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Inhalt

1 Einleitung .................................................................................................................. 1

2 Theorie und Methode ................................................................................................ 1

2.1 Theorie ............................................................................................................... 1

2.2 Methode .............................................................................................................. 3

3 Die Demokratie Israels .............................................................................................. 4

3.1 Kurzer historischer Rückblick ............................................................................ 4

3.2 Reformen und Anpassungen .............................................................................. 5

3.2.1 Das Wahlregime damals und heute ............................................................. 5

3.2.2 Das Partizipationsregime – Palästina als Israels Untertan? ........................ 8

3.3 Der Streit um die Justizreform und das Regime der Gewaltenteilung ............. 11

4 Fazit und Ausblick .................................................................................................. 14

Literaturverzeichnis .................................................................................................... 16
1 Einleitung
In der Türkei hat Präsident Erdogan das System zu einer präsidialen Demokratie umge-
baut, die – vor allem im Zuge der Notstandsmaßnahmen – immer weiter auf ihn zuge-
schnitten wurde; in den USA wird der Graben zwischen Republikanern und Demokra-
ten immer größer – so groß, dass es kaum einer Regierung mehr gelingt, tatsächlich
als Vertreter des ganzen Landes aufzutreten; in Österreich wünschen sich 43% der
Bürgerinnen und Bürger „den starken Mann, der sich nicht um Parlament und Wahlen
kümmern muss.“ (Zukunftsfond Österreich 2017)

Weltweit nehmen autokratische Tendenzen zu und Demokratien geraten unter Druck


– von außen wie von innen. Neben einer Arbeitsdefinition des Begriffes „Demokratie“
soll hier vor allem mit Blick auf das Land Israel, das nun schon seit einer Weile aus
den Nachrichten und Unruhen wegen der geplanten Justizreform nicht mehr heraus-
kommt, der folgenden Frage nachgegangen werden: Handelt es sich nach den jüngsten
Entwicklungen beim Staate Israel noch um eine stabile, eingebettete oder bereits de-
fekte Demokratie?

Im Folgenden soll die israelische Demokratie, die inneren und äußeren Faktoren, die
auf sie wirkten und wirken, sowie die derzeitig stark umstrittene Justizreform unter-
sucht werden. Abschließend soll anhand der Ergebnisse ein Fazit gezogen werden, ob
im Falle Israels von einer defekten Demokratie gesprochen werden kann oder nicht.

2 Theorie und Methode


2.1 Theorie

Als theoretische Fundierung dieser Arbeit dient Wolfgang Merkels Klassifizierung


von Demokratie (Merkel 2016). In seinem Beitrag konstatiert Merkel, dass es das all-
gemein anerkannte Problem der Definition von Demokratie gebe, da es bezüglich ihres
Kerns und insbesondere ihre Konturen und Grenzen keinen Konsens gebe (Merkel
2016: 455). Merkel merkt an, dass Konzepte die Brücke zwischen bloßer Theorie und
Praxis schlagen und daher auch seine Erläuterungen über eingebettete und defekte De-
mokratien „nur“ als Konzept zu verstehen sind (Merkel 2016: 456).

Im Kern unterscheidet Merkel fünf Teilregime einer Demokratie, deren jeweiliges


Funktionieren oder Nicht-Funktionieren über den Grad der Einbettung oder des

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Defizites der jeweiligen Demokratie entscheiden. Die fünf Teilregime gestalten sich
folgendermaßen (Merkel 2016: 461–463):

1.) Den Kern bildet das Wahlregime. Es soll den Zugang zu den zentralen staatlichen
Positionen an das Votum der Bürgerinnen und Bürger binden – möglichst über
einen offenen Wettbewerb. Dieses Teilregime wird äußerst selten angegangen, da
es das sichtbarste Merkmal einer Demokratie darstellt und damit auch Eingriffe in
dasselbe am augenscheinlichsten sind. Die übrigen Teilregime umrahmen dieses.
2.) Das Regime der politischen Partizipationsrechte stellt einen integralen Bestandteil
der vertikalen Demokratiedimension dar und vervollständigt diese. In der Öffent-
lichkeit besteht eine eigenständige politische Handlungssphäre, in der sich Macht
organisatorischer und kommunikativer Natur entfaltet.
3.) Die bürgerlichen Freiheits- und Abwehrrechte markieren die Grenze der staatli-
chen Herrschaftsreichweite bzw. des Herrschaftsanspruchs. Daraus leiten sich in-
dividuelle Schutzrechte ab, die den rechtlichen Schutz von Leben, Freiheit und
Eigentum gewähren. Ziel dieses Teilregimes ist es vor allem, mehrheitsdemokra-
tische Machtkreisläufe einzudämmen und damit eine tatsächlich freie Partizipation
am politischen Leben zu garantieren.
4.) Als vorletztes nennt Merkel die Gewaltenteilung und horizontale Verantwortlich-
keit. Die balancierte Aufteilung von Macht auf Exekutive, Legislative und Judika-
tive sowie die wechselseitige (Un-)Abhängigkeit dieser drei garantieren die Recht-
mäßigkeit allen Regierungshandelns. Oberstes Ziel ist es, die Verantwortung und
Verantwortlichkeit der Regierung fortwährend und nicht nur bei Wahlen zu ge-
währleisten. Zentrale Bedeutung hat hier eine unabhängige und funktionsfähige
Judikative, der die rechtliche Kontrolle der anderen beiden obliegt und die daher
bei einer Autokratisierung oft als erstes angegangen wird.
5.) Das letzte Teilregime bildet die effektive Regierungsgewalt, die einen gewissen
Sonderstatus innehat: Machtvolle Akteure (bspw. das Militär), die keiner demo-
kratischen Verantwortlichkeit unterworfen sind, dürfen keine Verfügungsgewalt
über Politikbereiche haben oder innerstaatliche Territorien besitzen. Auch unregu-
lierte oder sogar unkontrollierte Finanzdienstleister (bspw. IWF, EZB oder Hed-
gefonds) fallen in diese Kategorie.

