen Aspekten des
spezifischen Amerika-Bilds liegen, das sich in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts
entwickelt und gefestigt hat, vor allem infolge der deutschen Massenauswanderung, die diese
Zeit besonders prägte.
Seit dem Hungerjahr 1817 setzte nämlich die deutsche Auswanderung in nennenswertem
Ausmaß ein, vor allem infolge von Missernten, die zu stark gestiegenen Getreidepreisen und
Hungerskrisen führten und rund 20.000 Menschen zwangen, nach Osteuropa oder in die
Vereinigten Staaten zu emigrieren2. Anhaltende Wirtschaftskrisen führten seit den frühen
1830er Jahren zu einem kontinuierlichen Anwachsen der Auswanderung, die in den Jahren
1846-1857 und 1864-1873 Spitzenwerte mit jeweils einer Million Emigranten erreichte 3.
Mehr als 1,8 Millionen Deutsche wanderten nach der Reichsgründung, zwischen 1880 und
1893, in die USA aus, während nach den 90er Jahren, aufgrund einer fortgeschrittenen
Industrialisierung und einer größeren Arbeitsplatzangebot, die Amerikaauswanderung
schrittweise eine immer geringere Rolle spielte4. Hungerkrisen waren nicht der einzige
Beweggrund für die Massenmigration im 19. Jahrhundert, die vielmehr als eine Antwort auf
das Zusammenspiel mehrerer Faktoren angesehen werden sollte: u.a. die steigenden
Geburtenüberschüsse, der Niedergang des Heimgewerbes im Zusammenhang mit der
zunehmenden Industrialisierung, die Lockerung des Auswanderungsverbots, die Einführung
der Gewerbefreiheit, die Aufhebung der landwirtschaftlichen Erbuntertänigkeit, die
technologische Innovationen im Bereich der Dampfschifffahrt, so wie die politischen
Verfolgungen demokratisch-liberaler Kräfte in der restaurativen Phase nach 1815, besonders
nach der erfolglosen Revolution von 1848/495.
1 Wilfried Malsch: Einleitung. Neue Welt, Nordamerika und USA als Projektion und Problem. In: Sigrid
Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hgg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt –
Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam, 1975, S.9.
2 vgl. Die Auswanderung nach Nordamerika im 19.Jahrhundert. URL: http://www.auswanderung-
rlp.de/auswanderung-nach-nordamerika/19-jahrhundert.html (02.03.2016)
3 vgl. Ebd.
4 vgl. Ebd.
5 vgl. Jens Thiel: Infoblatt: Deutsche Auswanderung nach Amerika im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Klett Verlag,
2012. URL: http://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/DO01_3-12-430001_Kap3_online_mi9s5a_Dt_Auswand.pdf (02.03.2016)

3
Wie Brenner in Bezug auf Moltmann betont, war das „Amerika-Bild“ zu dieser Zeit
insbesondere von authentischen Erfahrungen geprägt6, was die Relevanz von Gattungen wie
der Reisebericht, Werbeschriften, Auswandererbreife, Auswanderer-Ratgeber, usw.
erklärt. Diese vermittelten in großem Maße ein positives Bild, das mit den charakteristischen
Vorstellungen übereinstimmte, „die das europäische Denken vor allem in der Umbruchsphase
zwischen 1825 und 1835 über Amerika hervorgebracht hat[te] und die erheblichen Einfluß auf
die Wanderungsbewegung [hatten]“7. Amerika war in erster Linie als ein „Goldenes Land“
angesehen, wo sich die materiellen Bedürfnisse der Leute (z.B. Erwerb eines günstig noch
nicht erschlossenen Landguts) leicht befriedigen ließen8. Gleichzeitig trat es auch oft als
„Land ohne Kultur“ - eine „Tabula rasa“ - in die gängigen Vorstellungen hinein, „wo die
Europäer ihre Überlegenheitsgefühle gegenüber dem neuen Kontinent artikulierten konnten“9.
Es wurde auch als „Prototyp einer demokratischen Gesellschaftsordnung“10 angesehen, das
mit seiner größeren Toleranz und Freiheit das ideale Ziel darstellte, um das „pursuit of
happiness“ (Hoffnung auf besseres Glück) zu verfolgen. Insgesamt stimmt Brenner mit
Durzaks Annahme überein, dass das Amerika-Bild dieser Zeit meistens rückwärtsorientiert
und auf romantische Idealisierung angelegt sei11.
Wie schon gesagt worden ist, hat die Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert tiefe Spuren
in der deutschen Literatur hintergelassen, nicht nur in den schon erwähnen faktualen
Gattungen des Reiseberichts, der Auswandererbriefe, usw., sondern auch in fiktionalen
Texten12, beispielsweise in Romanen. In Goethes Wilhelm Meister-Romanen, zum Beispiel,
wird Nordamerika ebenfalls als Land der Verheißung und der Zukunft dargestellt 13. Die
prinzipielle Voraussetzung, die in den Wanderjahren den Auswanderungsprojekten zugrunde
liegt, ist die des „Neuanfangs“14, wie Lange behauptet: In diesem Land sollte nämlich „eine
von den natürlichen europäischen Bedingtheiten 'gereinigte' ständische Ordnung geschafft
und die 'unschätzbare Kultur' Europas [...] bestätig[t] und erneuer[t] [werden]15”.
6 Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer
Gattungsgeschichte. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1990, S.520.
7 vgl. Ebd.
8 vgl. Ebd., S.521.
9 Ebd.
10 vgl. Ebd.
11 vgl. Ebd., S.523.
12 vgl. Ebd., S.528.
13 vgl. Malsch: Einleitung, S.11.
14 Victor Lange: Goethes Amerikabild. Wirklichkeit und Vision. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und
Wilfried Malsch (Hgg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart:
Reclam, 1975, S.69.
15 Ebd.

4
In Gegensatz zu dem bisher besprochenen positiven Amerika-Bild weist Malsch auf einige
negative Äußerungen (vor allem in Bezug auf die „Kulturlosigkeit“, die „Herrschaft des
Geldes“ oder die „Gefahren der Wildnis“) hin, die jedoch keine einheitliche Entwicklung von
anfäglicher Begeisterung zu wachsender Enttäuschung signalisieren16. Solche Tendenzen sind
beispielsweise in Werken von Nikolaus Lenau und Otto Rupius zu finden und hängen oft von
übersteigerten Erwartungshaltungen ab17.
Interessanterweise bleibt das Amerika-Bild bis zu den späteren fünfziger Jahren des 19.
Jahrhunderts vor allem „ein kontrastives Bild“, wobei die Vereinigten Staaten entweder als
Vorbild oder als Gegenbild für Europa und Deutschland angesehen wurden18. Ab dieser Zeit,
insbesondere in Romanen Kellers (Der Grüne Heinrich von 1853-55 und Martin Salander
von 1886), Raabes und Fontanes, wird „Amerika“ zum literarischen Motiv und erhält eine
Funktion als „Schule der Erziehung und Bewährung“, als „Station innerer Wandlung und
Festigung“ und als „abschließende Stufe des Sich-selbst-Findens des Menschen unter
Prüfungen19“: Sie wird, praktisch, „als eine verinnerlichte Lebensstufe in den
Bildungsroman einbezogen“20. Aus diesem Grund verlagert sich das erzählerische Interesse
schrittweise vom dem Auswanderer zu dem Rückkehrer, „der die Anforderungen der größeren
Welt erfahren, bestanden und verarbeitet hatte [und so] ins Heimatliche erneuernde
Lebenskräfte einzubringen [versprach]21“. Was noch bei diesen Autoren betrachtet werden
sollte, ist die Tatsache, dass sie (genau wie Kafka) nie Amerika mit ihren Augen gesehen
hatten: „Ihr Amerika war ein Produkt der Literatur, aus zweiter Hand empfangen, eine
Wiederholung [...]“22.
Im Folgenden wird versucht, Kafkas „Amerika-Bild“ in Der Verschollene zu betrachten, es
mit dem schon besprochenen Amerika-Bild der Zeit zu vergleichen, und zu sehen, welche
Funktion das fiktive Amerika in dem Roman spielt: Ist es – wie Engel fragt – ein „Abbild der
sozialen und historischen Realität der USA“ oder vielmehr „eine zu entschlüssende
Großmetapher, wie später die Gerichts- und Schlosswelt“?23

