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APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


47/2008 ´ 17. November 2008

Extremistische Parteien
Richard Stæss
¹Extremistische Parteienª: Worin besteht der Erkenntnisgewinn?

Eckhard Jesse
¹Extremistische Parteienª: Worin besteht der Erkenntnisgewinn?

Cas Mudde
Radikale Parteien in Europa

Armin Nolzen
Die NSDAP vor und nach 1933

Luke March
Die Kommunistische Partei in der Sowjetunion und in Russland

Jçrgen P. Lang
Wandel und Beharrung: SED und PDS

Rachid Ouaissa
Islamistische Parteien

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament


Editorial
Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit.
Die prominente Nennung in Artikel 21 GG legt die Hçrden fçr
Parteiverbote sehr hoch. Zugleich gebietet das Grundgesetz, dass
die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsåtzen
entsprechen muss. Verfassungswidrig sind Parteien, deren Ziele
die freiheitliche demokratische Grundordnung beeintråchtigen
oder gar geeignet sind, diese zu beseitigen. Ûber die Verfassungs-
widrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

In der Politikwissenschaft herrscht keine Einigkeit çber die


analytische Schårfe des Terminus ¹Extremismusª bzw. ¹extre-
mistische Parteienª. Manche Beobachter nehmen Berçhrungs-
punkte (etwa hinsichtlich der Ablehnung demokratischer Ver-
fahren) zum Anlass, Rechts- und Linksextremisten derselben
Parteienfamilie zuzuordnen. Aus der Geschichte des 20. Jahr-
hunderts låsst sich lernen, dass extremistische Parteien umge-
hend die Abschaffung der Demokratie in Angriff nehmen, so-
bald sie an die Macht gelangen. In diesem Sinne am ¹erfolg-
reichstenª waren KPdSU und NSDAP. In den 1950er Jahren
wurden die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei und die
linksextreme KPD verboten. Ein Verbotsantrag fçr die NPD
scheiterte vor wenigen Jahren.

Der parlamentarische Prozess in der Bundesrepublik und


seine Mechanismen der Machtkontrolle sind geeignet, extremis-
tische Parteien zu ¹domestizierenª ± ein Beleg fçr die Integrati-
onskraft und die Zukunftsfåhigkeit des pluralistischen Systems.
Doch Wachsamkeit ist geboten, auch wenn sich Extremisten
håufig genug selbst demontieren, sobald sie in Parlamente einge-
zogen sind. Die Geschichte der bald 60-jåhrigen Republik legt es
indes nahe, extremistischen Parteien mit demokratischem Selbst-
bewusstsein zu begegnen.

Hans-Georg Golz
Richard Stæss Forschung bemçht, die Vielfalt der konkreten
Erscheinungsformen des Abstraktums Partei

¹Extremistische nach Typen zu ordnen: ¹Parteientypologien


sind ± gedanklich vereinfachte ± deskriptive

Parteienª ±
Ordnungsschemata zur Erfassung und Syste-
matisierung der Artenvielfalt von Parteien.ª 1
Sie versuchen ¹die einzelnen Parteien im Ver-

Worin besteht der


gleich miteinander nach bestimmten einheitli-
chen Kriterien zu erfassen (. . .), indem sie je-
weils einen besonderen Aspekt bei der Be-

Erkenntnis- trachtung der Parteien in den Mittelpunkt


stellen und dabei andere, gleichermaûen mæg-
liche Gesichtspunkte mehr oder minder be-

gewinn? wusst vernachlåssigen, um so eine prågnante


Charakterisierung der Parteien zu gewin-

Essay
nenª. 2 Die Konstruktion von Parteitypen er-
folgt also durch die Bestimmung von gemein-
samen Merkmalen, die fçr eine Gruppe von
Parteien besonders charakteristisch sind.

I m Volksmund hat sich die Redewendung


eingebçrgert, dass Øpfel nicht mit Birnen
verglichen werden dçrfen. Diese Behauptung
Bei ¹Megatypenª haben sich zusåtzliche
Binnendifferenzierungen als notwendig er-
wiesen. So eint die Familie der rechtsextre-
ist unsinnig. Es ist ge- mistischen Parteien ihre vælkisch-nationalisti-
Richard Stæss nauso legitim, Øpfel sche Zielsetzung. Da dieses ideologisch-poli-
Dr. phil., geb. 1944; Professor mit Øpfeln zu verglei- tische Spektrum aber immer noch sehr
für Politikwissenschaft am Otto- chen, wie Øpfel mit heterogen ist, wird grundsåtzlich zwischen
Suhr-Institut der Freien Univer- Birnen. Beide haben einer alten und einer neuen Rechten unter-
sität Berlin, Ihnestraûe 21, nåmlich etwas ge- schieden. Piero Ignazi verwendet dafçr die
14195 Berlin. meinsam, das den Ver- Bezeichnungen traditionelle und postindus-
rstoess@zedat.fu-berlin.de gleich ermæglicht: Es trielle extremistische Rechte. 3 Michael Min-
handelt sich um Obst, kenberg stellt der alten Rechten eine neue ra-
genauer gesagt um Kernobst, das wiederum dikale Rechte gegençber, 4 und Herbert Kit-
von Steinobst oder von Beerenobst zu unter- schelt unterscheidet innerhalb der neuen
scheiden ist. Der Vergleich von verschiedenen radikalen Rechten zwischen rechtsautoritåren
Apfelsorten ist genauso berechtigt wie der und populistisch-antietatistischen Parteien. 5
von verschiedenen Obstarten. Entscheidend Cas Mudde trennte diesbezçglich ursprçng-
ist, welche Einsichten angestrebt werden und lich zwischen ethnozentristischen und natio-
welche Erkenntnisse zu erwarten sind. nalistischen Parteien, 6 unterscheidet neuer-

Entsprechend bestehen auch keine Ein-


1 Elmar Wiesendahl, Parteientypologie, in: Dieter
wånde dagegen, die unterschiedlichsten Par-
Nohlen (Hrsg.), Pipers Wærterbuch zur Politik, Bd. 1:
teien ± etwa kommunistische, faschistische
Politikwissenschaft, hrsg. v. Dieter Nohlen/Rainer-
oder islamistische ± miteinander zu verglei- Olaf Schultze, Neuausgabe, Mçnchen 1989, S. 675.
chen, denn auch sie haben eines gemeinsam: 2 Walter Schlangen, Enzyklopådisches Stichwort: Po-

Es handelt sich um Parteien. Fraglich ist aller- litische Parteien ± Geschichte und Theorie, in: ders.
dings, ob es sich beim Extremismus um ein (Hrsg.), Die deutschen Parteien im Ûberblick, Kæ-
systematisch begrçndbares und nçtzliches nigstein 1979, S. 17 f.
3 Vgl. Piero Ignazi, Extreme Right Parties in Western
Ordnungsmerkmal fçr politische Parteien
Europe, Oxford 2003, S. 33 f.
handelt. 4 Vgl. Michael Minkenberg, Die neue radikale Rechte

im Vergleich. USA-Frankreich-Deutschland, Opladen


Megatypen und Subtypen 1998.
5 Vgl. Herbert Kitschelt, The Radical Right in Wes-

tern Europe. A Comparative Analysis, Ann Arbor


Der Begriff ¹extremistische Partei(en)ª ist in 1995, S. 19 ff.
der etablierten Parteienforschung eher unge- 6 Vgl. Cas Mudde, The Ideology of the Extreme

bråuchlich. Selbstverståndlich war und ist die Right, Manchester ± New York 2000, S. 180 ff.

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dings aber zwischen einer konsequent antide- Maurice Duverger unterscheidet grund-
mokratischen extremistischen Rechten und såtzlich zwischen der Rahmenpartei (i.e. Ho-
einer nominell demokratischen, aber populis- noratiorenpartei), der Massenpartei und der
tischen radikalen Rechten. 7 Elitepartei. Unter binnenstrukturellen Ge-
sichtspunkten hebt er vier Typen hervor: die
Ich habe folgende drei Varianten vorge- Komitee-, die Ortsgruppen-, die Zellen- und
schlagen: 1) gemåûigt nationalistisch und die Milizpartei. 12 Fçr Max Beloff sind fol-
fremdenfeindlich, eher systemkonform; 2) gende Typen besonders wichtig: System er-
nationalistisch und neorassistisch, eher sys- haltende demokratische Wettbewerbspartei-
temkritisch; 3) (neo-) faschistisch und (neo-) en, revolutionåre, System veråndernde Partei-
rassistisch, eher systemfeindlich. 8 Diese en, als Parteien getarnte Pressure-Groups
¹Subtypenª dienen ¹der Analyse und Beur- (¹Quasiparteienª) und Pseudoparteien
teilung der wirklichen Parteienª, 9 vor allem (¹Deckmantel fçr eng begrenzte Personen-
auch im Låndervergleich und im Vergleich gruppen und Cliquenª). 13 Bei Bodo Zeuner
der historischen Epochen. Betrachtet man die finden sich folgende Typen: Honoratioren-
kommunistischen Parteien Westeuropas, partei, demokratische Massenpartei, kommu-
dann offenbart sich ebenfalls eine enorme nistische Kaderpartei, faschistische Fçhrer-
Vielfalt von Subtypen, die von orthodoxen partei, moderne Mehrzweckpartei. 14 Sig-
bis zu reformkommunistischen Familienmit- mund Neumann nennt zwei Haupttypen: die
gliedern reicht und die zudem durch einen (liberale) Repråsentationspartei (auch: Per-
teilweise betråchtlichen Struktur- und Funk- sænlichkeits- und Honoratiorenpartei) und
tionswandel gekennzeichnet sind. 10 die Integrationspartei, wobei er diese in zwei
Untertypen aufteilt: die demokratische Inte-
grationspartei und die absolutistische Integra-
Typenbildung tionspartei. 15

Die Bildung von Parteitypen orientiert sich Otto Kirchheimer çbernimmt im Prinzip
vor allem an den Zielen der Parteien, an ihrer die Typologie von Neumann, ergånzt sie aber
sozialen Basis und an ihrer Binnenstruktur. um den Typ der Allerwelts- bzw. Volkspartei:
Hinzu treten oft auch die Stellung zur herr- individuelle Repråsentationspartei (auch: Ho-
schenden Ordnung, die Entwicklung und die noratiorenpartei); demokratische Integrati-
Græûe der Parteien. 11 onspartei auf Massenbasis (auch: demokrati-
sche Massenintegrationspartei), auf Klassen-
7 Vgl. ders., Populist Radical Right Parties in Europe,
basis (auch: Klassenpartei) oder auf
Cambridge 2007, S. 11 ff.
8 Vgl. Richard Stæss, Rechtsextreme Parteien in
konfessioneller Basis (auch: Konfessionspar-
Westeuropa, in: Oskar Niedermayer/Richard Stæss/ tei); prinzipielle Oppositionspartei (auch: to-
Melanie Haas (Hrsg.), Die Parteiensysteme West- talitåre Partei); Allerweltspartei (auch: Volks-
europas, Wiesbaden 2006, S. 527. partei). 16 Richard Katz und Peter Mair fçh-
9 Manfred Håttich, Zur Typologie politischer Partei-
ren die Typologie von Kirchheimer fort,
en, in: Gilbert Ziebura (Hrsg.), Beitråge zur all- indem sie sie um einen weiteren Typ ergån-
gemeinen Parteienlehre. Zur Theorie, Typologie und
zen: die Kartellpartei. 17
Vergleichung politischer Parteien, Darmstadt 1969,
S. 376.
10 Vgl. z. B. Dieter Oberndærfer (Hrsg.), Sozialistische 12 Vgl. Maurice Duverger, Die politischen Parteien

und kommunistische Parteien in Westeuropa. Bd. 1: (1951), hrsg. u. çbers. v. Siegfried Landshut, Tçbingen
Sçdlånder, Opladen 1978; Hans Rçhle/Hans-Joachim 1959.
Veen (Hrsg.), Sozialistische und kommunistische Par- 13 Max Beloff, Typologie der politischen Parteien, in:

teien in Westeuropa. Bd. 2: Nordlånder, Opladen 1979. Auûenpolitik, 10 (1959) 8, S. 485±491.


11 Die Unterscheidung zwischen Kleinparteien, 14 Vgl. Bodo Zeuner, Innerparteiliche Demokratie,

Groûparteien und ¹drittenª Parteien ist in der For- Neuaufl., Berlin 1970, S. 22 ff.
schung gang und gåbe. Die Kleinparteienforschung hat 15 Vgl. Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien.

sich als fester Bestandteil der Parteienforschung eta- Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932,
bliert. Vgl. z. B. Dirk van den Boom, Politik diesseits S. 108 ff.
der Macht? Zu Einfluss, Funktion und Stellung von 16 Vgl. Otto Kirchheimer, Der Wandel des west-

Kleinparteien im politischen System der Bundes- europåischen Parteiensystems, in: Politische Viertel-
republik Deutschland, Opladen 1999; Andreas Schul- jahresschrift, 6 (1965) 1, S. 20±41.
ze, Kleinparteien in Deutschland. Aufstieg und Fall 17 Vgl. Richard Katz/Peter Mair, Changing Models of

nicht-etablierter politischer Vereinigungen, Wiesbaden Party Organization and Party Democracy. The Emer-
2004. gence of the Cartel Party, in: Party Politics, 1 (1995) 1,

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Besonders gebråuchlich ist die Gruppie- unterscheiden und sich kaum mit den ge-
rung von Parteien nach ihrer ideologisch-pro- meinsamen Merkmalen derartiger Parteien
grammatischen Ausrichtung. Klaus von befassen. 23
Beyme nennt folgende Typen: 18 liberale und
radikale Parteien; konservative Parteien; so-
zialistische und sozialdemokratische Parteien;
christdemokratische Parteien; kommunisti-
Parteitypen und Systemtypen
sche Parteien; Bauernparteien; regionale und
ethnische Parteien; rechtsextremistische Par- In der Parteienforschung besteht Einverneh-
teien; ækologische Parteien. 19 Von Beyme 20 men darçber, dass ein Zusammenhang zwi-
und darauf aufbauend Peter Læsche 21 haben schen Parteitypen und Parteiensystemtypen
dieses Muster zu einem Modell der Entste- besteht und dass Parteiensystemtypen mit
hung von Parteien verarbeitet, das weitere Typen politischer Systeme korrespondieren.
Spezifika der Parteifamilien verdeutlicht: Li-
beralismus gegen das alte Regime des Absolu- Die Typologie von Joseph LaPalombara
tismus und Feudalismus; Konservatismus und Myron Weiner umfasst beispielsweise
gegen den politisch sich konstituierenden Li- Nichtparteiensysteme, kompetitive und
beralismus; Arbeiterparteien gegen das Kapi- nicht-kompetitive Systeme. Kompetitive Sys-
tal und das bçrgerliche System; Agrarparteien teme werden nach der Machtverteilung
gegen den Industrialismus; regionale Parteien (hegemonial ± wechselnd) und nach der Ge-
gegen den Zentralismus und konkret gegen sinnung (ideologisch ± pragmatisch) aufge-
die Metropole; christliche Parteien gegen die schlçsselt. Nicht-kompetitive Systeme unter-
zunehmende Verweltlichung und gegen die teilen die Autoren in pluralistische, autoritåre
Trennung von Staat und Kirche; kommunisti- und totalitåre Systeme. 24 Es besteht also ein
sche Parteien gegen den ¹Sozialdemokratis- qualitativer Unterschied, ob kommunistische
musª; faschistische Parteien gegen die politi- oder faschistische Parteien in Wettbewerbs-
sche Demokratie; (rechtsextremistische bzw. systemen oder in Einparteienstaaten agieren.
rechtspopulistische Parteien) gegen das bçro- Bei der NSDAP ist mithin die Phase vor 1933
kratisch-wohlfahrtsstaatliche System (sowie von der nach 1933 zu unterschieden, sie hat
gegen Immigration und Globalisierung); æko- damals einen Typenwechsel (und çbrigens
logische Parteien gegen die Wachstumsgesell- auch einen Strukturwandel) vollzogen. Das-
schaft. 22 selbe gilt fçr die KPdSU und die daraus 1990
entstandene Kommunistische Partei der
Auffållig ist, dass auch die Autoren, die Russlåndischen Fæderation (KPRF) oder fçr
System veråndernde Parteien, absolutistische die SED und ihre Nachfolgeorganisation
Integrationsparteien, prinzipielle Oppositi- PDS. Daher ist es sinnvoll, zwischen Staats-
onsparteien oder auch totalitåre Parteien er- parteien einerseits und prinzipiellen Opposi-
wåhnen, zumeist sogleich zwischen sozialisti- tionsparteien (Kirchheimer) bzw. teilopposi-
schen, kommunistischen und faschistischen tionellen Parteien 25 andererseits zu unter-
scheiden. Nach Manfred Håttich existieren
Staatsparteien in totalitåren Diktaturen, wo
S. 18. Parallel dazu findet der Begriff ¹professio-
nalisierte Wåhlerparteiª Verwendung: Angelo Pane- sie als Staatsorgane oder wenigstens doch als
bianco, Political Parties: Organization and Power, Herrschaftsinstrumente fungieren. 26 Partei-
Cambridge 1988; Klaus von Beyme, Parteien im Wan-
del. Von den Volksparteien zu den professionalisierten 23 Kirchheimer (Anm. 16, S. 26) beschrånkt sich auf

Wåhlerparteien, Wiesbaden 2000. den Hinweis, dass die prinzipiellen Oppositions-


18 Vgl. Klaus von Beyme, Parteien in westlichen De- parteien ¹die Massen an sich binden, um sie gegen die
mokratien, Mçnchen 1984, S. 43 ff. bestehende Ordnung auszuspielenª.
19 Lucardie nennt noch zwei weitere Typen: anarchis- 24 Vgl. Joseph LaPalombara/Myron Weiner, The Ori-

tische und feministische Parteien. Siehe Paul Lucardie, gin and Development of Political Parties, in: dies.
Zur Typologie der politischen Parteien, in: Frank (Hrsg.), Political Parties and Political Development,
Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Princeton 1966, S. 22 ff., S. 33 ff.
Parteien, Wiesbaden 2007, S. 63 ff. 25 Vgl. Richard Stæss, Einleitung: Struktur und Ent-
20 Vgl. K. v. Beyme (Anm. 18), S. 36 f.; ders. wicklung des Parteiensystems der Bundesrepublik ±
(Anm. 17), S. 70 f. Eine Theorie, in: ders. (Hrsg.), Parteien-Handbuch.
21 Vgl. Peter Læsche, Kleine Geschichte der deutschen Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945±
Parteien, Stuttgart u. a. 19942, S. 23. 1980, Opladen 1983, S. 164.
22 Klammerergånzungen durch den Verfasser. 26 Vgl. M. Håttich (Anm. 9), S. 379, S. 386, S. 390.

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analyse ist hier eng mit Herrschaftsanalyse Extremismus als typologisches Merkmal
verzahnt. Daher çberschreibt Juan J. Linz
sein Kapitel çber totalitåre Parteien auch Da bislang eher der typologischen Differen-
mit ¹Die Partei in einem totalitåren Sys- zierung das Wort geredet wurde, soll nun der
temª. 27 Er befasst sich dort ausfçhrlich mit Frage nachgegangen werden, ob sich ein Me-
den strukturellen und funktionalen Gemein- gatyp ¹extremistische Parteienª systematisch
samkeiten von totalitåren Parteien, arbeitet begrçnden låsst und als nçtzlich erweist. Was
aber auch ideologisch-politische und orga- spricht dafçr, extrem rechte, extrem linke und
nisatorische Unterschiede zwischen kommu- religiæs-fundamentalistische Parteien unab-
nistischen und faschistischen Parteien her- hångig von ihrer Græûe und Binnenstruktur,
aus. 28 unabhångig von ihrer Machtposition und
Wettbewerbssituation und unabhångig von
Die moderne, international vergleichende ihrer ideologisch-programmatischen und po-
Parteien(system)forschung beschrånkt sich litisch-strategischen Ausrichtung in einer Fa-
nicht auf kommunistische und faschistische milie zu vereinen?
Organisationen, sondern berçcksichtigt auch
die Parteien in der ¹Dritten Weltª. Jenseits Es ist bemerkenswert, dass sich die Vertre-
der in modernen, ¹westlichenª Demokratien ter des Extremismuskonzepts dieser Frage
vorherrschenden Parteitypen eræffnet sich so nicht stellen. Sie belassen es zumeist mit dem
ein breites Spektrum weiterer Parteitypen in Hinweis, dass die Gemeinsamkeit in der Ab-
nicht liberal-demokratischen Regimen, die lehnung des demokratischen Verfassungs-
keineswegs durchgångig als totalitår zu be- staats besteht. In der kompakten Darstellung
zeichnen sind. Alan Ware listet allein sieben des politischen Extremismus von Steffen Kai-
besonders wichtige Regimetypen in der litz, die sich ausfçhrlich mit politischen Par-
¹non-liberal-democratic worldª auf, die hier teien befasst, wird als gemeinsames Anliegen
aus Platzgrçnden nicht wiedergegeben wer- ¹die Errichtung und Bewahrung einer Dikta-
den kænnen. 29 turª 31 benannt. Unter Bezugnahme auf Juan
J. Linz zeichnet der Verfasser ein Kontinuum
Entscheidend ist, dass (wie bei LaPalomba- von Grundformen politischer Herrschaft,
ra/Weiner oder Linz) zwischen autoritåren das von Demokratien çber autoritåre Dikta-
und totalitåren Regimen mit einer einzigen turen bis hin zu totalitåren Diktaturen
Partei oder mit Mehrparteiensystemen unter- reicht. Das typenbildende Merkmal ist also ±
schieden wird. Nicht-kompetitive Systeme nicht unzulåssig, aber auch nicht sonderlich
lassen sich nach Giovanni Sartori wiederum originell ± Herrschaft. Kailitz bleibt ± wie
nach Einparteienstaaten und nach Regimen die anderen Vertreter des Extremismuskon-
unterteilen, die durch eine hegemoniale Partei zepts ± die Antwort auf die Frage schuldig,
geprågt sind, neben der aber ¹`second class` worin der analytische Nutzen eines Partei-
minor partiesª bestehen, wie beispielsweise in typs besteht, der NSDAP, SED, PDS bzw.
der DDR. Die Alleinherrschaft einer Partei ¹Die Linkeª, NPD etc. in einen Topf wirft,
kænne sich totalitår, autoritår oder pragma- und warum nicht entsprechend der gångigen
tisch (z. B. in Portugal bis 1974) vollziehen. Typologien der Parteienforschung verfahren
Auch hegemoniale Parteien kænnten eher wird, zumal Kailitz selbst die rechtsextremis-
ideologisch (wie beispielsweise die SED) oder tischen und die linksextremistischen Parteien
eher pragmatisch (wie die Partei der Institu- der Bundesrepublik in gesonderten Kapiteln
tionalisierten Revolution/PRI in Mexiko) abhandelt.
ausgerichtet sein. 30
Die Orientierung auf den Typ ¹extremisti-
sche Parteienª kann sogar zu unzulåssigen
Gleichsetzungen fçhren. Nur ein Beispiel:
27 Juan J. Linz, Totalitåre und autoritåre Regime
¹Dem Untergang der DDR folgte nicht der
(1975), hrsg. v. Raimund Kråmer, Berlin 2000, S. 37. Untergang der Staatspartei SED.ª 32 Diese
28 Vgl. ebd., S. 60 ff.
29 Vgl. Alan Ware, Political Parties and Party Systems, Aussage (Kontinuitåtsthese) çbersieht den
Oxford ± New York 1996, S. 126.
30 Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems: A 31 Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der

Framework for Analysis, Bd. 1, Cambridge 1976, Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 16.
S. 273 ff. 32 Ebd., S. 72.