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2.2 Methode

Um den Fokus auf den Fall der israelischen Demokratie zu lenken, wird zunächst auf
die bisherigen Entwicklungen eingegangen werden, die Israel zum einen schon seit der
Unabhängigkeit und zum anderen erst in jüngerer Vergangenheit an die heutige Stelle
gebracht haben. Dazu gehören neben dem Sechs-Tage-Krieg gegen das muslimische
Bündnis natürlich auch die Siedlungspolitik und das Auftreten auf der internationalen
Bühne.

Auf dieser Grundlage wird es dann möglich sein, im Hinblick auf die aktuelle Justiz-
reform das Wahlregime, das Regime der politischen Partizipation sowie das Regime
der Gewaltenteilung zu untersuchen. Diese drei – doch vor allem die Gewaltenteilung
– dürften im Falle Israels die stärksten Indikatoren darstellen: Das Wahlregime wird
zwar, wie oben genannt, äußerst selten angegangen, weist im Falle Israels aber wich-
tige Besonderheiten auf, die für diese Analyse von Bedeutung sind; das Partizipations-
regime greift genau diese Besonderheiten auf und konkretisiert diese; und schlussend-
lich muss das Regime der Gewaltenteilung zwangsläufig untersucht werden, wenn
eine Justizreform ansteht.

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3 Die Demokratie Israels
Im Folgenden soll kurz auf die Geschichte Israels – außen- wie innenpolitisch – ein-
gegangen werden, um dann eine fundierte Untersuchung der ausgesuchten Teilregime
sowie die Justizreform anstellen zu können.

3.1 Kurzer historischer Rückblick

Der Staat Israel, wie er heute existiert, wurde erst 1948 gegründet bzw. wurde das von
Großbritannien kontrollierte Palästina in die Unabhängigkeit entlassen. Zunächst war
eine gleichgestellte Aufteilung des Landes zwischen Israel und Palästina von den Ver-
einten Nationen vorgesehen, doch erklärten die islamischen Nachbarstaaten dem
neuen Staate Israel sofort den Krieg; es folgte der Unabhängigkeitskrieg, an dessen
Ende Israel einige Gebietsgewinne verzeichnen konnte. Dieser Krieg und die daraus
resultierende Fragmentierung Palästinas bilden die Grundlage für das, was seither als
Nahostkonflikt bekannt ist (siehe dazu etwa Rogan/Shlaim 2007: 1f.).

Der Staat Israel ist also mehr als die meisten anderen Staaten in einem komplexen und
bisweilen explosiven Machtgefüge seiner islamisch geprägten Nachbarn einerseits und
den muslimischen Minderheiten im eigenen Land andererseits gefangen. Auf der einen
Seite ist Palästina (aus Sicht der UN) formal unabhängig und sympathisiert mit den
islamischen Nachbarn, auf der anderen Seite betrifft die israelische Politik auch Paläs-
tina unmittelbar und die islamischen Nachbarn sind mittlerweile nicht mehr gewillt
(militärisch) gegen Israel vorzugehen – zu deutlich waren die bisherigen Niederlagen
gegen die zahlenmäßig unterlegenen, aber technisch und taktisch überlegenen israeli-
schen Streitkräfte (sieh dazu etwa Ferris 2012 oder Shalom 2011).

Diese Spannungen brechen in regelmäßigen Abständen auf, wenn Änderungen in der


Innen- oder Außenpolitik mehrere der genannten Akteure betreffen – was zumeist der
Fall ist (siehe dazu etwa Hajjar 2005 oder Havrelock 2020). Die fortwährende Bedro-
hung von außen sorgt für Repressionen der israelischen Sicherheitskräfte im Innern
und gewaltsame Unruhen im Innern (i.d.R. zwischen Palästinensern und Israelis) sor-
gen für Spannungen an den Außengrenzen oder diplomatische Zwischenfälle mit den
islamischen Staaten der Region (insbesondere Iran). Auch wenn sich die Beziehungen
mit manchen besserten (bspw. Jordanien), wurden sie mit anderen schlechter (bspw.