16 vgl. Malsch: Einleitung, S.11.


17 vgl. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S.528f.
18 vgl. Malsch: Einleitung, S.14.
19 vgl. Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzähwerk von Keller,
Raabe und Fontane. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hgg.): Amerika in der
deutschen Literatur: Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam, 1975, S.182.
20 Ebd.
21 Ebd., S.180.
22 Ebd., S.178.
23 Manfred Engel: Kafka-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag, 2010, S.181.

5
3. Das Amerika-Bild in Kafkas Roman „Der Verschollene“.

3.1. Einführung.

Entstehungsgeschichte.
In erster Linie ist es wichtig, ein zusammenfassender Abriß der Enstehungsgeschichte des
Romans vorzustellen, um besser den chronologischen Zeitpunkt zu bestimmen, in dem sich
Kafkas Amerika-Bild entwickelt. Diese lässt sich vor allem aus Tagebucheinträgen und
Briefen rekonstruieren, aus denen sich beispielsweise ergibt, dass noch ehe Kafka Amerika
schrieb, plante er einen Roman, in dem die „Neue Welt“ eine bedeutende Rolle gespielt
hätte24, und zwar als „Paradigma der Freiheit“ gegenüber dem „europäischen Gefängnis“. So
notiert er am 19. Januar 1911:
Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von
denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis
blieb25.

Ein Jahr später, zwischen März und Mai 1912, beginnt er an der ersten Fassung des Romans
zu arbeiten, die er vermutlich nach einer Schreibblockade zerstört und von der man nur
Spuren in einigen Tagebucheinträgen und Briefen finden kann26. Ab Semptember 1912
beginnt er an einer zweiten Fassung zu arbeiten, die durch eine erste, intensivere,
Arbeitsphase gekennzeichnet ist, dokumentiert von einem Brief an Felice Bauer27:
Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt, um
Ihnen einen vorläufigen Begriff zu geben „Der Verschollene“ und handelt
ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. […] Es ist die erste
größere Arbeit, in der ich mich nach 15-jähriger bis auf Augenblicke trostloser Plage
sei ½ Monaten geborgen fühle28.

Ab November 1912 folgt eine zweite, stockendere, Arbeitsphase, die am 24. Januar 1913
endet, wie sich ebenfalls aus einem Brief an Felice Bauer verstehen lässt:
Mein Roman! Ich erklärte mich vorgestern abend vollstandig von ihm besiegt. Er
läuft mir auseinander, ich kann ihn nicht mehr umfassen, […] . Kurz ich höre gänzlich
mit dem Schreiben auf […] 29.

24 Gerhard Loose: Franz Kafka und Amerika. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann Verlag, 1968, S.11.
25 Franz Kafka: Tagebücher. 1910-1923. New York: Schoken Books Inc., S.39f., zitiert in: Loose: Franz Kafka
und Amerika, S.11.
26 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.175.
27 vgl. Ebd.
28 Franz Kafka, zitiert in: Engel: Kafka-Handbuch, S.175.
29 Ebd.

6
Am 4. April 1913 schickt Kafka die Einzelpublikation des ersten Kapitels „Der Heizer“ an
seinen Verleger Kurt Wolff und schlägt „für späterhin“ eine Sammelpublikation unter dem
Titel „Die Söhne“ vor, die neben dem Heizer auch die inzwischen verfassten Erzählungen
Das Urteil und Die Verwandlung umfassen sollte30. In einer dritten und letzten Arbeitsphase
zwischen August und Oktober 1914 beendet er die Fragmente“Auf! Auf!“ rief Robinson und
Ausreise Bruneldas, dann kommt er mit seinem Schreiben nicht mehr voran31.
Das unvollendete Werk wurde von Max Brod publiziert und 1927 bei Kurt Wolff in München
erstmalig unter dem Titel „Amerika“ veröffentlicht32.

Quellen: Was Kafka von Amerika wusste.


Wie schon erwähnt worden ist, hat Kafka nie selbst die Vereinigten Staaten gereist. Deshalb
könnte sein „Amerika“ in erster Linie als ein „erlesenes Amerika“ (wie es von Binder
definiert wurde) definiert werden33. Aus diesem Grund lässt sich einfach verstehen, warum
die Quellen, insbesondere Sach- und Realieninformationen, Reiseberichte, Gespräche, usw.,
eine so wichtige Rolle bei der Konstruktion seines äußeren Amerika-Bilds spielten. So
kommentiert Brod in der Nachwort zur ersten Ausgabe des Romans:
In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht noch sagen, daß Franz Kafka sehr gern
Reisebücher, Memoiren las, daß die Biographie Franklins eines seiner
Lieblingsbücher war, aus dem er auch gerne vorlas, daß stets eine Sehnsucht nach

Freiheit und fernen Ländern in ihm lebte34.

Die Forschung hat sich vor allem auf die folgenden Quellen konzentriert:

1. Ein Amerika-Reisebericht des Schriftstellers Arthur Holitscher, der 1912 unter dem Titel
„Amerika heute und morgen. Reiseerlebnisse“ erschien35. Wie Rüsing behauptet, gilt Kafkas
Kenntnis des Textes als gesichert: Von Herbst 1911 an publizierte nämlich die
Literaturzeitschrift Die Neue Rundschau, deren Abbonent Kafka war, große Teile des
Berichts36. Außerdem besitzte der Autor auch ein Exemplar des Buchs, von dem er – wie
30 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.175.
31 vgl. Ebd.
32 vgl. Hartmut Binder: Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Bd.2: Das Werk und seine Wirkung. Stuttgart: Alfred
Kröner Verlag, 1979, S.408.
33 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.177.
34 Max Brod: Nachwort zur ersten Ausgabe. In: Franz Kafka: Amerika. Nördlingen: Suhrkamp, 1997, S.307.
35 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.177.
36 vgl. Hans-Peter Rüsing: Quellenforschung als Interpretation: Holitschers und Soukups Reiseberichte über
Amerika und Kafkas Roman „Der Verschollene“. In: Modern Austrian Literature, Vol.20, N.2, 1987, S.1.