6 APuZ 47/2008
qualitativen Unterschied zwischen Staatspar- Eckhard Jesse
teien in nicht-kompetitiven Systemen und
politischen Parteien in Wettbewerbssyste-
men. Die PDS war zwar juristisch die Nach-
folgeorganisation der SED, parteiensozio-
¹Extremistische
logisch gesehen fand 1989/90 jedoch ein
typologischer (binnenstruktureller und pro-
grammatischer) Wandel von der SED zur
Parteienª ±
PDS statt. Dies gilt unabhångig davon, ob
man die PDS als demokratische oder als anti- Worin besteht der
Erkenntnis-
demokratische Partei einstuft.

Ûberhaupt leistet das Extremismuskonzept

gewinn?
keinen Beitrag zur Klårung der Frage, ob es
sich bei den ¹Republikanernª um eine rechts-
extremistische oder um eine rechtsradikale, 33

Essay
ob es sich bei der PDS/¹Linkenª um eine
linksextremistische oder um eine linksradi-
kale Partei handelt. Wenn Extremismus als
ein besonders charakteristisches Merkmal
einer Gruppe von Parteien angesehen wird,

I
wçrde man sich gerade davon handfeste Kri- n den 1970er Jahren lautete ein beliebtes
terien fçr die Unterscheidung von demokrati- Argument gegen den Totalitarismusbegriff
schen und semi-, un- oder antidemokrati- ± jedenfalls in der Bundesrepublik Deutsch-
schen Parteien erwarten. Tatsåchlich ist das land, nicht in Frank-
typenbildende Merkmal aber so weich, dass reich, wo Alexander
die Tçr fçr subjektive Werturteile weit offen Solschenizyns Ent- Eckhard Jesse
steht. hçllungen einen re- Dr. phil. habil., geb. 1948; Vor-
gelrechten Schock bei sitzender der Deutschen Gesell-
Mæglicherweise besteht gerade darin der Intellektuellen her- schaft für Politikwissenschaft;
eigentliche Gebrauchswert des Extremismus- vorgerufen hatten ±, Professor für ¹politische Sys-
konzepts. Jedenfalls macht es aus der Per- dieser sei ohne (son- teme, politische Institutionenª
spektive der Parteienforschung wenig Sinn, derlichen) Erkennt- am Institut für Politikwissen-
Parteien demselben Typ zuzuordnen, die sich niswert. Nach dem so schaft an der TU Chemnitz, Thü-
in den meisten Merkmalen deutlich vonei- abrupten wie çberra- ringer Weg 9, 09126 Chemnitz.
nander unterscheiden. schenden, nahezu eckhard.jesse@phil.tu-
weltweiten Zusam- chemnitz.de
menbruch des ¹real existierenden Sozialis-
musª erlebte der Begriff jedoch eine unge-
ahnte wissenschaftliche Renaissance. 1 Es sei
verkehrt gewesen, die Analogien zwischen
rechten und linken Diktaturen herunterzu-
spielen. Die Totalitarismuskonzeption erfasse
die Opferperspektive oder die Rolle des ent-
rechteten Individuums besser als jeder andere
Ansatz. Selbst einstige kommunistische Spit-
zenpolitiker wie Michail Gorbatschow, Boris
Jelzin oder Eduard Schewardnadse sprachen
ganz unbefangen vom totalitåren System des
Sowjetkommunismus. Eine Paradoxie: In
dem Moment, in dem der Totalitarismus fast
33 Radikale Parteien sind zwar an den Råndern des
vællig von der politischen Bildflåche ver-
politischen Spektrums angesiedelt, zåhlen aber noch schwand, gewannen Totalitarismusansåtze
zum verfassungskonformen Bereich.
1 Vgl. etwa Abbott Gleason, Totalitarianism. The in-

ner history of the Cold War, New York ± Oxford 1995.

APuZ 47/2008 7
wissenschaftliche Reputation zurçck, bei Extremismus tritt in vielerlei Varianten auf
mannigfachen Modifikationen im Einzelnen. (mit flieûenden Ûbergången): So kænnte man
von einem aktions-, parlaments- und einem
Wenn das Extremismuskonzept nicht in diskursorientierten Extremismus sprechen.
åhnlichem Maûe reçssieren konnte, erscheint Zur ersten Rubrik gehæren etwa ¹Autonomeª
dies inkonsequent. Denn der Extremismusbe- und Skinheads, auch alle terroristischen Be-
griff stellt eine Anwendung des Totalitaris- strebungen. In die zweite fallen die Parteien,
mus- bzw. Autoritarismuskonzepts auf dieje- in die dritte intellektuelle Bestrebungen, die
nigen Kråfte innerhalb des demokratischen mit Begriffen wie ¹Neue Linkeª oder ¹Neue
Verfassungsstaates dar, die diesem offen oder Rechteª hæchst unscharf umschrieben sind.
verdeckt den Kampf angesagt haben. Gelangen Neben harten Formen des Extremismus gibt
sie an die Macht, so spricht vieles fçr den fol- es zunehmend weiche, also solche, die nur
genden Sachverhalt: Sie schrånken die demo- einzelne Elemente des demokratischen Ver-
kratische Ordnung ein oder beseitigen sie gar. fassungsstaates in Frage stellen. Die For-
schung vermag dabei in Grenzfållen abwei-
Dieser Beitrag soll den wissenschaftlichen chende Ergebnisse zu erzielen. Die Existenz
Wert des Extremismusbegriffs fçr die Partei- von Grauzonen liegt in der Natur der Sache
enforschung erhellen. Wer Politikwissen- und kann nicht dem Extremismuskonzept an
sich angelastet werden. Unterschiedliche
schaft (auch) als Demokratiewissenschaft
Stræmungen in einer Partei ± eher extremisti-
versteht, kommt nicht an der Extremismus-
sche wie eher demokratische ± sind ebenso zu
konzeption vorbei, ohne deswegen die Plau-
berçcksichtigen wie Wandlungen.
sibilitåt anderer Ansåtze in Zweifel zu ziehen.
Der Vergleich gegensåtzlicher ± und doch Die Kritik am Terminus des Extremismus
verwandter ± Phånomene ist ein anspruchs- ist weit verbreitet und schillernd. 4 Er sei ein
volles Unterfangen. unwissenschaftlicher, ideologietråchtiger
Kampfbegriff, identifiziere unkritisch ¹Rech-
teª und ¹Linkeª, idealisiere die Mitte. Dabei
Extremismusforschung trifft die Behauptung, beide Flçgel des politi-
schen Spektrums wçrden gleichgesetzt, nicht
Fçr die Extremismusforschung ist der Gegen- zu. Vereinfacht ausgedrçckt: Setzen Rechts-
satz zwischen ¹extremistischª und ¹demo- extremisten die ¹Volksgemeinschaftª oder die
kratischª fundamentaler Natur. Extremismus Nation absolut, so Linksextremisten soziale
stellt die Antithese des demokratischen Ver- Homogenitåt. Vergleiche laufen keineswegs
fassungsstaates dar. Der Extremismusbegriff, auf pauschale Gleichsetzungen hinaus. Es
der eine lange, bis auf Platon und Aristoteles mutet irritierend an, wenn gerade (linke oder
zurçckreichende Tradition aufweist, 2 ist rechte) Kritiker des Extremismusbegriffs das
damit nicht dem Selbstverståndnis der hæchst Schlagwort vom ¹Extremismus der Mitteª
heterogenen und ± mehr oder weniger ± anti- ausufernd gebrauchen. 5 Auf diese Weise wird
demokratischen Kråfte entnommen. Er zielt der Extremismus nicht be-, sondern ent-
auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen grenzt. Extremismusforschung rechtfertigt
den vielfåltigen Formen des Rechts- und des entgegen stereotypen Insinuationen keines-
Linksextremismus, 3 so die Ablehnung oder wegs unkritisch die ¹herrschende Politikª.
die Einschrånkung tragender Elemente des Wer das Extremismuskonzept in Frage
demokratischen Verfassungsstaates wie Plura- stellt, negiert damit die Konzeption der streit-
lismus, die Bejahung eines Freund-Feind-
Denkens, die Akzeptanz eines hohen Maûes 4 In plumper Form: Christoph Kopke/Lars Rens-
an ideologischem Dogmatismus und an ge- mann, Die Extremismus-Formel. Zur politischen Kar-
sellschaftlicher Homogenitåt sowie die Aus- riere einer wissenschaftlichen Ideologie, in: Blåtter fçr
richtung an kruden Verschwærungstheorien. deutsche und internationale Politik, 45 (2002),
S. 1451±1462; siehe dazu Uwe Backes/Eckhard Jesse,
Die ¹Extremismus-Formelª. Zur Fundamentalkritik
2 Vgl. das Grundlagenwerk von Uwe Backes, Politi- an einem historisch-politischen Konzept, in: dies.
sche Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13,
der Antike bis zur Gegenwart, Gættingen 2006. Baden-Baden 2001, S. 13±29.
3 Auch der Fundamentalismus, dem eine Einheit von 5 Vgl. etwa Wolf-Dieter Narr, Vom Extremismus der

Religion und Staat eigen ist, stellt eine Form des Ex- Mitte, in: Politische Vierteljahresschrift, 34 (1993),
tremismus dar. S. 106 ±113.

8 APuZ 47/2008
baren Demokratie, wie sie in der Bundesre- dung der Wåhler an ¹ihreª Partei innere De-
publik als Reaktion auf die leidvolle Vergan- mokratie zulieûen, wiesen die absolutistischen
genheit gilt. Extremismus beginnt nicht erst Parteien ± sie hatten bei beiden Reichstagswah-
bei der Bejahung oder gar Anwendung von len 1932 eine ¹negative Mehrheitª ± eine straffe
Gewalt. Und: Der demokratische Verfas- und hierarchische Organisationsform auf.
sungsstaat ist vielfåltig gefåhrdet. Jeder Scharfsinnig hatte Neumann beobachtet: ¹Fçr
Rechtsextremist ist ein Antidemokrat, aber die absolutistische Integrationspartei ist jede
nicht jeder Antidemokrat ein Rechtsextre- ernstgemeinte und nicht nur taktische Partei-
mist, jeder Stalinist ein Linksextremist, doch en-Koalition unsinnig, sie kennt hæchstens ein
nicht jeder Linksextremist ein Stalinist. Parteien-Bçndnis, sofern es eine Stårkung der
eigenen Machtposition bedeutet. Im Grunde
Extremistische Parteien sind somit solche, kann sie keinen Kompromiss schlieûen, kann
die den demokratischen Verfassungsstaat in sie keine gleichberechtigte Mitregierung neben
Zweifel ziehen. Damit verwirft der Verfasser sich dulden, oder sie muss an innerer Kraft ver-
Typologien, die antidemokratische Positio- lieren.ª 7 Gewiss, heutzutage haben die meisten
nen nur einer politischen Richtung zuschrei- extremistischen Parteien einen teils taktisch,
ben. Ansonsten wçrde der zentrale Unter- teils prinzipiell bedingten Wandel erfahren.
schied zwischen demokratischen und nicht- Die relative Måûigung bedeutet aber nicht, sie
demokratischen Parteien hæchst eigenwillig zu ignorieren.
interpretiert ± vorsichtig formuliert. Fçr den
Schutz des demokratischen Verfassungsstaa- So kænnten Parteien, denen eine (teil-)ex-
tes ist die Frage von entscheidender Relevanz, tremistische Position nachgesagt wird, auf
ob die Parteien ihn bejahen oder ob sie es ihre Organisation, Ideologie und Strategie
nicht tun ± aus welcher Richtung auch hin analysiert werden, um die drei wesentli-
immer. Dieser Frage kann und darf die For- chen Untersuchungsfelder fçr Parteien zu
schung nicht ausweichen. nennen. Das Ergebnis: Eine Partei wie ¹Die
Linkeª, die nach Meinung des Verfassers eine
Parteienforschung weiche Spielart des Extremismus verkærpert,
steht dem demokratischen Verfassungsstaat
Parteien lassen sich vielfåltig typologisieren. deutlich nåher als die NPD mit ihrer harten
Der Blick soll an dieser Stelle ausschlieûlich Variante des Extremismus ± ungeachtet åhnli-
auf Demokratien gerichtet sein. Die Parteien- cher Feindbilder (Kapitalismus, Globalisie-
forschung unterscheidet u. a. nach dem Orga- rung, USA). Manche Aussage låsst aufhor-
nisationsgrad (¹Wåhlerpartei versus Mitglie- chen: Lothar Bisky, neben Oskar Lafontaine
derparteiª), nach der Stårke der Partei Vorsitzender der Partei ¹Die Linkeª, traf im
(¹Groûpartei versus Kleinparteiª) und nach Juni 2007 ± auf der 3. Tagung des 10. Partei-
dem politischen Einzugsbereich (¹Volkspartei tages der ¹Linkspartei.PDSª, einen Tag vor
versus Interessenparteiª). Eine andere Mæg- der Vereinigung mit der WASG ± in einer
lichkeit liegt darin, die Frage nach der Stel- Grundsatzrede die folgende Aussage: ¹Ja, wir
lung zum demokratischen Verfassungsstaat diskutieren auch und immer noch die Verån-
aufzuwerfen (¹demokratische Partei versus derung der Eigentums- und Herrschaftsver-
extremistische Parteiª). Diese Typologisie- håltnisse, und auch das unterscheidet eine
rung åhnelt der Giovanni Sartoris (¹System- neue Partei links von der Sozialdemokratie in
parteienª versus ¹Antisystemparteienª). 6 Deutschland von anderen. Kurz gesagt: Wir
stellen die Systemfrage! Fçr alle von den ge-
Sigmund Neumann unterschied 1932, am heimen Diensten noch einmal zum Mitschrei-
Vorabend der ¹Machtergreifungª der Natio- ben: Die, die aus der PDS kommen, aus der
nalsozialisten, in seinem Klassiker neben libe- Ex-SED und auch die neue Partei DIE
ralen Repråsentationsparteien zwischen ¹de- LINKE ± wir stellen die Systemfrage.ª 8 Sol-
mokratischen Integrationsparteienª (SPD, che Øuûerungen, die Oskar Lafontaine und
Zentrum) und ¹absolutistischen Integrations-
parteienª (NSDAP, KPD). Wåhrend die demo- 7 Sigmund Neumann, Die Parteien der Weimarer Re-
kratischen Integrationsparteien bei aller Bin- publik (1932), Stuttgart u. a. 19865, S. 108.
8 Lothar Bisky, Wir sind gekommen, um zu bleiben,
6 Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems. A in: www.lothar-bisky.de/katartikel_detail.php?v=147
Framework for Analysis, New York 19932, S. 132 f. (22. 10. 2008).

APuZ 47/2008 9
Gregor Gysi åhnlich verlauten lieûen, sind musª Bezug nehmen, mit rassistisch-ethno-
bei der NPD hårter formuliert. Die Verglei- zentrischen Elementen ebenso wie nationalis-
che zeigen somit nicht nur Divergenzen, son- tische Parteien, die an rechte Autokratien an-
dern auch Konvergenzen. knçpfen, mit sozialistisch-anitkapitalistischen
Elementen. Diese Durchmischung trågt mei-
Weitere Analysefelder wåren Fragen nach stens zur Abschwåchung des extremistischen
der Gefahr fçr die demokratische Verfas- Charakters bei.
sungsordnung (nicht nur auf die Græûenord-
nung bezogen, sondern auch auf den Einfluss Parteiensysteme kænnen nach bestimmten
der Eliten und auf die ¹Mehrheitskulturª), Eigenschaften untersucht werden: mit Blick
nach den Erfolgsbedingungen (mit Blick auf auf die Fragmentierung, die Asymmetrie, die
die Angebots- und die Nachfrageseite, wobei Volatilitåt, die Polarisierung und die Legiti-
das Abschneiden umso schwåcher ausfallen mitåt bei der elektoralen Dimension, mit
dçrfte, je mehr sich die Parteien an diskredi- Blick auf die Segmentierung und die Regie-
tierten historischen Vorbildern orientieren), rungsstabilitåt bei der gouvernementalen Di-
nach dem extremistischen Intensitåtsgrad mension. 11 Zumindest bei den Dimensionen
(dessen Abschwåchung hångt stark mit popu- ¹Polarisierungª, ¹Legitimitåtª und ¹Segmen-
listischen Elementen der extremistischen tierungª verspricht die Kategorie der extre-
Parteien zusammen) und auch nach der mistischen Parteien einen betråchtlichen Er-
Wechselbeziehung: Der Antifaschismus kenntnisgewinn. Die Polarisierung misst die
linksextremistischer Parteien hat auf die eige- ideologische Distanz zwischen den Parteien,
ne Anhångerschaft weitaus mobilisierender z. B. durch die Abstånde zwischen dem lin-
gewirkt als der Antikommunismus rechtsex- ken und dem rechten Pol. Auch bei der Legi-
tremistischer Parteien. Eine gegenseitige Auf- timitåt kommen die extremistischen Parteien
schaukelung der beiden Lager ist in der Regel ins Spiel: Je mehr Stimmen die Wåhler diesen
ausgeblieben. Allerdings gibt es Zusammen- geben, umso stårker gebricht es dem Partei-
hånge: So wurzeln die Gewinne des rechtsex- ensystem an Legitimation. Der Legitimitåts-
tremistischen Front National in Frankreich entzug bedingt oft eine sinkende Wahlbeteili-
offenkundig u. a. in den Verlusten der Kom- gung. Insgesamt ist die Stårke der extremisti-
munisten (u. a. aufgrund des Autoritarismus schen Parteien ein wesentliches Indiz fçr den
in Teilen der Arbeiterschaft); 9 die Schwåche Konsolidierungsstand des jeweiligen demo-
des parteipolitischen Rechtsextremismus in kratischen politischen Systems. 12 Schlieûlich
Deutschland dçrfte zumindest teilweise mit ist mit Segmentierung der Anteil der politisch
der Integrationskraft der Partei ¹Die Linkeª nicht mæglichen Koalitionen gemeint. Dabei
zusammenhången. muss keineswegs jede Form einer ¹unmægli-
Die Ûberwindung der Separierungstenden- chenª Koalition auf extremistischen Grund-
zen færdert neue Ergebnisse zutage, wie etwa zçgen eines Partners basieren. Die mangelnde
die Studie Tom Thiemes zum parteipoliti- Koalitionsfåhigkeit von Union und Grçnen
schen Extremismus in Osteuropa erhellt. 10 auf Bundesebene hat andere Grçnde als die
Hier vermengen sich herkæmmliche Rechts- strikte Ablehnung der SPD, sich auf ein
Links-Unterscheidungen bei den extremisti- Bçndnis mit der PDS bzw. der Partei ¹Die
schen Parteien. So gibt es internationalistische Linkeª einzulassen. Allerdings geråt die SPD
Parteien, die positiv auf den ¹Realsozialis- in Argumentationsnot, wenn sie in den Bun-
deslåndern zum Teil anders handelt.
9 Vgl. die klassische Abhandlung von Seymour M.

