Sie sind auf Seite 1von 40

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


4/2008 ´ 21. Januar 2008

Tod und Sterben


Thomas Macho
Sterben heute

Irmhild Saake
Gegenwarten des Todes im 21. Jahrhundert

Gerd Gæckenjan
Sterben in unserer Gesellschaft ± Ideale und Wirklichkeiten

Stefan Dreûke
Sterbebegleitung und Hospizkultur

Klaus Dærner
Leben und Sterben: Die neue Bçrgerhilfebewegung

Ludger Fittkau ´ Petra Gehring


Zur Geschichte der Sterbehilfe

Svenja Flaûpæhler
Die Freitodhilfe ± ein humaner Akt?

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament


Editorial
Gesund alt werden und in Frieden zu Hause sterben ± das
mæchten die meisten Menschen. Doch vielen ist die Erfçllung
dieses Wunsches nicht vergænnt. Die gestiegene Lebenserwar-
tung geht mit einer Zunahme nicht nur von Altersdemenz und
Alzheimer, sondern auch zahlreicher anderer, chronisch-degene-
rativer Krankheiten einher. Von diesen blieben die Menschen in
der Vergangenheit vielfach verschont, weil sie (lange) vor deren
Ausbruch starben. Daher gilt es, çber den schwieriger geworde-
nen Ûbergang vom Leben zum Tod und die Herausbildung einer
¹Kultur des Sterbensª nachzudenken.

Viele Menschen mçssen heute vor dem Tod Phasen der Krank-
heit und des Siechtums durchlaufen: zumeist im Krankenhaus
oder im Pflegeheim. Eine Alternative dazu sind Hospize und
Palliativstationen, die auf der Idee vom ¹guten Sterbenª basieren.
Diese leisten Beistand und Unterstçtzung; Sterben soll erleich-
tert, die damit verbundenen Leiden sollen abgemildert werden.

Mit der Freitodhilfe, wie sie in der Schweiz durch die Organi-
sation Exit geleistet und seit 1998 von der Organisation Dignitas
auch fçr Auslånder angeboten wird, hat das Sterben im Hospiz
oder auf der Palliativstation nichts zu tun, erst recht nicht mit ak-
tiver Sterbehilfe, die in Belgien und in den Niederlanden fçr
Schwerstkranke gesetzlich erlaubt ist. Unter den Mitgliedern der
Organisation Dignitas, die in Deutschland verboten ist, befinden
sich auch deutsche Staatsbçrger. Nicht zuletzt vor diesem Hin-
tergrund wird auch in Deutschland çber die Legalisierung der
Sterbehilfe diskutiert. Aufgrund der jçngeren deutschen Vergan-
genheit wird der Unterstçtzung des Sterbens jedoch zu Recht
mit åuûerster Vorsicht begegnet.

Katharina Belwe
Thomas Macho manchen Fållen seit tausenden von Jahren tot
ist.ª Gegen diese rhetorische Empærung låsst

Sterben heute sich sofort einwenden, dass die Vorstellung


vom persænlichen, unsichtbaren und intimen
Tod erst in der Moderne aufgekommen ist;

Essay mit Hilfe dieser Vorstellung wurde der Tod


als ewiger Schlaf idealisiert, zugleich aber
jede religiæse, ritualisierte Inszenierung des
Sterbens scharf kritisiert. Tod, Bestattung und
Trauer wurden seit dem spåten 18. Jahrhun-

V or einigen Jahren wurden im Depot des


Mannheimer Zeughauses neunzehn Mu-
mien entdeckt, die dort ± verpackt in Kartons
dert aus der Úffentlichkeit verdrångt; in
einem Essay çber das Werk Nikolai Less-
kows und die Krise moderner Erzåhlkunst
± seit mehr als einhundert Jahren lagerten. behauptete Walter Benjamin sogar, die bçr-
Ein glçcklicher Zufall: Die offenbar vergesse- gerliche Gesellschaft habe ¹mit hygienischen
nen Toten konnten nun akribisch untersucht und sozialen, privaten und æffentlichen Ver-
und erforscht werden; mit allen Mitteln mo- anstaltungen einen Nebeneffekt verwirklicht,
derner Medizin und Biologie ± von der Com- der vielleicht ihr unterbewuûter Hauptzweck
putertomographie bis zur Genanalyse ± lieûen gewesen ist: den Leuten die Mæglichkeit zu
sich nicht nur die jeweiligen Mumifizierungs- verschaffen, sich dem Anblick von Sterben-
techniken in Erfahrung bringen, sondern auch den zu entziehen. Sterben, einstmals ein æf-
Geschlecht, Lebensal- fentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen
Thomas Macho ter, Krankheiten oder und ein hæchst exemplarischer (. . .) ± sterben
Dr. phil., geb. 1952; Professor Todesursachen. Die wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merk-
für Kulturgeschichte am Kultur- Mumien werden ge- welt der Lebenden immer weiter herausge-
wissenschaftlichen Seminar an genwårtig in der Aus- drångt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zim-
der Humboldt-Universität Berlin; stellung Mumien ± mer, in dem nicht schon einmal jemand ge-
Unter den Linden 6, Der Traum vom ewi- storben war. (. . .) Heute sind die Bçrger in
10099 Berlin. gen Leben (bis zum Råumen, welche rein vom Sterben geblieben
Thomas.Macho@t-online.de 24. Mårz 2008) ge- sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie
zeigt; die Mannheimer werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von
Ausstellung umfasst insgesamt siebzig konser- den Erben in Sanatorien oder in Krankenhåu-
vierte Leichname von Menschen und Tieren sern verstaut.ª
aus verschiedenen Kulturen und Epochen,
darunter beispielsweise eine weibliche Mumie Wenige Jahre spåter wåre Benjamins Dia-
aus der Inkazeit, eine peruanische Kindermu- gnose von 1936 schon als nostalgische Mis-
mie, das ausgetrocknete Skelett eines jungen zelle erschienen. Wer in Sanatorien oder
Mannes aus der chilenischen Atacamawçste, Krankenhåusern sterben durfte, hatte Glçck
neuseelåndische und altågyptische Mumien- gehabt; sein Leben håtte ja auch im Krieg, im
schådel, das ¹Mådchen von Windebyª Bombenhagel, im Gefångnis, auf der Flucht
(Schleswig-Holstein), eine Frau, die sogar na- oder im Lager enden kænnen: auûerhalb jeder
mentlich bekannt ist: Veronica Skripetz, eine Merkwelt der Lebenden. Dass schlieûlich
Familie aus einer ungarischen Kirche, die eine gesamte Nation nach Ende des Kriegs
¹Schwurhandª Rudolfs von Schwaben aus behaupten konnte, sie habe den verwalteten
dem Merseburger Domstift, schlieûlich einige Massenmord an mehr als sechs Millionen
mumifizierte Tiere ± ein eiszeitliches Mam- Menschen nicht wahrgenommen, bezeugt
mut, ein Frettchen, eine Katze. eine hohe Bereitschaft zu psychischer Ver-
drångung, die çbrigens noch in den Fçnfzi-
Das Projekt ist nicht unumstritten. So hat gerjahren regelrecht eingeçbt wurde: als Få-
etwa Dietrich Wildung, Øgyptologe und Di- higkeit, das Sterben anderer Menschen eben-
rektor des Øgyptischen Museums Berlin, im sowenig zu bemerken wie die Risiken des
Interview mit ¹Deutschlandradio Kulturª die eigenen Todes. Diesem Training verdankte
¹Mumien-Pornographieª angeprangert und sich auch die Unfåhigkeit zur Angst vor den
betont, ¹daû hier ein Eingriff in die Persæn- Atomwaffen, jene ¹Apokalypse-Blindheitª,
lichkeitsrechte des Menschen stattfindet, die die der Philosoph Gçnther Anders eindring-
auch noch bestehen, wenn dieser Mensch in lich beklagte. Der Tod avancierte tatsåchlich

APuZ 4/2008 3
zum Tabu, zur eminent ¹privatenª Angele- korrespondiert mit einem Trend, der vom
genheit; und wer sich gegen diese Tabuisie- Kino ± spåtestens seit The Silence of the
rung zur Wehr setzen wollte, musste dem Lambs (1991) ± bis in die Fernsehanstalten
franzæsischen Existentialismus ± mit seinen vorgedrungen ist: der radikalen Enttabuisie-
Debatten, Filmen, Clubs und Chansons ± an- rung des Todes. Inzwischen sind es zahlreiche
hången. Serien, die etwa im Milieu der Kriminalistik
(C.S.I.), der Forensik (Crossing Jordan,
Die Zeit solcher Tabuisierung des Todes ist Bones) oder der Medizin (Dr. House, Grey's
inzwischen långst wieder vorbei; aus his- Anatomy) angesiedelt sind. Sie zeigen, was
torischem Abstand kænnte sogar der Ein- zuvor nur einem Spezialpublikum zugemutet
druck entstehen, die Verdrångung des Todes werden durfte: Leichen, Obduktionen, Be-
håtte schon nach der Kubakrise nur mehr in stattungen.
den Nischen soziologischer oder philosophi-
scher Theorien çberlebt. Spåtestens im letz- Was im Fernsehen ankommt, ist der Wirk-
ten Drittel des 20. Jahrhunderts begannen die lichkeit nicht vællig fremd. Auch die Bestat-
Kçnste, den Tod und die Toten neu zu zeigen tungsunternehmen haben inzwischen die ak-
und zu reflektieren. Fotografen wie Jeffrey tuellen Chancen ihrer Branche erkannt und
Silverthorne, Hans Danuser, Rudolf Schåfer in ein breiteres Angebot von Dienstleistungen
oder Andres Serrano publizierten Portråts çbersetzt; sie werden nicht mehr bloû den
und Detailstudien aus dem Leichenschau- Hinterbliebenen offeriert, sondern auch den
haus; Arnulf Rainer çbermalte fotografierte Individuen selbst, die erfolgreich eingeladen
Totengesichter. Nachhaltige Proteste und werden, das Zeremoniell ihrer Bestattung
temporåre Ausstellungsverbote provozierte oder die Gestalt ihrer letzten Ruheståtte stra-
der amerikanische Fotograf Joel-Peter Witkin tegisch vorwegzunehmen. Lediglich die kon-
mit seinen Stilleben aus Leichenteilen, etwa krete Planung des eigenen Todes ± sei es als
im Foto Le Baiser (1982), fçr das der Kçnst- Freitod oder als Auftrag an eine Organisation
ler den Kopf einer Leiche zersågte, um die fçr aktive Sterbehilfe ± bleibt ein Tabu, wie
beiden Hålften im Kuss vereinigen zu kæn- gerade jçngste Diskussionen bezeugen.
nen. Kurz vor Herbstbeginn 2007 wurde die
Ausstellung Six Feet Under ± Autopsie unse- Kritisiert und bekåmpft wird dagegen der
res Umgangs mit Toten (bis zum 30. Mårz gesetzliche ¹Urnenzwangª, der die private
2008) im Deutschen Hygiene-Museum Dres- Aufbewahrung von Urnen in Deutschland
den eræffnet; diese Ausstellung, die zuerst im verbietet; schon heute kann das Verbot ± etwa
Kunstmuseum Bern gezeigt wurde, doku- durch den Gebrauch von silbernen ¹Asche-
mentiert die Vielfalt neuerer kçnstlerischer Amulettenª, wie sie manche Bestattungsun-
Auseinandersetzungen mit den Toten. Im ternehmen, als Zitate des Reliquienkults, an-
Zentrum stehen dabei nicht allein die Bilder, bieten ± teilweise umgangen werden. Offen-
sondern auch Objekte, Zeugnisse und Spuren bar braucht der Tote kein Knochenlager
der Toten selbst. mehr; Erinnerung fçhlt sich an keine Fried-
hofs- oder Grabadresse gebunden. Die letzte
Der Titel der Ausstellung ± Six Feet Under Ruheståtte unseres Zeitalters findet sich oh-
± ist ein Zitat. Er verweist auf eine erfolgrei- nehin auf keinem Friedhof, sondern verstårkt
che US-amerikanische Fernsehserie, die von im Internet. Im Netz haben sich multimedial
2001 bis 2005 in fçnf Staffeln ausgestrahlt inszenierte ¹Halls of Memoryª etabliert, die
wurde. Produziert wurde sie von einem Pay- der Toten gedenken. Zeitliche Ewigkeit wird
TV-Sender und dem Oscar-Preistråger Alan durch råumliche Reichweite ersetzt; wie un-
Ball, Drehbuchautor von American Beauty, zåhlbare Molekçle schwimmen Nekrologe
der die meisten Folgen schrieb. Die Serie han- durch die elektronischen Datenstræme: letzte
delt von der Familie Fisher und ihrem Bestat- Spuren, die kaum wahrgenommen werden.
tungsinstitut, das nach dem Tod des Vaters
von den beiden Brçdern Nate und David wei-
tergefçhrt wird. Der deutsche Untertitel der
TV-Serie ± Gestorben wird immer ± artikuliert
den subtilen schwarzen Humor, der charakte-
ristisch ist fçr ihr Profil. Ein Bestattungsinsti-
tut als Fernseh-Szenerie? Diese Entscheidung

4 APuZ 4/2008
Irmhild Saake viewpartnerinnen und -partnern begann,
stand zunåchst die Befçrchtung im Vorder-

Gegenwarten des grund, dass die Meisten çber dieses Thema


nicht wçrden reden wollen. Diese Sorge er-
wies sich schon bald als unbegrçndet. Umso

Todes im interessanter ist es nun zu schauen, worçber


eigentlich problemlos in solchen Interviews
gesprochen wird. Die Muster, fçr die sich So-

21. Jahrhundert ziologen interessieren, lassen sich in diesem


Fall am besten in der Unterscheidung von drei
Gruppen von Erzåhlungen abbilden.

Essay Eine erste Gruppe von sehr sicheren und


flçssigen Erzåhlungen handelt eigentlich nur
vom Tod anderer, davon, dass einen selbst der
Tod nicht betreffen kann. Die unsicheren Er-

W enn wir heute çber den Tod reden, so


findet das zumeist in einer Gegenwart
statt, in der jetzt ± in der Situation des Ge-
zåhlungen der zweiten Gruppe beschåftigen
sich mit dem eigenen zukçnftigen Tod und
fragen, wie man selbst sterben wird, welche
språchs oder des Lesens oder Schreibens ± nie- Figur man dabei abgeben und ob man etwas
mand stirbt. Ûberall Neues çber sich erfahren wird. Hier geht es
sterben gerade Men- um den eigenen Tod, den man im Sterben so-
Irmhild Saake schen, nicht jedoch zusagen çberlebt. In der dritten Gruppe von
Dr. phil., geb. 1965; Akademi- diejenigen, die dar- Erzåhlungen finden wir Såtze von Menschen,
sche Rätin am Institut für Sozio- çber reden. Dieser die çber dieses Thema nicht so gerne reden,
logie, Ludwig-Maximilians-Uni- Unterschied erscheint weil sie bereits mit dem eigenen Tod durch
versität München, Konradstr. 6, zunåchst banal, aber eine Krankheit konfrontiert worden sind.
80801 München. er ist sehr folgenreich, Hier finden wir aber auch Interviewpartner,
Saake@soziologie.uni- wenn es um die Frage die sich offenbar nur vorstellen, dies kænne
muenchen.de danach geht, wie wir passieren, und die sich fragen, wie dies ihrer
uns zu unserem eige- Familie schaden wird. Was sie sagen wollen,
nen Tod verhalten kænnen bzw. welche Bilder woran sie aber nicht denken mæchten, mçsste
vom Tod wir uns machen. einen Alltag beschreiben, in dem ihre kleinen
Kinder ohne Mutter, ihre Angehærigen ohne
Thomas Macho hat die gegenwårtige De- sie, der Partner alleine zurechtkommen mçss-
batte çber den Tod mit seinem Begriff der To- ten ± und zwar jetzt sofort.
desmetaphern ganz entscheidend geprågt. 1
Gerade weil wir çber die Erfahrung des Als Ergebnis dieser Studie låsst sich Fol-
Todes als Noch-nicht-Gestorbene nicht kom- gendes zusammenfassen: Dass wir alle sterb-
petent mitreden kænnen, entwickeln wir Me- lich sind, wissen wir wohl, aber ob es sich
taphern, die uns erlauben, diese Wissenslçcke auch als biographische Wahrheit in unseren
zu çberbrçcken. Im Unterschied zu den phi- Erzåhlungen, in unserem Alltag nieder-
losophischen Ûberlegungen von Macho setzt schlågt, hångt davon ab, wie wir vom Tod be-
eine soziologische Perspektive an der alltågli- troffen sind. Wir sind es nicht alle gleicher-
chen Praxis an und fragt nach Mustern, nach maûen. Die Antworten, die wir in unseren ei-
Strukturen, nach Bildern, an denen wir uns genen Såtzen finden, haben mehr mit unserer
orientieren, wenn wir çber den Tod reden. mehr oder weniger betroffenen Gegenwart
als mit dem Befund der Sterblichkeit an sich
Solche Todesbilder zu untersuchen, war zu tun. Wir læsen im Erzåhlen, im Gespråch,
das Thema eines groûangelegten DFG-For- im Interview Probleme, die wir jetzt haben,
schungsprojekts unter der Leitung von Armin und wir finden Antworten, die jetzt im Ge-
Nassehi und Georg Weber, in dem 150 Inter- språch des Interviews funktionieren. Mit dem
views ± zur einen Hålfte mit Experten, zur an-
deren mit mehr oder weniger betroffenen 1 Vgl. Thomas Macho, Metaphern des Todes, Frank-
Menschen ± gefçhrt wurden. Als im Jahr 2000 furt/M. 1987; Anmerkung der Redaktion: Siehe auch
die Kontaktaufnahme zu potentiellen Inter- den Essay von Thomas Macho in diesem Heft.

APuZ 4/2008 5
Tod sind wir nicht in einer gemeinsam geteil- Was nun in diesen Gegenwarten des Sterbens pas-
ten Gegenwart konfrontiert, sondern in vie- siert, kann diskutiert, kann beobachtet, evaluiert, ent-
len verschiedenen Gegenwarten. schieden werden. Ich zitiere aus einer sehr typischen
Studie, um zu zeigen, wie das klingt: ¹Eine Befragung
von Pflegenden çber den Sterbeprozess von terminal
Wie sehr wir an die Idee eines gemeinsa-
kranken nicht-dementen Menschen, die willentlich
men Todesbewusstseins glauben, also daran,
jegliche Nahrungs- und Flçssigkeitsaufnahme verwei-
dass wir uns jetzt unseren eigenen Tod verge-
gerten, zeigte, dass 85 % der Patienten innerhalb von 2
genwårtigen kænnen, låsst sich beispielhaft an
Wochen verstarben. Auf einer Skala zur Qualitåt des
unseren Daten verdeutlichen: Ein Ethikpro-
Sterbens (0 = sehr schlechtes Sterben, 9 = sehr gutes
fessor versucht im Interview die Asymmetrie
Sterben) wurde der Sterbeprozess von den zuståndigen
zwischen einem sterbenden Angehærigen und
Pflegenden mit einem mittleren Score von 8 bewertet.
sich selbst aufzuheben, indem er sich vor-
Diese Beobachtungen unterstçtzen die Hypothese,
stellt, wie alle seine Handlungen zu letzten
dass ein Verzicht auf kçnstliche Flçssigkeitszufuhr das
Handlungen werden. Im Gegensatz dazu
Sterben in physiologischer Weise erleichtert.ª 3 Der
çberrascht sich ein Gerichtsmediziner im In-
¹schæne Todª erscheint hierbei als ein Produkt einer
terview selbst, weil er sich ± im Moment des
Rating-Skala. Er kann plætzlich oder erwartbar, mit
Interviews ± sehr çber den gerade entdeckten
oder ohne Technik eintreten; wichtig ist immer nur,
Verlust von Datenmaterial aufregt, obwohl er
dass er als Resultat eines konsensuellen Verståndi-
doch gerade noch der Interviewerin erzåhlt
gungsprozesses zur Biographie des Sterbenden auftritt.
hatte, dass das Wissen vom Tod zu einem græ-
Man muss hinterher sagen kænnen, dass es gut war,
ûeren Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit
weil der Sterbende so sterben konnte, wie er wollte.
und zur Relativierung des Alltags fçhre.
Obwohl also die biographische Selbstvergewisserung
Dieser schlichte Befund einer Rede çber zunåchst wenig Anlass gibt zu glauben, dass wir uns auf
den Tod, die vor allem fçr die Gegenwart ge- unsere eigenen Willensåuûerungen verlassen kænnen,
macht ist, hat groûe Auswirkungen, wenn orientieren sich alle Beteiligten ± und diese Gruppe
man sich fragt, wie man den Wçnschen von wird mit der Einbeziehung der Angehærigen immer
Sterbenden gerecht werden kann. Kann man græûer ± zunehmend an einem biographisch hergestell-
sie vorher dazu befragen? Welchen Stellen- ten Bild des Todes, das vor dieser Úffentlichkeit aller
wert haben diese Antworten, wenn sie in am Sterben Beteiligten bestehen kænnen muss.
einer anderen Gegenwart formuliert werden
Verdeutlichen sollen diese Såtze, wie anspruchsvoll
als der, in der sie gelten sollen? Immerhin
unsere Anforderungen an das moderne Sterben gewor-
geht es bei diesem Thema nicht um die Wahl
den sind. Es war einfach zu kritisieren, dass das Ster-
eines Arbeitsplatzes oder einer Partei, son-
ben tabuisiert wird, aber nachdem es nun tatsåchlich
dern um das Ende des Lebens.
fast schon æffentlich stattfindet, kann man sehen, wie
schwierig es ist, sich selbst seinen individuellen Tod zu
Die hier beschriebene Biographisierung des bereiten. Eine Konsequenz unserer eigenen Studie
Sterbenden ist eng verbunden mit dem mo- kænnte sein zu empfehlen, all diese unterschiedlichen
dernen Diskurs der Bioethik. Die Entstehung Gegenwarten, in denen wir çber das Sterben reden, zu-
neuer medizinischer Techniken, deren Resul- nåchst als unterschiedliche Kontexte zu sehen. Ob ein
tat unter anderem eine Verlangsamung von Sterbender all diese Kontexte ± das eigene Erleben sei-
kærperlichen Ablåufen wie dem Sterben dar- nes gesamten Lebens, seine Situation als kærperlich
stellt, hat gleichzeitig auch zur Einfçhrung schwerkranker Mensch, seine Positionierung im Hin-
von Reflexionszeiten, zum Auseinandertreten blick auf religiæse Fragen, den Blick seiner Angehæri-
von verschiedenen Gegenwarten ± der des gen auf sich selbst, sein Verhåltnis zu den Pflegekråften
Sterbenden, der der Angehærigen und der der usw. ± als Sterbender zusammenfçhren mæchte, ist
Pflegenden ± gefçhrt. Armin Nassehi spricht vielleicht eher eine Frage einer alltåglichen Lebenspra-
± um uns dieses Ausmaû an Ungleichzeitig- xis als eine solche der individuellen Persænlichkeit, der
keiten vor Augen zu fçhren ± von einer Ge- man gerecht werden mæchte.
sellschaft der Gegenwarten. 2
3 Roland Kunz, Palliative Care fçr Patienten mit fortge-

schrittener Demenz: Values Based statt Evidence Based Practice,


2 Vgl. Armin Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit. in: Zeitschrift fçr Gerontologie und Geriatrie, 36 (2003) 5, S. 355±
Studien zu einer Theorie der modernen Gesellschaft, 359. Vgl. auch die anderen Beitråge in diesem Heft.
Frankfurt/M. 2003, S. 81.

6 APuZ 4/2008
Gerd Gæckenjan das Verhåltnis zu direkten Angehærigen ist
gelockert, Verpflichtungen und Verantwor-

Sterben in unserer tung gehen zurçck oder werden nur noch ein-
geschrånkt wahrgenommen. Und ± die çbli-

Gesellschaft ±
chen Sterbeorte sind Institutionen, Kranken-
håuser und Heime. Aber auch jçngere
Menschen sterben ± natçrlich. Dann tritt fçr

Ideale und
die Betroffenen all das ein, was die ålteren
Sterbeszenarien ausmachte: der oftmals
plætzliche, unbegreifliche Verlust, der Le-

Wirklichkeiten bens- und Abhångigkeitsbeziehungen zer-


reiût und eine Kaskade von sozialen Proble-
men der Ûberlebenssicherung und der Nach-
folgeregelungen nach sich ziehen kann.