7
Brod berichtet – immer „in großer Bewunderung“ sprach37.

2. Ein Amerika-Reisebericht des tschechischen sozialdemokratischen Politikers František


Soukup38. Es ist nicht sicher, ob Kafka die gedruckte Fassung von 1912 kannte, auf jeden Fall
ist seine Teilnahme an Soukups Vortrag Amerika a jeji úřednictvo („Amerika und seine
Beamtenschaft“) von Tagebucheinträgen dokumentiert39.

3. Wichtige Informationen erhielt Kafka außerdem von der Presse der Vorkriegszeit, zum
Beispiel, in deren die USA ein hochaktuelles Thema waren40. Gespräche mit Rückkehrer
und Verwandten spielten auch eine wesentliche Rolle. Wie Alt behauptet, war Kafka
beispielsweise über die Geschichten einiger Cousins der väterlichen Linie, die um die
Jahrhundertwende nach Amerika emigriert waren, durch Briefe und mündliche Berichte gut
informiert41.

Wie Binder betont, ist Kafkas Amerika-Bild weit komplexer als das von Holitscher und
Soukup, die „sich, wenn auch in verschiedener Weise, vom Sozialismus ihrer Zeit stark
geprägt [zeigen]42“. Bei Kafka kann man dagegen eine deutliche, in der Sozialutopie von
Oklahoma sogar ironische Distanz von den politischen Botschaften dieser Autoren sehen 43.
Ihre Reiseberichte, so wie die unterschiedlichen Gespräche und die Presse, waren für Kafka
vor allem wichig, um sich ein „äußeren Amerika-Bild“ (über die Realien:
Großstadtpanoramen, Beschreibungen des Straßenverkehrs, usw.) zu machen, aus dem er sich
aber, wie im Folgenden gezeigt wird, oft und gern distanziert und das er zum literarischen
Motiv verwandelt.

37 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.1.


38 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.177.
39 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.1.
40 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.177.
41 vgl. Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: C.H. Beck Verlag, 2005,
S.354.
42 Binder: Kafka-Handbuch in zwei Bänden, S.415.
43 vgl. Ebd.

8
3.2. Die Funktion Amerikas in Kafkas Roman.
Kafkas Amerika ist nicht nur ein “erlesenes Amerika”, wie im vorherigen Kapitel gezeigt
worden ist. Sie ist auch und vor allem ein „imaginiertes 44“ und „erfundenes“ Amerika, wie
Loose behauptet: „Was ist von dem im 'amerikanischen Roman' dargestellten Lande zu sehen?
Wenig Wirkliches; der Rest ist erfunden45“. Einzelheiten der Darstellung sind „absonderlich“,
„bizarr“ und „vestoßen sogar gegen die Tatsachen“46, wie man am Beispiel von erfundenen
Städten wie „Butterford“ oder „Ramses“ sehen kann, so wie von anderen topographischen
und geographischen Beschreibungen (z.B. die Beschreibung New Yorks aus der Wohnung des
Onkels, die Beschreibungen der unterschiedlichen Reisen des Protagonisten, usw.). Und doch
„stimmt“ das Ganze, nach Loose, nicht als abgebildete, sondern als „erschaute Wahrheit“:
„Kafka hat das Land nicht gut gekannt, aber – das ist das Paradox – umso besser hat er es
verstanden47“. Ausgehend davon, dass die erzählte Welt in Kafkas Werken, trotz vieler
realistisch-mimetischer Züge, keine objektive, von der Problematik der Hauptgestalt
unabhängige, fiktive Realität besitzt48, und folglich nicht als reines Abbild der Realität
anzusehen ist, werden im Folgenden unterschiedliche mögliche „Funktionen“ Amerikas in
Kafkas Roman Der Verschollene diskutiert.

3.2.1. Amerika als Metapher der „Rettung“ durch ...“Verstoßung“.


Sokel betrachtet Kafkas Amerika grundsätzlich als eine Metapher der „Rettung“ und,
gleichzeitig, der „Verstoßung“ und der „Gefangenschaft“. Oder besser, der Rettung durch
Verstoßung und Gefangenschaft: Wie im Folgenden gezeigt wird, gerät nämlich der Held,
Karl Rossmann, im „Land der Freiheit“ kontinuierlich „aus einer Gefangenschaft in die
andere“49. Der alternierende Rhythmus zwischen „Errettungen“ und „Verstoßungen“, die die
Schicksalsreise des Protagonisten in der „Neuen Welt“ kennzeichnen, bestimmt das
Aufbauprinzip des Fragments und spiegelt auch das Doppelantlitz Amerikas wider, die
einerseits als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, „Zuflucht und Ort der Bedrängten“,
„Ziel der Freiheit Suchenden“ erscheint, anderseits aber auch eine entgegengesetzte, negative

44 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.177.


45 Loose: Franz Kafka und Amerika, S.30f.
46 vgl. Ebd., S.30-34.
47 Ebd., S.51.
48 vgl. Walter H. Sokel: Zwischen Drohung und Errettung. Zur Funktion Amerikas in Kafkas Roman „Der
Verschollene“. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hgg.): Amerika in der deutschen
Literatur: Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam, 1975, S.246.
49 Loose: Franz Kafka und Amerika, S.29.

9
Seite versteckt, die in Kafkas Roman besonders deutlich ist50.

Die Zweipoligkeit Amerikas.


Wie Engel behauptet, sind beide die „Polen“ Amerikas in Kafkas Roman vorhanden.
Einerseits, erscheint Amerika als Ort der Freiheit und der Emanzipation, wo enge
Moralvorstellungen und Konventionen (z.B. Sexualmoral) keine Rolle mehr spielen, und als
Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem „jeder zum Senator werden“
(„Tellerwächermythos“) oder mindestens höhere Stellungen erlangen kann51. Anderseits aber
demaskiert Kafka diese amerikanische „Freiheit“, die tatsächlich auf sehr präzise
Machtstrukturen und Normsetzungen beruht, die, zusammen mit einem zweckrationalen Code
der Selbstdisziplinierung und des egoistischen Konkurrenzkampfes, zu einer Zementierung
der gesellschaftlichen Ungleichheit und zu der Entstehung von klaren Hierarchiestrukturen
führen52. Wie Sokel behauptet, ist diese Zweipoligkeit Amerikas schon zu Beginn des Romans
zu spüren, und zwar in der rettenden Figur des Onkels, einerseits, und in einer sehr
besonderen Darstellung der Freiheitsstatue, anderseits53:
Als der sechzehnjährige Karl Roßmann […] in dem schon langsam gewordenen
Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete
Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr
Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die
freien Lüfte54.