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Iran); die Positionen der Beteiligten haben sich in den letzten Jahrzehnten letztlich
nicht wesentlich geändert (siehe dazu etwa Asseburg/Busse 2020: 14–15).

Aus Sicht des Staates Israel ist eine starke Exekutive gepaart mit einem schlagkräfti-
gen Militär überlebenswichtig. Eine Grundeinstellung, die zwar nachvollziehbar, aber
auch potenziell verhängnisvoll ist. So vertritt Israel seit jeher die Haltung, dass es stän-
dig in Alarmbereitschaft sein und reaktionsfähig sein muss; dass die meisten „Zivilis-
ten“ Reservisten für das Militär sind, ist nur eine Folge davon (siehe dazu etwa Freilich
2018).

3.2 Reformen und Anpassungen

Allgemein ist festzuhalten, dass Israel keine kodifizierte Verfassung hat. Neben der
Unabhängigkeitserklärung von 1948 gibt es mittlerweile 12 sogenannte „Grundge-
setze“, die Einzelheiten des Staatswesens konstituieren und regeln. All dies kann aber
mittels einer einfachen Mehrheit im Einkammerparlament, der Knesset, geändert oder
erweitert werden; die Grundlagen des israelischen Staatswesens unterliegen also kei-
ner Zwei-Drittel-Beschränkung, wie dies in vielen anderen Demokratien üblich ist
(siehe dazu Wolffsohn/Bokovoy 1996: 58 ff., 76).

3.2.1 Das Wahlregime damals und heute

Grundsätzlich gilt Israel als parlamentarische, repräsentative Demokratie, auch wenn


zwischen 1992 und 2001 der Ministerpräsident als Regierungschef direkt gewählt
wurde. In Israel gilt seit 1973 die Sitzverteilung nach dem D’Hondt-Verfahren1, bei
dem es um die proportionale Sitzverteilung in einer Verhältniswahl geht – also um das
Verteilungsprinzip, das die Wählerstimmen in Abgeordnetenmandate umrechnet
(siehe dazu etwa Pukelsheim 2015).

Da bei diesem Verfahren Stimmenbruchteile immer abgerundet werden, begünstigt


das Wahlsystem starke Parteien zu Lasten von kleinen, weil eine Abrundung bei einem
ohnehin niedrigen Wert stärker zu Buche schlägt als bei einem hohen Wert. In der
Folge ist es im israelischen Wahlsystem aufgrund der stark zersplitterten Parteienland-
schaft üblich, mit anderen Parteien Listen zu bilden, um die 3,25% Hürde zu über-
schreiten (Serafin 2020).

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In Israel wird es auch Bader/Ofer-Verfahren genannt, die Vorgehensweise ist aber dieselbe.

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Das israelische Wahlregime sieht sowohl das aktive (ab 18 Jahren) als auch das passive
(ab 21 Jahren) Wahlrecht vor. Seit 1985 gibt es zwar die Einschränkung, dass niemand
gewählt werden kann, der das Existenzrecht Israels abstreitet oder rassistische Positi-
onen vertritt (siehe dazu etwa Knesset 1985: 196); dennoch gibt es mittlerweile mehr
als nur eine Partei in der Knesset (bspw. die Fraktion des Vereinigte-Thora-Judentums,
kurz VTJ), bei der man sich fragen kann, ob die Sperrklausel nicht greifen müsste
(wenn bspw. wichtige Policy-Entscheidungen wie z.B. das weitere Vorgehen im West-
jordanland erst nach Beratung mit ultraorthodoxen Rabbinern getroffen werden).

Auch wenn es konkret um die Wahlen und die Auswirkungen von Gesetzen geht, zeigt
sich, dass in Israel geschickt taktiert wird: Zwar gilt im Staate Israel das aktive und
passive Wahlrecht, wie oben beschrieben, und die Wahlen sind als frei, gleich und
geheim einzustufen; jedoch werden Probleme offenbar, wenn man bedenkt, dass ult-
rareligiöse Gruppierungen ihre Frauen oft nicht wählen lassen bzw. die Frauen aus
solchen Gruppierungen oft nicht wählen „wollen“. Gegenüber den Palästinensern, die
formaljuristisch nicht Teil des Staates Israel, aber sehr wohl von dessen Politik betrof-
fen sind, werden – sowohl informell als auch offensichtlich – diskriminiert. Auch führt
das interpretierbare Verbot von Kandidaten für die Knesset, die das Existenzrecht Is-
raels leugnen, oftmals zu einem faktischen Verbot von anti-jüdischen Gruppierungen
(Freedom House 2023).

Wenn man folglich ausschließlich die Teile berücksichtigt, die formaljuristisch zu Is-
rael gehören, so gibt es am vollen Funktionieren des Wahlregimes nichts zu beanstan-
den – auch wenn sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht von manchen Tei-
len der Gesellschaft nicht in Anspruch genommen wird. Jedoch kann eine abschlie-
ßende Beurteilung dieses zentralen Teilregimes nicht erfolgen, wenn man es tatsäch-
lich dabei beließe.

