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APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


65. Jahrgang · 28–30/2015 · 6. Juli 2015

Föderalismus
Eva Marlene Hausteiner
Föderation als Bundesstaat?

Nathalie Behnke
Stand und Perspektiven der Föderalismusforschung

Henrik Scheller
Der „erschöpfte Föderalstaat“

Sven Leunig
Subsidiarität als Kompetenzverteilungsregel

Alexander Hoppe · Johannes Müller Gómez


Chancen eines europäischen Föderalismus

Felix Schulte
Frieden durch Föderalismus

Ole Frahm
Zentralisierung und Föderalismus in Afrika
Editorial
Der Begriff „Föderalismus“ geht zurück auf das lateinische Wort
foedus für Bund, Bündnis oder Übereinkunft. Gemeinhin wird er
auf eine politische Ordnung bezogen, in der Macht und Zustän-
digkeiten zwischen Gliedstaaten und dem durch sie gebildeten
Gesamtstaat aufgeteilt sind. Neben der vertikalen Gewaltentei-
lung kann ein föderales System auch andere politische Funktio-
nen erfüllen: Durch territoriale Eigenständigkeit können etwa
Minderheiten geschützt und heterogene Gesellschaften integriert
werden; idealerweise fördert die Stärkung regionaler und lokaler
Verantwortung Bürgernähe in der Politik sowie Partizipation.

In Deutschland wurde der Föderalismus als staatliches Organi-


sationsprinzip 1949 verfassungsrechtlich verankert, um nach dem
Untergang des nationalsozialistischen Einheitsstaates die politi-
schen Machtstrukturen wieder aufzugliedern und das System der
checks and balances zu stärken. Kennzeichnend für den deutschen
Föderalismus ist die Kooperation der Exekutiven von Bund und
Ländern, die sich im Laufe der Zeit zu einer engen Verflechtung
beider Ebenen entwickelt hat. Seit einigen Jahren befindet sich die
bundesstaatliche Ordnung in einem permanenten Reformprozess;
derzeit wird über die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbe-
ziehungen verhandelt. Die deutsche Reformdebatte rührt an die
Kernfragen föderaler Ordnungen nach der Verteilung der Kom-
petenzen, Aufgaben und Finanzmittel sowie der Interaktion zwi-
schen den Ebenen. Föderalismus ist stets ein Balanceakt: zwischen
Einheit und Vielfalt, zwischen Verflechtung und Autonomie.

Im Frühjahr 2015 startete „Aus Politik und Zeitgeschichte“ ei-


nen Call for Papers zum Thema Föderalismus. Aus den zahlreichen
bemerkenswerten Exposés wählte die Redaktion in einem anony-
misierten Verfahren fünf Autor(inn)en und ein Autorenteam aus,
deren Beiträge in dieser Ausgabe versammelt sind. Zudem gibt die
zusätzlich eingeladene Autorin Nathalie Behnke einen Überblick
über Stand und Perspektiven der Föderalismusforschung.

Anne-Sophie Friedel
Eva Marlene Hausteiner Angesichts dieser konzeptionellen Vielfalt
und Unbestimmtheit stellt sich die Frage, an

Föderation als welchem Begriff des Föderalen sich die po-


litikwissenschaftliche und politische Sprache

Bundesstaat?
­
aktuell orientiert – und orientieren soll: Wel-
chen Begriffskonventionen folgen gegenwär-
tige Verständnisse des Föderalen? Und wel-

Begriffliche Tradi- che Vor- und Nachteile haben diese Begriffe


bei der Erfassung der politischen Realität?
Die folgenden Überlegungen skizzieren den
tionen, politische begrifflichen Status quo, gehen seinen be-
griffshistorischen Hintergründen nach und

Alternativen
­
fragen nach seinen Grenzen in der Beschrei-
bungsfähigkeit politischer Realität sowie
nach möglichen Alternativen.

W elcher Begriff von Föderalismus erfasst


unsere politische Realität am zuverläs-
sigsten? Gegenwärtig dominiert eine Kon-
Verfassungsstaatlich und demokratisch?
zeption, die eng an die In den Politikwissenschaften hat sich jüngst
Eva Marlene Hausteiner Normen der westlichen ein Interesse an föderalen Gebilden ver-
Dr. phil., geb. 1983; Wissen- Moderne gebunden ist: stärkt, das mehrheitlich eng an Normen der
schaftliche Mitarbeiterin am Unter Föderalismus westlichen Moderne und des westfälischen
Lehrstuhl für Theorie der wird in Wissenschaft Staatensystems gebunden ist. Zunächst fällt
Politik am Institut für Sozial- und Praxis zumeist ein auf, dass sich die Forschung anhaltend an
wissenschaften der Humboldt- institutionelles Ele- dauerhaft verfasster Staatlichkeit orientiert:
Universität zu Berlin, Unter den ment des demokrati- Im Fokus der einschlägigen Forschung ❙4
Linden 6, 10099 Berlin. schen Verfassungsstaa- steht der föderale Staatsaufbau – also die
eva.hausteiner@ tes verstanden, das an- Analyse von Designs und Performanz plu-
sowi.hu-berlin.de gesichts von Diversi- raler Staatsgebilde. Institutionelle Elemen-
tät Freiheit, Gleichheit te und Dynamiken gegenwärtiger föderaler
und Minderheitenrechte garantiere. Der Begriff Staaten werden evaluiert und verglichen –
ist aber stärker umkämpft, als es auf den ers- eine Stoßrichtung, an der auch die Rechts-
ten Blick den Anschein hat. Während er etwa wissenschaften mit ihrem Fokus auf Ver-
in der Bundesrepublik Deutschland ein konsti- fassung und Verfassungsrealität maßgeblich
tutives Verfassungsprinzip bezeichnet, steht er teilhaben.
in den Vereinigten Staaten für den anhaltenden
Kompetenzkampf von Zentral- und Gliedstaa-
ten. Und auf der EU-Ebene ist er bei jenen Mit- ❙1  Daniel Kelemen, Built to Last? The Durability
gliedsstaaten, die einen „Superstaat“ fürchten, of EU Federalism, in: Sophie Meunier/Kate McNa-
mara (Hrsg.), Making History: European Integra-
längst zum verminten „F-Wort“ avanciert. ❙1
tion and Institutional Change at Fifty, Oxford 2007,
S. 51–66.
Die Rede vom Föderalismus umfasst also ❙2  Vgl. Ronald L. Watts, Comparing Federal Systems
mehr als einen Institutionenkatalog zur Kom- in the 1990s, Kingston 1996.
petenzaufteilung zwischen zwei (oder mehr) ❙3  Vgl. exemplarisch Reinhart Koselleck, Bund, Bünd-
Regierungsebenen. ❙2 Sie ist eng an kontextspe- nis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner/
Werner Conze/ders. (Hrsg.), Geschichtliche Grund-
zifische Erfahrungen und normative Erwar-
begriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen
tungen geknüpft. Dieses Panorama der Föde- Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 582–
ralismusvorstellungen erweitert sich noch um 671; Murray Forsyth, Unions of States. The Theory
ein Vielfaches, wenn nicht nur die Gegenwart, and Practice of Confederation, New York 1981; Rufus
sondern unterschiedliche historische Be- S. Davis, The Federal Principle, Berkeley–Los Ange-
griffsformationen berücksichtigt werden. Es les 1978; Siegfried Weichlein, Europa und der Föde-
ralismus. Zur Begriffsgeschichte politischer Ord-
bedarf nur weniger Blicke in die reiche Ideen-
nungsmodelle, in: Historisches Jahrbuch, 125 (2005),
geschichte, um zu erkennen, dass Begriff und S. 133–152.
Idee des Föderalen politisch bedingten, oft ra- ❙4  So etwa in den zentralen Zeitschriften „Publius“
dikalen Schwankungen unterliegen. ❙3 und „Regional and Federal Studies“.

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Nicht minder auffallend ist der zeitliche Die Annahme, das Föderale sei durch einen
Untersuchungsschwerpunkt der aktuellen besonderen demokratischen „Geist“ ❙10 gekenn-
Föderalismusforschung. Selbst im Rahmen zeichnet, hat eine Reihe von Theoretikerinnen
historischer und komparativer Darstellungen und Theoretikern einflussreich formuliert: Der
wird wiederholt behauptet, beim Föderalen Kanadier Alain-G. Gagnon beschreibt die „Ver-
handele es sich um eine politische Erfindung dienste des Föderalen“ als „die Anerkennung
der Moderne, jedenfalls aber der Neuzeit: ❙5 von ethnischen und kulturellen Gruppen, (…)
Erst mit der Genese des westfälischen Staa- die Garantie nationaler Minderheitenrechte, die
tensystems und der ihm zugeschriebenen Er- Etablierung einer gerechten Gewaltenteilung
rungenschaften – Souveränität, klare Gren- und einer gleichmäßigen Einkommensvertei-
zen und in der Folge repräsentative und lung“. ❙11 Der britische Föderalismustheoreti-
demokratische Verfassungen – sei das Föde- ker Michael Burgess macht die Bindung dieser
rale möglich und real geworden. Verdienste an eine demokratische Verfassung
besonders explizit, wenn er erklärt, dass nur
Brisant ist schließlich der Fokus auf das ein „liberal-demokratischer Staat, der eine ge-
letztgenannte Element, also die demokra- schriebene Verfassung mit Rechtsstaatlichkeit
tische Verfasstheit. Grundsätzlich ist der verbindet, lokale Autonomie fördert und auf
Effekt föderaler Institutionen auf demo- einer Gewaltenteilung zwischen Zentralregie-
kratische Prozesse ambivalent – so lau- rung und den konstituierenden Gliedern be-
fen föderale Verfahren der Umsetzung des ruht“, tatsächlich demokratisch sei. Diese Be-
Mehrheitswillens tendenziell zuwider, und dingung sei etwa im Falle der So­wjet­union
in der politischen Realität sind Gliedstaaten nicht erfüllt gewesen, ❙12 weswegen einflussrei-
in vielen föderalen Systemen in der Lage, che Vertreterinnen und Vertreter dieser norma-
gesamtstaatliche Mehrheitsentscheidungen tiv aufgeladenen Föderalismuskonzeption „au-
zu blockieren. ❙6 Andererseits wird der Fö- thentische“ föderal-demokratische Systeme von
deralismus theoretisch seit Jahrzehnten als nicht-demokratischen und darum nur schein-
durchaus demokratieförderlich beschrie- bar föderalen unterscheiden. ❙13
ben: ❙7 Demokratische Werte wie Machtkon-
trolle, Minderheitenschutz und -repräsen- Diese Idee des Föderalen, die zentral auf
tation, der Versuch der Gleichbehandlung Staatlichkeit, Gleichheit und demokratische
der Mitglieder ❙8 sowie Partizipationsförde- Werte abhebt, ist institutionenanalytisch wie
rung ❙9 stehen in der Föderalismusforschung normativ leistungsfähig, blendet allerdings
weiterhin im V ­ ordergrund. – neben so manchem gegenwärtigen empi-
rischen Befund ❙14 – eine Reihe potenziell fö-
deraler Phänomene aus: Konföderale, losere
❙5  Vgl. beispielsweise Preston King, Federation and
Representation, in: Michael Burgess/Alain-G. Gag- Arrangements irritieren die staatsorientierte
non (Hrsg.), Comparative Federalism and Federati- Föderalismuskonzeption ebenso wie Föde-
on, Toronto–Buffalo 1993, S. 97; Ines Härtel (Hrsg.), rationen, die von starken Machtgefällen und
Handbuch Föderalismus, 4 Bde., Berlin–Heidel- -asymmetrien geprägt sind. ❙15
berg 2012.
❙6  Vgl. Christoph Möllers, Der parlamentarische
Bundesstaat – Das vergessene Spannungsverhält- ❙10  Michael Burgess, In Search of the Federal Spirit:
nis von Parlament, Demokratie und Bundesstaat, in: New Comparative Empirical and Theoretical Per-
Josef Aulehner et al. (Hrsg.), Föderalismus – Auflö- spectives, Oxford 2012.
sung oder Zukunft der Staatlichkeit?, Stuttgart 1997, ❙11  Alain-G. Gagnon, The Case for Multinational
S. 81–111; Arthur Benz, Making Democracy Work Federalism. Beyond the All-Encompassing Nation,
in a Federal System, in: German Politics, 24 (1999) 1, London–New York 2012, S. 2.
S. 8–25. ❙12  Michael Burgess, Between a Rock and a Hard
❙7  Vgl. R. L. Watts (Anm. 2). Place. The Russian Federation in Comparative Per-
❙8  Die institutionelle Akzeptanz und Einhegung un- spective, in: Adrian Campbell/Cameron Ross (Hrsg.),
vermeidbarer Asymmetrien ist ein grundlegendes Federalism and Local Politics in Russia, London–
Thema der Föderalismusforschung; vgl. ebd. sowie New York 2009, S. 33.
Klaus von Beyme, Asymmetric Federalism Between ❙13  Vgl. Karl Löwenstein, Verfassungslehre, Tübin-
Globalization and Regionalization, in: Alexander gen 1959, S. 316.
Trechsel (Hrsg.), Towards a Federal Europe?, Abing- ❙14  Vgl. Jan Erk/Wilfried Swenden (Hrsg), New Direc-
don 2006, S. 32–47. tions in Federalism Studies, London–New York 2010.
❙9  So argumentierte im 19. Jahrhundert bereits Ale- ❙15  Kritikwürdig an dieser Forschungstendenz ist zu-
xis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, dem, dass sie zu einer tendenziell technokratisch-ins-
München 1976. titutionenfokussierten Sicht auf das Föderale führen

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Begriffswege zum Bundesstaat gen müssen und vielleicht sogar eine Barrie-
re gegen die gewaltigen Pläne Roms errich-
Die Konjunktur dieses Föderalismusbegriffs ten können.“ ❙18 Die schwache Konföderation
kann einerseits als Antwort auf gegenwärti- vermochte es nicht, die römische Expansion
ge politische Herausforderungen verstanden zu verhindern – ein schwacher Bund trägt,
werden: Die Fülle an alten und neuen Föde- so der schwere Vorwurf, die welthistorische
ralstaaten und die Festigung des demokrati- Schuld am Verlust antiker Freiheit. ❙19
schen Paradigmas im 20. Jahrhundert haben
den Bedarf an institutionenfokussierter For- Die Stigmatisierung antiker Bünde durch
schung zweifellos erhöht. Sie ist andererseits die amerikanischen Gründerväter resultiert
aber auch Resultat langfristiger begrifflicher schließlich in einem Rundumschlag: Die his-
Pfadabhängigkeiten, die alte Begriffsver- torischen Beispiele in den „Federalist Papers“
ständnisse in radikal gewandelte politische diskreditieren das Konföderale insgesamt.
Situationen weitertragen. Dies wird etwa im Obgleich der Konflikt über das Verhält-
Fall der begriffsgeschichtlichen Ausblendung nis von Bund und Gliedstaaten in den USA
konföderaler Arrangements sichtbar. selbst erst im Bürgerkrieg kulminiert, hat
diese Sichtweise nachhaltig zur etwa von Ale-
Bis in die Gegenwart wirkt die begriffliche xis de Tocqueville wirkungsvoll verstärkten
Wende, die die Autoren der „Federalist Papers“ Behauptung vom Föderalismus als moderner
in der Verfassungsdebatte der Vereinigten Erfindung beigetragen: ❙20 Frühere vorstaatli-
Staaten eingeleitet haben. Innerhalb der 1788 che, lose Bundformen gelten als defizitär oder
und 1789 veröffentlichten Streitschriften beru- gar als gefährlich.
fen sich die Befürworter eines engeren Bundes
– allen voran James Madison – auf die Überle- Auswirkungen dieser Intervention sind
genheit des federalism, verstanden als zentrali- unter anderem in der deutschen Begriffsge-
siertes Regime von Gliedstaaten gegenüber der schichte lokalisierbar. Hatten die US-Grün-
bestehenden Konföderation, also der bisheri- derväter den Föderalismus als moderne Er-
gen politisch fragmentierten Ordnung. Hier- findung modelliert, so greift die deutsche
für verwenden sie eine Reihe historischer Bei- Einigungsdebatte massiv föderale Überle-
spiele, darunter nicht zuletzt antike griechische gungen des amerikanischen Vorbilds auf
Zusammenschlüsse von Stadtstaaten. und treibt sie durch die verfassungstheoreti-
sche Gegenüberstellung von Bundesstaat und
Ihnen kommt ein besonderer Stellenwert Staatenbund weiter. ❙21
zu: Gerade im 18. Artikel, der ganz den grie-
chischen Bundarrangements bis zum dritten Die beträchtliche föderale Ideendiversi-
Jahrhundert v. Chr. als „lehrreiche Analo- tät im Heiligen Römischen Reich, ❙22 inner-
gie zur derzeitigen Konföderation“ ❙16 gewid- halb derer anspruchsvolle Entwürfe groß-
met ist, dominiert die Schlussfolgerung, dass räumiger Bünde kursieren – zu nennen sind
„Machthunger“ und zentrifugale Tendenzen hier so unterschiedliche Denker wie Johan-
„die Schwäche, die Unruhen und schließlich nes Althusius und Immanuel Kant ❙23 –, wird
die Zerstörung der Konföderation“ bewirkt
hätten. ❙17 In Ermangelung eines stabilen, en- ❙18  Ebd., S. 102; vgl. auch Artikel Nr. 45, S. 278–284.
gen Bundes habe die Amphyktionische Kon- ❙19  Ebd., S. 105. Der Achaiische Bund hingegen ern-
föderation letztlich dem despotischen Rom tet zunächst Lob, wird aber letztlich auch als defizi-
den Weg geebnet: „Wäre Griechenland (…) tär evaluiert – ebenso wie spätere Konföderationen,
in einer engeren Konföderation vereint gewe- beispielsweise die Niederlande; vgl. ebd., S. 112 f.
❙20  Vgl. A. Tocqueville (Anm. 9), insb. Bd. 1, Teil IV,
sen und hätte diese Union aufrechterhalten,
Kap. 8.
es hätte niemals die Ketten Makedoniens tra- ❙21  Das Begriffspaar Bundesstaat–Staatenbund exis-
tiert seit dem frühen 19. Jahrhundert; vgl. R. Kosel-
leck (Anm. 3), S. 651.
könnte; vgl. Jan Erk, Engagé Intellectuals, Techno- ❙22  Im deutschsprachigen Raum dominiert zunächst
cratic Experts, and Scholars, in: Grace Scogstad et al. der Bundbegriff, erst im 19. und dann vollends im
(Hrsg.), The Global Promise of Federalism, Toronto 20. Jahrhundert konvergiert die politische Sprache
2013, S. 259–278. hin zum Föderalismus; vgl. ebd., S. 652.
❙16  Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, ❙23  Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein
Die Federalist-Artikel, Paderborn 1994, S. 98. philosophischer Entwurf, Stuttgart 2008; Johannes
❙17  Ebd., S. 100. Althusius, Politik, Berlin 2003.

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im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in Angetrieben von verfassungstheoretischen
den Staatsbegriff kanalisiert. Wie im Fall der Debatten gewinnt somit im 19. Jahrhundert
„Federalist Papers“ hat auch diese Begriffs- die Frage der eindeutigen Souveränitätsver-
wandlung einen konkreten politischen An- ortung als Merkmal stabiler Staatlichkeit an
lass: In der Phase zwischen der Frankfurter Bedeutung: Dreh- und Angelpunkt der De-
Paulskirche und der Gründung des Kaiser- batte, die in der Gründung des Kaiserreiches
reiches dominiert die „deutsche Frage“ nach als „monarchischer Bundesstaat“ ihre realpo-
der Einigung deutscher Gebiete. litische Erfüllung findet, bleibt das Verhält-
nis von Souveränität und Staat. Eine vormo-
Als Antwort kristallisiert sich zur Jahr- derne Vorgeschichte des Föderalen oder lose,
hundertmitte die Idee eines nationalen, de- großräumige Konföderationen werden weit-
mokratischen Bundesstaates heraus. Sie gehend ausgeblendet. ❙27
prägt den letztlich scheiternden Verfas-
sungsentwurf der Paulskirche, aber auch die
Reichsgründung von 1871, und folgt jenem Andere Bünde:
Prinzip, das der Historiker Georg Waitz Ungleich, undemokratisch, schwach?
– seinerseits glühender Anhänger des US-
Föderalismus – einflussreich als „monar- Diese begriffsgeschichtlichen Entwicklungs-
chischen Bundesstaat“ bezeichnet hat. Fö- stationen entspringen konkreten historischen
deralismus als „zwiefache Organisation des Herausforderungen: Diskreditierten die ameri-
Volkes zum Staate“ ❙24 ist in Waitz’ Darstel- kanischen Gründerväter lose Konföderationen,
lung strikt an der staatlichen Kompetenz- so taten sie dies im Interesse ihres Verfassungs-
trennung zwischen Zentral- und Gliedstaa- projektes; die Fokussierung der deutschen De-
ten orientiert. batte auf den Staat war Resultat des anhalten-
den Einigungsdefizits in einem zunehmend
Mit der Errichtung des kleindeutschen nationalstaatlich geprägten Europa.
Norddeutschen Bundes und des Kaiserrei-
ches verfestigt sich die Idee, dass eine aus Was aber sind die Implikationen dieser his-
Teilgliedern bestehende Ordnung verfas- torisch gewachsenen Zuspitzung des Föde-
sungsmäßig verbürgt und in staatlicher Form ralismusbegriffs auf den modernen demo-
eng integriert sein müsse. Der Bundesstaat, kratischen Verfassungsstaat? Das bislang
dessen Zentrum über die maßgebliche „Kom- umrissene Verständnis des Föderalen stößt
petenzkompetenz“ (so die Wortschöpfung schnell an Grenzen, wenn es um die Be-
des Rechtshistorikers Hugo Böhlau) verfüge, schreibung einer politischen Realität geht, die
ist Fluchtpunkt dieser Überlegungen; ande- zwar von Elementen geteilter Herrschaft ge-
re Modelle werden meist als wenig relevan- prägt ist, aber längst nicht immer den Gebo-
te Übergangsformen abgewertet. ❙25 Die im ten von Staatlichkeit, Gleichheit und Demo-
Bundesstaat verortete Souveränität sei teil- kratie folgt. Ein Blick auf die Empirie jenseits
bar, allerdings nur durch akkurate Verbür- des Bundesstaates – also abseits „klassisch“
gung der unterschiedlichen Kompetenzen an föderaler Ordnungen wie der Vereinigten
unterschiedliche Ebenen. Dem Bundesstaat Staaten, der Schweiz oder der Bundesrepu-
schließlich steht der Staatenbund gegenüber, blik Deutschland – kann dies gerade für den
der ebenfalls dem Staatsmodell eng verpflich- deutschen Kontext veranschaulichen. ❙28
tet ist, indem die vertragsmäßige Souverä-
nität einzelnen Gliedstaaten zugeschrieben
wird. Er leidet aber unter dem Defizit der ❙27  Vgl. etwa Constantin Frantz, Der Föderalismus
als das leitende Prinzip für die soziale, staatliche und
Auflösbarkeit. ❙26
internationale Organisation, unter besonderer Be-
zugnahme auf Deutschland, Mainz 1879; Siegfried
❙24  Georg Waitz, Von den Formen des Staates, in: Brie, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmatische
ders., Grundzüge der Politik nebst einzelnen Aus- Untersuchung, Leipzig 1874.
führungen, Kiel 1862, S. 43. ❙28  Vgl. zu dieser Beobachtung auch Eva Marlene
❙25  Dies gilt insbesondere für Heinrich Treitschke, Hausteiner/Sebastian Huhnholz, Ein Bund unter
Bundesstaat und Einheitsstaat, in: ders., Historische Gleichen? Zum (anti-)hegemonialen Charakter föde-
und politische Aufsätze, Bd. 2: Die Einheitsbestre- raler Arrangements, in: Gerold Ambrosius/Christi-
bungen zertheilter Völker, Leipzig 1886, S. 143–171. an Henrich-Franke/Cornelius Neutsch (Hrsg.), Fö-
❙26  Vgl. Georg Jellinek, Die Lehre von den Staaten- deralismus in historisch vergleichender Perspektive,
verbindungen, Berlin 1882. Baden-Baden 2015, S. 279–298.

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Erstens nämlich ist die politische Reali- Zweitens – und hiermit verbunden – ge-
tät der Moderne von Ordnungen mit aus- raten jene Arrangements aus dem Fokus der
geprägten Machtasymmetrien durchzogen, Analyse, die nicht- oder vordemokratisch,
die dennoch signifikante föderale Elemen- aber dennoch von einer Kompetenz- und
te aufweisen. Wie sind beispielsweise die di- Machtteilung zwischen Gliedern und Zent-
versen deutschen Verfassungsarrangements ralregierung geprägt sind. Dies gilt gleicher-
des 19. Jahrhunderts einzuordnen, die sämt- maßen für den Föderalismus im Kaiserreich –
lich von einer Hegemonialstellung Preußens er „fixierte das konstitutionell-monarchische
geprägt sind? Der Machtüberhang Preußens System, also den Antiparlamentarismus“,
im Kaiserreich, der sich nicht nur informell, forcierte aber auch eine asymmetrische Ba-
sondern auch im verfassungsmäßigen Insti- lance zwischen Reich und Gliedern ❙30 – wie
tutionendesign äußert – also etwa in der Per- für den Deutschen Bund als „Inkarnation der
sonalunion von Preußenkönig und Kaiser Restauration“. ❙31 Das Problem stellt sich aber
sowie in Preußens Vetorecht gegen jegliche auch für außereuropäische und vormoder-
Verfassungsänderungen – verletzt das föde- ne Gebilde wie die vom 15. bis ins 19. Jahr-
rale Gleichbehandlungsgebot und letztlich hundert bestehende Konföderation der Iro-
auch den Schutz der kleinen Teilstaaten des kesen. Diese erste überlieferte Verfassung in
Reiches. Preußen ist nicht nur entsprechend Nordamerika etwa funktionierte zwar ge-
seiner Größe und Bedeutung stärker in den mäß Gleichheits- und Konsensgrundsätzen,
Verfassungsgremien repräsentiert, sondern operierte aber nicht nach modernen westli-
kann auch den Kurs des Reiches anhaltend chen Demokratiekriterien. ❙32
dominieren. Zwar läge es also nahe, die föde-
rale Selbstdarstellung des Reiches für reine Das Beispiel der Irokesen ist in einer weite-
Rhetorik zu halten, doch grundlegende Ele- ren Hinsicht aufschlussreich – denn drittens
mente des Föderalen – also verbürgte Kom- ist gerade die Vormoderne politisch von sol-
petenzverteilung und Repräsentationsme- chen Ordnungen geprägt, die nicht nur asym-
chanismen im Mehrebenensystem – haben metrisch und vordemokratisch, sondern häu-
etwa den Historiker Thomas Nipperdey ver- fig territorial nicht vollends integriert sind.
anlasst, von einem „hegemonialen Föderalis- Die von den „Federalist Papers“ geschmäh-
mus“ zu sprechen. ❙29 Ein weiteres Beispiel ist ten griechischen Städtebünde verfügten nicht
die klar hegemoniale Struktur mancher grie- über klar begrenzte Territorien, aber wie der
chischer Konföderationen wie etwa des Atti- Irokesenbund teilweise über ausgeklügelte
schen Bundes, dessen föderales System trotz Repräsentationsmechanismen: Historisch ist
der Machtasymmetrie zugunsten Athens eine ganze Reihe pluraler, föderaler, durch-
über einen langen Zeitraum aufrechterhal- aus auch auf Dauerhaftigkeit angelegter Zu-
ten blieb. sammenschlüsse beschreibbar, die sich kon-
textbedingt nicht in das moderne Staats- und
Auf der anderen Seite ist ein bestimmtes Souveränitätsparadigma fügen.
Maß an Asymmetrie einer Reihe von „typi-
schen“ föderalen Systemen – auch etwa der
Bundesrepublik Deutschland oder Kanada – Implikationen und Alternativen
eingeschrieben. Zahlreiche moderne Bun-
desstaatsverfassungen sind von dem Versuch Dass der etablierte Föderalismusbegriff eine
geprägt, Unterschieden in Größe, Bevölke- sehr begrenzte empirische Reichweite hat, ist
rungszahl oder Identitätsmerkmalen zwi- in zweierlei Hinsicht folgenreich. Aus poli-
schen den Gliedstaaten durch Sonderrechte tikwissenschaftlicher Perspektive erscheint
oder abgestufte Repräsentationsmechanis- es zunächst problematisch, wenn politi-
men gerecht zu werden. Wo verläuft somit sche Beschreibungskategorien nur eine sehr
die Grenze zwischen föderalismuskonfor- schma­le Palette an Phänomenen erfassen –
mer Asymmetrie und einem den Gleichheits-
grundsatz verletzenden Machtgefälle?
❙30  Ebd.
❙31  Ebd., S. 71; vgl. auch Wolf D. Gruner, Der Deut-
❙29  Thomas Nipperdey, Der Föderalismus in der sche Bund: 1815–1866, München 2010, S. 112.
deutschen Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Nachden- ❙32  Vgl. Donald S. Lutz, The Iroquois Confederation
ken über die deutsche Geschichte, München 1986, Constitution: An Analysis, in: Publius, 28 (1998) 2,
S. 83. S. 99–127.