S terben ist heute ein allgegenwårtiges Ge-


schehen, das sich in Institutionen und in
kleinen Kreisen unmittelbar Betroffener leise
Der Tod ist notwendig und unverståndlich,
sagt der Philosoph, und das ist unabhångig
von den jeweils Betroffenen. Der Tod ist die
und weitgehend unbemerkt fçr andere ereig- ¹metaempirische Tragædieª, eine Leere, die
net. Obgleich jedes Jahr viele Menschen ster- plætzlich ¹aufbrichtª und ¹das Seiende, das
ben, etwa ein Prozent wie durch eine wundersame Verfinsterung
der Bevælkerung, ist plætzlich unsichtbar wird, stçrzt auf einmal
Gerd Gæckenjan dies kein Thema, mit durch die Falltçre des Nicht-Seinsª. 3 Die-
Dr. rer.pol., geb. 1946; Profes- dem sich die Bçrgerin- ses Nichtverstehbare eines Zustandswechsels
sor für Gesundheitspolitik an nen und Bçrger un- zwingt zum Missverstehen, zum Nichternst-
der Universität Kassel, Arnold- bedingt beschåftigen nehmen, zum Aufsichberuhenlassen. Der Tod
Bode-Str. 10, 34109 Kassel. mçssen. 1 Sterben und kann nicht gedacht werden ohne die persænli-
gg@uni-kassel.de Tod erfahren jenseits che Distanzierung in den verfçgbaren For-
der medial stark posi- men der Objektivierungen, in der Rede der
tionierten ¹æffentlichenª Sterbefålle wenig Sterbetafeln, der Todesursachenstatistiken,
Aufmerksamkeit. Die Zeichen und Symbole, der Memento-Mori-Breviere, aber dies alles
die diese Lebensphasen ehemals umgaben, sind fçr den Philosophen Banalisierungen der
sind rar und unaufdringlich geworden oder Tragædie des Verschwindens.
fehlen ganz. Wenn jemand im Sterben liegt,
dringt das selten nach auûen, ein eingetretener Es bleibt immer eine Frage der Perspektive,
Todesfall ist kaum eine Information wert: des Getroffenseins oder Nichtgetroffenseins.
keine Trauerbekleidung, keine Beerdigungs- ¹Mein Tod ist fçr mich das Ende aller
umzçge, kein Glockenlåuten, keine Kondo- Dinge. . . das Ende des ganzen Universums. . .
lenzpflichten. Abschiedsrituale sind auf das fçr das Universum (aber) keine allzugroûe
Nætigste und den kleinsten Kreis von Ange- Katastrophe, er bleibt ein unbemerkter Vor-
hærigen beschrånkt.

Sterben und Tod werde ± so eine åltere, 1 Vgl. Clive Seale, The Transformation of Dying in

noch weit verbreitete Sichtweise ± in der mo- Old Societies, in: The Cambridge Handbook of Age
dernen Gesellschaft verdrångt und tabui- and Aging, Cambridge et al. 2005, S. 378 ±386. In einer
siert: 2 eine zweifelhafte Diagnose. Richtiger Umfrage erklårten beinahe die Hålfte der Befragten im
Alter von 18 bis 50 Jahren, dass sie noch nie das Sterben
ist, dass Sterben und Tod heute stårker als in
eines ihnen nahestehenden Menschen miterlebt haben,
der Vergangenheit private Ereignisse sind, die ein weiteres Viertel hatte erst einen Todesfall erlebt.
nach den Anstandsregeln der Privatheit kom- Alois Hahn/Matthias Hoffmann, Einstellungen zu
muniziert werden und keinen æffentlichen Krankheit und Tod, Universitåt Trier, Vortrag auf der
Pflichten unterliegen. Dieses Verståndnis Jahrestagung der Gærresgesellschaft, Fulda 2007.
2 Vgl. Hubert Knoblauch/Arnold Zingerle, Thanato-
wird durch weitere soziale Umstånde ge-
soziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung
stçtzt. Vor allem ist Sterben eine Angelegen- des Sterbens., in: dies. (Hrsg.), Thanatosoziologie,
heit der Alten und damit ein lange vorbereite- Berlin 2005, S. 12 ff.
tes und erwartetes Ereignis. Im hohen Alter 3 Vladimir Janklvitch, Der Tod (zuerst franz. 1966),

sind die Beziehungsnetze ausgedçnnt, auch Frankfurt/M. 2005, S. 13.

APuZ 4/2008 7
fall und ein bedeutungsloses Verlæschen, das mensionen und das medikalisierte Sterben:
die Ordnung der Dinge nicht stært.ª 4 Befçrchtungen, Schmerzen und sonstige
Qualen erleiden zu mçssen, bzw. unnætiger
Dieses nicht behebbare Dilemma der Per- Lebensverlångerung und einer Apparateme-
spektiven findet sich in den æffentlichen The- dizin ausgesetzt zu sein. Entsprechend wird
matisierungen wieder. Es ist falsch zu sagen, auf die Frage nach dem Sterbeideal ± ¹Wie
çber Sterben und Tod werde nicht gespro- mæchten Sie sterben?ª ± ein schnelles und
chen. Wir sehen vielmehr eine Teilung des schmerzloses Sterben vorgezogen. In einer
Themas: Zum Tod gibt es in unserer Gesell- schon erwåhnten Umfrage wçnschen 80 Pro-
schaft tatsåchlich wenig zu sagen: Er ist das zent der Befragten plætzlich und unerwartet
unverståndliche Nicht-Sein, bleibt wesentlich zu sterben, wåhrend 20 Prozent lieber be-
auf sich beruhen. Dafçr wird zum Sterben wusst und vorbereitet sterben wollen. 8
sehr viel gesagt, es ist ein weithin besproche-
nes: ein æffentliches Thema. Mit Sterben sind Die Widersprçche sind hier deutlich genug.
Verlåufe und Verfahren angesprochen, Ster- Im æffentlichen Diskurs wird fast ausschlieû-
ben wird als eine Phase des Lebens verstan- lich das Sterbeideal eines begleiteten Sterbens
den und gefçrchtet. Der Tod wird heute ± seit im Sinne der Hospizbewegung vertreten.
den 1970er Jahren ± vor allem als dieses Ver- Demgegençber sind bei der Mehrzahl der
laufsphånomen diskutiert. Seine Thematisie- deutschen Bevælkerung keineswegs Vorstel-
rung ist eng mit den Ideen der Hospizbewe- lungen eines bewussten Erlebens der letzten
gung verknçpft. Lebensphase, des Sterbens als Lebenserfah-
rung vorherrschend, sondern der Wunsch,
An das Sterben kænnen Forderungen ge- dass der Tod schnell und komplikationslos
stellt werden: Sterben soll human, wçrdig eintreten mæge.
und gut sein. Das ist Konsens im æffentlichen
Diskurs. Sterbeprozesse kænnen analysiert In dieser Hinsicht sind die sehr einmçtigen
und in Sinn- und Handlungsoptionen geben- Willensåuûerungen, zu Hause sterben zu
de Phasen eingeteilt werden, wie es etwa Eli- wollen, weniger zu verstehen als Wunsch
sabeth Kçbler-Ross getan hat. 5 Sie ist damit nach einer gut funktionierenden ambulanten
zur Mitbegrçnderin des guten, begleiteten Pflegeversorgung, ggf. einer Palliativpflege,
Sterbens geworden. In dieser Perspektive sondern als Hoffnung, wenn denn schon ge-
scheinen die optimistischsten Gestaltungs- storben werden muss, mæglichst direkt aus
chancen mæglich. Sie werden heute unter dem Alltag gerissen zu werden. Die Wen-
dem allfålligen Stichwort ¹Sterbebegleitungª dung: ¹Ich habe nichts gegen das Sterben, ich
und der neueren Organisationsidee ¹Netz- will nur nicht dabeisein, wenn es soweit ist.ª
werk Abschiedskulturª diskutiert. Solche (Woody Allen) 9 ist weniger Kalauer als prå-
Netzwerke sollen, so die Vorstellungen, çber zise Formulierung dieses dominierenden Ster-
das gesamte Sterbegeschehen geworfen wer- beideals.
den, aber insbesondere çber das institutio-
nelle Sterben und hier çber das Sterben in
Heimen, das als schlechtestes Sterben gilt. 6
Wandlungen des Sterbens
Das Sterbegeschehen in Deutschland, wie in
Sterben ist das, vor dem die Menschen
den westlichen Industriestaaten, hat sich in
heute Angst haben; Interviews und Umfragen
den letzten 100 Jahren grundlegend verån-
beståtigen das. 7 Mit dem Tod, dem Nicht-
dert. Um 1900 zeigt die Mortalitåtsverteilung
Sein, wird dagegen wenig Beunruhigendes
in Deutschland einen starken Sockel der
verknçpft. Geåuûerte Sterbensångste bezie-
hen sich vor allem auf die kærperlichen Di- 8 Vgl. ebd. Eine Emnid Umfrage von 2001, die eine

dritte Antwort ± bisher keine Gedanken gemacht ±


4 Ebd., S. 33. zulåsst, kommt zu folgendem Ergebnis: 60 % wçn-
5 Vgl. Elisabeth Kçbler-Ross, Interviews mit Ster- schen ein schnelles und plætzliches Sterben, 12 % ein
benden, Stuttgart 1982. bewusst und begleitetes, 25 % haben sich noch keine
6 Vgl. Jutta Dreizler/Hermann Brandenburg, Sterben Gedanken gemacht. Deutsche Hospiz Stiftung, Mei-
im Heim, in: Altenheim, 45 (2006) 9, S. 55. nungen zum Sterben, in: www.hospize.de/docs/stel
7 Vgl. A. Hahn/M. Hoffmann (Anm. 1): 60 % der lungnahmen/08.pdf (15. 11. 2007).
Befragten haben Angst vor dem Sterben, 7 % Angst 9 Zit. nach: Ulrich Greiner, Långer nicht leichter, in:

vor dem Tod. Die Zeit, Nr. 39 vom 20. 9. 2007, S. 5.

8 APuZ 4/2008
Såuglings- und Kindersterblichkeit und ein Entsprechend diesem Morbiditåtspanora-
niedrigeres, ungefåhr gleichbleibendes Sterbe- ma dominieren bei den unter 35-Jåhrigen die
risiko in den folgenden Altersgruppen. Das so genannten åuûeren Todesursachen. Das
Ergebnis war ein Bevælkerungsaufbau als Py- sind vor allem bei den jungen Månnern Tod
ramide, in der auf einer hohen Geburtenziffer durch Verkehrsunfålle und Suizid; bei jungen
die folgenden Altersgruppen bis zur Spitze Frauen nåhert sich ab 30 Jahren das Sterberi-
relativ gleichmåûig abnahmen. Heute zeigt siko durch bæsartige Neubildungen dem
die Mortalitåtsverteilung eine rasant gestiege- durch åuûere Todesursachen an. Das Sterberi-
ne mittlere Lebenserwartung: eine niedrige siko in diesen Altersgruppen ist ± wie nach
Såuglings- und Kindersterblichkeit, bei dra- dem Vorstehenden zu erwarten ± sehr niedrig:
stisch gesunkenen Geburtenzahlen, mit eben- Etwa 0,04 bis 0,06 Prozent der Altersgruppen
falls niedrigem Sterberisiko in den folgenden starben. Insgesamt starben 2005 8 280 Perso-
Altersgruppen. Sterben und Tod sind also auf nen im Alter von 15 bis 35 Jahren, damit ent-
die hohen Lebensalter verdichtet, der Bevæl- fiel etwas weniger als ein Prozent der Ge-
kerungsaufbau åhnelt perspektivisch immer samtmortalitåt auf diese Altersgruppen.
mehr einem Kegel.
Der schon lange andauernde Trend der Me-
2005 waren von der Gesamtzahl der dikalisierung und Institutionalisierung der
830 000 Verstorbenen 88 Prozent 60 Jahre alt Krankheitsverlåufe wird unterstçtzt unter an-
und ålter bzw. 47,6 Prozent 80 Jahre alt und derem durch die gestiegene medizinische
ålter. Entsprechend der hæheren Lebenser- Kompetenz ± vor allem bei Tumorerkrankun-
wartung der Frauen starben in der Alters- gen ±, Krankheitsverlåufe besser zu prognos-
gruppe: 85 bis 90 Jahre 2,3 und in der Alters- tizieren. Hierdurch ist die Entwicklung der
gruppe: 90 und ålter 3,5 mal so viele Frauen neuen Angebote der Palliativ- und Hospiz-
wie Månner. Die Såuglingssterblichkeit (bis versorgung ermæglicht worden. Krankheits-
zu einem Jahr), die um 1900 im Gebiet des verlåufe kænnen frçhzeitig als Sterbeverlåufe
Deutschen Reiches bei etwa 20 Prozent lag, verstanden werden, bevor tatsåchlich das Fi-
betrågt heute (2005) etwa 0,39 Prozent der nalstadium eintritt. Damit kann von einer
Lebendgeborenen. 10 Verlångerung der Sterbeverlåufe gesprochen
werden: durch die Beherrschbarkeit von In-
Der enorme Anstieg der mittleren Lebens- fektionen, durch Pflegefortschritte, die es oft
erwartung ging mit dem Wandel des Krank- ermæglichen, Leben bis auf letzte Reste aus-
heits- bzw. Todesursachenspektrums einher. zuschæpfen, und eben durch die frçhe Sterbe-
Der Tod tritt heute nicht mehr aufgrund von prognose. So hat Sterben eine, sich unter Um-
Infektionskrankheiten ein, wie sie um 1900 stånden lang hinziehende Verlaufsdynamik;
dominierten, sondern in der Regel als Folge Sterben stellt daher eigene Arbeitsaufgaben.
langer chronisch-degenerativer Krankheits-
prozesse, wobei in den hæheren Altern meh- Zumindest im æffentlichen Diskurs gibt es
rere Krankheiten gleichzeitig bestehen einen breiten Konsens darçber, was gutes
(¹Multimorbiditåtª). 2005 starb fast jeder Sterben und welches dementsprechend der
zweite an einer Erkrankung des Herz-Kreis- beste Sterbeort ist. Seit in den 1970er Jahren
lauf-Systems, wobei dieser Todesursachen- das Sterben im Krankenhaus ins Gerede ge-
komplex die Hochaltrigen stårker betraf als kommen ist, wird geåuûert, lieber im vertrau-
die jçngeren Alten. An bæsartigen Neubil- ten Kreis, das heiût zu Hause sterben zu wol-
dungen, die etwa ein Viertel aller Todesfålle len. Meist herrscht dabei ein romantisiertes
ausmachen, starben håufiger die jçngeren Bild des Sterbens vor, wie es der Vergangen-
Alten. Dabei verweist der hohe Anteil der heit zugeschrieben wird: Sterben im intimen,
Todesursachen aus dem Formenkreis der sicheren Kreis der Lieben. Entsprechend ne-
Herz-Kreislauf-Erkrankungen darauf, dass gativ werden in der Regel die heute bestehen-
trotz der langen chronischen Verlåufe der den Sterbeumstånde bewertet: In Deutsch-
Tod auch heute oft plætzlich eintritt. land, wie in den westlichen Industriestaaten,
wird ganz çberwiegend in Institutionen ge-
storben.

10 Zahlen nach: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden Fçr Deutschland fehlen Angaben zum Ster-
2007. beort, aber die Rahmenverhåltnisse sind klar:

APuZ 4/2008 9
Entgegen frçheren Erwartungen hat die Håu- Die Kritik am institutionalisierten Sterben
figkeit des Sterbens im Krankenhaus nicht im Krankenhaus formierte sich in den 1960er
zu-, sondern vielmehr seit den 1990er Jahren und 1970er Jahren und wurde durch einen
abgenommen. 2005 starben 47,3 Prozent aller vorhergehenden kråftigen Modernisierungs-
Verstorbenen im Krankenhaus. In Pflegeein- schub verursacht. Die Stichworte dazu lauten:
richtungen wird der Anteil auf 20 bis 30 Pro- Trend zu Groûkliniken, Einfçhrung von
zent geschåtzt, womit der Anteil des Sterbens Hochtechnologie, insbesondere der neuen In-
in der eigenen bzw. in der Wohnung von Ver- tensivmedizin, aber auch (vor allem in
wandten bei 20 bis 30 Prozent liegt. Erwartet Deutschland) weitere Professionalisierung
wird ein weiteres Sinken des Anteils Sterben- der Pflege und Einfçhrung des Dreischicht-
der in Krankenhåusern und ein Ansteigen in systems, mit dem damit einhergehenden Ver-
Pflegeeinrichtungen, wåhrend der Anteil des schwinden von Ordensschwestern und Dia-
håuslichen Sterbens stabil bleiben wird. 11 konissen aus der Pflege, Personen, die in der
Grund fçr die letzte Annahme ist die bekann- Regel ein umfassenderes Tåtigkeitsideal re-
te Ausdçnnung der familialen und Freund- pråsentierten.
schaftsnetze mit zunehmender Hochaltrig-
keit; hinzu kommt die allgemeine Zunahme
Die Kritik bezieht sich auf eine Apparate-
der Individualisierungsmentalitåten ± Bedin-
medizin, die nicht Sterben låsst, und auf
gungen, unter denen die Chancen der Unter-
eine Betriebsorganisation, die Sterben zu
stçtzung håuslichen Sterbens abnehmen.
einem Nichtereignis macht, das in Randbe-
reiche wie Abstellkammern und Baderåume
verdrångt werden kann, wobei nach festge-
Sterben im Krankenhaus stelltem Tod der oder die Verstorbene un-
verzçglich in die Kçhlråume verbracht wird.
Die moderne Krankenhausmedizin hat sich
Die landlåufige These der Verdrångung von
bekanntlich darauf spezialisiert, Krankheits-
Sterben und Tod hat hier ihren wesentlichen
zustånde zu diagnostizieren, zu lindern, ggf.
institutionellen Rahmen: Der moderne Tod
zu heilen, und damit vor allem darauf, Leben
findet dieser Sichtweise zufolge hinter un-
zu erhalten. Jegliche Kenntnisentwicklung,
durchlåssigen Krankenhausmauern statt, in
Routinen und Vorkehrungen sind auf diese
denen Sterbende an Apparaten hången,
Ziele gerichtet. Todesfålle werden als unum-
unter Ausschluss æffentlicher Verantwor-
gånglich hingenommen; man låsst sie auf sich
tung, ohne Chance, Bitten åuûern zu dçr-
beruhen. Damit ist gemeint, dass Todesfålle
fen, weder als Angehæriger noch als Ster-
kein Anlass dafçr sind, sterbebegleitende und
bender. Sterben im Krankenhaus steht seit-
palliativmedizinische Routinen zu entwickeln.
her fçr einsames Sterben, ohne Zuspruch
Tatsåchlich sind Todesfålle Sonderereignisse
und Anteilnahme. Philippe Ari s und Ivan
im Stationsalltag, die das herrschende sach-
Illich sind in den 1970er Jahre Treiber dieser
funktionale, auf ununterbrochenen Durchfluss
Kritik. 12
von ¹Patientengutª eingestellte Milieu nicht
ernsthaft beeindrucken oder irritieren. Kran-
kenhauspersonal ist keineswegs dauernd mit Die Absicherung des Apparates gegen Pa-
Sterben und Tod konfrontiert, wie håufig an- tienten und Angehærige hat heute andere For-
genommen wird. Das Schichtsystem, die Ver- men als vor 30 Jahren. Es wåre jedoch naiv
kçrzung der Liegezeiten der Patienten und die anzunehmen, dass es die kritisierten Sterbe-
Erhæhung der Fallzahlen halten das persænli- umstånde nicht mehr gåbe. Heute geht der
che Risiko, an einem Sterbefall beteiligt zu weit reflexiver gewordene Krankenhausappa-
sein, auf den meisten Stationen klein. Selbst auf rat in der Regel elastischer mit Wçnschen
Stationen der Inneren Medizin mit ihren bei und Einflussnahmen um, nicht zuletzt weil
weitem hæchsten Sterbeziffern kommt auf 22 Partizipation selbst initiiert wird und daher
Behandlungsfålle nur ein Sterbefall. Einflusswçnsche besser steuerbar sind.

11 Vgl. H. Bickel, Das letzte Lebensjahr, in: Zeitschrift

fçr Gerontologie & Geriatrie, 31 (1998), S. 193 ±204;


Susanne Fischer u. a., Der Sterbeort: Wo sterben die 12 Vgl. Philippe Ari s, Geschichte des Todes, Mçn-

Menschen heute in der Schweiz?, in: ebd, 37 (2004), chen 1980; Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin,
S. 468 ±474. Reinbek bei Hamburg 1981.

10 APuZ 4/2008
Untersuchungsergebnisse ge dann håufig doch nicht: nicht zum Sterbebett und
auch nicht, um den Verstorbenen noch einmal zu
Im Folgenden sollen in aller Kçrze Ergebnisse einer ei- sehen.
genen Untersuchung des Sterbens im Krankenhaus an-
gefçhrt werden. 13 Allen Stationen war gemeinsam, Praktiken der Palliativversorgung und der Sterbebe-
dass Patienten im terminalen Stadium wie alle anderen gleitung gab es in diesen ¹Normalstationenª nicht.
Patienten dem Heilungsprimat unterlagen. Es wurde Nur wenige Pflegekråfte vermochten çberhaupt einen
ihnen keine Sonderrolle (Sterberolle) zugewiesen, viel- Handlungsbedarf hinsichtlich der Verbesserung der
mehr erwartetes Sterben ignoriert. Pflegerische, dia- Sterbeumstånde zu sehen. Meist waren es die Stations-
gnostische und therapeutische Maûnahmen fanden bis leiterinnen, die Problembewusstsein erkennen lieûen.
kurz vor Eintreten des Todes statt. In Einzelfållen sind Die Pflegedienstleitungen sprachen dagegen håufig
ungeachtet der årztlichen Prognose, dass der Patient von Sterbebegleitung, mussten sich aber eingestehen,
die Nacht nicht çberleben werde, noch massive Maû- dass entsprechende Fortbildungsmaûnahmen in der
nahmen durchgefçhrt wurden, etwa die Gabe von Praxis enttåuschende Ergebnisse aufwiesen. Die årztli-
Blutkonserven oder eine Magenspiegelung. Im Fall der chen Leitungen wiederum verstanden ihre Tåtigkeit als
verabreichten Blutkonserven ist der Patient tatsåchlich konventionelle, spezialistische Medizin ohne Interesse
drei Tage spåter verstorben. an ¹ganzheitlichenª Perspektiven. Der Klinikchef,
eines anderen, in diesem Sample nicht enthaltenen
In einigen Fållen ± auf der internistisch-onkologischen Krankenhauses, der postulierte, zur Onkologie mçsse
und der geriatrischen Station ± wurden bei Patienten, auch eine Palliativstation gehæren, weil die meisten on-
die durch abweichendes Verhalten, Verwirrtheit, for- kologischen Krankheitsverlåufe mit dem Tod endeten,
derndes Verhalten und mangelnde Kooperation, etwa ist immer noch eine Ausnahme.
aufgrund subjektiver, vom Personal nicht akzeptierter
Gebrechlichkeit, auffielen und dadurch auf der Station Die Arbeit von Stationen basiert auf strikten, habitua-
stigmatisiert waren, Vermeidungs- und Bestrafungs- lisierten Routinen. Grundpflege, Diagnostik und The-
strategien angewandt; es kam darçber hinaus auch zu rapie gliedern die Verlåufe, Abweichungen sind nur
zum Teil çblen verbalen Etikettierungen. Auch in die- begrenzt zugelassen, da sie das Ineinandergreifen von
sen Fållen ånderte sich die Art des Umgangs nach Ein- Diensten und Schichten erschweren. Entsprechend
tritt des Finalstadiums nicht. Ûblich fanden wir die bleiben Sterbeverlåufe in die Stationsroutinen einge-
Praxis, Sterbende ± wenn mæglich ± in die vom Stati- woben, als wåre der Patient nicht sterbend. Dem Ster-
onszimmer abgelegenen Råume zu verlegen. ben wird auf diese Weise, wenn alle anderen Bedingun-
gen gut sind ± was, wie gezeigt, keinesfalls immer zu-
Aufgrund der beobachteten und rekonstruierten Ster- trifft ±, vielleicht der Schrecken genommen, indem
beverlåufe gelangten wir zu dem Eindruck, dass die man bis zum Exitus so tut, als wçrde ein solches Ereig-
hochaltrige, multimorbide Klientel nicht mit çbermå- nis nicht stattfinden kænnen. Aber selbst fçr den lau-
ûig groûem Einsatz am Sterben gehindert wird. Es gab fenden Krankenhausbetrieb entstehen durch diese ge-
keine Maûnahmen des apparativen Nichtsterbenlas- ringe Antizipation und Begleitung von Sterbeverlåufen
sens. Allerdings werden therapeutische Maûnahmen, Kosten. Todesfålle treten unter diesen Bedingungen oft
wie die angesprochene Gabe von Blutkonserven, gele- unvorhergesehen ein und es kann zu ¹Organisations-
gentlich zur Verlångerung der Sterbeverlåufe fçhren. schlamasselª kommen. In diesem Fall sind Verant-
Die Sterbeumstånde entsprachen im Wesentlichen den wortlichkeiten und Zuståndigkeiten sowie die Feststel-
normalen Versorgungsumstånden mit begrenztem In- lung der durchgefçhrten bzw. unterlassenen Maûnah-
formationsbedçrfnis und geringer Kommunikations- men wichtiger als das eingetretene Ende eines Lebens.
und Zuwendungsfåhigkeit der Dienste. Angehærige Håufen sich vielleicht sogar Sterbefålle in bestimmten
waren sehr wohl zugelassen und wurden çber das Ein- Schichten, dann kann das unter Umstånden bereits fçr
treten des Finalstadiums auch informiert, wenn sie in- den Anfangsverdacht von Patiententætung ausreichen.
formiert werden wollten. Allerdings kamen Angehæri-

13 Es handelt sich um eine Vergleichsstudie im Rahmen einer Palliativstationen


græûeren Palliativstudie (vgl. Anm. 18). Auf drei Normal-
stationen, eine internistische, eine internistisch-okologische und Die Kritik am institutionalisierten Sterben war die Kri-
eine akutgeriatrische Station in nordhessischen Kliniken, wurden
tik am Krankenhaus an sich, ein Sterben in Wçrde war
etwa 6 wæchige teilnehmende Beobachtungen durchgefçhrt. Die
Beobachterinnen waren als Praktikantinnen in die Schichten in- nur auûerhalb von Institutionen vorstellbar. Hospize 14
tegriert. Der Forschungsauftrag, palliativmedizinische Versor- und Palliativstationen sind die institutionellen Anwor-
gungschancen festzustellen, ist allen Schicht- bzw. Stationsange-
hærigen mitgeteilt worden. 14 Vgl. den Beitrag von Stefan Dreûke in diesem Heft.