Dargestellt mit einem Schwert, statt mit dem Fackel der Freiheit, wird Diese zu einem
Machtsymbol und konnotiert die Gewalt, mit der die “Neue Welt” geschaffen wurde 55 und die
Karls Schicksalsreise charakterisieren wird. Der Onkel, dagegen, verkörpert, mindestens am
Anfang, die positiven Aspekten Amerikas: Er kann als Paradigma des „self-made-man“
angesehen werden, indem er es geschaffen hat, vom Nauankommlinge zum Chef eines
Riesengeschäfts – „eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäft“ (A, 48) – zu werden
(nicht, jedoch, ohne eine sehr starke Selbstdisziplinierung und durch die Logik der
Zweckrationalität und des Konkurrenzkampfes, wie im Folgenden gezeigt wird). Indem er
Karls Verführung und uneheliche Vaterschaft nicht beurteilt, und ihn in seinem Haus
50 vgl. Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.247.
51 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.185.
52 vgl. Ebd., S.185f.
53 vgl. Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.250.
54 Franz Kafka: Amerika. Nördlingen: Suhrkamp, 1997, S.7. → direkte Zitate aus dem Roman werden von hier
aus im Text unter Verwendung der Sigle "A“ und Seitenangabe zitiert
55 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.7.

10
annimmt, stellt er am Anfag eine rettende Gestalt dar 56. Die Eigenschaften und die Kehrseiten
dieser Rettung werden genauer im nächsten Kapitel geklärt.

A. Rettung durch Anpassung.


Wie schon gesagt worden ist, stellt der Onkel Jakob eine erste rettende Figur dar: Er erscheint
am Anfang als „Vatersubstitut“ und „Repräsentant des optimistischen Amerikabildes“, indem
er Karls sexuelles Verschulden milder als die Eltern beurteilt 57 und Karl bei sich, in seinem
Haus in New York, annimmt und ihm es viel erleichtert, sich in dem neuen Land
einzugewöhnen:
Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freudlich entgegen, und niemals
mußte Karl sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meist das
erste Leben im Ausland so verbittert. (A, 40)

Trotzdem zeigt sich diese Rettung durch und in Amerika „bereits hier als keinewegs utopisch
und einfach“58. Sie setzt nämlich in erster Linie das Aufgeben der eigenen Vergangenheit und
des Verlorenen voraus59, da „die ersten Tagen eines Europäers in Amerika […] einer Geburt
vergleichbar [sind]“ (A, 41), wie der Onkel annimmt, und nur eine vollständige Anpassung an
die bestehenden Machtverhältnisse das Überleben und den Aufstieg in der neuen Heimat
ermöglicht60. Diese Anpassung ist erstens mit einer sehr starken Selbstdisziplinierung
verbuden, deren wichtigste Repräsentat Karls Onkel (und später und der Student Jozef
Mendel) ist61: Er mag keine Untätigkeit, die er als ein „Verderben“ (A, 41) für den
Neuankömmlinge ansieht, fördert mit allen Kräften Karls Englischlernen und seine
Reitstunden, zum Beispiel, und rät ihm, „sich vorläufig ernsthaft nicht auf das geringste
einzulassen“ (A, 41). Sobald Karl dieser Selbstdisziplin nicht nachkommt und die Einladung
Polluders gegen seinen Willen annimmt, macht sich der Onkel keine Sorgen, Karl mit einem
Brief zu verabschieden, in dem er sich als „Mann von Prinzipien“ definiert:
[…] ich verdanke meinen Prinzipien alles, was ich bin, und niemand darf verlangen,
daß ich mich vom Erdboden wegleugne, niemand, auch Du nicht, mein geliebter
Neffe […] (A, 91)

Das Ganze mag übertrieben klingen, wenn man daran denkt, dass es sich nur um einen

56 vgl. Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.248.


57 vgl. Ebd., S.248f.
58 vgl. Ebd.
59 vgl. Ebd.
60 vgl. Ebd.
61 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.185.

11
harmlosen Ausflug in einem Landhaus handelt. Trotzdem sind die Prinzipien der
Selbstdisziplinierung, von denen der Onkel in seinem Brief schreibt, so wie andere (z.B.
Konkurrenzkampf, Zweckrationalität, usw.) unbedingt notwendig, um in Amerika überleben
zu können, wie im Folgenden gezeigt wird.
Nach Sokel wird Amerika in Kafkas Roman nämlich so dargestellt, „als handelte es sich um
eine Analogie zum Kapitalismusbild aus marxistischer Perspektive 62“. Dies wird deutlich,
beispielsweise, bei den Beschreibungen der Arbeitsverhältnisse und -Mechanismen, die durch
eine steigende Mechanisierung zur Entfremdung und Verdinglichung des Menschen führen
(wie im nächsten Kapitel ausführlicher besprochen wird), aber auch bei der gesellschaflichen
Ungleichheit, von deren das Land geprägt ist. Kafkas Amerika ist nämlich nicht nur das
Land, wo man seine Erfolgserwartungen verwirklichen kann; es ist auch und vor allem das
Land, wo Klassendifferenzen noch deutlicher werden können, wie Karl selbst schon von
Anfang an bemerkt:
Dann kam wieder Tür an Tür, er suchte, mehrere zu öffnen, sie waren versperrt und
die Räume offenbar unbewohnt. Es war eine Raumverschwendung sondergleichen,
und Karl dachte an die östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen
versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten
und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel bestand, in dem sich die Kinder
um ihre Eltern scharten. (A, 72)

Diese Ungleichheit wird durch bestimmte Vehaltensweisen zementiert, die dann zu der
Entstehung von klaren Hierarchiestrukturen führen, beispielsweise durch die Logik des
Konkurrenzkampfes, der Leistungsethik und der Zweckrationalität. Diese stellen einige
der Kernprinzipien gesellschaftlicher Machtfiguren wie der Onkel dar, die ihren Erfolg auf die
Ausbeutung und Unterdrückung von Anderen aufgebaut haben, treten aber auch unter
Unterdrückten selbst in Erscheinung, die Hierarchisierungen untereinander reproduzieren 63.
Die Logik des Konkurrenzkampfes spielt insbesondere im „Hotel Occidental“-Kapitel eine
sehr wichtige Rolle, wo sie sogar alle die menschlichen Beziehungen beherrscht 64. Wie Sokel
behauptet, wird Karls Arbeit nur durch die „Verdrängung des Mitmenschen“ möglich, indem
er seine Stelle als Liftjunge der Unglücklichkeit Giacomos, der vom Fahrstuhl entfernt wird,
verdankt, und sich „seine Passagiere nicht den anderen Jungen [zu] verlieren“ (A, 141)

62 Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.254.


63 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.17.
64 vgl. Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.254f.