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und insbesondere, wenn diese Einschrän- es um die Beschreibbarkeit der EU geht.❙35
kung epochaler Natur ist.❙33 Das bedeutet, Sein Vorwurf lautet, dass bisherige alterna-
dass, um die Leistungsfähigkeit und Objek- tive Beschreibungsformen der Staatsorien-
tivität von Analysekategorien zu erhalten, tierung nicht zu entrinnen vermögen. Um
gerade verengte Begriffe in ihrer Herkunft dem derart verengten „F-Wort“, aber auch
und politischen Aufladung erforscht und ge- der unbeholfenen Sui-generis-These, gemäß
gebenenfalls – wenn der Entstehungskontext welcher die EU schlicht ein Ordnungsunikat
eine dauerhafte begriffliche Engführung be- sei, zu entgehen, schlägt Schönberger vor,
dingt – weiterentwickelt werden müssen. den Begriff des Bundes wiederzubeleben.❙36
An Carl Schmitts Verfassungslehre❙37 an-
Hieraus folgt aber nicht allein eine notwen- knüpfend, versteht er unter einem Bund ein
dige kritische Haltung der Wissenschaft ge- auf Dauer angelegtes Arrangement, das die
genüber allzu engen Begriffsprägungen. Po- Souveränitätsproblematik eben nicht auf-
litisch wichtiger ist es, jene Potenziale zu hebt – und das somit auch für nichtstaatliche
erschließen, die sich erst durch einen Blick Phänomene analytisch offen ist. Der so er-
in die Denkbarkeits- und die realen Mög- weiterte Begriff ermöglicht es, die EU auch
lichkeitsräume des Politischen – hier also: des nach dem Scheitern des Verfassungsvertra-
Föderalen – auftun. Insbesondere in der ge- ges, der Eurokrise und der anschließenden
genwärtigen Phase der Korrosion des Staats- Kritik an Asymmetrie und Hegemonialisie-
modells könnte sich eine Erweiterung des po- rung als bündisches Arrangement der Inte-
litischen Reflexionsraumes lohnen. Gerade gration von Pluralität weiterzuentwickeln.
angesichts der Frage transnationaler Integra-
tionsmöglichkeiten bedarf die Politik näm- Derartige Begriffsexperimente werden in
lich neuer Lösungsansätze: Dies gilt für Ent- Zukunft vonnöten sein, wenn es darum geht,
würfe globaler und also nicht im engen Sinne politische Innovation mit vergangenen Kon-
staatlicher demokratischer Föderationen stellationen verknüpfbar zu machen und da-
ebenso wie für das weiterhin bedeutendste raus Synergien zu gewinnen. Dies muss nicht
und längst nicht abgeschlossene föderale Ex- auf Kosten der etablierten Forschung zu de-
periment: die EU. Jene Phänomene, die von mokratischen föderalen Staaten geschehen:
gängigen, auf die Moderne beschränkten Ka- Im idealen Fall ist das verfügbare Begriffsre-
tegorien ausgeblendet werden, könnten sich pertoire in der Lage, an gegenwärtigen wis-
als nützliche Bestandteile des historischen senschaftlichen und politischen Erforder-
Archivs erweisen und dem Laboratorium der nissen zu wachsen und den eigenen Blick
Politik zugeführt werden.❙34 laufend für Ideen und Experimente jenseits
des Mainstreams zu schärfen.
Inwieweit kann beispielsweise die Refle-
xion über die Gestaltung der EU von inno-
vativen Begrifflichkeiten profitieren? „Der
staatsanaloge Nichtstaat ist in erster Linie
ein bundesstaatsanaloger Nichtbundesstaat“
❙35 Christoph Schönberger, Die Europäische Union
– so pointiert der Jurist Christoph Schön-
als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung
berger die oben umrissene Staatsorientie- des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, in: Archiv
rung des Föderalismusbegriffs, gerade wenn des öffentlichen Rechts, 129 (2004), S. 84.
❙36 Schönbergers Vorhaben ähnelt jenem des franzö-
sischen Theoretikers Olivier Beaud, wobei Letzterer
❙33 Das Problem des epochenübergreifenden Ideal- allerdings Hoffnung in die Umdeutbarkeit des Föde-
typus nach Max Weber kann freilich genau die man- rationsbegriffs selbst setzt und Föderation verstan-
gelnde Anwendbarkeit auf konkrete Einzelfälle sein den wissen will als konsensorientierte „politische
(vgl. im föderalen Zusammenhang Jean L. Cohen, Form, die nicht auf den Staat zurückgeführt wer-
Globalization and Sovereignty. Rethinking Legali- den kann; die gleichzeitig aber mehr ist als eine in-
ty, Legitimacy, and Constitutionalism, Cambridge ternationale Organisation“; Olivier Beaud, Europa
2012). Dies wirft die Frage auf, inwiefern empiri- als Föderation? Relevanz und Bedeutung einer Bun-
sche Tendenzen bei einer Menge an Einzelfällen deslehre für die Europäische Union, in: Forum Con-
zum Überdenken des bisherigen Idealtypus führen stitutionis Europae, 5 (2008), S. 3.
sollten. ❙37 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1926,
❙34 Vgl. Herfried Münkler, Politische Ideengeschich- S. 361–391.
te; in: ders. (Hrsg.), Politikwissenschaft. Ein Grund-
kurs, Hamburg 2003, S. 103–131.

8 APuZ 28–30/2015
Nathalie Behnke schritte deutlich gewandelt haben, sodass sich
in der Gesamtschau nicht eine lineare Fort-

Stand und entwicklung, sondern eher ein inkrementeller


Prozess im Zick-Zack-Kurs zeigt.

­Perspektiven Bei einem erweiterten geografischen Fokus


zeigen sich seit der Jahrtausendwende gra-

der Föderalismus-
vierende Veränderungen im institutionellen
Gefüge des europäischen Mehrebenensys-
tems. Fragen danach, wie in diesem komple-

forschung xen System Koordination und Entscheidun-


gen erreicht werden können, wie politische
Prozesse gesteuert werden und welche Steue-
rungsmechanismen dabei zum Einsatz kom-

D ie letzten vergleichenden Überblicke


über die Föderalismusforschung sind
mittlerweile rund zehn Jahre alt. 2002 ­erschien
men, widmet sich die Multi-level-gover-
nance-Forschung. Die Veränderungen des
europäischen Mehrebenensystems und ihre
das von Arthur Benz Rezeption in der Föderalismusforschung ste-
Nathalie Behnke und Gerhard Lehm- hen im Fokus des zweiten Abschnitts dieses
Dr. phil., geb. 1973; Professorin bruch herausgegebene Beitrags.
für Verwaltungswissenschaft Sonderheft der Poli­
am Fachbereich Politik- und tischen Vierteljahres- Auch in der vergleichenden Föderalismus-
Verwaltungswissenschaft der schrift zum Födera- forschung wird durch die Weiterentwicklung
Universität Konstanz, Universi- lismus. ❙1 2004 brach- von der klassischen föderalen zur Mehrebe-
tätsstraße 10, 78457 Konstanz. te André Kaiser ei- nenperspektive die Anzahl und Vielfalt der
nathalie.behnke@ nen breiten Überblick in den Blick zu nehmenden Ordnungen zu-
uni-konstanz.de über die aktuelle For- nehmend erweitert. ❙4 Darunter fallen einer-
schungsliteratur in der seits etablierte demokratische Staaten, die
„Neuen Politischen Literatur“, ❙2 und 2006 er- im Zuge von Dezentralisierungs- oder De-
schien zuletzt eine APuZ zum Thema Föde- volutionsprozessen staatliche Kompetenzen
ralismus, damals anlässlich des Inkrafttretens an substaatliche Einheiten übertragen ha-
der im Zuge der „Föderalismusreform I“ be- ben; andererseits multinationale Systeme, die
schlossenen Grundgesetzänderungen. ❙3 Seit- im Zuge von Staatsbildungsprozessen – häu-
dem hat sich im deutschen Föderalismus eine fig auch im staatlichen Wiederaufbau nach
Menge getan. Darüber hinaus haben globale bewaffneten Konflikten – föderale Elemen-
Entwicklungstendenzen die Bedeutung der te verwenden, um Gruppenkonflikte inner-
föderalen Staatsform deutlich gestärkt, wor- halb ihres Territoriums zu akkommodieren.
aus sich entsprechend auch neue Themen und In den dezentralisierten Staaten stellen sich
Interessengebiete in der Föderalismusfor- Fragen nach der Allokation beziehungswei-
schung entwickelt haben. Diese Veränderun- se Abgrenzung von Kompetenzen zwischen
gen lassen es angeraten erscheinen, eine erneu- Ebenen, nach der Aufgaben- und Finanzver-
te Bestandsaufnahme zu versuchen. teilung und der Etablierung funktionierender

Die realweltlichen Veränderungen der ver-


gangenen eineinhalb Jahrzehnte, die sich auch ❙1  Arthur Benz/Gerhard Lehmbruch (Hrsg.), Föde-
in der Föderalismusforschung niedergeschla- ralismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher
und vergleichender Perspektive, Wiesbaden 2002.
gen haben, lassen sich grob in vier Themen-
❙2  André Kaiser, Föderalismus. Renaissance eines
komplexe gruppieren. Für die deutsche Fö- politischen Ordnungsprinzips?, in: Neue Politische
deralismusforschung von vordergründigem Literatur, 49 (2004) 1, S. 85–113.
Interesse sind die drei Wellen der Föderalis- ❙3  APuZ, (2005) 13–14.
musreform, die wesentliche föderale Insti- ❙4  Das Forum of Federations listet aktuell 25 „echte“
tutionen und Regelkomplexe reformiert ha- Föderalstaaten; www.forumfed.org/en/federalism/
federalismbycountry.php (26. 6. 2015). Allerdings
ben. Diese werden im ersten Abschnitt dieses
werden in der vergleichenden Föderalismusfor-
Beitrags behandelt. Insbesondere ist hierbei schung deutlich mehr Staaten vergleichend unter-
festzuhalten, dass sich die normativen Ori- sucht, die föderale oder quasi-föderale Staatsarchi-
entierungen im Verlauf der einzelnen Reform- tekturen aufweisen.

APuZ 28–30/2015 9
intergouvernementaler Beziehungen. In mul- nen und Akteure. ❙9 Es gibt eine lange deutsche
tinationalen Staaten stellt sich vor allem die Tradition der Untersuchung seiner Arbeits-
Frage nach der Integrationskraft föderaler weise und Strukturen, die auch für die ver-
Institutionen, nach dem angemessenen Ver- gleichende Föderalismusforschung befruch-
hältnis von Einheit und Vielfalt, von Teilha- tend war. Hier sind als Exponenten an erster
be und Autonomie. Im Verhältnis zwischen Stelle Fritz W. Scharpf mit seinen Analysen
Zentrum und Peripherie kommt insbesonde- zur Politikverflechtung zu nennen, Gerhard
re Parteien und Parteiensystemen, die dazu Lehmbruch mit seiner „Strukturbruchthese“
beitragen können, Konflikte zu überbrü- sowie Arthur Benz mit seinen neueren Studi-
cken oder zu verschärfen, eine herausgehobe- en zu Mehrebenen-Governance. ❙10
ne Bedeutung zu. Das Wechselspiel zwischen
Dezentralisierung, Multinationalismus und Nachdem mit der Wiedervereinigung ge-
Parteiensystem ist ein jüngeres und florieren- wissermaßen eine erdbebenartige Verände-
des Forschungsfeld, das im dritten Abschnitt rung der föderalen Strukturen in Deutsch-
dieses Beitrags vorgestellt wird. land erfolgt war, ❙11 ließ man zunächst ein
Jahrzehnt mit Anpassungsprozessen ver-
Die jüngste Entwicklung in der Föderalis- streichen, ehe man sich zu Beginn des neu-
musforschung schließlich lässt sich mit dem en Jahrtausends an formale Reformen der in-
Oberbegriff der federal dynamics umschrei- stitutionellen Ordnung wagte. Seitdem ist ein
ben. ❙5 Angesichts der Beobachtung perma- gutes Jahrzehnt mit quasi permanenten föde-
nenter Veränderungen von Institutionen, ralen Reformprozessen ins Land gegangen,
Prozessen und Kompetenzverteilungen auf die sich in drei Wellen untergliedern lassen.
Verfassungs- und subkonstitutioneller Ebe-
ne in etablierten und neuen, in nationalen Die erste Phase erstreckte sich von der Ein-
und supranationalen Mehrebenensystemen setzung der ersten föderalen Reformkommis-
stellen sich Fragen nach den Ursachen, Me- sion zur Reform der Bund-Länder-Beziehun-
chanismen und Konsequenzen dieser Verän- gen („Föko I“) 2003 bis zur Verabschiedung
derungsprozesse. Diese Themen werden im einer Reihe von verfassungsändernden Ge-
vierten Abschnitt dieses Beitrags vorgestellt. setzen 2006. ❙12 Inhaltlich wurden durch diese
Verfassungsreform vor allem eine Entflech-
tung der Gesetzgebungskompetenzen er-
Drei Wellen der Föderalismusreform reicht und einige Bestandteile der Gemein-
in Deutschland schaftsaufgaben rückgeführt. ❙13

Deutschland gilt als einer der etablierten Fö-


❙9  Vgl. Sabine Kropp, Kooperativer Föderalismus
deralstaaten des Coming-together-Typus nach und Politikverflechtung, Wiesbaden 2009.
der Typologie von Alfred Stepan. ❙6 Er ist ge- ❙10  Vgl. Fritz W. Scharpf, Politikverflechtung. Theo-
kennzeichnet durch die föderale Zusammen- rie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der
arbeit der Exekutiven, ❙7 geringe regionale Bundesrepublik Deutschland, Kronberg 1976; ders., The
Unterschiede in Rechts- und Lebensverhält- JDT Model: Context and Extensions, in: Gerda Falkner
(Hrsg.), The EU’s Decision Traps: Comparing Policies,
nissen ❙8 sowie – damit einhergehend – einer
Oxford 2011, S. 217–236; Gerhard Lehmbruch, Partei-
engen Verflechtung der Ebenen, Institutio- enwettbewerb im Bundesstaat, Opladen 2000; Arthur
Benz, Politik in Mehrebenensystemen, Wiesbaden 2009.
❙11  Vgl. Wolfgang Renzsch, Zur Finanzierung der
❙5  Vgl. Arthur Benz/Jörg Broschek (Hrsg.), Federal deutschen Einheit: 20 Jahre danach – Kontinuitäten
Dynamics, Oxford 2013. und Paradigmenwechsel, in: Europäisches Zentrum
❙6  Vgl. Alfred Stepan, Federalism and Democracy: für Föderalismusforschung (Hrsg.), Jahrbuch des Fö-
Beyond the U. S. Model, in: Journal of Democracy, 10 deralismus 2010, Baden-Baden 2010, S. 96–116.
(1999) 4, S. 19–34. ❙12  Vgl. Hans-Peter Schneider, Der neue deutsche
❙7  Vgl. Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderati- Bundesstaat. Bericht über die Umsetzung der Fö-
ve System der Bundesrepublik Deutschland, Opla- deralismusreform I, Baden-Baden 2013; Christian
den 1998; Arthur Benz, Der deutsche Föderalismus, Starck, Föderalismusreform, München 2007.
in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hrsg.), ❙13  Vgl. Rudolf Hrbek/Annegret Eppler (Hrsg.), Die
50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1999, unvollendete Föderalismus-Reform, Tübingen 2005;
S. 135–153. Fritz W. Scharpf, Recht und Politik in der Reform des
❙8  Vgl. Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, deutschen Föderalismus, in: Michael Becker/Ruth
Karlsruhe 1962; Heidrun Abromeit, Der verkappte Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, Wiesbaden
Einheitsstaat, Opladen 1992. 2006, S. 306–332.

10 APuZ 28–30/2015
Getreu dem Motto „Nach der Reform ist wieder mehr vertikale Solidarität eingefor-
vor der Reform“ wurde bereits 2006 eine zwei- dert, was nicht erstaunt, wenn man berück-
te Kommission zur Reform der Bund-Länder- sichtigt, dass explodierende Sozialkosten und
Finanzbeziehungen eingesetzt („Föko II“), eine drohende Schuldenbremse den Ländern
die von 2007 bis 2009 tagte und Vorschlä- ihre begrenzten finanziellen Handlungsmög-
ge für weitere verfassungsändernde Geset- lichkeiten deutlich vor Augen führen. ❙16
ze erließ, die 2009 verabschiedet wurden. ❙14
Da die Föko II sich zeitlich mit der europä- Dementsprechend fokussierte die wissen-
ischen Wirtschafts-, Finanz- und Schulden- schaftliche Rezeption der Reform ebenfalls
krise überlappte, verschob sich der Fokus der auf die verschiedenen Aspekte der jeweili-
inhaltlichen Arbeit auf die Einrichtung einer gen Reformprozesse. Die normativen Prä-
deutschen Schuldenbremse. ❙15 Außerdem wur- missen, insbesondere das Für und Wider des
den – quasi im Nebenschluss – einige neue Wettbewerbsföderalismus, wurden ausgie-
Gemeinschaftsaufgaben zur verbesserten Ver- big im Vorfeld der ersten Reformwelle dis-
waltungszusammenarbeit eingeführt. kutiert, ❙17 wohingegen ideologische Fragen
bei der zweiten und dritten Welle kaum ex-
Die immer noch ungelöste Reform der plizit thematisiert wurden. Stattdessen stan-
Bund-Länder-Finanzbeziehungen bildet den den die technischen Details der Verfassungs-
inhaltlichen Bestandteil der dritten Reform- änderungen im Vordergrund: Die Reform der
welle. Auf die Einsetzung einer dritten Re- Gesetzgebungskompetenzen und ihre mögli-
formkommission wurde dieses Mal jedoch chen Konsequenzen während der ersten Wel-
verzichtet. Stattdessen werden seit Ende 2014 le zogen eine ganze Reihe von Studien nach
im Rahmen der etablierten Gremien der in- sich; ❙18 die Schuldenbremse und in diesem
tergouvernementalen Beziehungen, nament- Zusammenhang die Einführung des Stabili-
lich in der Ministerpräsidentenkonferenz un- tätsrates wurden im Zuge der zweiten Welle
terstützt durch die Finanzministerkonferenz, intensiv thematisiert; ❙19 auf technische Fragen
Verhandlungen für eine Reform der föderalen des Finanzausgleichssystems fokussiert auch
Finanzbeziehungen geführt, die – offiziellen
Verlautbarungen zufolge – noch in der lau-
❙16  Vgl. Hans-Günther Henneke, Neuordnung der
fenden Legislaturperiode, also bis 2016, zum Aufgaben und der zugehörigen Finanzströme: Beispie-
Abschluss gebracht werden soll. le rund ums SGB II & XII, in: Martin Junkernheinrich/
Joachim Lange (Hrsg.), Föderale Finanzen. Auf dem
Die drei Reformwellen bieten in ihrer Ge- langen Weg zu einer Reform, Loccum 2014, S. 65–78.
samtschau Einblick in die Dynamik eines ❙17  Vgl. Uwe Thaysen, Die Konventsbewegung zur
Föderalismusreform in Deutschland, in: Zeitschrift
etablierten föderalen Systems. In jeder Wel-
für Parlamentsfragen (ZParl), 35 (2004) 3, S. 513–539;
le wurden unterschiedliche Inhalte unter Ursula Münch/Tanja Zinterer, Reform der Aufgaben-
verschiedenen ideologischen Vorgaben ver- teilung zwischen Bund und Ländern: Eine Synopse
handelt. Zielte während der ersten Welle die verschiedener Reformansätze zur Stärkung der Län-
Reform der Gesetzgebungskompetenzen der 1985–2000, in: ZParl, 31 (2000) 3, S. 657–680.
noch auf die Verwirklichung eines stärkeren ❙18  Vgl. Marcus Höreth, Zur Zustimmungsbedürf-
tigkeit von Bundesgesetzen: Eine kritische Bilanz
Wettbewerbsföderalismus, forderten die Län-
nach einem Jahr Föderalismusreform I, in: ZParl, 38
der mehr Autonomie und Subsidiarität, stand (2007) 4, S. 712–734; Harald Georgii/Sarab Borhani-
im Zuge der zweiten Welle die Schuldenbrem- an, Zustimmungsgesetze nach der Föderalismusre-
se unter dem Diktat der deutschen Europapo- form, Berlin 2006; Simone Burkhart/Philip Manow/
litik und zielte auf Konsolidierung und Aus- Daniel Ziblatt, A More Efficient and Accountab-
terität. In der dritten Welle wird von den le Federalism? An Analysis of the Consequences of
Germany’s 2006 Constitutional Reform, in: German
Ländern – entgegengesetzt zur ersten Welle –
Politics, 17 (2008) 4, S. 522–540; Horst Risse, Zur
Entwicklung der Zustimmungsbedürftigkeit von
❙14  Vgl. Ralf Thomas Baus/Thomas Fischer/Rudolf Bundesgesetzen nach der Föderalismusreform 2006,
Hrbek (Hrsg.), Föderalismusreform II: Weichenstel- in: ZParl, 38 (2007) 4, S. 707–711.
lungen für eine Neuordnung der Finanzbeziehun- ❙19  Vgl. R. Th. Baus/Th. Fischer/​R . Hrbek (Anm. 14);
gen im deutschen Bundesstaat, Baden-Baden 2007; Lars P. Feld, Sinnhaftigkeit und Effektivität der deut-
Klaus Detterbeck/Wolfgang Renzsch/Stefan Schieren schen Schuldenbremse, in: Perspektiven der Wirt-
(Hrsg.), Föderalismus in Deutschland, München 2010. schaftspolitik, 11 (2010) 3, S. 226–245; Stefan Ko-
❙15  Vgl. Christian Kastrop/Gisela Meister-­Scheufelen/​ rioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten
Margaretha Sudhof (Hrsg.), Die neuen Schulden­ Stufe der Föderalismusreform, in: Juristenzeitung,
regeln im Grundgesetz, Berlin 2010. 64 (2009) 14, S. 729–737.

APuZ 28–30/2015 11
die Debatte, die nun die dritte Welle beglei- Sinne der Betrachtung der EU als Mehrebe-
tet. ❙20 Analysen der Reformprozesse an sich nensystem ist aus Sicht der Föderalismusfor-
ziel(t)en insbesondere auf die Frage, warum schung vor allem das Zusammenspiel der ver-
letztlich trotz des großen Reformaufwandes schiedenen Ebenen interessant, und zwar in
nur relativ geringe und unspektakuläre Ver- beiden Richtungen und in allen drei Dimen-
änderungen erreicht wurden. ❙21 Das Scharpf- sionen des Politikbegriffs.
sche Konzept der Politikverflechtungsfal-
le war hierbei die am häufigsten verwendete In institutioneller Hinsicht (polity) stellen
­Erklärung. ❙22 sich Fragen nach der Allokation beziehungs-
weise Verlagerung von Kompetenzen zwi-
schen den Ebenen. Lässt sich eine optimale
Schnittstellen von Europäischer Mehr- Kompetenzverteilung theoretisch begrün-
ebenen- und Föderalismusforschung den? Wie lassen sich zentripetale und zentri-
fugale Dynamiken erklären und welche Fol-
Ob die EU ein legitimer Untersuchungsge- gen haben sie? ❙25 Das anstehende britische
genstand der Föderalismusforschung sei, war Referendum über den Austritt des Vereinig-
lange Zeit umstritten, da unklar war (und wei- ten Königreiches aus der EU demonstriert
terhin ist), ob die EU ein Staatenbund ist, ein in aller Deutlichkeit, dass die jahrzehntelan-
Föderalstaat oder ein Gebilde sui generis. ❙23 ge Zentralisierungsdynamik keine Einbahn-
Mittlerweile orientiert sich das föderale For- straße ist.
schungsinteresse jedoch verstärkt an struk-
turellen Fragen, etwa wie die Kompetenzen Hinsichtlich des Policy-Prozesses wird un-
zwischen den Ebenen verteilt sein müssen tersucht, wie in den Phasen des Policy-Zy­
oder wie Akteure auf verschiedenen Ebe- klus Akteure verschiedener Ebenen zusam-
nen im Prozess der Institutionenentwicklung menwirken, wo welche Verantwortlichkeiten
oder des policy-making interagieren. Diese liegen und wie Implementationsmuster po-
Perspektive wird in der Multi-level-gover- litikfeldspezifisch variieren. ❙26 Auch Steue-
nance-Forschung eingenommen. ❙24 In diesem rungsinstrumente variieren nach Politikfel-
dern. Insbesondere die Methode der offenen
❙20  Vgl. René Geißler/Felix Knüpling/Sabine Kropp/ Koordinierung (MoK) als weiches Steue-
Joachim Wieland (Hrsg.), Das Teilen beherrschen. rungsinstrument, das über „naming, shaming
Analysen zur Reform des Finanzausgleichs 2019, Ba- and blaming“ die Wirtschafts-, Bildungs-
den-Baden 2015. und Beschäftigungspolitik der Nationalstaa-
❙21  Vgl. Roland Sturm, More Courageous than Ex- ten steuern sollte, wurde ein Jahrzehnt lang
pected? The 2006 Reform of German Federalism,
intensiv wissenschaftlich begleitet und äu-
in: Jan Erk/Wilfried Swenden (Hrsg.), New Direc-
tions in Federalism Studies, Abingdon 2010, S. 34– ßerst kritisch diskutiert. ❙27
49; H.-P. Schneider (Anm. 12); Carolyn Moore/
Wade Jacoby/Arthur B. Gunlicks, German Federa- Level Governance, New York 2004; Arthur Benz,
lism in Transition?, in: German Politics, 17 (2008) Multi-Level Governance, in: ders. et al. (Hrsg.),
4, S. 393–407; Arthur Benz, Kein Ausweg aus der Handbuch Governance, Wiesbaden 2007, S. 297–310;
Politikverflechtung? Warum die Bundesstaatskom- Henrik Enderlein/Sonja Wälti/Michael Zürn (Hrsg.),
mission scheiterte, aber nicht scheitern musste, in: Handbook on Multi-Level Governance, Cheltenham
Politische Vierteljahresschrift, 46 (2005) 2, S. 204– u. a. 2010; Simona Piattoni, The Theory of Multi-Le-
214. vel Governance, Oxford 2010.
❙22  Vgl. Fritz W. Scharpf, Föderalismusreform. Kein ❙25  Vgl. Arthur Benz/Christina Zimmer, The EU’s
Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle?, Frank­ Competences: The „Vertical“ Perspective on the
furt/M. 2009; Arthur Benz, From Joint-Decision Multi-Level System, in: Living Review of European
Traps to Over-Regulated Federalism – Adverse Ef- Governance, 5 (2012) 1, S. 1–31.
fects of a Successful Constitutional Reform, in: Ger- ❙26  Für einen Überblick vgl. Kevin Featherstone/
man Politics, 17 (2008) 4, S. 440–456; Katrin Auel, Claudio M. Radaelli, The Politics of Europeanizati-
Still no Exit from the Joint Decision Trap: The Ger- on, Oxford 2003.
man Federal Reform(s), in: ebd., S. 424–439. ❙27  Vgl. Susana Borrás/Kerstin Jacobsson, The Open
❙23  Vgl. Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Method of Coordination and New Governance Pat-
Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: terns in the EU, in: Journal of European Public Po-
dies. (Hrsg.), Europäische Integration, Wiesbaden licy (JEPP), 11 (2004) 2, S. 185–208; Martin Heiden-
1996, S. 18. reich/Jonathan Zeitlin (Hrsg.), Changing European
❙24  Vgl. Liesbet Hooghe/Gary Marks, Multi-Le- Employment and Welfare Regimes: The Influence of
vel Governance and European Integration, Lanham the Open Method of Coordination on National Re-
2001; Ian Bache/Matthew Flinders (Hrsg.), Multi- forms, London u. a. 2009.

12 APuZ 28–30/2015
Unter dem Politics-Aspekt schließlich wird Insgesamt zeigt sich in der EU-Mehrebe-
einerseits untersucht, wie nationalstaatliche nenforschung und insbesondere in der For-
Akteure auf die Entscheidungsfindung auf eu- schung zu multi-level governance eine star-
ropäischer Ebene Einfluss nehmen. ❙28 Die Eu- ke Differenzierung der Fragestellungen und
ropäisierungsforschung andererseits unter- Erklärungsansätze, um der Komplexität des
sucht die Auswirkungen der fortschreitenden Forschungsgegenstandes gerecht zu werden,
Normierung nationalstaatlichen Handelns wohingegen die Großtheorien tendenziell an
durch die europäische Ebene auf nationale Erklärungskraft einbüßen. ❙31
Machtstrukturen. ❙29

Hinsichtlich aller drei Dimensionen – poli- Dezentralisierungs-


ty, policy und politics – bewirkte die europä- und Territorial-Politics-Forschung
ische Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise
ab 2008 einen deutlichen Veränderungsschub. Die Vielfalt der Staatsarchitekturen, die
Auf Polity-Ebene lässt sich eine (Re-)Zentra- politische Macht territorial aufteilen, hat
lisierung von Kompetenzen hin zu den euro- in den vergangenen Jahrzehnten deutlich
päischen Institutionen (namentlich Kommissi- zugenommen. In Westeuropa hat sich ein
on und Europäische Zentralbank) beobachten. Großteil der traditionell zentralstaatlich
Diejenigen Steuerungsinstrumente, die im aufgebauten Staaten regionalisiert und we-
Rahmen der MoK eingeführt worden waren sentliche politische Kompetenzen an his-
(Policy-Dimension), wurden auf die nationale torisch bestehende regionale Einheiten ab-
Haushalts- und Fiskalpolitik erweitert und mit gegeben. Der Prozess war teilweise durch
größerer Verbindlichkeit ausgestattet. Die Ver- ein Bemühen um Legitimationszugewinn
schärfung der europäischen Schuldenbremse für die bestehenden politischen Strukturen
im Rahmen des Fiskalvertrages sowie die Ein- getrieben, teilweise durch die Programma-
führung des Europäischen Semesters und des tik der EU für ein „Europa der Regionen“
Two-Pack infolge des reformierten Stabilitäts- befördert und führte letztlich in sehr unter-
und Wachstumspaktes bewirkten außerdem schiedlichem Ausmaß zu einer Übertragung
einen weiteren Schub an Zentralisierung nati- von Kompetenzen. ❙32 Die generelle Zunah-
onalstaatlicher Strukturen (Politics-Dimensi- me an regionaler Autonomie sowie die Un-
on), vor allem zugunsten des Bundeskanzler- terschiede zwischen Regionen im Einzel-
amtes und des Bundes­finanz­ministeriums. ❙30 nen werden anschaulich durch den Regional
Authority Index abgebildet. ❙33 In Spanien,
dem Vereinigten Königreich und Belgien
❙28  Für den Einfluss von Regierungen auf europäische
führte die Dezentralisierung der Kompe-
Politikgestaltung vgl. bspw. Frank Schimmelfennig,
Liberal Intergovernmentalism and the Euro Area tenzen den Nationalstaat bis an den Rand
Crisis, in: JEPP, 22 (2015) 2, S. 177–195; für Parla- des Zerfalls, wie die wiederholten Regie-
mente vgl. John O’Brennan/Tapio Raunio, National rungskrisen in Belgien sowie die Unabhän-
Parliaments within the Enlarged European Union, gigkeitsreferenda im Herbst 2014 in Schott-
London 2007; Katrin Auel/Arthur Benz, The Euro- land und Katalonien zeigen. Diese Prozesse
peanisation of Parliamentary Democracy, London
stellten das bestehende Verständnis für die
2006, sowie Gabriele Abels/Annegret Eppler, Auf
dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus. Funk- Rolle, Leistungsfähigkeit und Grenzen von
tion von Parlamenten im politischen System der EU,
Baden-Baden 2011; für Verbände vgl. Jan Beyers/Rai-
ner Eising/William A. Maloney, Interest Group Po- nationsmechanismen, in: Miriam Hartlapp/Clau-
litics in Europe, London 2013, sowie Heike Klüver, dia Wiesner (Hrsg.), Gewaltenteilung und Demo-
Lobbying in the European Union, Oxford 2013. kratie im Mehrebenensystem der EU, Baden-Baden
❙29  Vgl. Klaus H. Goetz/Simon Hix, Europeanised (i. E.).
Politics?, London 2001; Susana Borrás/Guy Peters, ❙31  Vgl. Fritz W. Scharpf, Notes Toward a Theory
The Lisbon Strategy’s Empowerment of Core Execu- of Multilevel Governing in Europe, in: Scandina-
tives: Centralizing and Politicizing EU National Co- vian Political Studies, 24 (2001) 1, S. 1–26; A. Benz/​
ordination, in: JEPP, 18 (2011) 4, S. 525–545; Hussein C. Zimmer (Anm. 25).
Kassim/Guy Peters/Vincent Wright, The National ❙32  Vgl. Michael Keating, The New Regionalism in
Co-ordination of EU Policy. The Domestic Level, Western Europe. Territorial Restructuring and Poli-
Oxford 2000. tical Change, Cheltenham 2000.
❙30  Vgl. Nathalie Behnke, Die Europäisierung na- ❙33  Vgl. Gary Marks/Liesbet Hooghe/Arjan H. Scha-
tionaler Verwaltungen – der Einfluss von EU 2020 kel, Patterns of Regional Authority, in: Regional and
und Two-Pack auf Machtverhältnisse und Koordi- Federal Studies, 18 (2008) 2–3, S. 167–181.