APuZ 4/2008 11
ten auf die Forderung nach ¹gutem Sterbenª. versorgungspolitische Aufgabe, sterbensnahe
Der ¹Verdrångungª des Sterbens wird hier Kranke wann immer mæglich nach Hause zu
eine bemerkenswerte und offene Sterbekultur verlegen. Das kann nicht immer gelingen,
entgegengestellt. Auch Palliativstationen, ob- und wird etwa bei einer ¹sozialen Indikationª
gleich Krankenhausstationen, gehen auf Hos- auch nicht versucht. Die Perspektive dieses
pizideen zurçck. Diese haben, in den 1990er Versorgungstyps ist ganz innerweltlich ± ob-
Jahren beginnend, Sterbebegleitung und eine gleich natçrlich religiæse Beistandswçnsche
¹ganzheitlicheª, palliativmedizinisch orien- unterstçtzt werden ± auf die Zurçckbleiben-
tierte, spirituelle, psychologische und soziale den, auf Lebensbilanzierung, auf letzte Kon-
Betreuung einschlieûende Sterbendenversor- sum- und Erfahrungswçnsche bezogen. 16
gung populår gemacht. Heute gibt es, zumin-
dest in den sozialen und pflegerischen Beru- Aus unseren Untersuchungen 17 wissen
fen, niemanden, der nicht mit Hospizrhetori- wir, dass Patienten die Sterberolle nicht selten
ken (¹Leben bis zum Endeª, ¹der Tod ist Teil erst akzeptieren, wenn sich ihr kærperlicher
des Lebensª usw.) vertraut wåre und die Ster- Zustand verschlechtert, wenn ihnen ihr Kær-
bevorstellungen von Kçbler-Ross nicht fçr per trotz aller Symptombehandlung zeigt,
wichtig halten wçrde ± und das, obgleich dass es zu Ende geht. Dieses begleitete Ster-
Hospizideen im konkreten Fall, etwa fçr sich ben ist nicht jedermanns Sache, und nicht nur
selbst oder im jeweiligen Arbeitsbereich, håu- von der medizinischen Seite her sind nicht
fig abgelehnt oder nicht angewandt werden. alle Patienten dafçr geeignet. Andere koope-
rieren bald mit der Palliativideologie und nut-
Die Vorstellungen der Sterbebegleitung be- zen die Angebote des langsamen Abschied-
inhalten die Zuweisung einer Sonderrolle, die nehmens. In Einzelfållen verweigern Patien-
im Rahmen der stationåren Versorgung in ten, die nicht mehr entlassen werden kænnen,
deutlichem Gegensatz zu der allgemeinen aber auch die Sterberolle so konsequent, dass
Praxis steht, Sterbende in der Patientenrolle sie bis zu ihrem Tode behaupten, sie seien auf
aufzufassen und wie ¹Heilbareª zu behan- dem Wege der Besserung. Palliativstationen
deln. Das ist oben angesprochen worden. Die tragen selbst diese Verweigerung mit, haben
Sterberolle, 15 wie sie auf Palliativstationen aber am Ende das Problem, sich eingestehen
zugewiesen wird, beinhaltet die gravierende zu mçssen, dass sie kein gutes Sterben herbei-
Selbstbeschrånkung der medizinischen Po- fçhren konnten.
tentiale auf palliative Maûnahmen einerseits
und ein umfangreiches kommunikatives, psy- Die Bereitstellung der beschriebenen Leis-
chosoziales Angebot andererseits, das je nach tungen auf Palliativstationen hångt von terri-
Station und Umstånden unterschiedlich reali- torialer Abgrenzung, vom Stationscharakter
siert wird. Eine weitere Grundposition be- der Palliativmedizin des jeweiligen Kranken-
steht darin, Sterbende keine unnætigen Lei- hauses ab; zugleich wird dabei von der Ak-
den ertragen zu lassen, sie also ausreichend zeptanz von Spezialisierungen profitiert.
mit Schmerzmitteln zu versorgen. Die Inter- Beide Aspekte fçhrten dazu, dass çberhaupt
aktionsethik fordert, das Sterben und die ein distinktes Milieu entstehen konnte, in
Nåhe des Todes nicht zu verschweigen, viel- dem bestimmte Regeln gelten, auf deren Ein-
mehr ein mæglichst bewusstes Abschiedneh- haltung aufgrund von Regelungshoheit ge-
men vom Leben und der sozialen Umgebung achtet werden kann. Die Bedeutung der Ster-
zu færdern. Erwartet wird auch auf der Sta-
tion, Sterben in Einsamkeit zu verhindern,
etwa durch die Mobilisierung von Angehæri- 16 Vgl. z. B. Claudia Bausewein/Susanne Roller/Ray-
gen oder von ehrenamtlichen Helfern bei-
mond Voltz (Hrsg.), Leitfaden Palliativmedizin, Pal-
spielsweise fçr Bettwachen. Die Maxime lau- liative Care, Mçnchen u. a. 20073.
tet, bis zum Ende soviel Lebensqualitåt wie 17 In einem DFG gefærderten Forschungsprojekt:

mæglich sicherzustellen. Dabei besteht die ¹Patientenrolle und Sterberolle in der Palliativversor-
gungª sind u. a. 3 ±6wæchige teilnehmende Beobach-
tungen in 4 Palliativstationen durchgefçhrt worden.
15 Vgl. Gerd Gæckenjan/Stefan Dreûke, Wandlungen Vgl. Gerd Gæckenjan/Stefan Dreûke, Sterben in der
des Sterbens im Krankenhaus und die Konflikte zwi- Palliativversorgung, in: Hubert Knoblauch/Arnold
schen Krankenrolle und Sterberolle, in: Úster- Zingerle, Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die In-
reichische Zeitschrit fçr Soziologie, 27 (2002) 4, S. 80± stitutionalisierung des Sterbens, Berlin 2005, S. 147±
96. 167.

12 APuZ 4/2008
berolle wurde bereits angesprochen: Die Zu- Ausblicke
weisung der Sterberolle ± als institutioneller
Status von Rechten und Pflichten ± basiert Es gibt keinen Kænigsweg zum guten, wçrdi-
auf dem Territorialprinzip durchsetzungsfå- gen Sterben. Selbst Hospize und Palliativsta-
higer Regeln. Dem entspricht, dass Palliativ- tionen kænnen das nicht garantieren, entge-
stationen ihre Besonderheit, wo immer mæg- gen den landlåufigen Idealisierungen aus der
lich, symbolisieren; sie kennzeichnen etwa Perspektive der Hospizbewegung. Das gilt
ihre Eingånge zu den jeweiligen Stationen besonders vor dem Hintergrund stark abwei-
stårker als andere, etwa Geburtshilfestatio- chender Sterbeideale. Die Idee des begleite-
nen; und wo das weniger gut mæglich ist, fin- ten, verabschiedenden Sterbens stellt hohe
den sich besonders stark ausgeprågte, rhetori- Ansprçche an alle Beteiligten.
sche Abgrenzungen: die unentwegte Verge-
genwårtigung des Unterschieds von ¹wirª Die besondere Kultur des Sterbens, wie wir
und ¹denenª: von den Nachbarstationen, von sie in der stationåren Palliativversorgung ken-
der Normalversorgung. nengelernt haben, ist nach innen gefåhrdet
durch Úkonomisierung, je nach Finanzie-
rungsumfang im Rahmen der DRG-Regelun-
Die Palliativversorgung steht fçr Sterben-
gen. 18 Sie ist zugleich gefåhrdet durch Diffu-
dçrfen und Sterbeerleichterung, und sie ist
sion nach auûen, wie sie rund um die Ein-
zunåchst einfach ein Korrektiv oder eine
fçhrung der ¹spezialisierten ambulanten
Ausdifferenzierung des medizinischen Sys-
Palliativversorgungª in den Leistungsbereich
tems, Ergånzung auch ihrer gesellschaftlichen
der Gesetzlichen Krankenversicherung statt-
Verantwortung. Sie repråsentiert und verrich- findet. 19 Hier ist derzeit viel in Bewegung. In
tet eine gesellschaftlich notwendige Arbeit. beiden Entwicklungslinien wird allerdings
Zu helfen, dass sterbende Menschen ¹ordent- die Kommunikations- und Zuwendungskul-
lich aus dem Leben kommenª, ist eine solida- tur getrennt von der technischen Seite der
rische Leistung. Diese solidarische Leistung, Symptomkontrollen.
wie sie in der Sterberolle angelegt ist, beinhal-
tet eine Reaktivierung oder Inszenierung des Die technisch operative Seite der Palliativ-
Sterbenden als soziales Wesen und ihre færm- medizin, Therapieabbruch und Sedierung, ist
liche Verabschiedung aus der Gesellschaft. Es dem Krankenhaus natçrlich nicht fremd. Dage-
wird erwartet und daran gearbeitet, dass so- gen hat bisher in der Hausarztmedizin Sym-
ziale Rollen eingenommen werden, in der ptomkontrolle nur geringe Anwendung gefun-
Regel familiale Rollen, und es werden Hilfen den. Diese Entwicklung wåre also eine Moder-
fçr Abschiedsrituale angeboten. Hier, in der nisierung der Medikalisierung des Sterbens. Sie
Palliativversorgung verschwindet niemand wçrde eine bessere medizinische Beherrschung
einfach so, hier wird fçr eine soziale Existenz von Verlaufsprozessen bedeuten, aber die jetzi-
ein soziales Ende hergestellt. gen Palliativideen blieben auf der Strecke.

Øhnlich problematisch zu beurteilen ist


Bei alle dem çbernimmt die Palliativstation
auch die Diffusion der Palliativmedizin in
die gesellschaftliche Verantwortung. Sie ist
Pflegeheime. Hier konfligiert die Sterberolle
die Bçhne und die Ûberwachungsinstanz fçr zwar nicht mit einem inkompatiblen Kurati-
das gute Sterben. Die Last wird vom Personal onsmilieu, aber mit åhnlichen Gleichbehand-
çbernommen im Bewusstsein ihrer Verant- lungsmaximen, die durch enge Personalaus-
wortung und mit dem starken Selbstbewusst- stattung habitualisiert sind. Selbst der be-
sein, existentielle solidarische Leistungen zu kannte Satt-Sauber-Sicher-Standard wird
erbringen. Es ist eine voll professionalisierte offenbar in Pflegeheimen nicht generell reali-
Arbeit: Niemand stirbt mit den Sterbenden, siert. Die Sterberolle bedeutet, neben allen
aber es ist eine Arbeit mit unverstelltem Blick Kooperationspflichten, vor allem Privilegie-
auf die eigene Sterblichkeit. In dieser Funkti- rungen gegençber allen anderen Patienten-
on und mit diesem Blick ist die Station kein oder Bewohnerrollen. Aufmerksamkeit und
beliebiger Ort, in dem ein Mensch seinen Tod
findet, wie etwa ein Alten- und Pflegeheim 18 DRG = Diaganosis Related Groups bzw. Dia-
oder eine Normalstation. Sie ist eine gesell-
gnosebezogene Fallgruppen.
schaftliche Gewåhrleistungsinstanz, vor der 19 Materialien auf der Internetseite der Deutschen
das ¹Aus-dem-Leben-tretenª selbst einen so- Gesellschaft fçr Palliativmedizin: dgpalliativmedi
zialen Charakter bekommt. zin.de

APuZ 4/2008 13
Zuwendungsbereitschaft, das Kommunikati- Stefan Dreûke
onsmilieu von Palliativstationen insgesamt
sind wie ¹Geschenkeª, Geschenke ausgeteilt
aufgrund çbergeordneter Solidaritåts- und
Pflichtennormen, die oben angesprochen
Sterbebegleitung
worden sind. Wir haben schon in Normalsta-
tionen Habitualisierungen gefunden, die er-
kennen lassen, wie wenig Stationsbedienstete
und Hospiz-
kultur
ihre Klientel fçr solche Privilegien geeignet
halten. In Pflegeheimen gibt es hierfçr noch
weniger Rezeptoren und Motivationen.
Hinzu kommt, dass Sterbeverlåufe aufgrund
der vielfåltigeren Multimorbiditåt der Klien-
tel schlecht prognostizierbar und entspre-
chend schlecht ¹organisierbarª sind. Wenn I mmer dann, wenn vom guten Sterben ge-
sprochen wird, kommt auch die Rede auf
das Hospiz. Geht vom Hospiz eine neue Ster-
etwa Heime sehr zægerlich sind, ehrenamtli-
che Hospizdienste zuzulassen, 20 dann wird bekultur aus, wie Hospizvertreter immer
das vor allem mit solchen Organisations- und wieder behaupten und fordern? Zunåchst ist
Mentalitåtsdifferenzen zu tun haben. das Hospiz durchaus etwas Befremdliches in
unserer Gesellschaft. Hier wird das Lebens-
Auch in der ambulanten Palliativversor- ende organisiert, und das als ausschlieûliches
gung befinden sich Palliativideen auf fremdem Ziel. Dies steht in
Territorium. In der Wohnung der Sterbenden Kontrast, beinahe in Stefan Dreûke
sind alle Dienste zu Gast, und spåtestens im Widerspruch zu den Dr. rer. pol., geb. 1969; Wissen-
Finalstadium ist hier der Hoheitsbereich der fortwåhrenden Vor- schaftlicher Assistent an der
Angehærigen. Aus der stationåren Palliativ- kehrungen gegen den Universität Kassel, Institut für
versorgung wissen wir, wie sehr Angehærige Tod, um die sich in Sozialpolitik und Organisation
durch Sterbeverlåufe hindurch begleitet wer- allen anderen gesell- Sozialer Dienste, Arnold-Bode-
den mçssen und wie wenig sie oft die Interes- schaftlichen Feldern Straûe 10, 34127 Kassel.
sen der Sterbenden zu vertreten vermægen. bemçht wird. Das dresske@uni-kassel.de
Vieles kann hier sehr kompliziert werden und Leben ist heilig, es ist
den Palliativideen gånzlich widersprechen. zu schçtzen und mæglichst zu verlångern ±
Die prinzipielle Gestaltungsschwåche in der jedwede Bedrohung des Lebens ist vorzukeh-
ambulanten Palliativversorgung wird in der
ren. Der Tod bleibt immer noch etwas Frem-
neuen Gesetzgebung weiter belastet, indem
des, er ist kein Ziel und nicht erstrebenswert.
sie den Bedingungen und Bedçrfnissen der
Auch in Einrichtungen, in denen oft gestor-
Hausarztmedizin untergeordnet wird. Kri-
ben wird wie in Krankenhåusern und in Pfle-
tisch ist weiter, dass psychosoziale Kompeten-
geheimen, bilden Sterben und Tod nicht die
zen nicht in die vorgesehenen Palliativteams,
die aus årztlichem und Pflegedienst bestehen, eigentliche Zielorientierung, sondern leiten
integriert werden. Diese gelten als nachrangi- sich hæchstens aus der Aufgabenstellung der
ge Leistungen, die çber ehrenamtliche Hos- Heilung und Unterbringung ab.
pizdienste eingebunden werden sollen. Da die
Palliativteams Kommunikations- und Zuwen- Spezialistische Versorgung und
dungskultur nicht herstellen, sondern nur semantische Politik
punktuell unterstçtzen kænnen, wird diese
durch Ehrenamtlichkeit getragen werden
Nun hat sich also mit dem Hospiz eine Insti-
mçssen. Groûe Erfolge sind so in diesem Be-
tution etabliert, in der sich mit dem Tod ange-
reich nicht zu erwarten. Es ist zu hoffen, dass
freundet werden soll. Zunåchst ist hier eine
Sterbende wenigstens von der technischen
neue spezialisierte Versorgungsform zu
Seite einer besseren Symptomkontrolle profi-
tieren werden. sehen, mit der Verfahrens- und Wissensbe-
stånde vorgehalten werden, die sich aus-
schlieûlich auf die Versorgung einer bestimm-
20 Vgl. Claus Fussek/Sven Loerzer, Alt und abge-
ten Klientel beziehen: auf schwerkranke Pa-
schoben. Der Pflegenotstand und die Wçrde des Men-
tienten, die zumeist in nicht allzu langer Zeit
schen, Freiburg u. a. 2005, S. 130.
an den Folgen einer Krebserkrankung sterben
werden. 91 Prozent der Hospizpatienten lei-

14 APuZ 4/2008
den an einer Krebserkrankung, weitere an ihre Grçnde in einer unglçcklichen semantischen Poli-
neurologischen, Stoffwechsel- und Kreislauf- tik. In der 1971 ausgestrahlten Dokumentation ¹Noch
erkrankungen. 1 Damit reagiert das Hospiz 16 Tage . . .ª wurde das St. Christopher Hospiz als
auf eine Versorgungslçcke. Durch die Zunah- ¹Sterbeklinikª bezeichnet. Hinter dieser Bezeichnung
me von chronisch-degenerativen Krankheiten wurde in der Úffentlichkeit ein ¹Sterbeghettoª vermu-
am Todesursachenspektrum in den letzten 60 tet; Hospizgrçndungen wurden abgelehnt. 5 Diejeni-
Jahren verlångert sich fçr viele Menschen die gen aber, die tåglich mit Sterbenden und ihren Næten
Zeit des Siechtums vor dem Tod, und die konfrontiert waren, sahen durchaus die positiven Sei-
Phase des Sterbens dehnt sich aus. Viele Pa- ten einer spezialisierten Einrichtung, die von einer ent-
tienten kænnen nicht mehr zu Hause versorgt sprechenden Versorgungsethik flankiert ist. Vor allem
werden, weil die Versorgungssicherheit nicht Seelsorger und Ordensschwestern, als Repråsentanten
mehr gewåhrleistet ist. Das Krankenhaus ist von Humanitåt und Wçrde im Krankenhaus, setzten
aber fçr die Versorgung Sterbender kaum ge- sich fçr die Verbreitung dieser Idee und fçr die Grçn-
rçstet. Entweder laufen Therapien noch bis dung von Hospizen ein. So geht die Grçndung der er-
kurz vor Eintritt des Todes und stellen fçr den sten auf die Versorgung Sterbender spezialisierten Ein-
Patienten eine hohe Zumutung dar oder der richtungen auf die Initiative und Mitwirkung von
Sterbende wird einer pflegerischen Grundver- Geistlichen zurçck: 1983 wurde die erste Palliativstati-
sorgung anheim gestellt, aber ansonsten ge- on am Universitåtsklinikum in Kæln durch den Kran-
mieden. 2 Zudem sind Versorgungsverlåufe im kenhauspfarrer Pater Helmut R. Zielinski gemeinsam
letzten Lebensjahr durch groûe Unruhe ge- mit Chefarzt Prof. Dr. Heinz Pichlmaier ins Leben ge-
kennzeichnet, wenn unterschiedliche Institu- rufen; 1986 folgte die Grçndung des ersten Hospizes
tionen frequentiert werden mçssen. 3 Eine in Aachen durch Pastor Dr. Otto Tçrks und 1987 das
Einrichtung, die nur fçr Sterbende da ist, kann zweite Hospiz in Recklinghausen durch Dechant
Abhilfe schaffen, indem sie Hårten abmildert Hans Overkåmping.
und Kontinuitåt sichert.
Die Ûberzeugungsarbeit der 1970er und 1980er
Das erste Hospiz wurde 1967 in London Jahre bezog sich nicht so sehr darauf, dass die Versor-
von Cicily Saunders (1918±2005) gegrçndet. gung Sterbender verbessert werden musste ± darin
Ihr ging es vornehmlich um eine adå- waren sich alle einig. Es ging vor allem um die Aufwer-
quate Schmerzbehandlung von austherapier- tung eines neuen Versorgungstyps:
ten Krebspatienten. 4 Mit ihrem Konzept
vom ¹totalen Schmerzª schloss sie erfolgreich 1. Aus der Sterbeklinik wurde zunåchst das Sterbehos-
an die medizinische Handlungslogik an und piz, schlieûlich verzichtete man gånzlich auf die Vorsil-
bot gleichzeitig eine Alternative zum Kran- be ¹Sterbenª in der Bezeichnung. Rhetorisch wurde
kenhaus. Das Hospiz war zunåchst das Vehi- immer darauf hingewiesen, das Sterben nicht institu-
kel, um auûerhalb des Krankenhauses eine tionalisieren zu wollen. Nicht zuletzt aus diesem
therapeutische Orientierung einzuçben, die Grund sind Grçndungen stationårer Hospize immer
im Krankenhaus nur unter groûen Widerstån- von ehrenamtlichen Initiativen flankiert und initiiert,
den und auch nicht systematisch zu betreiben mit denen Alltagsnåhe hergestellt wird.
war. In Deutschland kam es erst in den
1980er Jahren zu Hospizgrçndungen. Die 2. Terminalpflege war praktisch eine pflegerische Ba-
mehr als fçnfzehnjåhrige Verspåtung hatte sisversorgung, in der sich der Arzt von der Behandlung
zunehmend zurçckzog und auf kommunikative Be-
1 Vgl. Christine Pfeffer, Ausgewåhlte Ergebnisse der dçrfnisse des Patienten kaum Bezug genommen
BAG Statistik 2004, in: Rainer Sabatowski/Lukas wurde. Eine umfassende Palliativpflege ging dagegen
Radbruch/Friedemann Nauck/Josef Roû/Boris Zer- auf die ganzheitlichen Ansprçche des Patienten ein
nikow (Hrsg.), Wegweiser Hospiz und Palliativmedi-
und schloss auch die palliative, also symptomorien-
zin 2006/2007, Wuppertal 2006.
2 Vgl. Gerd Gæckenjan/Stefan Dreûke, Wandlungen tierte Medizin ein. Diese galt in Medizinerkreisen bis
des Sterbens im Krankenhaus und die Konflikte zwi- in die 1970er Jahre als schlechte Medizin, da sie mit
schen Krankenrolle und Sterberolle, in: Úster- dem Paradigma der Ursachenbehandlung bricht und
reichische Zeitschrift fçr Soziologie, 27 (2002) 4, S. 80± dem Patienten die Hoffnung auf Heilung raubt. Hos-
96.
3 Vgl. H. Bickel, Das letzte Lebensjahr: Eine Reprå-

sentativstudie an Verstorbenen, in: Zeitschrift fçr Ge- 5 Die folgenden Ausfçhrungen zur Geschichte des Hospizes be-

rontologie und Geriatrie, 31 (1998), S. 193± 204. ziehen sich auf die Quellendarstellung von Oliver Seitz/Dieter
4 Vgl. Cicily Saunders, Selected writings 1958± 2004, Seitz, Die moderne Hospizbewegung in Deutschland auf dem
Oxford 2006. Weg ins æffentliche Bewusstsein, Herbolzheim 2002.