Lipset, Democracy and Working-Class Autho- 11 Vgl. Oskar Niedermayer, Parteiensystem, in: Eck-

ritarianism, in: American Sociological Review, 24 hard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Demokratien des 21.
(1959), S. 482± 501; s. dazu: Daniel Scheuregger/Tim Jahrhunderts im Vergleich, Opladen 2003, S. 261 ±288;
Spier, Working-Class Authoritarianism und die Wahl ders., Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteien-
rechtspopulistischer Parteien. Eine empirische Unter- systems, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Hand-
suchung fçr fçnf westeuropåische Staaten, in: Kælner buch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 114±
Zeitschrift fçr Soziologie und Sozialpsychologie, 59 135.
(2007), S. 59 ±80. 12 Vgl. Juan J. Linz/Alfred Stepan, Problems of De-
10 Vgl. Tom Thieme, Hammer, Sichel, Hakenkreuz. mocratic Transition and Consolidation. Southern Eu-
Parteipolitischer Extremismus in Osteuropa: Entste- rope, South America, and Post-Communist Europe,
hungsbedingungen und Erscheinungsformen, Baden- Baltimore-London 1996, S. 6; Wolfgang Merkel, Sys-
Baden 2007. temtransformation, Opladen 1999, S. 143 ±169.

10 APuZ 47/2008
Schlussfolgerungen schen Parteien in toto, ebenso zwischen extre-
mistischen und demokratischen. Fçr den par-
Die Frage nach der Existenz extremistischer teipolitischen Linksextremismus in seinen
Parteien vermittelt aufschlussreiche Erkennt- verschiedenen Schattierungen ist das Interesse
nisse çber die Gefåhrdungen des demokrati- nicht sonderlich groû. Und erst recht wird der
schen Verfassungsstaates, çber die Erfolgsbe- çbergreifende Vergleich vernachlåssigt, nahe-
dingungen, den extremistischen Intensitåts- zu tabuisiert ± nicht aus wissenschaftlichen,
grad, die mæglichen Wechselwirkungen sowie sondern vornehmlich aus politischen Erwå-
çber die Parteisystemeigenschaften ¹Polarisie- gungen. Dabei sind solche Vergleiche çberaus
rungª, ¹Legitimitåtª und ¹Segmentierungª. reizvoll, selbst durch ihre Unterschiede.
Parteien, deren Positionen zumindest in einem
Spannungsverhåltnis zu demokratischen Prin- So wird die Partei ¹Die Linkeª nicht mçde,
zipien stehen, sollten nicht als Rand- oder Flç- Antifaschismus zu propagieren. Darauf ge-
gelparteien firmieren; diese Etikettierungen radezu fixiert, will sie eine ¹antifaschistische
sind formaler Natur und lassen keine Rçck- Klauselª im Grundgesetz und in den Verfas-
schlçsse auf die Haltung zum demokratischen sungen der Bundeslånder verankern. Dabei
Verfassungsstaat zu. 13 Analoges gilt fçr die agiert sie mit ihrem antifaschistischen Impetus
Wahrnehmung durch die ¹Mehrheitskulturª. nicht nur gegen tatsåchlichen Rechtsextremis-
Ob diese eine Partei als extremistisch apostro- mus, sondern agitiert auch gegen ¹neoliberaleª
phiert, sagt nur bedingt etwas çber die tatsåch- Stræmungen. 16 Der Politikstil der NPD hinge-
liche politische Position aus. gen ist nicht durch Antikommunismus ge-
kennzeichnet, sondern duch ¹Ûbernahme
Der verbreitete Eindruck, ein normativer linksextremistischer Agitation und Rheto-
Ansatz stçnde einem empirisch-analytischen rikª. 17 Mit ihrem aggressiven Antikapitalis-
Ansatz gegençber, ist so nicht triftig. Gero mus und Antiimperialismus çbertreffen die
Neugebauer und Richard Stæss warnen in Claqueure der NPD die ¹Linkeª bei weitem,
ihrer instruktiven Studie çber die PDS davor, zielen sie doch vor allem auf die Wåhlerschaft
den Begriff der Partei ¹mit einem normativen im Osten. Die Partei greift linksextreme Slo-
Demokratiegebot (zu) çberfrachtenª. 14 Bei gans (¹Feinde des Volkesª) und spezifische
der Analyse des parteipolitischen Rechtsex- linke Symbole (wie ¹Palåstinensertçcherª)
tremismus dagegen bekennt sich Stæss durch- provokativ auf. In dem einen Fall ist das Ver-
aus zu einem normativen Gebot, nåmlich håltnis von striktester Abgrenzung geprågt, in
dem des Antifaschismus ± ¹als politische dem anderen von taktischer Annåherung.
Norm und als pådagogisches Zielª. 15 Tat-
såchlich ± und das ist der Kern der Kontro- Forschung ist nur dann Forschung, wenn sie
verse ± liegt der einen Auffassung ein antiex- ergebnisoffen bleibt. Eine extremismus-
tremistischer Ansatz zugrunde, der anderen theoretische Vergleichsuntersuchung von Par-
ein antifaschistischer. Dies ist eine wesentli- teien kann also durchaus zum Resultat fehlen-
che Ursache fçr die Vielzahl der vergleichen- der Schnittmengen fçhren. Gleichwohl: Wir er-
den Studien zu rechtsextremistischen Parteien fahren durch Vergleiche mehr çber politische
und zu rechtsextremistischem Einstellungspo- Parteien, die den ideologischen Antipoden
tential (auch und gerade mit Blick auf das Ge- zwar bekåmpfen, ihm jedoch strukturell in
fåhrdungspotential von Demokratien). Derar- mancher Hinsicht åhneln. Die Stårke extre-
tige Vergleiche sind ebenso legitim wie Ver- mistischer demokratischer Parteien signalisiert
gleiche zwischen linksextremistischen Integrationsdefizite der etablierten Parteien.
Parteien und Vergleiche zwischen extremisti- Insofern ist der parteipolitische Extremismus
eine Herausforderung fçr den demokratischen
13 Missverståndlich ist die Bezeichnung ¹extreme Verfassungsstaat. Er kann damit wider Willen
Rechteª, wenn damit keine rechtsextremistische Posi- zu seiner Revitalisierung beitragen.
tion verbunden ist. Vgl. Kai Arzheimer, Die Wåhler der
extremen Rechten 1980±2002,Wiesbaden 2008, S. 38 f. 16 Vg. Tim Peters, Der Antifaschismus der PDS aus
14 Gero Neugebauer/Richard Stæss, Die PDS. Ge-
antikapitalistischer Sicht, Wiesbaden 2006.
schichte, Organisation, Wåhler, Konkurrenten, Op- 17 So Rudolf von Hçllen, Das Rechtsextreme Bçndnis:
laden 1996, S. 13. Aktionsformen und Inhalte, Sankt Augustin ± Bonn
15 So Richard Stæss, Die extreme Rechte in der Bun-
2008, S. 37.
desrepublik Deutschland. Entwicklung ± Ursachen ±
Gegenmaûnahmen, Opladen 1989, S. 244.

APuZ 47/2008 11
Cas Mudde sche Grundordnungª komplett beseitigen,
wohingegen Radikalismus ¹nurª verfassungs-

Radikale Parteien feindlich ist, wenngleich auch er nach einseiti-


gen, ¹an die Wurzeln gehenden Læsungenª

in Europa
sucht, aber die Verfassungsordnung nicht in
toto zu beseitigen trachtet.

Trotz ihrer intuitiv hohen Aussagekraft


sind diese Definitionen nicht unproblema-

E inen Ûberblick çber radikale Parteien in


Europa zu geben, ist aus verschiedenen
Grçnden problematisch. 1 Zum einen steht
tisch, insbesondere in der vergleichenden For-
schung. Zunåchst einmal sind sie eng auf die
¹freiheitlich-demokratische Grundordnungª
die Forschung vor terminologischen Schwie- Deutschlands bezogen, weshalb sie sich nur
rigkeiten: Was ist unter ¹politischem Radika- schwer auûerhalb dieses konstitutionellen
lismusª zu verstehen? Und in welcher Bezie- Rahmens anwenden lassen. Des Weiteren ist
hung steht er zu ¹politischem Extremismusª die Unterscheidung zwischen Extremismus
einerseits und zur ¹(liberalen) Demokratieª und Radikalismus alles andere als eindeutig
andererseits? Erschwerend wirkt zum ande- und verursacht enorme Abgrenzungsschwie-
ren der Mangel an umfassenden und ver- rigkeiten in der empirischen Forschung. Wann
gleichbaren empirischen Daten: Wåhrend wird eine ¹verfassungsfeindlicheª Partei zu
rechtsradikale Partei- einer ¹verfassungswidrigenª? Zudem grenzt
en ± zumindest in ei- diese Definition Demokratie implizit auf Li-
Cas Mudde nigen europåischen beraldemokratie ein, welche zwar recht ver-
M.A., Ph.D., geb. 1967; Asso- Låndern wie Frank- breitet, jedoch nur eine bestimmte Form von
ciate Professor in Political reich und Deutsch- Demokratie ist. Die liberale oder konstitutio-
Science, Department Politieke land ± wissenschaft- nelle Demokratie ist eine spezifische Demo-
Wetenschappen, Stadscampus, lich relativ gut erfasst kratieform und, wie sich argumentieren lieûe,
S.M. 281, Sint Jacobstraat 2, sind, gilt dies långst nicht unbedingt die demokratischste. 4
2000 Antwerpen/Belgien. nicht in demselben
cas.mudde@ua.ac.be Maû fçr linksradikale Ohne die Beantwortung dieser Fragen an-
Parteien. 2 zustreben, werde ich einen alternativen An-
satz vorstellen, der uns hoffentlich der Beant-
Daher kann dieser Artikel nicht mehr leis- wortung ein Stçck nåher bringt. Wie Uwe
ten, als einen knappen Ûberblick çber den Backes und andere definiere ich Extremismus
Zustand und die Wahlerfolge radikaler Partei- als Antithese zur Demokratie, d. h. als Antide-
en in Europa zu liefern. Zusåtzlich zu einem mokratie. Demokratie wird hier als minimal
eigenståndigen Ansatz bietet er eine kurze oder prozedural verstanden. In der bekannten
Darstellung und eine grobe Bestandsaufnah- Definition des æsterreichischen Úkonomen
me der Stårken und Schwåchen radikaler Par-
teien in Europa zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts. Es soll auf Kernideologien, Wahlergeb- Ûbersetzung aus dem Englischen: Jaiken Struck, South
nisse sowie die politische Bedeutung rechts- Petherton, England/UK.
1 Dieser Artikel ist die çberarbeitete, gekçrzte und
und linksradikaler Parteien insgesamt einge- aktualisierte Fassung von Cas Mudde, Politischer Ex-
gangen werden, notwendigerweise unter Ver- tremismus und Radikalismus in Westeuropa ± Typo-
nachlåssigung parteispezifischer oder natio- logie und Bestandsaufnahme, in: Uwe Backes/Eckhard
naler Besonderheiten. Jesse (Hrsg.), Gefåhrdungen der Freiheit: Ex-
tremistische Ideologien im Vergleich, Gættingen 2006,
S. 87 ±104.
Extremismus und Radikalismus 2 Vgl. auch Sarah De Lange/Cas Mudde, Political Ex-

tremism in Europe, in: European Political Science,


Seit 1973 unterscheidet das Bundesamt fçr (2005) 4, S. 476±488.
3 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in de-
Verfassungsschutz in der Bundesrepublik
zwischen Extremismus und Radikalismus, mokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer nor-
mativen Rahmentheorie, Opladen 1989.
und das spiegelt sich auch in der wissen- 4 Eine demokratische Kritik an der liberalen Demo-
schaftlichen Tradition der Extremismustheo- kratie findet sich bei Margaret Canovan, Trust the
rie wider. 3 Extremismus ist verfassungswid- People! Populism and the Two Faces of Democracy, in:
rig, will er doch die ¹freiheitlich-demokrati- Political Studies, (1999) 1, S. 2± 16.

12 APuZ 47/2008
Joseph Schumpeter ist Demokratie ¹an insti- nur ¹extremeª Varianten von Radikalen; viel-
tutional arrangement for arriving at political mehr besteht ein qualitativer Unterschied,
decisions which realizes the common good by nåmlich die Akzeptanz der Volkssouverånitåt
making the people itself decide issues through als Richtlinie der Politik.
the election of individuals who are to assemble
in order to carry out its willª. 5 Kurz gesagt: Links gegen Rechts
Extremismus weist den Glauben an die Volks-
souverånitåt zurçck, die gewæhnlich durch ein Die am weitesten verbreitete ideologische
Wahlsystem nach dem Prinzip ¹eine Person, Unterscheidung in der Politikwissenschaft im
eine Stimmeª gekennzeichnet ist. Allgemeinen und in der Extremismusfor-
schung im Besonderen besteht zwischen
Anders als in der Schule der Extremismus- Links und Rechts. Die bekannteste Erklårung
theorie wird im vorliegenden Aufsatz Radi- fçhrt diese Unterscheidung auf das erste Par-
kalismus als Gegensatz zu liberaler (oder lament nach der Franzæsischen Revolution
konstitutioneller) Demokratie definiert. Von Ende des 18. Jahrhunderts zurçck, wo die
besonderer Bedeutung ist bei meiner Definiti- Anti-Revolutionåre (die Repråsentanten des
on, dass Radikalismus die demokratischen ancien rgime) auf der rechten und die Revo-
Verfahrensregeln akzeptiert, Extremismus lutionåre auf der linken Seite saûen. Teils auf-
hingegen nicht. Dies darf jedoch nicht dar- grund dieses (angeblichen) Erbes wird die po-
çber hinwegtåuschen, dass Radikalismus so- litische Rechte oft als konservativ oder sogar
wohl die liberale Grundlage der Verfahrens- reaktionår betrachtet, wåhrend die Linke per
demokratie ± insbesondere den positiven se als progressiv angesehen wird. 7 Diese Un-
Wert des Pluralismus ± als auch die rechts- terscheidung ist in der vergleichenden For-
staatlichen Grenzen der Volkssouverånitåt schung indes so fragwçrdig wie problema-
anficht. Der Kern des Radikalismus ist Mo- tisch. Die Bedeutung dieser Begriffe hångt
nismus, d. h. die Tendenz, gesellschaftliche vom politischen System ab, auf das sie ange-
Spaltung und Getrenntheit als rechtswidrig wendet werden.
zu betrachten.
Vom beginnenden 19. Jahrhundert bis weit
Ein gutes Beispiel fçr eine radikale Ideolo- ins 20. Jahrhundert hinein basierte die Unter-
gie ist der Populismus, definiert als (dçnne) scheidung zwischen der politischen Rechten
Ideologie, welche die Gesellschaft letztlich in und der Linken auf religiæsen Kriterien. In
zwei homogene und antagonistische Gruppen der Nachkriegszeit wurde die Unterschei-
teilt: ¹das reine Volkª und ¹die korrupte dung zwischen Rechts und Links im Kern an-
Eliteª. Laut dieser Ideologie sollte Politik ein hand eines sozioækonomischen Konzepts
Ausdruck des allgemeinen Volkswillens (vo- vorgenommen, d. h. hinsichtlich der Rolle des
lont gnrale) sein. 6 Bemerkenswert ist die Staates in Bezug auf die Wirtschaft. In den
aktuelle Kritik vieler Populisten an der libera- vergangenen Jahrzehnten wurden etliche
len Demokratie, die aus ihrer Sicht nicht de- neue Vorschlåge fçr die Links-Rechts-Skala
mokratisch genug ist. gemacht, die von multikulturell im Vergleich
zu nationalistisch und libertår gegençber au-
Zusammenfassend låsst sich sagen, dass Ex- toritår reichen. Obgleich diese neuen Eintei-
tremismus und Radikalismus einige Merk- lungen çber immanente Erklårungskraft ver-
male gemeinsam haben, sich jedoch gleichzei- fçgen, tragen sie nicht unbedingt zu begriffli-
tig grundlegend und eindeutig unterscheiden. cher Klarheit bei.
Sowohl Extremismus als auch Radikalismus
sind antiliberal (oder monistisch) und anti- Trotz dieser terminologischen Unklarheit
konstitutionell. In erster Linie ist Extremis- werden die Begriffe ¹linksª und ¹rechtsª hier
mus fundamental antidemokratisch, wåhrend
dieses Merkmal auf Radikalismus nicht zu- 7 Zum Begriff der ¹Rechtenª siehe Roger Eatwell/

trifft. Folglich sind Extremisten nicht einfach Noel O'Sullivan (Hrsg.), The Nature of the Right:
European and American Political Thought since 1789,
London 1989; vgl. auch Piero Ignazi, Extreme Right
5 Joseph A. Schumpeter, Capitalism, Socialism and Parties in Western Europe, Oxford 2003, Kapitel 1. Zur
Democracy, New York 1947, S. 250. ¹Linkenª siehe Joseph M. Schwartz, Left, in: Joel
6 Vgl. Cas Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Go- Krieger (Hrsg.), The Oxford Companion to Politics of
vernment & Opposition, (2004) 3, S. 543. the World, Oxford 1993, S. 531 f.

APuZ 47/2008 13
verwendet, um zwischen den beiden Haupt- Tabelle 1: Wahlergebnisse der wichtigsten linksradi-
typen des politischen Radikalismus in Europa kalen Parteien in Europa (in Prozent)
zu unterscheiden. In Anlehnung an Norberto Land Partei hæchster letzter
Bobbio liegt dieser Hauptunterschied in der Wert Wert
Betrachtungsweise von gesellschaftlicher Deutschland Die Linke (vormals PDS 8.7 8.7
(Un-)Gleichheit: Die Linke hålt die entschei- bzw. WASG)
denden Ungleichheiten zwischen Menschen Frankreich Parti Communiste Franœais 9.3 4.3
fçr kçnstlich und negativ und fordert, diese (PCF)
durch einen aktiven Staat zu çberwinden; die Griechen- KommounistikÕ KÕmma 13.1 8.2
Rechte dagegen betrachtet die ausschlagge- land Ell—das (KKE)
benden Differenzen zwischen Menschen als Italien Rifondazione Comunista 8.6 5.8
natçrlich und positiv und verlangt vom Staat (RC)
ihre Verteidigung. 8 Moldawien Partidul ComunisÎtilor din 49.9 46.0
Republica Moldova
(PCRM)
Obwohl ¹jede Charakterisierung bezçglich
Russland Kommunisticheskaya Par- 24.3 11.6
,links` und ,rechts` immer eine rçcksichtslose tiya Rossiskoy Federatsii
Verallgemeinerung darstelltª, 9 unabhångig (KPRF)
von der Genauigkeit und Eindeutigkeit der Slowakei Smer 29.1 29.1
Definition, trågt die Unterscheidung dieser Tschechische Komunistick— Strana C Ï ech 18.5 12.8
beiden verbreiteten ± wenngleich unvollkom- Republik a Moravy (KSC Ï M)
menen ± Typen meiner Meinung nach dazu Ukraine Komunistychna Partiya 24.7 5.4
bei, die Argumentation und Struktur dieses Ukrayiny (KPU)
Aufsatzes zu verdeutlichen. Des Weiteren Zypern AnorthotikÕ KÕmma Erga- 34.7 32.3
hålt sich diese Konzeptualisierung eng an die zÕmenou LaoÙ (AKEL)
gångige Interpretationsweise der beiden Be- Quelle: eigene Zusammenstellung; die Angaben beziehen sich auf
griffe sowohl innerhalb als auch auûerhalb nationale Parlamentswahlen ab 1989.
der Forschung.

Der Niedergang der real existierenden sozia-


Linksradikale Parteien in Europa listischen Regime in den Jahren 1989/91
fçhrte zu einer (weiteren) tiefen Krise der
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die einzige kommunistischen Parteien Europas. 10 Sie
bedeutsame ideologische Herausforderung antworteten darauf auf vier verschiedene
der Demokratie in Westeuropa vom revolu- Arten: 1) mit dem Verzicht auf das Etikett
tionåren Sozialismus aus, d. h. vom Kommu- ¹kommunistischª und der vollståndigen Ent-
nismus. Es existierten und existieren noch wicklung zum demokratischen Sozialismus;
heute viele Varianten des Kommunismus ± 2) durch die Transformation zu sozialdemo-
darunter der Trotzkismus und der (chinesi- kratischen Parteien (wie die Democratici di
sche und albanische) Maoismus ±, und alle Sinistra/DS, Linksdemokraten in Italien oder
haben einen marxistisch-leninistischen Kern, die Magyar Szocialista P—rt/MSzP, Ungari-
nach dem die Hauptunterschiede der Men- sche Sozialistische Partei); 3) durch Beendi-
schen im Klassenkampf begrçndet liegen. Die gung ihrer unabhångigen Existenz und die
sozialistische Utopie, die durch Revolution Neugrçndung als Teil anderer Parteien (wie
sowie eine durch die ¹Diktatur des Proletari- die Communistische Partij Nederland/CPN,
atsª gekennzeichnete Ûbergangsphase ver- Kommunistische Partei der Niederlande, die
wirklicht werden soll, ist eine egalitåre (glo- in der GroenLinks, Grçne Linke, aufging);
bale) Gesellschaft, in der soziale Klassen und 4) durch ungebrochene Loyalitåt zum
nicht mehr von Bedeutung sind. Kommunismus. 11

8 Hierbei handelt es sich eher um eine persænliche In- 10 Eine detailliertere Beschreibung linksradikaler Par-

terpretation als um ein wortgetreues Zitat aus Bobbios teien der Nachkriegszeit mit Schwerpunkt auf der Zeit
Argumentation. Siehe z. B. Norberto Bobbio, Rechts nach 1989 findet sich in Luke March/Cas Mudde,
und Links. Zum Sinn einer politischen Unter- What's Left of the Radical Left? The European Radical
scheidung, in: Blåtter fçr deutsche und internationale Left since 1989: Decline and Mutation, in: Compara-
Politik, (1994) 5, S. 543±549. tive European Politics, (2005) 3, S. 23±49.
9 Paul Spicker, A Third Way, in: The European Legacy, 11 Siehe auch Patrick Moreau/Stphane Courtois/

(2000) 5, S. 230. Gerhard Hirscher, Einleitung, in: Patrick Moreau et al.