APuZ 28–30/2015 13
Mehrebenenordnungen sowie für den Pri- kriegen erlebt hatten und nun in der Phase
mat der territorialen Integrität bestehender des Aufbaus nach den Konflikten langfris-
Ordnungen grundsätzlich ­i nfrage. ❙34 tig tragfähige Staatsordnungen suchten. Die-
se Entwicklungen warfen die Frage auf, wie
Zwischen der Hoffnung auf und dem Zwei- wirkmächtig föderale Arrangements tatsäch-
fel an der Leistungsfähigkeit föderaler Ord- lich sind, um Frieden und Stabilität in kom-
nungsmuster, um vielfältige Gruppen in mul- plexen politischen Systemen zu sichern, und
tinationalen oder gespaltenen Gesellschaften wo umgekehrt die Grenzen föderaler Institu-
zu integrieren, ❙35 schwankt man auch beim tionen liegen. Ob allerdings föderale Struk-
Blick auf den Rest der Welt. Zwar lassen sich turen tatsächlich ethnische Konflikte effek-
in der Tat infolge politischer Neuordnungs- tiv befrieden können, darüber herrscht in der
prozesse weltweit Experimente mit föderalen ländervergleichenden Forschung immer noch
Ordnungsmustern beobachten. ❙36 Im Sinne des Zweifel. ❙41
Konzepts des Holding-together-Föderalismus
nach Alfred Stepan verband man hier mit der Eine besondere Aufmerksamkeit kommt
Einführung föderaler Strukturen häufig das in jüngerer Zeit Überlegungen zu nicht-ter-
Ziel, staatliche Ordnungen dadurch zu sta- ritorialen Formen der Akkommodierung zu.
bilisieren, dass man auf dem staatlichen Ter- Folgt man Will Kymlickas Unterscheidung
ritorium lebende unterschiedliche ethnische zwischen nationalen, indigenen und migrier-
Gruppen durch Machtteilung und Machtbetei- ten Minderheiten, ❙42 wird deutlich, dass eine
ligung ❙37 in Verbindung mit der Zuerkennung auf ein Territorium bezogene Zuerkennung
autonomer Entscheidungssphären ❙38 akkom- von Autonomierechten zwar möglicherweise
modierte und dadurch die Konflikte eindämm- die Bedürfnisse von nationalen oder indigenen
te. ❙39 Dies war besonders in Ländern relevant, Gruppen befriedigt, die regional stark kon-
die infolge ethnischer Konflikte gewalttätige zentriert leben. Häufig leben diese Gruppen –
Auseinandersetzungen ❙40 bis hin zu Bürger- und insbesondere Migrantinnen und Migran-
ten – aber auch über das Territorium eines
Staates verstreut, sodass die Schaffung immer
❙34  Vgl. Rainer Bauböck, Why Stay Together? A Plu-
kleinerer territorialer Einheiten mit dem Ziel
ralist Approach to Secession and Federation, in: Will
Kymlicka/Wayne Norman (Hrsg.), Citizenship in der „gruppenreinen“ Sortierung keine Lö-
Diverse Societies, Oxford–New York 2000. sung verspricht. Möglichkeiten zum Umgang
❙35  Vgl. Alain-G. Gagnon/James Tully (Hrsg.), Multi- mit der Problematik bieten dann Modelle der
national Democracies, Cambridge 2001; Sujit Choudry nicht-territorialen Akkommodierung, bei-
(Hrsg.), Constitutional Design for Divided Societies: spielsweise durch die Berücksichtigung kul-
Integration or Accommodation?, Oxford 2008.
tureller Besonderheiten in der nationalen Ge-
❙36  Vgl. Edward L. Gibson (Hrsg.), Federalism and
Democracy in Latin America, Baltimore 2004; Dawn setzgebung etwa durch Feiertagsregelungen,
Brancati, Decentralization: Fueling the Fire or Dam- Gebetsräume und -zeiten oder eine Abschwä-
pening the Flames of Ethnic Conflict an Secessio- chung der Helmpflicht auf dem Motorrad für
nism?, in: International Organization, 60 (2006) 3, Turbanträger oder gar die Beschäftigung von
S. 651–685; Jan Erk/Lawrence Anderson, The Para- Lehrern für indigene Sprachen oder Minder-
dox of Federalism: Does Self-Rule Accommodate or
heitenreligionen an staatlichen Schulen be-
Exacerbate Ethnic Divisions?, in: Regional and Fede-
ral Studies, 19 (2009) 2, S. 191–202. ziehungsweise von traditionellen Heilern an
❙37  Vgl. Arend Lijphart, Constitutional Design for staatlichen Krankenhäusern. ❙43
Divided Societies, in: Journal of Democracy, 15
(2004) 2, S. 96–109; Donald L. Horowitz, The Chal-
lenge of Ethnic Conflict: Democracy in Divided So- and Ethnonationalist Civil War: A Global Compari-
cieties, in: Journal of Democracy, 4 (1993) 4, S. 18–38. son, in: American Political Science Review, 105 (2011)
❙38  Vgl. Will Kymlicka, Multicultural Odysseys. Na- 3, S. 478–495.
vigating the New International Politics of Diversity, ❙41  Vgl. D. Brancati (Anm. 36); J. Erk/​L . Anderson
Oxford 2007. (Anm. 36); Robert Agranoff, Accomodating Diversi-
❙39  Vgl. John McGarry/Brendan O’Leary/Richard ty: Asymmetry in Federal States, Baden-Baden 1999.
Simeon, Integration or Accommodation? The Endu- ❙42  Vgl. den von Will Kymlicka entwickelten Multi-
ring Debate in Conflict Regulation, in: Sujit Choudry culturalism Policy Index, www.queensu.ca/mcp/in-
(Hrsg.), Constitutional Design for Divided Societies, dex.html (10. 6. 2015), ders., Multiculturalism: Suc-
Oxford 2008, S. 41–88. cess, Failure, and the Future, Washington D. C. 2012.
❙40  Vgl. Ted R. Gurr, Minorities at Risk. Washington ❙43  Vgl. John Coakley, Approaches to the Resoluti-
D. C. 1993; Lars-Erik Cederman/Nils B. Weidmann/ on of Ethnic Conflict: The Strategy of Non-Terri-
Kristian Skrede Gleditsch, Horizontal Inequalities torial Autonomy, in: International Political Science

14 APuZ 28–30/2015
Dezentralisierungsprozesse und Forderun- Territoriale Dynamiken
gen nach mehr regionaler Autonomie werden
in den meisten Staaten maßgeblich von poli- Aus der Beobachtung und Analyse dieser
tischen Parteien beeinflusst. Regionalistische multiplen Veränderungsbewegungen folg-
oder nationalistische Parteien können zentri- te die Einsicht, dass Wandel, Kontinuität
fugale Tendenzen erzeugen oder verstärken, und Stabilität eng zusammenhängen. Mit
indem sie beispielsweise partikularistische dem Ziel, diese Zusammenhänge besser zu
Gruppenforderungen artikulieren oder ver- verstehen, hat sich als jüngere Forschungs-
suchen, mit separatistischen oder xenopho- richtung die Untersuchung territorialer Dy-
ben Wahlprogrammen Stimmen zu gewin- namiken herausgebildet. ❙48 Eine Theorie ter-
nen. Ob Parteien im Sinne von policy seekers ritorialer Dynamiken soll es ermöglichen,
eher Sprachrohre von Bedürfnissen nach re- Ursachen, Verläufe und Konsequenzen von
gionaler Autonomie oder nach Abspaltung föderalen Veränderungsprozessen auf un-
sind, oder ob sie im Sinne von vote seekers terschiedlichen Ebenen zu analysieren und
auf eine Erfolg versprechende Programma- zu erklären.
tik mit aufspringen oder diese sogar erst sel-
ber schaffen, ist empirisch häufig nicht klar Diese Veränderungen können sich, wie
zu trennen. ❙44 oben beschrieben, zum einen auf die insti-
tutionelle Ordnung föderaler Architekturen
Umgekehrt können vertikal integrierte beziehen. Kompetenzallokationen, Vetoposi-
Parteiensysteme zentrifugale Tendenzen in tionen, Beteiligungsverfahren oder garantier-
Föderalstaaten abfedern, indem sie über die te Teilhaberechte können auf Verfassungs-
Regionalorganisationen hinweg nationale oder subkonstitutioneller Ebene verankert
Programmatiken propagieren oder separatis- sein und sind dementsprechend mehr oder
tischen Parteien ernstzunehmende gemäßig- weniger einfach zu verändern. Vergleichen-
te Alternativen entgegensetzen. ❙45 Schließlich de Untersuchungen zu Verfassungsreformen
müssen auch Parteien selbst in ihrer internen haben aber gezeigt, dass Föderalstaaten hier
Struktur auf eine stärkere Regionalisierung nicht veränderungsresistenter sind als Zen­
politischer Kompetenzen reagieren, beispiels- tral­staaten. ❙49 Auch wurde gezeigt, dass Ver-
weise indem sie ihren Regionalverbänden änderungsprozesse zwischen Ebenen der
mehr Autonomie bei der Setzung politischer Normenhierarchie wandern und formale
Schwerpunkte oder bei der Kandidatenauf- Verfassungsänderungen sich mit einfachge-
stellung zugestehen. ❙46 Die Territorial-party- setzlichen Anpassungen oder auch der Um-
politics-Forschung befasst sich empirisch mit interpretation von Verfassungstext wechsel-
diesem Zusammenhang zwischen Parteipro- seitig ergänzen. ❙50
grammatik, Parteienwettbewerb und institu-
tioneller ­Dezentralisierung. ❙47 ty Politics, 1. 11. 2012 (online); Bonnie Meguid, Com-
petition Between Unequals: The Role of Mainstream
Party Strategy in Niche Party Success, in: American
Review, 15 (1994) 3, S. 297–314; Rainer Bauböck, Ter- Political Science Review, 99 (2005) 3, S. 347–359.
ritorial or Cultural Autonomy for National Mino- ❙48  Vgl. A. Benz/​J. Broschek (Anm. 5).
rities?, in: Alain Dieckhoff (Hrsg.), The Politics of ❙49  Vgl. Astrid Lorenz, Verfassungsänderungen in fö-
Belonging. Nationalism, Liberalism, and Pluralism, deralen und unitarischen Demokratien im Vergleich.
Lanham 2004, S. 221–257. Befunde einer empirischen Analyse für den Zeitraum
❙44  Vgl. Emanuele Massetti/Arjan H. Schakel, Bet- von 1945 bis 2004, in: Julia von Blumenthal/Stephan
ween Autonomy and Secession. Decentralization and Bröchler (Hrsg.), Föderalismusreform in Deutsch-
Regionalist Party Ideological Radicalism, in: Party land. Bilanz und Perspektiven im internationalen
Politics, 16.12.2013 (online). Vergleich, Wiesbaden 2010, S. 13–35.
❙45  Vgl. Lori Thorlakson, Patterns of Party Integra- ❙50  Vgl. Nathalie Behnke/Arthur Benz, The Politics
tion, Influence and Autonomy in Seven Federations, of Constitutional Change Between Reform and Evo-
in: Party Politics, 15 (2009) 2, S. 157–177. lution, in: Publius, 39 (2009) 2, S. 213–240; Arthur
❙46  Vgl. Klaus Detterbeck/Eve Hepburn, Party Poli- Benz/César Colino, Constitutional Change in Fe-
tics in Multi-Level Systems. New Directions in Fede- derations – A Framework for Analysis, in: Regional
ralism Studies, London–New York 2010, S. 106–125. and Federal Studies, 21 (2011) 4–5, S. 381–406; Tho-
❙47  Vgl. Wilfried Swenden/Bart Maddens (Hrsg.), mas Hueglin, Verfassung – Verfassungsänderung –
Territorial Party Politics in Western Europe, New Verfassungsflexibilität. Anmerkungen zum kanadi-
York 2009; Christina Isabel Zuber/Edina Szöscik, schen Sonderfall, in: Peter Bußjäger/Felix Knüpling
EPAC – a New Dataset on Ethnonationalism in Par- (Hrsg.), Können Verfassungsreformen gelingen?,
ty Competition in 22 European Democracies, in: Par- Wien 2008, S. 49–64.

APuZ 28–30/2015 15
Veränderungen beziehen sich zum zweiten beiden Ansätzen hat sich zur Analyse von
auf Verschiebungen von Machtpositionen, die Dynamiken in jüngerer Zeit besonders der
formaler oder informaler Art sein können. ❙51 historische Institutionalismus als fruchtbar
Relative Veränderungen in der territorialen erwiesen. Mit der Betonung der Zeitlichkeit
Ressourcenausstattung oder in Wahlergeb- von Prozessen ❙54 und der analytischen Fokus-
nissen können Akteure mit neuen Machtan- sierung auf asynchrone Veränderungen ver-
sprüchen ausstatten, die Migrationsprozesse schiedener Aspekte eines Systems ❙55 bietet er
von Autorität in Gang setzen und sich ge- Möglichkeiten, die Komplexität der Prozesse
gebenenfalls in institutionellen Änderungen analytisch zu verarbeiten.
niederschlagen. Veränderungen können sich
drittens auch auf die ideologisch-normati- Mit der Entwicklung einer Theorie föde-
ve Fundierung föderaler Ordnungsmuster raler Dynamiken geht schließlich auch die
beziehen. Die Entscheidung, wie viel Viel- Einsicht einher, dass Komplexität von Struk-
falt die Einheit verträgt, wird über Zeit und turen und Prozessen nicht mehr von vornhe-
Raum hinweg unterschiedlich getroffen und rein als mehr oder weniger unabänderliches
äußert sich beispielsweise in der unterschied- Übel angesehen wird. Vielmehr wird zuneh-
lichen Betonung von Konzepten wie koope- mend erkannt, dass reale Verflechtungen nur
rativer versus Wettbewerbsföderalismus. durch komplexe Strukturen und Prozesse an-
gemessen verarbeitet werden können. Zwar
Neben Fragen nach Ursachen und Formen wirken Verflechtungen, Abhängigkeiten und
von Veränderung wird zum einen nach der Vetopositionen bremsend im Politikprozess.
Rolle von verschiedenen Akteuren wie Par- Komplexe Strukturen bieten aber auch ein
teien, Verfassungsgerichten oder der Bevöl- Konfliktlösungspotenzial, wenn Akteure
kerung gefragt, die Reformen anstoßen oder diese strategisch zu nutzen wissen. Zukünf-
verhindern können, zum anderen nach Kon- tige Forschung sollte genauere Einsichten
sequenzen der Veränderungsprozesse für die über die Mechanismen erbringen, wie diese
Stabilität von Systemen und auch für ihre Pro- Konfliktlösungspotenziale in verflochtenen
blemlösungs- und Entscheidungsfähigkeit. Strukturen – beispielsweise über Koppelge-
Auch die Dauerhaftigkeit von Reformen hängt schäfte oder Ausgleichszahlungen – strate-
wiederum wesentlich von den Akteuren ab, in- gisch eingesetzt werden. Dies gilt einerseits
wiefern diese die Reformergebnisse akzeptie- für Parlamente, andererseits für Ministerial-
ren und im politischen Prozess umsetzen. bürokratien in intergouvernementalen Bezie-
hungen. Schließlich sorgen Verflechtungen
Theoretische Ansätze zum Verständnis für ein hohes Maß an Konfliktbearbeitung
und zur Erklärung von Dynamiken speisen und können somit langfristig dazu beitra-
sich aus unterschiedlichen Quellen: Kultu- gen, den gesellschaftlichen Frieden zu wah-
ralistische Theorien betonen die Bedeutung ren. In der positiveren Neubewertung von
einer föderalen Kultur und eines föderalen Verflechtungsstrukturen werden daher nicht
Selbstverständnisses der Gesellschaft, um nur Effizienz-Überlegungen berücksichtigt,
dynamische Veränderungen zu verstehen; ❙52 sondern gleichermaßen Aspekte wie demo-
Rational-choice-Ansätze weisen demgegen- kratische Legitimation und Minderheiten-
über auf die Rolle von Institutionen hin, um schutz als normative Grundprämissen.
zentrifugale oder zentripetale Dynamiken zu
bremsen oder zu befördern. ❙53 Neben diesen

❙51  Vgl. Elisabeth E. Gerber/Ken Kollman, Introduc-


tion – Authority Migration: Defining an Emerging deralism. A Theory of Self-Sustainable Federal Insti-
Research Agenda, in: Political Science and Politics, tutions, Cambridge 2004; Jenna Bednar, The Robust
37 (2004) 3, S. 397–401. Federation. Principles of Design, Cambridge 2009.
❙52  Vgl. William S. Livingston, A Note on the Na- ❙54  Vgl. Paul Pierson, Politics in Time. History, Insti-
ture of Federalism, in: Political Science Quarterly, tutions, and Social Analysis, Princeton 2004.
67 (1952) 1, S. 81–95; Jan Erk, Explaining Federalism. ❙55  Vgl. Jörg Broschek, Conceptualizing and Theori-
State, Society and Congruence in Austria, Belgium, zing Constitutional Change in Federal Systems: In-
Canada, Germany and Switzerland, London 2008. sights from Historical Institutionalism, in: Regional
❙53  Vgl. William H. Riker, Federalism. Origin, Ope- and Federal Studies, 21 (2011) 4–5, S. 539–559.
ration, Significance, Boston 1964; Mikhail Filippov/
Peter C. Ordeshook/Olga Shvetsova, Designing Fe-

16 APuZ 28–30/2015
Henrik Scheller delltheoretische Annahmen standen am An-
fang oft hochgesteckte Forderungen nach ei-
Der „erschöpfte ner Stärkung der Autonomie von Bund und
Ländern durch eine Entflechtung der grund-

Föderalstaat“. gesetzlich normierten Kompetenz- und Fi-


nanzverteilung. Die unzähligen Institutionen
zur ebenenübergreifenden Kooperation zwi-
Reformdebatte
­ und schen Bund, Ländern und Gemeinden gelten
als Konterkarierung der föderalen Idee, die

Verfassungsrealität durch eine Unitarisierung sowie eine Schwä-


chung der Länder und ihrer Parlamente noch

in Deutschland
weiter befördert worden sei. Trotz dieser
Kritik standen am Ende der bisherigen Re-
formprozesse nicht selten Verhandlungskom-
promisse in Form von Detailregelungen mit

S eit der Wiedervereinigung ist die Frage


einer umfassenden Reform der bundes-
staatlichen Ordnung immer wieder Gegen-
Verfassungsrang, über deren begrenzte Trag-
weite auch nicht die politische Rhetorik der
involvierten Akteure hinwegtäuschen konn-
stand politischer De- te. Denn eine weitreichende Abschaffung
Henrik Scheller batten. Der Marathon der diversen Kooperations- und Mischfinan-
Dr. phil., geb. 1974; Vertretung an Föderalismus- und zierungsformen war bisher nicht nur nicht
der Professur für Politik und Finanzausgleichsrefor­ konsensfähig. Vielmehr wurden mit den so-
Regieren in Deutschland und men begann mit der zial- und bildungspolitischen Reformen der
Europa an der Universität Pots- Gemeinsamen Verfas- jüngeren Vergangenheit neue Verbundfi-
dam, August-Bebel-Straße 89, sungskommission von nanzierungen institutionalisiert. Dazu zäh-
14482 Potsdam. Bundestag und Bun- len unter anderem die „Kosten der Unter-
hschelle@uni-potsdam.de desrat 1992 bis 1994 kunft“ im Rahmen des Vierten Gesetzes für
und wurde fortgesetzt moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
mit den ersten gesamtdeutschen Finanzaus- („Hartz IV“), die „Eingliederungshilfe“ be-
gleichsverhandlungen 1995 bis 2001, an die ziehungsweise die Leistungen zur Teilhabe,
sich 2003 bis 2009 zwei Kommissionen zur die drei Hochschulpakte sowie etliche ande-
Ausarbeitung der Föderalismusreformen I re Maßnahmen, die außerhalb des Finanzaus-
und II anschlossen. Seitdem bemühen sich gleichs zwischen Bund und Ländern abgewi-
die Länder um eine Neuordnung des Bund- ckelt ­werden.
Länder-Finanzaus­gleichs, der nach geltender
Rechtslage Ende 2019 ausläuft. Die Verhand- Vor diesem Hintergrund geht der vorlie-
lungen erweisen sich jedoch als zäh: Bisher von gende Beitrag der Frage nach, ob die im aka-
Baden-Württemberg und dem Bund vorge- demischen Diskurs seit Langem anzutref-
legte Kompromissvorschläge wurden von der fende Diagnose, dass es in der deutschen
Mehrheit der Länder abgelehnt und Beratun- Bundesstaatsdebatte nicht an einem Erkennt-
gen mehrfach vertagt. Interesse an einer Re- nis-, sondern an einem Umsetzungsdefi-
form scheinen nur die drei Geberländer Bay- zit mangele, überhaupt zutreffend ist. Die
ern, Baden-Württemberg und Hessen zu ha- wachsende Diskrepanz zwischen den mo-
ben – obwohl sich im Koalitionsvertrag der delltheoretischen Annahmen und Reform-
schwarz-roten Bundesregierung ein Bekennt- vorschlägen, die zum Teil seit Jahrzehnten
nis zu einer Föderalismusreform  III findet. vorgetragen werden, und den sich wandeln-
Die Ambitionen, von denen der darin enthalte- den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
ne Themenkatalog zeugt, sind allerdings einer lässt Zweifel aufkommen und begründet viel-
gewissen Ernüchterung gewichen, da es inzwi- mehr die These von einer „Erschöpfung“ im
schen offenbar nur noch um eine für alle Seiten Bundesstaatsdiskurs. Sollte dies der Fall sein,
belastungsneutrale Modifizierung der Detail- wäre zu fragen, wie sich der daraus resultie-
regelungen des Finanzausgleichssystems geht. rende capability-expectations gap aus hoch-
gesteckten Reformforderungen und inkre-
In der Rückschau wird erkennbar, dass mentellen Anpassungsreformen überwinden
die deutsche Föderalismusdebatte stets dem ließe. Mit einem Verweis auf die Schweiz wird
gleichen Muster folgte: Mit Verweis auf mo- am Ende dieses Beitrags ein ebenso einfacher

APuZ 28–30/2015 17
wie einschneidender Ansatz vorgestellt, um Unvereinbarkeit mit der bestehenden Ord-
der Normativität des Faktischen auch in der nung des Grundgesetzes sowie den Maßstä-
Verfassung Rechnung zu tragen. ben der Karlsruher Verfassungsrechtspre-
chung vorschnell verworfen. Vertreterinnen
und Vertreter aus der Verfassungspraxis
Eigenheiten der deutschen Debatte beklagen hingegen vor allem die Realitäts-
ferne diverser Reformvorschläge aus dem
Schon früh wurden für den deutschen Bundes- akademischen Raum. Hier steht insbeson-
staat Zustandsbeschreibungen geprägt, die bis dere die Finanzwissenschaft in der Kritik,
heute bemüht werden: „unitarischer Bundes- die unter Zugrundelegung rationaler Ver-
staat“, „Politikverflechtung“ beziehungsweise haltensannahmen der politischen Akteu-
„Politikverflechtungsfalle“, „Exekutivfödera­ re Dezentralisierungsmodelle entwickelt,
lismus“, „verkappter Einheitsstaat“, „ver- denen eine Nullpunkt-Hypothese zugrun-
korkster Bundesstaat“ und „Wettbewerbsfö- de liegt. ❙3 Mit einem Analogieschluss wird
deralismus“. ❙1 Diese suggerieren eine Statik dazu das Verhältnis der Gliedstaaten in ei-
und Reformunfähigkeit der föderalen Ord- nem Bundesstaat mit einer marktwirtschaft-
nung. Der Politikwissenschaftler Gerhard lichen Wettbewerbssituation verglichen, in
Lehmbruch hat auf den Grundwiderspruch der verschiedene Anbieter im Interesse der
verwiesen, der zwischen solchen Metaphern Bürgerinnen und Bürger um die Entwick-
und den hochgesteckten Reformforderun- lung der vermeintlich besten politischen Lö-
gen besteht: „Geburtsfehler“ einer födera- sungsansätze buhlen. ❙4 Voraussetzung für
len Ordnung ließen sich nun einmal – wenn eine solche kompetitive Erbringung öffent-
überhaupt – ab einem bestimmten Alter nicht licher Leistungen in einem Bundesstaat ist
mehr beheben. Zudem lägen solchen Charak- die möglichst effiziente Verteilung der ver-
terisierungen die „Vorstellung einer patho- fügbaren Finanzressourcen zwischen den
logischen Abweichung von einem gesunden Ebenen. Stillschweigend wird vorausge-
Normalzustand“ und damit ein Vergleich mit setzt, dass eine grundlegende Neuordnung
einem „Richtigkeits­typus“ zugrunde. ❙2 der staatlichen Aufgaben- und Kompe­tenz­
ord­nung unter allokativen Gesichtspunk-
Als Grund für die wachsende Diskrepanz ten faktisch wie am Reißbrett möglich sei. ❙5
zwischen den Vorstellungen von Wissen- Potenzielle Widerstände und Transaktions-
schaft und Politik bezüglich der Reform- kosten im Zuge der politischen Umsetzung
notwendigkeiten und -möglichkeiten in der entsprechender Konzeptionen werden dabei
scheinbar nicht enden wollenden Diskussi- selten in Betracht gezogen.
on verweist ein Teil der Kritikerinnen und
Kritiker auf eine vermeintliche Verrecht- Auch in der Verfassungsrechtslehre sowie
lichung des Diskurses. So würden innova- in Teilen der Politikwissenschaft wird ein
tive Reformansätze oft mit Blick auf ihre fortbestehender Reformbedarf der födera-
len Ordnung konstatiert und in einer eigen-
tümlichen Ambivalenz nach wie vor an der
❙1  Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karls-
Forderung nach einer grundlegenden Politik-
ruhe 1962; Fritz W. Scharpf, Die Politikverflech-
tungs-Falle: Europäische Integration und deutscher entflechtung festgehalten. Ein Trennföderalis-
Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljah- mus interstaatlichen Typs, wie er für die USA
resschrift, 26 (1985) 4, S. 323–356; ders./Bernd Reis- typisch ist, dient dabei oft explizit oder impli-
sert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung: Theorie zit als normatives Ideal, da alle Bundespartner
und Empirie des kooperativen Föderalismus in der
Bundesrepublik, Kronberg 1976; Fritz Ossenbühl,
Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfi- ❙3  Vgl. André Kaiser, Politiktheoretische Zugänge
nanzausgleichs gem. Art. 107 II GG, Baden-Baden zum Föderalismus, in: Ines Härtel (Hrsg.), Hand-
1984; Heidrun Abromeit, Der verkappte Einheits- buch Föderalismus, Bd. 1: Grundlagen des Föderalis-
staat, Opladen 1993; Roland Lhotta, Der „verkorkste mus und der deutsche Bundesstaat, Heidelberg 2012,
Bundesstaat“: Anmerkungen zur bundesstaatlichen S. 165–178; Rüdiger Pohl, Die Reform der föderalen
Reformdiskussion, in: Zeitschrift für Parlamentsfra- Finanzverfassung: Wünsche und Wirklichkeit, in:
gen, 24 (1993) 1, S. 117–132. Wirtschaftsdienst, 55 (2005) 2, S. 85–92.
❙2  Gerhard Lehmbruch, Der unitarische Bundesstaat ❙4  Vgl. Dieter Brümmerhoff, Finanzwissenschaft,
in Deutschland: Pfadabhängigkeiten und Wandel, in: München 20018, S. 623 ff.
Arthur Benz/ders. (Hrsg.), Föderalismus, Wiesbaden ❙5  Vgl. Charles B. Blankart, Öffentliche Finanzen in
2002, S. 53–110, hier: S. 59. der Demokratie, München 20014, S. 562.