Der Gaza-Streifen, Ost-Jerusalem und das West-Jordanland mögen, wie oben bereits
konstatiert, zum Staate Palästina gehören – jedoch ist dieser politisch nicht (umfäng-
lich) handlungsfähig, er wird von vielen Ländern nicht als Staat anerkannt (u.a. von
Deutschland) und er ist erst recht nicht als demokratisch einzustufen (siehe dazu etwa
Spiegel-online 2012), da der Nationalrat (also die palästinensische Legislative) bspw.
seit 1998 nur ein einziges Mal zusammentrat (Sawafta et al. 2018). Seit geraumer Zeit
strebt Israel die volle Kontrolle über die einstmals (im Teilungsplan) Palästina

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zugesprochenen Gebiete an, weil aus Sicht Israels alle Friedensbemühungen und Waf-
fenstillstandsverträge als gescheitert zu betrachten sind und Sicherheit nur durch die
totale – auch politische – Kontrolle erreicht werden könne (siehe dazu etwa Cook
2008: 98–100 oder Schwarz-Boennecke 2013: 54–73). Dies schwächte die palästinen-
sische Regierung, die ohnehin wenig Einfluss hatte und hat, weiter und sorgte dafür,
dass radikalere Gruppierungen wie die Hamas im Gazastreifen oder die Fatah im West-
Jordanland dominant wurden und ihre Autonomie mehr und mehr gewaltsam zu errei-
chen suchen, was wiederum Israel in seinem militärischen Vorgehen und dem Voran-
treiben der Siedlungspolitik bestätigt (Cook 2008: 167f.).

Palästina wird in den Medien oft nicht als Staat wahrgenommen oder dargestellt
(bspw., wenn vom Vorgehen Israels im West-Jordanland und nicht in palästinensi-
schem Territorium die Rede ist). Daher kommt man nicht umhin, das Gebiet im Mitt-
leren Osten, das formal als Israel und Palästina, faktisch aber als Israel und die „Prob-
lem-Gebiete“, also Gaza-Streifen und West-Jordanland, bekannt ist, auch auf der po-
litischen Ebene als unzertrennlich anzusehen.

Die Schlussfolgerung für dieses Kapitel kann also nur lauten: Das Wahlregime funk-
tioniert einwandfrei – für Israelis (jüdische wie auch größtenteils für Angehörige von
Minoritäten – mit oben genannten Einschränkungen durch Sperrklauseln) mit israeli-
schem Pass. Wer sich in besagtem Gebiet ohne israelischen oder gar mit palästinensi-
schem Pass aufhält, lebt faktisch unter fortwährender Besatzung, mit stark einge-
schränkten Rechten, sehr überschaubarer internationaler Unterstützung und wenig
Aussicht auf baldige Besserung.

Unter dieser Prämisse gälte das genannte Gebiet als „exklusive Demokratie“ (Merkel
2016: 470) der besonderen Art, weil der Ausschluss einer relevanten Bevölkerungs-
gruppe von den israelischen Autoritäten nicht als Teil der eigenen Bevölkerung einge-
stuft wird. Die fortwährende Einmischung in das Gebiet dieses Bevölkerungsteils wird
aber als legitim und teilweise sogar legal angesehen, sodass das Ziel der vollständigen
Annexion bei gleichzeitig indifferentem Umgang mit der dort lebenden Bevölkerung
(manche wurden als Israelis eingebürgert, manche werden ausgegrenzt) sehr bald Ant-
worten auf sehr drängende Fragen nötig macht.

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3.2.2 Das Partizipationsregime – Palästina als Israels Untertan?

Anknüpfend an das vorige Kapitel drängt sich die Vermutung, dass Palästina Israels
Untertan oder Vasallen-Staat sei, gerade zu auf. Jedoch muss auch hier wie schon oben
beim Wahlregime zwischen formaljuristischer Möglichkeit zur Partizipation und der
faktischen getrennt werden. Wie bereits erwähnt, ist Palästina ein von vielen Ländern
und der UNO anerkannter Staat mit eigener politischer Struktur und eigenen politi-
schen Organen. Doch dem Fokus dieser Arbeit folgend soll zunächst die Sachlage in
Israel analysiert werden.

Das Teilregime der politischen Partizipationsrechte ist mit dem Kern, dem Wahlre-
gime, enger verbunden als jedes andere. Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger sich
vor, während und auch nach Wahlen frei zu politischen Themen äußern, versammeln
oder auch demonstrieren können, ist die Funktionslogik demokratischer Wahlen ge-
währleistet (Merkel 2016: 462). Unter dieser Prämisse bekommt die Tatsache, dass
Israel in Sachen Pressefreiheit Nachholbedarf hat, einen gewissen Beigeschmack.
Dass Israelis über mehrere Wochen und Monate und teils sehr umfangreich gegen die
Justizreform protestieren (können), ist daher als positiv einzustufen (vgl. dazu die Aus-
führungen in Kapitel 3.3 in dieser Arbeit).