14 APuZ 47/2008
Trotz des Makels, der dem Begriff anhaftet, gierungsarbeit Pragmatismus bewiesen und
entschieden sich einige Parteien fçr die Beibe- kann allenfalls als radikal, jedoch keineswegs
haltung der Bezeichnung ¹kommunistischª. als extremistisch eingestuft werden.
Nur wenige der heutigen kommunistischen
Parteien kænnen als in der besonderen Gunst Innerhalb der EU-Mitgliedstaaten waren
der Wåhler stehend oder gar als politisch be- (und sind) nur drei linksradikale Parteien in
deutsam bezeichnet werden (siehe Tabelle 1). der Lage, einen bedeutenden Anteil der Wåh-
Die meisten spielen in ihren Låndern kaum lerstimmen fçr sich zu gewinnen und politi-
eine Rolle. Doch die wenigen, die der Roten schen Einfluss auszuçben. Da ist zunåchst die
Fahne treu geblieben sind, konnten bislang AnorthotikÕ KÕmma ErgazÕmenou LaoÙ
der politischen Marginalisierung entgehen. (Fortschrittspartei des werktåtigen Volkes,
Als bedeutendste offen kommunistische Par- AKEL) in Zypern, die bei den letzten Wahlen
teien in Westeuropa sind die KommounistikÕ çber 30 Prozent der Stimmen fçr sich gewin-
KÕmma Ell—das (Kommunistische Partei nen konnte und bereits zwei Mal den Pråsi-
Griechenlands, KKE), die Parti Communiste denten gestellt hat. Allerdings gehen Wahler-
Franœais (Kommunistische Partei Frankreichs, folg und politische Bedeutung Hand in Hand
PCF) und die Rifondazione Comunista (Partei mit ideologischer Måûigung, unabhångig von
der Kommunistischen Wiedergrçndung, RC, anderslautenden Behauptungen der Partei
in Italien) zu nennen, die mit jeweils fçnf bis selbst. Bei der zweiten Partei, die sich ohne
sechs Prozent der Wåhlerstimmen in den Par- massive Stimmeinbuûen von einer linksextre-
lamenten vertreten sind. Nichtsdestoweniger men zu einer linksradikalen gewandelt hat,
sind die revolutionåren Ûberzeugungen dieser handelt es sich um die tschechische Komunis-
Parteien nur schwach ausgeprågt. Ihr Be- tick— Strana C Ï ech a Moravy (Kommunisti-
kenntnis zum Kommunismus dient meist als sche Partei Bæhmens und Måhrens, KSC Ï M),
kosmetisches und rhetorisches Mittel. Ihr Ver- die trotz schwindenden Erfolgs an den Wahl-
halten gleicht insofern dem sozialdemokrati- urnen noch immer die drittgræûte Partei der
scher Parteien, als sie die parlamentarische Tschechischen Republik ist. Die verstårkte
Demokratie akzeptieren; dabei streben sie je- Polarisierung der beiden wichtigsten politi-
doch (zumindest in der Theorie) die Schaffung schen Blæcke in Tschechien, Reformen (so-
eines sozialistischen Regimes an. wohl in Bezug auf ideologische Fragen als
auch auf politische Persænlichkeiten) inner-
In Osteuropa ist die Lage anders. Wåhrend halb der KSC Ï M sowie die zunehmende Of-
die meisten kommunistischen Nachfolgepar- fenheit der Sozialdemokraten haben indes die
teien auch hier ihre Vergangenheit hinter sich Chancen der Partei, aus ihrem politischen
gelassen haben und die uneinsichtigen græû- Ghetto auszubrechen, deutlich erhæht.
tenteils in Vergessenheit geraten sind, ist es ei-
nigen offen kommunistischen Parteien den- Das dritte und letzte Beispiel bildet die
noch gelungen, einen erheblichen Teil der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)
Wåhlerschaft zu halten. 12 Diese finden sich in Deutschland, seit 2006 unter dem Namen
çberwiegend in den Nachfolgestaaten der So- ¹Die Linkeª. In den 1990er Jahren schien es
wjetunion, besonders in Russland und der so, als wçrde die PDS zum Prototyp eines
Ukraine, wobei es diesen Parteien allerdings neuen linksradikalen Phånomens, einer links-
nicht gelungen ist, den Rçckhalt der Wåhler populistischen Partei, die (sanften) Sozialis-
in politische Macht umzusetzen. Nicht so in mus mit Populismus kombiniert. 13 Da diese
Moldawien: Hier ist die Partidul ComunisÎti- Parteien nicht långer den Anspruch geltend
lor din Republica Moldova (Kommunistische machten, die Verteidiger des Proletariats zu
Partei der Republik Moldawien, PCRM) sein, waren sie zur Stimme des Volkes gewor-
stårkste Kraft im Land und stellt seit 2001 al- den. Statt purer sozialistischer Ideologie
lein die Regierung. Doch trotz ihres Namens wurde populistische Kritik zur Waffe von
und ihrer Symbole hat die Partei in ihrer Re- Parteien wie der niederlåndischen Socialisti-

(Hrsg.), Der Kommunismus in Westeuropa. Nieder- 13 Ausfçhrlicher beschrieben in Luke March, From

gang oder Mutation?, Landsberg 1998, S. 15 ±21. Vanguard of the Proletariat to Vox Populi: Left-Popu-
12 Siehe z. B. Andr—s BozÕki/John T. Ishiyama lism as a ¹Shadowª of Contemporary Socialism, in:
(Hrsg.), The Communist Successor Parties of Central SAIS Review, (2007) 1, S. 63± 77; siehe auch L. March/
and Eastern Europe, Armonk, NY 2002. C. Mudde (Anm. 10).

APuZ 47/2008 15
sche Partij (Sozialistische Partei, SP) und der sind nur in einzelnen Regionen der jeweiligen
PDS, was Wahlparolen der 1990er wie Stem Lånder nennenswert. Zudem sind diese Par-
tegen! (Stimme dagegen!) oder Wahltag ist teien zwar eindeutig antiegalitår, ihr antide-
Protesttag! verdeutlichen. mokratischer Charakter åuûert sich jedoch
zumeist nur implizit (oder kann sogar grund-
Trotz wachsenden Unmuts gegençber der såtzlich angezweifelt werden).
gemåûigten Linken und dem fast vollståndi-
gen Verschwinden der Linksextremen wird Wåhrend die extreme Rechte in den ersten
linkspopulistische Politik in Zukunft keinen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die stårkste
starken Einfluss auf das europåische Parteien- Bedrohung fçr die westeuropåische Demo-
system ausçben. Die niederlåndische SP hat kratie darstellte, geht die græûte Herausforde-
sich des Groûteils ihres Populismus entledigt, rung fçr liberale Demokratien in Europa
um koalitionsfåhig zu werden, wohingegen heute vor allem von der radikalen Rechten
die Scottish Socialist Party (Schottische Sozia- aus. Die Literatur unterscheidet innerhalb
listische Partei) nach mehreren Skandalen um dieser groben Kategorien wiederum verschie-
Parteivorsitzende implodiert ist. Dies steht in dene Untergruppen und -typen, die allerdings
scharfem Kontrast zur Situation in Latein- nicht immer auf eindeutigen Definitionen ba-
amerika, wo Linkspopulismus in Låndern sieren. Im Folgenden soll nåher auf die bei-
wie Bolivien oder Venezuela die Parteipolitik den zu Anfang des 21. Jahrhunderts am wei-
dominiert. 14 testen verbreiteten Untertypen eingegangen
werden: neoliberalen Populismus und radika-
Zur Zeit ist ¹Die Linkeª, die transformierte len Rechtspopulismus. 15
PDS, eine der wenigen noch verbliebenen
und erfolgreichen linkspopulistischen Partei- Die neoliberalen Populisten waren die
en; ihr wachsender Erfolg wird zweifellos an- erste ernstzunehmende rechtsradikale Her-
dere inspirieren. Eine andere, ziemlich eigen- ausforderung fçr das Westeuropa der Nach-
willige linkspopulistische Partei ist die slowa- kriegszeit. Ihre Kampfansage begann mit der
kische Smer (Richtung), die Hauptkraft in dånischen Fremskridtspartiet (Fortschritts-
der derzeitigen slowakischen Regierung des partei, FP), die bei den ¹Erdrutschwahlenª
Premiers und Smer-Vorsitzenden Robert 1973 die erschreckende Anzahl von 28 Sitzen
Fico. Die Tatsache, dass Smer Mitglied der im dånischen Parlament, dem Folketing, er-
Party of European Socialists (Partei Europåi- hielt. Obwohl ihr Erfolg nicht lange wåhrte,
scher Sozialisten, PES) ist und nicht etwa folgte ihr bald ihre norwegische Namens-
(wie Die Linke) der Confederal Group of the schwester, die Fremskrittspartiet (FrP), die
European United Left/Nordic Green Left sich als beståndiger erwiesen hat. Die Grund-
(Vereinte Europåische Linke/Nordische lage ihrer Ideologie war eine Kombination
Grçne Linke, GUE/NGL), belegt sowohl die aus Neoliberalismus, d. h. einem grundlegen-
unterschiedlichen Entstehungshintergrçnde den Glauben an den kapitalistischen (Welt-)
der Parteien als auch das Fehlen einer Selbst- Markt, und Populismus, dem Kampf ¹des
definition und internationaler Zusammenar- einfachen Volkesª gegen ¹die korrupte Eliteª.
beit linkspopulistischer Parteien.
Doch erst in den 1990er Jahren wurden
neoliberale Populisten zu wirklich einfluss-
Rechtsradikale Parteien in Europa reichen Akteuren in der europåischen Politik.
Die beiden bekanntesten Repråsentanten die-
Im heutigen Europa gibt es keine rechtsextre-
ser Spielart des Rechtsradikalismus sind die
men Parteien, die Erfolge bei Wahlen verbu-
Forza Italia (Aufschwung Italien, FI) und die
chen kænnen. Die beiden wichtigsten rechts-
Lijst Pim Fortuyn (Liste Pim Fortuyn,
extremen Parteien sind die Nationaldemokra-
LPF). 16 Obgleich Silvio Berlusconi und Pim
tische Partei Deutschlands (NPD) und die
italienische Movimento Sociale-Fiamma Tri-
colore (Sozialbewegung-Dreifarbige Flamme, 15 Vgl. vor allem Cas Mudde, Populist Radical Right
MS-FT). Aber auch deren Wahlergebnisse Parties in Europe, Cambridge 2007; Hans-Georg Betz,
Radical Right-Wing Populism in Western Europe, Ba-
14 Siehe z. B. Mitchell A. Seligson, The Rise of Popu- singstoke 1994.
lism and the Left in Latin America, in: Journal of De- 16 Dieser Kategorie wåre evtl. auch die sog. Schill-

mocracy, (2007) 3, S. 81±95. Partei zuzurechnen. Siehe z. B. Frank Decker, Parteien

16 APuZ 47/2008
Tabelle 2: Wahlergebnisse der wichtigsten radikal- Die andere wichtige Untergruppe des
rechtspopulistischen Parteien in Europa (in Pro- Rechtsradikalismus im heutigen Europa bil-
zent) den radikale Rechtspopulisten. Diese Ideolo-
Land Partei hæchster letzter gie ist eine Kombination aus Nativismus
Wert Wert (eine Mischung aus Nationalismus und Frem-
Belgien Vlaams Belang (VB) 12.5 12.5 denfeindlichkeit), Autoritarismus (im Sinne
Bulgarien Natsionalen SaÏyuz Ataka 8.9 8.9 Adornos) und Populismus. 18 Ihre wichtigs-
(NSA) ten Vertreter auf der politischen Bçhne sind
Dånemark Danks Folkeparti (DFP) 13.8 13.8 Parteien, die in der Literatur çblicherweise
Frankreich Front National (FN) 14.9 4.3 als rechtsextrem bezeichnet werden. 19 Da sie
Italien Lega Nord (LN) 10.1 8.3 die Verfahrensdemokratie jedoch zweifellos
Kroatien Hrvatska stranka prava 6.8 3.5 akzeptiert haben, werden diese Parteien im
(HSP) vorliegenden Aufsatz als Teil der Rechtsradi-
Ústerreich Freiheitliche Partei Úster- 26.9 17.5 kalen eingestuft.
reichs (FPÚ)
Polen Liga Polskich Rodzin 8.0 1.3 Obwohl radikale, rechtspopulistische Par-
(LPR) teien nur in wenigen europåischen Staaten
Rumånien Partidul Rom˜nia Mare 19.5 13.0 nennenswerte Wahlerfolge verbuchen kænnen
(PRM)
(siehe Tabelle 2), erleben sie derzeit ihre ein-
Russland Liberalno-demokratiches- 22.9 8.8
flussreichste Phase seit dem Ende des Zwei-
kaya partiya Rossii (LDPR)
ten Weltkriegs. In einigen Låndern (Úster-
Schweiz Schweizerische Volkspartei 29.0 29.0
(SVP) reich, Kroatien, Italien, Polen, Rumånien,
Serbien Srpska radikalna stranka 28.6 28.6 Serbien, Slowakei und Schweiz) haben es ra-
(SRS) dikal-rechtspopulistische Parteien bis in die
Slowakei Slovensk— n—rodn— strana 11.6 11.6 nationalen Regierungen geschafft, unterstçt-
(SNS) zen eine Minderheitsregierung (Dånemark)
Quelle: eigene Zusammenstellung; die Angaben beziehen sich auf oder gehæren zu den Hauptoppositionspar-
nationale Parlamentswahlen ab 1989. teien (Belgien, Bulgarien, Frankreich). Aller-
dings liegt das hæchste Wahlergebnis von sie-
Fortuyn zeitweise fremdenfeindliche (insbe- ben der 13 bedeutendsten, in Tabelle 2 aufge-
sondere islamfeindliche) Øuûerungen von fçhrten Parteien eine (ganze) Weile zurçck;
sich gaben, ist die Kernideologie ihrer Partei- drei Parteien haben in jçngster Zeit gånzlich
en nicht nationalistisch, sondern neoliberalis- an Bedeutung verloren (FN, HSP, LPR).
tisch. Zusåtzlich gerierten sie sich selbst wåh-
rend ihrer Regierungszeit åuûerst populis- Doch selbst in Låndern wie Groûbritan-
tisch und wandten sich vor allem gegen ¹die nien oder Lettland, in denen die Wahlergeb-
roten Robenª (Berlusconi) oder ¹die linke nisse eher niedrig ausfallen, wird ihre Wir-
Kircheª (Fortuyn). Bisher ist Rechtspopulis- kung auf die politische Tagesordnung als
mus vor allem ein westeuropåisches Phåno- (çberproportional) hoch bewertet. Im gesam-
men, wobei sich einzelne Vertreter auch im ten Europa haben es Wahlkampfthemen der
Osten des Kontinents finden. 17 radikalen Rechtspopulisten (Kriminalitåt,
Korruption und Immigration/Integration)
ganz nach oben auf die politische Agenda ge-
unter Druck. Der neue Rechtspopulismus in den schafft. Und offenbar haben sich einige Par-
westlichen Demokratien, Opladen 2000. teien der politischen Mitte so weit in Rich-
17 Die spårliche Literatur zum Populismus in Ost-
tung der radikalen Rechtspopulisten bewegt,
europa bezieht sich auf rechte Parteien wie die bulga-
dass sich ihre Wahlkampagnen nur noch mit
rische Nacionalno dvizÏenie Simeon II (Nationalbe-
wegung Simeon II) des ehemaligen Kænigs oder die Mçhe von denen ihrer Herausforderer unter-
slowakische Aliancia Novho ObcÏana (Allianz des scheiden lassen ± Beispiele dafçr sind die nie-
Neuen Bçrgers, ANO), die als Beispiele fçr ¹sanftenª derlåndische Volkspartij voor Vrijheid en De-
oder ¹gemåûigtenª Populismus dienen. Siehe Peter
UcÏenÏ, Parties, Populism, and Anti-Establishment Po-
litics in East Central Europe, SAIS Review, (2008) 1, 18 Vgl. C. Mudde (Anm. 15).
S. 49 ±62; Grigorij MesezÏnikov/Ol'ga Gy—rf—Éov—/Da- 19 Eine knappe Auswahl aus der wachsenden Literatur
niel Smilov (Hrsg.), Populist Politics and Liberal De- zu diesem Thema berçcksichtigt Paul Hainsworth, The
mocracy in Central and Eastern Europe, Bratislava Extreme Right in Western Europe, London 2008;
2008. P. Ignazi (Anm. 7).

APuZ 47/2008 17
mocratie (Volkspartei fçr Freiheit und Demo- Rechts (d. h. der Verteidigung von Gleichbe-
kratie, VVD), die bayerische Christlich So- rechtigung bzw. von Ungleichheit) anderer-
ziale Union (CSU) oder die ungarische Fi- seits unterschieden. In diesem zwangslåufig
desz-Magyar Polg—ri Szævetsg (Fidesz-Un- knappen und oberflåchlichen Ûberblick wur-
garischer Bçrgerbund). den die derzeit wichtigsten links- und rechts-
radikalen Parteien in Europa vorgestellt und
Andererseits lassen sich unmittelbare Aus- erlåutert.
wirkungen der Rechtsradikalen auf das Vor-
gehen anderer Parteien nicht einfach isolie- Abschlieûend mæchte ich einige allgemeine
ren. 20 Was direkte Einflussnahme betrifft, so Betrachtungen anfçgen. Obgleich im 21. Jahr-
haben regierungsbildende rechtsradikale Par- hundert nahezu jeder von sich behauptet, ein
teien die Gesetzgebung hauptsåchlich im Be- Demokrat zu sein, haben wir das von Francis
reich Integration/Immigration und æffentli- Fukuyama ausgerufene ¹Ende der Ge-
che Ordnung beeinflusst. Øhnliche Beobach- schichteª nicht erreicht. 22 Wåhrend die pro-
tungen indirekter Auswirkungen in diesen zedurale Demokratie von allen politischen
Bereichen wurden in Låndern mit starken Akteuren ± abgesehen von einigen wenigen
rechtsradikalen Parteien gemacht. Gleich- Randerscheinungen ± akzeptiert wird, scheint
wohl muss festgehalten werden, dass diese die liberale Demokratie zunehmend zur Dis-
beiden Themenfelder in nahezu allen euro- position gestellt zu werden.
påischen Låndern zugespitzt diskutiert wer-
den ± ungeachtet der politischen oder Wahl- Wir leben in einem ¹populistischen Zeit-
kampfposition der jeweiligen radikal-rechts- geistª, in dem Radikale der Linken und Rech-
populistischen Partei. ten den Pluralismus und Konstitutionalismus
heutiger Liberaldemokratien ernsthaft bedro-
Der Unterschied zwischen den rechtsradi- hen. Es muss darauf hingewiesen werden,
kalen und den Mitte-(Rechts-)Parteien dass zahlreiche Parteien der Mitte ± darunter
scheint somit eher in der Abstufung als in der auch Regierungsparteien ± sich dafçr ent-
politischen Substanz zu liegen. In der be- schieden haben, gemåûigte Formen der popu-
kannten Terminologie Erwin Scheuchs und listischen Rhetorik und entsprechende Læ-
Hans-Dieter Klingemanns ist der radikale sungskonzepte zu çbernehmen. 23 Wie das
Rechtspopulismus nicht eine normale Patho- Ende des nationalsozialistischen Regimes in
logie, sondern vielmehr eine pathologische Deutschland das Ende der Rechtsextremen
Normalitåt, d. h. eine Radikalisierung der po- bedeutete, so fçhrte der Fall der Berliner
litischen Hauptstræmung. 21 Mauer zunåchst zum Untergang der Linksex-
tremen. Bisher ist dies nicht von einem Auf-
schwung der Linksradikalen begleitet wor-
Fazit den, die weiterhin als allenfalls schwach ein-
zustufen sind. Andererseits brauchten auch
die Rechtsradikalen etwa vierzig Jahre, um
Dieser Artikel hat eine weitgehend neuartige sich von den Verlusten der Rechtsextremen
Typologie radikaler Parteien vorgestellt und zu erholen.
dabei zwischen politischem Extremismus und
politischem Radikalismus (d. h. dem Gegen- Die græûte Herausforderung fçr die euro-
satz zur Demokratie bzw. zur Liberaldemo- påischen Liberaldemokratien bildet heute die
kratie) einerseits sowie zwischen Links und radikale Rechte, insbesondere der radikale
20 Siehe z. B. Martin Schain/Aristide Zolberg/Patrick
Rechtspopulismus. Gleichzeitig sind Wahler-
folge und politischer Einfluss einzelner radi-
Hossay (Hrsg.), Shadows over Europe: The Deve-
lopment and Impact of the Extreme Right in Western kal rechtspopulistischer Parteien in Europa je
Europe, New York 2002; C. Mudde (Anm. 15), Kapitel nach Land sehr unterschiedlich. In der Stårke
12. radikaler Parteien in Ost- und Westeuropa
21 Vgl. Erwin Scheuch/Hans-Dieter Klingemann,
besteht kein wesentlicher Unterschied. Keine
Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen In- dieser Regionen ist eine Brutståtte des politi-
dustriegesellschaften, in: Hamburger Jahrbuch fçr
Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, (1967) 12, S. 11±
29; Cas Mudde, The Populist Radical Right: 22 Francis Fukuyama, The End of History and the

A Pathological Normalcy, in: West European Politics Last Man, New York 1992.
(i. E.). 23 Vgl. C. Mudde (Anm. 6).