18 APuZ 28–30/2015
in diesem Modell aufgrund klar definierter damit verbundenen Lockerung des bundes-
Kompetenzkataloge über je eigene autonome staatlichen Haftungsverbunds zwischen den
Gestaltungsspielräume verfügen. Ebenen, eigenen Einnahmequellen der Länder
in Form autonomer Besteuerungskompeten-
Vor diesem Hintergrund verwundert es zen sowie etwaiger Zu- und Abschlagsrechte
kaum, dass erste Evaluationen der Föderalis- auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer
musreformen I und II durchwachsen ausfal- sowie nach einer weiteren Verschärfung der
len und auch die Erfolgsaussichten für die ge- Verschuldungsregeln – insbesondere auf Ebe-
genwärtigen Bestrebungen zur Reform des ne der Länder und Kommunen.
Finanzausgleichs zwischen Bund und Län-
dern als bescheiden eingestuft werden. Der Diese föderalen „Großentwürfe“ stehen in
Grund für diese kritischen Bilanzen ist je- einem eigentümlichen Gegensatz zur europä-
doch struktureller Natur: Die funktionale ischen Dauerkrise, deren Bewältigung zuneh-
Aufgabenteilung, die charakteristisch für Fö- mend den innerstaatlichen Reformmodus in
deralstaaten intrastaatlicher Prägung ist und der Bundesrepublik prägt: ein kleinschrittiger,
in der Bundesrepublik dem Bund ein Vor- erratischer und technokratischer Ansatz, der
recht bei der Gesetzgebung und den Ländern zwar in der Finanz- und Haushaltspolitik per-
nahezu ausschließliche Kompetenzen für den manente Anpassungsnotwendigkeiten auf na-
Gesetzesvollzug zuweist, macht eine Gewal- tionaler und subnationaler Ebene verlangt, sich
tenverschränkung unumgänglich. Denn eine aber oft erstaunlich lautlos – weil vermeint-
Gesetzgebung ohne hinreichende Berück- lich „alternativlos“ – vollzieht, zumal die gan-
sichtigung der verwaltungstechnischen Im- ze Tragweite für das föderale Ordnungsgefüge
plikationen dürfte selten problemadäquat nicht immer unmittelbar abschätzbar scheint
sein. Der Bundesrat dient deshalb als Mit- oder Stabilisierungszielen untergeordnet wird.
wirkungsorgan des Bundes, in dem die Län- Zwar ist auch die Historie des deutschen Föde-
der ihre Verwaltungserfahrungen einbringen ralismus durch eine erstaunliche Kontinuität
können. Politikverflechtung zwischen den inkrementeller Entwicklungsschritte geprägt.
Verfassungsebenen stellt somit ein konstitu- Gleichwohl lässt sich feststellen, dass die For-
tives Merkmal moderner Bundesstaatlichkeit derungen nach Stärkung der föderalen Auto-
dar. ❙6 Trotz dieser historisch und verfassungs- nomie in der deutschen Bundesstaatsdebatte
rechtlich begründeten Rahmenbedingungen in einem deutlichen Gegensatz zu den Bemü-
wird gerade der akademische Diskurs immer hungen der EU stehen. Denn diese setzt zur Si-
wieder durch Resignation hinsichtlich der cherung der eigenen Existenz auf eine immer
vermeintlichen Reformunfähigkeit und -wil- weitere Vergemeinschaftung von Zuständig-
ligkeit der politisch verantwortlichen Akteu- keiten sowie eine Harmonisierung von Stan-
re geprägt, die nicht selten in Unverständnis, dards – gerade in den Bereichen Finanz- und
Unmut und Häme umschlägt. Wirtschaftspolitik sowie Bildungs- und Ar-
beitsmarktpolitik.
Unbeschadet dessen werden in der derzei-
tigen Finanzausgleichsdiskussion erneut wis- Die Problematik der zwei kaum überbrück-
senschaftliche Reformvorschläge erörtert, die baren Arenen im deutschen Bundesstaatsdis-
zu einem Großteil schon in den vorangegange- kurs ließe sich mit Verweis auf die natürliche
nen Verhandlungsrunden diskutiert und poli- Unvereinbarkeit zwischen wissenschaftlicher
tisch verworfen wurden. Zu den „Klassikern“ und politischer Rationalität leicht entkräften.
zählen dabei Forderungen nach mehr Autono- Denn das konträre Streben nach einer „gu-
mie und Wettbewerb zwischen den Bundes- ten Ordnung“ der Wissenschaft einerseits
ländern, einer Länderneugliederung, einer Ab- und „pragmatischen Problemlösungen“ der
senkung des Finanzausgleichsniveaus und der Politik andererseits scheint seit jeher inkom-
patibel. Folgt man dieser Argumentation,
wäre jedoch auch die geringe Resonanzfähig-
❙6  Vgl. Arthur Benz/Jessica Detemple/Dominic Heinz, keit wissenschaftlicher Reformvorschläge im
Varianten und Dynamiken der Politikverflechtung politischen Raum zu akzeptieren. Eine Ver-
im deutschen Bundesstaat, Baden-Baden 2015 (i. E.);
Sabine Kropp, Kooperativer Föderalismus und Poli-
wirklichung entsprechender Modelle ließe
tikverflechtung, Wiesbaden 2010; Henrik Scheller/ sich mithin allenfalls langfristig und schritt-
Josef Schmid (Hrsg.), Föderale Politikgestaltung im weise durch eine beständige Adressierung der
deutschen Bundesstaat, Baden-Baden 2008. Politik realisieren. Die geringe Anschluss-

APuZ 28–30/2015 19
fähigkeit zwischen wissenschaftlichem und Reformen der jüngeren Vergangenheit zeigen.
politischem Diskurs ist jedoch unter demo- Dadurch wird jedoch ein grundlegender Ziel-
kratietheoretischen Gesichtspunkten nicht konflikt begründet. Denn die Versuche von
unproblematisch: Hochgesteckte und durch Bund und Ländern, diesen gesetzgeberischen
modelltheoretische Annahmen gestützte Er- Pragmatismus mit Forderungen nach einer um-
wartungen in der Öffentlichkeit einerseits fassenden Kompetenzentflechtung in der Föde-
und kleinteilige politische Kompromisslö- ralismusdebatte zu vereinbaren, führen dazu,
sungen andererseits bergen die Gefahr, dass dass Verfassungsreformen in immer kürzeren
die für ein Gemeinwesen essenzielle „Legiti- Abständen ihre eigenen Anpassungsreformen
mation durch Anerkennung“ erodiert. Um- nach sich ziehen und auf diese Weise einen Re-
fragen zur Bedeutung der Bundesländer im formmodus selbstreferenzieller Reproduktion
Allgemeinen und einzelner policies in Län- hervorbringen.
derzuständigkeit im Besonderen deuten auf
solche Legitimationsverluste hin – ein Um- Mit dem Begriff der „Erschöpfung“ wird
stand, der angesichts der seit jeher ambiva- dabei ein Mechanismus der Transformation
lenten Einstellungen der Deutschen zu ihrem von Politikfeldern beschrieben, die sich ei-
Föderalismus nicht unproblematisch ist. ❙7 gentlich durch Kontinuität und „eine hohe Be-
harrungstendenz gegenüber grundlegenden
Veränderungen“ auszeichnen. Zwar stellt der
„Erschöpfter Föderalstaat“ Föderalismus an sich kein Politikfeld dar, da
er den strukturellen Rahmen für nahezu alle
Die scheinbaren Inkonsistenzen der jünge- Politikfelder bildet. Gleichwohl sind Fragen
ren Maßnahmen zur Reform der föderalen der föderalen Ordnung Gegenstand der Ver-
Ordnung lassen sich jedoch auch als Form fassungspolitik, die sich – ähnlich wie die So-
politischer und wissenschaftlicher Orientie- zialpolitik – durch eine gegenüber „anderen
rungslosigkeit deuten. Denn die zum Teil seit Politikfeldern und der Ökonomie relativ auto-
Jahrzehnten vorgetragenen Reformempfehlun- nome (verselbstständigte), sektorale Konstella-
gen aus der traditionell stark normativ gepräg- tion von Akteuren, Interessenstrukturen und
ten akademischen Debatte treffen in der Politik Machtverhältnissen“ auszeichnet. Tatsächlich
auf vermeintliche Beharrungskräfte und per- sind Reformfragen der föderalen Ordnung in
sistente Verteilungskoalitionen, die sich bisher der Bundesrepublik im Wesentlichen Sache
allenfalls zu punktuellen Verfassungsänderun- der Exekutiven von Bund und Ländern. Diese
gen durchringen konnten. Die beständigen Re- verfügen über politische und finanzielle Auto-
formversuche, die Autonomie von Bund und nomie und stellten in der Vergangenheit eine
Ländern zu stärken, ohne dass es bisher zu ei- vergleichsweise „homogene und konfliktarme
ner umfassenden Entflechtung der föderalen Gruppe von Akteuren“ dar. Seit der Wieder-
Kooperations- und Finanzierungsverbünde vereinigung hat sich dies gewandelt. Ausdruck
zwischen den Ebenen gekommen wäre, prägen dessen sind nicht nur die gewachsenen Dispari-
inzwischen eine Abfolge immer kleinteiligerer täten in der Wirtschafts- und Finanzkraft zwi-
Reformsequenzen, die sich – in Anlehnung an schen alten und neuen Bundesländern, sondern
einen für den deutschen Sozialstaat geprägten auch die gestiegene parteipolitische Heteroge-
Begriff – mit dem Terminus vom „erschöpf- nität, die die Koalitionsbildung vor allem auf
ten Föderalstaat“ umschreiben ließe. ❙8 Denn Länderebene prägt und damit die Entschei-
die sich permanent verändernden gesellschaft- dungsfindung im Bundesrat beeinflusst.
lichen Problemstrukturen verlangen offen-
bar geradezu nach ebenenübergreifenden und Darüber hinaus lassen sich auch in der Ver-
­politikfeldspezifischen ­Kooperationslösungen, fassungspolitik Formen der inhaltlichen und
wie diverse arbeitsmarkt- und sozialpolitische fiskalischen „Entautonomisierung“ beob-
achten. Denn durch den europäischen Inte-
grationsprozess ist es nicht nur zu macht-
❙7  Vgl. Thieß Petersen/Henrik Scheller/Ole Winter- politischen Verschiebungen im föderalen
mann, Public Attitudes towards German Federalism, Kompetenzgefüge zwischen Bund und Län-
in: German Politics, 17 (2008) 4, S. 559–586.
❙8  Vgl. hier und für die folgenden Zitate Christine
dern gekommen. Auch die politische Agenda
Trampusch, Der erschöpfte Sozialstaat. Transfor- sowie Debatten über normative Prinzipien der
mation eines Politikfeldes, Frank­f urt/M. 2009, insb. Staatstätigkeit werden zunehmend von exoge-
S. 18–26. nen Akteuren wie der EU bestimmt. In fiska-

20 APuZ 28–30/2015
lischer Hinsicht erweist sich – spätestens seit auf eine Begrenzung und Kontrolle der Um-
der Föderalismusreform II – die in den vergan- verteilung im Ausgleichssystem abhebt. For-
genen Jahrzehnten stark gestiegene Verschul- derungen nach Kappungsobergrenzen, Kon-
dung aller gebietskörperschaftlichen Ebenen ditionalitäten und degressiver Ausgestaltung
als Hypothek für deren autonome Politikge- von Zuweisungen im Länderfinanzausgleich
staltung. Die eigentliche Erschöpfung, die sich einschließlich entsprechender Berichtspflich-
in der Föderalstaatsdiskussion – ähnlich wie ten zielen vordergründig auf eine Verbesse-
in der Sozialpolitik – beobachten lässt, „mate- rung der finanzpolitischen Planbarkeit für
rialisiert sich als eine Dynamik von Problem- Bund und Länder, würden aber gleichzeitig
und Konfliktsequenzen, die wiederum Folge die natürliche „Atmungsaktivität“ des bishe-
vergangener politischer Entscheidungen“ der rigen Ausgleichssystems einschnüren. Diese
involvierten Akteure sind. Vor diesem Hin- sorgt dafür, dass das Umverteilungsvolumen
tergrund stellt sich die Frage, ob der verfas- in Relation zur Entwicklung des jährlichen
sungspolitische Re­form­aktio­nismus von Bund Steueraufkommens steigt beziehungsweise
und Ländern möglicherweise Ausdruck ei- sinkt und die einzelnen Länder – gemäß ihrer
ner schwindenden Handlungsfähigkeit ist, die ökonomischen Leistungsfähigkeit – begüns-
durch Reformvorstellungen befördert wird, tigt oder belastet. Bemerkenswert an diesen
die zwar vordergründig auf eine Stärkung der Forderungen ist jedoch, dass sie einem gänz-
Autonomie der bundesstaatlichen Ebenen ab- lich anderen Diskurskontext entstammen:
heben mögen, aber den sich wandelnden exo- Ausgehend von den Beratungen zur Födera-
genen und endogenen Rahmenbedingungen lismusreform II über die Begrenzung der öf-
nur noch bedingt Rechnung tragen. fentlichen Verschuldung und die Einführung
der neuen Schuldenbremse, waren sie leitend
für die europäischen Verhandlungen zum Fis-
„Entautonomisierung“ der Debatte kalpakt und sind von dort inzwischen auch in
die Finanzausgleichsdebatte ­eingewandert.
Am neuen haushaltspolitischen „Konsolidie-
rungsparadigma“, das seit Ausbruch der Fi- Dass das finanz- und haushaltspolitische
nanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 sowohl Konsolidierungsparadigma eine derartige
die Rechtsetzung der EU als auch der Mit- Dominanz entfalten konnte, gründete nicht
gliedsstaaten perpetuiert hat, lässt sich die zuletzt in den akuten Gefährdungen, die von
„Entautonomisierung“ des Föderalismus- der Finanz- und Wirtschaftskrise ausgin-
diskurses besonders anschaulich verdeutli- gen und die eine immer engere Taktung der
chen. Die hinter diesen Maßnahmen stehen- regulatorischen Maßnahmen durch die EU
de Vorstellung, dass solide Staatsfinanzen und ihre Mitgliedsstaaten erforderlich mach-
eine wesentliche Voraussetzung für die Funk­ ten. Die kurze Abfolge der diversen Krisen-
tions­fähigkeit der Finanzmärkte und der Real­ bekämpfungsmaßnahmen lässt sich als eine
wirtschaft darstellen, bestimmt inzwischen „negative Rückkoppelungsschleife“ deuten,
auch die verfassungspolitische Agenda in einer die letztlich auch die „Entautonomisierung“
Weise, dass ein eigenständiger Diskurs über des Föderalismus- und Finanzausgleichsdis-
föderale Leitbilder sowie eine „gute föderale kurses in der Bundesrepublik befördert hat.
Ordnung“ – im Sinne einer zeitgemäßen Ver- Denn mit der Implementierung der Maßnah-
teilung von Zuständigkeiten und Ressourcen men durch Überführung in nationales Recht
zwischen den Ebenen zur Lösung gesellschaft- gingen in der Bundesrepublik oft mehr oder
licher Probleme – kaum mehr geführt wird. ❙9 minder offenkundige Folgewirkungen für
Denn Kompetenzverteilungsfragen werden in die föderale Ordnung und ihre Finanzver-
der Bundesrepublik oft abstrakt und losgelöst fassung einher, die in absehbarer Zeit weitere
von einzelnen Politikfeldern diskutiert. Reformen nach sich ziehen werden: „Die ne-
gative Rückwirkung des Politikfeldes auf sich
Auch in der Finanzausgleichsdebatte ist die selbst bringt mit sich, dass Prozesse, in de-
Frage „Wozu eigentlich Ausgleich?“ weitge- nen Präferenzen geformt und Konflikte um
hend durch ein framing ersetzt worden, dass Macht und Interessen ausgetragen werden,
das Politikfeld in eine Phase der Entautono-
❙9  Vgl. Veith Mehde, Föderalismusbilder im Wandel – misierung treiben“. ❙10
Rechtliche Perspektiven zwischen Empirie und Ideo-
logie, in: Der moderne Staat, 5 (2012) 2, S. 443–458. ❙10  Vgl. Ch. Trampusch (Anm. 8), S. 22.

APuZ 28–30/2015 21
Wie sehr inzwischen die Funktionalität standort Deutschland zu stärken, kollidierte.
des Finanzausgleichssystems in den Fokus Im Dezember 2014 wurde das Verbot deshalb
der Debatte gerückt ist, zeigen auch die Re- – zumindest für den Hochschulbereich – wie-
formvorschläge, die vor allem auf eine Re- der gelockert.
duktion des Ausgleichsvolumens, mehr An-
reizgerechtigkeit und Transparenz, geringere Ein zweites Beispiel bildet die derzeit ge-
Streitanfälligkeit einzelner Ausgleichsmecha- führte Debatte über die Investitionspolitik
nismen sowie die Herstellung von mehr Ko- der öffentlichen Hand. Die 2009 im Grundge-
härenz mit dem Maßstäbegesetz zielen. ❙11 Auf setz verankerte Schuldenbremse erweist sich
die dahinterstehenden Annahmen der öko- immer mehr als weiteres Hemmnis für die
nomischen Föderalismustheorie stützte sich ohnehin schwache Investitionstätigkeit von
bereits der 2013 beim Bundesverfassungsge- Bund, Ländern und Gemeinden, da die im al-
richt eingereichte Normenkontrollantrag der ten Artikel 109 des Grundgesetzes vorgesehe-
Geberländer zur Prüfung der Vereinbarkeit ne Bindung der Nettokreditaufnahme an die
des geltenden Finanzausgleichsgesetzes mit Höhe der Investitionen formal entfallen ist
dem Grundgesetz. Mit den Zweckbestim- und fachpolitische Ausgabenentscheidungen
mungen und Maßgaben des geltenden Verfas- mit Blick auf die im Stabilitätsrat vereinbarten
sungsrechts sind solche modelltheoretischen Ziele zur Haushaltskonsolidierung zurückge-
Vorstellungen jedoch allenfalls bedingt ver- stellt werden. Jahrzehntealte ökonomische
einbar. Dass das Ausgleichssystem an sich und fiskalische Disparitäten im Nord-Süd-
keinen Selbstzweck erfüllt, sondern in seiner sowie im Ost-West-Vergleich könnten sich auf
Einbettung als tragende Säule der bundes- diese Weise weiter verfestigen. ❙13 Nicht um-
staatlichen Finanzordnung und korrigieren- sonst hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar
der Arm der originären Steuerzerlegung die Gabriel eine Expertenkommission mit der Er-
politische Souveränität und autonome Ge- arbeitung von Vorschlägen zur Stärkung der
staltungsfähigkeit der Bundesländer sicher- öffentlichen Investitionstätigkeit beauftragt.
zustellen hat, gerät bei solchen Begründungs- Die inzwischen vorliegenden Empfehlungen
versuchen immer wieder aus dem Blick. Die wie die Schaffung eines „Nationalen Investi-
eigene Staatsqualität und ihren Gemeinwohl- tionspaktes für Kommunen“, die Gründung
auftrag können die Bundesländer erst ausfül- einer von Bund und Ländern getragenen „In-
len, wenn sie über eine hinreichende Finanz- frastrukturgesellschaft für Kommunen“, die
ausstattung verfügen. Dies gilt auch 25 Jahre Weiterentwicklung von „Öffentlichen Ko-
nach der Wiedervereinigung insbesondere operationen“ oder die Schaffung eines öffent-
für die ostdeutschen Bundesländer. ❙12 lichen Infrastrukturfonds des Bundes und der
Länder dürften im Falle einer Realisierung
Negative Rückkoppelungsschleifen, bei de- die finanzpolitische Autonomie der einzelnen
nen sich „Problem- und Konfliktsequenzen“ föderalen Ebenen eher beschränken und eine
aus vergangenen politischen Entscheidungen weitere Verflechtung fördern. ❙14
ergeben, können offenbar auch als Folge von
(normativ inspirierten) Reformmaßnahmen Auch die von der Bundesregierung ver-
auftreten, die sich in der politischen Praxis als stärkt propagierte Bereitstellung öffentli-
problemunangemessen erweisen. Ein Beispiel cher Infrastruktur durch private Träger oder
ist das 2006 mit der Föderalismusreform I Public-private-Partnerships ist ein Beleg für
verabschiedete „Kooperationsverbot“ zwi- die „Entautonomisierung“ der finanzpoliti-
schen Bund und Ländern für den Bildungs- schen Reformdebatte: Denn letztlich sollen
bereich, das auf Kompetenzentflechtung und als Ausfluss einer normativen Idealvorstel-
Wiederherstellung der Länderautonomie
zielte. Schon kurz nach ihrem Inkrafttreten ❙13  Vgl. Karl Friedrich Bohler/Bruno Hildenbrand,
regte sich Kritik an dieser Regelung, da sie Nord – Süd, in: Stephan Lessenich/Frank Nullmeier
mit dem fachpolitischen Ziel, den Bildungs- (Hrsg.), Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft,
Frank­ f urt/M. 2006, S. 234–25; Wolfgang Förster,
Vergleichende Übersichten von 2008 bis 2014, in:
❙11  Vgl. Bundesministerium der Finanzen, Reform Martin Junkernheinrich et al. (Hrsg.), Jahrbuch für
des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, Gutachten öffentliche Finanzen 2015, Berlin 2015.
des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministe- ❙14  Vgl. Expertenkommission „Stärkung von Investi-
rium der Finanzen 1/2015. tionen in Deutschland“, Stärkung von Investitionen
❙12  Dass., Monatsbericht März 2015, S. 14–19. in Deutschland, Berlin 2015.

22 APuZ 28–30/2015
lung für die finanzföderale Ordnung vormals scheint mit Blick auf einen Erhalt der Hand-
öffentliche Güter zu einem Objekt von Ren- lungsfähigkeit vor allem der Länder ein Hin-
diteorientierung und Entgeltpflicht für die terfragen der bisher leitenden föderalismus-
Bürgerinnen und Bürger werden. Obwohl theoretischen Grundannahmen notwendig.
davon die grundlegende Frage tangiert wird, Als Anregung für ein grundsätzliches Nach-
welche (sozial-integrativen) Funktionen der denken über Formen der ebenenübergreifen-
Bundesstaat und seine Glieder zukünftig ei- den Kooperation lohnt deshalb ein Blick auf
gentlich (noch) erfüllen sollen, wird sie im ge- die seit jeher konkordanzdemokratisch ge-
genwärtigen Reformdiskurs allenfalls punk- prägte Schweiz.
tuell erörtert – ganz abgesehen davon, dass
die öffentliche Hand damit ureigene Gestal- Neben einer Aufgaben- und Kompe­tenz­
tungsspielräume aufgibt. ent­flechtung zielte die jüngste große Fi-
nanzausgleichs- und Föderalismusreform
auf eine Verbesserung der ebenenübergrei-
Perspektiven fenden und horizontalen Kooperation auf
Kantonsebene. In der Schweizer Bundesver-
Die Debatte zur Reform der bundesstaatli- fassung wurden dementsprechend Grund-
chen Ordnung und ihrer Finanzverfassung sätze zum Zusammenwirken von Bund und
sitzt seit geraumer Zeit in einer „Entflech- Kantonen normiert. So stellt Artikel 44 Ab-
tungsfalle“ fest. ❙15 Denn Forderungen nach satz 1 ebenso einfach wie überzeugend fest:
einer Kompetenzentflechtung von Bund „Bund und Kantone unterstützen einander
und Ländern sind inzwischen – zusammen in der Erfüllung ihrer Aufgaben und arbei-
mit dem Schuldenabbau-Paradigma – zum ten zusammen.“ Damit wird das, was in der
Selbstzweck geworden und ersetzen eine Dis- Bundesrepublik so negativ als „Politikver-
kussion über föderale Leitbilder. Dass der fö- flechtung“ konnotiert ist, sogar mit Verfas-
deralen Ordnung und der Finanzpolitik von sungsrang geadelt. Noch deutlicher wird in
Bund und Ländern inzwischen vornehmlich dieser Hinsicht Artikel 44 Absatz 3 der Bun-
eine marktdienende Funktion zugeschrieben desverfassung, der für den Konfliktfall vor-
wird, unterstreicht diese inhaltliche „Entau- sieht, dass „Streitigkeiten zwischen Kan-
tonomisierung“ des Diskurses. Dies führt tonen oder zwischen Kantonen und dem
dazu, dass der sich ständig selbst perpetu- Bund (…) nach Möglichkeit durch Verhand-
ierende Reformprozess – trotz des Diktums lung und Vermittlung beigelegt“ werden.
der Reformunfähigkeit – die Gestalt der fö- Mit diesem verfassungsrechtlichen Bekennt-
deralen Ordnung schleichend, aber grund- nis wird der Autonomieanspruch von Bund
legend verändert. Nicht ohne Grund macht und Kantonen nicht aufgegeben, aber doch
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ei- weithin sichtbar anerkannt, dass ein Föde-
nen Trend zum „kooperativen Zentralstaat“ ralstaat ohne intergouvernementale Verhand-
aus, wobei das Problem weniger im Moment lungselemente nicht auskommt. ❙17 Normativ
der scheinbar unvermeidlichen Kooperation aufgeladenen Reformdebatten, in denen die
zwischen den Ebenen zu sehen ist, als viel- Forderung nach einer generellen Aufgaben-
mehr in der Tatsache, dass Länder und Ge- entflechtung ohne hinreichende Sachbezüge
meinden immer wieder auf finanzielle Un- quasi als Selbstzweck im Mittelpunkt steht,
terstützung des Bundes angewiesen sind, um wird so die Legitimationsgrundlage entzo-
grundlegende Aufgaben zu erfüllen. ❙16 gen. Eine solche Form der Kooperation be-
darf – wie beispielsweise die jeweils für vier
Da Kooperation offenkundig eine wesent- Jahre zu bestimmenden Ausgleichstransfers
liche Voraussetzung für die Anpassungsfä- in den Schweizer Finanzausgleichsverhand-
higkeit des deutschen Bundesstaates darstellt, lungen – der institutionellen Absicherung
und Verstetigung. Erst dann begegnen sich
❙15  Arthur Benz, Föderalismusreform in der Ent- Bund und Länder auf Augenhöhe.
flechtungsfalle, in: Europäisches Zentrum für Föde-
ralismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalis-
mus 2007, Baden-Baden 2008, S. 180–190.
❙16  Vgl. Jasper von Altenbockum, Zentralstaat oder
Autonomie?, 11. 11. 2014, www.faz.net/harte-bretter- ❙17  Vgl. A. Benz et al. (Anm. 6).
ueber-die-finanzbeziehungen-zwischen-bund-und-
laendern-13260502.html (31. 5. 2015).

APuZ 28–30/2015 23
Sven Leunig das Subsidiaritätsprinzip bei der Kompetenz-
verteilung im deutschen Bundesstaat zu erken-

Subsidiarität als nen ist und im Zuge der Verfassungsgebung


1948/49 als Leitlinie der Kompetenzverteilung
berücksichtigt wurde. Abschließen wird der
Kompetenzvertei- Beitrag mit dem aus dieser Analyse zu folgern-
den Forschungsdesiderat.

lungsregel im deut- Unbedingte und bedingte Subsidiarität


schen Föderalismus? Die in der Verfassung verankerte „Verteilung
hoheitlicher Macht auf mehrere Ebenen“ ❙2 be-
ziehungsweise die „Verteilung der Staatsauf-

D ie Föderalismusreform 2006 in Deutsch-


land hat gezeigt, dass Föderalismus in der
Tat ein „dynamisches System“ ❙1 ist – offenbar
gaben auf zwei Verantwortungsbereiche“ ❙3 ist
typisch für einen Bundesstaat. ❙4 Sinn der da-
raus resultierenden „eigenständigen Gestal-
auch bei Verfassungs- tung autonomer Bereiche“ ❙5 ist die Wahrung
Sven Leunig änderungen. Ziel der der Identität beider Ebenen, insbesondere je-
Dr. phil., geb. 1967; Wissen- Reform war die Ent- doch jener der Gliedstaaten. Üblicherweise
schaftlicher Mitarbeiter flechtung der Kompe- wird in der rechts- wie in der politikwissen-
und Lehrkraft für besondere tenzen zwischen bei- schaftlichen Forschung als Kompetenzver-
Aufgaben am Institut für Politik­ den bundesstaatlichen teilungsmuster in Bundesstaaten das Sub-
wissenschaft der Friedrich- Ebenen, um insbeson- sidiaritätsprinzip genannt, wobei sich zwei
Schiller-Universität Jena, dere den Bund wie- verschiedene Verständnisse dieses Prinzips
Carl-Zeiß-Straße 3, 07743 Jena. der handlungsfähiger herauskristallisieren. Diese werde ich im Fol-
s.leunig@uni-jena.de zu machen. Zugleich genden als „unbedingtes“ und „bedingtes“
sollten, nicht nur als Subsidiaritätsprinzip bezeichnen.
Ausgleich für den Verlust von Mitwirkungs-
rechten der Länder über den Bundesrat, Kom- Einige Autorinnen und Autoren sehen das
petenzen auf die Landesebene (zurück)verla- Subsidiaritätsprinzip bereits dann gegeben,
gert werden. Wenn dies innerhalb eines Bun- wenn es in einem Bundesstaat eine grund-
desstaates geschieht, stellt sich für die Wissen- sätzliche Regelung gibt, dass prinzipiell die
schaft und die handelnden Politikerinnen und Gliedstaaten für die Erfüllung aller staatli-
Politiker die Frage, an welchen Zielen bezie- chen Aufgaben zuständig sind. Aufgaben-
hungsweise Kompetenzordnungsregeln diese zuweisungen an die Bundesebene bedürften
Verlagerung sich orientieren sollte. Denn es dann einer expliziten verfassungsrechtlichen
wäre absurd, Kompetenzen zu verschieben, Regelung. Demnach spräche bereits die Fest-
ohne davon auszugehen, dass sie auf der neu-
Den Mitgliedern des Forschungsseminars „Kompetenz­
en Ebene sinnvoll angesiedelt sind.
verteilung im Bundesstaat“ im Wintersemester 2014/15
an der FSU Jena möchte ich sehr herzlich für ihre Mit-
In der Forschungsliteratur wird in diesem wirkung bei der Recherche für diesen Beitrag und des-
Zusammenhang fast ausschließlich auf das sen Diskussion danken.
„Subsidiaritätsprinzip“ verwiesen, nach dem in ❙1  Arthur Benz, Föderalismus als dynamisches Sys-
Bundesstaaten allgemein und in Deutschland tem, Opladen 1985.
im Speziellen die Zuordnung von Kompeten- ❙2  Dirk Hanschel, Konfliktlösung im Bundesstaat,
Tübingen 2012, S. 13, S. 11 ff.
zen zwischen den beiden föderalen Ebenen er-
❙3  Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im
folgt. Eine genauere Betrachtung der einschlä- Grundgesetz, in: ders./Paul Kirchof (Hrsg.), Hand-
gigen Literatur ergibt, dass in der Forschung buch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutsch-
offenbar zwei verschiedene Vorstellungen von land, Bd. 6, Heidelberg 20083, Randnummer 257 ff.
Subsidiarität vorherrschen. Im vorliegenden ❙4  Vgl. dazu auch Michael Bothe, Die Kompetenz-
Beitrag wird zunächst der Forschungsstand struktur des modernen Bundesstaates in rechtsver-
gleichender Sicht, Berlin 1977, S. 128.
hinsichtlich dieser beiden Verständnisse des ❙5  Klaus Detterbeck, Idee und Theorie des Födera-
Subsidiaritätsprinzips dargestellt, bevor an- lismus, in: Wolfgang Renzsch/ders./Stefan Schie-
hand eines verfassungsrechtlichen und histo- ren (Hrsg.), Föderalismus in Deutschland, München
rischen Überblicks diskutiert wird, inwiefern 2010, S. 31–52, hier: S. 31.