Auf der anderen Seite schlägt der Fakt, dass mitunter erhebliche Teile der (theoretisch)
wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte und Pflichten nicht nutzt bzw.
ihnen nicht nachkommt (Stichwort: Militärdienst vs. ultraorthodoxe Juden) oder auch
dass gewisse erzkonservative Juden den israelischen Staat und seine Regierung selbst
nicht anerkennen, da aus ihrer Sicht der Staat Israel für (richtige) Juden und ausschließ-
lich für diese da ist; andere Religionen auch nur zu dulden, kommt für sie nicht in
Frage.2

Dass Israel keine kodifizierte Verfassung mit einer Sperrklausel von einer für Ände-
rungen nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit hat, tritt dieser Tage vor allem mit den großen
Nachteilen zu Tage. Natürlich kann man einwenden, dass in einer derart zersplitterten
Parteienlandschaft eine Zwei-Drittel-Klausel einem Verbot von Änderungen gleich-
käme, aber auch eine Absicherung über Volksabstimmungen wäre denkbar; die

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Gerade die letzten Regierungen haben in dieser Hinsicht neue Maßstäbe gesetzt: Netanjahu war bereit,
für die Mehrheit selbst die absolut rechts-außen Positionen mit in seine Liste zu holen (Müller 2019: 2)
– eine Tendenz, die 2022 noch einmal einen Rechtsruck erfuhr.

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überhandnehmenden Schwierigkeiten der geltenden Regelung kann man jedenfalls
nicht leugnen. Auch dass die Grundgesetze zwar eine Sperre für straffällig gewordene
Politiker, nicht aber eine verpflichtende Karenzzeit für diejenigen vorsieht, bei denen
Gerichtsverfahren anhängig sind, schlägt in diese Kerbe; andernfalls säßen einige Ab-
geordnete nicht (mehr) in der Knesset – u.a. Netanjahu (zu der Ausgangslage von
Wahlen in Israel allgemein und den Besonderheiten in den letzten Jahren vgl. etwa
Shamir 2023).

Dem Staate Israel kann in puncto Rede- und Versammlungs- sowie Informationsfrei-
heit nichts vorgeworfen werden; auch die Assoziationsfreiheit ist – gerade, wenn es
um Demonstrationen geht, – gewährleistet (in anderen Bereichen, z.B. anti-jüdische
Gruppierungen, weniger). Der große Knackpunkt im Teilregime der politischen Parti-
zipation bleibt die Zivilgesellschaft. Die Bevölkerung ist nicht nur in Juden, Muslime
und Christen gespalten, sondern auch diese Überkategorien sind unter sich zersplittert.
Das Spektrum reicht von Israelis, die sehr säkular, informiert, aufgeklärt und u.a. auch
zum Militärdienst bereit sind, bis hin zu ultra-orthodoxen und extrem konservativen
(bisweilen radikal rechten und nationalistischen) Gruppen, die mit dem Staate Israel
(sofern sie ihn überhaupt anerkennen) höchstens entfernt etwas zu tun haben. Da diese
Gruppen nicht nur einen Bruchteil der Bevölkerung, sondern durchaus einen wahr-
nehmbaren Teil ausmachen – gerade in Jerusalem, wo es daher immer wieder zu Zwi-
schenfällen kommt – ist dies eine ernstzunehmende Bedrohung für dieses Teilregime;
gerade auch, weil die Regierung nicht beabsichtigt, durch gezielte sozial- und bil-
dungspolitische Maßnahmen gegenzusteuern. Ein Punkt, der wohl auch durch die all-
gemeine Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber Israel begünstigt wor-
den sein dürfte (siehe dazu – auch mit Blick auf Palästina und die Zwei-Staaten-Lö-
sung – etwa Persson 2020: 154f.).

Aber auch in diesem Teilregime muss (wie schon beim Wahlregime) der Tatsache
Rechnung getragen werden, dass der Staat Israel und seine Politik nicht nur für die
formaljuristisch zu ihm gehörenden Territorien entscheidend und wegweisend ist: die
palästinensischen Gebiete sind davon nicht minder betroffen (siehe dazu etwa
Schwarz-Boennecke 2013: 54–73).

Im vorigen Kapitel zum Wahlregime ist das geschickte Taktieren Israels bereits ange-
sprochen worden, das hier noch deutlicher zu Tage tritt: Im Staate Israel leben nicht

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nur Juden (auch wenn sie die größte Gruppe stellen), sondern auch Muslime und Chris-
ten mit einem wahrnehmbaren Bevölkerungsanteil – mit vollen politischen wie bür-
gerlichen Rechten und Pflichten. Die Tatsache, dass nach dem letzten Krieg und der
weitreichenden Besetzung der palästinensischen Gebiete einige Palästinenser als Isra-
elis eingebürgert wurden, zeigt zudem, dass ein anderer Weg möglich wäre.