18 APuZ 47/2008
schen Radikalismus. Es bleibt festzuhalten, Armin Nolzen
dass die Linksradikalen, relativ betrachtet, im
Osten und die Rechtsradikalen im Westen
stårker sind. Die NSDAP vor
In Westeuropa kennt das Lager der Rechts-
radikalen einen zweiten Typus, den neolibe-
ralen Populismus. Statt innerhalb eines Par-
und nach 1933
teiensystems zu kooperieren oder zu wettei-
fern, scheinen sich neoliberale Populisten und
radikale Rechtspopulisten funktional zu ent-
sprechen, vergleichbar mit christdemokrati-
I n seiner im Winter 1942/43 verfassten
Schrift ¹Selbstbesinnung und Selbstkritikª
beschåftigte sich Herbert Wehner, der zu die-
schen und konservativen Parteien. Wåhrend sem Zeitpunkt in Schweden im Gefångnis
das 20. Jahrhundert eine Øra des politischen saû, mit den Grçnden fçr den Erfolg des Na-
Extremismus darstellte, kænnte das 21. Jahr- tionalsozialismus im Deutschen Reich. Nur
hundert zur Epoche des politischen Radika- wenige Monate zuvor war er in Moskau
lismus werden. damit beauftragt worden, den illegalen Appa-
rat der KPD wieder aufzubauen, um auf den
Sturz des NS-Regimes hinzuarbeiten. Als ihn
die schwedische Polizei aufgrund der sich
gegen einen fremden
Staat richtenden Akti-
vitåten inhaftierte, Armin Nolzen
wurden diese Vorbe- M. A., geb. 1968; Historiker, Re-
reitungen jåh unter- dakteur der ¹Beiträge zur Ge-
brochen. schichte des Nationalsozialis-
musª, www.beitraege-ns.com,
Mit seiner unvoll- Universität Bochum; lfd. Disser-
endeten und unveræf- tation über ¹Rudolf Heû, Martin
fentlicht gebliebenen Bormann und die Geschichte
Bekenntnisschrift ver- der NSDAP, 1933±1945ª,
folgte Wehner ein Betreuer: Prof. Dr.
zweifaches Ziel. Zum Hans Mommsen.
Wir müssen reden. einen ging es ihm um armin.nolzen@ruhr-uni-
eine Klårung seines bochum.de
Über die Zeitenwende 1989 und ihre
Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft.
persænlichen Stand-
Seit den Friedlichen Revolutionen in der ortes in der sozialistischen Arbeiterbewegung,
DDR und in Ostmitteleuropa sind 20 Jahre zum anderen um eine Neuorientierung ihres
vergangen. Zeit für Gespräche und offene politischen Kampfes gegen den NS-Staat. Als
Auseinandersetzungen. Ausgangspunkt diente Wehner die zutreffen-
28. bis 31. Mai 2009 in Berlin
de Beobachtung, dass es bislang keine çber-
www.geschichtsforum09.de zeugende marxistische Analyse der Ursachen
jenes beispiellosen Siegeszuges gebe, den der
Vorträge Nationalsozialismus seit 1930 im Deutschen
Reich angetreten hatte.
Filme
Diskussionen Ins Zentrum seiner Analyse rçckte er die
Theater soziale Praxis der Nationalsozialistischen
Ausstellungen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), in der
Wehner das Geheimnis jener Erfolge er-
Lesungen
blickte. Fçr ihn war die NSDAP eine ¹Partei
Workshops mit den vielen Gesichternª, die wåhrend der
Musik Weimarer Zeit drei auûergewæhnliche Neuer-
ungen in das politische System eingefçhrt

Hans Mommsen zum 5. November 2008.

APuZ 47/2008 19
hatte. 1 Erstens habe sie bewusst die unter- Im Folgenden wird auf der Basis der neue-
schiedlichen Interessen aller sozialen Schich- ren Forschung zum Thema versucht, mægli-
ten angesprochen, zweitens sei sie dazu çber- che Antworten einzukreisen. Dabei geht es
gegangen, immer græûere Teile der deutschen weniger darum, neue Thesen zur sozialen
Bevælkerung in sich aufzunehmen, und drit- Schubkraft der NSDAP vor und nach 1933
tens habe sie dafçr gesorgt, ihren Organisati- zu entwickeln und nach Grçnden fçr ihre dy-
onsapparat stets in Bewegung zu halten. namische Entwicklung zu suchen. Im Mittel-
¹Massenwerbung, Massenzusammenballung punkt steht vielmehr eine methodische Her-
und Massenbewegungª, mit diesen Worten angehensweise, mit der sich die Forschung
brachte Wehner die soziale Praxis der vielleicht selbst çberraschen kænnte.
NSDAP auf den Punkt. 2
Interaktionsraum Ortsgruppe
Die klassençbergreifende Propaganda, die
Integration breiter Bevælkerungskreise in ihre Die NSDAP wurde im Januar 1919 von dem
Apparate und deren ståndiger Einsatz waren, Werkzeugschlosser Alfred Drexler und dem
folgt man Wehner, nicht nur fçr die Wahlsiege Journalisten Konrad Harrer unter dem
der NSDAP bis 1932/33 verantwortlich. Viel- Namen ¹Deutsche Arbeiterparteiª in Mçn-
mehr bildeten diese drei Herrschaftstechni- chen gegrçndet. Sie gehærte zu einem Netz-
ken auch nach Adolf Hitlers Ernennung zum werk ¹vælkischerª Geheimbçnde und Sekten,
Reichskanzler am 30. Januar 1933 das Le- die zu dieser Zeit in der bayerischen Haupt-
benselixier der NSDAP. Es entstand ein un- stadt aus dem Boden schossen und deren ein-
çberschaubares Geflecht nationalsozialisti- ziger gemeinsamer Nenner in radikalem An-
scher Organisationen, dem schlieûlich die tisemitismus bestand. Wenig spåter stieû Hit-
çberwiegende Mehrheit der deutschen Bevæl- ler zu dieser Partei und entwickelte sich
kerung angehærte. Deren Einbeziehung in die aufgrund seines Rednertalents bald zur un-
weit verzweigten Apparate der NSDAP deu- verzichtbaren Integrationsfigur. Schnell çber-
tete Wehner fast ausschlieûlich als Ausfluss nahm er den Vorsitz der NSDAP und ver-
von mehr oder weniger direktem Zwang. wandelte sie in eine ¹Fçhrerparteiª, deren un-
Ûber die daraus resultierende Konsequenz, umschrånkter Herrscher er selbst war. 4
dass die Bevælkerung den ideologischen
Zwecken des Nationalsozialismus dienstbar In der Ortsgruppe Mçnchen schuf sich Hit-
gemacht wurde, gab er sich keinerlei Illusio- ler eine innerparteiliche Hausmacht. 5 Seit
nen hin. Umso dringender war es ihm, Ant- 1922/23 dehnte sich die NSDAP in die Umge-
worten auf zwei wesentliche Fragen zu fin- bung Mçnchens und nach Franken aus. Al-
den: Wie war es der NSDAP gelungen, aus lenthalben grçndeten Aktivisten in eigener
den Hinterzimmern der Mçnchener Bierkel- Regie neue Ortsgruppen und unterstellten
ler heraus zur Massenpartei zu werden, der sich nach und nach dem Fçhrungsanspruch
zu diesem Zeitpunkt, 1942/43, fast sieben Hitlers. Die Ortsgruppe bildete den Dreh-
Millionen Personen angehærten? Welche Me- und Angelpunkt aller Aktivitåten in der
chanismen hatten dazu gefçhrt, dass sich eine NSDAP, und die dortige Vergemeinschaftung
noch viel græûere Zahl von Mitgliedern in fand als Interaktion unter Anwesenden statt. 6
ihren Nebenorganisationen einfand, die sich In den Ortsgruppen entfachten die Parteiakti-
anscheinend beliebig fçr die Interessenlagen
der NSDAP mobilisieren lieûen? Beide Fra- Nazi Party, 2 Bde., Pittsburgh 1969±1973; Johnpeter
gen sollten den archimedischen Punkt jeder H. Grill, The Nazi Movement in Baden 1920± 1945,
Geschichte der NSDAP bilden. 3 Ph. D. thesis, Chapel Hill 1983, sowie Kurt Påtzold/
Manfred Weiûbecker, Geschichte der NSDAP 1920 bis
1945, Kæln 1998, haben diese Einsicht zu wenig be-
1 Vgl. Herbert Wehner, Selbstbesinnung und Selbst- herzigt.
kritik. Gedanken und Erfahrungen eines Deutschen, 4 Vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889±1936, Stuttgart 1998,

hrsg. v. August Hermann Leugers-Scherzberg, Kæln S. 173 ±330.


1994, S. 111 ±149, hier S. 136. Eine Interpretation fin- 5 Vgl. Mathias Ræsch, Die Mçnchner NSDAP 1925±

det sich bei Michael F. Scholz, Herbert Wehner in 1933. Eine Untersuchung zur inneren Struktur der
Schweden 1941±1946, Mçnchen 1995, S. 55±79, hier NSDAP in der Weimarer Republik, Mçnchen 2002,
S. 76 ff. S. 77 ±85.
2 H. Wehner (Anm. 1), S. 93. 6 Dazu allgemein Andr Kieserling, Kommunikation
3 Die bisherigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte unter Anwesenden. Studien çber Interaktionssysteme,
der NSDAP von Dietrich Orlow, The History of the Frankfurt/M. 1999, S. 15±31 und S. 335±387.

20 APuZ 47/2008
visten eine rege Versammlungståtigkeit, die Im Hinblick auf die Bindung zwischen Hit-
zunåchst auf ihren Freundes- und Bekannten- ler und seinen Gefolgsleuten werden die
kreis beschrånkt blieb. Von Beginn an ver- Strukturprinzipien der NSDAP in der Regel
schrieb sich die NSDAP der bedingungslosen als ¹charismatischª bezeichnet. 9 In der Tat
Hetze gegen die Weimarer Republik. Pausen- hingen viele Månner, mit denen sich Hitler
los agitierten Hitler und seine Mitstreiter tåglich umgab, an seinen Lippen und schienen
gegen die Bestimmungen des Versailler Vertra- ihm regelrecht verfallen. Anhand der notori-
ges, die das Deutsche Reich angeblich immer schen innerparteilichen Auseinandersetzun-
weiter in den Ruin trieben. Unverhohlen rief gen ist jedoch zu erkennen, dass dieser Befund
die NSDAP zum gewaltsamen Umsturz der nicht verallgemeinert werden darf. 10 In der
politischen Verhåltnisse auf. Gruppe um Strasser waren charismatische
Bindungen an den ¹Fçhrerª ebenfalls geringer
Dagegen nahm sich das Parteiprogramm ausgeprågt. Je mehr Mitglieder die NSDAP
vom 24. Februar 1920, das Hitler und Drexler gewann, umso mehr wandelte sich çberdies
gemeinsam entworfen hatten, vergleichsweise die Funktion von Hitlers Charisma: Es musste
moderat aus. Darin verlangte die NSDAP, sich weniger in Situationen gegenseitiger An-
dem Deutschen Reich die durch den Versail- wesenheit bewåhren, sondern wurde Hitler
ler Vertrag abgetrennten Gebiete wieder zu- aufgrund spezifischer Qualitåten zugerechnet.
rçckzugeben und das Recht auf çberseeische Der Hitler-Mythos und der ¹Fçhrerkultª, wie
Kolonien zuzugestehen. 7 Darçber hinaus be- sie sich von 1926/27 an in der Partei entwi-
stritt sie Juden das Staatsbçrgerschaftsrecht, ckelten, sind ein beredeter Ausdruck dieses
forderte die Ausweisung aller nach dem 2. Sachverhaltes. Deshalb ist der Begriff ¹Charis-
August 1914 eingewanderten ¹Nicht-Deut- maª fçr die NSDAP eher von begrenztem
schenª und den Ausschluss von Juden aus Wert. Man sollte ihn lediglich fçr die persænli-
journalistischen Berufen. Antisemitismus und chen Beziehungen zwischen Hitler und seiner
der auûen- und kolonialpolitische Revisionis- Gefolgschaft reservieren.
mus fanden sich auch in den Programmen an-
derer rechter Parteien.
Massenbewegung des Protests
Nachdem der Putschversuch der NSDAP
in Mçnchen in der Nacht vom 8. auf den 9. Um zur Massenbewegung zu werden, reichte
November 1923 klåglich gescheitert war, es fçr die NSDAP nicht mehr aus, sich in ers-
schien das Ende dieser immer noch auf Bayern ter Linie auf Interaktionen im Freundes- und
beschrånkten Splitterbewegung besiegelt zu Bekanntenkreis zu stçtzen. Sie musste sich
sein. Doch Hitler baute nach seiner Haftent- nach auûen wenden und an Wahlen teilneh-
lassung die NSDAP im Februar 1925 neu auf men. Dies war gleichbedeutend mit der Not-
und konzentrierte sich auf deren Ausbreitung wendigkeit, eine politische Taktik zu entwi-
auûerhalb Bayerns. Weil das Preuûische In- ckeln, um Wåhlerstimmen zu gewinnen. Die
nenministerium ihn mit Redeverbot belegt NSDAP konstituierte sich von 1928/29 an
hatte, musste Hitler Personen seines Vertrau- daher zunehmend als Protestbewegung.
ens gewinnen, die fçr die weitere organisatori- Damit ist nicht nur gemeint, dass sie gegen
sche Verfestigung der Partei und die Einverlei- gesellschaftliche Missstånde protestierte und
bung konkurrierender ¹vælkischerª Gruppie- Abhilfe versprach, wie es ein generelles
rungen sorgten. Er betraute Gregor Strasser Kennzeichen von Protestbewegungen ist. 11
mit dem Aufbau der Partei in Nord- und Vielmehr lehnte sie die Weimarer Demokratie
Westdeutschland. Strasser und seine Gefolgs- als Ganzes ab, betrieb also radikale Funda-
leute waren eine der Mçnchener Gruppe um 9 Etwa bei Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grund-
Hitler gleichwertige Kraft, ohne freilich des- legung und Entwicklung seiner inneren Verfassung,
sen Fçhrungsanspruch in Frage zu stellen. 8 Mçnchen 199213, S. 33±81.
10 Grundlegend Joseph Nyomarkay, Charisma and

Factionalism in the Nazi Party, Minneapolis 1967.


7 Gedruckt in: Albrecht Tyrell, Fçhrer befiehl. . . 11 Dazu allgemein Heinrich W. Ahlemeyer, Soziale

Selbstzeugnisse aus der ¹Kampfzeitª der NSDAP, Bewegung als Kommunikationssystem. Einheit, Um-
Dçsseldorf 1969, S. 23±26. Eine gute Interpretation bei weltverståndnis und Funktion eines sozialen Phåno-
K. Påtzold/M. Weiûbecker (Anm. 3), S. 31±52. mens, Opladen 1995, sowie Kai-Uwe Hellmann, Sys-
8 Vgl. Udo Kissenkoetter, Gregor Strasser und die temtheorie und neue soziale Bewegungen. Identitåts-
NSDAP, Stuttgart 1978, S. 28±122. probleme in der Risikogesellschaft, Opladen 1996.

APuZ 47/2008 21
mentalopposition. Darçber hinaus wandte jçdischen Geschåften nicht halt. Die SA rea-
sich die Partei an alle Schichten der Bevælke- gierte insofern nicht auf eine angeblich vor-
rung und grçndete zu diesem Zwecke eigene gångige kommunistische Gewalt; sie war
Fach- und Berufsverbånde etwa fçr Juristen, selbst provokatorisch-aggressiv. Die besonde-
Beamte, Bauern, Frauen, Arbeiter oder Stu- re Bedeutung ihrer Gewalt lag darin, dass sie
denten. Ihre Propaganda passte sie auf ge- eine Reaktion von Polizei und Justiz erfor-
schickte Art und Weise den Bedçrfnissen und derte. Die SA-Gewalt war grundsåtzlich ille-
Erwartungen dieser Klientelgruppen an. Von gal, und das Versagen der Weimarer Demokra-
13 Sitzen, die sie bei der Reichstagswahl am tie bestand vor allem darin, dass sie nicht kon-
20. Mai 1928 errungen hatte, steigerte sich die sequent dagegen einschritt. Erst dies
NSDAP am 14. September 1930 auf 18,3 Pro- ermæglichte es der NSDAP, die SA-Gewalt als
zent der abgegebenen Stimmen oder 107 Mittel auch zur Gewinnung neuer bçrgerli-
Mandate, bevor ihr die Reichstagswahl vom cher Wåhlerschichten einzusetzen. Zu diesem
31. Juli 1932 mit 37,3 Prozent und 230 Sitzen Zwecke provozierte sie auf der Straûe Zusam-
den Status der stårksten Reichstagsfraktion menstæûe mit ihren Gegnern, aber auch mit
einbrachte. 12 In viele Landtage und Kommu- der Polizei. Insofern schuf die NSDAP gerade
nen zog die NSDAP ebenfalls ein. Im Mittel- jene chaotischen bçrgerkriegsåhnlichen Zu-
punkt ihrer Agitation standen Antisemitis- stånde, die sie in ihrer Wortpropaganda stets
mus, Antikommunismus, Antikapitalismus zu bekåmpfen vorgab. Sie produzierte also die
und Antiparlamentarismus. 13 Zudem prakti- Bedingungen ihres Erfolges zu einem guten
zierte die NSDAP eine regional diversifizier- Teil selbst, indem sie eine Spirale der Gewalt
te Propaganda, die an die unterschiedlichsten in Gang brachte und zugleich das Gewaltmo-
Traditionsbestånde anknçpfte. Dadurch ge- nopol des Staates unterhæhlte.
lang es ihr, die steigende Unzufriedenheit mit
der Weimarer Republik zu bçndeln. In der çberbordenden Straûengewalt der
SA zeigte sich jenes Charakteristikum, das
Mobilisierung durch Protest stæût schnell die Forschung oftmals ¹faschistischª nennt.
an Grenzen, wenn die Massenmedien die von Der Begriff stammt vom italienischen fascio
einer sozialen Bewegung besetzten Themen (Bund) ab und ist seit den 1960er Jahren zu
nicht oder nur unzureichend aufnehmen. Die einem systematischen Vergleichskonzept fçr
NSDAP war jedoch in einer komfortablen soziale Bewegungen (teilweise auch politische
Position, weil ihre Fundamentalopposition Regime) ausgebaut worden. Unter ¹Faschis-
eine unerschæpfliche Themenpalette impli- musª wird seither ein Zusammenhang zwi-
zierte und es ihr erlaubte, immer mehr The- schen antisemitisch-rassistischer und extrem-
men zu politisieren. Zusåtzlich steuerte sie nationalistischer Ideologie, einer dualen
einer Stagnation ihrer Mobilisierung auf zwei- Struktur von Partei und paramilitårischer Be-
erlei Art und Weise entgegen: Zum einen wegung und einer sozialen Praxis verstanden,
stampfte sie einen eigenen Medienkonzern aus bei der Gewalt einen hohen Stellenwert be-
dem Boden, der fçr Publizitåt sorgte. Zum an- sitzt. 15 Auch die NSDAP ist immer wieder
deren garantierten die Gewalttaten ihrer para- als ¹faschistischª bezeichnet worden. Aller-
militårischen Sturmabteilung (SA) eine per- dings bleibt das Faschismuskonzept auf Bin-
manente mediale Prominenz. Die Gewalt der nenverhåltnisse in solchen Parteien oder Be-
SA war eine bewusste und kalkulierte. Sie wegungen beschrånkt und erklårt deren An-
richtete sich gegen die politischen Gegner, ziehungskraft nach auûen nur unzureichend.
also in erster Linie gegen Kommunisten und Der Begriff der Protestbewegung geht dar-
Sozialdemokraten, und zielte auf deren Lahm- çber hinaus und bezieht auch Umweltbedin-
legung ab. 14 Sie machte auch vor Juden und gungen ein. So profitierte die NSDAP von
der Beschleunigung der technologischen Ent-
12 Vgl. Jçrgen Falter, Hitlers Wåhler, Mçnchen 1991,
wicklung, des sozialen Wandels sowie des all-
bes. S. 364±375, der die NSDAP auch als ¹Volkspartei
gemeinen Lebenstempos, die sich in den
des Protestsª bezeichnet.
13 Vgl. generell Gerhard Paul, Aufstand der Bilder. 1920er Jahren zu einer besonderen Krise ver-
Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990. dichteten. 16 Mit ihrem Protest nahm die
14 Die Gewalt der SA systematisiert Sven Reichardt,