12
bemüht65. Auch bei Therese kann man diese Logik finden, wie sich beispielsweise in dem
Moment verstehen lässt, wenn sie ihre Angst annimmt, dass die Oberköchin an ihrer Stelle
Karl zum Sekretär machen könnte (A, 137).
Die negativen Effekten dieser Verhaltensweisen werden im Roman ganz deutlich dargestellt.
Was die Auswirkungen auf das Privatleben betrifft, weist beispielsweise Rüsing darauf hin,
wie in den Räumen des „Hotel Occidental“ die Arbeitswelt die Privatsphäre völlig verschluckt
(die Arbeiter leben sogar im Hotel), oder wie das ununterbrochene Arbeitstempo den ganzen
Menschen absorbiert und ihm kein Raum mehr für die Entfaltung humaner Beziehungen
aufspart66. Dies führt, nach Wirkner, zu einer Reduktion der humanen Anlagen und der
geistigen Fähigkeiten des Menschen, was sich schließlich auch auf das Sozialverhalten
negativ auswirkt67. Bei dem Student Jozef Mendel, zum Beispiel, der um nicht zu verhungern
gezwungen ist, während dem Tag als „niedrigster Verkäufer“ (A, 256) im Warenhaus Montly
zu arbeiten und in der Nacht zu studieren, „wird sogar die zwischenmenschliche
Kommunikation verplant und verwaltet, als handle es sich um Produktionsablaufe“68:
„Kommen Sie doch einmal zu uns herüber“, sagte der Student, der schon wieder an
seinem Tisch saß, „natürlich nur, wenn Sie Lust haben. […] Von neun bis zehn Uhr
abends habe ich auch für Sie Zeit“. (A, 260)

Ein weiteres Effekt der bisher besprochenen Tendenzen im Bereich der Arbeitswelt betrifft die
Entwicklung von Mechanismen, „die den Unterdrückten [...] emotional an das System
binden“69 und zu einer Akzeptanz oder sogar Dankbarkeit führen. Indem, zum Beispiel,
Therese ihre Klagen über Isolation am Arbeitsplatz relativiert, „so behauptet der Roman, dass
das Arbeitsplatzrisiko den Betroffenen noch dort dankbar macht, wo der Wiederstand gegen
die unmenschlichen Bedingungen der Arbeit angesagt erschiene“70:
Sie dürfen nicht glauben, daß ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberkochin stünde es
ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im Hotel und schon in
großer Gefahr entlassen zu werden, denn ich konnte die schwere Arbeit nicht leisten.
(A, 134f.)

65 vgl. Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.254f.


66 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.11-19.
67 vgl. Alfred Wirkner: Kafka und die Außenwelt. Quellenstudien zum „Amerika“-Fragment. Stuttgart: Ernst
Klett Verlag, 1976, S.24.
68 Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.19.
69 Ebd., S.10.
70 Ebd.

13
Wie schon erwähnt worden ist, ist Kafkas Amerika durch klare Hierarchiestrukturen
gekennzeichnet, die die kapitalistische Klassengesellschaft widerspiegeln und überall (an
Bord des Schiffs, im Betrieb des Onkels, im Hotel Occidental, in den Kanzleien des Theaters
von Oklahoma, usw.) zu sehen sind. Wie Loose behauptet, ist Kafkas Darstellung der
amerikanischen Gesellschaft jedoch irgendwie „unvollständig“, weil das mittlere Bürgertum
nicht in Erscheinung tritt71, und das Ganze auf die Grundopposition von „oben“ und „unten“,
Kapital und Proletariat, reduziert wird (was auch auf die schon besprochene Zweipoligkeit
Amerikas hinweisen könnte). Die Anpassung an diesen Machthierarchien stellt eine erste
mögliche „Rettung“ für den Neuankömmlinge dar, so wie die Voraussetzung, um in der
amerikanischen Gesellschaft überhaupt integriert zu werden.

B. Rettung durch Entfremdung.


Eine zweite mögliche „Rettung“ für Karl findet statt, wenn die Oberköchin ihm eine Stelle als
Liftjunge im Hotel Occidental anbietet. Trotzdem wird bald klar, dass es sich auch in diesem
Fall, wie bei dem Onkel, nicht um eine völlige und „kostenlose“ Rettung handelt. So wie die
anderen Arbeitsprozessen, die im Roman dargestellt werden, führt auch Karls eintönige Arbeit
im Hotel Occidental zu einer progressiven Selbstentfremdung72:
Enttäuscht war Karl vor allem dadurch, daß ein Liftjunge mit der Maschinerie des
Aufzuges nur insoferne etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck auf
den Knopf in Bewegung setzte […] . Überhaupt war es ein einförmiger Dienst und
wegen der zwölfstundigen Arbeitszeit, abwechselnd bei Tag und Nacht, so
anstrengend, daß er nach Giacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn
man nicht minutenweise im Stehen schlafen konnte. (A, 139)

Sehr wirksam veranschaulicht der Roman, wie eine bloß zufällige, äußerliche, durch Not
diktierte Beziehung zur Arbeit, so wie eine steigende Mechanisierung der Arbeitsprozessen
durch die Einführung der neuen Technik (z.B. Telegraphie-Technik), zur Verdinglichung und
Instrumentalisierung des Menschen führen, der so einem technischen Instrument oder einer
Maschine vergleichbar wird73, bereit, durch die Herrschenden ausgenutzt zu werden. Die
Angestellten im Telegraphensaal des Geschäfthauses des Onkels, zum Beispiel, werden fast
als „bloße Anhängsel der telephonischen und telegraphischen Apparate“74 dargestellt:

71 vgl. Loose: Franz Kafka und Amerika, S.46.


72 vgl. Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.255.
73 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.8.
74 Loose: Franz Kafka und Amerika, S.40.

14
Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten.
Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloß sich den Schritten des ihm
Vorhergehenden an und sah auf den Boden, auf dem er möglichst rasch
vorwärtskommen wollte, oder fing mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder
Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt
flatterten. (A, 48f.)

Dieser Entfremdung und Mechinisierung der Berufstätigkeit entspricht auch eine


Depersonalisierung des urbanen Alltags75, wie Alt behauptet. „Kafka inszeniert [nämlich]
die amerikanische Stadt - zunächst New York, später das fiktive Ramses - als eine homogene
Landschaft76“, deren Elemente sich in unaufhörlicher Bewegung befinden, wie man am
Bespiel der Beschreibungen des Straßenverkehrs deutlich sehen kann. Während der Fahrt in
Pollunders Automobil, „am Abend, durch die Newyorker Straßen“ (A, 54), hat Karl die
Gelegenheit, die Macht und Dynamik des amerikanischen Verkehrs persönlich zu erfahren,
dessen Lärm „über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wechselnd, wie in
einem Wirbelwind, [...] jagt, nicht wie von Menschen verursacht, sondern wie ein fremdes
Element“ (A, 54).
Die dynamische Energie und Macht der äußeren Welt manifestiert sich nicht nur in den
Straßenverkehr- und Großstadtpanoramen, sondern auch in den „zur Masse veschmolzenen
Menschenmengen“77, wie Engel betont. Der Roman verdeutlicht das Verlorengehen des
Individuums in der modernen Großstadt, so wie die Tatsache, dass der Mensch nur noch
innerhalb der Masse eine Funktion hat78, wie sich besonders genau aus der Darstellung des
Arbeiterstreiks am Ende des zweiten Kapitels, oder aus der Beschreibung der Wahlkampagne-
Szene verstehen lässt, zum Beispiel:
Da ertönten aus der Ferne von der Gasse her stoßweise Trommeln und Trompeten.
Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einem allgemeinen Schreien. […]
Im weiteren Umkreis war um den Herrn die ganze Breite der Gasse, wenn auch,
soweit man im Dunkel schätzen konnte, auf eine unbedeutende Länge hin, von
Anhängern des Herrn angefüllt, die sämtlich in die Hände klatschten und
wahrscheinlich den Namen des Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichen
Namen, in einem getragenen Gesange verkündeten. (A, 238f.)

75 vgl. Alt: Franz Kafka, S.348.