Doch die israelische Regierung baut weiterhin darauf, dass sie formaljuristisch nicht
für die Palästinenser zuständig ist – sich also nicht um diese kümmern muss –, erhebt
aber gleichzeitig Ansprüche auf deren Gebiete und sei es nur aus sicherheitspolitischen
Gründen. Allerdings wurden nicht nach dem letzten Krieg Tatsachen geschaffen (kom-
plette Annexion und Einbürgerung der Palästinenser), sondern das Ganze geht schritt-
weise voran über Israels Siedlungspolitik, die die Palästinenser wiederum als Recht-
fertigung für Gewaltakte nutzen, was wiederum Gegenreaktionen von Seiten Israels
auslöst – ein Teufelskreis.

Haben sich Palästinenser frühzeitig auf die Seite Israels begeben wurden sie eingebür-
gert, haben sie dagegen an einer Zwei-Staaten-Lösung festgehalten werden sie wahl-
weise als potenzielle Attentäter wahrgenommen und behandelt oder als Ausländer von
den israelischen Behörden ignoriert, während die offizielle palästinensische Regierung
ohnmächtig zusehen muss. Auf der anderen Seite muss an dieser Stelle auf die in Ka-
pitel 3.1 ausführlich dargelegten gemeinsamen Erfahrungen hingewiesen werden: Es
gab lange Zeit Bemühungen von israelischer Seite, eine friedliche Koexistenz aufrecht
zu erhalten. Diese Bemühungen nahmen mit jedem Krieg, der mit den islamischen
Nachbarstaaten und/oder den Palästinensern ausgefochten wurde, stetig ab, sodass sich
seit den 2000ern eine isolationistische und nationalistische Politik in Israel mehr und
mehr durchgesetzt hat.

Gerade der letzte Punkt macht noch einmal den enormen Einfluss der Nachbarstaaten
auf die Entwicklung einer Demokratie deutlich: Die einzelnen Teilregime müssen
nicht nur ineinander eingebettet sein, sondern die Demokratie als Ganzes in eine de-
mokratische Umgebung, um vor Autokratisierung sicher zu sein. Der derzeitige Um-
gang Israels mit „seinen“ Palästinensern lässt Ähnlichkeiten zu den erklärten Zielen
der muslimischen Gegner bspw. des Unabhängigkeitskrieges von 1948/49 oder des
Sechs-Tage-Krieges von 1967 erkennen.

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Anders als beim Wahlregime liegt beim Regime der politischen Partizipationsrechte
faktisch auch auf rein israelischer Seite ein Defizit vor: Zwar gelten formaljuristisch
die vollen Rechte für alle Israelis, jedoch werden sie von nicht unerheblichen Teilen
der Bevölkerung nicht oder nur eingeschränkt in Anspruch genommen, ohne dass dies
Maßnahmen zur Gegensteuerung und Besserung in Sachen politischer Bildung und
Wertschätzung einer modernen Demokratie nach sich zöge. Dies mag noch nicht als
Argument für einen „Defekt“, wie Merkel (2016: 470–472) ihn mit Beispielen defi-
niert, genügen, aber es bietet Grund zur Besorgnis.

Wenn nun die faktisch von Israel kontrollierten und damit, wenn auch noch nicht von
Israel regierten, so zumindest auch nicht mehr von Palästina regierten und vertretenen
Gebiete in diese Betrachtung eingerechnet werden, so erhärtet sich der Verdacht einer
„exklusiven Demokratie“ zusehends.

3.3 Der Streit um die Justizreform und das Regime der Gewaltenteilung

Den Auslöser für die Betrachtung der Demokratie in Israel bot die seit Ende 2022
diskutierte und seit Sommer 2023 sukzessive durchgeführte Änderung der Rechte und
Pflichten des Obersten Gerichtshofes in Israel, sodass dieses Unterkapitel von zentra-
ler Bedeutung für diese Arbeit ist. Ganz allgemein sei an dieser Stelle auf die Übersicht
(Stellung, Rechte und Pflichten) von Freedman (2009: 135–158) zum Obersten Ge-
richtshof bisher verwiesen, die zwar schon älter, aber dennoch informativ ist.

Benjamin Netanjahu mag als Premierminister zwar im Fokus der Kritik an der Justiz-
reform stehen, jedoch kommt man nicht umhin festzustellen, dass er und seine Likud
einen derartigen Kurs bislang nicht verfolgt haben. Vielmehr ist der Sichtweise zuzu-
stimmen, dass die ultra-rechten Parteien in seiner Regierung diese Änderungen zur
Bedingung gemacht haben, der sich Netanjahu nun beugt, um im Amt bleiben zu kön-
nen; dass er dadurch zweifelsohne den Korruptionsvorwürfen und -prozessen (zumin-
dest einstweilen) entgeht, dürfte wohl auch Teil seiner Motivation gewesen sein (siehe
dazu etwa Müller 2019, auch wenn sie die jetzige Justizreform noch nicht berücksich-
tigen konnte).