APuZ 4/2008 15
pize boten den Ort, um Symptomorientierung im auch liebevolle Zuwendung zu geben, auf in-
Dienst der Lebensqualitåt eine positive Deutung zu dividuelle Bedçrfnisse einzugehen und vor
verleihen. allem fçr Sterbende da zu sein, wenn diese in
existentielle Næte geraten. In einer Beobach-
3. Bei der Linderung von Beschwerden geht es insbe- tungs- und Interviewstudie in zwei Hospizen
sondere um Schmerzbekåmpfung. Der Schmerz, im wurde der Frage nachgegangen, wie diese an-
traditionellen medizinischen Verståndnis vom Patien- spruchsvollen Normen einer guten Sterbebe-
ten als Teil der Heilungsanstrengungen hinzunehmen, gleitung in der tåglichen Arbeit umgesetzt
wird in der Sterbephase als zu therapierende Zumu- und wie die durchaus disparaten Hoffnungen
tung angesehen. und Vorstellungen mit einander verknçpft
werden. 6
4. Sedierung, als Kampfbegriff schlechter Pflege und
medizinischer Vernachlåssigung ehemals stigmatisiert, Im Hospiz wird mit der Einstellung gear-
wird anerkannte therapeutische Praxis, um erwçnschte beitet, dass sich eine gute Kærperpflege posi-
Bewusstheit und Schmerzfreiheit zu balancieren. Ihre tiv auf die Stimmung der Patienten auswirkt.
Extremform der terminalen Sedierung wird aus dem Waschen, Eincremen und Massieren werden
Bereich der Sterbehilfe in den Kontext der Sterbebe- nicht nur unter dem Aspekt der Hygiene und
gleitung gesetzt. Sie stellt das letzte Mittel dar, um bei der Hautpflege gesehen, sondern sind Be-
unertråglichen Qualen wie Schmerzen oder Luftnot zu standteil der Arbeit am Wohlbefinden des Pa-
helfen, wobei sich die nicht intendierte aber in Kauf tienten. In der Atmosphåre von Nåhe und
genommene Lebensverkçrzung durch der Leidensfrei- Zugewandtheit wird das Befinden der Patien-
heit relativiert. ten gedeutet und entsprechend darauf rea-
giert. Die Pflegetåtigkeiten geben Anlass fçr
5. Ganz wesentlich zur Zustimmung zum Hospiz ist Gespråche und es werden ihre Stimmungen,
schlieûlich die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe als Launen und Gefçhle im Pflegeteam kommu-
ideologische Ausrichtung der gesamten Hospizbewe- niziert. Dabei geht es vor allem um die klei-
gung, womit sowohl die Ørzteschaft als auch Kirchen nen alltåglichen Dinge: dass das Essen gut
und Wohlfahrtsverbånde als Befçrworter gewonnen schmeckt, die Sorge um den Haarausfall oder
werden konnten. Hospizpflege ist Beistand, Unterstçt- das Rauchen einer Zigarette. Diese Kommu-
zung und Begleitung des Sterbenden in seiner letzten nikationsangebote unterstçtzen Patientinnen
Lebensphase, aber nicht das Herbeifçhren des Lebens- und Patienten darin, sich als Personen mit ei-
endes. gener Biographie und Identitåt zu pråsentie-
ren. 7 Im Idealfall kænnen sie sich so authen-
tisch und fçr das Personal nachvollziehbar
Mit der Umdeutung von çblichen, aber eben auch mit ihrem Sterben auseinandersetzen und die
stigmatisierten Praktiken und deren Weiterentwick- geforderte Gefasstheit und Diskretion dafçr
lung konnte sich das Hospiz als Versorgungsinstitution aufbringen, ihre Verluste zu thematisieren
nach einer etwa zehnjåhrigen Pionierzeit ab Mitte der und ihr Leben zu bilanzieren. Die Beziehung
1990er Jahre als regulåre, wenn auch alternative Ver- zu den Patienten wird durch einen ¹struktu-
sorgungspraxis etablieren. Das Hospiz und die damit rellen Zwang zur Nåheª intimisiert, indem
verknçpfte palliative Medizin bildet eine Alternative çber die Pflege auch Persænliches angespro-
zum ¹Nichts-mehr-tun-kænnenª, wenn Heilungsan- chen wird. 8 Der Kærper ist immer das zen-
strengungen nicht mehr als angebracht gelten. Ørzte trale Kommunikationsmedium, da die ge-
und Pflegekråfte mçssen nun nicht mehr in einem sundheitlichen Verschlechterungen und die
Graubereich arbeiten, es gibt eine klare Terminologie damit einhergehende Pflegetåtigkeiten Todes-
und anerkannte Regeln, vor allem bei der Schmerzbe- nåhe nur allzu deutlich machen. Qua Pflege-
kåmpfung. Eine spezialistische Sterbendenbetreuung arbeit leiht das Personal dem Patienten ein
reduziert somit Komplexitåt und entlastet das Kran- ¹Identitåtskorsettª, das seinem mentalen und
kenhaus, das sich stårker dem kurativen Kerngeschåft gesundheitlichen Zustand ¹angepasstª ist.
widmen kann.
6 Vgl. Stefan Dreûke, Sterben im Hospiz, Frankfurt/

Neue Zuwendungskultur M. 2005.


7 Vgl. Nicholas Eschenbruch, Nursing stories, New

York 2007.
Die Betreuung Sterbender ist eine anspruchsvolle Auf- 8 Christine Pfeffer, ¹Hier wird immer noch besser ge-
gabe. Es gilt nicht nur, eine fachgerechte medizinische storben als woandersª. Eine Ethnographie stationårer
und pflegerische Versorgung sicherzustellen, sondern Hospizarbeit, Bern 2005, S. 181.

16 APuZ 4/2008
Schreitet der Sterbeprozess voran, werden schlåft. Er wollte auch schlafen.ª Der Bruder
Identitåtsdimensionen nicht weiter forciert, erwidert, er mache sich Sorgen, deshalb
aber auch nicht aktiv abgewiesen. Die Deu- komme er persænlich und fragt nicht telefo-
tung der Wçnsche und Bedçrfnisse çber den nisch an. Aufgebracht beschwert er sich jetzt
Kærper wird vor allem dann wichtig, wenn bei Schwester Sandra çber den Arzt: ¹Der
Patienten immer schwåcher werden und sich Arzt hat gesagt: ,In 24 Stunden lebt er nicht
kaum noch artikulieren kænnen. mehr.` Jetzt lebt er aber immer noch. Das hat
der Arzt schon zehnmal gesagt!ª Schwester
Ein Fallbeispiel Sandra besånftigt ihn: ¹Herr Schumann hat
ein kråftiges Herz. Man kann das nicht wis-
Mit dem bisher Gesagten lassen sich allerdings sen.ª Der Bruder beruhigt sich und er berich-
die Normen nur ungençgend nachvollziehen, tet vom gelungenen Besuch mit dem Hund
nach denen Sterben organisiert wird. Ein bei- vor zwei Tagen. Herr Schumann hat sich dar-
spielhafter Sterbeverlauf soll aufzeigen, wel- çber sehr gefreut, was auch von Schwester
che Anstrengungen damit verbunden sind: Sandra beståtigt wird. Anschlieûend verab-
schiedet sich der Besuch von der Schwester.
Herr Schumann ist 63 Jahre alt und hat
einen Krebs im Rachenbereich. 9 Durch die Die Interaktionssequenz zwischen der
Sprechkançle ist er nur sehr schwer zu verste- Krankenschwester und dem Angehærigen ist
hen. Er ist schon seit zwei Monaten im Hos- sehr erhellend fçr die Organisation des Ster-
piz und es geht ihm zusehend schlechter. Er beverlaufs. Zunåchst legitimiert die Pflegerin
ist bettlågerig, lagert Wasser ein, hat starke den schlåfrigen Zustand des Patienten. Dabei
Schmerzen und seine Lunge muss immer wie- aktualisiert sie den Patienten als Akteur,
der abgesaugt werden. Der Arzt meint, dass wenn sie hinzusetzt: ¹Er wollte es so.ª Damit
er nun im Sterben liege. Der Patient hat wird vermittelt, dass das Personal nur unter-
schon im Vornherein den Wunsch geåuûert, stçtzend eingreift, çber die Gabe von Sedati-
bei starken Schmerzen sediert zu werden. va wird nicht gesprochen. ¹Schlafª wird hier
Tatsåchlich zieht sich der Sterbeverlauf noch zu einer Metapher des Zustandes des Patien-
çber drei weitere Wochen hin. Der Patient ist ten und des Wunschbildes fçr den Sterbever-
unruhig und in den Pflegeçbergaben wird lauf. Herr Schumann soll mæglichst friedlich
von Angstattacken berichtet. Deshalb ist entschlafen kænnen. Er ist geschwåcht durch
immer wieder jemand bei ihm, auch in der die fortschreitende schleichende Krankheit
Nacht und er bekommt Beruhigungsmittel und sucht nach Ruhe. Herr Schumann wird
und Sauerstoffgaben. Sein Zustand stabilisiert als Person angesprochen, als an die Episode
sich zwischendurch auf niedrigem Niveau. mit dem Hund erinnert wird. Noch einmal
Die Angehærigen, seine beiden Brçder und wird ihm ein emotional bedeutendes Erlebnis
ihre Familien, werden immer wieder benach- ermæglicht und biographische Kontinuitåt
richtigt, wenn es dem Patienten schlechter hergestellt. Jetzt, da er den Hund gesehen
geht. Jeder Besuch scheint der letzte zu sein. und sich darçber gefreut hat, kann er doch
Herr Schumanns letzter Wunsch, noch ein- ¹loslassenª, wie es bei anderen Patienten for-
mal seinen Hund zu sehen, wird von einem muliert wird. Er hat selbst einige Tage vorher
Bruder zunåchst nicht ernst genommen. Erst gesagt, dass er sterben will. Auf diese Weise
als sich eine Krankenschwester dafçr einsetzt, entfaltet sich eine Geschichte des guten Ster-
bringt er ihn ins Hospiz mit. Zwei Wochen, bens, die çber die Geschichte des verzægerten
nachdem der Arzt das erste Mal seine Sterbe- Sterbens gelegt wird: Sie ist an die Prçfungen
prognose gegeben hat, wird folgendes Ereig- des Patienten gebunden: an das Ertragen der
nis protokolliert: kærperlichen Beeintråchtigungen, mit dem
Austragen von Hoffnung und mit der gegen-
Herr Schumann bekommt Besuch von sei- seitigen Versicherung von Angehærigem und
nem Bruder, der sich aber nur kurz im Zim- Pflegekråften, alles fçr Herrn Schumann
mer aufhålt, weil der Patient gerade schlåft. getan zu haben ± und das bedeutet, alles fçr
Bevor er das Hospiz wieder verlåsst, unter- ein gutes Sterben getan zu haben.
hålt er sich mit Schwester Sandra auf dem
Flur. Sie sagt zu ihm: ¹Es ist gut, dass er Mit dem Hinweis auf das ¹kråftige Herzª
beschwichtigt die Krankenschwester den An-
9 Alle Eigennamen wurden anonymisiert. gehærigen, indem sie ihn auf die prinzipielle

APuZ 4/2008 17
Ungewissheit des Sterbeablaufs hinweist. Die mæglicher Verlaufsstærungen und ¹Schlamas-
Vitalitåt des ¹kråftigen Herzensª verhindert selsituationenª eingegrenzt. Eine zentrale
zwar nicht das Sterben, zægert es aber doch Unterstçtzung bietet die Praxis der Sedie-
hinaus und verursacht Ungleichzeitigkeiten. rung. 10 Sie stellt die Kontrolle der kærperli-
Seine Vitalitåt verhindert die Balance eines chen und mentalen Øuûerungen des Patienten
wohlgeordneten Ablaufs und produziert sicher: seinen Aktionsradius, seine Kærper-
sogar Leiden, indem es das Leben verlångert. zeichen mit den Symptomen der Unruhe, der
Die Krankenschwester bringt damit jedoch Schmerzen und der Atemnot sowie seine Øu-
nicht die gesamte Tragweite der Kærperlich- ûerungen von Angst und Depression. Mit der
keit des Patienten zum Ausdruck: Weder die Sedierung werden sowohl Identitåtszuwei-
Gefahr des Verblutens, noch der Krebs, noch sungen mit der Verschlechterung des kærper-
die Gesichtsschwellungen werden themati- lichen Zustands als auch die disparaten Kær-
siert. Stattdessen betont sie die realistische peråuûerungen untereinander verknçpft. Das
Sterbeerwartung von Herrn Schumann. Die Risiko, dass der Patient nicht mehr Adressat
Akzentuierung des Patientenwillens und die von Reziprozitåts- und Identitåtsgesten sein
Ausklammerung der Verfallsprozesse des kann, wird durch die graduelle Anpassung
Kærpers gehæren sicherlich zu den Repråsen- der Dosierung an die Symptomåuûerungen
tationsstrategien des Hospizes als ein Exper- verhindert. Mitunter werden sogar Schmerz-
tenmilieu. Selbst bei einem offenen Bewusst- mitteldosierungen herabgesetzt, wenn das
heitskontext werden die fçr einen Laien pro- Personal den Eindruck hat, der Patient sei zu
blematischen Aspekte nicht thematisiert ± schlåfrig und auch bei einer geringeren Do-
allenfalls werden sie angedeutet. Um die sierung symptomfrei. Das erklårte Ziel be-
Schwierigkeiten der Verlaufsgestaltung fçr steht in der Symptomfreiheit bei gleichzeiti-
das Personal zu erlåutern, muss deshalb nåher ger Bewusstheit. Bei Herrn Schumann fållt
auf den professionellen Kontext der Pflege die Sedierung insofern leicht, weil er aus-
eingegangen werden. drçcklich damit einverstanden war. Im Team
wird ganz offen darçber diskutiert, wobei die
Wçnsche des Patienten advokatorisch aufge-
Die Organisation von Sterbeverlåufen nommen werden. Herr Schumann, so wird
gesagt, wollte ¹nichts vom Sterben mitbe-
Die Pflegekråfte reagieren auf die zuneh- kommenª. Auf diese Weise wird eine vom
mende Verschlechterung des Patienten in der Patienten ausgehende Legitimation fçr die
vermuteten Todesnåhe, indem sie Pflegetåtig- Sedierung geschaffen, und es werden gleich-
keiten nur noch dann ausfçhren, wenn es un- zeitig Entschuldigungsgesten gefunden, um
bedingt erforderlich ist. Stattdessen wird Sitz- Pflegetåtigkeiten bei bewusstseinsgetrçbtem
wache gehalten, Schweiû abgetupft und es Zustand auszufçhren, Gesten, die den Patien-
werden die Lippen befeuchtet. Hygienische ten als Person konstituieren. Vier Tage nach
Ansprçche werden zugunsten der Reduzie- der berichteten Episode mit dem Bruder
rung von Zumutungen balanciert. Das suk- stirbt Herr Schumann einen schmerzfreien
zessive Zurçckfahren der Kærperpflege stæût Tod. Anschlieûend nimmt das Pflegeteam in
jedoch dann an Grenzen, wenn der schwache einer Zeremonie von ihm Abschied ± man
Zustand des Patienten andauert und der er- merkt, dass es fçr sie nicht einfach war.
wartete Tod nicht eintritt. Irgendwann muss
der Patient dann doch grçndlicher gewa- Auch wenn das Personal mit Herrn Schu-
schen, mçssen Laken und Windel doch ge- mann gelitten hat, so hat es doch robust auf
wechselt und der Patient dabei stårker bewegt seinen Sterben reagiert: Es arbeitet schlieûlich
werden. Bei Herrn Schumann tritt zusåtzlich in einer Einrichtung, die fçr Sterbende da ist,
die Schwierigkeit auf, dass sein Krebsge- und Sterbeumstånde kænnen auch bei verzæ-
schwçr am Hals aufbrechen kann und er da- gerten Verlåufen gestaltet werden. Das Hos-
durch verblutet. Sein Tod kænnte so wåhrend piz ist damit ein aktivitåtsorientiertes Milieu:
der Pflegetåtigkeiten herbeigefçhrt werden, Sterben wird nicht einfach zugelassen, aber es
so zumindest befçrchtet es eine Pflegekraft:
¹Ich drehe ihn um und er stirbt.ª 10 Vgl. Friedemann Nauck/Birgit Jaspers/Lukas Rad-

bruch, Terminale bzw. palliative Sedierung, in: Wolf-


Mit diesem Pflegearrangement wird der ram Hæfling/Eugen Brysch (Hrsg.), Recht und Ethik
Sterbeverlauf dirigiert und der Spielraum der Palliativmedizin, Mçnster 2007, S. 67 ±74.

18 APuZ 4/2008
wird vermieden, die Eingriffe als unwillkçr- haben in Deutschland nur 2,5 Prozent der
lich, abrupt oder von auûen gesteuert ausse- Verstorbenen eine professionelle Sterbebe-
hen zu lassen und so versucht, den Patienten gleitung in Hospizen oder durch ambulanten
als ¹Regisseur seines Sterbensª zu repråsen- Palliative-Care-Teams erfahren; 4,4 Prozent
tieren. Der Sterbeprozess von Herrn Schu- der Verstorbenen wurden durch ehrenamtli-
mann zeigt, dass das Sterben einer sehr diffi- che Hospizdienste versorgt. 12 Als Projekti-
zilen und manchmal gar nicht selbstverstånd- onsflåche von Sterbediskursen ist es daher
lichen Steuerung anheim gestellt ist, mit der dominierend auch eine moralische Instituti-
ein friedlicher Verlauf erreicht werden soll. on, die auf den Nachweis der Humanitåt der
Trotzdem kænnen Spannungen auftreten, her- Sterbendenversorgung basiert. Mehr als ande-
vorgerufen durch Ungleichzeitigkeiten der re vergleichbare Einrichtungen macht es
kærperlichen und mentalen Verschlechterun- transparent, was geschieht ± auch mit dem
gen. Auf einer Krankenhausstation mit pallia- Hinweis, dass das Sterben nicht immer ideal
tiver Orientierung wurde beobachtet, dass verlåuft und mit viel Mçhe verbunden ist. 13
das Personal versucht, gleichsam mimetisch, Dabei lassen sich drei Motive identifizieren,
sich dem kærperlichen Verfallsprozess anzu- mit denen das Hospiz unsere Sterbeideale re-
nåhern und so der Vorstellung von einem na- pråsentiert und auf die sich die æffentliche
tçrlichen Tod zu entsprechen. 11 Auch im Zustimmung bezieht:
Hospiz findet diese Praxis Anwendung ± mit
dem Unterschied, dass zusåtzlich neben den 1. Zunåchst erfçllt das Interesse am Sterben
kærperlichen Vorgången auch die Sterbebe- eine unbestimmte Sehnsucht nach auûerall-
wusstheit des Patienten und seine Ansprçche tåglicher Erfahrung. In der Pflege und im
an die bçrgerliche Identitåt berçcksichtigt Kontakt mit Sterbenden ist der Tod hand-
werden. greiflich nah, nicht gezåhmt als Metapher
oder distanziert wie in den Medien. In einer
Obwohl das Hospiz als Alternative zum fast vollståndig gesicherten Welt sind solche
Sterben im Krankenhaus und im Pflegeheim Grenzerfahrungen nicht mehr Bestandteil der
gilt, ist es doch kein so medizinfernes Milieu, Erlebenswelt. Sie mçssen, wenn man sich
wie es manchmal scheinen mag. Auch im ihnen aussetzen will, ausdrçcklich gesucht
Hospiz werden Sterbeverlåufe medizinisch werden. In der konkreten Arbeit mit Sterben-
gesteuert ± nicht immer durch Sedierung, die den kann das Unerklårliche erfahren werden,
tatsåchlich nur in Notsituationen angewendet wenn ein Abschied gelingt und die Begeg-
werden soll, ± aber doch fast immer mit nung ¹in sich stimmig istª. Verbalisieren las-
Angstlæsern sowie mit Schmerz- und Beruhi- sen sich diese Erfahrungen dann in religiæsen
gungsmitteln. Medizinkritiker der 1970er und Begriffen als Konversionserleben: Der Ster-
1980er Jahre befçrchteten ein Sterben an Ap- bende hat nach seinem Kampf um das Leben
paraten. Dies ist nicht eingetreten, zumindest endlich Ruhe, Gelassenheit und Versæhnung
nicht bei chronisch degenerativen Krankhei- gefunden, und was dann mit seiner Seele pas-
ten. Dennoch wird im Hospiz eine Medikali- siert, wird in die Sphåre des Unbestimmten
sierung des Sterbens betrieben ± mæglicher- verwiesen. So gaben in einer Studie mit Hos-
weise viel stårker als es im Krankenhaus je piz- und Palliativpflegepersonal 81 Prozent
der Fall war. Es ist allerdings eine ¹guteª Me- der Befragten an, an das ¹Weiterleben nach
dizin, die ± vermittelt durch die pflegerische dem Todª zu glauben. 14 Herr Schumann, der
Zuwendung ± ein menschenwçrdiges Sterben
ermæglicht. Beides zusammen macht dann die
12 Vgl. Deutsche Hospizstiftung, Hospizstatistik
Sterbekultur im Hospiz aus.
2006, in: http://www.hospize.de/servicepresse/hospiz
statistik.html (15. 11. 2007).
Hospiz als Denkform 13 Vgl. den Portraitband von Sterbenden: Beate La-

kotta/Walter Schels, Noch einmal leben vor dem Tod,


Das Hospiz ist mehr als eine gewæhnliche In- Mçnchen 2004.
14 Vgl. Harry Schræder/Christina Schræder/Frank
stitution. Die æffentliche Aufmerksamkeit,
Færster/Alexander Bånsch, Palliativstationen und
die es auf sich zieht, steht im Kontrast zu Hospize in Deutschland, Belastungserleben, Bewålti-
seiner Bedeutung im Sterbegeschehen. 2006 gungspotential und Religiæsitåt, Wuppertal 2003, S. 34.
Dieser Anteil ist verglichen mit der Allgemeinbe-
11 Vgl. Ursula Streckeisen, Die Medizin und der Tod, vælkerung doppelt so hoch. Vgl. Emnid-Institut,
Opladen 2001. Glauben Sie an eine Leben nach dem Tod? in: Chris-

APuZ 4/2008 19
es gewçnscht hatte, am Ostergottesdienst gene Leben geschaut wird, eigene Verluste
teilzunehmen, starb kurz vor den Feiertagen. thematisiert werden und am eigenen Selbst-
In seine Hånde legte man Osterglocken und verståndnis gearbeitet wird. Das Hospiz ist
der aussegnende Pfarrer deutet sein leidvolles eingebettet in eine Selbstverståndigungs- und
Sterben ganz traditionell als Erlæsung: ¹Jetzt Supervisionskultur, in der die ¹inneren
hat Herr Schumann seine Ostern.ª Im Pflege- Grundvoraussetzungenª fçr die Begleitung
alltag mag die religiæse Dimension nur eine Sterbender geschaffen werden, wie es in dem
untergeordnete Rolle spielen, aber in der Re- zitierten Handbuch formuliert wird. 17 Ge-
trospektive werden die existentiellen Unge- fordert sind Sterbebegleiterinnen und -beglei-
wissheiten und die Prçfungen des Sterbens ter, die sich auf das Sterben einlassen und ihre
mit Blick auf eine hæhere Macht beruhigt: Gefçhle zulassen. Das bedeutet ¹Arbeit an
Herr Schumann hat doch ein gutes Ende ge- sich selbstª und dies, wie der Hospizleiter
funden. hinzufçgt, ¹lebenslangª. 18 Den Sterbenden
soll authentisch begegnet und ihre Persæn-
2. Ein zweites Motiv besteht in der Ge- lichkeit angesprochen werden. So werden sie
meinschaftsstiftung. Damit wird auch Kritik aufgefordert, çber sich selbst zu reflektieren
an der unçbersichtlichen Moderne und ihren und sich nicht aufzugeben, dies zumindest
unbeståndigen und flexiblen Lebensformen legt die weit rezipierte Interviewstudie von
geçbt, in denen der Einzelne zunehmend ver- Elisabeth Kçbler-Ross nahe, die Sterben als
einsamt und schlieûlich Gefahr låuft, auch einen persænlichen Reifungsprozess konzep-
einsam zu sterben. Das Hospiz kann zu einer tualisiert. 19 Auch bei Herrn Schumann wird
Ersatzfamilie werden, die Halt und Sicherheit Identitåt zugewiesen und Biographie gebçn-
gibt und in der Intimitåt geteilt wird. Existen- delt. Und er setzt sich ganz praktisch mit sei-
tielle Situationen werden zu geteilten Erfah- nem Sterben auseinander: Er sagt, er mæchte
rungen der Nåhe und des Da-Seins, wenn eh- nicht leiden mçssen. Damit gibt er dem Per-
renamtliche Helfer und Pflegekråfte mitunter sonal einen klaren Auftrag, es kann sich auf
Familienrollen çbernehmen. In familiåren seine Wçnsche berufen, çbertrågt ihm aber
Konflikten greift das auf der Seite des Ster- auch eine Mitverantwortung fçr sein Sterben.
benden stehende Personal vorsichtig mode-
rierend ein. Es bildet eine ¹fçrsorgliche Ge- Sterben ist im Hospiz deshalb so vorausset-
meinschaftª, wie es ein Hospizleiter for- zungsvoll und komplex, weil entsprechend
dert, 15 auch bei Herrn Schumann, dessen unserer Sterbeideale die Dimensionen des
Angehærige immer wieder zu Besuchen moti- kærperlichen Leidens, der existentiellen Næte,
viert werden und der seinen geliebten Hund der Gemeinschaftsstiftung und der Aktuali-
erst auf Initiative einer Krankenschwester sierung von Identitåt beachtet werden mçs-
wieder sieht. Natçrlich wissen die Beteiligten, sen. Gleichzeitig muss jeglicher Verdacht auf
dass es sich um eine Idealisierung von Familie Tætung abgewiesen werden. Das Hospiz ver-
handelt, dennoch kanalisiert das Hospiz auf sucht, diese Dimensionen zu vermitteln und
der Grundlage dieser Vorstellung die Sehn- in seinen institutionellen Zuschnitten und
sucht nach Liebe, Geborgenheit, altruisti- moralischen Handlungsorientierungen umzu-
schen Beziehungen, Verantwortung und setzen. Dies erfordert allerdings ein gut abge-
Sorge fçreinander. schirmtes und ideologisch befestigtes Milieu,
denn wenn andere Organisationsziele aufge-
3. Wåhrend sich in den Religiositåts- und nommen werden, dçrfte die Sorge um Ster-
Gemeinschaftsorientierungen Kritik an der bende wieder hinter Dringlichkeitsinteressen
Moderne åuûern, nimmt das Hospiz schlieû- zurçckgestellt werden und die Hospizversor-
lich auch Orientierungen der reflexiven Mo- gung, wie wir sie kennen gelernt haben, am
derne auf. 16 Gutes Sterben und gute Sterbe- Ende sein.
begleitung bedeuten, dass bewusst auf das ei-

mon, (2000) 10, http://www.chrismon.de/1025.php,


(13. 9. 2007). 17 Vgl. Ch. Student (Anm. 15), S. 119.
15 Christoph Student, Das Hospizbuch, Freiburg i.B. 18 Ebd., S. 119.
19943, S. 43. 19 Vgl. Elisabeth Kçbler-Ross, Interviews mit Ster-
16 Vgl. Ulrich Beck/Christoph Lau, Theorie und Em-
benden, Stuttgart 1982.
pirie reflexiver Modernisierung, in: Soziale Welt, 56
(2005) 2/3, S. 107±135.