76 Ebd.
77 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.181.
78 vgl. Alt: Franz Kafka, S.347.

15
C. Rettung durch Gefangenschaft.
Mit der Funktion des Oberportiers im Hotel Occidental, aber vor allem mit der Figur
Delamarches, „wendet sich der Mythos vom Motiv der Vertoßung zu dem der
Gefangenschaft79“, wie Sokel behauptet. In Delamarche vereinigen sich die beiden Pole der
„Errettung“ (indem er tatsächlich Karl aus den Händen der Polizei errettet) und der
„Drohung“ (indem er erstens mit seiner Intrige Karls Entlassung aus dem Hotel verursacht,
und dann, zu seiner Versklavung in Bruneldas Wohnung führt) und das, was in den früheren
Rettungen durch den Onkel und die Oberköchin mehr oder weniger impliziert war, wird durch
ihn „offen und brutal“ zum Ausdruck gebracht: „Rettung in Amerika ist Versklavung“80.
Dies wird deutlich auch im letzten Kapitel, „Das Naturtheater von Oklahoma“, das wegen
seiner Rätselhaftigkeit und Unvollständigkeit zu unterschiedlichen und widerstreitenden
Deutungen im Laufe der Jahren geführt hat. Aufgrund der Tatsache, dass Kafka seine Arbeit
am Roman plötzlich unterbrach, bleibt das Problem des Romanschlusses ungelöst und man
erfährt nicht, ob es mit dem Untergang des Helden enden sollte, was außerdem mit dem
progressiven sozialen Abstieg Karls durch Amerika übereinstimmen würde, oder mit einer
positiven Wendung in seinem Schicksal81. Jede mögliche Interpretation des Schlusses wird
außerdem von dem Widerspruch erschwert, der zwischen einem Tagebucheintrag des Autors
und der Nachwort Brods zur ersten Ausgabe des Romans entsteht. Während Kafka in einer
Notiz vom September 1915 von „Roßmann und K., de[m] Schuldlose und de[m] Schuldige“
schreibt, die „schließlich […] unterschiedlos strafweise umgebracht [werden]“82, so berichtet
Brod über ein „versöhnlichees“ Ende:
Ganz unerwarteterweise Unterbrach Kafka plötzlich die Arbeit an dem Roman. Er
blieb unvollendet. Aus Gesprächen weiß ich, daß das vorliegende unvollendete
Kapitel über das „Naturtheater in Oklahoma“ […] das Schlußkapitel sein und
versöhnlich ausklingen sollte. Mit rätselhaften Worten deutete Kafka lächelnd an, daß
sein junger Held in diesem „fast grenzlosen“ Theater Beruf, Freiheit, Rückhalt, ja
sogar die Heimat und die Eltern wie durch paradiesischen Zauber wiederfinden
werde83.

Die Kritik hat unterschiedliche Deutungen für die „Theater“-Metapher hervorgebracht. Wie
Engel in Bezug auf den Name des Theaters betont („Oklahoma“), war Oklahoma zu Kafkas

79 Sokel: Zwischen Drohung und Errettung, S.258.


80 vgl. Ebd.
81 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.181.
82 Franz Kafka zitiert in: Binder: Kafka-Handbuch in zwei Bänden, S.412.
83 Max Brod: Nachwort zur ersten Ausgabe. In: Franz Kafka: Amerika. Nördlingen: Suhrkamp, 1997, S.307.

16
Lebzeiten die jünste Bundestaat der USA und ein für die Besiedlung durch Weiße gesperrtes
Indianerterritorium84. In diesem Sinne markiert es einen „extremen Gegenpol zur
hochmodernen Stadtwelt“85 und könnte als eine Metapher der „Freiheit“ interpretiert
werden, was außerdem mit Kafkas Vorstellungen von Indianern übereinstimmen würde, die
man am Beispiel von einem Textfragment - „Wunsch, Indianer zu werden“ - sehen kann, der
aus demselben Zeitraum wie der Amerika-Roman entstammt:
Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde,
schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man
die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab
keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne
Pferdehals und Pferdekopf86.

Diese Idee der Freiheit, die hier vom dem reitenden Indianer konnotiert wird, wird im letzten
Kapitel des Romans durch die Tatsache verdeutlicht, dass sich das Theater auf den ersten
Blick als „Anbieter eines kleinen Paradieses“87 präsentiert, wo „[j]eder willkommen [ist]“ (A,
262) und “Künstler werden [kann]“ (A, 262). Wie Glaser in Bezug auf Loose behauptet, mag
dies an die zahlreichen utopischen „communities“ religiöser und anderer Art erinnern, die sich
im Laufe des 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten
gründeten, von denen Kafka bei Holitscher lesen konnte, und die als Ziel die Etablierung
einer freien, harmonischen und egalitären Gemeinschaft hatten, in der ein reineres Leben im
Sinne eines urchristlichen Kommunismus gelebt werden sollte88. Ob jedoch das Theater für
Karl wirklich eine positive Wendung in seinem Schicksal, einen möglichen Ausweg „aus der
amerikanischen Hölle“89 und ein möglicher Weg Richtung Freiheit bedeutet, bleibt
fragwurdig, insbesondere wenn man genauer einige Aspekte des „Theaters“ betrachtet, die
diese positive Interpretationen in Frage stellen.
Wie Engel betont, muss nämlich die „Amerikanisierung“ des Theaters von Oklahoma nicht
übersehen werden90. „In der martkschreierischen Werbesprache seiner Plakate, [in] seiner
Gigantomanie [und] seiner Situierung auf einer 'Rennbahn', [so wie in der] grotesken

84 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.188.


85 Ebd.
86 Franz Kafka: Die Erzählungen. Frankfurt am Main, 1961, S.22. In: Horst Albert Glaser: Kafkas Amerika-
Bild. In: Neohelicon, März 1997, Vol.24 (1), S.71.
87 Horst Albert Glaser: Kafkas Amerika-Bild. In: Neohelicon, März 1997, Vol.24 (1), S.69.
88 vgl. Ebd.
89 Alt: Franz Kafka, S.369.
90 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.188.