Faschistische Kampfbçnde: Gewalt und Gemeinschaft 15 Zuletzt Michael Mann, Fascists, Cambridge 2004.
im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, 16 Die Arbeit von Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die
Kæln ± Weimar ± Wien 2002, S. 100 ±133. Verånderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frank-

22 APuZ 47/2008
NSDAP diese gçnstigen Gelegenheiten auf. wickelte sich die NSDAP zu einem Netz-
Aber dies allein håtte nicht zur Eroberung werk von Organisationen, 20 das stets in sei-
der politischen Macht ausgereicht. Wichtiger ner Gesamtheit betrachtet werden muss.
war, dass Inhalte wie Formen ihres Funda- Wenn im Folgenden von ¹NSDAPª die Rede
mentalprotests von der politischen Zentralge- ist, meine ich damit das gesamte Netzwerk.
walt und einem wachsenden Teil der Bevælke-
rung als legitim erachtet wurden. Die Weima- Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges um-
rer Demokratie scheiterte an einem Prinzip, fassten die Partei, ihre Gliederungen und an-
das in modernen Gesellschaften ansonsten fçr geschlossenen beziehungsweise betreuten
emanzipatorischen sozialen Wandel steht: an Verbånde schåtzungsweise zwei Drittel der
den Wechselwirkungen zwischen Protestbe- Bevælkerung im ¹Groûdeutschen Reichª. 21
wegungen und politischer Zentralgewalt. 17 Millionen von Funktionåren hielten die
NSDAP in Bewegung, und zu mehr als 95
Prozent agierten diese ehrenamtlich. In der
Forschung wird das Mitgliederwachstum in
Netzwerk von Organisationen der NSDAP oftmals als Ausfluss ihres ¹tota-
litårenª Verfçgungsanspruchs auf das Indivi-
Nach der Reichstagswahl vom 5. Mårz 1933 duum interpretiert. Damit einher geht die
begann ein Prozess, den man als Ausdifferen- Ansicht, die Funktion der NSDAP habe in
zierung immer neuer Apparate aus der erster Linie in der sozialen Disziplinierung
NSDAP bezeichnen kann. 18 Bei Hitlers ihrer Mitglieder gelegen. Diese Deutung
Machtçbernahme hatten der NSDAP rund greift zu kurz, denn damit ist der hohe Grad
850 000 Personen angehært. Bis zum Januar an Freiwilligkeit, wie er sich in der çberwie-
1935 verdreifachte sich ihre Mitgliederzahl genden Ehrenamtlichkeit unter den Funktio-
auf 2,5 Millionen. 19 Bereits in den ersten Wo- nåren manifestierte, nicht zu erklåren. Jenes
chen von Hitlers Reichskanzlerschaft waren permanente Organisieren, das die NSDAP
fast eine Million Aufnahmeantråge bei den nach 1933 praktizierte, sollte indes nicht mit
Parteidienststellen eingegangen. Im Zuge der ¹Totalitarismusª verwechselt werden. 22 Die-
¹Gleichschaltungª des Vereins- und Ver- ser Begriff ist missverståndlich, suggeriert er
bandswesens, die bald nach dem 5. Mårz 1933 zum einen eine zwangsweise Erfassung der
begonnen hatte, wuchsen auch ihre paramili- Bevælkerung, zum anderen eine repressive
tårischen Organisationen sowie Fach- und Binnenintegration. Im Licht neuerer For-
Berufsverbånde. Es differenzierten sich in der schungen mçssen beide Ansichten korrigiert
NSDAP vier Teilbereiche aus: die Partei, ihre werden, denn ohne den beispiellosen Zu-
Gliederungen, die angeschlossenen und die strom neuer Mitglieder nach 1933 und die
betreuten Verbånde. Jede dieser Organisatio- nicht zu unterschåtzenden Tendenzen zur
nen baute eigene bçrokratische Apparate auf, ¹Selbstgleichschaltungª wåre es kaum zu
deren vertikale Instanzenzçge lediglich nomi- einer so breiten gesellschaftlichen Veranke-
nell in die Partei eingebunden waren. Institu- rung der NSDAP gekommen.
tionell waren die Gliederungen und die ange-
schlossenen und betreuten Verbånde vom Aus den genannten Grçnden ist es notwen-
Parteiapparat unabhångig. Gleichzeitig waren dig, die gångige Begrifflichkeit fçr die soziale
sie jedoch çber Personalunionen auf allen Praxis der NSDAP nach 1933 zu veråndern.
Ebenen mit diesem verzahnt. Insofern ent-
20 Vgl. Dirk Baecker, Form und Formen der Kom-

furt/M. 2005, S. 124± 138, zwingt dazu, die Erfolgs- munikation, Frankfurt/M. 2005, S. 226±237.
bedingungen fçr die NSDAP neu zu çberdenken. 21 Zum Folgenden Armin Nolzen, Die NSDAP, der
17 Vgl. Shmuel Noah Eisenstadt, Tradition, Wandel Krieg und die deutsche Gesellschaft, in: Das Deutsche
und Modernitåt, Frankfurt/M. 1979, S. 102±127. Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9: Die deutsche
18 Vgl. zum Begriff Niklas Luhmann, Die Gesellschaft Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Teilbd. 1: Politisie-
der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 595 ±608; all- rung ± Vernichtung ± Ûberleben. Im Auftrag des Mili-
gemein Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher tårgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. v. Jærg Ech-
Differenzierung, Weilerswist 20073. ternkamp, Mçnchen 2004, S. 99±193, hier S. 103,
19 Vgl. Michael H. Kater, The Nazi Party. A Social S. 114 und S. 117.
Profile of Members and Leaders, 1919±1945, Cam- 22 Vgl. dagegen Aryeh C. Unger, The Totalitarian

bridge, Mass. 1983, sowie Torsten Kupfer, Generation Party. Party and People in Nazi Germany and Soviet
und Radikalisierung. Die Mitglieder der NSDAP im Russia, Cambridge 1974, pars pro toto fçr die to-
Kreis Bernburg 1921±1945, Berlin 2006. talitarismustheoretische Literatur.

APuZ 47/2008 23
Als Netzwerk von Organisationen zielte sie gentliche Funktion der NSDAP heraus.
zunehmend weniger auf Sozialdisziplinie- Dabei fungierte der individuelle Mitglieder-
rung. Vielmehr bot die NSDAP ihren Mit- status als erster Filter.
gliedern viele Mæglichkeiten, die sich primår
auf ihren Binnenbereich bezogen und mate- Inklusion und Exklusion bilden eine sozio-
rielle, politische wie auch fachliche Aspekte logische Unterscheidung, die Niklas Luh-
umfassten. In der Partei, den Gliederungen mann im Anschluss an einschlågige Ûberle-
sowie den angeschlossenen und betreuten gungen Talcott Parsons' und Thomas H. Mar-
Verbånden gab es drei Gruppen von Mitglie- shalls erarbeitet hat. Sie tritt an die Stelle der
dern: hauptamtliche Funktionåre, ehrenamtli- bisherigen Begriffe der sozialen Ungleich-
che Funktionåre und Beitragszahler. Die Be- heitsforschung beziehungsweise der sozialen
zahlung der Hauptamtlichen entsprach in der Integration von Individuen. Luhmann zufol-
Regel einem vergleichbaren staatlichen Amt. ge sind Inklusion und Exklusion nicht etwa
In der Partei und in einigen Gliederungen mit Zugehærigkeit und Nichtzugehærigkeit
standen ihnen finanzielle Entschådigungen von Personen in Interaktionen, Organisatio-
zu, wenn sie im Einsatz fçr ihre Organisatio- nen und den Funktionssystemen der Gesell-
nen Sach- oder Personenschåden erlitten. schaft deckungsgleich, wie es ein umgangs-
Zusåtzlich genossen sie das Privileg, unter sprachliches Verståndnis suggeriert. 24 Statt-
bestimmten Umstånden vom ¹Wehrdienstª dessen bezeichnen sie Formen, in denen
zurçckgestellt werden zu kænnen. Ehrenamt- Personen in diesen sozialen Systemen berçck-
liche Funktionåre besaûen, wie die neuere sichtigt werden. Das Begriffspaar Inklusion
Forschung gezeigt hat, umfassende Herr- und Exklusion hebt also auf die kommunika-
schaftsmæglichkeiten in ihren lokalen Mi- tive Adressierung von Personen durch Inter-
lieus. 23 Und selbst reine Beitragszahler, die aktionen, Organisationen und die Funktions-
man ansonsten in der NSDAP beargwæhnte, systeme der Gesellschaft ab. Die Reichweite
wurden begçnstigt: Sie konnten zum Beispiel des Begriffspaars Inklusion/Exklusion låsst
in den ¹Lehrerlagernª des Nationalsozialisti- sich an der Ermæglichungsfunktion der
schen Lehrerbunds (NSLB) Fachkompeten- NSDAP deutlich machen: Diese erschæpfte
zen und in den Motorsportschulen des Natio- sich nicht nur in jenen internen Mechanis-
nalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) men, die oben beschrieben wurden. Ermægli-
den Fçhrerschein erwerben. Die Liste dieser chung besaû darçber hinaus auch eine externe
Mæglichkeiten fçr Parteimitglieder lieûe sich Komponente, die aus den vielfåltigen Inklu-
nahezu beliebig erweitern. sionen der NSDAP-Mitglieder in Funktions-
systeme der NS-Gesellschaft bestand.
Inklusion und Exklusion Zur Verdeutlichung dieses Aspektes bedarf
es einer weiteren Ûberlegung. In den moder-
Das Mitgliederwachstum in der NSDAP nen, nach dem Primat der funktionalen Diffe-
ging bis zum 8. Mai 1945 ungebrochen wei- renzierung organisierten Gesellschaften (dazu
ter. Zu diesem Zeitpunkt gehærten der Par- zåhle ich den NS-Staat, ohne es an dieser Stel-
tei rund neun Millionen Personen an; fçr le ausfçhrlich begrçnden zu kænnen) obliegt
die Gliederungen sowie die angeschlossenen die Regelung von Inklusion und Exklusion
und betreuten Verbånde lassen sich keine den Funktionssystemen, also beispielsweise
exakten Zahlen mehr feststellen. Die Recht, Wirtschaft oder Wissenschaft. Nach
NSDAP hatte eine neue Differenz etabliert, 1933 vollzogen sich Inklusionen und Exklu-
die sich fçr das Alltagsleben im ¹Dritten sionen auch weiterhin auf dieser Ebene.
Reichª als wichtig erwies: die zwischen Mit- Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass
gliedschaft und Nichtmitgliedschaft. Ihre die NSDAP sukzessive an die Funktions-
Mitgliederzahl stieg, der Anteil der Nicht-
mitglieder sank kontinuierlich. Im Verlauf 24 Die Referenztexte sind Niklas Luhmann, Politische
dieses Prozesses kristallisierte sich die Rege- Theorie im Wohlfahrtsstaat, Mçnchen-Berlin 1981,
lung von Inklusion und Exklusion als ei- S. 7± 42; ders., Inklusion und Exklusion, in: ders., So-
ziologische Aufklårung 6: Die Soziologie und der
23 Paradigmatisch Carl-Wilhelm Reibel, Das Funda- Mensch, Opladen 1995, S. 237±264, sowie ders.
ment der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen 1932± (Anm. 18), S. 618±634. Vgl. jetzt Rudolf Stichweh, In-
1945, Paderborn ± Mçnchen ± Wien ± Zçrich 2002, klusion und Exklusion. Studien zur Gesellschafts-
S. 271 ±381. theorie, Bielefeld 2005.

24 APuZ 47/2008
systeme andockte. So agierten zum Beispiel ¹Fremdvælkischeª vollzog sich als Frontalan-
die Deutsche Arbeitsfront im Wirtschaftssys- griff auf deren Kærper: Ihre Opfer sollten
tem, die Nationalsozialistische Volkswohl- vorsåtzlich verletzt werden. Mitglieder von
fahrt im System der Sozialen Hilfe und die SA, Schutzstaffel (SS), NSKK und HJ waren
Hitler-Jugend (HJ) im Erziehungssystem. dafçr prådestiniert, weil sie eine paramilitå-
Die Differenz zwischen Mitglied und Nicht- rische Sozialisation durchlaufen hatten.
mitglied in der NSDAP entwickelte sich Nicht wenige Tåter waren diesen Organisa-
mehr und mehr zur doppelten Voraussetzung tionen erst nach 1933 beigetreten und sahen
fçr Inklusionen: Zum einen entschied sie Gewalt als Bewåhrung fçr hæhere Aufgaben
çber die Mæglichkeit, einen Beruf innerhalb an. Die Gewalt der NSDAP besaû also auch
eines Funktionssystems auszuçben, zum an- eine kaderpolitische Funktion. Andere
deren çber den Grad, inwieweit eine Person ¹Gegnergruppenª wie Sinti und Roma, Ho-
als deren Klient behandelt wurde. Individuel- mosexuelle, Kommunisten und Zeugen Je-
ler Mitgliederstatus in der NSDAP wurde hovas litten ebenfalls stark darunter. Auch
mithin zum Zugangskriterium fçr Leistungs- sie wurden in Konzentrationslager ge-
und Publikumsrollen in den Funktionssyste- pfercht, in denen sie unter entwçrdigenden
men. Fçr Jugendliche, die eine Berufsausbil- Umstånden ihr Dasein fristeten, auch wenn
dung machen wollten, war es geradezu obli- sie græûere Ûberlebenschancen hatten als
gatorisch, der HJ anzuhæren. Lehrer mussten Juden.
dem NSLB beitreten, und Rechtsanwålte
wurden bei Gericht nur dann zugelassen, Weiterhin erwies es sich fçr alle Gruppen
wenn sie im Nationalsozialistischen Rechts- von ¹Gegnernª als bedeutsam, dass die
wahrerbund waren. Fçr die Inklusion in die NSDAP auch in den çbrigen Organisationen
Publikumsrollen erwiesen sich ¹politische und in den Funktionssystemen der Gesell-
Beurteilungenª als wichtig. Bevor jemand be- schaft Exklusionen auslæste. Hierfçr war die
færdert wurde oder staatliche Leistungen er- Dienststelle des Stellvertreters des Fçhrers/
hielt, waren die Verwaltungsbehærden gehal- Partei-Kanzlei, das Zentralorgan der NSDAP,
ten, dessen ¹politische Unbedenklichkeitª bei von groûer Bedeutung. Diese Dienststelle
den Parteidienststellen feststellen zu lassen. besaû weitgehende Mitwirkungsrechte an der
Zentrales Kriterium dieser ¹politischen Beur- Gesetzgebung und an der Personalpolitik. 26
teilungª war der Mitgliedsstatus des Antrag- Gemeinsam mit der Wehrmachtfçhrung
stellers in der NSDAP. 25 Wenn unter dieser sorgte sie etwa dafçr, ehemalige ¹Schutzhåft-
Rubrik ¹Fehlanzeigeª zu vermelden war, lingeª und ¹jçdische Mischlingeª entweder
wurde der Antrag in der Regel ohne nåhere vom Wehrdienst auszunehmen oder aus der
Begrçndung abgelehnt. Wehrmacht zu entfernen und sie jeder weite-
ren Betåtigungsmæglichkeit in dieser Organi-
Die NSDAP beschrånkte sich nicht darauf, sation zu berauben. In vielen Funktions-
ihren Mitgliedern einen Raum an Mæglich- systemen kam es ebenfalls zu kumulativen
keiten bereitzustellen. Gleichzeitig verwehrte Exklusionen. Ministerialbçrokratie und
sie ihren Gegnern diese Mæglichkeiten und Dienststelle des Stellvertreters des Fçhrers/
entwickelte sich zu einem Instrument der Ex- Partei-Kanzlei sorgten auf administrativem
klusion. Zu diesem Zweck schuf die NSDAP Weg dafçr, ¹Gegnernª die Ausçbung ihrer
eine ¹Gegnerhierarchieª, an deren Spitze die Berufe zu verwehren und ihnen Leistungen
Juden standen, gefolgt von sowjetischen und der Funktionssysteme zu entziehen. Die
polnischen Zwangsarbeitern. Diese Gruppen staatlichen Behærden entfalteten eigene Initi-
wurden zum einen Opfer gezielter Gewaltta- ativen zur Exklusion, so in der Rassen- und
ten der NSDAP, zum anderen wirkte die Par- Gesundheitspolitik. Daher ist die Position
tei an deren systematischer Ermordung mit, der ålteren Forschung, wonach die NSDAP
indem sie sich zum Beispiel an den ¹Judende- bei Exklusionen eher aktiv, die staatliche
portationenª der Jahre 1941/42 beteiligte. Die Verwaltung eher reaktiv gewesen sei, zu mo-
Gewalt der NSDAP gegen Juden und andere difizieren.

25 Vgl. Sebastian Lehmann, Kreisleiter der NSDAP in 26 Vgl. Peter Longerich, Hitlers Stellvertreter. Fçh-

Schleswig-Holstein. Lebenslåufe und Herrschafts- rung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates
praxis einer regionalen Machtelite, Bielefeld 2007, durch den Stab Heû und die Partei-Kanzlei Bormann,
S. 192 ±212. Mçnchen ± London ± New York ± Paris 1992, S. 40 ±89.

APuZ 47/2008 25
Die NSDAP und die vier Formen Luke March
des Sozialen
Herbert Wehner hatte Recht, wenn er die
Die Kommunisti-
NSDAP in seiner eingangs zitierten Schrift
als ¹Partei mit den vielen Gesichternª be-
zeichnete. Und ebenfalls ist ihm darin zuzu-
sche Partei in der
stimmen, in ¹Massenwerbung, Massenzusam-
menballung und Massenbewegungª drei we- Sowjetunion und
in Russland
sentliche Aspekte ihrer sozialen Praxis zu
sehen. Wie andere zeitgenæssische Interpreten
hat Wehner aber die Dichotomie zwischen
¹Herrschaftª (hier: der NSDAP) und ¹Ge-
sellschaftª (hier: der Bevælkerung) çber-
schåtzt. Der NSDAP war es ja gerade gelun-
gen, beide Bereiche immer mehr miteinander
zu verschmelzen, indem sie Funktionåren W enn man Extremismus als Gegensatz
zu den Werten und Verfahren liberaler
Demokratie definiert und ihm vielleicht noch
und Mitgliedern nach ihrer Machtçbernahme
vielfåltige Mæglichkeiten bot. Die wichtigste einen Hang zu politischer Gewalt zuschreibt,
bestand darin, sich selbst Herrschaft aneignen dann war die Kommunistische Partei der So-
zu kænnen, und die hohe Zahl an Funktionå- wjetunion (KPdSU)
ren zeigt, dass dieses Angebot gerne ange- lange Zeit die welt-
nommen wurde. weit bedeutendste ex- Luke March
tremistische Partei. Ph.D., geb. 1971; Senior Lecturer
In der Geschichte der NSDAP lassen sich Mit einer Mitglieder- in Russian Politics, School of
insgesamt vier Formen des Sozialen ausma- zahl von zeitweise 19 Social and Political Sciences,
chen, die sich zwar çberlagerten, aber jeweils Millionen stand sie University of Edinburgh,
eine bestimmte Entwicklungsphase dominier- zwar hinter der KP Chrystal Macmillan Building,
ten. Die NSDAP hatte als Partei begonnen, Chinas mit rund 70 15a George Square, Edinburgh
die auf nachbar- und freundschaftlichen In- Millionen Mitgliedern EH8 9LD, Schottland/UK.
teraktionen basierte. In einer zweiten Phase zurçck, ihr ideologi- www.pol.ed.ac.uk/staff_
seit 1925/26 konstituierte sie sich als Protest- scher Einfluss um- profiles/march_luke
bewegung. Die Form ¹Protestª bestand in spannte jedoch den l.march@ed.ac.uk
einer Fundamentalopposition gegen die Wei- halben Erdball.
marer Republik und konkretisierte sich in der
permanenten Mobilisierung durch Propagan- Der Kommunismus hat, wenn auch ge-
da und Gewalt. Nach der Reichstagswahl schwåcht, nicht zuletzt in Russland selbst
vom 5. Mårz 1933 rçckte drittens der Ausbau dem Untergang der Sowjetunion in einem
der NSDAP zu einer formalen Organisation 1991 nicht erwarteten Maûe standgehalten.
ins Zentrum ihrer Aktivitåten. Mit dem Zu- Die Kommunistische Partei der Russlåndi-
strom neuer Mitglieder zur Partei und mit schen Fæderation (KPRF) behauptet, die un-
der ¹Gleichschaltungª der Vereine, Organisa- mittelbare Nachfolgepartei der KPdSU und
tionen und Verbånde differenzierten sich in ihrer Traditionen zu sein, beansprucht ihr Ei-
der NSDAP viertens jene riesenhaften bçro- gentum und war in den 1990er Jahren die
kratischen Apparate aus, die es ihr ermæglich- stårkste Partei des postkommunistischen
ten, die gesellschaftlichen Strukturen zu Russlands. Obgleich die Popularitåt der Par-
transformieren. Indem sie Inklusion und Ex- tei im Vergleich zu 1996 mittlerweile stark
klusion immer wieder neu regelte, fçhrte die abgenommen hat, belegte ihr Fçhrer Gennadi
NSDAP Verånderungen zwischen den Funk- Sjuganow bei den Pråsidentschaftswahlen im
tionssystemen herbei, die auf eine schleichen- Mårz 2008 immerhin den zweiten Rang.
de Ûberwindung des Primats funktionaler
Differenzierung hinausliefen. Letztlich be- Ein Vergleich der sowjetischen und der
durfte es des militårischen Sieges der Alliier- russischen kommunistischen Parteien fçhrt
ten, um diese Entwicklung aufzuhalten.
Ûbersetzung aus dem Englischen: Jaiken Struck, South
Petherton, England/UK.