Zunächst einmal eine kurze Zusammenfassung, worum es bei der Justizreform eigent-
lich geht: Grundsätzlich sieht die Reform mehrere – mitunter tiefgreifende – Änderun-
gen vor, die unterschiedliche Kritik hervorrufen, manchmal aber Verständnis nach sich

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ziehen. So sind die beiden Änderungen, von denen aus Sicht der Demonstranten die
größte Gefahr für die Demokratie ausgeht, zunächst zurückgestellt worden: Die Re-
gierung kann sich (noch) nicht über Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes hin-
wegsetzen und sie hat (noch) nicht die Mehrheit in der Ernennungskommission der
Richter. Eine Änderung, die weniger umstritten war, ist dagegen bereits verabschiedet
worden: Das Oberste Gericht kann Entscheidungen des Kabinetts nicht mehr als „nicht
angemessen“ zurückweisen.

Die oben genannten beiden Änderungen stehen aber immer noch auf der Agenda der
Regierung nebst dem Ziel, dass das Oberste Gericht auch nicht mehr vorbestrafte Per-
sonen den Ministerposten verweigern kann. Alles in allem schwebt über den seither
andauernden Massenprotesten die Angst um die Zunahme der Korruption, einer Ab-
nahme des Minderheitenschutzes und letztlich natürlich um den Rechtsstaat als Gan-
zes. Das Oberste Gericht in Israel hat nämlich als einzige Institution die Macht, der
Mehrheit (vertreten durch die Regierung) Grenzen aufzuzeigen (Kitzler 2023). Bereits
im Jahre 2008 gab es einen ersten Schritt in Richtung Kontrolle der Judikative, als der
damalige Justizminister Friedman festlegte, dass nicht mehr eine einfache Mehrheit
im Ernennungskommission ausreicht, sondern sieben von neun zustimmen müssen,
sodass der Knesset faktisch ein Vetorecht bei der Ernennung zukam (siehe dazu etwa
Weill 2022).

Weill macht auch deutlich, dass bereits in der angestrebten Änderung der Zusammen-
setzung der Ernennungskommission ein Angriff auf die Demokratie in Form eines
Eingriffes in die Gewaltenteilung besteht: Der Justizminister, der selbst in der Kom-
mission sitzt, würde zwei weitere der neun Mitglieder bestimmen; zudem säßen fortan
sechs Knessetabgeordnete in der Kommission, wobei vier davon der Regierungskoa-
lition angehören müssen. Delikat wird das Ganze, wenn man bedenkt das diese Kom-
mission mit sieben von neun Stimmen auch Richter entfernen kann. In er jetzigen Zu-
sammensetzung ist diese Funktion relativ unproblematisch, mit der geplanten Ände-
rung hätte die Regierung aber faktisch die Kontrolle über die Judikative, selbst wenn
die übrigen Reformen nicht oder nur abgeschwächt verabschiedet werden sollten
(Weill 2022). Da Autokratisierung – egal in welcher Größenordnung – in den aller-
meisten Fällen mit der Einschränkung der Judikativen beginnen, steht Israels Demo-
kratie dieser Tage vor einer direkten und konkreten Bedrohung. Denn, ist die Unab-
hängigkeit der Justiz erst einmal abgeschafft, mag eine künftige Regierung, die die

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Notwendigkeit einer starken Exekutiven zum Schutz vor äußeren Feinden nicht mehr
sieht, einen Vorteil zur Erlangung weiterer Machtfülle und Repression unliebsamer
Positionen im Innern erkennen.

Nun mag man einwenden, dass diese Pläne aus dem Winter 2022 stammen und selten
etwas wie geplant umgesetzt wird, aber in der Zeit seither wurde deutlich, dass die
Regierungsparteien bestrebt sind, tatsächlich alle genannten Punkte in Angriff zu neh-
men. Rivka Weill, die dies ebenfalls beobachtete, stellt fest: „The new Minister of
Justice, Yariv Levin, is a member of Netanyahu’s Likud political party. He has been
an ardent proponent of judicial reform for many years. Netanyahu hadn’t appointed
Levin as a Minister of Justice in his previous governments, because Netanyahu used
to advocate judicial independence as a vital feature in the survival of a democracy and
blocked any proposal that threatened it. Levin admitted that Netanyahu’s “unjustified”
criminal indictments and trial convinced the government that judicial reform is essen-
tial“ (Weill 2023: 1).

In dieser kleinen Feststellung steckt verfassungspolitischer Sprengstoff: Bislang war


Netanjahu ein Verfechter der Demokratie und ernannte Levin (ebenfalls Likud) nicht
zum Justizminister, weil er um dessen Position sowie Ziel wusste und die Gefahr sah.
Nun sieht sich Netanjahu seit geraumer Zeit massiven Korruptionsvorwürfen und dro-
henden Prozessen ausgesetzt und hätte einen großen persönlichen Vorteil aus der ge-
planten Justizreform zu ziehen. Zu Beginn dieser Regierung stand die Hoffnung, dass
Netanjahu und seine Likud die extrem rechten Positionen mäßigen könne, und die Be-
fürchtung, dass er genau das nicht tun würde. Nun steht die Frage im Raum, ob Netan-
jahu, der aufgrund der massiven Proteste immerhin einen Teil der Reform aufgescho-
ben hatte, letztlich seiner ursprünglichen Haltung treu bleiben und bei einer Zurück-
weisung der Änderungen durch das (noch) mächtige Oberste Gericht und die De-
monstranten nachgeben und seine Koalitionäre davon abbringen würde.