24 APuZ 28–30/2015
legung auf eine grundsätzliche Zuständigkeit be im gesamtstaatlichen Interesse nicht und
der Länder für die Beachtung des Subsidiari- der Bundesstaat sie gleichzeitig besser erfül-
tätsprinzips im Grundgesetz. Tatsächlich ist len kann“. ❙9 In diesem Sinne fordert auch der
darin eine solche allgemeine Regelung in Ar- Rechtswissenschaftler Dirk Hanschel, dass
tikel 30 und, auf die Gesetzgebung bezogen, „nur solche Aufgaben von der höheren Kom-
in den Artikeln 70 bis 74 zu finden. ❙6 petenzebene wahrgenommen werden (sollen),
die nicht ebenso gut oder besser von der nied-
Neben diesem quasi „unbedingten“ Sub- rigeren Ebene erfüllt werden können“. ❙10
sidiaritätsprinzip findet sich in der Litera-
tur ein Verständnis, das die grundsätzliche Durchaus im gleichen Sinne argumentiert der
Zuordnung bundesstaatlicher Kompeten- Politikwissenschaftler Roland Sturm: Subsidia-
zen an die Gliedstaaten mit deren Fähigkeit rität bedeute im Föderalismus, „dass der Zent-
verknüpft, die ihnen zugeordneten Kompe- ralstaat nur dann Aufgaben übernimmt, wenn
tenzen bewältigen zu können. „Allgemein die Gliedstaaten durch deren Wahrnehmung
gesprochen liegt jeder vernünftigen bundes- überfordert sind und der Aufgabenwahrneh-
staatlichen Kompetenzverteilung das Sub- mung durch die bundesstaatliche Ebene zu-
sidiaritätsprinzip zugrunde, (…) wonach al- stimmen“. ❙11 Mit der Zustimmung der unteren
les, was die untere Einheit erledigen kann, Ebene zum Kompetenztransfer fügt er also der
bei dieser bleibt.“ ❙7 Die damit auch von Teilen inhaltlichen Bedingung eine prozedurale hinzu.
der Forschung als entscheidend – und in ihrer Damit verdeutlicht er auch hinsichtlich der in-
näheren Bestimmung als höchst problema- haltlichen Bedingung, dass es der Einschätzung
tisch – wahrgenommene Bedingung für das der (einzelnen) Gliedstaaten überlassen bleiben
Vorliegen des Subsidiaritätsprinzips ist hier muss, ob sie sich einer Aufgabe nicht mehr ge-
also die Fähigkeit zur Aufgabenerfüllung. wachsen sehen. Ebenso wie das Zustimmungs-
erfordernis soll dies zweifellos verhindern, dass
Diese Bedingung wird in unterschiedli- die Bundesebene aus womöglich nicht sachge-
cher Weise umschrieben. So formuliert etwa rechten Erwägungen heraus Kompetenzen an
der Philosoph Julian Nida-Rümelin, ge- sich zieht. Wie das Beispiel des anfänglichen Be-
mäß dem Subsidiaritätsprinzip werde „nur harrens der deutschen Länder auf das Koopera-
das auf die nächsthöhere Ebene verlagert tionsverbot im Bildungsbereich zeigt, kann al-
(…), was von der unteren Ebene nicht ad- lerdings auch von den Gliedstaaten nicht immer
äquat zu bewältigen ist“. ❙8 Die Bedingung vermutet werden, dass diese sich bei ihrer Ein-
der Fähigkeit wird hier also durch das zu- schätzung allein von sachgerechten Überlegun-
sätzliche Kriterium der angemessenen Auf- gen leiten lassen.
gabenerfüllung präzisiert beziehungsweise
relativiert. Ähnlich formuliert die Juristin In der Literatur scheint die Vorstellung ei-
Ines Härtel, es sei „gerade auch eine Frage nes bedingten Subsidiaritätsprinzips zu über-
der Effizienz, die Aufgabenerfüllung der- wiegen. Ebenso findet es im Übrigen auch auf
jenigen Ebene zu überlassen, die dazu am europäischer Ebene Anwendung. Nach Arti-
besten in der Lage ist. Das bedeutet in der kel 5 Absatz 3 des Vertrags über die Europä-
Regel, erst dann eine ‚Hochzonung‘ vorzu- ische Union (EUV) wird die Union nur tätig,
nehmen, wenn die untere Ebene die Aufga-
❙9  Ines Härtel, Die Gesetzgebungskompetenzen des
❙6  Vgl. in diesem Sinne dies., Einleitung/Föderalis­ Bundes und der Länder, in: ebd., S. 527–610, hier: S. 531,
mus, in: ebd., S. 1–30, hier: S. 4; Joachim Sanden, Die ähnlich auch S. 567. Allerdings scheint sie Subsidiari-
Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der tät nur einige Zeilen weiter eher im unbedingten Sin-
Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2005, S. 594, ne zu verstehen, wenn sie ausführt, diese konkretisiere
S. 1059; Adolf Süsterhenn, Subsidiaritätsprinzip sich im Grundgesetz „in der Grundverteilungsregel des
und Grundgesetz, in: Jahrbuch für Christliche Sozi- Art. 30 GG in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1 GG sowie
alwissenschaften 1966/67, Münster 1967, S. 227–233, in der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG“,
hier: S. 232. wobei die ersten beiden Artikel ja gerade keine Bedin-
❙7  Christian Starck, Idee und Struktur des Födera- gung für die Zuordnung von Kompetenzen zu einer der
lismus im Lichte der Allgemeinen Staatslehre, in: beiden Ebenen nennen, sondern grundsätzlich fordern,
Ines Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus, Bd. 1: diese der Landesebene zuzuordnen.
Grundlagen des Föderalismus und der deutsche Bun- ❙10  D. Hanschel (Anm. 2), S. 21, ähnlich auch S. 61,
desstaat, Wiesbaden 2012, S. 41–55, hier: S. 46. wobei er dort „besser“ mit „effektiver“ übersetzt.
❙8  Julian Nida-Rümelin, Philosophische Grundlagen ❙11  Roland Sturm, Föderalismus. Eine Einführung,
des Föderalismus, in: ebd., S. 145–164, hier: S. 160. Baden-Baden 20102, S. 12.

APuZ 28–30/2015 25
Zentrale Schwierigkeit bei der Beantwor-
Die konkurrierende Gesetzgebung im Grundgesetz
tung der Frage, inwieweit das Subsidiari-
Artikel 72 tätsprinzip in Deutschland nun tatsächlich
(1) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Anwendung bei der Kompetenzverteilung
Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der gefunden hat, bleibt die Operationalisier-
Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Ge- barkeit dieses Konzepts – vor allem, wenn
setz Gebrauch gemacht hat.
das bedingte Subsidiaritätsprinzip der Aus-
(2) Auf den Gebieten des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, gangspunkt ist. Dieses Problem ergibt sich
19a, 20, 22, 25 und 26 hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, freilich nicht nur aus der retrospektiven Be-
wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensver-
trachtung und dürfte sich seinerzeit ebenso
hältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder
Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bun- den Verfassungsgebern gestellt haben: Auf-
desgesetzliche Regelung erforderlich macht. grund welcher Indikatoren könnte ange-
nommen werden, dass eine bestimmte Mate-
(…)
rie vom Bund besser, effektiver zu erledigen
Artikel 74 sei? Diesbezüglich bleiben die gefundenen
(1) Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgen- Aussagen zum Subsidiaritätsprinzip sehr
de Gebiete: vage. Insofern haben die folgenden Ausfüh-
(…) rungen eine doppelte Funktion: Zunächst
4. das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer;
soll geklärt werden, inwieweit sich das Sub-
(…)
7. die öffentliche Fürsorge (ohne das Heimrecht); sidiaritätsprinzip bei der Kompetenzvertei-
(…) lung im Grundgesetz wiederfindet. Daraus
11. das Recht der Wirtschaft (Bergbau, Industrie, Energiewirt- könnten sich zugleich Hinweise auf die ge-
schaft, Handwerk, Gewerbe, suchten Indikatoren des Subsidiaritätsprin-
(…) zips ergeben.
13. die Regelung der Ausbildungsbeihilfen und die Förderung
der wissenschaftlichen Forschung;
(…)
15. die Überführung von Grund und Boden, von Naturschät- Subsidiarität im Grundgesetz
zen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum oder in ande-
re Formen der Gemeinwirtschaft; Abgesehen von der direkten Erwähnung des
(…) Grundsatzes der Subsidiarität in Artikel 23
19a. die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die
über das Verhältnis der Kompetenzen des
Regelung der Krankenhauspflegesätze;
20. das Recht der Lebensmittel einschließlich der ihrer Gewin- Gesamtstaates zu denen der EU ist das Sub-
nung dienenden Tiere, das Recht der Genussmittel, Bedarfs- sidiaritätsprinzip im Grundgesetz in Arti-
gegenstände und Futtermittel sowie den Schutz beim Verkehr kel 72 über die konkurrierende Gesetzge-
mit land- und forstwirtschaftlichem Saat- und Pflanzgut, den bung zu finden. Wie bereits erwähnt, ist das
Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge sowie unbedingte Subsidiaritätsprinzip ansonsten
den Tierschutz;
nur insofern zu erkennen, als in Artikel 30
(…)
22. den Straßenverkehr, das Kraftfahrwesen, den Bau und die des Grundgesetzes festgelegt wird, dass alle
Unterhaltung von Landstraßen für den Fernverkehr sowie die staatlichen Aufgaben von den Ländern er-
Erhebung und Verteilung von Gebühren oder Entgelten für die füllt werden, solange das Grundgesetz kei-
Benutzung öffentlicher Straßen mit Fahrzeugen; ne andere Regelung trifft. Dasselbe legen die
(…) Artikel 70 und 83 für die Gesetzgebung be-
25. die Staatshaftung;
26. die medizinisch unterstützte Erzeugung menschlichen Le-
ziehungsweise die Gesetzesausführung fest.
bens, die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Auch wenn diese Festlegungen anderes sug-
Erbinformationen sowie Regelungen zur Transplantation von gerieren und der Bund gemäß den Artikeln 71
Organen, Geweben und Zellen; und 73 des Grundgesetzes nur über geringe
(…) ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen
verfügt – faktisch sind mit den Bestimmun-
gen insbesondere der Artikel 72 und 74 den
„sofern und soweit die Ziele der in Betracht Ländern fast alle Teile der materiellen Ge-
gezogenen Maßnahmen von den Mitglieds- setzgebung entzogen. Diese unterwerfen den
staaten weder auf zentraler noch auf regionaler weit überwiegenden Teil der Rechtsmateri-
oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht en der konkurrierenden Gesetzgebung: Den
werden können, sondern vielmehr aufgrund Ländern obliegt immer dann die Gesetz-
ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Uni- gebung, wenn und solange der Bund nicht
onsebene besser zu verwirklichen sind“. selbst tätig geworden ist (Kasten).

26 APuZ 28–30/2015
Seit der Föderalismusreform 2006 kann der Ausdruck brachte. Diese lautete, es beste-
Bund laut Artikel 72 Absatz 2 in etwa der he dann ein Bedürfnis nach bundeseinheitli-
Hälfte der aufgezählten Bereiche nur dann tä- chen Regelungen, wenn „eine Angelegenheit
tig werden, wenn eine Notwendigkeit dazu be- durch die Gesetzgebung einzelner Länder
steht. Im Zuge der Föderalismusreform wurde nicht wirksam geregelt werden kann.“ Hier
den Ländern zudem die Möglichkeit zur Ab- findet sich also die Bedingung der „Wirksam-
weichung in einigen Feldern eingeräumt, die keit“ wieder, die durchaus mit „Adäquatheit“
nicht dieser sogenannten Erforderlichkeits- übersetzt werden könnte.
klausel unterliegen. Schließlich kann der Bund
laut Artikel 71 den Ländern selbst im Bereich Die Geschichte des Artikels 72 Absatz 2
seiner ausschließlichen Gesetzgebungskom- macht deutlich, wie schwierig seine Anwen-
petenz die Möglichkeit zur Rechtsetzung ein- dung war. In der Praxis erkannte der Bund
räumen. All dies klingt zunächst durchaus nämlich in einer Vielzahl von Fällen das Be-
„länderfreundlich“. Insbesondere der Um- dürfnis (und später: das Erfordernis) einer ei-
stand, dass der Bund in vielen Kompetenzbe- genen Gesetzgebung – und seine Sichtwei-
reichen der konkurrierenden Gesetzgebung se wurde vom Bundesverfassungsgericht bis
einer Erforderlichkeitsklausel unterworfen ist, nach der Jahrtausendwende fast ausnahms-
stellt überdies zweifellos eine Ausprägung des los bestätigt. Damit war den Ländern die Ge-
bedingten Subsidiaritätsprinzips dar. ❙12 setzgebung in den Bereichen der konkurrie-
renden Gesetzgebung also faktisch entzogen,
Allerdings wurde hier vom Verfassungsgeber und der Bund räumte seinerseits den Ländern
keine abschließende Verteilung der Kompeten- auch im Bereich der ausschließlichen Gesetz-
zen vorgenommen, sondern festgelegt, dass im gebung kaum Handlungsoptionen ein. Im
Einzelfall entschieden werden müsse, welche Laufe der Jahrzehnte hat der Bund den Län-
Ebene die Kompetenz jeweils wahrnimmt. Die dern auch bei der Ausführung der Bundes-
Art der Bedingung, die hier formuliert wurde, gesetze – jener Bereich, der nach allgemeiner
erinnert durchaus an das Subsidiaritätsprinzip: Ansicht weitgehend den Ländern vorbehal-
Laut Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes ten war – immer stärkeren Einfluss genom-
ist der Bund nur dann berechtigt, seine Kom- men. Nicht nur wurden sukzessive mehr
petenz wahrzunehmen, „wenn und soweit die Bundesoberbehörden in jenen Sektoren ein-
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerichtet, in denen nach den Artikeln 86 und
im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- 87 des Grundgesetzes eine unmittelbare Bun-
oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen desverwaltung vorgesehen ist. Auch die in
Interesse eine bundesgesetzliche Regelung er- Artikel 85 geregelte Bundesauftragsverwal-
forderlich macht“. Implizit könnte dies also in tung wurde mehr und mehr ausgedehnt.
der Tat so verstanden werden, dass der Bund
nur dann tätig werden darf, wenn eine Rege- Noch deutlicher wurde die Unitarisie-
lung durch die Länder nicht sinnvoll wäre, rungstendenz bis zur Föderalismusreform
mithin diese die ihnen prinzipiell zugewiese- 2006 bei den Verfahren, mit denen die Länder
ne Kompetenz im Einzelfall nicht genauso gut Bundesgesetze ausführen sollten. Der Nor-
oder besser als der Bund wahrnehmen könn- malfall sollte die Ausführung der Bundesge-
ten – was letztlich dem Grundgedanken des setze in landeseigener Verwaltung sein, bei
bedingten Subsidiaritätsprinzips entspräche. welcher der Bund sich auf die Rechtsaufsicht
Angenommen wurde dabei vom Verfassungs- beschränkte. Artikel 84 des Grundgesetzes,
geber, die Herstellung gleichwertiger Lebens- der diese landeseigene Verwaltung regelte,
verhältnisse oder die Wahrung der Rechts- und sah jedoch bis 2006 eine „Öffnungsklausel“
Wirtschaftseinheit sei grundsätzlich ein Ziel, zugunsten des Bundes vor: Mit Zustimmung
von dem stets angenommen werden könne, des Bundesrates konnte der Bund in diesem
dass es besser durch Bundes- als durch Landes- Bereich in einem Gesetz auch dessen Ausfüh-
gesetzgebung erreicht werden könne. rung bestimmen – wovon er ausgiebig Ge-
brauch machte. Nunmehr können die Länder
Bis 1994 enthielt Artikel 72 Absatz 2 eine von einer solchen Regelung durch den Bund
Formulierung, die noch deutlicher den Ge- abweichen, sofern dieser die Ausführungs-
danken der bedingten Subsidiarität zum bestimmungen nicht mit Zustimmung des
Bundesrates „abweichungsfest“ gemacht hat.
❙12  So beispielsweise D. Hanschel (Anm. 2), S. 80. Allerdings darf Letzteres laut Artikel 84 Ab-

APuZ 28–30/2015 27
satz 1 nur „in Ausnahmefällen“ geschehen, an sich, widersprochen hätte. Rechtsein-
wenn ein besonderes Bedürfnis nach bundes- heit lässt sich zweifellos am umfassendsten
einheitlicher Regelung besteht. ❙13 in einem Einheitsstaat verwirklichen. Inso-
fern waren die Verfassungsgeber, obgleich
Das bedingte Subsidiaritätsprinzip ist also von Landesparlamenten entsandt, hochgra-
als Gestaltungsprinzip zur Regelung der dig „antiföderalistisch“ eingestellt, als sie
konkreten Ausübung von Kompetenzen im aufgrund der hohen Bedeutung, die sie der
Grundgesetz erkennbar. Inwieweit es auch Rechtseinheit beimaßen, dem Bund durch
bei der ursprünglichen Zuteilung von Kom- die konkurrierende Gesetzgebung einen
petenzen im Sinne eines Strukturprinzips enormen Katalog an Gesetzgebungskom-
Anwendung gefunden hat, lässt sich nur aus petenzen zuordneten. ❙15 Dies fiel jedoch auf
den Äußerungen der Verfassungsgeber bezie- den ersten Blick nicht auf – denn Kernprin-
hungsweise des verfassungsändernden Ge- zip der konkurrierenden Gesetzgebung war
setzgebers herleiten. ❙14 auch damals, dass diese „eigentlich“ den
Ländern vorbehalten blieb und der Bund –
bis zur Föderalismusreform 2006 noch in al-
Subsidiarität bei der Verfassungsgebung len Materien des Artikels 72 Absatz 2 – nur
„unter Auflagen“ tätig werden durfte. In die-
Die Auswertung der Protokolle des Parlamen- sen findet sich, wie oben erwähnt, das Subsi-
tarischen Rates beziehungsweise des Verfas- diaritätsprinzip durchaus wieder.
sungskonvents von Herrenchiemsee aus den
Jahren 1948/49 zeigt, dass die Beratungen jener Jedenfalls bestand unter den Fraktionen
Ausschüsse, die sich mit der Kompetenzzu- kaum Dissens über den Umfang der Ge-
ordnung für Bund und Länder befassten, nicht setzgebungskompetenzen des Bundes, wo-
explizit Bezug auf das Konzept der Subsidiari- bei man sich auch auf die ebenfalls schon
tät nahmen. Gleichwohl sind auch hier gewis- sehr „bundesfreundlichen“ Bestimmungen
se gedankliche Verbindungen zum Subsidiari- der Weimarer Reichsverfassung beziehen
tätsprinzip zu erkennen, die letztlich auch die konnte. ❙16 Dass es Bereiche gebe, „für die ih-
oben genannten Bedingungen in Artikel 72 rem Charakter nach eine Zuständigkeit des
Absatz 2 des Grundgesetzes erklären. Landes ohnehin ausscheidet“, ❙17 wurde ohne
Diskussion angenommen, wobei in diesem
Leitgedanke der Mitglieder beider Gre- Zusammenhang explizit die Außenpolitik,
mien war offenbar die Sorge um die Rechts- die Staatsangehörigkeit und das Münzwesen
einheit im späteren Bundesgebiet, was zu- genannt wurden. Nur zu wenigen Kompe-
nächst dem Kernelement der Subsidiarität tenzregelungen lassen sich in den Dokumen-
zuwiderläuft. Bei der Gesetzgebung hät- ten des Konvents und des Parlamentarischen
te die Wahrnehmung einer Rechtsetzungs- Rates nähere Begründungen finden. Inso-
befugnis durch die Länder gerade die Folge fern ist dem Politologen Karlheinz Niclauß
gehabt, dass im Bundesgebiet unterschiedli- zuzustimmen, wenn er im Parlamentari-
ches Recht gesetzt worden wäre – zumindest schen Rat generell „zentralistische Tenden-
dann, wenn die Länder sich nicht unterei- zen“ ausmacht. ❙18
nander auf gleichlautende Gesetze verstän-
digt hätten, was wiederum dem Kerngedan- ❙15  Vgl. Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität
ken der Subsidiarität, ja des Föderalismus im deutschen Bundesstaatsrecht – Untersuchungen
zu Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, Tü-
bingen 1998, S. 405 f.
❙13  Es ist wohl kein Zufall, dass hier wiederum die ❙16  Vgl. Karlheinz Niclauß, Der Weg zum Grund-
„Bedürfnisklausel“ des bis 1994 geltenden Art. 72 gesetz – Demokratiegründung in Westdeutschland
Abs. 2 GG anklingt. Allerdings wird an dieser Stelle, 1945–1949, Paderborn 1998, S. 288. Dies galt laut der
anders als bei Art. 72 Abs. 2 GG a. F., nicht näher be- Politikwissenschaftlerin Angela Bauer-Kirsch be-
stimmt, wann dieses Bedürfnis besteht. reits ebenso für den Herrenchiemseer Konvent, vgl.
❙14  Zur Verwendung der Termini Gestaltungs- und dies., Herrenchiemsee. Wegbereiter des Parlamenta-
Strukturprinzip vgl. Rudolf Hrbek, Das Subsidia- rischen Rates, Bonn 2005, S. 103 f.
ritätsprinzip in der EU – Bedeutung und Wirkung ❙17  Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der
nach dem Vertrag von Amsterdam, in: Europäisches Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Proto-
Zentrum für Föderalismusforschung (EZFF) (Hrsg.), kolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herren-
Jahrbuch des Föderalismus 2000, Baden-Baden 2000, chiemsee, Boppard 1981, S. 247.
S. 510–531, hier: S. 513 f. ❙18  Vgl. K. Niclauß (Anm. 16), S. 290.

28 APuZ 28–30/2015
Interessant ist in diesem Zusammenhang Fazit
die Argumentation des FDP-Finanzexper-
ten Herrmann Höpker-Aschoff, der etwa Ein Heranziehen des Subsidiaritätsprinzips
einen Einfluss der einzelnen Länder auf die für die Beantwortung dieser Frage besäße
Höhe der Einkommen- und Vermögensteu- wenig historische oder materiellrechtliche
er ablehnte, weil „Standortverschiebungen“ Rechtfertigung: Ungeachtet der fortwähren-
in der Wirtschaft zu befürchten seien. ❙19 Aber den Behauptung einer prominenten Rolle des
auch die Arbeitnehmerseite zeigte sich in die- Subsidiaritätsprinzips für die Kompetenz-
ser Frage nicht sehr föderalistisch: Der DGB verteilung im deutschen Bundesstaat in Poli-
hielt unterschiedliche Steuerabzüge bei Löh- tik und Wissenschaft lässt sich diese für die
nen und Gehältern und damit verschiedene Entstehung des Grundgesetzes ebenso wenig
Nettolöhne in denselben Industriezweigen nachweisen wie im Text selbst – mit Ausnah-
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- me des Artikels 72 Absatz 2.
mer nicht für tragbar. ❙20 Härtel hält denn
auch fest, dass der Verbleib etwa des Kultus- Gleichwohl scheint es weiterhin geboten,
bereiches bei den Ländern vornehmlich tra- über die möglichen Elemente eines Maßstabs
ditionelle Gründe gehabt habe – Bildung war für die vernünftige Kompetenzverteilung im
„schon immer“ Aufgabe der Länder gewesen, Bundesstaat nachzudenken. Dies gilt insbe-
im Kaiserreich ebenso wie in der Weimarer sondere für den Bereich der Bildungspolitik.
Republik. ❙21 Wie oben erwähnt, wurde deren Verbleib auf
der Landesebene 1948/49 im Wesentlichen
Insgesamt lässt sich also festhalten, dass das historisch begründet – beziehungsweise mit
Subsidiaritätsprinzip während der Beratun- dem „schlagenden“ Argument, den Ländern
gen über das Grundgesetz keine nennenswer- verblieben bei einer Verlagerung dieser Kom-
te Rolle bei der Kompetenzverteilung im Bun- petenz auf die Bundesebene praktisch keine
desstaat gespielt hat. Dass ein großer Teil der nennenswerten Gesetzgebungskompetenzen
Gesetzgebung der Bundesebene zugeordnet mehr, ergo müsse sie weiterhin ihnen oblie-
wurde, wurde vielmehr hauptsächlich mit den gen, um sie nicht zu föderalistischen „Kai-
Bedingungen der Nachkriegszeit begründet, sern ohne Kleider“ zu machen. Erst mit der
die ein einheitliches Handeln etwa beim Wie- verstärkten Hinwendung zum Wettbe­werbs­
deraufbau und dazu auch eine übergreifen- prin­zip als tragende Säule des deutschen Fö-
de Rechtsetzung erforderlich machten. Auch deralismus wurde in den vergangenen Jahren
Grundgesetzänderungen der folgenden Jahr- der Verbleib der Bildungspolitik auf Landes-
zehnte liefen stets auf eine weitere Verlage- ebene auch sachlich begründet: Die Länder
rung von Kompetenzen auf den Bund hinaus, sollten, so der Gedankengang, etwa um das
wobei deren Notwendigkeit stets mit Effizi- „beste“ Schul­mo­dell miteinander wetteifern.
enz begründet wurde. ❙22 Erst mit der Födera- Woran dessen Qualität allerdings gemessen
lismusreform 2006 gab es eine nennenswer- werden soll, bleibt weiterhin unklar. Hinzu
te Rückverlagerung von Kompetenzen auf kommt, dass fortwährende Änderungen der
die Länder. Fraglich bleibt allerdings, ob die- Schulsysteme in den 16 Ländern auf Kosten
se Neuverteilung in der vorgenommen Weise der Schülerinnen und Schüler gehen, insbe-
tatsächlich gerechtfertigt gewesen ist. ❙23 sondere dann, wenn sie von einem Bundes-
land ins andere w­ echseln.
❙19  Ebd. S. 296.
❙20  Ebd. S. 291. Wie könnte also eine „anwenderfreund-
❙21  Vgl. I. Härtel (Anm. 9), S. 604. liche“ und überprüfbare Norm zur Vertei-
❙22  Vgl. Edin Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip:
lung von Kompetenzen innerhalb eines Bun-
Eine staatsrechtliche Untersuchung zur Dogmatik
der Bundesstaatlichkeit des Grundgesetzes, Tübin- desstaates aussehen? Auf den ersten Blick
gen 2000, S. 188. Auch bei der Reformdiskussion der könnte es sinnvoll sein, nach der Finanzier-
Kataloge der Art. 74 und 75 GG in den späten 1990er barkeit einer bestimmten Materie zu fragen.
Jahren seien Argumentationsfiguren des Subsidiari- Denkt man beim Beispiel der Bildungspoli-
tätsprinzips nicht erkennbar gewesen. tik etwa an die geforderte Inklusion, so hört
❙23  Vgl. dazu Sven Leunig, Zur Neuverteilung von
man allenthalben die Klage der Schulen, sie
Kompetenzen bei bundesstaatlichen Verfassungsän-
derungen am Beispiel der deutschen Föderalismusre- seien finanziell nicht ausreichend ausgestat-
form I (2006), in: EZFF (Hrsg.), Jahrbuch des Föde- tet. Die Kultusministerien sehen dies zwar
ralismus 2015, Baden-Baden (i. E.). prinzipiell ein, verweisen aber ebenfalls auf