26 APuZ 47/2008
zu der Erkenntnis, dass sich die KPRF von schwåchte die Partei in einem solchen Aus-
ihrer Vorgångerpartei auûer in Stil und Sym- maû, dass 1937 und 1938 ¹alte Bolschewikiª
bolik in jeder Hinsicht sehr stark unterschei- (Lenins frçhere Mitstreiter) und gewæhnliche
det: Sie ist nicht revolutionår, sondern kon- Parteimitglieder zu den Hauptopfern seiner
servativ, sie ist zunehmend gemåûigt, sie ist Terrorherrschaft zåhlten; zwischen 1936 und
eher eine parlamentarische Partei als eine mi- 1950 kostete der Terror bis zu zwælf Millio-
litante Zelle, sie ist ganz sicher nicht ¹kom- nen Menschen das Leben.
munistischª im Lenin`schen Verståndnis, und
in einigen Bereichen ist ihre linke Ausrich- Dieser Entwicklung vom Marxismus zum
tung kaum noch erkennbar. Wenn man be- Stalinismus kommt nicht nur historische Be-
denkt, dass das heutige Russland håufig als deutung zu, vielmehr beeinflusst sie auch un-
Wiedergeburt der UdSSR stereotypisiert sere heutige Sicht auf den Kommunismus
wird, ist es bemerkenswert, wie wenig sein und selbst auf den Marxismus als realisierbare
¹neosowjetischesª Wiedererstarken dem politische Projekte. Diese Fragen sind viel-
Marxismus-Leninismus als Ideologie oder gar fach diskutiert worden. War die Oktoberre-
der Stårke der KPRF als Partei verdankt. Im volution von 1917 angewandter Marxismus?
Ûbrigen ist die KPRF heute keineswegs der Brachte der Leninismus tatsåchlich notwen-
¹extremsteª politische Akteur in Russland. diger Weise Stalin hervor? Da Marx vor dem
Aufkommen des Leninismus und Lenin vor
dem Beginn des Stalinismus starb, werden
Die KPdSU wir es nie erfahren. Doch Marx' Kritik an
doktrinåren Marxisten und Lenins Vorbehalte
Sowohl die KPdSU als auch die KPRF sehen gegen Stalin in seinem ¹letzten Testamentª
ihre Ursprçnge in der 1898 gegrçndeten So- geben reichlich Anhaltspunkte dafçr, dass die
zialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands Geschichte auch anders håtte verlaufen kæn-
und Wladimir Iljitsch Lenins Mehrheitsfrak- nen.
tion (Bolschewiki), die sich auf dem zweiten
Kongress der russischen Sozialdemokraten Aber wie anders? Sicherlich kænnte man
1903 aufgrund von Meinungsverschiedenhei- argumentieren, dass Leninismus und Stalinis-
ten in Bezug auf die Revolutionsstrategie von mus vielleicht nicht die einzig mæglichen,
der Minderheitsfraktion (Menschewiki) abge- aber doch plausible Umsetzungen des Mar-
spaltet hatte: Die Bolschewiki strebten eine xismus sind ± nicht zuletzt deshalb, weil die
elitåre Partei von Berufsrevolutionåren an, Schriften von Marx und Engels in Bezug auf
die Menschewiki hingegen eine demokrati- den Revolutionsverlauf wie auch den Charak-
sche Volkspartei. Bekanntermaûen fçhrte die- ter der kommunistischen Gesellschaft åuûerst
ser Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg zur mehrdeutig gehalten sind. Obwohl der Le-
entscheidenden Spaltung der Linken des 20. ninismus Anspruch auf viele nicht-marxisti-
Jahrhunderts in revolutionåre Kommunisten sche russische Revolutionstraditionen erhob
einerseits und parlamentarische Sozialdemo- und sich dadurch zu einer deterministischen
kraten andererseits. und strengen Doktrin verhårtete, waren seine
Verheiûungen, die bçrgerliche Welt zu verån-
Unter den sowjetischen Kommunisten ent- dern und nicht bloû neu zu interpretieren,
wickelte sich der klassische Marxismus çber gleichbedeutend mit einer unmittelbaren Ver-
den Marxismus-Leninismus zum Stalinismus schårfung des marxistischen Revolutionsei-
und brachte ein politisches System hervor, fers. Der Leninismus fçgte auûerdem eine Be-
das dem marxistischen Schwerpunkt auf sessenheit mit Fragen der Organisation, Dis-
Ûberwindung von Entfremdung, fçr Arbei- ziplin und Geschlossenheit der Partei hinzu.
terdemokratie und das ¹Absterben des Staa- Wie die Unterdrçckung parteiinterner Ver-
tesª diametral entgegengesetzt war. Stattdes- werfungen innerhalb der KPdSU bei ihrem
sen war die Macht der (sowjetischen) Arbei- zehnten Kongress im Jahr 1921 zeigt, befær-
ter nur noch Fassade, und der Staat derte Lenins Verunglimpfung von Pluralis-
dominierte die Gesellschaft mit einem System mus und Parlamentarismus (¹keine Politik ist
aus Bçrokratie und Geheimpolizei. Die die beste Politikª) ± praktiziert von einer in-
UdSSR war ab 1921 ein Einparteienstaat stabilen elitåren Minderheit im verrohten und
unter Fçhrung der Kommunistischen Partei, entmodernisierten Nachkriegsrussland der
die sich ab 1925 KPdSU nannte. Stalin beginnenden 1920er Jahre ± den Zentralis-

APuZ 47/2008 27
mus, die Paranoia und die Geheimhaltung, Derartige Entwicklungen verliehen der
auf denen der Stalinismus gedeihen konnte. 1 Auffassung an Glaubwçrdigkeit, nach der die
Herrschaft der Kommunisten flexibler, an-
passungsfåhiger und sogar stårker auf Einver-
Der sich herausbildende ¹Extremismusª
nehmen ausgerichtet war als vom ¹totalitå-
des sowjetischen Systems ist so umstritten
renª Modell proklamiert. Vielleicht verfçgte
wie seine Ursprçnge. Eine verbreitete Sicht-
die Sowjetunion çber ein gewisses Entwick-
weise (im Januar 2006 von einem parlamenta-
lungspotential, und ihr Niedergang war gar
rischen Ausschuss des Europarats in einem
nicht unabwendbar. 2 Immerhin stimmten 76
Beschluss hervorgehoben) sieht die UdSSR
Prozent der sowjetischen Bevælkerung bei
als ¹totalitåreª Diktatur (totale gesellschaftli-
einem Volksentscheid im Mårz 1991 fçr die
che Kontrolle anstrebend), im Wesentlichen
Fortfçhrung der Union; das eindrucksvolle
verbrecherisch, wenn nicht sogar bæsartig
weltpolitische Auftreten des kommunisti-
sowie moralisch und politisch mit Nazi-
schen China heute zeigt, dass ein solcher
deutschland auf einer Stufe stehend. Das
Ausgang keineswegs abwegig war. Gleich-
lange in der Sowjetunion-Forschung domi-
wohl hatte das totalitåre Modell selbst die
nierende totalitåre Paradigma sah die UdSSR
Zeit nach Stalin ergriffen, in der das Streben
ebenfalls als strikt hierarchische, monolithi-
nach umfassender Kontrolle aufrechterhalten
sche Gesellschaft unter der Knechtschaft der
wurde. Die Starrheit des sowjetischen Einpar-
Geheimpolizei und der kommunistischen
teienstaates und der anhaltende Widerstand
Doktrin.
gegen jede Weiterentwicklung (wie beispiels-
weise in China mit den Wirtschaftsreformen
Aber die auf den Tod Stalins folgenden nach 1979) in Verbindung mit der Unterdrç-
Entwicklungen brachten dieses Bild durch- ckung von Eigeninitiative fçhrte zu einem
einander, da die UdSSR zunehmend als çberregulierten, auûerordentlich komplexen
¹posttotalitårª erschien: Der unmittelbare politischen System, das nicht in der Lage war,
Terror nahm ab, die KPdSU çbernahm wie- die sozioækonomischen Krisen der 1970er
der die Kontrolle, die Parteifçhrung wurde und 1980er Jahre zu bewåltigen und stattdes-
eine kollektive und das politische System sen immer neue Fehlentwicklungen hervor-
ganz offensichtlich facettenreicher, wenn brachte (verbreiteter Alkoholismus, Arbeits-
auch nicht pluralistisch. Unter Leonid ausfålle, Umweltzerstærung).
Breschnew (1964±1982) wandelte sich die
KPdSU zu einer spçrbar weniger revolutio- Der bçrokratische Einparteienstaat wurde
nåren, ja, zu einer konservativen Organisati- von Michail Gorbatschow, dem Reformer
on, die ihre Legitimitåt weniger durch Ver- und ab 1985 Generalsekretår der Partei, zu-
sprechungen einer klassenlosen Zukunft als treffend als ¹Verwaltungs- und Kommando-
vielmehr durch den ¹entwickelten Sozialis- systemª bezeichnet. Als Teil der Perestroika
musª und durch patriotischen Stolz auf die (Umstrukturierung) leitete Gorbatschow
¹Errungenschaftenª des sowjetischen Staates durchgreifende Maûnahmen ein, um die Par-
beanspruchte. Der internationale Kommunis- tei zum Verzicht auf ihre in der Verfassung
mus wurde auûerdem zu einer kaum mehr re- garantierte ¹leitende und fçhrende Rolleª
volutionåren, sondern eher zu einer Status- çber die Gesellschaft und Wirtschaft zu drån-
quo-Bewegung, da sich die græûten kommu- gen und Demokratisierungsprozesse einzulei-
nistischen Parteien Europas in Frankreich, ten. Gorbatschows Reformen schlugen aus
Italien und Finnland zunehmend an die Ar- vielerlei Grçnden fehl, nicht zuletzt aufgrund
beit in ¹bçrgerlichenª, parlamentarischen Re- eigener Fehler im Fçhrungsverhalten. Den-
gierungssystemen gewæhnten, statt deren De- noch erschien die KPdSU nun als durch und
stabilisierung anzustreben. Die UdSSR ver- durch konservative, unreformierbare Organi-
kçndete ¹friedliche Koexistenzª mit dem sation: Als bçrokratischer Apparat mit enor-
Westen, wobei sich der Systemkonflikt zwi- men Mitteln der sozialen Kontrolle stellte
schen Ost und West stellvertretend in Aus- jede nennenswerte Verringerung ihrer Macht-
einandersetzungen in der ¹Dritten Weltª befugnisse eine Bedrohung sowohl der per-
fortsetzte.
2 Eine eingehendere Erærterung findet sich in Slavic

Review, 63 (2004) 3, Sonderausgabe zu Gorbatschow


1 Vgl. z. B. Chris Ward, Stalin's Russia, London 1999. und zur Reformfåhigkeit der UdSSR.

28 APuZ 47/2008
sænlichen Interessen ihrer Funktionåre als mokratischen Zentralismus (der Unterord-
auch ihrer zentralen legitimierenden Mythen nung der Minderheit unter die Mehrheit und
dar ± die nur die Partei allein durch den strenger Parteidisziplin) aufgebaut.
¹wissenschaftlichenª Marxismus-Leninismus
steuern konnte. Zudem war die Partei alles Dennoch sollte sich die Partei bald grund-
andere als monolithisch, sondern umfasste legend veråndern. Die Verdrångung des er-
vielmehr etwa ein halbes Dutzend ¹Proto- folglosen Iwan Poloskow vom Parteivorsitz
Parteienª sowie eine betråchtliche Zahl an durch Valentin Kuptsow am 6. August 1991
Personen, die der Partei vor allem aus Karrie- spiegelte den Teilerfolg gemåûigter Partei-
regrçnden beigetreten waren. Dementspre- funktionåre çber den radikalsten Flçgel
chend erwies sich die KPdSU als zu zersplit- wider, aber es gelang den moderaten Kråften
tert, schwerfållig und passiv, um aktiv auf nicht, ihre Position noch vor dem Verbot der
Gorbatschows Forderung nach ¹mehr Sozia- Partei zu konsolidieren. 3 Allerdings behiel-
lismus, mehr Demokratieª reagieren zu kæn- ten sie wåhrend des Verbots Kontaktperso-
nen. nen im Obersten Sowjet (Parlament). Die
wachsende Dominanz der Gemåûigten war
Es dauerte bis 1990, dass sich die Kommu- fçr die Zukunft der Partei von existentieller
nisten offen gegen Gorbatschow wandten. Im Bedeutung, da diese die Pragmatiker reprå-
Gegensatz zu den 14 anderen Unionsrepubli- sentierten, die fçr eine Neuorientierung der
ken fehlte es Russland an republikanischer Partei an den postsowjetischen Realitåten be-
Parteiorganisation innerhalb der KPdSU. reit waren. Obgleich Jelzins Verbot die russi-
Dennoch bauten Hardliner im Juni 1990 eine schen Kommunisten weiter ermunterte, die
Kommunistische Partei Russlands auf. Aller- postsowjetische Regierungsform als von
dings war diese vor dem Untergang der Grund auf rechtswidrig zu betrachten, argu-
UdSSR stets schwåcher, als es nach auûen den mentierte die Gruppe um Kuptsow mit De-
Anschein hatte. Weiter intern gespalten und mokratie und Verfassungsmåûigkeit, um das
jede offene Kritik an Gorbatschow ablehnend Verbot vor dem Verfassungsgericht anzufech-
(schlieûlich stand Gorbatschow noch immer ten. Am 30. November 1992 konnten Kup-
an der Parteispitze, da die Kommunistische tsows Anhånger einen moralischen Sieg ver-
Partei ein Teil der KPdSU war), bçûte die buchen, denn das Gericht genehmigte die Ba-
Kommunistische Partei Russlands massiv an sisorganisationen der Partei, was sie als
Einfluss und auch an Mitstreitern ein. Es war Erlaubnis zur Wiederbelebung einer russi-
symptomatisch, dass die Organisatoren des schen Parteiorganisation auslegten.
gescheiterten Staatsstreichs gegen Gorba-
tschow im August 1991 die Partei weitgehend Der Neugrçndungsprozess wurde durch
umgangen und diese den Putschversuch nur die Konkurrenz eines halben Dutzends kom-
halbherzig unterstçtzt hatte. In einem riskan- munistischer Splittergruppen erschwert, vor
ten Gegenputsch nahm der russische Pråsi- allem durch die Kommunistische Arbeiter-
dent Boris Jelzin diese Unterstçtzung zum partei Russlands, die ebenfalls Anspruch auf
Vorwand, um die KPdSU am 23. August die Nachfolge der KPdSU erhob. Diese
1991 auf russischem Territorium aufzulæsen Gruppen spielten bei heftigen Straûenprotes-
und schlieûlich am 6. November zu verbie- ten, hervorgerufen durch die Wirtschafts-
ten. Die russischen Kommunisten verloren
Mitarbeiter, Besitz und scheinbar die letzten 3 Fçr eine ausfçhrlichere Beschreibung der KPRF

Spuren von Rçckhalt im Volk. siehe Joan Barth Urban/Valerii Solovei, Russia's Com-
munists at the Crossroads, Boulder, CL 1997; Richard
Sakwa, Left or right? The CPRF and the problem of
democratic consolidation in Russia, in: The Journal of
Die KPRF Communist Studies and Transition Politics, 14 (1998)
1&2, S. 145; Luke March, The Communist Party in
Formell liegen die Wurzeln der KPRF in der Post-Soviet Russia, Manchester 2002; ders., The prag-
Kommunistischen Partei Russlands. Sie war matic radicalism of Russia's communists, in: Joan Barth
zunåchst noch immer unverkennbar als kom- Urban/J. Curry (Hrsg.), The Left Transformed: Social
Democrats and Neo-Leninists in Central and Eastern
munistisch-hierarchische, auf den grundle- Europe, Lanham, MD 2003, S. 163±208; ders., The
genden Parteiinstanzen basierende, von Contemporary Russian Left after Communism: into
einem Zentralkomitee gefçhrte Organisation the Dustbin of History?, in: Journal of Communist
strukturiert und nach Lenins Prinzip des de- Studies and Transition Politics, 22 (2006) 4, S. 431 ±456.

APuZ 47/2008 29
flaute 1991 bis 1993 und institutionelle Kon- tegie der KPRF konservativ und nostalgisch
flikte zwischen Pråsident Jelzin und dem Par- und sprach vor allem jene an, die in der post-
lament, eine wichtige Rolle. Unter den kon- sowjetischen Øra ihren Status und/oder ihr
kurrierenden Neugrçndungsinitiativen ob- Vermægen verloren hatten. Es çberrascht
siegte die Gruppe um Kuptsow aufgrund nicht, dass 1998 lediglich 13 Prozent der
einer Mischung aus hæherem Prestige, strate- 560 000 Parteimitglieder nicht ehemalige
gischer List und ideologischem Pragmatis- KPdSU-Mitglieder waren; die Partei leidet
mus. Ein gutes Beispiel bildet die Wahl Gen- bis heute unter der Ûberalterung seiner Wåh-
nadi Sjuganows zum Parteivorsitzenden im lerschaft.
Februar 1993: Er galt als gemåûigt-konserva-
tiv, hatte jedoch ein militant nationalistisches Die KPRF beherbergt mindestens vier
Profil, weshalb er sich die russischen Tradi- ideologische Hauptrichtungen: Sjuganows
tionen des ¹Nationalbolschewismusª zu ¹staatlich-patriotische Kommunistenª, ¹mar-
Nutze machen konnte. Dieser autoritåre Na- xistische Reformerª (Unterstçtzer eines anti-
tionalismus rechtfertigt die kommunistische bçrokratischen Marxismus), eher theoretisch-
Herrschaft, indem er sich auf den Status als konservative ¹marxistisch-leninistische Mo-
Supermacht statt auf den Marxismus-Leninis- dernisiererª sowie ¹rote Patriotenª. Letztere
mus beruft. Er wurde wåhrend und nach dem kçmmern sich weniger um die inhaltliche
Zweiten Weltkrieg von Stalin genutzt, um Ausrichtung, sondern haben eine emotionale
eine emotionale Bindung ans Vaterland her- Bindung an die Symbole sowjetischer Macht,
zustellen. Dieser Nationalbolschewismus half Stalin inbegriffen. Ûberdies gibt es eine klare
der KPRF, Nicht-Kommunisten anzuspre- Trennung zwischen der gemåûigten Gruppie-
chen, die den Verlust des globalen Status der rung, die sich mit dem postsowjetischen Sys-
UdSSR und seines wohlfahrtsstaatlichen Pa- tem arrangiert hat, und der radikalen, die
ternalismus beklagten. Des Weiteren konnten jeden Kompromiss mit dem so genannten
so Behauptungen entkråftet werden, nach ¹antinationalen Regimeª verachtet. Ideolo-
denen die Partei ¹gorbatschowistischª sei ± gisch wurde der Einfluss von Sjuganows
ein Begriff, der im kommunistischen Wortge- staatspatriotischer Position im Laufe der Zeit
brauch mit ¹Verråterª gleichgesetzt wird. immer deutlicher. Sjuganow war einer der
Dennoch zeigte die Verlagerung zum Natio- ersten und bedeutendsten Befçrworter der
nalismus, dass selbst die Kommunisten Russ- Vereinigung Roter und Weiûer (antikommu-
lands im Marxismus-Leninismus von frçher nistischer Nationalisten) im ¹nationalen Be-
einen Makel sahen. freiungskampfª der russischen Bevælkerung
gegen gemeinsame Feinde (die ¹neoliberaleª
Die KPRF war von Beginn an gemåûigter Wirtschaft, die prowestliche Auûenpolitik
und offener als die Kommunistische Partei und demokratische Reformen). Allerdings
Russlands, und so verblieben die militantes- war die ¹weiûeª Identitåt der Partei oft deut-
ten kommunistischen Fundamentalisten in licher zu erkennen als ihre kommunistische
den Splittergruppen. Auch çberzeugte Sozial- ¹roteª. Die KPRF sang nun das Loblied auf
demokraten schlossen sich der neu gegrçnde- die heimische Wirtschaft gegen das ¹vom
ten Partei nicht wieder in græûerer Zahl an. Westenª kontrollierte ¹Kompradorª-Kapital
Infolgedessen lag die anhaltende Schwåche und spielte den Klassenkampf (Sjuganow be-
der KPRF-Strategie in ihrem Unvermægen, hauptete, Russland habe seine Grenze fçr Re-
sich in Richtung einer ¹pragmatischen Re- volutionen erreicht) zugunsten von ¹Staats-
formª zu entwickeln, d. h. einen Schwer- patriotismusª (nationaler Konsens çber einen
punkt auf Demokratie und Modernisierung starken, sozial orientierten Staat) herunter.
zu legen, wie es viele ehemalige kommunisti-
sche Parteien in Mittelosteuropa erfolgreich Wåhrend einige sich zunehmend aussichts-
taten, wodurch das Stigma ihrer Vergangen- lose Hoffnungen auf die Sozialdemokratisie-
heit verblasste und sie klassençbergreifende rung der Partei machten, sahen andere die
Anziehungskraft entwickeln konnten. 4 Statt- KPRF als eine grundlegend illiberale, extre-
dessen war die nationalbolschewistische Stra- mistische, konservative, nationalistische, ge-
radezu rechtsgerichtete Organisation, die Slo-
4 Vgl. Andr—s BozÕki/John T. Ishiyama (Hrsg.), The bodan MiloÉevicÏs nationalpopulistischer So-
Communist Successor Parties of Central and Eastern zialistischer Partei Serbiens åhnelte. Der
Europe, Armonk, NY 2002. ¹nationale Sozialismusª (rechtsstehende kul-