Bislang genießt die israelische Demokratie eine vorbildliche Gewaltenteilung; auch


wenn man zu Recht Kritik als Regierung daran äußern kann, dass das Recht des Obers-
ten Gerichtshofes, aus Gründen der Unangemessenheit Minister abzulehnen, zu viel
Spielraum für Willkür lässt, schießen die geplanten Änderungen weit über das Ziel
hinaus. Das Teilregime der Gewaltenteilung ist folglich als intakt einzustufen, aber es
muss klar festgehalten werden, dass Israel mit dieser Reform auf dem besten Weg ist,

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die häufigste Form der defekten Demokratie anzunehmen: die illiberale Demokratie
(siehe dazu Merkel 2016: 471f.).

Die Änderungen mögen keine unmittelbar negativen Folgen für die Israelis haben, aber
mittel- und vor allem langfristig werden sich Konsequenzen einer in ihrer Freiheit ein-
geschränkten Judikativen zeigen. In Ungarn und Polen lässt sich bspw. bereits erken-
nen, dass die Exekutive deutlich forscher auftritt, da sie von der Judikativen keine Ge-
fahr zu befürchten hat.

4 Fazit und Ausblick


Insgesamt zeichnet diese Arbeit ein eher nüchternes, wenn auch kein einseitig negati-
ves Bild der israelischen Demokratie. Der Sonderstatus Israels als Land zweier Natio-
nen macht eine abschließende Beurteilung nach den eingangs genannten Kriterien sehr
schwer. Nichtsdestotrotz soll es versucht werden.

Wie im dritten Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargelegt wurde, sind bereits Defizite
in der israelischen Demokratie erkennbar, die noch deutlicher ausfallen, wenn man den
palästinensischen Teil berücksichtigt (vgl. Kapitel 3.1 und 3.2). Aber auch mit alleini-
gem Blick auf den jüdisch dominerten israelischen Teil fällt auf, dass über 70 Jahre
mehr oder weniger direkte existenzielle Bedrohung von außen, die ihrerseits von nicht
demokratisch geführten Ländern ausgeht, einer „einsamen“ Demokratie ihren Stempel
aufrückt. Dem frisch gegründeten Israel aus der Mitte des 20. Jahrhunderts mit seiner
Unabhängigkeitserklärung wären so manche modernen Entwicklungen (insbesondere
die Justizreform) höchstwahrscheinlich inakzeptabel erschienen. Aber nach Jahrzehn-
ten des militärischen, diplomatischen und politischen Kämpfens und Ringens kann
eine gewisse Veränderung und Abweichung von Idealen wohl nicht verhindert wer-
den. Während Kapitel 3.1 und 3.2 ein äußerst komplexes Problemgeflecht betreffen,
das schon wesentlich länger existiert als der Staat Israel, und daher nicht pauschal be-
antwortet werden können, thematisiert Kapitel 3.3 ein inhärent israelisches Problem:
die potenzielle Abschaffung der Unabhängigkeit der Justiz und damit die Einschrän-
kung der Gewaltenteilung.

Lösungsvorschläge zu den ersten beiden Punkten wurde über die Jahre schon von ver-
schiedenen Seiten vorgebracht und mal mehr, mal weniger realisiert – jedoch bislang
ohne nennenswerten Erfolg. Der dritte und Hauptpunkt dagegen markiert einen großen

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Schritt für die israelische Demokratie: Weist das Oberste Gericht gemäß seiner jetzi-
gen Stellung die Reformen als gegen die Grundgesetze verstoßend zurück oder wird
es diese akzeptieren? Wird die Regierung aufgrund der anhaltenden Massenproteste
Abstand von den tiefgreifenderen Änderungen nehmen oder eine Zurückweisung
durch das Oberste Gericht akzeptieren? Wie wird die Bevölkerung, die schließlich
nicht nur aus Gegnern der Reform besteht, eine vollständige Verabschiedung der Jus-
tizreform letztlich akzeptieren oder zu anderen Mitteln als Massenprotesten greifen?
Welche Stellung werden Militär und Polizei in diesem potenziellen Konflikt beziehen,
die ebenfalls nicht geschlossen hinter den Reformvorhaben stehen? Wie werden die
Nachbartstaaten auf ein derart schwerwiegendes inneres Zerwürfnis Israels reagieren
– mit Geduld und mit Vermittlungsangeboten oder mit einem neuerlichen Angriff?

All diese Fragen sind derzeit keine rein theoretischen Konstrukte akademischer Natur
mehr, sondern berechtigte Fragen für eine womöglich sehr bald eintretende Zukunft.
Eine Verfassungskrise, wie sich in Israel abzeichnet, kann glimpflich ausgehen, wenn
alle Beteiligten ruhig und überlegt handeln, um dann einen für alle akzeptablen und
demokratischen Mittelweg zu finden; sie kann schlimmstenfalls aber auch zum Bür-
gerkrieg und – im Falle Israels – zum Krieg um die bloße Existenz führen.

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