20 APuZ 4/2008
Klaus Dærner Persænlichkeitsgestærten. Letztere fielen vor
30 Jahren fast alle noch in die Normalvertei-

Leben und lung menschlichen Lebens. Da sie sich im


Zuge der Vervierfachung der psychothera-
peutischen Anbieter ebenfalls vervierfacht

Sterben: die neue haben, mçssen sie heute ± gewissermaûen als


Kunst- oder Marktprodukt ± mit dem Etikett
¹psychisch krankª und seinen Folgen leben:

Bçrgerhilfe- håufiger zu ihrem Nachteil als zu ihrem Vor-


teil. Und was die Alterspflegebedçrftigen be-
trifft, so hat sich allein schon die Demenz, die

bewegung uns allen widerfahren kann, derart ausgewei-


tet, dass von einer neuen menschlichen Seins-
weise zu sprechen ist, zumal ab dem 93. Le-
bensjahr die Dementen die Mehrheit der Be-

D ie Alterung unserer Gesellschaft wirkt


sich seit etwa 1980 so aus, dass es in fast
jeder erweiterten Familie zu jeder Zeit ein Al-
vælkerung stellen, wåhrend die Nicht-
Dementen nur noch eine abweichende Min-
derheit sind.
terspflegeproblem gibt, das die Angehærigen
vællig verunsichert, ja Niemand kann von sich oder anderen er-
çberfordert. Denn das warten, heute schon zu wissen, wie das Leben
Klaus Dærner bisherige, einhundert in der Zukunft aussehen wird. Das ist ebenso
Prof. Dr. med. Dr. phil.; geb. Jahre bewåhrte, zwei- belastend wie reizvoll. Aber einiges wissen
1933; Psychiater und Soziologe, polige Hilfesystem ± wir doch:
zuletzt lt. Arzt im Psychiatri- die Pflege in der Woh-
schen Krankenhaus Gütersloh nung oder im Alten- 1. Das alte einhundertjåhrige Hilfesystem
(1980 ± 1996). pflegeheim ± erweist der Moderne mit seinen zwei Prinzipien der
Nissenstraûe 3, sich als zunehmend Professionalisierung und Institutionalisierung
20251 Hamburg. unbrauchbar: In der des Helfens ist ± so tragfåhig es in der Ver-
eigenen Wohnung geht gangenheit war ± heute unbrauchbar oder zu-
es oft nicht mehr und in ein Pflegeheim wollen mindest unzureichend. Es muss in ein neues
immer weniger alte Menschen. Hilfesystem çberfçhrt bzw. umgekehrt wer-
den.
Spåtestens seit 1980 låsst sich nicht mehr
leugnen, dass alle Bçrger unserer Gesellschaft 2. Die Institutionalisierung des Helfens
von diesem Problem betroffen sind ± ein Be- muss einer Deinstitutionalisierung weichen.
troffenheitsgrad, der etwa bei den Problemen Zum einen sind wir dazu heute bereits gesetz-
geistig Behinderter oder psychisch Kranker lich verpflichtet und zum anderen kann prak-
nie erreicht wird. Wir mçssen folglich, wenn tisch niemand mehr das Heim wollen: Statt
wir das Problem læsen wollen, in eine neue, die Menschen zur Hilfe, gilt es, die Hilfe zu
eine andere Gesellschaft hineinwachsen ± wie den Menschen zu bringen.
gern oder ungern auch immer.
3. Die Professionalisierung des Helfens
Diese andere Gesellschaft hat einen so gro- muss zum einen quantitativ deprofessionali-
ûen gesamtgesellschaftlichen Hilfebedarf, wie siert werden, weil ihre weitere lineare Expan-
es ihn nie zuvor in der gesamten Mensch- sion dem Ziel der Integration entgegensteht
heitsgeschichte gab. Denn ironischerweise und sich wegen der hohen Kosten als unmæg-
hat uns der medizinische Fortschritt gleich lich erweist. Nur so lassen sich die wirklich
drei, in ihrer Græûe menschheitsgeschichtlich segensreichen und unersetzlichen Kerne des
neuartige und zugleich hilfe- wie kos- professionellen Helfens dauerhaft finanzie-
tenintensive Bevælkerungsgruppen beschert: ren. Hinzu kommt eine qualitative ¹Umpro-
erstens die Alterspflegebedçrftigen und De- fessionalisierungª: Die ausgebildeten Helfer
menten, zweitens die kærperlich chronisch
Kranken und drittens diejenigen, die ich
die Neo- oder Pseudo-Psychisch-Kranken Der Beitrag basiert auf dem Buch des Autors: Leben
nenne: die so genannten Befindlichkeits- und und Sterben, wo ich hingehære, Neumçnster 2007.

APuZ 4/2008 21
kænnen kçnftig nicht mehr alles selbst tun; Es ist also von einer neuen sozialen Bçrger-
stattdessen mçssen sie andere ± die Bçrger ± hilfebewegung auszugehen. Dabei handelt es
mobilisieren und beim Helfen begleiten. Dar- sich nicht um einen sozialromantischen
aus ergibt sich: Wunschtraum, sondern um ein schlichtes und
belastbares Faktum. Diese Bewegung ist zwar
4. Die einzige freie und verfçgbare Res- noch weitgehend ohne Bewusstsein ihrer
source ist die Zeit der Bçrger; das heiût alle selbst, aber sie stellt eine gute Basis fçr die
Bçrger (nicht nur die Ehrenamtlichen) wer- Entwicklung eines neuen Hilfesystems des
den kçnftig in ihrem Wochenzeitbudget nicht ¹Bçrger-Profi-Mixesª dar.
nur Arbeitszeit und Freizeit, sondern auch
Sozialzeit vorsehen mçssen, wie dies bis zum Ich habe in den letzten zehn Jahren ± in
Beginn der Moderne in allen Kulturen ohne- Feldforschung ± versucht, die Gemeinsam-
hin der Fall war. keiten der unendlich vielen, lokalen Bçrgerin-
itiativen dieser neuen Bçrgerbewegung her-
5. Indem auf diese Weise zur Abdeckung auszufinden, um sie zugleich besser miteinan-
des explodierenden gesamtgesellschaftlichen der zu vernetzen. 1 Dabei hat sich gezeigt,
Hilfebedarfs das Bçrgerteilsystem des Hel- dass es sich bei diesem ¹Wunder gegen den
fens dem professionellen Teilsystem einen Zeitgeistª ± Gemeinwohl- statt Eigennutz-
Teil des Helfens weg- und damit wieder zu und Marktorientierung ± nicht um eine idea-
sich zurçcknimmt, kann das zu erfindende listische Verklårung, sondern um eine hæchst
neue Hilfesystem zukunftsfåhig werden: Es realistische ¹Einsicht in die Notwendigkeitª
wird also ± als neues Prinzip ± stets ein ¹Bçr- (wie Hegel ¹Freiheitª definiert) handelt.
ger-Profi-Mixª sein, egal, ob die Bçrger oder Meine bisherigen Ergebnisse sind folgende:
die professionellen Helfer das wollen oder
nicht. 1. Immer mehr Bçrger leiden an zuviel
sinnfreier Zeit. Im Durchschnitt betrågt der
Das Erstaunliche ist nun, dass wir Bçrger Anteil der Freizeit 65 Prozent; bei manchen
in der Breite långst damit begonnen haben liegt sie natçrlich darunter, dafçr betrågt sie
(ebenfalls schon 1980), unser Verhalten an bei Menschen im dritten Lebensalter oder bei
den expandierenden gesamtgesellschaftlichen Langzeitarbeitslosen 100 Prozent. Nun kann
Hilfebedarf anzupassen ± noch bevor die po- zwar die Zunahme freier Zeit durchaus ge-
litisch Verantwortlichen auch nur gewagt håt- nossen werden, aber das ist nur bis zu einem
ten, so weit zu denken oder gar Forderungen Optimum mæglich. Jenseits davon schlågt der
zu formulieren. Alle denkbaren Messinstru- Genuss in Leiden um. Statt der heute vom
mente belegen seit 1980 einen tiefgreifenden Markt gern angebotenen Psychotherapie ist
kulturellen Wandel der Einstellungen und des dann zunåchst ein gewisses Maû an ¹sozialer
Verhaltens der Bçrger: Sie zeigen nicht weni- Erdungª: eine individuell unterschiedliche
ger, sondern wieder mehr soziales Engage- Tagesdosis an Bedeutung fçr Andere erfor-
ment. derlich, um die çbrige freie Zeit nicht fremd-,
sondern selbstbestimmt genieûen zu kænnen.
Einige Beispiele seien angefçhrt: Seit 1980 Diese Reihenfolge ist nicht umkehrbar. Es
(nicht vorher) kam es zu einem Anstieg der scheint also in allen Menschen auch ein mal
Zahl der Freiwilligen und der Nachbar- kleineres, mal græûeres Helfensbedçrfnis
schaftsvereine, zur Hospizbewegung, zur (çber die eigene Familie hinaus) objektiv zu
Aidshilfekultur und zur Selbsthilfegruppen- geben.
bewegung, zur Wiederentdeckung der Bçr-
gerstiftungen, der Familienpflege (jetzt auch 2. Immer mehr Menschen machen die Er-
fçr Alterspflegebedçrftige), zur Stabilisierung fahrung, dass man heute nicht nur an kærper-
der 70 Prozent jener Familien, die ihre Al- lich-motorischer oder sozial-moralischer
terspflegebedçrftigen ungeachtet verschlech- Ûberlastung, sondern auch an Unterlastung
terter Bedingungen selbst pflegen, zur Aus- kærperlich oder psychosozial erkranken
weitung der neuen Bewegung des generati- kann.
onsçbergreifenden Siedelns sowie zum Boom
ambulanter Stadtviertel-Wohnpflegegruppen. 1 Die Ergebnisse sind zusammengefasst in: Klaus
Ob die Halbierung der Suizidzahlen seit 1980 Dærner, Leben und Sterben, wo ich hingehære, Neu-
auch hierzu gehært, sei dahingestellt. mçnster 2007.

22 APuZ 4/2008
3. Nicht wenige Menschen sind wegen der einlassen kann, weil das ja ¹unsereª Hilfsbe-
Verknappung der Erwerbsarbeit zu ihrer fi- dçrftigen sind. Insofern ist der ¹dritte Sozial-
nanziellen Absicherung auf einen Zweit- raumª der einzige Ort, an dem eine Synchro-
oder Drittjob angewiesen. Dem kommt der nisation von Bçrgerhilfe und professioneller
wachsende gesellschaftliche Hilfebedarf ent- Hilfe mæglich ist ± vitale Voraussetzung fçr
gegen. Im Unterschied zu den ehrenamtli- den ¹Bçrger-Profi-Mixª. Der ¹Pflegestçtz-
chen Helfern bisherigen Typs haben die punktª im neuen Entwurf des Pflegegesetzes
neuen Bçrgerhelfer oftmals neben einem Zu- greift erstmals das Potenzial des ¹dritten So-
viel an freier Zeit, zugleich ein zu geringes zialraumsª auf: die Selbstorganisation der
Einkommen. Sie bilden den neuen Bçrgertyp neuen Bçrgerhelfer.
des sozialen Zuverdieners oder des Semipro-
fessionellen; sie geben nicht nur Zeit, sondern Von den zahlreichen bçrgerschaftlichen
nehmen auch Geld. Experimenten, dritte Wege zwischen Woh-
nung und Heim fçr den wachsenden Hilfebe-
4. Nach den stabilen Ergebnissen des darf zu finden, mæchte ich ein Beispiel her-
Emnid-Instituts ist nicht nur ein Drittel der ausgreifen: die oben erwåhnten ambulanten
Bçrger sozial aktiv, ein zweites Drittel ant- Stadtviertel- oder Dorfwohnpflegegruppen.
wortet auf die entsprechende Frage: ¹Ich Ich habe mich fçr dieses Beispiel entschieden,
kann mir das schon gut vorstellen; bloû hat weil diese Wohngruppen, von denen es der-
mich doch noch niemand gefragt!ª Wir Men- zeit in Deutschland etwa 500 gibt, bislang die
schen sind also offenbar so ¹gestricktª, dass besten Chancen haben, verallgemeinerbar
wir weder unser eigenes Hilfebedçrfnis, noch und damit in gesellschaftlichen Maûstab ver-
unser eigenes Helfensbedçrfnis gern æffent- sorgungsrelevant zu werden. Dies wird aller-
lich vorbringen. Es bedarf dazu eines Ansto- dings nur dann der Fall sein, wenn sie sich fçr
ûes von auûen: Folglich gilt es, die Realisie- alle Pflegebedçrftigen des Stadtviertels oder
rung dieses Bedçrfnisses flåchendeckend zu des Dorfes æffnen, ganz gleich, ob es sich um
organisieren. Anders: Wenn ich fçr irgendet- einen Demenzkranken, einen 20-jåhrigen
was zu wenige Bçrgerhelfer habe, werde ich Hirntraumatiker, einen geistig Behinderten
mit der Methode des Klinkenputzens etwa oder psychisch Kranken, einen Kærperbehin-
bei jeder dritten Klinke fçndig. derten oder ggf. auch einen im Wachkoma lie-
genden Menschen handelt. Das widerspricht
5. Der bisher wichtigste Beitrag der Bçrger- zwar der tradierten Sicht der professionellen
hilfebewegung zum neuen Hilfesystem be- Helfer, der Wissenschaft und vor allem der
steht jedoch in der Wiederbelebung des ¹drit- Verwaltung, es entspricht dafçr aber dem Be-
ten Sozialraumª: Es handelt sich dabei um den dçrfnis der Menschen: Kein Dementer, Hirn-
Raum zwischen dem privaten und dem æffent- traumatiker oder Wachkomatiker ± wie auch
lichen Sozialraum: um das Stadtviertel, die kein rundherum gesunder Bçrger ± mæchte
Dorfgemeinschaft oder die Nachbarschaft, seinen Alltag in einer Monokultur verbrin-
mithin um den ¹Wirª-Raum, der 1 000 bis gen: Je kleiner und damit zwischenmenschli-
10 000 Einwohner umfasst. Diesen ¹dritten cher und integrationsfreundlicher der Unter-
Sozialraumª gab es in allen Kulturen bis zum stçtzung gewåhrende soziale Raum ist, desto
Beginn der Moderne; er war lebensnotwendig weniger ist Spezialisierung und desto mehr
fçr den Hilfebedarf, mit dem eine Familie die Allzuståndigkeit der Bçrger wie der pro-
çberfordert ist, fçr Singles, die keine Familie fessionellen Helfer gefragt, was gleicherma-
haben, sowie fçr alle Prozesse der Integration, ûen fçr die Beratung gilt (Experten nur im
auch jener von Migranten. 100 Jahre lang Hintergrund).
haben wir geglaubt, dass dieser Raum dank
des Fortschritts nicht mehr erforderlich sei, Weil das alles fçr uns, an instituationali-
jetzt erkennen wir, dass dies ein Irrtum war. sierte und professionalisierte Hilfe gewæhnte
Bçrger neu und fremd ist, schildere ich die
Das Wirkgeheimnis des ¹dritten Sozial- ambulante Viertelwohnpflegegruppe ± ganz
raumsª besteht darin, dass ich als Bçrger die praxisbezogen ± indem ich mich an die we-
Aufforderung, fçr alle Hilfsbedçrftigen da zu sentlich Beteiligten ± an die Pflegebedçrfti-
sein, als Ûberforderung ablehne, wåhrend ich gen, die Angehærigen, das professionelle Pfle-
mich auf die Verantwortung fçr ¹meinª çber- gepersonal, die Bçrger des Stadt- oder Dorf-
schaubares, streng begrenztes Viertel eher viertels, die Wohnungsbaugesellschaften und

APuZ 4/2008 23
die Kommunen ± wende und sie von der kænnen, so dass sie sich in ein paar Jahren zu
neuen Wohnform zu çberzeugen versuche: ¹Allround-Profisª qualifizieren kænnen.ª

1. Pflegebedçrftige: ¹Weil es aus den oder 4. Bçrger: ¹Bisher habt Ihr die Kultur
den Grçnden zu Hause nicht mehr geht, emp- Eures Viertels zum Beispiel an der Zahl der
fehlen wir Euch, in die ambulante Wohngrup- Kindergartenplåtze gemessen; kçnftig wird
pe um die Ecke zu ziehen. Ihr verliert zwar die die hinreichende Zahl von Pflegeplåtzen im
Vertrautheit Eurer Wohnung, aber nicht die eigenen Viertel noch wichtiger sein.ª Die
Vertrautheit Eures Viertels. In der ambulanten Bçrger werden rasch erkennen, dass fçr sie
Wohngruppe macht Ihr eigentlich dasselbe und ihre Familien mit der Zahl der Pflege-
wie bisher in Eurer Wohnung. Auch die plåtze im Wohnviertel die Versorgungssicher-
Wohngruppe ist als Haushalt zu fçhren, nur heit fçr alle nur denkbaren Pflegerisiken zu-
seid Ihr dafçr nicht mehr allein zuståndig, nimmt, und zwar dort, wo sie jetzt leben: wo
sondern gemeinsam mit anderen. Jeder trågt sie hingehæren. Schon aus diesem Grund wer-
zum Funktionieren des Haushaltes soviel bei, den sie sich gern zum Beispiel an der Absi-
wie er kann, jeder hat eine Aufgabe und cherung der 24-Stunden-Pråsenz oder an der
kommt so zu seiner ¹Tagesdosis an Bedeu- Hauswirtschaft mit oder ohne Geld beteili-
tungª fçr Andere. Anders als im Heim werdet gen. In Bielefeld haben die Bçrger fçr die am-
Ihr in der Wohngruppe irgendwann aus dem bulante WG die Bezeichnung ¹Unser Pflege-
prallen, tåtigen Leben heraus sterben. Wenn herzª erfunden.
die Wohngruppe richtig organisiert ist, werdet
Ihr bei niedrigeren Kosten zwei, dreimal mehr 5. Wohnungsbaugesellschaften: ¹In der
menschliche Zuwendung haben als im Heim.ª Vergangenheit habt Ihr versucht, die låstigen
Pflegebedçrftigen aus Euren Siedlungen los-
2. Angehærige: ¹Wenn es zu Hause nicht zuwerden; heute kænnt Ihr Euch das nicht
mehr geht, mietet Ihr ± gemeinsam mit ande- mehr leisten, weshalb Ihr Euch schon bei der
ren Betroffenen ± Wohnraum fçr eine Wohn- architektonischen Planung der Håuser auf
gruppe. Ihr behaltet damit alles in eigener den zu erwartenden Pflegebedarf einstellen
Regie; die Situation ist vergleichbar mit dem solltet: Erst dann seid Ihr gegençber Euren
Altenteil der frçheren Agrargesellschaft, nur Mietern glaubwçrdig, diesen ein lebenslanges
dass es sich jetzt um einen Gruppenaltenteil Wohnen bis zum Sterben fçr alle garantieren
handelt. Auûerdem werdet Ihr mit Sicherheit zu kænnen.ª
Eure Verantwortung fçr das pflegebedçrftige
Familienmitglied nicht von 100 auf 0 Prozent 6. Die Kommunen: ¹Da die Kommune ins-
herunterfahren wollen, sondern vielleicht nur gesamt meist zu groû ist, mçsst Ihr euch or-
auf 50, 30 oder 10 Prozent, was sich problem- ganisatorisch auf die ¹dritten Sozialråumeª
los in der ambulanten Wohngruppe aushan- umstellen. Die bisher praktizierte bçrokrati-
deln låsst. sche Spezialisierung (Jugend-, Alten-, Behin-
dertenhilfe, Pflege, Eingliederung) solltet Ihr
3. Professionelles Pflegepersonal: ¹Wenn dem Sozialraumprinzip unterordnen und de-
Ihr darauf achtet, dass der Pflegebedarf in der mensprechend auch das Beratungssystem ±
ambulanten Wohngruppe so groû ist, dass sich dies auch kostensparend ± umstellen. Es wird
die 24-Stunden-Pråsenz finanzieren låsst, habt auch schon çberlegt, die Kommunalverwal-
Ihr fçr das betreffende Viertel einen Stçtz- tung um ein Amt fçr Nachbarschaft zu ver-
punkt. Von dem aus kænnt Ihr nicht nur den vollståndigen, wie das in den USA in vielen
Pflegebedçrftigen in den umliegenden Woh- Stådten schon seit jeher selbstverståndlich ist.
nungen helfen, sondern auch allen hilfs- und Die wichtigste Aufgabe der Kommune be-
pflegebedçrftigen Bçrgern des Viertels garan- steht aber darin, mindestens 20 Prozent der
tieren, im Notfall sowohl am Tag als auch in WG-Wohnungen oder -Håuser selbst als Ver-
der Nacht in fçnf Minuten zur Stelle zu sein. mieter zu tragen: Weil alle freien Tråger zum
Dabei entfållt sogar weitgehend das leidige Rosinenpicken neigen, ist die Kommune zur
Wegekostenproblem. Und es gibt einen weite- Garantie der Chancengleichheit verpflichtet.ª
ren Vorteil: Eure Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter werden besonders motiviert sein, weil Die ambulanten Wohngruppen werden
sie in der ambulanten Wohngruppe alle Be- unter anderem deshalb zu Recht ¹Pflegeherzª
sonderheiten des Pflegeberufs kennenlernen genannt, weil sie nicht nach dem Markt-, son-

24 APuZ 4/2008
dern nach dem Gemeinwohlprinzip tåtig Ludger Fittkau ´ Petra Gehring
sind, und weil sie alle fçr die Lebendigkeit
und Menschenfreundlichkeit eines Viertels
Verantwortlichen an einen Tisch und zum ge- Zur Geschichte
der Sterbehilfe
meinsamen Handeln bringen. Tråger einer
ambulanten WG kænnen sein: Angehærige,
Nachbarschaftsvereine, Kirchengemeinden,
die Wohnungswirtschaft, die Heime, sofern
sie zukunftsfåhig bleiben wollen, und die
Kommunen.

Hinsichtlich der Versorgungsrelevanz ist


D ie Euthanasie oder die Kunst den Tod
zu erleichtern ± so lautet der Titel eines
Buches, das 1835 in Berlin erschien. Es
fçr den stådtischen Bereich derzeit Bielefeld stammt aus der Feder von Karl Ludwig
mit der hæchsten Dichte ambulanter Wohn- Klohss, ¹der Medizin und Chirurgie Doctor,
gemeinschaften der Spitzenreiter: Nach Be- Land-Physikus und praktischer Arzt zu
rechnung der Akteure ist dort alle 500 Meter Zerbstª. Im Text entwickelt Klohss, was er
eine ambulante WG erforderlich, um die selbst eine ¹Lehre der Euthanasieª nennt ±
Vollversorgung zu gewåhrleisten, zumal alle mit sechs zentralen Punkten. Diese umfassen
Wohnungsbaugesellschaften und auch der die sichere Todesfeststellung samt ordentli-
græûte Heimtråger auf das neue Hilfesystem chem Begråbnis, ein angenehmes Sterbeam-
durch ambulante WGs umgestiegen sind; biente und die effekti-
letzterer hat sich daher selbst einen Heimbau- ve Schmerzbekåmp-
stop verordnet. Fçr den låndlichen Bereich fung. Auch der ¹Trost Ludger Fittkau
hat der Landkreis Herzogtum Lauenburg in der Religionª solle ge- Dr. phil., M. A., geb. 1959; So-
den letzten zwei bis drei Jahren zwælf ambu- wåhrleistet sein. Die zialwissenschaftler, Dieburger
lante WGs geschaffen und ausgerechnet, dass erste Forderung aber Straûe 98 D, 64287 Darmstadt.
man fçr die 150 000 Einwohner fçr die Voll- lautet: ¹Dahin strebe, lfittkau@gmx.de
versorgung etwa 100 WGs benætigen wçrde. die Menschen nicht
vor der Zeit und so Petra Gehring
Da wir erst am Anfang des Aufbruchs in viel wie mæglich am Dr. phil., geb. 1961; Professorin
die neue, andere Gesellschaft und in das neue natçrlichen Tode im für Philosophie an der TU Darm-
Hilfesystem stehen, sind wir gut beraten, engern Sinne sterben stadt, Residenzschloû,
weiter zu experimentieren und die grob skiz- zu lassen.ª 1 64283 Darmstadt.
zierte Bewegung nicht durch allzu schnelle, gehring@phil.tu-darmstadt.de
wenn auch gut gemeinte Qualitåtskontrollen Das Euthanasiever-
zu låhmen. Dieses Instrument ist vielleicht ståndnis, das Klohss
fçr Institutionen, aber kaum fçr die freie Be- formuliert, schlieût Tætungshandlungen ein-
wegung der Bçrger im ¹dritten Sozialraumª deutig aus. Klohss verweist auch auf die be-
geeignet. Es kænnte durchaus sein, dass wir kannten Såtze des berçhmten Mediziners
schon morgen andere, noch viel bessere dritte Christoph Wilhelm Hufeland: Tæteten die
Wege zur Problemlæsung des wachsenden Ørzte, so wçrden sie ¹die gefåhrlichste Men-
Hilfebedarfs (er)finden werden. Dessen unge- schenklasse im Staate, die gefåhrlichsten Gift-
achtet gilt: Die Zukunft hat schon begonnen, mischerª, vor denen man nichts sichern kæn-
und wer zu spåt kommt, den bestraft be- ne. 2
kanntlich das Leben.
Hufeland und Klohss stehen fçr die Positi-
on der ¹Euthanasia medicaª 3 ± einer Bewe-
gung aufgeklårter Ørzte, die seit Ende des 18.
Jahrhunderts das Sterben erleichtern, Schmer-
1 Karl Ludwig Klohss, Die Euthanasie oder die Kunst

den Tod zu erleichtern, Berlin 1935, S. 37.