17
Bürokratie seiner Kanzleien“91, kann es in der Tat als ein großes Unternehmen angesehen
werden92, vergleichbar mit den anderen Unternehmen im Roman (z.B. das „Kommissions-
und Speditionsgeschäft“ des Onkels, das Hotel Occidental, usw.). So organisiert sich auch das
Theater hierarchisch durch ungleiche Verteiligung von Macht, zum Beispiel, wie man ganz
deutlich an den unterschiedlichen Figuren sehen kann, die in seinen Räumen tätig sind 93: Ein
„Führer“ (A, 274), ein „Personalchef“ (A, 268), ein „Kanzleileiter“ (A, 272), ein „Schreiber“
(A, 272) und ein „Diener“ (A, 272). Hierarchisch strukturiert erscheint auch die äußere
Organisation der „zweihundert verschiedene[n] Aufnahmekanzleien“ (A,268), die das Theater
eingerichtet hat, damit sich jeder Bewerber je nach berufliche Fähigkeiten einordnen kann 94.
Karl muss sogar vier von diesen besuchen, erstens die „für Ingenieure“ (A, 271), dann die
„für Leute mit technischen Kenntnissen“ (A, 272) und „für gewesene Mittelschüler“ (A, 272),
schließlich die „für europäische Mittelschüler“(A, 272), die einfach “eine Bude am äußeren
Rand [war], nicht nur kleiner, sonder sogar niedriger als alle anderen“ (A, 272). Wie sich
außerdem aus Karls langen und mühsamen Aufnahmeprozess durch die unterschiedlichen
Kanzleien des Theaters verstehen lässt, spielt die Bürokratie „schon in Kafkas erstem Roman
eine [wichtige] Rolle“95, wie Loose betont. Was noch die Arbeitsverhältnisse und
-Bedingungen betrifft, kann man sagen, dass obwohl im Theater von Oklahoma „jeder
gebraucht werden kann“, wie im Plakat steht und wie der Kanzleileiter mehrmals bestätigt,
herrscht trotzdem die Logik des Konkurrenzkampfes, die in diesem Fall durch die
„Rennbahn“ (A, 263) symbolisiert wird96.
Als weiteres Argument gegen die Hypothese des Theaters als möglicher Ausweg aus der
amerikanischen Gefangenschat könnte der Name erwähnt werden, den sich Karl am Ende des
Kapitels auswählt: „Negro“ (A, 273). „Negro“ bezeichnet nämlich die Schicht, „um deren
Entrechtung und gesetzlose Behandlung auch Kafka wusste“97, wie sich außerdem aus der
Tatsache verstehen lässt, dass sich der Autor von einer Photographie aus Holitschers
Reisebericht inspirieren ließ, die einen gehängten Neger und die Weißen, die ihn gelyncht
hatten, darstellte und die bitter ironische Unterschrift „Idyll aus Oklahama“ trug 98. In diesem
Name, der die amerikanische Sklaverei bezeichnet, „spiegelt sich die gesamte Karriere des
91 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.188.
92 vgl. Loose: Franz Kafka und Amerika, S.62.
93 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.22.
94 vgl. Loose: Franz Kafka und Amerika, S.63.
95 Ebd.
96 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.23.
97 Loose: Franz Kafka und Amerika, S.69.
98 vgl. Ebd.

18
Protagonists in Amerika“99, wie Wirkner behauptet: Karl hat nämlich bisher das Leben eines
Sklaven geführt, was er in seiner Stellung bei Brunelda auch selbst erkennt100. Wenn also der
soziale Abstieg Karls von der Aufnahme beim Onkel bis zur Versklavung bei Brunelda
wiederholt wird, und aus dem „willkommenen Künstler“ der rechtlose Sklave wird, so könnte
das letzte Kapitel als eine „kurze Rekapitulation“ des ganzen Romans verstanden werden101,
wie Rüsing vorschlägt.
Rein poetologisch gesehen, stellt das abschließende Kapitel mit seinem Kontrast gegen die
Realistik der anderen Teile und seinen „traumhaften“ Atmosphären den Übergang zu einem
neuen Erzählmodell dar102, wie Engel betont. Über die Kontinuität mit den späteren Werken
wird aber kurz im Schlusskapitel diskutiert.

2.2.2. Kafkas Amerika als Gegenbild zu Europa?


Wie im Kapitel 2 erwähnt worden ist, hört das Amerika-Bild in der deutschen Literatur ab den
späteren fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts schrittweise auf, ein kontrastives Bild zu sein.
In Kafkas Romanfragment, wie Malsch betont, hat das fiktive Amerika „vollends aufgehört,
ein gegenüber Europa und Deutschland anderes Land zu sein“103: Nicht mehr nur als „Ort der
Freiheit und der Emanzipation“ oder als „Land der unbegrenzten Möglichkeit“ erscheint hier
die „Neue Welt“, sondern auch und vor allem als ein Land, wo präzise Macht- und
Hierarchiestrukturen herrschen, so wie die Entfremdung am Arbeitsplatz oder, im letzten
Kapitel, eine minutiöse Bürokratie. Nicht ein Gegenbild, also, sondern ein „Spiegel“ Europas
aus Übersee.
Dennoch kann man im Roman mehrere Hinweise auf die amerikanische Mentalität finden, die
oft ein „kontrastives Bild“ zu Europa enthüllen. In Bezug auf die Moralvorstellungen und
Konventionen, zum Beispiel, kann man bemerken, dass das europäische Wertecode in
Amerika keine Rolle mehr spielt104. Man versteht von Anfang an, dass Werte wie „das Gute“,
„Wahrheit“, „Recht und Gerechtigkeit“ in der „Neuen Welt“ an Bedeutung verlieren,
beispielsweise wenn Karl seinen Koffer einem völlig unbekannten Mann - „Butterbaum“ - am
99 Wirkner: Kafka und die Außenwelt, S.80.
100 Ebd.
101 vgl. Rüsing: Quellenforschung als Interpretation, S.26.
102 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.188.
103 vgl. Malsch: Einleitung, S.14.
104 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.187.

19
Hafen anvertraut und der Heizer wie folgt bemerkt:
Auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten. In Hamburg hätte Ihr
Butterbaum den Koffer vielleicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich von beiden
keine Spur mehr. (A, 9)

Ebenso obsolet sind in Amerika die europäischen Höflichkeits- und Umgangsformen105,


wie man im Roman ganz deutlich am Beispiel des Grüßens sehen kann. In dem
Telegraphensaal des „Kommissions- und Speditionsgeschäfts“ des Onkels war nämlich das
Grüßen „abgeschafft“ (A, 49), zum Beispiel, und, wie später Karl selbst zu dem Oberportier
erklärt, wurde ihm „in höheren Kreisen“ (A, 169) mehrmals empfholen, „mit [seiner]
übertriebenen Höflichkeit aufzuhören“ (A, 169). Gleichermaßen bemerkenswert ist, wie
Engel behauptet, die Depotenzierung von Bildung und Kunst106. Wie Karl annimmt,
„Künstlerwerden [wollte] in Amerika niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt
werden“ (A, 388). Deshalb strebt er nach einer geordneten Bildung als Ingenieur, „mit der
sich etwas anfangen läßt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt“ (A,
106)107, nicht wie die vier Gymnasialklassen, die er in Europa als „Durchschnittschüler
durchgemacht [hatte]“ (A, 79) und “für den Gelderwerb viel weniger als nichts [bedeuteten]“
(A, 79). Schließlich bleibt auch die „europäische Metaphysik“ und Religiosität, die durch
den deutschstämmigen Heizer mit seinem „Muttergottesbild“ (A, 14) symbolisiert wird, aus
dem amerikanischen Code ausgeschlossen, wie man beispielsweise an der „ungeheure“ New
Yorker Kathedrale sehen kann, die nur in der Ferne zu sehen und von „vielem Dunst“ (A, 55)
verschleiert war108.
Man muss jedoch sehr vorsichtig mit der Interpretation umgehen, dass der Roman durch ein
„kontrastives Bild“ und ein klares „Amerika-Europa-Gegensatz“ gekennzeichnet ist, so wie
durch eine implizite Amerika-Kritik in Bezug auf die Abwesenheit der positiven europäischen
Konventionen und Werten, weil man nicht vergessen sollte, dass die Erzählperspektive immer
die des Protagonisten bleibt, der grundsätzlich als ein – auch wenn assimilationsbereiter –
„Vertreter Europas“ auftritt109.