APuZ 28–30/2015 29
ihre leeren Haushaltskassen. Wäre dies also Alexander Hoppe · Johannes Müller Gómez
ein Argument für die Übertragung der Bil-
dungspolitik auf den Bund? Letztlich nicht,
denn genauso könnte gefordert werden, die
Wege aus der
Länder durch den Bund mit ausreichenden
Mitteln auszustatten, wie dies gegenwärtig
etwa im Bereich der Flüchtlingsversorgung
­Legitimitätskrise:
geschehen soll. Chancen eines europä-
Ebenso problematisch scheint der auch im
Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprin- ischen Föderalismus
zip immer wieder diskutierte Maßstab der
Effizienz. Da die Fähigkeit, eine Aufgabe ef-
fizient zu erledigen, jedoch nicht selten mit
den finanziellen Möglichkeiten verknüpft ist,
scheint auch dieses Prinzip in der Anwen-
D as politische System der EU befindet
sich seit einigen Jahren in einer schwer-
wiegenden Krise. Beginnend mit der Ban-
dung problematisch – ganz abgesehen davon, ken- und Staatsschul-
dass unklar ist, was unter Effizienz zu ver- denkrise haben sich Alexander Hoppe
stehen ist. anfänglich vor allem M.Sc., M. A., geb. 1987; Wissen­
ökonomische Schwie- schaftlicher Mitarbeiter am
Am sinnvollsten wäre es wohl, nach der rigkeiten zu einer Kri- Jean Monnet Lehrstuhl der
allgemeinen Sachgerechtigkeit einer Kom- se des politischen Sys- Wirtschafts- und Sozialwis-
petenzverteilung zu fragen. Sachgerecht tems entwickelt, für senschaftlichen Fakultät der
wäre die Zuordnung einer Kompetenz an die nach Lösungen ge- Universität zu Köln, Gottfried-
die Länder zum Beispiel dann, wenn im zu sucht wird. Vor diesem Keller-Straße 6, 50931 Köln.
verteilenden Regelungsbereich Gruppen von Hintergrund scheint alexander.hoppe@uni-koeln.de
Menschen, juristische Personen oder aber Ge- eine grundlegende De-
gebenheiten betroffen sind, die nur in einem batte über die Neu- Johannes Müller Gómez
Bundesland anzutreffen sind beziehungswei- ordnung des politi- M. A., geb. 1987; Wissenschaft-
se sich in einigen oder mehreren Gliedstaaten schen Systems der EU licher Mitarbeiter am Jean
deutlich voneinander unterscheiden – man dringend geboten. Mit Monnet Lehrstuhl (s. o.).
denke etwa an die Küstenländer oder generell Blick auf die zuneh- johannes.mueller-gomez@
an die Grenzregionen. Insbesondere Letztere mende EU-Skepsis in uni-koeln.de
haben aufgrund ihrer Lage spezifische Eigen- der Bevölkerung ent-
interessen, wie beispielsweise die gegenwär- ziehen sich politische Entscheidungsträgerin-
tige Diskussion über die Einführung einer nen und Entscheidungsträger allerdings oft
PKW-Maut zeigt. In diesem Fall spräche die dieser Diskussion. Die Angst vor einem eu-
größere räumliche wie inhaltliche Nähe des ropäischen Superstaat hat sich mittlerweile
Landesgesetzgebers zu den Betroffenen für zu einem Schreckgespenst entwickelt, dessen
einen Verbleib der Kompetenz auf Landes- sich euroskeptische Parteien in Wahlkampf-
ebene. Es ist davon auszugehen, dass der Lan- zeiten gern bedienen. Gleichzeitig mehren
desgesetzgeber in einer solchen Konstellation sich aber auch Stimmen für eine Föderali-
über eine größere Sachkompetenz verfügt als sierung der Union. Die Schaffung eines eu-
der Bundesgesetzgeber. Will man hingegen ropäischen Bundesstaates mit dem Europäi-
einen „Wettbewerb“ um die bestmögliche schen Parlament als zentrale Institution wür-
Lösung in einem Politikfeld, so dürften die de die demokratische Legitimität sowie die
Bedingungen in diesem Bereich zwischen den Handlungsfähigkeit der EU steigern, so das
Bundesländern gerade nicht signifikant von- ­A rgument. ❙1
einander abweichen, um die Wettbewerbsbe-
dingungen nicht zu verzerren. Es wäre dann Angesichts der aktuellen Krise und der
eine politische Entscheidung, ob man ein be- Notwendigkeit einer Debatte über die fina-
stimmtes Politikfeld für einen solchen Wett- lité des europäischen Integrationsprozesses
bewerb für geeignet hielte oder nicht. werden wir in diesem Beitrag mögliche Wege
der zukünftigen Ausgestaltung des politi-
schen Systems der EU aufzeigen. Basierend
auf zwei Idealtypen diskutieren wir, inwie-

30 APuZ 28–30/2015
weit sich bestimmte Elemente föderaler Sys- der duale Föderalismus, dessen gewaltenteili-
teme für die EU eignen beziehungsweise als ger Charakter vor allem dem Ziel der Verhin-
gewinnbringend erweisen könnten. derung unitaristischer, zentralisierender Ten-
denzen dient und einen starken Fokus auf die
Autonomie der einzelnen Ebenen legt. Dieser
Zwei Föderalismusmodelle Unterschied in den logischen Voraussetzungen
beider Föderalismusmodelle bedingt Differen-
Theoretisch ist der Föderalismus als politi- zen in der Kompetenz- und Ressourcenvertei-
sches Organisationsprinzip mittlerweile in lung sowie in der Beziehung zwischen den ver-
viele verschiedene Unterarten gegliedert. Er schiedenen Regierungsebenen. Beide Modelle
lässt sich dennoch auf zwei Hauptmerkma- unterscheiden sich in jeweils fünf institutionel-
le reduzieren: Zum einen führt der Födera- len Hauptmerkmalen (Tabelle).
lismus „ein bestimmtes Ausmaß an Einheit
von hinsichtlich spezifischer Merkmale (eth- Das politische System der EU entspricht
nische, sprachliche, religiöse, soziokulturelle) mehr dem verbundföderalen als dem dualen
unterschiedlichen Teilen, die ein bestimmtes Modell. ❙5 Bezogen auf die Legitimität der EU
Maß an Eigenständigkeit behalten“, herbei; und ihres politischen Handelns ergeben sich
zum anderen zeichnet sich ein föderales Sys- daraus gewisse Probleme, die wir im Rahmen
tem durch horizontale und vertikale Gewal- dieses Beitrags identifizieren und zu welchen
tenteilung aus. ❙2 Im Folgenden stützen wir uns wir Lösungsvorschläge diskutieren werden.
auf zwei von den Politikwissenschaftlern Rai-
ner-Olaf Schultze und André Kaiser entwi-
ckelte Idealtypen des Föderalismus: das „auf Klare Kompetenztrennung
funktionaler Aufgabenverteilung und Gewal-
tenverschränkung aufbauende Modell des in- In der EU ist die Kompetenzverteilung zwi-
trastaatlichen Föderalismus“ (Verbundföde- schen Mitgliedsstaaten und Union durch
ralismus) und das „auf Gewaltentrennung die Artikel 3 bis 5 des Vertrags über die Ar-
aufbauende (…) Modell des interstaatlichen beitsweise der EU (AEUV) geregelt. In den
Föderalismus“ (dualer Föderalismus). ❙3 Diese fünf Bereichen Zoll, Wettbewerbsregeln des
beiden Modelle unterscheiden sich sowohl in Binnenmarktes, Währungspolitik im Eu-
ihrer institutionellen Ausgestaltung als auch roraum, Fischerei und Handelspolitik ist die
in ihrer grundlegenden Motivation. Union ausschließlich zuständig; in 13 Berei-
chen teilen sich Union und Mitgliedsstaaten
Der Verbundföderalismus basiert auf dem die Kompetenzen, wie etwa in Umwelt- und
Grundgedanken der Gewaltenverschränkung. Verbraucherschutzfragen; ferner ist die Uni-
Das Ziel ist hierbei eine funktionalistische Ver- on für „Maßnahmen zur Unterstützung, Ko-
zahnung der Gewalten zwischen den verschie- ordinierung oder Ergänzung der Maßnah-
denen Ebenen der Regierungsmacht. Dabei men der Mitgliedsstaaten“ in sieben weiteren
„geht es nicht um die Trennung, das Gegen- Bereichen zuständig,❙6 beispielsweise in der
einander und die wechselseitige Kontrolle der Industrie- und Kulturpolitik. Eine Beson-
staatlichen Institutionen“. ❙4 Dem entgegen steht derheit in der Kompetenzverteilung inner-
halb der EU ist die sogenannte Flexibilitäts-
❙1  Vgl. Jürgen Habermas, Democracy, Solidarity and klausel: Artikel 352 AEUV legt fest, dass die
the European Crisis, in: Social Europe Report, Okto- Befugnisse der Union über das vertraglich
ber 2013, S. 4–13, http://socialeurope.eu/wp-content/ Festgelegte hinaus erweitert werden können,
uploads/​2013/​10/eBook.pdf (25. 5. 2015). sollte eine Anstrengung der Union erforder-
❙2  Rudolf Hrbek, Föderalismus sui generis – der Bei-
lich werden, „um eines der Ziele der Verträge
trag des Konvents zur Verfassungsstruktur der er-
weiterten EU, in: Zeitschrift für Staats- und Europa- zu verwirklichen“. Zudem ermöglicht die so-
wissenschaften, 1 (2003) 3, S. 430–446, Zitat S. 435.
❙3  Rainer-Olaf Schultze, Föderalismus als Alterna-
tive? Überlegungen zur territorialen Reorganisation ❙5 Vgl. Fritz W. Scharpf, The Joint-Decision Trap.
von Herrschaft, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Lessons from German Federalism and European
21 (1990) 3, S. 480; für die Begriffe des Verbund- und Integration, in: Public Administration, 66 (1988) 3,
dualen Föderalismus vgl. André Kaiser, Mehrheits- S. 243; Robert Schütze, From Dual to Cooperative
demokratie und Institutionenreform, Frank­f urt/M.– Federalism: The Changing Structure of European
New York 2002, S. 150. Law, Oxford 2009.
❙4  R.-O. Schultze (Anm. 3), S. 481. ❙6 Artikel 6, AEUV.

APuZ 28–30/2015 31
Tabelle: Institutionelle Hauptmerkmale des Verbund- und dualen Föderalismus
Verbundföderalismus Dualer Föderalismus
Keine klare Kompetenzverteilung zwischen den Klare Kompetenztrennung zwischen den verschie-
verschiedenen Ebenen denen Ebenen
Funktionale Kompetenzverteilung: Meist liegen die Kompetenzverteilung nach Politikfeldern: Bund und
Gesetzgebungskompetenzen beim Bund und die Gliedstaaten gestalten und verwalten die jeweils ­ihnen
Verwaltungskompetenzen bei den Glied­staaten zugeordneten Politikfelder komplett eigenständig
Zentrale Einnahme finanzieller Ressourcen Getrennte Steuererhebung von Bund und Gliedstaaten
Starke intrastaatliche Beteiligung der Keine zwingende Notwendigkeit einer inhaltlichen
­Gliedstaaten(-Regierungen) an der Bundespolitik; Beteiligung der einzelnen Gliedstaaten an der Bun-
oft erheblicher Einfluss der Gliedstaaten über die desgesetzgebung; Direktwahl der Mitglieder der gege-
zweite Kammer des Parlaments benenfalls existierenden zweiten Parlamentskammer
Hohe Bereitschaft für und funktionale Notwendigkeit Freiwilligkeit der Beziehungen zwischen den Glied-
einer Kooperation sowohl zwischen den einzelnen staaten einerseits und zwischen Gliedstaaten und
Gliedstaaten als auch zwischen Gliedstaaten und Bund Bund andererseits

Quelle: Rainer-Olaf Schultze, Föderalismus als Alternative? Überlegungen zur territorialen Reorganisation
von Herrschaft, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 21 (1990) 3, S. 480; André Kaiser, Mehrheitsdemokratie
und Institutionenreform, Frank­f urt/M.–New York 2002, S. 150 f.

genannte offene Methode der Koordinierung ein Problem dar. Denn der verbundföderale
der Union, außerhalb der ihr zugeschriebe- Charakter der Kompetenzverteilung kann
nen Kompetenzen abstimmende, unverbind- sich negativ auf die Beliebtheit der supranati-
liche Empfehlungen und Richtlinien an die onalen Ebene auswirken: Die nationalen Re-
Mitgliedsstaaten auszusprechen. gierungen können die Verantwortung für un-
liebsame Entscheidungen und Maßnahmen
Diese Kompetenzverteilung birgt verschie- auf die EU-Institutionen abwälzen, während
dene Mechanismen, die zu einem schleichen- Erfolge in der Regel als die eigenen verbucht
den Verlust von Entscheidungsmacht der werden. ❙8
Mitgliedsstaaten führen können: Erstens er-
möglicht die oben genannte Flexibilitätsklau- Das für verbundföderale Systeme typische
sel der Unionsebene, in neuen Politikfeldern Mitwirken zahlreicher Akteure an politischen
tätig zu werden. Zweitens konterkariert die Entscheidungen entfaltet zudem eine restrik-
offene Methode der Koordinierung alle Be- tive Wirkung auf politische Veränderung.
mühungen für eine klare Kompetenzabgren- Der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf
zung, was Kommission und Rat wiederum hat dies als „Politikverflechtungsfalle“ be-
ausnutzen können, um den Mitgliedsstaaten zeichnet: Mit der Anzahl der an einer Ent-
bindende Vorgaben zu machen. ❙7 Drittens scheidung beteiligten Instanzen erhöht sich
kann sich die Unionsebene auf sogenannte die Wahrscheinlichkeit, dass ein oder mehre-
Querschnittsaufgaben berufen, um Tätigkei- re Akteure den Status quo neuen Beschlüssen
ten in Politikbereichen zu rechtfertigen, die vorziehen und diese folglich mit ihrem Veto
vertraglich den Mitgliedsstaaten vorbehal- blockieren. Gleiches gilt für institutionelle In-
ten sind. Die diffuse Kompetenzverteilung novation. ❙9 Auch die Politologin Ute Wachen-
zwischen Mitgliedsstaaten und Unionsebene dorfer-Schmidt identifiziert die durch den
stellt in Kombination mit dem schleichenden Verbundföderalismus gesteigerte Gefahr des
Kompetenzzuwachs der Union mit Blick auf „Immobilismus oder politische(r) Entschei-
die Legitimität der EU – an dieser Stelle ver- dungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nen-
standen als Akzeptanz der Strukturen, Ver- ner“. ❙10 Die diffuse Kompetenzverteilung in
fahren und Entscheidungen der europäischen der EU schränkt folglich das Problemlösungs-
Ebene seitens der Bürgerinnen und Bürger –
❙8  Vgl. Ute Wachendorfer-Schmidt, Der Preis des Fö-
❙7  Vgl. Rainer Schwarzer, Subsidiarität – Schlüssel deralismus in Deutschland, in: Politische Vierteljah-
für ein föderalistisches Europa, in: Michael Piazolo/ resschrift, 40 (1999) 1, S. 31.
Jürgen Weber (Hrsg.), Föderalismus. Leitbild für die ❙9  Vgl. F. W. Scharpf (Anm. 5), S. 239–278.
Europäische Union?, München 2004, S. 281–289. ❙10  U. Wachendorfer-Schmidt (Anm. 8), S. 3.

32 APuZ 28–30/2015
potenzial der Unionsebene ein sowie ihre Fä- billigten – vor allem regulativen – Kompeten-
higkeit, durch institutionelle Anpassung auf zen war die Union bislang besonders in der
die schwindende Unterstützung der Bürgerin- sogenannten „marktschaffenden“ Dimensi-
nen und Bürger zu reagieren. Beides ist einem on erfolgreich, also bei der Vollendung des
weiteren Legitimitätsverlust ­zuträglich. Binnenmarktes. ❙12 Diese ist allerdings so weit
vorangeschritten, dass weitergehende Er-
Es scheint daher dringend geboten, über folge auf diesem Gebiet nur schwer möglich
eine grundlegende Reform der Kompetenz- sind, wodurch ein wichtiger Pfeiler des po-
verteilung nachzudenken. Dabei sollten Ver- litischen Erfolgs der Union und damit ihrer
fahren wie die aus Deutschland bekannte Legitimität entfällt. Zudem kommt es durch
konkurrierende Gesetzgebung oder auch Ge- das beschriebene Dilemma zwischen Pro­
meinschaftsaufgaben vermieden werden. Eine blem­lösungs­instinkt und Souveränitätsreflex
dem dualen Föderalismus entsprechend klar zu der absurd anmutenden Situation, dass ge-
getrennte und vor spontaner Veränderung ge- rade in Bereichen, in denen supranationale
schützte Kompetenzverteilung zwischen den Kompetenzen immense funktionale Vorteile
föderalen Ebenen der EU könnte dazu beitra- hätten – etwa in der Außen- oder Verteidi-
gen, die genannten Probleme zu überwinden. gungspolitik – die europäische Zusammen-
Bürgerinnen und Bürger könnten politische arbeit immer wieder unbefriedigende Ergeb-
Entscheidungen eindeutig der jeweils verant- nisse zustande bringt. Demgegenüber stehen
wortlichen Ebene zuordnen und somit bes- die berüchtigten Regulierungen alltäglicher
ser nachvollziehen. Die Blockade notwendi- „­K leinigkeiten“.
ger Beschlüsse könnte vermieden werden, was
wiederum zur Steigerung der Legitimität bei- Die dem dualen Föderalismus entsprechen-
tragen würde. Trotz einer verfassungsrecht- de Kompetenzverteilung, wie sie oben bereits
lich festgeschriebenen Kompetenztrennung nahegelegt wurde, sollte dem im Vertrag von
sollte jedoch eine freiwillige Zusammenarbeit Lissabon verankerten Subsidiaritätsprinzip
zwischen den Mitgliedsstaaten vorgesehen folgen. Demnach werden der übergeordneten
sein, um auf nicht absehbare Entwicklungen Ebene Kompetenzen ausschließlich in jenen
adäquat reagieren zu können. Aufgabenbereichen zugeordnet, deren Pro-
bleme und Fragestellungen nicht „von einer
kleineren Einheit zufriedenstellend gelöst
Subsidiarität werden können“. ❙13 Konsequent angewandt,
würde dies eine grundlegende Neuordnung
Die bestehende Aufteilung inhaltlicher Ver­ der Kompetenzen nach sich ziehen. Nicht nur
antwortlichkeiten in der EU ist historisch würden die Mitgliedsstaaten Teile der aktu-
gewachsen. Einerseits sahen sich die Mit- ell supranational angesiedelten Kompetenzen
gliedsstaaten dem in einer zunehmend zurückerhalten. Die nationalen Regierungen
globalisierten Welt herrschenden Druck müssten ebenfalls Befugnisse abgeben, die bis
ausgesetzt, enger zusammenzuarbeiten. An- heute als Kernkompetenzen souveräner Na-
dererseits geben die Nationalstaaten seit Be- tionalstaaten gelten.
ginn der europäischen Integration aus einem
Souveränitätsreflex heraus nur widerwil- Folglich sollten bezüglich des Kompetenz-
lig Kernkompetenzen ab. ❙11 Dadurch hat umfangs der Unionsebene folgende Fragen
sich eine Kompetenzaufteilung zwischen in den Vordergrund gestellt werden: Welche
den EU-Mitgliedsstaaten und der europä- Probleme haben einen grenzüberschreiten-
ischen Ebene ergeben, die sich nicht an Po- den Charakter? Welche Fragen können auf
litikfeldern orientiert. Vielmehr überschnei- der EU-Ebene effizienter behandelt werden?
den sich auch innerhalb von Politikbereichen Beispiele hierfür wären die Außen- und Kli-
die Zuständigkeiten der beiden Ebenen, was mapolitik sowie angesichts der Freizügig-
die Identifizierung der jeweils entscheiden- keit innerhalb der Union Rechtsbereiche wie
den Akteure erschwert. Durch die ihr zuge- das Straf- oder Scheidungsrecht. Gleichzeitig

❙11  Vgl. Andreas Hofmann/Wolfgang Wessels, Der ❙12  Vgl. Fritz W. Scharpf, The Joint-Decision Trap
Vertrag von Lissbon – eine tragfähige und abschlie- Revisited, in: Journal of Common Market Studies, 44
ßende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, (2006) 4, S. 854.
in: Integration, 31 (2008) 1, S. 5 f. ❙13  R. Schwarzer (Anm. 7), S. 284.

APuZ 28–30/2015 33
gilt es zu überlegen, bei welchen politischen Dienst. In der Tat wäre die Ansiedlung der
Fragen ein Ideenwettbewerb zwischen den entsprechenden Kompetenzen in der Außen-
Mitgliedsstaaten effizienzfördernd und bür- und Sicherheitspolitik auf Unionsebene weit-
gernahe Entscheidungen sinvoll wären, was aus kostengünstiger.
etwa in wirtschafts- und beschäftigungspo-
litischen Belangen der Fall ist. Denkbar wäre ein duales System, in dem die
Unionsebene eigenständig Steuern erheben
Ein derart am dualen Föderalismus orien- und die eingenommenen Mittel auch selbst
tiertes System würde ganze Politikfelder der verteilen könnte. Durch eine größere finan-
einen oder der anderen Entscheidungsebe- zielle Unabhängigkeit würde die Union somit
ne zuweisen. Dies würde der Legitimität der auch an Gestaltungsspielraum und Autono-
EU zugutekommen, da die Zuständigkeiten mie gegenüber den Mitgliedsstaaten gewin-
der Ebenen für die Bürgerinnen und Bürger nen. Eine explizit redistributive Politik könnte
eindeutig und nachvollziehbar aufgeteilt wä- in einer EU der 28 jedoch auf Akzeptanzpro-
ren. In wenigen Ausnahmefällen wie der Um- bleme stoßen und damit die Legitimitätskrise
weltpolitik wäre eine solche Kompetenzauf- zuspitzen, statt ihr entgegenzuwirken. ❙17
teilung jedoch nicht zielführend.

Senatsmodell
Getrennte Steuererhebung
Mit der Erweiterung der Kompetenzen des
Mit der Art der Kompetenzen, die bisher der Europäischen Parlaments durch den Vertrag
Unionsebene zugeordnet sind, ist auch der von Lissabon ähnelt die europäische Architek-
Aspekt der finanziellen Ressourcen verbun- tur im üblichen Gesetzgebungsverfahren im-
den, die entsprechend der wenigen redistri- mer stärker einem typischen Zweikammersys-
butiven Aufgaben der EU relativ gering aus- tem mit dem Rat als Vertretung der nationalen
fallen. Kostenintensive Politikbereiche wie Regierungen. Auch hier folgt die EU bisher
die Arbeits- und Sozialpolitik sind weiter- dem verbundföderalen Modell. Die zweite
hin nationalstaatliche Kompetenz. ❙14 Zudem Kammer erfährt dabei nur eine indirekte de-
ist der Großteil des EU-Budgets bereits im mokratische Legitimation. Der Rat handelt
Vorfeld für wenige Bereiche bestimmt. ❙15 Da- und entscheidet jedoch grosso modo außer-
durch, dass die Beiträge der Mitgliedsstaaten halb der Kontrolle durch nationale Parlamen-
den bei Weitem größten Anteil des europä- te. ❙18 Darüber hinaus zeichnet er sich durch
ischen Haushalts darstellen, folgt die EU in eine komplexe, undurchsichtige Struktur aus
finanzieller Hinsicht momentan weder dem verschiedenen Ebenen und einer Vielzahl von
verbundföderalen noch dem dualen Modell. Ausschüssen aus. ❙19 Dies ist insbesondere vor
Insgesamt ergibt sich für die Unionsebene dem Hintergrund problematisch, dass der Rat
ein sehr limitierter Gestaltungsspielraum, weiterhin über mehr Entscheidungskompe-
der zugleich ihre Möglichkeiten zur Umset- tenzen verfügt als das Parlament.
zung politischer Projekte mit potenziell legi-
timitätsfördernder Wirkung einschränkt. ❙16 Durch eine dem Senatsmodell im dualen
Dabei würde die Erhöhung der finanziellen Föderalismus entsprechende Umgestaltung
Ressourcen der EU in bestimmten Politik- des Rates könnte seine komplexe Struktur
feldern durchaus zu Einsparungen in den na- vereinfacht und transparenter gestaltet wer-
tionalen Haushalten führen. Klassische Bei-
spiele sind das Militär und der Diplomatische
❙17  Vgl. Giandomenico Majone, Europe’s „Democra-
tic Deficit“: The Question of Standards, in: European
❙14  Vgl. Andrew Moravcsik, Federalism in the Euro- Law, 4 (1998) 1, S. 14.
pean Union: Rhetoric and Reality, in: Kalypso Ni- ❙18  Vgl. Andreas Follesdal/Simon Hix, Why There Is
colaidos/Robert Howse (Hrsg.), The Federal Vision: a Democratic Deficit in the EU: A Response to Ma-
Legitimacy and Levels of Governance in the US and jone and Moravcsik, in: Journal of Common Market
the EU, Oxford 2001, S. 170. Studies, 44 (2006) 3, S. 535.
❙15  Vgl. ebd., S. 169. ❙19  Vgl. Wolfgang Wessels/Peter Valant/Tobias Kun-
❙16  Vgl. Cem Yalçin, Challenging the Future: The De- stein, The EU Council(s) System and Administrative
mocratic Deficit of the EU from a Federalist Perspec- Fusion, in: Michael W. Bauer/Jarle Trondal (Hrsg.),
tive, in: Poznan University of Economics Review, 14 The Palgrave Handbook of the European Admi­n is­
(2014) 4, S. 29, S. 33. tra­t ive System, Basingstoke 2015, S. 265–280.

34 APuZ 28–30/2015
den. Eine direkte und damit personalisier- Vorgaben aus Brüssel hinausgehen und bei
te Wahl der Senatorinnen und Senatoren in mangelnder Popularität der Maßnahmen der
den Mitgliedsstaaten würde helfen, europa- Unionsebene die Schuld zuweisen.
politische Themen klarer von nationalen ab-
zugrenzen und somit das Interesse daran in Eine duale Lösung scheint in diesem Fall
der Bevölkerung zu steigern. So könnte ein jedoch nicht besonders Erfolg versprechend:
Beitrag zur Etablierung europapolitischer ge- Sie würde bedeuten, dass Mitgliedsstaaten
sellschaftlicher Debatten geleistet werden. ❙20 und Unionsebene jeweils für die Umsetzung
Der Rat wäre direkt legitimiert und die Mit- ihrer eigenen Beschlüsse verantwortlich wä-
glieder unmittelbar rechenschaftspflichtig ren. Als Konsequenz müsste jedoch entwe-
gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern, der eine überdimensionierte europäische
was die Legitimationsbasis der EU als Gan- Administration entstehen oder ein Groß-
zes festigen würde. Das Senatsmodell ist be- teil der Politikbereiche wäre per se von Ent-
reits in der Vergangenheit wiederholt promi- scheidungsfindungen auf europäischer Ebe-
nent diskutiert worden. ❙21 ne ausgeschlossen. Es scheint hier also keine
wünschenswerte Möglichkeit zu geben, den
verbundföderalen Charakter der Regelungen
Zur Notwendigkeit der Verflechtung zur Umsetzung europäischer Entscheidun-
gen aufzuheben. Wenn jedoch, wie empfoh-
Auch die Beziehungen zwischen den Mit- len, nationale und europäische Kompetenzen
gliedsstaaten und der Unionsebene tragen in strikt und eindeutig getrennt wären, gäbe es
der EU verbundföderale Züge: Durch die Zu- keine falschen Verantwortungszuweisungen
ständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Um- mehr. Es müssten freilich stärkere Sanktions-
setzung von europäischen Legislativakten ist möglichkeiten für die EU geschaffen werden,
eine enge Beziehung zwischen den beiden um eine eventuelle Nichtumsetzung durch
Ebenen unabdinglich. Dieser Umstand liegt die Mitgliedsstaaten zu bestrafen.
insbesondere darin begründet, dass europä-
ische Behörden eine EU-weite Umsetzung
nicht gewährleisten könnten. ❙22 Die Umset- Fazit
zung von Richtlinien durch die Mitglieds-
staaten hat zudem den entscheidenden Vor- Die Zukunft der EU hängt entscheidend da-
teil, dass europaweite Vorhaben an lokale von ab, ob und wie die Unionspolitikerin-
Gegebenheiten angepasst werden ­ können. nen und -politiker in der Lage sein werden,
Für Bürgerinnen und Bürger ist dadurch die anhaltende Legitimitätskrise zu lösen.
der eigentliche Ursprung des Gesetzesak- Eine Neugestaltung des politischen Systems
tes jedoch einmal mehr nur schwer erkenn- scheint dabei ein wichtiger Grundpfeiler zu
bar. ❙23 Aus diesem verbundföderalen Aspekt sein. Als grundlegend erachten wir eine klare
resultiert zum einen die bereits erwähn- und statische Kompetenzverteilung zwischen
te Möglichkeit der falschen Verantwortlich- den Mitgliedsstaaten und den supranationa-
keitszuordnung: Es besteht die Gefahr, dass len Institutionen. Diese würde das System
die Mitgliedsstaaten entweder für EU-Ent- für Bürgerinnen und Bürger zugänglicher
scheidungen zur Rechenschaft gezogen wer- machen. Außerdem könnten die genannten
den, obwohl sie nur die Umsetzung der eu- Maßnahmen die Union entschlussfähiger
ropäischen Entscheidung zu verantworten machen und somit helfen, ihre Legitimität zu
haben, ❙24 oder bei der Umsetzung über die steigern. Dabei ist es zwingend notwendig,
die Autonomie und Heterogenität der Mit-
gliedsstaaten zu respektieren und Raum für
❙20  Vgl. A. Follesdal/​S . Hix (Anm. 18), S. 554.
❙21  Vgl. etwa Joschka Fischer, Vom Staatenbund zur Eigenständigkeit zu lassen, um den Schre-
Föderation – Gedanken über die Finalität der euro- ckensszenarien eines „europäischen Super-
päischen Integration, Rede an der Humboldt-Univer- staates“ keine weiteren Argumente zu liefern.
sität zu Berlin, 12. 5. 2000.
❙22  Vgl. A. Moravcsik (Anm. 14), S. 170 f.
❙23  Vgl. Fritz W. Scharpf, Legitimacy in the Multile-
vel European Polity, in: ders. (Hrsg.), Community
and Autonomy, Institutions, Policies and Legitimacy
in Multi-Level Europe, Frank­f urt/M. 2010, S. 325.
❙24  Vgl. ebd.