2 Ebd., S. 98.
3 Maria Falk, Geschichte und Bedeutung der Eu-

thanasia Medica und ihr Einfluû auf die spåtere Eu-


thanasiediskussion und Ausçbung der Sterbehilfe,
Marburg 1983.

APuZ 4/2008 25
zen und Todesangst durch Medikamente oder der gesellschaftlichen Notwendigkeit: Eine
auch durch die Gabe von Opium lindern Belastung der Gesunden durch Alte und
wollen. Tætungshandlungen werden in dieser Kranke soll ¹in Grenzenª gehalten werden.
Zeit nicht nur von Ørzten ethisch verworfen, Der Diskurs verbindet die Idee moralisch-
sondern auch das Allgemeine Preuûische ethischer ¹Autonomieª zum Tod mit einer
Landrecht (ALR) von 1794 ist eindeutig: Logik des Gemeinnutzens und der strikten
¹Wer einen Andern auf dessen Verlangen tæd- sozialen Steuerung. In der Rechtsentwicklung
tet, oder ihm zum Selbstmorde behçlflich ist, der modernen Sterbehilfe lassen sich drei re-
hat 6 bis 10jåhrige, und bei einem çberwie- levante Phasen unterscheiden: die Phase des
genden Verdachte, den Wunsch nach dem Beginns einer Debatte der Verrechtlichung
Tode bei einen Getædten selbst veranlaût zu um 1900, eine staatsrassistische Phase von
haben, lebenswierige Festungs- oder Zucht- den 1920er Jahren bis zum Ende des zweiten
hausstrafe verwirktª, heiût es in Paragraph Weltkriegs und eine liberale Phase von den
834. 1960er Jahren bis heute.

Der Geist der ¹Euthanasia medicaª ± also


einer Hilfe beim Sterben ohne aktive Tæ-
Konzepte der Sterbehilfe um 1900
tungshandlung ± bleibt bis Mitte des 19. Jahr-
Symptomatisch fçr das Profil des modernen
hunderts diskursbestimmend.
Sterbehilfediskurses ist die 1895 erschienene
Programmschrift Das Recht auf den Tod des
Der Gedanke an ein staatlich, das heiût
Gættinger Wirtschaftsstudenten Adolf Jost.
durch ein gesetzliches Verfahren, institutiona-
Wie Georg Simmels Einleitung in die Moral-
lisiertes Angebot einer Hilfe nicht im, son-
wissenschaft (1893) sowie Ernst Haeckels Le-
dern zum Sterben ± einer Sterbehilfe (die in-
benswunder (1904) kann Josts Schrift zu den
nerhalb oder auûerhalb der Medizin) in
Gewåhrstexten einer neuen Autonomiefigur
bestimmten Standardsituationen regulår ver-
gezåhlt werden: einer ¹Autonomieª im Ster-
ordnet und vollstreckt oder aber privat nach-
ben, die genau darin bestehen soll, dass nicht
gefragt werden kann ± ist also eine junge Er-
etwa ich mich selbst umbringe, sondern mein
rungenschaft. Aktive Sterbehilfe unter staatli-
Wille sich genau darin realisieren soll, dass je-
cher Øgide setzt den modernen Rechtsstaat
mand anderes ± eine ¹dritte Handª ± an mir
und eine professionalisierte Wohlfahrtsmedi-
die tædliche Handlung vollbringt.
zin voraus.
Jost greift mit seiner Schrift einen ¹starren
Ein relevanter æffentlicher Diskurs çber
Punkt in unseren moralischen und sozialen
¹Tætung auf Verlangenª oder ¹Suizidbeihil-
Anschauungenª an. 4 Die Religion, der Staat
feª durch Ørzte oder Laien entsteht kurz vor
und die æffentliche Meinung werden fçr die
Ende des 19. Jahrhunderts. Øltere, malthusia-
Stagnation hinsichtlich des Sterbens und des
nische Motive (die Schwachen sind eine æko-
Todes verantwortlich gemacht. Man werde,
nomische Belastung) und jçngere, eugenische
so Jost, durch ¹moralische Pressionª gezwun-
Motive (bestimmte Individuen sind erbbiolo-
gen, ¹sein Leben selbst unter den trostloses-
gisch unerwçnscht) mischen sich. Es entste-
ten Verhåltnissen bis zu einem vielleicht qual-
hen sozialplanerische Konzepte, die Kranke
vollen Ende fortzuschleppen.ª Das ¹Recht,
und Behinderte als Hindernis auf dem Weg
zu sterbenª werde hart bestraft, wåhrend auf
zur gesundheitspolitisch optimierten Gesell-
der anderen Seite Staat, Gesellschaft und Re-
schaft betrachten. Nicht erst im Nationalso-
ligion im Kriegsfall wie auch bei der Todes-
zialismus, sondern bereits am Ende des 19.
strafe davon ausgingen, dass es eine ¹Pflicht
Jahrhunderts werden so das individuelle Ver-
zu sterben geben sollª. Gerade fçr geistig un-
langen eines Lebensmçden nach Hilfe zur
heilbar Kranke sei ¹der Tod oft in noch hæ-
Lebensverkçrzung genauso thematisiert wie
herem Maûe eine Wohlthat, als fçr den phy-
die Kostenlasten des Gesundheitssystems.
sisch Kranken.ª 5 Man sage zwar, dass ¹sich
Der entstehende Sterbehilfediskurs hat so
der geistig Kranke oft recht wohl befinde,
von Beginn an ein doppeltes Gesicht: Zum
daû er zwar nutzlos sei fçr seine Umgebung,
einen prågt ihn eine neue Rhetorik der indivi-
duellen Freiheit, die eine Tætungsbeihilfe als 4 Adolf Jost, Das Recht auf den Tod. Sociale Studie,
Mitleidsakt oder Freundschaftsdienst um- Gættingen 1895, S. 1.
schreibt. Zum anderen prågt ihn das Thema 5 Ebd., S. 16.

26 APuZ 4/2008
was aber seine Person anlange, ein verhåltnis- Die Jostschen Sterbehilfeargumente wer-
måûig ruhiges und glçckliches Dasein fçhren den kurz nach der Jahrhundertwende unter
kænne.ª Es gebe doch aber eine ¹nennenswer- anderem in dem von dem Biologen Ernst
the Zahlª geistig Behinderter, die unglçcklich Haeckel und dem Arzt Auguste Forel ge-
seien. Das ¹einfache, natçrliche Mitleidª, fol- grçndeten Deutschen Monistenbund wieder
gert Jost, mçsse hier schon zur Anerkennung aufgegriffen. In den Diskussionskontexten
des ¹Rechtes auf den Todª fçhren. 6 der nicht zuletzt eugenisch geprågten Vereini-
gung entsteht 1913 der erste komplette Ge-
In Josts Schrift spiegeln sich jedoch vor setzentwurf zur Sterbehilfe. Der von Roland
allem ækonomische Argumente des Aufwan- Gerkan, Mitglied des Monistenbundes, ver-
des der Pflege schwer Kranker und der (fi- antwortete Text hebt hervor, dass der Sterbe-
nanziellen wie seelischen) Belastung, die den willige einzuwilligen habe und dass Ørzte am
Angehærigen und der Gesellschaft hier ent- Tætungsakt beteiligt sein sollen. In Grundzç-
stçnden. ¹Der Kranke konsumiert eine be- gen åhnelt er den heute gçltigen Regelungen
tråchtliche Menge materieller Werthe, mehr in den Niederlanden und Belgien. Im parla-
als der gesunde Mensch. Einer von ihnen, mentarischen Raum blieb er weitgehend ohne
oder wenigstens mehrere zusammen absor- Resonanz.
bieren die Arbeitskraft mehrerer Leute, die
sie zu pflegen und zu warten haben, sie ver-
brauchen Nahrung und Arzneien.ª 7 Dieser Staatsrassistische Phase
ækonomischen Evaluation stellt Jost Ûberle-
gungen zum ¹Lebenswertª zur Seite: ¹Der Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs be-
Werth des menschlichen Lebensª kænne einflussen den europåischen Sterbehilfedis-
¹nicht bloû Null, sondern auch negativ wer- kurs in den 1920er bis in die 1940er Jahre
den, wenn die Schmerzen so groû sind, wie es maûgeblich. Sie schieben zunåchst die ækono-
in der Todeskrankheit der Fall zu sein mische Seite des Diskurses in den Vorder-
pflegt.ª 8 Der Tod sei dann besser als das grund. Das ist nicht zuletzt auf die Kriegser-
Leben. fahrungen selbst zurçckzufçhren, wie Heinz
Faulstich in seiner bedeutenden Studie çber
Jost will die Tætungserlaubnis fçr Kranke ¹Hungersterben in der Psychiatrie 1914 ±
und Schwache einerseits von der Diagnose 1949ª 9 nachgewiesen hat. In der Psychiatrie
eines oder einiger Ørzte abhångig machen nach dem Ersten Weltkrieg gab es offenbar
und andererseits von der Zustimmung des Pa- einen weitgehenden Konsens darçber, dass es
tienten selbst ± hiermit zeichnen sich bereits Situationen gebe, in denen das Wohl und
die auch heute noch geltenden zentralen Kri- Wehe der Starken das Lebensrecht der
terien fçr die aktive Sterbehilfe ab. Es geht Schwachen auûer Kraft setzt. 10 Diese
Jost aber explizit nicht nur um ein ¹Mehrª an ¹Wandlung des Humanitåtsbegriffsª spiegelt
Privatautonomie fçr das Individuum, sondern sich gleichzeitig auch in den rechtspolitischen
um eine soziale Reformstrategie. Sei nicht Debatten der jungen, politisch zerrissenen
¹vom Standpunkt der Wohlfahrt der men- Weimarer Republik wider.
schlichen Gesellschaft ausª ein Recht auf den
Tod anzuerkennen? Im Vordergrund steht In ihrer Schrift ¹Die Freigabe der Vernich-
damit eine Moral des sozialen Nutzens. Das tung lebensunwerten Lebensª greifen Karl
Recht auf den Tod soll vor allem der sozialen Binding und Alfred Hoche 1920 den Sterbehil-
Wohlfahrt dienen, und das geforderte ¹Rechtª fediskurs wieder auf. Der Strafrechtler Binding
ist nicht zuletzt ein Recht der Gesellschaft auf stellt zu Beginn seiner ¹rechtlichen Ausfçh-
den Tod des Einzelnen. Nicht nur das auto- rungª zum Thema die Frage: ¹Soll die unver-
nome Individuum steht also am Beginn des botene Lebensvernichtung, wie nach heutigem
Sterbehilfediskurses, sondern und untrennbar Rechte ± vom Notstand abgesehen ±, auf die
geht es auch um die wirtschaftliche Hand- Selbsttætung des Menschen beschrånkt blei-
lungsfreiheit der Gesellschaft, die knappe Res- ben, oder soll sie eine gesetzliche Erweiterung
sourcen zu rationieren hat. 9 Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie

1914± 1949, Freiburg/Br. 1998.


6 Ebd., S. 16. 10 Vgl. Hans-Ludwig Siemen, Menschen bleiben auf
7 Ebd., S. 17. der Strecke. Psychiatrie zwischen Reform und Natio-
8 Ebd., S. 26. nalsozialismus, Gçtersloh 1987.

APuZ 4/2008 27
auf Tætungen von Nebenmenschen erfahren doch nicht, wenn die Person, die Sterbehilfe
und in welchem Umfange?ª 11 Fçr so genannte leiste, zur Beurteilung der Krankheitslage
¹Hauptmenschenª ± als Beispiel dienen Arbei- fåhig sei. Zur Sicherheit solle stets das Gut-
ter in der Montanindustrie ± will Binding zwar achten zweier beamteter Ørzte eingeholt wer-
die ¹Beihilfe zum Suizidª und die ¹Tætung auf den. Im Zusammenhang mit Geistigbehinder-
Verlangenª weiterhin unter Strafe gestellt wis- ten ist in der Denkschrift ± darin kehrt die
sen. Aber angesichts der soldatischen Opfer, Wortwahl von Binding und Hoche wieder ±
die der Erste Weltkrieg forderte und die in zi- nicht mehr von Tætung, sondern von ¹Aus-
vilen Zeiten beispielsweise eben Arbeiter in schaltungª oder von ¹Vernichtungª die Rede.
der Montanindustrie tagtåglich erbråchten,
hålt er die Pflege von ¹Nebenmenschenª in Die ¹preuûische Denkschriftª findet auch
Heimen und Anstalten nicht mehr fçr gesell- in die Beratungen der amtlichen Strafrechts-
schaftlich gerechtfertigt. kommission Eingang, die nach der Macht-
çbernahme der Nationalsozialisten unter
Wåhrend die Mehrheit der Psychiater und dem Vorsitz von Justizminister Franz Gçrt-
Anstaltsårzte nach dem Ersten Weltkrieg of- ner ab November 1933 das Strafrecht refor-
fenbar nicht sehr weit von den Positionen mieren soll. Nur im Hinblick auf die Tætung
Bindings und seines Ko-Autors, des Úkono- auf Verlangen weicht die endgçltige Position
men Alfred Hoche, entfernt ist, stoûen ihre der Strafrechtskommission von der Linie der
rechtspolitischen Vorschlåge bei der Mehrheit Denkschrift ab. Nach dem Vorschlag der
der praktischen Ørzte auf Widerstand. 12 Der Kommission sollte der Tatbestand der Tætung
Deutsche Ørztetag 1921 in Karlsruhe lehnt auf Verlangen (§ 216) entfallen, denn die
einen an Binding und Hoche anknçpfenden milde Behandlung dieses beruhe auf einer
Antrag zur ¹gesetzlichen Freigabeª der ¹Ver- ¹individualistischen Einstellungª des bisheri-
nichtung lebensunwerten Lebensª nahezu gen Rechts. Jedes Mitglied der Volksgemein-
einstimmig ab. 13 Das Thema bleibt jedoch schaft habe aber die Pflicht, der Gemeinschaft
auf der politischen Agenda. Das NS-Regime bis zum letzten zu dienen, und dçrfe sich
leitet nach der Machtçbernahme 1933 umge- dem nicht feige durch Suizid oder ¹verlangteª
hend erste Schritte zu einer Reform des Straf- Tætung entziehen. Insgesamt setzt die Kom-
rechts ein. Ziel ist es, Tætungen durch Ørzte mission eher auf vorbeugende Eugenik als auf
mæglich zu machen. Im September 1933 er- Tætung.
scheint die so genannte ¹Preuûische Denk-
schriftª, verantwortet vom Preuûischen Jus- Unabhångig von den Beratungen einer in
tizminister, dem Nationalsozialisten Hans gewisser Weise immer noch ¹rechtsstaatlich
Kerrl. In diesem Text wird eine mildere Be- gebundenen juristischen Fachdiskussionª 15
strafung fçr Tætung auf ausdrçckliches und fassen schon bald nach der Machtçbernahme
ernstliches Verlangen als bei der ¹gemeinen einflussreiche Nationalsozialisten die ¹Ver-
Tætungª gefordert. Die Sterbehilfe (¹Eutha- nichtung lebensunwerten Lebensª ins Auge.
nasieª) erscheint erneut als Unterart der Tæ- So soll Reichsårztefçhrer Gerhard Wagner
tung auf Verlangen und wird als ¹wunschge- nach Aussage von Karl Brandt, zu dieser Zeit
måûe Befærderung des Sterbens eines hoff- ¹Begleitarztª Adolf Hitlers, auf dem Reichs-
nungslos Leidenden durch ein todbringendes parteitag der NSDAP 1935 den ¹Fçhrerª auf
Mittel zur Verkçrzung der Qualª definiert. 14 die Mæglichkeit der ¹Euthanasieª hingewie-
Gefordert wird ein årztliches Tætungsprivi- sen haben. 1939, als im Umfeld Hitlers klar
leg: Schreite jemand ohne ausreichende Sach- ist, dass alles auf einen Krieg hinauslief, wird
kenntnis çber Art und Grad einer Erkran- als erste einer ganzen Reihe von Euthanasie-
kung zur Tat, so sei das zu sanktionieren ± je- aktionen die so genannte ¹Kindereuthanasieª
eingeleitet. Wann genau die Planungen fçr die
11 Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Ver- Tætungen der Kinder in Gang gesetzt wur-
nichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maû und ihre den, ist bis heute offen. Klar ist jedoch, dass
Form, Leipzig 1920, S. 1. vorbereitende Maûnahmen bereits vor dem
12 Vgl. Udo Benzenhæfer, Der gute Tod?, Mçnchen
18. August 1939 beginnen, dem Tag, an dem
1999, S. 105 f.
13 Vgl. ebd., S. 107.
ein streng vertraulicher Runderlass des
14 Hans Kerrl (Hrsg.), Nationalsozialistisches Straf- Reichsministeriums des Inneren an Hebam-
recht. Denkschrift des Preuûischen Justizministers,
Berlin 1933, S. 86. 15 Vgl. U. Benzenhæfer (Anm. 12), S. 112.

28 APuZ 4/2008
men, Ørzte in Entbindungsanstalten und ge- tematischen ¹Hungersterbensª in den Anstal-
burtshilflichen Abteilungen von Kranken- ten geworden.
håusern und Allgemeinårzte ergeht. Zur
¹Klårung wissenschaftlicher Fragen auf dem Nach Kriegsende und Kapitulation sind in
Gebiete der angeborenen Miûbildung und Deutschland kaum Publikationen zum
der geistigen Unterentwicklungª 16 sollen Thema ¹Sterbehilfe und Rechtª zu finden.
Kinder mit angeborenen Behinderungen ge- Auf dem Konstanzer Juristentag 1947 wird
meldet werden. Etwa 20 000 Kinder werden gefordert, dass çber eine ¹echte Euthana-
anschlieûend fçr die Tætung ausgesucht. sieª 20 in Deutschland nie wieder diskutiert
5 000 bis 8 000 von ihnen wurden bis zum werden dçrfe.
Kriegsende ermordet. Der Kindereuthanasie
folgte die so genannte ¹Erwachsenen-Eutha-
nasieª. Liberale Phase
Nach gçltigem Recht bleiben wåhrend der Erst Anfang der 1970er Jahre beginnt in Eu-
NS-Zeit trotz vieler Regelungsentwçrfe so- ropa eine dritte Phase der Diskussion çber
wohl die Tætung auf Verlangen als auch die Sterbehilfe, in welcher nun die Niederlande
¹Vernichtung lebensunwerten Lebensª straf- fçr Europa die Vorreiterrolle einer durch das
bar. Noch in der 12. Auflage eines Kommen- Medizinsystem kontrollierten Tætung auf
tars zum RStGB, der 1943/44 erschien, heiût Verlangen çbernehmen.
es: ¹Ein Recht auf Sterbehilfe (. . .) ist nach
dem geltenden Recht weder dem Arzt noch Der niederlåndische Weg der Legalisierung
sonst einer Person zuzubilligen (. . .) Andere stilisiert die Sterbehilfe als Therapie, bewegt
Arten von Vernichtung lebensunwerten Le- sich also im Medikalisierungs-Paradigma und
bens, z. B. die Tætung unheilbar Blædsinniger, setzt dabei auf ¹Patientenautonomieª. Der
kænnten erst recht nur durch Ønderung der Pråzedenzfall fçr eine lange Phase der Dul-
Gesetzgebung straffrei werden.ª 17 dung von medizinischen Tætungen ist ein
Prozess wegen ¹Tætung auf Verlangenª
Hitler hatte bereits 1929 angeordnet, dass (Art. 293) gegen die Ørztin Gertrude Postma
die ¹Gewåhrung des Gnadentodesª in alleini- im Februar 1973. Sie hatte ihre Mutter getæ-
ger Zuståndigkeit der Kanzlei des Fçhrers als tet, wurde am Ende jedoch lediglich zu einer
¹Geheime Reichssacheª 18 zu bearbeiten sei. ¹symbolischenª Strafe von einer Woche Haft
Dennoch weiû vor allem die Bevælkerung in auf Bewåhrung verurteilt. Das milde Urteil
der Umgebung der Vernichtungszentren bald wird damit begrçndet, die Mutter habe in
relativ genau, was geschieht. Voll ankom- einem irreversiblen Krankheitszustand aus-
mende und leer abfahrende Busse sprechen drçcklich den Tod verlangt und es habe keine
genau wie die rauchenden Schornsteine der therapeutischen Alternativen mehr gegeben.
Verbrennungsæfen eine deutliche Sprache. Der Fall wurde als menschliches Drama in den
Am 3. August 1941 hålt Bischof Clemens Au- Massenmedien ausfçhrlich erærtert und fçhrte
gust Graf von Galen eine Protestpredigt zur Grçndung der niederlåndischen Euthana-
gegen die Euthanasie. Dies und eine regi- sievereinigung NVVE (heute NVVL). Heute
strierte ¹allgemeine Unruheª in der Bevælke- gilt der Postma-Fall als entscheidender Schritt
rung fçhren dazu, dass die Euthanasieaktio- zur Durchsetzung der Euthanasie in der nie-
nen am 24. August 1941 aller Wahrscheinlich- derlåndischen Gesellschaft.
keit nach von Hitler selbst gestoppt
werden. 19 Gleichwohl sind zu diesem Zeit- Nur wenige Wochen spåter wurde ein ¹Eu-
punkt bereits mehr als 100 000 Menschen thanasie-Berichtª des niederlåndischen ¹Ge-
Opfer der Euthanasieaktionen und des sys- sundheitsratesª ± einer von der Regierung be-
stellten Sachverståndigen-Kommission ± ver-
æffentlicht, der ebenfalls die Euthanasie nicht
16 Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat. Die ¹Ver-

nichtung lebensunwerten Lebensª, Frankfurt/M. 1983. 20 Zit. nach: J. E. Lunshof/A. Simon, Die Diskussion
17 Zit. nach: Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten um die Sterbehilfe in Deutschland seit 1945, in: An-
Reich. Anpassung und Unterwerfung in der Øra dreas Frewer/Clemens Eickhoff (Hrsg.), ¹Euthanasieª
Gçrtner, Mçnchen 1988, S. 499. und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen
18 U. Benzenhæfer (Anm. 12), S. 122. Hintergrçnde medizinischer Ethik, Frankfurt/M.
19 Vgl. E. Klee (Anm. 16), S. 339. 2000, S. 237.

APuZ 4/2008 29
mehr grundsåtzlich ablehnt und eine neue bei Tætung auf Verlangen nur noch aus-
Rechtslage fçr Fålle von Patiententætung for- nahmsweise tåtig werden und Ørzte Fålle nur
dert. 21 Ein Arzt, der die Strafrechtsparagra- noch an die dafçr eingerichteten Kommissio-
phen 293 (Tætung auf Verlangen) und 294 nen melden mçssen.
(Beihilfe zum Suizid) verletze, solle das Recht
haben, Rechtfertigungsgrçnde vorzutragen, Am 1. April 2002 tritt in den Niederlanden
die zu einer Aussetzung der Strafverfolgung ein Gesetz unter der Bezeichnung ¹Ûberprç-
fçhren. Der Paradigmenwechsel, der sich in fungsverfahren bei aktiver Sterbehilfe und
der Euthanasiefrage mit dieser neuen Nor- årztlich betreutem Freitodª 22 in Kraft. Vor-
mierung vollzieht, wird durch die Kommissi- aussetzungen fçr die Straffreiheit tædlicher
on ausdrçcklich vermerkt: Bis vor kurzem sei Handlungen sind seitdem: Der Betroffene
Euthanasie in der niederlåndischen medizini- muss unheilbar krank sein, çber seine Situati-
schen Welt zwar fçr unzulåssig gehalten wor- on aufgeklårt worden und zu der Ûberzeu-
den, vor allem aufgrund der absoluten Ach- gung gekommen sein, dass es fçr seine Lage
tung des menschlichen Lebens. Nun aber keinen anderen Ausweg gibt. Des Weiteren
fragten Gesellschaft, Ørzte, Familie und Pa- muss nach Art. 2, Abs. 1 des Euthanasiegeset-
tienten bzw. deren gesetzliche Vertreter nach zes mindestens ein anderer, unabhångiger
der Mæglichkeit der Euthanasie. Der Gesund- Arzt hinzugezogen worden und die ¹Lebens-
heitsrat hålt aber als mægliches Motiv der Ge- beendigung oder die Hilfe bei der Selbsttæ-
sellschaft, nach Euthanasie zu fragen, auch la- tung medizinisch sorgfåltig ausgefçhrt wor-
konisch fest: ¹Knappe Mittel, die besser fçr den sein.ª Noch im Jahr 2002 hat Belgien
Patienten mit græûerer Lebenserwartung an- eine åhnliche Regelung eingefçhrt.
gewandt werden kænnen.ª Als mægliche Mo-
tive des Arztes sieht die Kommission Abwå- Auch in anderen Låndern der westlichen
gungsprobleme, sofern trotz Lebensverlånge- Welt gibt es seit Beginn der 1970er Jahre wie-
rung ein Patient doch bald sterben wird. Und derholt æffentliche Diskussionen zur Frage,
als mægliche Motive der Familie werden ge- ob die Tætung auf Verlangen legalisiert wer-
nannt: Schreckliches Leiden nicht mehr mit den soll oder nicht. Regelmåûig sind medien-
anzusehen, Sinnlosigkeitsgefçhle sowie die wirksame Einzelfålle der Anlass ± so Mitte
Einschåtzung, das Sterben sei keine men- der 1970er Jahre der Fall der US-amerikani-
schenwçrdige Existenz mehr. Die Kommissi- schen Koma-Patientin Karen Ann Quinlan.
on hålt fest: ¹Die Frage nach Euthanasie Eine ¹Right to die-Bewegungª formiert sich
kommt sehr selten vom Patienten selbst.ª international.