105 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.187.


106 vgl. Ebd.
107 vgl. Ebd.
108 vgl. Ebd.
109 vgl. Ebd.

20
2.2.3. Amerika als Stufe des „Sich-selbst-Findens“?
Zum Schluss sollte kurz eine letzte mögliche Interpretation diskutiert werden: Erfüllt
„Amerika“ in Kafkas Roman, so wie in Werken Kellers, Raabes oder Fontanes (vgl. Kapitel
2) eine Funktion als „Schule der Erziehung und Bewährung“? Kann sie als eine
„abschließende Stufe des Sich-selbst-Findens des Menschen unter Prüfungen“, und so, auch
„als eine verinnerlichte Lebensstufe des Bildungsromanes“ angesehen werden?
Nach Alt teilt Der Verschollene mit dem Bildungsroman des 19. Jahrhunderts die Absicht, auf
der Ebene der Handlungsführung, „seinen Helden auf einem Weg der Anpassung und
Unterwerfung zu schicken, in dessen Verlauf er die unbezwingbare Faktizität der sozialen
Verhältnisse als ihn bestimmendes Regulativ anerkennen muss“ 110. Genau wie der Protagonist
in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren, zum Beispiel, wird nämlich Karl Roßmann durch
unterschiedliche „Mentoren“ geprägt (von dem Heizer, dem Onkel, Robinson und
Delamarche, Therese, von der Oberköchin, usw.)111. Trotzdem findet bei ihm kein
Bildungsprozess im engeren Sinne statt, indem er sich wesentlich nicht verändert: Er sammelt
einfach Erfahrungen, ohne sie reflexiv zu bearbeiten112.
Aufgrund der Tatsache, dass Kafkas Amerika-Roman durch keine echte
Entwicklungsgeschichte geprägt ist113, und sein Protagonist weder die Welt noch das eigene
Ich erschließt, kann nur sehr schwierig von einem „Bildungsroman“ die Rede sein.

4. Schluss.
Wie sich also verstehen lässt, hat Kafka in seinem Romanfragment Der Verschollene ein sehr
komplexes und modernes Amerika-Bild geschafft, das sich von den damaligen Amerika-
Vorstellungen aus vielen Perspektiven unterschiedet. In diesem Werk demaskiert er sehr
wirksam die Widersprüchlichkeit der „amerikanischen Freiheit“. Nicht mehr als „Ort der
Emanzipation“ und „der unbegrenzten Möglichkeiten“ erscheint sein Amerika, sonder als ein
Land, das durch eine große gesellschaftliche Ungleichheit gekennzeichnet ist, die von
bestimmten negativen Energien (z.B. Konkurrenzkampf, Zweckrationalität, Leistungsethik,
usw.) genährt wird und zur Entstehung von klaren Hierarchiestrukturen führt. In einem
solchen Land findet der Protagonist weder Unabhängigkeit noch Selbstbestimmung: Wo
110 Alt: Franz Kafka, S.356.
111 vgl. Ebd., S.357.
112 vgl. Ebd.
113 vgl. Engel: Kafka-Handbuch, S.180.

21
immer er mit der amerikanischen Welt konfrontiert wird, stößt er nämlich auf Macht und
Zwang114, wie Alt behauptet. Wie gezeigt worden ist, erscheint also Amerika im Roman nicht
mehr als ein Gegenbild zu dem europäischen Gefängnis: Kafka hat nämlich das europäische
Rechtsbewusstsein zu universeller Gültigkeit erhoben, vor der keinen Flucht auf einen
anderen Kontinent möglich ist115. Dies wird insbesondere am Beispiel der zahlreichen
Gerichtsszenen deutlich, von denen der Roman gekennzeichnet ist, und die im späteren
Schloss formalisiert werden116. In diesem Sinne könnte also Der Verschollene thematisch als
eine Einführung in die späteren Werken Kafkas angesehen werden, mit denen er das zentrale
Thema der Vereinzelnung des Menschen in einer als Fremde erfahrenen, unzugänglichen
Außenwelt117 teilt.

114 Alt: Franz Kafka, S.358.


115 vgl. Glaser: Kafkas Amerika-Bild, S.65.
116 vgl. Ebd.
117 vgl. Binder: Kafka-Handbuch in zwei Bänden, S.408.

22
5. Literaturverzeichnis.

Primärliteratur:

Kafka, Franz: Amerika. Nördlingen: Suhrkamp, 1997.

Sekundärliteratur:

Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: C.H. Beck
Verlag, 2005.

Binder, Hartmut : Kafka-Handbuch in zwei Bänden. Band 2: Das Werk und seine Wirkung.
Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1979.

Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als
Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1990.

Engel, Manfred: Kafka-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler Verlag,
2010, S.181.

Glaser, Horst Albert: Kafkas Amerika-Bild. In: Neohelicon, März 1997, Vol.24 (1), S.63-71.

Lange, Victor: Goethes Amerikabild. Wirklichkeit und Vision. In: Sigrid Bauschinger, Horst
Denkler und Wilfried Malsch (Hgg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt –
Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam, 1975, S.63-74.

Loose, Gerhard: Franz Kafka und Amerika. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann Verlag,
1968.

Malsch, Wilfried: Einleitung. Neue Welt, Nordamerika und USA als Projektion und Problem.
In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hgg.): Amerika in der deutschen
Literatur: Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam, 1975, S.9-16.

Martini, Fritz: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelungen im Erzähwerk


von Keller, Raabe und Fontane. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch
(Hgg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart:
Reclam, 1975, S.178-204.

23
Rüsing, Hans-Peter: Quellenforschung als Interpretation: Holitschers und Soukups
Reiseberichte über Amerika und Kafkas Roman „Der Verschollene“. In: Modern Austrian
Literature, Vol.20, N.2, 1987, S.1-38.

Sokel,Walter H.: Zwischen Drohung und Errettung. Zur Funktion Amerikas in Kafkas Roman
„Der Verschollene“. In: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hgg.):
Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt – Nordamerika – USA. Stuttgart: Reclam,
1975, S.246-271.

Wirkner, Alfred: Kafka und die Außenwelt. Quellenstudien zum „Amerika“-Fragment.


Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1976.

Internet-Quellen:

Die Auswanderung nach Nordamerika im 19. Jahrhundert. URL: http://www.auswanderung


rlp.de/auswanderung-nach-nordamerika/19-jahrhundert.html (02.03.2016)

Thiel, Jens: Infoblatt: Deutsche Auswanderung nach Amerika im 19. Jahrhundert. Stuttgart:
Klett Verlag, 2012. URL: http://www2.klett.de/sixcms/media.php/229/DO01_3-12-
430001_Kap3_online_mi9s5a_Dt_Auswand.pdf (02.03.2016)

Ich versichere, die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und alle von mir benutzten
Hilfsmittel und Quellen angegeben zu haben. Ich bin mir bewusst, dass ein nachgewiesener
Täuschungsversuch rechtliche Konsequenzen haben kann.

_________________________ _________________________
Ort, Datum Unterschrift

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