APuZ 28–30/2015 35
Felix Schulte Die tatsächliche ethnische Heterogenität
steht diametral zum Konzept des klassischen

Frieden durch politischen Ordnungsmodells Nationalstaat.


Das daraus resultierende Spannungsverhält-
nis entlädt sich in einer Vielzahl ethnischer

­Föderalismus Konflikte. Ob in den Balkankriegen oder im


Osttimor-Konflikt – hinter der Gewalt steht
das Bemühen, einen homogenen Staat in ei-
ner de facto heterogenen Welt zu realisieren.

H omogenität als Wesensmerkmal einer Na-


tion ist nichts Natürliches, sondern eine
soziale Konstruktion. Darüber hinaus ist sie
In vielen Fällen sind Gruppen nicht (mehr)
bereit, das Homogenitätskonzept wider-
spruchslos mitzutragen. Sie empfinden die
ein Produkt der Macht, wahrgenommenen Ungleichheiten als unge-
Felix Schulte entstanden aus jenem recht und stellen Forderungen nach politi-
M. A., geb. 1989; Research Fellow Prozess, in dem die scher Teilhabe oder Selbstregierung, um die
am Åland Islands Peace Insti- Nation in eine politi- kulturellen Angelegenheiten der Identitäts-
tute und Doktorand am Institut sche Form gegossen gemeinschaft selbstständig regeln zu können.
für Politische Wissenschaft der und zum National- Ein Nationalstaat wertet solche Forderungen
Ruprecht-Karls-Universität Hei- staat wurde. Die Ver- häufig als Angriff auf seine Souveränität.
delberg, Bergheimer Straße 58, einheitlichung des He-
69115 Heidelberg. terogenen gelang zum Ethnische Konflikte sind die Folge, die
felix-schulte@web.de einen durch physische weitaus häufiger vorkommen, als es die be-
Macht – nur wenige der kannten Brennpunkte vermuten lassen: Von
heute existierenden Nationalstaaten sind keine den 347 innerstaatlichen Konflikten 2014 wa-
Kriegsgeburten –, zum anderen durch die kul- ren etwa 60 bis 70 Prozent als „ethnisch“ zu
turelle Macht der jeweils dominanten Gruppe. deklarieren. Knapp jeder dritte Konflikt dreht
Nationen sind „vorgestellte Gemeinschaften“. ❙1 sich um Autonomie- oder Sezessionsforde-
rungen. Europa ist nach der asiatisch-ozeani-
Weltweit ist kaum ein Staat ethnisch homo- schen Region der zweithäufigste Schauplatz.❙5
gen. In der Bundesrepublik leben mit Sorben, 28 Prozent der Kämpfe um einen eigenen Staat
Friesen, Dänen sowie Sinti und Roma vier wei- oder um Selbstregierungsrechte fanden hier
tere ethnische Gruppen. In den europäischen statt. Im Unterschied zu Konflikten um Res-
Staaten summiert sich deren Anzahl auf rund sourcen oder Land geht es dabei nicht um In-
350, weltweit sind es etwa 10 000. ❙2 Im Laufe teressen. Ethnische Konflikte sind Identitäts-
der Geschichte wurden sie durch Staatsgrün- konflikte. Sie beruhen nicht darauf, was die
dungsprozesse und Grenzverschiebungen in Konfliktparteien wollen (oder zu wollen vor-
bestehende Staatswesen inkorporiert, den- geben), sondern was diese sind oder zu sein
noch fühlen sie sich „dem Staat“ beziehungs-
weise „dem Volk“ nicht vollständig zugehö-
rig. Die Ära des Nationalismus verlief wie die ❙1 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation,
Frankfurt/M.
­ 1996.
„Reise nach Jerusalem“: Die Anzahl an Völ-
❙2 Einen Überblick bieten Anna Gamper/Christoph
kern übersteigt die Anzahl potenziell exis- Pan (Hrsg.), Volksgruppen und regionale Selbstver-
tenzfähiger Staatseinheiten. Es kommt zum waltung in Europa, Wien 2008.
Wettstreit. Als die „Musik“ aufhört zu spielen, ❙3 Genauer hierzu: Lars-Erik Cederman/Kristian S.
sind Kurden, Tataren oder Osseten ohne Sitz- Gleditsch/Halvard Buhaug, Inequality, Grievances,
platz. In anderen Fällen sitzen Spanier, Basken and Civil War, Cambridge 2013.
❙4 Eigene Untersuchung auf Basis des ETH Ethnic
und Katalanen auf einem Stuhl. Alle wollen je-
Power Relations Datasets (EPR-ETH), des Minori-
doch gleichermaßen ihre ethnische Identität ties at Risk-Datensatzes sowie des World Directory
ausleben. ❙3 Doch der Homogenitätsanspruch of Minorities and Indigenous Peoples; vgl. hierzu:
eines Nationalstaates resultiert in der Nicht- Lars-Erik Cederman/Andreas Wimmer/Brian Min,
beachtung ethnischer Heterogenität. Diskri- Why Do Ethnic Groups Rebel? New Data and Ana-
minierungen sind die häufige Folge. Mehr als lysis, in: World Politics, 62 (2014) 1, S. 87–119.
❙5 Vgl. hier und im Folgenden: Heidelberg Institute
jede vierte Gruppe wird kulturell diskrimi-
for International Conflict Research, Conflict Baro-
niert, mehr als jede dritte ökonomisch oder so- meter 2014, Heidelberg 2015; Elaine K. Denny/Bar-
zial. Mehr als jede zweite leidet unter politi- bara F. Walter, Ethnicity and Civil War, in: Journal of
scher ­Diskriminierung. ❙4 Peace Research, 51 (2014) 2, S. 199–212.

36 APuZ 28–30/2015
glauben. ❙6 Die Ursache ethnischer Konflikte sich nicht automatisch das Recht auf einen ei-
ist im Verhältnis der Gruppen innerhalb des genen Staat ab. Mit den völkerrechtlichen Ar-
Staatswesens zu suchen. Ihre friedliche Regu- gumenten der Souveränität und territorialen
lierung kann nur über den Weg der Anerken- Integrität wehren sich Nationalstaaten erfolg-
nung ethnischer Identität gelingen. reich gegen derartige Forderungen. Die Furcht
der Staatengemeinschaft vor einer Vielzahl
kaum überlebensfähiger Staatseinheiten tut ihr
Anerkennung durch Schutz Übriges. Minderheitenschutzrechte sind ein
­
erfolgreicheres Konzept. Ein Beispiel sind die
Die Forderung nach Anerkennung ist eine Bonn-Kopenhagener Erklärungen, mit denen
Forderung nach Aufwertung. Nicht-Anerken- 1955 der dänischen Minderheit in Deutsch-
nung beschädigt kollektive Selbstbilder, was land besondere Schutzrechte eingeräumt wur-
mitunter zu gewaltsamen Gegenreaktionen den. Eigene Kindergärten, Schulen, Sport- und
führt. Die Gretchenfrage ist dabei, wer über Kulturvereine schützen die dänische Identität.
wen in welchem Maße Herrschaft ausüben Durch den Südschleswigschen Wählerverband
darf – eine ordnungspolitische Frage. Ethni- sind die Dänen an der politischen Entschei-
sche Problemlagen bedürfen daher auch einer dungsfindung beteiligt. Mithilfe gesetzlich ver-
politischen Lösung. Strategien des Umgangs ankerter und beidseitig anerkannter Schutz-
mit ethnischer Differenz lassen sich unter den rechte wurde aus einem historisch belasteten
Schlagworten der Eliminierung, Kontrolle und Gegeneinander ein friedvolles Miteinander.
Anerkennung zusammenfassen. ❙7 Eliminieren- Die Implementierung derartiger Schutzrechte
de Maßnahmen wie Assimilationspolitiken, ist für einen Nationalstaat eine recht problem-
Zwangsumsiedlungen bis hin zum Genozid lose Möglichkeit der Anerkennung. Sie bringen
dienen dem Versuch, die Gesellschaft zu ho- keinen Souveränitätsverzicht mit sich. An der
mogenisieren. Durch kontrollierende Maßnah- Vorherrschaft des Volkes ändert sich nichts.
men sucht die Mehrheit, ihre hegemoniale Po- Die Rechte der ethnischen Gruppe beschrän-
sition gegenüber der Minderheit abzusichern. ken sich auf Verwaltungskompetenzen, meist
Für das Ziel einer homogenen ethnisch-natio- im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik.
nalen Kulturgemeinschaft werden durch beide Sie schützen vor Assimilierung und bewahren
Strategien Minderheiten ausgegrenzt. Neben die gruppenspezifische Identität.
der fehlenden moralischen Rechtfertigung ist
dabei auch die Wahrscheinlichkeit einer fried- Solche „weichen“ Formen der Anerkennung
lichen Konfliktbeilegung äußerst gering. reichen oftmals aus, um eine Gruppe fried-
lich in ein Staatswesen zu integrieren. Aller-
Maßnahmen der Anerkennung sorgen da- dings funktioniert dies nur, wenn es sich da-
gegen für einen Verständigungsprozess zwi- bei um eine Minderheit handelt, die sich mit
schen den Gruppen. Sie haben eine Abkehr dem Schutz ihrer Kultur zufrieden gibt. Beides
vom klassischen Nationalstaatskonzept zur trifft auf die dänische Minderheit zu. Ihr Mut-
Folge. Mittels geeigneter Instrumente kann terland liegt zudem in unmittelbarer Nähe. So
ein konflikthaftes Verhältnis in eine friedliche schlug die Forderung nach Anerkennung nie in
Koexistenz transformiert werden. Das Non- ein Verlangen nach einem eigenen Staatswesen
plusultra der Anerkennung ist die volle Sou- um. Anders ergeht es den Katalanen, Kurden
veränität über ein Staatswesen. Staatsneugrün- oder Osseten. Sie haben keinen Patronagestaat
dungen verlaufen jedoch selten friedlich, wie und fordern ihre Selbstregierung. In solchen
zahllose Fälle von Abchasien bis Süd­sudan zei- Fällen erweisen sich bloße Schutzrechte als zu
gen. Meist haben schon derartige Forderungen schwach. Es bedarf weitergehender Maßnah-
eine Eskalation zur Folge. Eine Sezession be- men, die mit einer Übertragung von Souverä-
deutet den vollständigen Souveränitätsverzicht nitätsrechten einhergehen. Dafür kommen ver-
des Staates über ein Territorium. Das wird von schiedene Formen des Föderalismus infrage.
diesem nicht ohne Weiteres akzeptiert. Aus
dem Selbstbestimmungsrecht der Völker leitet
Annäherung durch Teilung
❙ Vgl. Aurel Croissant et  al., Kulturelle Konflikte
6 

seit 1945, Baden-Baden 2009. Das Ordnungsprinzip des Föderalismus be-


❙7  Vgl. Ulrich Schneckener, Auswege aus dem Bür- ruht auf sich weitestgehend selbst bestim-
gerkrieg, Frank­f urt/M. 2002. menden Föderationssubjekten. Im Rahmen

APuZ 28–30/2015 37
eines ethnischen Föderalismus werden Grup- Beide Formen sind an Voraussetzungen ge-
pen selbst zu staatstragenden Elementen. knüpft: Sie benötigen mehrere politisch rele-
Dies führt automatisch zur Anerkennung vante Gruppen ähnlicher Größe, die konzen-
ethnischer Differenz. Die Möglichkeiten triert siedeln und vergleichbare Forderungen
des Föderalismus, eine friedliche Koexistenz nach Anerkennung artikulieren. Selbst wenn
herzustellen, basieren auf geteilter Souverä- dies gegeben ist, bleibt das Leistungspoten-
nität, wobei eine Balance zwischen notwen- zial des ethnischen Föderalismus überschau-
diger Einheit und gewünschter Vielfalt her- bar. Der Grund liegt im ihm inhärenten Prin-
gestellt werden soll. Die Existenz mehrerer zip der Machtteilung. Die Gruppen sollen das
Amtssprachen, die Berücksichtigung ethni- Gemeinwesen gemeinsam regieren. Das setzt
scher Zugehörigkeit bei der Zusammenset- eine ständige Kooperations- und Kompro-
zung von Institutionen und ein entlang eth- missbereitschaft voraus. Die Inklusion sämt-
nischer cleavages gespaltenes Parteiensystem licher gesellschaftlicher Gruppen am poli-
sind mögliche Erkennungsmerkmale. Eine tischen Aushandlungsprozess kann schnell
Verallgemeinerung ist kaum möglich, da das zum Fluch werden. Das zeigt die gescheiter-
Prinzip meist maßgeschneidert zur Geltung te Konfliktregulierung auf Zypern: Per Ver-
kommt. fassung sollten die Interessen beider Gruppen
unter einen Hut gebracht werden. So bildeten
Aus theoretischer Sicht basieren föderale ein griechisch-zyprischer Präsident, ein tür-
Strukturen auf einer gesetzlichen Vereinba- kisch-zyprischer Vize-Präsident und ein Rat
rung über den Zusammenschluss einzelner aus Mitgliedern beider Gruppen die geteilte
Gliedstaaten zu einem Gemeinwesen. Die Exekutive. Für das Parlament wurde eine ge-
Gliedstaaten sind auf Bundesebene repräsen- naue ethnische Zusammensetzung festgelegt,
tiert und beteiligen sich am Gesetzgebungs- ebenso für den öffentlichen Dienst. Doch die
verfahren. In einem klassischen „symmetri- griechischen Zyprer empfanden es als Be-
schen“ Bundesstaat besitzen alle Gliedstaaten nachteiligung, dass die türkischen Zyprer nur
dieselben Kompetenzen. Ethnische Versio- 18 Prozent der Bevölkerung stellten, aber gut
nen dieses Typus sind selten. In Grundzü- ein Drittel aller staatlichen Jobs erhalten soll-
gen gehört Belgien mit seinen drei Gemein- ten. Der Streit über eine Verfassungsänderung
schaften für die flämische, wallonische und eskalierte schließlich zum B ­ ürgerkrieg. ❙9
deutsche Volksgruppe dazu. In der Regel
sind jedoch nicht alle Gruppen staatstragend. Auch aus Angola oder Bosnien-Herze-
Grundsätzlich werden im ethnischen Föde- gowina gibt es diesbezüglich wenig Er-
ralismus territoriale Gruppen vor nicht-ter- freuliches zu berichten. Annäherung durch
ritorialen Gruppen privilegiert. Unter letzte- (Macht-)Teilung funktioniert nur begrenzt.
ren stattet er jene, die Anerkennung fordern, In einem womöglich gewaltsam verlaufenden
mit bestimmten Souveränitätsrechten aus. Er Konflikt sind Kooperations- und Kompro-
kann also flexibel durch positive Diskrimi- missbereitschaft zwischen den verschiede-
nierungsmaßnahmen auf ethnische Problem- nen Gruppen schlicht nicht vorhanden. Das
lagen reagieren. Ein Beispiel für eine solche Regulierungsmodell der territorialen Auto-
ethnische Variante des asymmetrischen Fö- nomie verschiebt den Schwerpunkt von der
deralismus ist Spanien. Das Land ist in 17 „au- Machtteilung auf begrenzte Eigenständig-
tonome Gemeinschaften“ mit unterschiedli- keit. Die Zusammenarbeit zwischen Grup-
chen Befugnissen unterteilt. Hier fungierte pen wird auf ein Mindestmaß beschränkt.
der Föderalismus als Ex-ante-Strategie, um
das multiethnische Gemeinwesen vor dem
Auseinanderfallen zu bewahren (holding to- Annäherung durch Eigenständigkeit
gether federations). Gleichwohl kann das fö-
derale Prinzip auch ex post wirken. Sich be- Die finnischen Åland-Inseln, Italiens  Süd­ti­
reits in einem Konflikt befindliche Gruppen rol oder das moldawische Gagausien – viel­fach
sollen sich im Rahmen eines föderalen Arran- führte die Übertragung von Autonomierech-
gements versöhnen. Dann handelt es sich um
coming together ­federations. ❙8
❙9  Vgl. Susanne Baier-Allen, The Failure of Power-
Sharing in Cyprus. Causes and Consequences, in: Ul-
❙8  Vgl. Andreas Heinemann-Grüder, Föderalismus rich Schneckener/Stefan Wolff (Hrsg.), Managing and
als Konfliktregelung, Berlin 2011. Settling Ethnic Conflicts, London 2004, S. 77–93.

38 APuZ 28–30/2015
Tabelle: Kompetenzbereiche Ålands und Finnlands im Vergleich
Åland Finnland
Bildung, Kultur, Denkmalpflege Verfassungsrecht
Gesundheits- und Sozialwesen Außen- und Sicherheitspolitik
Öffentliche Ordnung, Sicherheit Zentrales Banken- und Gerichtswesen
Wirtschaftsförderung, Umweltschutz Straf-, Zivil- und Arbeitsrecht
Kommunalrecht und -steuern Großteil der Steuerpolitik
Miet- und Pachtregelungen
Post, Rundfunk
Handelsschifffahrt
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei

ten zu einer friedlichen Konfliktbeilegung. ist. Es handelt sich um begrenzte Selbstregie-


Territorialautonomien bilden einen Subty- rung, da zentrale Kompetenzen wie die Steu-
pus des asymmetrischen Föderalismus. Im er- oder Außenpolitik beim Staat verbleiben.
Gegensatz zu klassischen Föderationen ent-
stehen sie nicht „von unten“ durch den Zu- Auf den ersten Blick scheint ein solcher
sammenschluss einzelner Gliedstaaten, son- Sonderstatus höchst desintegrativ. Laut Kri-
dern „von oben“: Territoriale Autonomien tikerinnen und Kritikern dienen Territorial­
werden in der Regel von einem Staat durch auto­nomien ethnischen Gruppen in erster Li-
ein (Verfassungs-)Gesetz eingerichtet. Es nie als Sprungbretter in die Sezession. ❙11 Die
handelt sich um keine ausgehandelte Macht- Gewährung begrenzter Eigenständigkeit
teilung, sondern um eine Kompetenzüber- kann aber durchaus eine Annäherung zwi-
tragung einer höheren Ebene auf eine tiefe- schen Gruppen bewirken. Anerkennungsfor-
re. Eine klassische Territorialautonomie ist derungen einer Minderheit gegenüber einem
nicht am staatlichen Gesetzgebungsverfah- Staatsvolk konstituieren die klassische Prob-
ren beteiligt. Auch gibt es keine rechtliche lemlage. Soll die Identität nur einer territori-
Vorrangstellung von staatlichem Recht wie alen Gruppe mittels besonderer Rechte und
in einem Bundesstaat („Bundesrecht bricht Institutionen geschützt werden, ist eine Ter-
Landesrecht“). Von Autonomie-Institutio- ritorialautonomie ein geeignetes ­Instrument.
nen beschlossene Regelungen können daher Wanderungsbewegungen können jedoch
innerhalb eines gewährten Kompetenzberei- dazu führen, dass sich die demografische Zu-
ches nicht aufgehoben werden. sammensetzung ändert, die größte ethnische
Gruppe zur Minderheit wird und die Auto-
Die Selbstregierung einer Gruppe durch nomie ihre Raison d’Être verliert. ❙12
territoriale Autonomie basiert auf dem Son-
derstatus ihres Siedlungsgebietes inner- Dennoch ist Territorialautonomien bei
halb der Staatsordnung. Damit einher ge- passenden Voraussetzungen ein hohes Kon-
hen vom Staat unabhängige Institutionen fliktregulierungspotenzial zu bescheinigen.
mit weitreichenden und exklusiven exeku- Ihre besondere Leistungsfähigkeit liegt darin,
tiven und legislativen Kompetenzen. Der dass die Hauptanliegen eines Nationalstaates
Grad an Selbstbestimmung übersteigt jenen berücksichtigt werden. Der Staat als solcher
bei Minderheitenschutzrechten um ein Viel- bleibt bestehen: Er muss keinen territorialen
faches. Nicht nur Angelegenheiten in Bezug Verlust hinnehmen; er vertritt und verteidigt
auf Kultur und Bildung, sondern auch die So- die gesamte Gebietskörperschaft nach außen;
zial- und Wirtschaftspolitik werden von der kritische Kompetenzen wie die Außen- und
Gebietskörperschaft geregelt (Tabelle). ❙10 Ge-
naue Kompetenzbereiche sind kaum zu ver-
allgemeinern, da die Bandbreite sehr groß ❙11  Vgl. Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Con-
flict, Los Angeles 1986; Eric A. Nordlinger, Conflict
Regulation in Divided Societies, Cambridge 1972.
❙10  Vgl. Susanne Eriksson et al., Islands of Peace. ❙12  Vgl. Ruth Lapidoth, Autonomy. Potential and Li-
Åland’s Autonomy, Demilitarization and Neutrali- mitations, in: International Journal on Minority and
zation, Mariehamn 2006. Group Rights, 1 (1994) 4, S. 283 f.

APuZ 28–30/2015 39
Sicherheitspolitik bleiben in seiner Hand; un- gleichen Bedingungen ebenso. Doch das darf
kritische Kompetenzen überträgt er nach un- nicht zu Desillusionierung führen. Es kommt
ten, sodass die Selbstbestimmungsrechte als niemand auf die Idee, das Gesundheitswesen
Zugeständnisse erscheinen. An der Dominanz abzuschaffen, nur weil Todesfälle unvermeid-
des Staatsvolkes ändert sich nichts. Der nach lich sind.❙14 Es geht darum, für jeden Patient
Anerkennung strebenden Gruppe wird ein die beste Therapie zu finden. Das gilt auch
weitgehendes Maß an Selbstregierung ermög- für die Konfliktregulierung. Es steht eine
licht. Sie kann fast alle ihre Angelegenheiten Vielzahl an Medikamenten zur Verfügung.
selbstbestimmt regeln und ihre eigene Identi- Unter den genannten Voraussetzungen ver-
tät ausleben. Die Souveränitätsrechte können sprechen territoriale Autonomien die größ-
nicht ohne die Autonomie-Institutionen rück- ten Heilungschancen. Bei der Bewertung der
gängig gemacht werden. Autonomien bieten Instrumente darf jedoch nicht die vollständi-
dadurch ein hohes Maß an Schutz. Im Gegen- ge Beilegung eines Konfliktes das Kriterium
satz zur Machtteilung besteht kein Zwang zur sein. Verteilungskonflikte gibt es in jedem fö-
Kooperation. Die Zusammenarbeit zwischen deralen System (Stichwort: Länderfinanzaus-
Staat und Autonomie bleibt auf wenige Poli- gleich). Der Maßstab ist stets die friedliche
tikbereiche beschränkt. Etwa die Hälfte al- Konfliktbearbeitung im Sinne einer dauer-
ler Autonomien in Europa wurde nach Kon- ­
haften Eskalationsverhinderung.
flikten eingerichtet. ❙13 Der empirische Erfolg
ist unbestritten: Die Südtiroler müssen keine Eine Regulierung der Konflikte in der
Italianisierung ihrer Heimat mehr befürch- Ukraine, in Myanmar oder Mali scheint ohne
ten; die Åländer fordern schon längst nicht ein ethnoföderales Arrangement kaum denk-
mehr die Wiedereingliederung ihrer Inseln bar.❙15 Handlungsoptionen für ethnische Pro-
an Schweden; auch Gagausen und Moldauer blemlagen bedarf es dringender denn je. Die
leben heute dank einer Territorialautonomie Voraussetzung ist die Abkehr vom National-
friedlich zusammen. staatsdenken. Wir haben unser Verständnis
von staatlicher Souveränität und ihren Gren-
zen längst an die Existenz internationaler
Auf die Optionen kommt es an Kooperation angepasst. „Sovereignty, like
the atom, can be split“❙16 – das merken wir als
Wie eine friedliche Koexistenz erreicht werden Bürgerinnen und Bürger der EU. Internatio-
kann, ist immer fallabhängig. Es gibt kein Pa- nale Politik verläuft schon längst nicht mehr
tentrezept. Implementierte Modelle sind meist nur zwischen Nationalstaaten, sondern in
speziell auf die Konfliktparteien zugeschnit- vielen Bereichen vertikal zwischen verschie-
ten. Dem Föderalismus kommt als Souveräni- denen Ebenen. Es ist an der Zeit, unser Ver-
tät teilendes Ordnungsprinzip eine besonde- ständnis von Staatlichkeit um den unteren
re Bedeutung bei der Entschärfung ethnischer Teil dieser Achse mit all ihren Formen der
Problemlagen zu. Trotzdem bietet er alles an- substaatlichen Organisation zu erweitern.
dere als eine Erfolgsgarantie. Ob Pakistan oder Auf ihr finden sich Minderheitenschutz-
Serbien-Montenegro – die Liste gescheiterter rechte wie im deutsch-dänischen Grenzge-
Ethnoföderationen ist lang. Doch auf die For- biet, spezifische föderale Arrangements wie
derungen nach Anerkennung nicht zu reagie- in Belgien oder Spanien und Autonomien wie
ren, ist keine Alternative. Wenn bloße Minder- in Finnland oder Italien. In all diesen Fällen
heitenschutzrechte nicht ausreichen, bedarf es wurde das Homogenitätsprinzip des klassi-
makropolitischer Lösungen. Formen des eth- schen Nationalstaates durchbrochen. Nur so
nischen Föderalismus sind meist die einzig kann der unbestreitbaren ethnischen Hetero-
verbleibende Option, um ein Auseinanderbre- genität Rechnung getragen werden.
chen des Staatswesens zu verhindern.

Wenn föderale Regulierungsmodelle schei- ❙14 Vgl. A. Heinemann-Grüder (Anm. 10).


tern, liegt das nicht am Instrument an sich. ❙15 Vgl. Liam Anderson, Ethnofederalism and the
Meistens scheitern die Alternativen unter Management of Ethnic Conflict, in: The Journal of
Federalism, 1 (2015) S. 1–24.
❙16 José Trías Monge, Puerto Rico. The Trials of the
❙13  Vgl. Felix Schulte, Conflict Regulation through Oldest Colony in the World, London 1999, S. 170.
Self-Rule, Report from the Åland Islands Peace In-
stitute 1/2015, S. 1–95.

40 APuZ 28–30/2015
Ole Frahm lonialmacht die Kosten zu hoch und der
Nutzen zu gering erschienen. Kolonien äh-

Zentralisierung nelten also nicht Provinzen oder Bundeslän-


dern, sondern waren Peripherien mit sehr ge-
ringem Einfluss auf Entscheidungsprozesse

und Föderalismus im imperialen Staat, dessen rassistische Ideo-


logie keine Selbstbestimmung der Kolonial-

in Afrika
bevölkerung vorsah. Selbst dort, wo wie in
Algerien die Kolonie auch formell dem fran-
zösischen Staat einverleibt wurde, blieb das
Wahlrecht und damit die Repräsentation Al-
geriens in der Pariser Nationalversammlung

S eit Ende des Zweiten Weltkrieges, als noch


ein Großteil des afrikanischen Konti-
nents unter europäischer Fremdherrschaft
allein den französischstämmigen Siedlern
und ihren Abkömmlingen vorbehalten.

stand, hat sich die po- Im Zuge der nach dem Zweiten Weltkrieg
Ole Frahm litische Landkarte Af- mit neuem Elan aufkommenden Unabhän-
Geb. 1980; promovierter rikas wenig verändert: gigkeitsbewegungen war die Zersplitterung
­Politikwissenschaftler und Abgesehen von einigen der afrikanischen Völker in voneinander ge-
Politikberater; lebt in Berlin. Ausnahmen wie Erit- trennte Kolonien ein wichtiges Thema. In
www.olefrahm.com rea und Südsudan, de- den Kreisen afrikanischer Unabhängigkeits-
cken sich die Grenzen kämpfer und Intellektueller entfaltete die be-
der heute unabhängigen Staaten mit jenen ih- sonders vom ersten ghanaischen Präsiden-
rer kolonialen Vorgänger. Die meist kaum ein ten Kwame Nkrumah propagierte Idee der
Jahrhundert währende Kolonialherrschaft hat afrikanischen Einheit als Gegenentwurf zur
die politische, gesellschaftliche und wirtschaft- Aufteilung in separate territoriale Einhei-
liche Struktur der afrikanischen Staaten stark ten eine enorme Wirkung. Paradoxerwei-
geprägt und wirkt bis heute nach – auch mit se bestand das vereinende Element der in
Blick auf die innerstaatlichen Entscheidungs- Bräuchen, Sprache, Glaube und ethnischer
und Verwaltungsstrukturen. Zugehörigkeit ausgesprochen vielfältigen Be-
wohnerinnen und Bewohner des Kontinents
gerade in der (fast) allen gemeinsamen Kolo-
Zentrum und Peripherie nialerfahrung. „Die Kolonisierung hatte ein
im Kolonialismus entscheidendes Ergebnis. Ein Gefühl wurde
auf dem afrikanischen Kontinent erschaffen –
Die Gründung der gegenwärtigen Staaten ein Gefühl von Einheit“, ❙1 so der spätere tan-
Afrikas geht in vielen Fällen auf eine Art per- sanische Präsident Julius Nyerere 1960.
vertierte Dezentralisierung zurück: Die eu-
ropäischen Kolonialmächte führten die Ko- Anders als in der arabischen Welt, wo pan-
lonien als Außenstellen ihrer zentralisierten arabische Einigungsversuche unternommen
Macht; den afrikanischen Peripherien kam in wurden, gab es südlich der Sahara jedoch kei-
erster Linie die Funktion der Versorgung der ne praktischen Bemühungen, die angedach-
Metropolen mit Ressourcen zu, worauf Na- te Einheit zu realisieren. Die 1963 gegründe-
men wie Elfenbeinküste oder Goldküste (das te Organisation der Afrikanischen Einheit
spätere Ghana) hinweisen. Gerade an den (OAU) beschloss bereits 1964, dass die kolo-
Küstenstaaten lässt sich dies auch topogra- nialen Grenzen unangetastet bleiben sollten.
fisch ablesen: Die Hauptstädte lagen und lie- Sowohl die internationale Gemeinschaft als
gen vielerorts nahe oder direkt an der Küste, auch die meisten Unabhängigkeitsbewegun-
um die Kommunikation mit London, Paris gen zogen letztlich souveräne Nationalstaa-
oder Brüssel zu erleichtern; auch die Infra- ten der Utopie einer kontinentalen Einheit
struktur im Landesinneren war, wie etwa in vor. Einzig in Reden, Traktaten und Appellen
Kamerun, einzig darauf ausgerichtet, Men- sowie der in Addis Abeba ansässigen OAU-
schen und Güter aus dem Inland zur Küste
und zurück zu transportieren. Eine Vernet- ❙1  Julius Nyerere, Africa’s Place in the World, Rede
zung innerhalb der Kolonie wurde fast nir- auf dem „Symposium on Africa“ des Wellesley Col-
gendwo in Angriff genommen, da der Ko- lege, 17. 2. 1960.