Weitere Stationen einer De-facto-Legalisie- Die Schweiz bietet mit einem seit 1942
rung der Tætung auf Verlangen in den Nie- existierten Erlaubnistatbestand zum ¹assi-
derlanden sind das Jahr 1985, in dem das stierten Suizidª durch medizinische Laien
Akademische Krankenhaus in Utrecht als eine besondere Rechtslage, vor deren Hinter-
erste Klinik Sterbehilfe-Richtlinien fçr seine grund sich gemeinnçtzige Vereine bilden
Ørzte erlåsst, und die Jahre 1990/91, in denen (Exit e.V., Dignitas e.V.), die Sterbehilfe inter-
sich die Niederlåndische Ørztevereinigung national anbieten, was auf zunehmende
KMNG und das Justizministerium auf ein Nachfrage stæût. Im Paradigma der Suizid-
freiwilliges Meldeverfahren fçr Sterbehilfe beihilfe wird der Sterbehilfetod als Freitod
und medizinisch assistierten Suizid einigen. stilisiert und aus angeblich uneigennçtzigen
Zwei Jahre spåter wird eine gesetzliche Mel- Grçnden unterstçtzt. Als Suzid betrachtet,
depflicht fçr Tætungshandlungen durch bleibt diese Praxis freilich mit dem unerklårli-
Ørzte eingefçhrt. 1999 legte dann das nieder- chen Paradox behaftet, dass ein Dritter den
låndische Kabinett einen Entwurf fçr ein Eu- ¹eigenenª Willen des Lebensmçden vollstre-
thanasiegesetz vor, nach dem Staatsanwålte cken soll.

Im Deutschland der 1980er Jahre ist es vor


21 Vgl. Gezondheitsraad, Interim-advies inzake eu- allem die ¹Deutsche Gesellschaft fçr Huma-
thanasie. Publicatienr. 15, Den Haag, Staatsuitgeverij
nes Sterbenª mit ihren Vorsitzenden Hans-
1972, S. 12. Der Text wurde u. a. in der nieder-
låndischen Ørztezeitung Medisch Contact, 28 (1973),
veræffentlicht. Nachfolgend zitieren wir in eigener 22 Niederlåndisches Justizministerium, Presse-
Ûbersetzung. mitteilung in deutscher Sprache vom 28. 11. 2000.

30 APuZ 4/2008
Hennig Attrott sowie Julius Hackethal, wel- dizinische Maûnahme am Lebensendeª oder
che die gesellschaftliche Debatte forciert. Am ¹assistierter Suizidª ± eine bestimmte, staat-
15. Mai 1985 findet eine Anhærung vor dem lich kontrollierte und bioethisch flankierte
Rechtsausschuss des Bundestages zum Thema Form der Tætung von fremder Hand ist aus
Sterbehilfe statt. Zu den 15 eingeladenen dem allgemeinen Raum der verbotenen
Sachverståndigen gehærten auch Hackethal Fremdtætung ausgegliedert worden. Mit der
und Atrott, die vergeblich eine Legalisierung Einfçhrung von Patientenverfçgungen wird
der Tætung auf Verlangen fordern. Einen wei- unter anderem durch Krankenkassen fçr eine
teren Vorstoû fçr eine Gesetzesånderung un- Kultur des frçhzeitigen Nachdenkens çber
ternimmt 1986 der Arbeitskreis ¹Alternativ- Vorab-Bestimmungen çber individuell ge-
entwurf eines Gesetzes çber Sterbehilfeª, der wollte Behandlungsbegrenzungen geworben.
unter anderem den Behandlungsabbruch Die Zielgruppen fçr das Tætungsangebot åh-
bei Langzeit-Komapatienten und schwerstge- neln auch heute denen, die schon Jost oder
schådigten Neugeborenen legalisieren will. Haeckel zu Beginn des Diskurses im Blick
Ebenso sollen ¹die Nichtbehinderung einer hatten: Menschen im Sterbeprozess, Men-
Selbsttætungª straffrei gestellt werden sowie schen mit irreversibel zum Tode fçhrenden
die Tætung auf Verlangen bei einem Krankheiten sowie Komapatienten, an denen
¹schwersten, vom Betroffenen nicht mehr zu Behandlungsaufwand erspart werden kann ±
ertragenden Leidenszustandª. Dieser Gesetz- pauschal gesprochen: Alte und Kranke ab
entwurf wird auf dem Deutschen Juristentag dem Punkt einer schlechten Prognose.
1986 diskutiert und mehrheitlich abgelehnt.
Umso wichtiger werden in der Folge weitere Auch in den jçngsten Stellungnahmen des
Gerichtsurteile. Das Oberlandesgericht Mçn- Nationalen Ethikrates zum Thema geht es
chen lehnt es 1987 ab, gegen Hackethal ein um das æffentliche Aushandeln von Bedin-
Verfahren wegen Tætung auf Verlangen ein- gungen, unter denen eine Lebenswertent-
zuleiten, obwohl dieser einer Krebskranken scheidung, die mit einer sozialen Wertent-
den Giftbecher mit Zyankali zum Munde ge- scheidung im Einklang steht, in eigenem
fçhrt hatte. Das Gericht wertet den Fall als Namen getroffen werden soll. 25 Gerade die
eine Beihilfe zum Suizid, die straflos sei. Kleinteiligkeit der aktuellen Debatten zeigt,
dass moderne Gesellschaften wie diejenigen
Das Urteil gibt der deutschen Sterbehilfe- Europas långst Sterbepolitik betreiben, das
Bewegung publizistischen Auftrieb. Hacke- heiût die Rahmenbedingungen des Sterben-
thal wird zum lautstarken Verfechter einer lassens gezielt und aktiv gestalten. Sterbe(hil-
Legalisierung der aktiven Sterbehilfe sowie fe)politik wiederum ist Biopolitik: Lebensra-
årztlicher Beihilfe zum Suizid. Der so ge- tionierungs-, Lebensoptimierungs- und Le-
nannte ¹Kemptener Fallª, die Erlaubnis fçr benskostenverteilungspolitik.
den Abbruch der Sondenernåhrung einer
Frau im Wachkoma, fçhrt dazu, dass der
Bundesgerichtshof Mitte der 1990er Jahre 23
die Rechtsfigur des ¹mutmaûlichen Willensª
eines Patienten zum Kriterium fçr die richter-
liche Feststellung der Einwilligung erhebt. 24

In Deutschland sind somit heute rechtspo-


litische Suchbewegungen unverkennbar, die
auf eine internationale Angleichung der Dog-
matik und des æffentlichen Redens in Sachen
Sterbehilfe zielen. Fçr die europåische Sterbe-
hilfepolitik generell ist festzustellen: Ob ¹me-

25 Vgl. Petra Gehring, Sterbepolitische Umbau-


23 Vgl. BGH-Urteil 1StR 357/94. versuche. Von der Sterbehilfe zum assistierten Suizid,
24 Vgl. Oliver Tolmein, Selbstbestimmungsrecht und
in: dies./Marc Rælli/Maxine Saborowski (Hrsg.), Am-
Einwilligungsfåhigkeit. Der Abbruch der kçnstlichen bivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und
Ernåhrung bei Patienten im vegetative state in rechts- Todestheorien heute, Darmstadt 2007, S. 121 ±137.
vergleichender Sicht: Der Kemptener Fall und die
Verfahren Cruzan und Bland, Frankfurt/M. 2004.

APuZ 4/2008 31
Svenja Flaûpæhler sondern ein gesetzlich verankerter, kaum
mehr wegzudenkender Bestandteil einer Ge-

Die Freitodhilfe ± sellschaft, die dem Recht auf einen selbstbe-


stimmten Tod einen hohen, unverbrçchlichen

ein humaner Akt?


Stellenwert beimisst. So zåhlt die 1982 ge-
grçndete Organisation Exit 50 000 Mitglie-
der, von denen sich jåhrlich etwa 150 in ihren
Freitod begleiten lassen. Die wesentlich jçn-
gere Schwesterorganisation Dignitas erhielt

N och einmal die Frage, ob er sich wirk-


lich sicher sei. Ja. Ob er dann bitte auf
dem Bett nebenan Platz nehmen kænne.
bislang immerhin fast 5 000 Beitrittserklårun-
gen ± viele davon stammen aus dem Ausland.
Anders als Exit begleitet diese 1998 durch
Wortlos geht er in den anderen Raum und Ludwig A. Minelli ins Leben gerufene Orga-
setzt sich auf die Bettkante: Ein alter Mann nisation auch Nichtschweizer in ihren Frei-
mit Hosentrågern, der sich, kaum dass man tod ± ein Angebot, dem Minelli im Spåtsom-
ihm den Becher reicht, das tædliche Medika- mer 2005 Nachdruck verlieh, indem er eine
ment entschlossen in die Kehle kippt. Er hat Dependance im niedersåchsischen Hannover
seinen Willen bekommen: Gleich wird er ein- eræffnete.
schlafen und in einer knappen halben Stunde
werden sein Atem und sein Herz ihren Die Situation in Deutschland
Dienst versagen.
Mit diesem Vorstoû hat der Rechtsanwalt
Paul Zægli ist einer und ehemalige Spiegel-Korrespondent zielsi-
Svenja Flaûpæhler
von Hunderten, die cher den Nerv der Deutschen getroffen ± und
Dr. phil., geb. 1975; freie Auto-
sich jedes Jahr in der das in einem doppelten Sinne. Einerseits
rin, u. a. für den Deutschland-
Schweiz bei ihrem Sui- stammt ein Drittel der Dignitas-Mitglieder
funk, die Wochenzeitung Freitag
zid helfen lassen. 1 aus der Bundesrepublik, was ein eindeutiges
und Psychologie Heute; Arthur-
Håufig sind es tædliche Zeichen fçr die immense Nachfrage ist, die
Koestler-Preis für ¹Mein Wille
Krankheiten, die zu hierzulande nach Suizidbeihilfe herrscht. Auf
geschehe. Sterben in Zeiten der
diesem Entschluss fçh- der anderen Seite sind wir Deutschen durch
Freitodhilfeª, Berlin 2007.
ren. Manchmal aber ist unsere nationalsozialistische Vergangenheit
svenja@flasspoehler.com
auch einfach eine blei- nach wie vor herausgefordert, einer gesell-
www.flasspoehler.com
erne Lebensmçdigkeit schaftlichen Unterstçtzung des Sterbens mit
der Grund dafçr, dass åuûerster Vorsicht zu begegnen. Vor diesem
sich Menschen an eine Freitodhilfeorganisation Hintergrund wird håufig darauf verwiesen,
wie Dignitas oder Exit wenden. Dort wird dass eine solche Unterstçtzung, wenn sie
ihnen, wenn die notwendigen Bedingungen er- missbraucht werde, çber kurz oder lang zu
fçllt sind, von ehrenamtlichen Freitodbegleite- einer Vernichtung ¹unwerten Lebensª fçhre,
rinnen oder Begleitern das Medikament Natri- wie sie von den Nationalsozialisten prakti-
um-Pentobarbital bereitgestellt, ein weiûes, in ziert wurde.
Wasser aufgelæstes Pulver, das einen garantier-
ten, schnellen und schmerzfreien Tod herbei- Die gesamte Debatte krankt nun aber ins-
fçhrt. besondere dann an einer fatalen begrifflichen
Unschårfe, wenn im Eifer des Gefechts die so
In der Schweiz ist eine solche Praxis qua genannte ¹Euthanasieª (griech. ¹schæner
Gesetz erlaubt. So besagt Artikel 115 des Todª) ins Feld gefçhrt und zwischen den ver-
Strafgesetzbuches, dass eine Suizidbeihilfe schiedenen Formen der Sterbehilfe nicht
zulåssig ist, wenn keine selbstsçchtigen Moti- immer sauber differenziert wird. So unter-
ve vorliegen. Die Freitodhilfeorganisationen scheidet sich die Freitodhilfe ganz wesentlich
achten in ihren Statuten darauf, dass ihnen von aktiver Sterbehilfe, wie sie in den Nieder-
ein solches Motiv nicht unterstellt werden landen und Belgien erlaubt ist. Unter aktiver
kann, und mçssen nachweisen, dass die erho- Sterbehilfe versteht man eine Tætung auf Ver-
benen Mitgliedsbeitråge lediglich zur Unkos-
tendeckung verwendet werden. Demzufolge 1 Die Namen der Exit-Mitglieder sowie der des mit
sind sie keine zwielichtigen Einrichtungen, Exit zusammenarbeitenden Arztes (Norbert Mayer;
die sich am Rande der Legalitåt bewegen, s.u.) wurden aus Datenschutzgrçnden geåndert.

32 APuZ 4/2008
langen, das heiût die Tætung eines anderen fen, da er ihr ein schnell wirkendes Mittel zur
Menschen aufgrund seines geåuûerten oder Verfçgung gestellt hatte und deshalb davon
mutmaûlichen Willens. Diese Praxis birgt in- ausgehen durfte, dass sie nicht mehr zu retten
sofern die Gefahr des Missbrauchs, als ein sei. 3
solcher Wille nicht immer zweifelsfrei vor-
liegt. Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland Im Sommer 2006, also ungefåhr zwanzig
durch die Paragraphen 216 ebenso verboten Jahre nach dem spektakulåren Hackethal-Fall
wie in der Schweiz durch den entsprechenden und noch nicht einmal ein Jahr nach Eræff-
Artikel 114. 2 nung der Dignitas-Filiale in Hannover,
sprach sich der Nationale Ethikrat dafçr aus,
Um eine Beihilfe zur Selbsttætung dagegen dass Angehærige, Ørztinnen und Ørzte auch
handelt es sich dann, wenn der oder die Ster- in Deutschland nicht strafrechtlich verfolgt
bewillige selbst die entscheidende, zum Tode werden dçrfen, wenn sie bei Selbsttætungs-
fçhrende Handlung vornimmt und die Beihil- versuchen schwerkranker Menschen, die die-
fe sich auf die Ermæglichung oder Erleichte- sen Versuch ¹aufgrund eines ernsthaft be-
rung dieser Handlung beschrånkt. Fçr eine dachten Entschlussesª unternommen haben,
solche Beihilfe gibt es im deutschen Strafge- eine mægliche Rettung unterlassen. 4
setzbuch keine ausdrçckliche Regelung, und
infolgedessen ist sie grundsåtzlich nicht ver- In der Bevælkerung und den Medien finden
boten. Aufgrund des Paragraphen zur Unter- solche Forderungen breite Unterstçtzung. In
lassenen Hilfeleistung (§ 323c) wåren wir je- Wçrde sterben, so titelte der Stern im No-
doch dazu verpflichtet, dem oder der Sterben- vember 2006 und lieû ¹zwælf schwer kranke
den sofort zu Hilfe zu eilen. Aus diesem Menschen erzåhlen, weshalb sie dafçr ins
Grund ist eine institutionelle Freitodhilfe hier- Ausland fahren mçssenª 5. Bezeichnend ist,
zulande aus gesetzlicher Perspektive streng ge- dass die Aufmachung dieses Stern-Heftes
nommen nicht mæglich. stark an die bahnbrechende Wir haben abge-
trieben-Ausgabe aus dem Jahr 1971 erinnert.
Allerdings gab es einige Fålle, in denen Wåhrend sich damals 374 Frauen, die abge-
deutsche Ørzte Suizidbeihilfe leisteten und trieben hatten, zu der dazu erforderlichen
dennoch nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Reise in die Niederlande bekannten und auf
Der Krebsarzt Julius Hackethal zum Beispiel diese Weise der feministischen Kampagne
war in den achtziger Jahren angeklagt, weil er ¹Mein Bauch gehært mirª den Weg ebneten,
seiner Patientin Hermine Eckert tædliches sind es heute ein Dutzend Schwerkranke, die
Kaliumcyanid besorgt hatte. Die Øuûerung ihr Recht auf einen selbstbestimmten Tod im
ihres Todeswunsches zeichnete Hackethal auf Nachbarland Schweiz einlæsen wollen. Denn,
Video auf; das tædliche Medikament nahm so begrçndet die 82-jåhrige, schwer kranke
Frau Eckert ein, als ihr Arzt sich in einem an- Irmgard Christians ihr Plådoyer fçr die Frei-
deren Raum befand. In seinem Urteil bekun- todhilfe: ¹Mein Tod gehært mir.ª
dete das Mçnchener Oberlandesgericht, dass
Hackethal lediglich straflose Suizidbeihilfe Wenn man diese Parallele weitertreibt,
geleistet und sich keinesfalls, wie von der dann wåre es durchaus denkbar, dass die Frei-
Staatsanwaltschaft behauptet, einer Tætung todhilfe in Deutschland bald genauso legal
auf Verlangen schuldig gemacht habe. Dar- sein wird, wie es die Abtreibung durch die
çber hinaus sei der Arzt nicht verpflichtet ge- gesetzlich verankerte Fristenlæsung seit 1995
wesen, seiner bewusstlosen Patientin zu hel- ist. Oder so legal wie die passive und indi-
rekte Sterbehilfe, die in hiesigen Krankenhåu-
2 Es ist allerdings umstritten, ob die niederlåndische
sern immer wieder angewandt wird.
und belgische Sterbehilfepraxis tatsåchlich, wie unter
anderem von Klaus Dærner und Robert Spaemann be-
hauptet wird, zu einer Reetablierung rassen-
hygienischen Denkens fçhrt. Vgl. dazu Johann S. Ach/
Andreas Graidt, Wehret den Anfången? Zum Argu- 3 Vgl. Oliver Tolmein, Keiner stirbt fçr sich allein.

ment der ¹schiefen Ebeneª, in: Andreas Frewer/Cle- Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbst-
mens Eickhoff (Hrsg.), ¹Euthanasieª und die aktuelle bestimmung, Mçnchen 2006, S. 136 ff.
Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergrçnde 4 Vgl. http://www.ethikrat.org/presse/pm/200603.

medizinischer Ethik, Frankfurt/M. ± New York 2000, html


S. 424 ±447. 5 Stern, Nr. 43 vom 23. November 2006.

APuZ 4/2008 33
Wie objektiv sind die Kriterien fçr eine Die Akte, in der sich dieser Brief befindet,
ist vorne mit einem roten Punkt versehen. Su-
Freitodhilfe? sanna Schænburg, die ihn geschrieben hat, ist
also schon tot und ihre Akte geschlossen.
Die Frage nach den ethischen Pråmissen und Frau Schænburg ist einer der ersten und bis-
Konsequenzen einer Suizidbeihilfe wird vor lang wenigen psychisch kranken Menschen,
dem Hintergrund dieser Entwicklung drån- die durch Exit bei ihrem Suizid unterstçtzt
gend: Darf ein Mensch, der fçr sich entschei- wurden. Aufgrund eines skandaltråchtigen
det, aus dem Leben gehen zu wollen, eine sol- Falles im Jahre 1999 hatte die Organisation
che Hilfe çberhaupt in Anspruch nehmen? entschieden, nur bei eindeutig somatischen
Anders gefragt: Welche moralische Verant- Leiden Suizidbeihilfe anzubieten. Im Herbst
wortung tragen die Freitodbegleiterinnen und 2004 lockerte der Vorstand dieses selbst auf-
-begleiter? Kann ihre Arbeit als ein ¹humaner erlegte Moratorium und beschloss, dass Men-
Aktª bezeichnet werden oder geråt eine Ge- schen, die psychisch litten, in demselben Maû
sellschaft, die eine derartige Praxis toleriert, Anspruch auf eine Beihilfe håtten wie kærper-
auf die schiefe Ebene? Um sich diesen Fragen lich kranke Menschen.
zu nåhern, ist es zunåchst einmal notwendig,
die genauen Kriterien fçr die Gewåhrleistung Helfen lassen kann sich bei Exit jeder
einer Freitodhilfe zu betrachten. 6 Mensch, der an einer ¹unzumutbaren Behin-
derungª leidet und einen ¹dauerhaftenª,
St. Gallen, im Mårz 2005 ¹wohlerwogenenª und ¹autonomenª Sterbe-
wunsch hat. Voraussetzung fçr eine Suizidas-
Sehr geehrter Herr Dr. Mayer, sistenz ist folglich nicht eine unumkehrbar
tædlich verlaufende Krankheit, sondern ledig-
Sie wollen wissen, warum ich sterben will? lich eine Einschrånkung des eigenen Lebens,
Weil ich gar nicht mehr richtig lebe, weil ich die ein urteilsfåhiger Mensch dauerhaft und
nur noch Schmerzen habe im Kopf. Und auf ohne Einflçsse Dritter als unertråglich emp-
Medikamenten werden sie nur noch schlim- findet. Insofern versteht sich Exit auch nicht
mer. Aber nicht nur die Schmerzen. Ich be- primår als eine Sterbehilfeorganisation, son-
ginne immer mehr zu verstehen, dass ich ein dern als eine Freitodhilfeorganisation. Ihre
menschenunwçrdiges Leben fçhre. Und das Hilfe beschrånkt sich nicht darauf, einen oh-
darf doch nicht sein, noch dazu in der reichen nehin schon eingeleiteten Prozess des Ster-
Schweiz! . . . bens zu befærdern, sondern einem Menschen,
Meine Familie wusste ja nichts Richtiges an- der unter Umstånden noch Jahre leben
zufangen mit mir . . . Ich verlieû den elterli- kænnte, bei seinem selbst gewåhlten Tod zu
chen Hof, um eine bessere Arbeit und ein assistieren.
besseres Leben zu finden. Aber auch diese
Hoffnung wurde zerstært . . . Heute weiû ich, Doch was genau ist eine ¹unzumutbare Be-
dass mein Leben nicht normal war und ist. hinderungª? Ist dies in letzter Konsequenz
Und ich habe auch begriffen, dass ich niemals ein subjektives Kriterium? Wenn tatsåchlich
ein normales und menschenunwçrdiges die Meinung des Betroffenen ausschlagge-
Leben haben werde. Also ziehe ich es persæn- bend ist ± wie wåre dann eine Beihilfe zu
lich vor, aus dem Leben zu scheiden. Freiwil- rechtfertigen? Bedçrfte es nicht eines Min-
lig, aber mit Hilfe, da ich mich selbst zu destmaûes an Objektivitåt, um moralische In-
wenig auskenne, um zu wissen, wie viel und tegritåt zu wahren?
was es braucht, um zu sterben oder um mich
abzustellen. Die Exit-Mitarbeiterinnen und -Mitarbei-
ter sind sich dieser prekåren Situation durch-
aus bewusst. ¹Ich wçrde es fçr ethisch nicht
6 Die Organisation Dignitas hat die Recherchear- verantwortbar haltenª, meint etwa Presse-
beiten fçr mein Buch Mein Wille geschehe. Sterben in sprecher Andreas Blum, ¹wenn nicht zuerst
Zeiten der Freitodhilfe (WJS-Verlag), dem die vor- abgeklårt wçrde, ob nicht irgendwo doch ein
liegenden Ûberlegungen entnommen sind, nicht un-
Ausweg aus einer fundamental-existenziellen
terstçtzt. Deshalb kann ich mich auch in diesem Bei-
trag nur auf die Organisation Exit beziehen; die Krise mæglich ist.ª Exit gerate auf diesem
Ûberlegungen sind aber in ihrer ethischen Dimension Wege allerdings, so schrånkt er ein, leicht in
im Wesentlichen auf Dignitas çbertragbar. einen Selbstwiderspruch, denn ¹der zentrale

34 APuZ 4/2008
Begriff fçr uns ist ja das Selbstbestimmungs- Suizidalitåt zuzulassen, ohne direkt mit einer
rechtª. Dieses Recht werde aber offensicht- Einweisung zu drohen ± was interessanter-
lich mit Fçûen getreten, wenn man Kranke weise dazu fçhre, dass Månner wie Frauen
allzu sehr bevormunde und ihre subjektive oft von sich aus von ihrem Wunsch zurçck-
Ausweglosigkeit infrage stelle. ¹Das mçndet tråten. Dennoch gebe es Fålle, in denen der
dann sehr schnell in eine Haltung der Bevor- Todeswunsch trotz zahlreicher Gespråche be-
mundung, in eine Art des gut gemeinten stehen bleibe. So sei es ¹einfach eine Tatsache,
Paternalismus, der in fundamentalem Wider- dass auch Menschen mit psychischen Stærun-
spruch steht zum Autonomieprinzip.ª Einer- gen durchaus als unheilbar bezeichnet werden
seits geht es darum, das Selbstbestimmungs- kænnen.ª Sie mçssten damit leben, in regel-
recht ± und das heiût: die subjektive Einschåt- måûigen Abstånden schwerste Depressionen
zung des eigenen Leidens ± zu respektieren. zu bekommen, was das Leben fçr viele Be-
Auf der anderen Seite jedoch muss geprçft troffene vollkommen entwerte.
werden, ob Alternativen zum Suizid existie-
ren, ob Kranke ihre Lage tatsåchlich realis- Wer aber bestimmt in letzter Konsequenz,
tisch und objektiv einschåtzen. ob ein depressiver Zustand tatsåchlich eine
¹unzumutbare Behinderungª darstellt? Wo
Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit genau wåre die Grenze zu ziehen? Was ge-
sieht die Organisation in einer gewissenhaf- schieht, wenn jemand etwa aufgrund des Da-
ten Ûberprçfung der oben genannten Bedin- hinscheidens eines geliebten Menschen kei-
gungen: Wenn Sterbewillige ihren Wunsch nen Sinn mehr im Leben sieht? Wenn es aber
tatsåchlich ¹dauerhaftª, ¹wohlerwogenª und Suizidwçnsche gibt, die sich einer objektiven
¹autonomª vertreten, dann kænnen sie auch Beurteilung mindestens teilweise entziehen ±
beurteilen, ob ihre ¹Behinderungª tatsåchlich wåre es dann nicht besser, den entscheiden-
¹unzumutbarª ist. Ob diese Bedingungen er- den Akt dem oder der Suizidbereiten selbst
fçllt sind, wird durch ein oder mehrere årzt- zu çberlassen? Warum wendet sich ein
liche Gutachten, die çber den kærperlichen Mensch, der sich prinzipiell selbst tæten
Zustand und die Urteilsfåhigkeit der Betref- kænnte, çberhaupt an eine Organisation wie
fenden Auskunft geben, sowie durch ein obli- Exit? ¹Weil wir ihm die Sicherheit gebenª,
gatorisches ¹Erstgespråchª zwischen dem antwortet Andreas Blum, ¹dass er auf hu-
oder der Sterbewilligen und einem Exit-Mit- mane Weise aus dem Leben gehen kann.
arbeiter oder einer-Mitarbeiterin festgestellt. Wenn Sie an all die zahlreichen gescheiterten
In diesem Gespråch mçssen Antragstellerin- Suizidversuche denken, mit zum Teil irrever-
nen und Antragssteller die Grçnde fçr ihre siblen Schådigungen fçr das so genannte Wei-
Entscheidung und ihre derzeitige Situation terleben, ist das wohl der entscheidende
darlegen. Grund.ª

Auch psychisch kranke Menschen, meint Susanna Schænburg jedoch hat sich bei ge-
Blum, håtten mitunter dauerhafte, wohlerwo- nauerem Hinsehen nicht nur aus rein ,prakti-
gene und autonome Sterbewçnsche. Natçr- schen` Grçnden an Exit gewandt. So schreibt
lich gebe es Todeswçnsche, die ein Symptom, Dr. Mayer in seinem Gutachten, dass ¹die
ein direkter Ausfluss der psychischen Krank- Persænlichkeit der Patientin durch eine groûe
heit seien. Doch das sei långst nicht immer Abhångigkeit dominiertª werde. Frau Schæn-
der Fall, wie wissenschaftliche Untersuchun- burg lebte in dem Glauben, selbst nichts wert
gen gezeigt håtten. Auch Dr. Norbert Mayer, und vollståndig auf andere angewiesen zu
der das psychiatrische Gutachten çber Susan- sein ± selbst in ihrem Todeswunsch. Nach
na Schænburg schrieb und ihr das Rezept fçr einem missglçckten Suizidversuch war sie der
das Natrium-Pentobarbital ausstellte, befçr- Meinung, noch nicht einmal selbståndig ster-
wortet die Begleitung psychisch Kranker. ben zu kænnen und suchte bei Exit professio-
Unsere Gesellschaft, sagt er, rçcke den funk- nelle Hilfe. Durch diese Hilfe versicherte sie
tionierenden Menschen in den Vordergrund sich abermals ihrer gefçhlten Minderwertig-
und akzeptiere landlåufig eher die Aggression keit und Abhångigkeit. In Fållen wie diesem
als die Depression. Der Suizid sei nach wie ist die Organisation folglich nicht einfach nur
vor tabuisiert, was dazu fçhre, dass Menschen ein Instrument in der Hand des oder der Ster-
ihre Todeswçnsche verheimlichten. Er selbst bewilligen, dessen sich jemand bedient, der
versuche dagegen immer, Gespråche çber selbstbestimmt aus dem Leben gehen mæchte,

APuZ 4/2008 35
sondern ihre Inanspruchnahme ist auch ein von jemand anderem zu verlangen, dass er
Symptom des grundsåtzlichen Leidens. sich [an einer Beihilfe] schuldig macht. Er
[der Beihelfer] weiû ja gar nicht, was das fçr
Anderseits: Ist die Vermutung, dass sich ihn und sein Gewissen bedeutet.ª 7 Freitod-
Susanna Schænburgs Bitte vielleicht doch begleiterinnen und -begleiter wçrden durch-
nicht klar und eindeutig von ihrem psychi- aus in die Verantwortung gezogen ± und dies
schen Leiden abgrenzen låsst, schon ein hin- in einem nicht tragfåhigen Maûe. Etwas vællig
reichendes Argument dafçr, die Begleitung anderes sei es, wenn ein Auûenstehender
durch Exit im Nachhinein zu verurteilen? einen Zustand beende, in dem sich ein kran-
Frau Schænburg befand sich mehrmals in ker Mensch natçrlicherweise gar nicht mehr
psychiatrischen Kliniken, bekam Schmerz- befånde. In diesem Fall sei er nicht dabei be-
mittel, Betablocker, Migrånemittel sowie An- hilflich, eine potenziell noch lebenswerte
tidepressiva verschrieben, und sie befand sich Existenz zu beenden, sondern er lasse ledig-
zehn Jahre lang in psychotherapeutischer Be- lich der Natur freien Lauf. Wåhrend Ger-
handlung. All das hatte keinen Erfolg. Ist hardt also die Freitodhilfe mit dem Argument
nicht die Tatsache, dass Susanna Schænburg ablehnt, dass die Verantwortung fçr Helfende
die letzten Minuten ihres Lebens gemeinsam zu groû sei, steht er der passiven Sterbehilfe,
mit Norbert Mayer und einem Freitodbeglei- das heiût dem Abbruch lebensverlångernder
ter verbringen konnte, letztlich akzeptabler Maûnahmen, durchaus positiv gegençber:
als die Vorstellung, dass sie allein einen weite- ¹Das Verlangen nach Hilfe kann . . . erwogen
ren Selbstmordversuch unternommen håtte? werden, wenn es ernsthaft geåuûert wird und
Warum ist ein Tumor als Ursache fçr einen keine zumutbare Alternative mehr offen
Sterbewunsch annehmbarer als ein andauern- steht. Ist diese gedoppelte Bedingung erfçllt,
der, unertråglicher ¹Druck auf der Brustª? Ist und wird sie, drittens, von einem anteilneh-
nur das, was wir auf einem Ræntgenbild menden Individuum nachvollzogen, kann ein
sehen kænnen, eine unzumutbare Behinde- moralisches Verdikt gegen die Hilfe nicht be-
rung? grçndet werden.ª 8

Gerhardt zufolge ist es also legitim und aus


Die moralische Verantwortung der ethischer Perspektive sogar zwingend, dass
Freitodbegleiter ein todkranker Mensch, der den entsprechen-
den Wunsch åuûert, nicht långer kçnstlich
Die Freitodhilfe wåre keine Freitodhilfe, beatmet oder ernåhrt wird. Dieser Behaup-
wenn sie ausschlieûlich auf todkranke Men- tung liegt die Annahme zugrunde, dass das
schen in ihrem Suizidwunsch unterstçtzte. Selbstbestimmungsrecht des oder der Einzel-
Vielmehr fçhlt sie sich gerade fçr jene zustån- nen mehr wiegt als die lebensverlångernden
dig, die, obwohl sie noch Jahre oder Jahr- Mæglichkeiten der Medizin ± und in der Tat
zehnte leben kænnten, darin keinen Sinn ist dieses Recht fçr Gerhardt unverbrçchlich:
mehr sehen. Wie weit aber reicht das Recht ¹Die Selbstbestimmung ist eine Pråmisse un-
auf Selbstbestimmung im Zweifelsfall? So serer ethischen, rechtlichen und politischen
weit, dass Beihelfende sich nicht eines Verge- Ûberzeugungen. Sie ist der Ausdruck der in-
hens schuldig machen, wenn sie den tædlichen dividuellen Freiheit. Sie begrçndet die
Becher trotz objektiv noch bestehender Le- menschliche Wçrde und damit jeden anderen
bensmæglichkeiten reichen? Der Freitodbe- Wert, fçr den wir glauben, vernçnftige Grçn-
gleiter und Ex-Pfarrer Walter Fesenbeckh de nennen zu kænnen. Wer die grundlegende
kann diese Bedenken nicht teilen. ¹Ich spiele Funktion der Selbstbestimmung in Zweifel
ja nicht Gottª, sagt er. ¹Sondern derjenige, zieht, stellt alles in Abrede, was zum Selbst-
der die Tatherrschaft in jeder Sekunde hat, ist
der Sterbewillige selbst.ª
7 Persænliches Gespråch im Rahmen des Features

Fçr den deutschen Philosophen Volker ¹Dein Wille geschehe? Zur gesellschaftlichen Pro-
Gerhardt dagegen, der Mitglied des Nationa- blematik der Sterbehilfeª von Svenja Flaûpæhler und
Jærg Metelmann (Deutschlandfunk, 8. Juli 2005).
len Ethikrates ist, reicht dieses Argument 8 Volker Gerhardt, Letzte Hilfe. Das moralische Pro-
nicht aus, um Freitodhelfende von ihrer mo- blem im Umgang mit dem Todeswunsch eines unheil-
ralischen Verantwortung freizusprechen. ¹Ich bar Kranken. Philosophische Einfçhrung in eine Bera-
fånde es wirklich eine unerhærte Zumutung, tung des Nationalen Ethikrates am 24. Juli 2003.

36 APuZ 4/2008
verståndnis des modernen Menschen ge- Monaten oder Jahren verfasst wurde und
hært.ª 9 erst dann zum Tragen kommt, wenn Betref-
fende ihren Willen aufgrund eines Wachko-
Die Hoheit des Selbstbestimmungsrechts mas oder Øhnlichem nicht mehr åuûern kæn-
geht fçr den Philosophen sogar so weit, dass nen, ist ein zum Freitod entschlossener
der Wille des Menschen ± in einer Patienten- Mensch notwendigerweise bei Bewusstsein
verfçgung niedergelegt ± auch dann zu be- und daher in der Lage, seinen Wunsch un-
rçcksichtigen sei, wenn diese Verfçgung mæg- mittelbar zu artikulieren. Entsprechend fra-
liche Hilfe- oder Rettungsmaûnahmen ver- gen Freitodbegleiterinnen und -begleiter in
hindere. Den mæglichen Einwand, dass ein der Regel noch kurz vor der Einnahme des
Mensch in gesundem Zustand doch gar nicht Natrium-Pentobarbitals, ob der Wunsch,
wissen kænne, was er im Fall einer tædlichen sich selbst zu tæten, tatsåchlich immer noch
Krankheit wolle, weist Gerhardt zurçck: Bestand habe.
¹Die Demokratie geht davon aus, dass die
Menschen selber entscheiden, was sie tun. Doch die Argumentation, dass zwar eine
Und es ist leider so, dass Einzelne in manchen passive Sterbehilfe, nicht aber die Freitodhil-
Fållen auch gegen ihr objektives Wohl ent- fe zulåssig sei, ist noch aus einem anderen
scheiden.ª 10 Grund problematisch ± denn was passiert
dann mit Menschen, die nicht an einer Beat-
Aber geråt der Philosoph durch diese Ar- mungsmaschine hången, aber dennoch keine
gumentation nicht in einen Widerspruch? Lebensperspektive mehr haben? Welchen
Auf der einen Seite behauptet er, dass eine Tod soll beispielsweise jemand sterben, der
Suizidassistenz moralisch nicht zu verantwor- vom Krebs zerfressen wird, aber keinen
ten sei, da Beihelfende eine unzumutbare Ver- Platz in den gerade einmal hundert deut-
antwortung trçgen. Auf der anderen Seite schen Palliativstationen bekommt? Und was
aber mçsse ein Arzt, eine Ørztin auf lebens- soll jemand tun, dessen Schmerzen sich
verlångernde, ja vielleicht sogar heilende durch Palliativmedizin ± die gerade erst in
Maûnahmen verzichten, wenn eine Patienten- Entwicklung ist und dringend Gelder benæ-
verfçgung eine solche Unterlassung vorsehe. tigt, um effektivere Schmerztherapien zu er-
Der Widerspruch besteht darin, dass dem forschen ± nicht oder nur unzureichend lin-
Selbstbestimmungsrecht in beiden Fållen dern lassen?
ganz offensichtlich ein jeweils unterschiedli-
ches Gewicht beigemessen wird. Wåhrend es Darçber hinaus gibt es viele Menschen, die
im Fall einer passiven Sterbehilfe sogar dann bei vollem Bewusstsein aus dem Leben gehen
gilt, wenn objektiv noch Heilungschancen wollen und aus diesem Grund ein ¹Dahin-
vorhanden wåren, scheint es im Fall einer dåmmern im Morphin-Nebelª, wie es mitun-
Suizidbeihilfe çberhaupt keine Rolle zu spie- ter in Sterbehospizen geschieht, konsequent
len. ablehnen. Und: Warum hat jemand, der nach
einem Motorradunfall im Koma liegt und in
Zwar ist es zunåchst einmal tatsåchlich seiner Patientenverfçgung jede lebensverlån-
etwas anderes, ob man jemandem ein tædli- gernde Maûnahme ablehnt, ein græûeres An-
ches Medikament verabreicht oder eine le- recht auf den Tod als ein Mensch, der seit
bensverlångernde Maûnahme aussetzt. Doch zehn, zwanzig oder dreiûig Jahren unter
wird dieser Unterschied nicht durch den schwersten Depressionen leidet? Ist eine psy-
Umstand aufgewogen, dass Kranke im Falle chische Krankheit weniger qualvoll als bei-
eine Suizidbeihilfe ihren Willen bis zum al- spielsweise eine Querschnittslåhmung? ¹Die
lerletzten Augenblick bekråftigen und revi- psychische Krankheit kann um vieles
dieren kænnen? Wåhrend eine Patientenver- schrecklicher sein als ein krankes Organª, so
fçgung unter Umstånden schon vor Wochen, behauptet Volker Gerhardt selbst in einem
Interview. 11
9 Ders., Noch einmal: Selbstbestimmung vor dem

Tod. Impulsreferat vor dem Nationalen Ethikrat am


27. Mai 2004.
10 Gespråchsbeitrag aus dem Feature ¹Dein Wille

geschehe? Zur gesellschaftlichen Problematik der 11 Svenja Flaûpæhler, Man soll gefålligst am Leben

Sterbehilfeª von Svenja Flaûpæhler und Jærg Metel- bleiben, in: Berliner Zeitung vom 20./21. November
mann (Deutschlandfunk, 8. Juli 2005). 2004, S. 33.

APuZ 4/2008 37
Thanatoethik statt Bioethik? Vor diesem Hintergrund erfåhrt die so ge-
nannte ¹Selbstbestimmung am Lebensendeª
Abschlieûende kritische Bemerkungen eine entscheidende Relativierung ± denn wie
selbstbestimmt ist es, wenn ein Mensch sich
Die immer weiter voranschreitenden Human- aufgrund zunehmender gesellschaftlicher
und Lebenswissenschaften, meint der franzæ- Entsolidarisierung, Armut und Einsamkeit
sische Historiker Georges Minois, verurteilen fçr seinen Tod entscheidet? Was kann mit
uns rçcksichtslos zum Leben ± und insofern einem ¹autonomenª Sterbewunsch çberhaupt
sei die Frage durchaus berechtigt, ob ¹wir noch gemeint sein, wenn er innerhalb einer
dem schwierigen Wertewandel, dem wir ge- solchen Gesellschaft geåuûert wird? Freitod-
genwårtig beiwohnen, bei den Debatten, die organisationen wie Exit sehen die gesell-
sich auf die Bioethik polarisieren, nicht auch schaftlichen Einflçsse durchaus ± was sie je-
eine Thanatoethik in Erwågung ziehenª soll- doch nicht daran hindert, nach wie am Ideal
ten. 12 Diese Behauptung, dass wir in unseren der Selbstbestimmung vor festzuhalten: ¹Im
westlichen Gesellschaften insbesondere durch Zentrumª, meint Andreas Blum, ¹steht
den medizinischen Fortschritt am Sterben ge- immer der Wille des betroffenen Menschen.ª
hindert wçrden, låsst jedoch auûer Acht, dass Fçr manche Freitodbegleiter besitzt dieser
die Grçnde fçr den Lebensunwillen vieler Wille ein derartiges Gewicht, dass sie sich
Menschen auch und gerade in diesen Gesell- selbst lediglich als ein ¹Instrumentª in der
schaften wurzeln. Insofern ist es hæchst alar- Hand des Sterbewilligen begreifen, und auch
mierend, wenn sich dieselbe Gesellschaft, die die fçr Exit arbeitenden Gutachter prçfen
fçr Lebensunmut sorgt, gleichzeitig vehement Freitodantråge mitunter bedenklich unkri-
fçr eine umfassendere Legalisierung der Ster- tisch. ¹Das wollen die nichtª, antwortet etwa
behilfe stark macht. So ist in den Niederlanden Dr. Norbert Mayer auf die Frage, warum er
die Frage, ob man auch ¹soziales Leidenª als manchmal auf langwierige Befragungen psy-
angemessenen Grund fçr eine Sterbehilfe ak- chisch Kranker verzichte. Doch ist ein Gut-
zeptieren solle, långst kein Tabu mehr: Die achter nicht gerade dazu da, die Kriterien fçr
niederlåndische Kommission Dijkhuis schlug eine Begleitung sorgfåltig zu prçfen ± auch
2004 vor, eine straffreie Sterbehilfe nicht nur um den Preis, dass sich der oder die Kranke
kærperlich oder psychisch Kranken, sondern womæglich enttåuscht abwendet? Angesichts
auch einsamen, sozial ausgegrenzten Men- dieses Missstandes forderte die Schweizer
schen zu ermæglichen. Nationale Ethikkommission im Jahr 2006,
verbindliche, staatlich kontrollierte Quali-
Eine solche Debatte ist zwar in der Bun- tåtsstandards einzufçhren. Wenn etwa nach
desrepublik vorerst unvorstellbar. Aber auch dem Erstgespråch ausschlieûlich schriftlich
hierzulande sind Einsamkeit und gesellschaft- oder telefonisch kommuniziert werde, sei
liche Isolation weit verbreitet. Darçber hin- dies schlichtweg nicht ausreichend.
aus droht die zunehmende Rationierung der
gesundheitlichen Grundversorgung zu einer
Privatisierung der Gesundheit und zu einer
Auflæsung unseres Solidarsystems zu fçhren
± eine Entwicklung, die auf beunruhigende
Weise begleitet wird durch einen immer lau-
teren Ruf nach Sterbehilfe. Wird also das ma-
rode Sozialsystem in Zukunft durch eine ge-
sellschaftlich legitimierte Sterbehilfe ergånzt,
die einer Entsorgungseinrichtung fçr un-
brauchbar gewordene Mitbçrgerinnen und
Mitbçrger gleichkommt?

12 Georges Minois, Geschichte des Selbstmords, Dçs-

seldorf ± Zçrich 1996, S. 437. Der Begriff Thanatos


kommt aus dem Giechischen und bedeutet ,Tod`. Mit
dieser ,Thanatoethik` ist entsprechend eine auf den Tod
bzw. die Sterblichkeit ausgerichtete Ethik gemeint.

38 APuZ 4/2008
Herausgegeben von
der Bundeszentrale
fçr politische Bildung
Adenauerallee 86
53113 Bonn.

Redaktion
Dr. Katharina Belwe
(verantwortlich fçr diese Ausgabe)
Dr. Hans-Georg Golz
Dr. Ludwig Watzal
Redaktionelle Mitarbeit:
Johannes Piepenbrink (Volontår)
Telefon: (0 18 88) 5 15-0
oder (02 28) 9 95 15-0

Internet
www.bpb.de/apuz
apuz@bpb.de

Druck
Frankfurter Societåts-
Druckerei GmbH,
60268 Frankfurt am Main.

APuZ Vertrieb und Leserservice

* Nachbestellungen der Zeitschrift


Aus Politik und Zeitgeschichte
Nåchste Ausgabe 5 ± 6/2008 ´ 28. Januar 2008
* Abonnementsbestellungen der
Wochenzeitung einschlieûlich
APuZ zum Preis von Euro 19,15
halbjåhrlich, Jahresvorzugspreis

Westliche Wertegemeinschaft? Euro 34,90 einschlieûlich


Mehrwertsteuer; Kçndigung
drei Wochen vor Ablauf
des Berechnungszeitraumes

Vertriebsabteilung der
Stefan Immerfall ´ Hermann Kurthen
Wochenzeitung Das Parlament
Die transatlantische Wertegemeinschaft im 21. Jahrhundert Frankenallee 71 ±81,
60327 Frankfurt am Main.
Gret Haller Telefon (0 69) 75 01-42 53
Freiheit und Sicherheit in Europa und in den USA Telefax (0 69) 75 01-45 02
parlament@fsd.de
Volker Berghahn
Die Amerikanisierung der westdeutschen Industrie Die Veræffentlichungen
in Aus Politik und Zeitgeschichte
stellen keine Meinungsåuûerung
Josef Braml der Herausgeberin dar; sie dienen
Zur Sprengkraft religiæser Werte der Unterrichtung und Urteilsbildung.

Helke Rausch Fçr Unterrichtszwecke dçrfen


Wie europåisch ist die kulturelle Amerikanisierung? Kopien in Klassensatzstårke herge-
stellt werden.
Jessica Gienow-Hecht
Europåischer Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert ISSN 0479-611 X
Tod und Sterben APuZ 4/2008

Thomas Macho
3-4 Sterben heute
Wåhrend Tod und Sterben im Verlauf der Neuzeit aus der Úffentlichkeit ver-
drångt und zu einer rein privaten Angelegenheit wurden, ist spåtestens seit dem
letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine radikale Enttabuisierung festzustellen.

Irmhild Saake
5-6 Gegenwarten des Todes im 21. Jahrhundert
Unsere Rede çber den Tod ist einer konkreten Gegenwart zu verdanken, in der
man gerade nicht stirbt. Willensåuûerungen zum eigenen Sterben sind deshalb zu
relativieren.

Gerd Gæckenjan
7-14 Sterben in unserer Gesellschaft ± Ideale und Wirklichkeiten
Wåhrend es çber den Tod offenbar nicht viel zu sagen gibt, ist gutes Sterben um
so mehr Thema im æffentlichen Raum. Im Sinne der Verbreitung der Palliativver-
sorgung ist gutes Streben inzwischen auch Gegenstand von Gesetzgebung.

Stefan Dreûke
14-20 Sterbebegleitung und Hospizkultur
Das Hospiz repråsentiert die Ideale des guten Sterbens. Friedliches Sterben wird
so organisiert, dass sich die Verschlechterung des kærperlichen Zustands der Ster-
benden und ihr persænlicher und sozialer Rçckzug parallelisieren.

Klaus Dærner
21-25 Leben und Sterben: die neue Bçrgerhilfebewegung
Das bisher bewåhrte Hilfesystem ist durch den wachsenden Bedarf an Hilfe
çberfordert. Die Bçrger haben långst damit begonnen, sich neu zu orientieren;
die Politik sollte darauf aufbauen.

Ludger Fittkau ´ Petra Gehring


25-31 Zur Geschichte der Sterbehilfe
Staatlich institutionalisierte oder gar von Ørzten betreute Patiententætungen sind
ein modernes Phånomen. Private ¹Autonomieª im Sterben und ækonomisch ermit-
telter ¹Lebenswertª sind dabei im Sterbehilfediskurs zwei Seiten einer Medaille.

Svenja Flaûpæhler
32-38 Die Freitodhilfe ± ein humaner Akt?
Es werden die ethischen Pråmissen und Konsequenzen der Suizidbeihilfe in den
Blick genommen. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern das Recht auf den
eigenen Tod mit der moralischen Verantwortung Dritter kollidiert.

Das könnte Ihnen auch gefallen