APuZ 28–30/2015 41
Nachfolgeorganisation der Afrikanischen Diese institutionelle Kontinuität fand sich
Union lebt der Gedanke der afrikanischen auch in der Gliederung der staatlichen Ver-
Einheit fort. Der Paragraf in Malis Verfas- waltung wieder und prägte die Beziehungen
sung, der die Auflösung des Staates im Falle zwischen innerstaatlichem Zentrum und Pe-
der afrikanischen Einheit vorsieht, ist inzwi- ripherie in ähnlicher Weise wie zuvor jene
schen eher Kuriosum denn Ausdruck einer der Metropole vis-à-vis der Kolonie. Viele
realistischen Erwartung. afrikanische Staaten waren in der Nachko-
lonialzeit zentralistisch organisiert, und die
Im Gegensatz zu den Staatsgründungs- in der Hauptstadt verortete Zentralregierung
prozessen in Europa entstanden die Terri- verfügte über weitreichende Kontrollkompe-
torialstaaten Afrikas somit nicht im Gefol- tenzen. In einer derartigen Staatsorganisati-
ge zwischenstaatlicher Kriege, die auch zur on, wie sie bis in die 1980er Jahre in Afrika
inneren Einheit der werdenden National- die Regel war und auch heute noch vielerorts
staaten beitrugen, sondern durch die wei- besteht, konzentrierte und konsolidierte sich
testgehend kampflose Übergabe durch die die staatliche Macht meist in der Hauptstadt
Kolonialmächte – eine Ausnahme ist das und ihrer Umgebung. Das bedeutete auch,
südliche Afrika. Ein Resultat dieser Entste- dass die Vernachlässigung der entlegeneren
hungsgeschichte ist, dass die Beziehungen Provinzen nach der Unabhängigkeit andau-
zwischen den Staaten überwiegend geregelt erte – unabhängig davon, ob ein kapitalisti-
verliefen, wohingegen ihre innerstaatliche scher, sozialistischer, demokratischer oder
Lage von Instabilität und Aufruhr gekenn- autoritärer Entwicklungspfad beschritten
zeichnet war. ❙2 Bei diesen innenpolitischen wurde. Eine wichtige Rolle spielten dabei die
Auseinandersetzungen spielte und spielt die Lebensläufe der jeweiligen Führungsriegen,
Zentralisierung beziehungsweise Delegati- deren politische und intellektuelle Soziali-
on von Macht und Ressourcen eine entschei- sation oft in jenen Ländern erfolgt war, ge-
dende Rolle. gen deren Herrschaft sie aufbegehrten, die sie
aber dennoch als Muster für den neu zu for-
menden Staat sahen. ❙4 Jenseits dieser Pfad­ab­
Vorbild westeuropäischer Nationalstaat hängig­keit waren es vor allem zwei Motive,
die die afrikanischen politischen Eliten vie-
In der Geschichtswissenschaft wird derzeit lerorts auf einen stark zentralisierten Staat
die Frage diskutiert, inwiefern es auf dem setzen ließen.
afrikanischen Kontinent Kontinuitätslinien
aus der vorkolonialen Zeit bis zur Gegenwart Da der europäische Nationalstaat implizit
gibt, die den Einschnitt des Kolonialismus als Maßstab erfolgreicher Staatsbildung fun-
intakt überstanden haben. ❙3 So unbestreitbar gierte, galt es zum einen, für den jeweiligen
wichtig dieser Blick über den eurozentrischen neuen Staat ein Staatsvolk zu schaffen bezie-
Tellerrand ist, so wenig relevant ist er für ein hungsweise wirkungsvoll zu imaginieren. Die
Verständnis des Widerstreits zwischen Zen- aufgrund der willkürlichen kolonialen Grenz-
tralisierung und Föderalismus im postkolo- ziehungen oftmals sozial, ethnisch, kulturell
nialen Afrika. Denn in den Jahren nach der und linguistisch sehr heterogenen Einwoh-
Unabhängigkeit diente den neu gegründeten nerinnen und Einwohner – im Kongo wer-
Staaten generell der territoriale Nationalstaat den über 200 Sprachen gesprochen, in Nigeria
westeuropäischen Zuschnitts als Vorbild. mehr als 500 – mussten erst zu einer Gemein-
Allzu oft entsprachen Aufbau und Gliede- schaft mit kollektiver Identität zusammenge-
rung des Staates ausgerechnet jenen der ehe- schweißt werden. Aus Sicht vieler Politiker
maligen Kolonialmacht: Vormals britische der ersten Stunde vermochte nur ein Einheits-
Kolonien installierten ein Zweikammersys- staat eine solche Mammutaufgabe zu leisten. ❙5
tem, während ehemals französisch regierte Die Kehrseite des zwangsweise einenden Mo-
Staaten die Institutionen der Fünften Repu-
blik oft eins zu eins ü
­ bernahmen.
❙4  Vgl. Christopher Clapham, Africa and the Inter-
national System: The Politics of State Survival, Cam-
❙2  Vgl. Jeffrey Herbst, States and Power in Africa, bridge 2007, S. 21.
Princeton 2000, S. 109. ❙5  Vgl. Godfrey Mwakikagile, The Modern African
❙3  Vgl. z. B. Catherine Boone, Political Topographies State: Quest for Transformation, New York 2001,
of the African State, Cambridge 2004. S. 207.

42 APuZ 28–30/2015
ments zeigte sich im Umgang mit jenen Insti- unweigerlich zu einem Nullsummenspiel,
tutionen und Personen, die der Idee des Nati- bei dem es nur einen Gewinner geben kann.
onalstaates im Wege standen – in erster Linie Im postkolonialen Afrika bedeutete diese
traditionelle lokale Autoritäten wie Stam- Anreizstruktur, dass sich politischer Wett-
mesführer, die zudem im Fortschrittsglau- bewerb durch Oppositionsparteien oder
ben der Epoche als Relikte einer überkomme- Rebellenbewegungen darauf verengte, Kon-
nen Zeit und Kultur galten. Symp­to­ma­tisch trolle über die Zentralregierung zu erlan-
ist der Ausspruch des ersten Präsidenten Mo- gen. Forderungen nach Devolution wurden
sambiks Samora Machel: „Damit die Nation hingegen kaum geäußert und noch seltener
leben kann, muss der Stamm sterben.“ ❙6 Aus gehört. Ganz im Gegenteil nahmen mehre-
dieser Überzeugung heraus kam eine föderale re Herrscher die Verarmung und Verwahr-
Struktur, die lokalen Kräften, in einer Mehr- losung der Provinzen entweder in Kauf oder
zahl der Fälle traditionellen Führern, größere sahen darin sogar eine Strategie zum Macht-
Mitspracherechte gewährt hätte, für viele Eli- erhalt. So ließ Präsident Mobutu in Zaïre, der
ten nicht infrage. heutigen Demokratischen Republik Kongo,
bewusst die Infrastruktur des riesigen Lan-
Zum anderen konnte in einem Zentral- des zerfallen, um möglichen regionalen Op-
staat das neopatrimoniale Herrschaftssystem positionskräften die Mittel zu nehmen, ihn
einfacher aufrechterhalten werden – selbst zu stürzen. Ein besonders drastischer Fall
wenn dies als Motiv kaum offen ausgespro- ist auch Sierra Leone, wo Premierminister
chen wurde. Ein solches System, wie es nach Siaka Stevens nach seinem Wahlsieg 1967 die
wie vor in vielen afrikanischen Staaten be- Eisenbahntrasse ins Hinterland kappen ließ.
steht, fußt auf der Kontrolle der staatlichen Dies ruinierte zwar die Wirtschaft, hatte
Ressourcen durch das Zentrum, das wiede- aber den aus Stevens Sicht weitaus wichti-
rum seinen Anhängerinnen und Anhängern geren Effekt, dass das Hinterland, das mit
im Tausch gegen ihre Loyalität Pfründe und großer Mehrheit den Gegenkandidaten un-
Vergünstigungen gewährt. ❙7 Besonders häu- terstützt hatte, dauerhaft an Einfluss auf die
fig findet sich dieses System in ressourcenrei- nationale Politik verlor. ❙9
chen Ländern wie Angola oder Äquatorial-
guinea. Der Staat nimmt hier einen exorbitant
großen Raum im gesellschaftlichen wie wirt- Dezentralisierung
schaftlichen Leben ein und verdrängt ande- des gescheiterten Zentralstaates
re Akteure. Zugleich nutzen diejenigen, die
Teil des Staatskörpers sind, dessen dominan- Dieses auf Korruption und Privatisierung des
te Position, um sich und den Zentralstaat auf Gemeinguts basierende Vorgehen hatte zur
Kosten der Bevölkerung zu bereichern und Folge, dass der Staat zwar zentralisiert, in
den Fortbestand des Versorgungsapparates der Peripherie zugleich aber relativ schwach
zu sichern. ❙8 Infolgedessen wuchsen vor al- war. In vielen ländlichen Regionen, wo zu-
lem die Hauptstädte rasant an – Luanda, die nächst noch die große Mehrheit der Bevölke-
Hauptstadt Angolas, ist zehnmal so groß wie rung lebte, waren der Staat beziehungsweise
die nächstgrößte Stadt des Landes – und ver- seine Organe kaum präsent, sodass beispiels-
formten sich zu gigantischen Wasserköpfen, weise ein tschadischer Bauer nur selten einen
die sich auf Kosten der ländlichen Massen Richter, Lehrer oder anderen Staatsbeamten
nähren. zu Gesicht bekam. Dementsprechend hielten
sich Verbundenheit mit und Loyalität gegen-
Solange jedoch der sicherste Zugang zu über dem Zentralstaat bei der Landbevölke-
Reichtum und Einfluss in der Kontrolle rung in Grenzen. Nur durch Zwang und Re-
über die Staatsorgane besteht, wird Politik pression konnte sich der schwache Staat über
Wasser halten – und hielt dabei den Repres-
❙6  Zit. nach: Albie Sachs/Gita Honwana Welch, Libe- sionsapparat des ehemaligen Kolonialstaates
rating the Law: Creating Popular Justice in Mozam- zu seinen Gunsten am Leben und baute ihn
bique, London 1990, S. 5. weiter aus. Der Einheitsstaat erwies sich zu-
❙7  Vgl. Gero Erdmann/Ulf Engel, Neopatrimonia-
lism Revisited – Beyond a Catch All Concept, GIGA
sehends als Entwicklungshindernis.
Working Paper 16/2006.
❙8  Vgl. Jean-François Bayart, The State in Africa: The ❙9  Vgl. Daron Acemoğlu/James A. Robinson, Why
Politics of the Belly, London–New York 1993, S. 78. Nations Fail, London 2012, S. 336 f.

APuZ 28–30/2015 43
Unterdrückung und fehlende Leistung Bundesstaaten von drei (1960) auf zwölf (1967),
schwächten die Legitimität des Staates und be- dann 19 (1976), später 30 (1990) und zurzeit 36
wirkten eine Abkehr von der Zentralregierung vervielfältigte – wobei jede neue Region sich als
sowie eine Rückkehr zu den nie ganz von der frisches Biotop für Korruption, Unterschla-
politischen Bildfläche verschwundenen Loya- gung und Vetternwirtschaft erwies. Dennoch
litäten zu ethnischer Gruppe, Clan und Stamm. besteht für die Zentralregierung die effektivs-
Ein Beispiel dafür ist Niger, ein dünn besiedel- te Methode, für Sicherheit zu sorgen, nach wie
ter Staat mit dem Anspruch eines starken Zen- vor darin, lokale Rebellengruppen mit horren-
tralstaates in französisch-jakobinischer Tra- den, aus Erdöleinnahmen finanzierten Ablass-
dition. In der Praxis führte das Bestreben der zahlungen zu beschwichtigen. Des Weiteren
Staatselite, alternative regionale, soziale oder haben Devolutionsprogramme unter anderem
ethnische Machtzentren auszuschalten, dazu, in Senegal, Tansania, Ghana, Uganda und Ke-
dass zentrifugale Kräfte religiöser wie ethno- nia entgegen ihrem Anspruch de facto zu einer
regionaler Art das Gewaltmonopol des Staates Rezentralisierung der Macht geführt. In Äthi-
immer stärker untergruben.❙10 opien beispielsweise schuf die Regierung nach
ihrer Machtübernahme 1991 einen ethnischen
Forderungen nach Reformen und einer Um- Föderalstaat mit autonomen Regionen für jede
verteilung von Entscheidungsbefugnissen und Ethnie. Die Gliedstaaten dienen jedoch im
Gütern vom Zentrum an lokale Strukturen Wesentlichen dazu, die Weisungen des autori-
wurden schließlich besonders in den 1990er tären, von der Hauptstadt Addis Abeba aus ge-
Jahren durch die Demokratisierungswelle be- lenkten Zentralstaates auszuführen und deren
feuert, die den Kontinent nach dem Zusam- Umsetzung zu überwachen.
menbruch der Sowjetunion erfasste. Für die
von einer Reihe von Staaten daraufhin unter- Doch selbst in jenen Staaten, in denen Macht
nommenen Dezentralisierungsreformen kann und Ressourcen tatsächlich an lokale Körper-
man vier allgemeine Motive identifizieren:❙11 schaften delegiert wurden, ist die lokale Ebene
Erstens war in einigen Ländern die Regierung oft von Korruption und fehlender Repräsenta-
tatsächlich bereit, Kompetenzen an dezentrale tivität gekennzeichnet, wobei die Einbindung
Organe abzugeben; zweitens mussten sich ge- traditioneller Autoritäten eine entscheiden-
rade kleinere afrikanische Staaten wie Gam- de Rolle spielt. Eine Ausnahme bildet hier-
bia im Zuge der Schuldenkrise der 1980er Jah- bei Botswana, das traditionelle Führer in den
re aus Kostengründen von der Bereitstellung formellen Staat integriert hat, indem sie im se-
vieler öffentlicher Dienstleistungen zurück- natsähnlichen House of Chiefs ihre Interes-
ziehen; drittens knüpften Geberländer seit sen artikulieren und durchsetzen können. ❙12
den 1990er Jahren die Vergabe von Hilfsgel- Nicht zufällig ist Botswana eines der stabils-
dern vermehrt an Dezentralisierungsschrit- ten und in den Indizes menschlicher Entwick-
te; viertens ist Dezentralisierung in Postkon- lung weit oben rangierenden Länder des Kon-
fliktgesellschaften eine probate Antwort auf tinents. Es ist jedoch fraglich, ob sich dieser
ethno-regionale Konflikte, wofür exempla- Ansatz in heterogeneren, bevölkerungsreiche-
risch Power-sharing-Arrangements in Südaf- ren und krisengeplagten Ländern replizieren
rika und Nigeria stehen. lässt, in denen weitaus mehr Interessen gegen-
einander abzuwägen sind.
Dezentralisierung ist jedoch kein Garant
für Frieden und Stabilität. Nigeria, das bevöl-
kerungsreichste Land Afrikas, hat nach dem Beispiel Südsudan
Trauma des sezessionistischen Biafra-Krie-
ges Ende der 1960er Jahre eine immer weitere Ein solcher heterogener und von Kriegen ge-
Untergliederung durchlaufen, die die Zahl der zeichneter Staat ist Südsudan, dessen Ge-
schichte die Unwägbarkeiten von Dezentra-
lisierungsmaßnahmen in schwachen Staaten
❙10 Vgl. Jibrin Ibrahim, The Weakness of „Strong Sta- illustriert. Zentrum-Peripherie-Konflikte prä-
tes“: The Case of Niger Republic, in: Adebayo Olu- gen die Region seit Jahrzehnten und sind auch
koshi/Liisa Laakso (Hrsg.), Challenges to the Nati-
on-State in Africa, Uppsala 1996, S. 50–73.
❙11 Vgl. Giorgio Blundo/Jean-Pierre Jacob, Socio-an- ❙12  Vgl. Richard Werbner, Challenging Minorities. Dif-
thropologie de la décentralisation en milieu rural af- ference and Tribal Citizenship in Botswana, in: Journal
ricain, Genf 1997, S. 4. of Southern African Studies, 28 (2002) 4, S. 671–684.

44 APuZ 28–30/2015
eine entscheidende Ursache für den seit De- len Entscheidungsträger sind zudem de facto
zember 2013 wütenden Bürgerkrieg. Bereits nicht den Menschen vor Ort verantwortlich,
seit der Unabhängigkeit Sudans von Großbri- sondern ihren Vorgesetzten in Juba: So hat
tannien 1956 gab es im südlichen Drittel des Präsident Salva Kiir in den vergangenen Jah-
Landes, das zu Kolonialzeiten getrennt ver- ren unter Missachtung der Verfassung meh-
waltet wurde und sich auch ethnisch-religiös rere gewählte Gouverneure ihrer Ämter ent-
vom überwiegend arabisch-muslimisch ge- hoben und durch Getreue ersetzt. Auch die
prägten Norden unterschied, Forderungen wahrscheinlich funktionsfähigste Institution
nach mehr Teilhabe und Autonomie. Da die des Staates, die Armee, ist zentral gesteuert.
Regierungen in Khartum sich stets weigerten,
dem Süden größere Eigenständigkeit zuzuge- Diese Entwicklung ist in vielerlei Hinsicht
stehen, war der Süden bis 2005 Schauplatz bru- typisch für Länder, in denen Befreiungsbe-
taler Guerillakriege. Seit dem Friedensvertrag wegungen an die Macht gelangt sind: Sei es
2005 wird Südsudan von der einstigen Sepa- die SWAPO in Namibia, die EPLF/PFDJ in
ratistenbewegung Sudan People’s Liberation Eritrea oder ZANU-PF in Simbabwe – sie
Movement (SPLM) als autonome Region re- zeigen sich notorisch unwillig, die einmal
giert, nach einem nahezu einstimmigen Refe- errungene Macht zu teilen, da sie sich durch
rendum 2011 als unabhängiger Staat. ihren Einsatz von Leib und Leben als recht-
mäßige Herrscher legitimiert fühlen und ob
Dezentrale Entscheidungsstrukturen sind ihres militärischen Hintergrunds zivilen Ak-
in den meisten südsudanesischen Gemein- teuren und Handlungsweisen misstrauen.❙14
schaften Tradition. Seit dem Buschkrieg ge- Ein wichtiger Unterschied in Südsudan be-
gen die sudanesische Regierung, die Macht steht jedoch darin, dass der Staat nicht über
und Ressourcen in der zentralen Dschasira- die Fähigkeiten, das Personal und die Infra-
Region konzentrierte, vertrat die SPLM Fö- struktur verfügt, um sein Territorium effek-
deralismus und vertikale Gewaltenteilung tiv zu regieren. Jenseits der Hauptstadt und
auch als staatsorganisatorische Grundprinzi- einiger Provinzstädte sind oft weder der Zen-
pien. Das ursprünglich emanzipatorische Ziel tralstaat noch seine Untergliederungen in
eines Neuen Sudans, in dem sämtliche Regi- irgendeiner Form präsent. Stattdessen ha-
onen am geeinten Sudan teilhaben sollten, ben traditionelle Autoritäten das Sagen und
starb jedoch mit dem langjährigen SPLM- regeln unter anderem Streitigkeiten nach
Führer John Garang bei einem Hubschrau- ­Gewohnheitsrecht.❙15
berabsturz 2005 und wich einem verengten
Fokus auf die Unabhängigkeit des Südens. Ein weiterer Grund für die Ablehnung
machtteilender und somit auch föderaler
Die vorläufige Verfassung Südsudans ist Arrangements liegt in der Geschichte des
ein klares Bekenntnis zu dezentraler Ge- südsudanesischen Befreiungskampfs. Fö-
waltenteilung. Tatsächlich besteht der Staat deralismus und Dezentralisierung wurden
nominell aus fünf Verwaltungsebenen: Ne- von der sudanesischen Regierung als Mit-
ben der Zentralregierung gibt es zehn Bun- tel zur Schwächung regionaler Autonomie-
desstaaten, die wiederum in counties unter- bestrebungen eingesetzt. So führte der von
gliedert sind, unter denen auf lokaler Ebene einer Logik des divide et impera geleitete Be-
payam (eine Gruppe Dörfer) und boma (die schluss des Diktators Dschafar Muhammad
einzelnen Dörfer) rangieren. In der Regie- an-Numairi, den zuvor einheitlichen Südsu-
rungspraxis dominiert jedoch unumstrit- dan in drei Subregionen (Bahr al-Ghazal,
ten die Zentralregierung in der Hauptstadt Upper Nile, Equatoria) zu unterteilen, 1983
Juba. Weder Kompetenzen noch finanziel- zur Gründung der SPLM und zum zweiten,
le Mittel werden delegiert. Die lokale Macht über zwanzig Jahre währenden Bürgerkrieg.
der County Commissioner äußert sich vor al-
lem in autokratischem Gebaren und der Ein-
schüchterung konkurrierender Autoritäten ❙14 Vgl. Sara Rich Dorman, Post-Liberation Poli-
wie beispielsweise von Richtern. ❙13 Die loka- tics in Africa: Examining the Political Legacy of
Struggle, in: Third World Quarterly, 27 (2006) 6,
S. 1085–1101.
❙13  Vgl. David K. Deng, Challenges of Accountabili- ❙15 Vgl. Cherry Leonardi, Dealing with Government
ty: An Assessment of Dispute Resolution Processes in South Sudan: Histories of Chiefship, Community
in Rural South Sudan, Juba 2013, S. 19. and State, Woodbridge 2013.

APuZ 28–30/2015 45
Auch die aktuelle Unterteilung Südsudans in schaft Zugehörige. ❙16 In letzter Konsequenz
zehn Gliedstaaten ist das Erbe einer Reform bedeutet die Forderung nach einer stärkeren
der Regierung Omar al-Baschirs von 1994, Föderalisierung Südsudans also eine Gefahr
gegen deren Übernahme die SPLM sich lan- für den ohnehin schwer angeschlagenen nati-
ge sträubte. onalen Zusammenhalt.

Im Schatten des seit 2013 andauernden Bür-


gerkrieges in Südsudan und angesichts des Schlussfolgerung
offensichlichen Scheiterns des Zentralstaa-
tes ist die Diskussion um die föderale Struk- Trotz der angesichts der Größe und Vielfalt
tur des jungen Staates erneut entbrannt und Afrikas gebotenen Vorsicht bei Verallgemei-
zieht trotz der unmissverständlichen Ableh- nerungen sind in vielen Staaten Subsahara-
nung seitens der Regierung weite Kreise. Die Afrikas bestimmte Abfolgen zu beobachten:
Debatte in Südsudan ist nicht grundlegend Auf eine Zentralisierung der Macht folgen
neu, sondern knüpft an Debatten aus den Forderungen nach Föderalismus, die zu zö-
1970er und 1980er Jahren an. Dabei fordern gerlichen Reformen führen, die wiederum
vor allem Vertreterinnen und Vertreter aus eine Rezentralisierung von Kompetenzen
Equatoria, der südlichen und ethnisch viel- nach sich ziehen. Trotz (teilweiser) Demo-
fältigsten der drei Großregionen Südsudans, kratisierung, erwachender Zivilgesellschaf-
mehr Mitsprache und ein größeres Stück ten und eines gestiegenen Drucks durch die
vom staatlichen Kuchen. Diese angesichts Gebergemeinschaft bleibt der zentralisierte
des Missmanagements in Juba auf den ers- starke Staat in weiten Teilen Afrikas das Pa-
ten Blick nachvollziehbare Forderung ist vor radigma erfolgreicher Staatsbildung. Und mit
allem deshalb brandgefährlich, da sie auf ei- Chinas Aufschwung tritt ein Paradebeispiel
nem Verständnis von Föderalismus basiert, einer erfolgreichen zentral gelenkten Ent-
das den „ursprünglichen“ oder autochtho- wicklung an die Seite bürgernaher demokra-
nen Bewohnerinnen und Bewohnern Vor- tischer Regierungsmodelle.
rechte gegenüber Zugezogenen einräumt.
Im Falle Equatorias ist das besonders bri- In vielen afrikanischen Staaten ist die Bi-
sant, da im Zuge der Unabhängigkeitskämp- lanz des zentralistischen Paradigmas hin-
fe ein Großteil der Bevölkerung mindes- sichtlich wirtschaftlicher Entwicklung, sozia-
tens einmal Opfer von Vertreibung wurde, ler Gleichheit oder Teilhabe der Bevölkerung
und sich an vielen Orten Equatorias Dinka aber ausgesprochen mager. Die Pervertierung
angesiedelt haben, die zahlenmäßig größte des Dezentralisierungsgedankens in Südsu-
ethnische Gruppe Südsudans, die ihrerseits dan, wo die Zentralregierung nicht gewillt
aus anderen Regionen fliehen mussten und ist, den formell föderalen Staat mit Leben zu
auch nach der Unabhängigkeit dort geblie- füllen und in der Folge weite Teile des Lan-
ben sind. Das Verlangen nach größerer regi- des jenseits staatlicher Präsenz existieren, ist
onaler Autonomie lässt sich somit zu einem dafür ein trauriger Beleg. Der Verlauf der da-
Gutteil auf Verteilungskämpfe um (Weide-) durch angestoßenen Föderalismusdebatte ist
Land reduzieren. zugleich jedoch Warnung, dass der Ruf nach
Dezentralisierung auch die Vorstufe zu ei-
Einen bedenklichen Weg, wie solche For- nem Appell zur ethnischen Säuberung sein
derungen realisiert werden können, weist kann. Unorthodoxe Formen der Devolution
ausgerechnet einer der brutalsten Milizen- wie zum Beispiel die formalisierte Beteiligung
führer, David Yau Yau. Im Austausch gegen traditioneller Führer an staatlichen Entschei-
eine Waffenruhe wurde ein neuer Gliedstaat dungsprozessen können hingegen ein Weg
unter seiner persönlichen Kontrolle einge- sein, die Kluft zwischen dem Staat und seinen
richtet. Die Regierung selbst hat darüber hi- Bürgerinnen und Bürgern zu überbrücken.
naus unbeabsichtigt zu einer Verschärfung
der Gegensätze beigetragen. Wurden ethni-
sche Grenzen zuvor eher fließend und offen ❙16 Vgl. Ole Frahm, How a State Is Made: Statebuil-
ding and Nationbuilding in South Sudan in the Light
gehandhabt, forcierte der Land Act von 2009,
of Its African Peers, unveröffentlichte Dissertation,
der Land als Eigentum der jeweiligen vor Ort Berlin 2014.
ansässigen Gemeinschaft festschreibt, die be-
wusste Abgrenzung gegen nicht zur Gemein-

46 APuZ 28–30/2015
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3–8 Föderation als Bundesstaat?
Welchen Begriffskonventionen folgen gegenwärtige Verständnisse des Föderalen?
Der Beitrag skizziert den begrifflichen Status quo, untersucht seine Grenzen in der
Beschreibungsfähigkeit politischer Realität und diskutiert mögliche Alternativen.

Nathalie Behnke
9–16 Stand und Perspektiven der Föderalismusforschung
Im vergangenen Jahrzehnt hat sich der deutsche Föderalismus verändert; globale
Entwicklungen haben die Bedeutung des Föderalen gestärkt. Daraus sind neue
Themen und Interessengebiete in der Föderalismusforschung hervorgegangen.

Henrik Scheller
17–23 Der „erschöpfte Föderalstaat“
Die Debatte über die bundesstaatliche Ordnung und ihre Finanzverfassung steckt
fest: Forderungen nach Kompetenzentflechtung und das Schuldenabbau-Paradig-
ma sind zum Selbstzweck geworden und ersetzen eine föderale Leitbilddiskussion.

Sven Leunig
24–30 Subsidiarität als Kompetenzverteilungsregel
Inwieweit wurde das Subsidiaritätsprinzip bei der Kompetenzverteilung zwi-
schen Bund und Ländern im Zuge der Verfassungsgebung 1948/49 tatsächlich be-
rücksichtigt, wie in der politikwissenschaftlichen Forschung angenommen?

Alexander Hoppe · Johannes Müller Gómez


30–35 Chancen eines europäischen Föderalismus
Angesichts der Krise des politischen Systems der EU scheint eine grundlegende
Debatte über seine Reform geboten. Elemente des dualen Föderalismus könnten
bei einer Umgestaltung zu einer Verbesserung der Legitimität der EU beitragen.

Felix Schulte
36–40 Frieden durch Föderalismus
Die friedliche Regulierung ethnischer Konflikte kann nur durch Anerkennung eth-
nischer Identität gelingen. Wenn Minderheitenschutzrechte nicht ausreichen, kön-
nen föderale Arrangements eine Balance zwischen Einheit und Vielfalt herstellen.

Ole Frahm
41–46 Zentralisierung und Föderalismus in Afrika
Seit ihrer Gründung oszillieren viele Staaten Subsahara-Afrikas zwischen Bemü-
hungen, die Staatsgewalt zentral zu steuern, und Versuchen, ein dezentraleres fö-
derales Regierungs- und Verwaltungssystem aufzubauen.

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