30 APuZ 47/2008
turelle Werte, linksgerichtetes Wirtschafts- nach der dramatischen Niederlage bei der
programm) bedeutete, dass einige ihn als bes- Pråsidentschaftswahl 1996. Insbesondere die
tenfalls stalinistisch und schlimmstenfalls Betonung des Patriotismus entwertete ihre
faschistisch betrachteten. Selbst die einst Kritik am korrupten und zunehmend autori-
kompromisslose Kommunistische Partei tåren russischen Staat. Am schådlichsten
Frankreichs ging Ende der 1990er Jahre wirkte sich aus, dass die KPRF in Ermange-
schrittweise auf Distanz zur ¹stalinistischenª lung einer Klassenkritik an der Bourgeoisie
KPRF. Die ablehnende Haltung der KPRF des Landes zunehmend in dubiose Beziehun-
gegençber Schwulenparaden (¹Gay Prideª) gen mit Russlands kriminalisierten Superrei-
2006 und 2007 in Moskau stellte ein Muster- chen verwickelt wurde, was ihre Mitglieder
beispiel fçr kulturellen Konservatismus dar. irritierte und verunsicherte. Dadurch wurde
die Partei immer håufiger bezichtigt, Bezie-
Die angebliche Rechtsausrichtung der Par- hungen zu Russlands Plutokraten (¹Oligar-
tei war çberspitzt, da dies ursprçnglich nur chenª) wie beispielsweise Boris Beresowski
Teil der Wahlkampagne war, mit der demon- und Michail Chodorkowski zu unterhalten,
striert werden sollte, dass die Partei patrio- die sie in ihren Erklårungen doch verabscheu-
tisch sei und sich in Einklang mit den russi- te. 5
schen Traditionen befinde. Doch versuchte
die Partei zunehmend, sich der breiten Masse Tatsåchlich wurde die Partei nicht ohne
der (antikommunistischen) Wåhlerschaft und Grund beschuldigt, nur eine ¹Opposition auf
ihren (nostalgisch kommunistischen) Stamm- dem Papierª zu sein, die aufgrund ihrer Risi-
mitgliedern gegençber jeweils vællig anders koscheu den gesellschaftlichen Protest befrie-
zu pråsentieren. Fçr interne Kreise wurde aus det und somit letztlich das System stabilisiert.
dem Parteiprogramm deutlich, dass der ¹na- Die Partei schien sich in zunehmendem Maûe
tionale Befreiungskampfª unauslæschlich mit damit zufrieden zu geben, stets nur eine
dem ¹sozialen Klassenkampfª verknçpft und Neben- und nie die Hauptrolle zu spielen;
lediglich die erste Etappe eines dreistufigen eine introvertierte Partei, die sich damit be-
Ûbergangs zum Kommunismus sei, ferner, gnçgte, ihre Mitglieder zu besånftigen statt
dass sich die Partei weiterhin dem Marxis- ihre Wåhlerschaft zu vergræûern. Absichtlich
mus-Leninismus verpflichtet sehe. Die oder unabsichtlich verpasste die KPRF zahl-
marxistisch-leninistischen Elemente in der lose Gelegenheiten, die Macht der obersten
Partei erklåren einen Groûteil ihres oft vor- Behærden anzufechten. Beispielsweise çber-
sichtigen und widersprçchlichen Verhaltens. nahm sie nicht die sich wiederholt anbietende
Obwohl alle bedeutenden linksextremen Fçhrung des auûerparlamentarischen Pro-
Herausforderer auûerhalb der Partei nach tests; ebenso wenig knçpfte sie engere Kon-
ihrer Entscheidung, die Parlamentswahl vom takte mit den Gewerkschaften ± in dieser Be-
Dezember 1993 zu boykottieren, nie wieder ziehung war die so genannte ¹Vorhut der Ar-
an Einfluss gewannen, achtete die KPRF dar- beiterklasseª bemerkenswert abwesend.
auf, ihre parteiinternen Radikalen nicht çber Insgesamt schwåchte eher die Betonung na-
Gebçhr zu verprellen oder eine Spaltung der tionaler Einigkeit als Klassenkåmpfe ihre Få-
Partei zu riskieren und richtete sich regelmå- higkeit, die gesellschaftlichen Verwerfungen
ûig mehr nach links aus, um ihre Wåhler- wåhrend des verhångnisvollen wirtschaftli-
schaft zu radikalisieren. Gleichwohl umwarb chen Zusammenbruchs im Russland der
die KPRF die nationalistische Rechte viel be- 1990er Jahre fçr ihre Zwecke zu nutzen.
harrlicher als die sozialistische Linke oder
selbst die Mitte-Links-Parteien. Trotz ihrer Des Weiteren beeintråchtigten illiberale
Huldigung Lenins (der erste Mitgliedsaus- Entgleisungen einiger KPRF-Fçhrer (z. B.
weis der Partei wurde symbolisch auf Lenin Sjuganows Anbåndeln mit dem antiwestli-
ausgestellt) fållt es schwer zu glauben, dass chen fundamentalistischen Flçgel der ortho-
Lenin sich in einer Partei wohlgefçhlt håtte, doxen Kirche und antisemitische Ausbrçche
deren Internationalismus, Antikapitalismus einiger Funktionåre) ernsthaft die russische
und Engagement im Klassenkampf zuneh- Linke insgesamt als eine progressive Kraft.
mend heuchlerisch wirkt.
5 Vgl. Andrew Wilson, Virtual Politics: Faking De-
Sicherlich erklårt die nationalistische Hal- mocracy in the Post-Soviet World, New Haven, CT
tung der Partei zum Teil ihren Niedergang 2005, S. 235.

APuZ 47/2008 31
Die nationalistische Haltung wurde noch Tabelle: Wahlergebnisse der KPRF (in Pro-
problematischer, als der liberale, prowestliche zent)
Jelzin im Dezember 1999 sein Amt nieder- 1993 (Duma) 12.4
legte und der weniger liberale, nationalisti- 1995 (Duma) 22.3
schere Wladimir Putin Pråsident wurde. Der 1996 (Pråsidentschaft, 1. Wahlgang) 32.0
KPRF fehlte es an einer klaren Linie. Ob- 1996 (Pråsidentschaft, 2. Wahlgang) 40.3
gleich die Partei danach einen Linksruck er- 1999 (Duma) 24.3
fuhr, konnte ihr Niedergang nicht aufgehalten 2000 (Pråsidentschaft, 1. Wahlgang) 29.2
werden. 2003 (Duma) 12.6
2004 (Pråsidentschaft, 1. Wahlgang) 13.7
2007 (Duma) 11.6
Zur Ehrenrettung der KPRF muss man an- 2008 (Pråsidentschaft, 1. Wahlgang) 18.0
merken, dass sie in einem åuûerst schwierigen
Umfeld agiert. Das russische ¹superpråsidiale Quelle: eigene Zusammenstellung.
Systemª brachte eine einflussreiche exekutive
Pråsidentschaft mit sich, die weitgehend un-
abhångig von parlamentarischer Aufsicht unter 180 000 im Jahr 2006) resultierte. Bei
agiert ± eine çberparteiliche Regierung und den Pråsidentschaftswahlen 2000, 2004 und
schwache parlamentarische Rechte. Die 2008 schien der Kreml die Kommunisten als
groûe kommunistische Parlaments-(Duma-) Hauptoppositionskandidaten zu unterstçt-
Fraktion in den 1990er Jahren hatte nur ge- zen, um sie anschlieûend mçhelos zu besie-
ringen Einfluss auf die Politikgestaltung, was gen.
sie in den Augen ihrer Wåhler kontinuierlich
schwåchte. Die Pråsidentschaftswahlen per- Es wåre zu einfach, den Niedergang der
sonalisierten und polarisierten die Politik und KPRF einzig åuûeren Einflçssen zuzuschrei-
sahen eine 50-Prozent-Hçrde vor, welche die ben. Sie wurde von ihrer Spitze auf erbårmli-
Kommunisten unmæglich çberspringen che Weise gefçhrt, und das nicht nur auf-
konnten. grund ihrer verfehlten Gesamtstrategie des
¹Staatspatriotismusª. Sjuganow war bei der
Immerhin wurde der Wahlerfolg der KPRF Pråsidentschaftswahl im Jahr 2000 bereits
in der zweiten Runde der Pråsidentschafts- Vergangenheit, und åuûerst negative Umfra-
wahl 1996 (siehe die Tabelle) trotz Jelzins er- gewerte zeigten, dass er beinahe jedem Her-
heblichem Amtsbonus (hauptsåchlich finan- ausforderer im zweiten Wahlgang unterlegen
zieller und medialer Art) erreicht. Jelzins sein wçrde, doch die KPRF versåumte es, ihn
mæglicherweise das Ergebnis veråndernder zu ersetzen oder die Fçhrungsspitze radikal
Herzanfall zwischen beiden Wahlrunden zu verjçngen ± ein verbreitetes Problem kom-
wurde der Úffentlichkeit vorenthalten. Ûber- munistischer Parteien, da der demokratische
dies wurden die regionalen Wahlsysteme auf Zentralismus die Mæglichkeit zur Kritik und
Parteiebene erst 2003 geschaffen, wodurch die Organisationsfåhigkeit von Gegnern ein-
das Potential der Partei als landesweite Kraft schrånkt. In der Tat wurde viel Aufmerksam-
erheblich geschwåcht wurde. Darçber hinaus keit einer anderen Altlast der KPdSU gewid-
çbte die Putin-Pråsidentschaft verstårkt ad- met, dem Bemçhen um die Beseitigung von
ministrativen und finanziellen Druck aus, um Rivalen und dem Streben nach ¹Vorhut-
die Kommunisten in ihrer Position als fçgsa- schaftª, also nach Vormachtstellung gegen-
me und stabile Opposition zu halten, die ihr çber den verbçndeten Parteien und Gruppie-
die Macht im Grunde genommen nicht strei- rungen, was die Partei an der Bildung eines
tig machen konnte. Tatsåchlich stellte der wirklich umfassenden Wahlbçndnisses hin-
Kreml bei mehreren Gelegenheiten linke derte.
Herausforderer (z. B. den Mutterlands-Block
im Jahr 2003 und die Partei ¹Gerechtes Russ- Bei der Duma-Wahl im Jahr 2003 waren
landª im Jahr 2007) auf, um das kommunisti- die Probleme der Partei hausgemacht: Sie
sche Lager zu spalten und zu beherrschen. Es setzte Dollarmillionåre des Úlkonzerns
war ein schwerer Schlag fçr die Partei, als der Yukos zu dem Zeitpunkt auf ihre Wahllisten,
Unternehmer Gennadi Semigin im Jahre 2004 als sie ein gegen die Oligarchen gerichtetes
vom Kreml zur Bildung einer Splitterpartei Wahlprogramm verabschiedet hatte. In einem
ermuntert wurde, was in einem Mitglieder- von der Festnahme des Yukos-Geschåftsfçh-
verlust fçr die KPRF von zwei Dritteln (auf rers Chodorkowski und einer massenhaften

32 APuZ 47/2008
antioligarchischen Gegenbewegung gepråg- fåhrdungen der Demokratie zu sprechen, seit
ten Wahlkampf bedeutete dies politischen Russland im Jahr 2005 von der Organisation
Selbstmord ± die KPRF bçûte die Hålfte ¹Freedom Houseª per se als ¹unfreierª Staat
ihrer Stimmen ein. Die landesweiten Wahlre- eingestuft wurde. Das Ausmaû, in dem die
sultate von 2003 bis 2007 (siehe die Tabelle) Behærden vielleicht selbst extremistisch sind,
entsprechen den kurz nach der Neugrçndung bleibt eine offene Frage.
1993 erreichten Ergebnissen, und trotz einer
gewissen Stabilisierung der regionalen Wahl- Eine der vielleicht gravierendsten Altlasten
ergebnisse sowie eines zweiten Rangs bei den der KPRF liegt darin, dass sie einen groûen
Pråsidentschaftswahlen 2008 ist der Regene- Teil ihrer Prinzipien dem politischen Autori-
rationsprozess der KPRF weiterhin fragil. tarismus gewidmet hat, gegen den sie nun
protestiert. Dies wird deutlich, wenn man
Sjuganows Reden mit der stark nationalisti-
Schlussbemerkung schen, staatszentrierten und oftmals antiwest-
lichen Rhetorik des Kremls wåhrend der
Inwieweit ist die KPRF tatsåchlich die Nach- Putin-Øra vergleicht.
folgepartei der KPdSU? Entgegen eigenen
Behauptungen scheint sie allenfalls noch ein Tatsåchlich hat Russlands fçhrende Partei
Schatten ihrer selbst zu sein: Seit 2008 betra- ¹Einiges Russlandª sowohl der KPRF als
gen die Mitgliederzahlen nur noch ein Hun- auch der KPdSU eine Menge in Bezug auf
dertstel der Vorgångerpartei; sie ist eine mar- Stil und sogar Inhalt (ihre Ideologie ist gemå-
ginalisierte Oppositionspartei und nicht ûigt konservativ) zu verdanken. Stark zentra-
mehr die Macht im Einparteienstaat. Statt lisiert, åuûerst diszipliniert sowie das Parla-
um eine dynamische, revolutionåre Vorhut ment und die Exekutive mit ihren 1,7 Millio-
handelt es sich um eine alternde Parlaments- nen Mitgliedern ± darunter die Mehrheit der
partei. politischen Elite ± dominierend, hat diese
Partei die komplette Kontrolle çber russische
Ist die KPRF noch eine extremistische Par- Wahlen erlangt und åhnelt zunehmend einer
tei? Auf jeden Fall drohen das Schweigen zu Neuauflage des ¹Staates im Staateª zu Zeiten
Stalin, der Antisemitismus und der einge- der KPdSU. Es ist umstritten, ob der Autori-
fleischte Nationalismus, rhetorisch betrach- tarismus von ¹Einiges Russlandª, ihr zeitwei-
tet, ¹die verschiedenen scheuûlichen Ge- liger Nationalismus und die Zugehærigkeit
spenster, welche die politische Philosophie militanter Jugendgruppen als extremistisch
Europas seit zwei Jahrhunderten heimsu- zu gelten haben. Es ist aber zunehmend rele-
chenª, in einer Partei zu vereinigen. 6 Gleich- vant, in dem hier in Rede stehenden Zusam-
wohl hat die KPRF oftmals die Demokratie, menhang nach ¹Einiges Russlandª, nicht
den Parlamentarismus und das Mehrparteien- mehr unbedingt nur nach der KPRF zu fra-
system verteidigt, vor einer pråsidialen ¹Dik- gen.
taturª gewarnt und damit 2008 von der Pro-
testwahl unzufriedener Demokraten profi-
tiert. Mit allen Vor- und Nachteilen ist sie
derzeit die einzige halbwegs unabhångige
Oppositionspartei in Russland. Dennoch fållt
es schwer, die Partei als ernstzunehmende de-
mokratische Kraft zu betrachten, solange sie
die philosophische Grundlage westlicher Li-
beraldemokratien weiter ablehnt.

Es kann als Zeichen des Niedergangs der


Partei gesehen werden, dass sie nicht långer
die Hauptbedrohung fçr die russischen De-
mokratie darstellt, so wie es fçr den çberwie-
genden Teil der 1990er Jahre dargestellt
wurde. Tatsåchlich ist es çberholt, von Ge-
6 Vgl. R. Sakwa (Anm. 3), S. 152.

APuZ 47/2008 33
Jçrgen P. Lang aus der PDS rekrutierte, zu einem relativ star-
ken politischen Akteur im demokratischen
System der Bundesrepublik entwickeln,

Wandel und Zweifel an ihrer demokratischen Orientie-


rung jedoch bis heute nicht ausråumen kæn-
nen. Dieser Beitrag will die Frage beantwor-

Beharrung: ten, ob diese Zweifel gerechtfertigt sind. Ein


Vergleich mit der SED spinnt den roten

SED und PDS


Faden.

Die SED vor 1989


Die DDR war der Gegenentwurf zu einem
F ast zwei Jahrzehnte nach dem Zusam-
menbruch des SED-Regimes hat das
Schænreden der DDR Konjunktur. Ungeniert
demokratischen Verfassungsstaat. Gewalten-
teilung existierte nicht, stattdessen eine unter
Lenins Begriff ¹demokratischer Zentralis-
treten ehemalige Offiziere des Ministeriums
musª firmierende Ordnung, die staatliche
fçr Staatssicherheit (MfS) an die Úffentlich-
Strukturen, gesellschaftliche Organisationen
keit, um ihre Version der Geschichte kundzu-
und die Rechtsprechung dem Apparat, dem
tun. Die 1990 in PDS umbenannte SED hat
Diktat und der Willkçr der SED unterwarf.
nicht unwesentlich zu dieser Kultur des Um-
Weder stand die DDR auf dem Boden eines
deutens beigetragen. 1
Jçrgen P. Lang Auch nach ihrer Fusi- Konstitutionalismus, noch konnten die
Dr. phil., geb. 1964; Politikwis- on mit der ¹Wahlal- Bçrgerinnen und Bçrger in freien Wahlen
senschaftler und Redakteur ternative Arbeit und entscheiden. Die Partei musste ihre von der
beim Bayerischen Fernsehen, Soziale sowjetischen Siegermacht nach dem Zweiten
Gerechtig-
Floriansmühlstraûe 60, keitª (WASG) zur Weltkrieg installierte Herrschaft pseudolegi-
80939 München. Partei ¹Die Linkeª timieren: durch einen instrumentalisierten
j@jplang.de tut sie sich schwer, die ¹Antifaschismusª und durch den Marxismus-
Leninismus.
DDR als das zu be-
zeichnen, was sie wesentlich war: eine kom-
Aus diesem Dogmengebåude leitete die
munistische Diktatur nach sowjetischem Vor-
SED sowohl ihre ¹fçhrende Rolleª in Staat
bild. Vielen in der Partei galt die DDR vor
und Gesellschaft als auch ein Wahrheitsmo-
allem als Paradies sozialer Fçrsorge; dieses
nopol ab. Ihre Interpretationen politischer
Bild scheint sich ins kollektive Gedåchtnis
und gesellschaftlicher Ereignisse waren eben-
des PDS-Elektorats in den ostdeutschen Bun-
so sakrosankt wie ihre Entscheidungen. Auch
deslåndern eingebrannt zu haben. Vor allem
die Partei selbst war nicht demokratisch orga-
dort ziehen ¹antikapitalistischeª und ¹anti-
nisiert: Alle Macht ging vom Politbçro an der
westlicheª Ressentiments die Demokratie in
Spitze aus; interne Kontrolle fehlte. Dies
Zweifel. 2
1 Vgl. Hubertus Knabe, Die Tåter sind unter uns.
Die Begriffe Diktatur und Extremismus Ûber das Schænreden der SED-Diktatur, Berlin 2008.
sind Sammelbezeichnungen fçr antidemokra- 2 Vgl. Viola Neu, Das Janusgesicht der PDS. Wåhler

tische Staatsformen bzw. Bestrebungen. Be- und Partei zwischen Demokratie und Extremismus,
schreibt die Wissenschaft nach 1989 ± von Baden-Baden 2004; Michael Gerth, Die PDS und die
marxistischen Ansåtzen abgesehen ± die SED ostdeutsche Gesellschaft im Transformationsprozess.
Wahlerfolge und politisch-kulturelle Kontinuitåten,
nahezu einhellig als Diktaturpartei, kursieren
Hamburg 2003.
gegensåtzliche Auffassungen zur demokrati- 3 Vgl. zuletzt Eckhard Jesse/Jçrgen P. Lang, DIE
schen Qualitåt der ¹Linkenª. Normative LINKE ± der smarte Extremismus einer deutschen
Analysen verweisen durchweg auf deren ex- Partei, Mçnchen 2008; Armin Pfahl-Traughber, De-
tremistischen Charakter, 3 wohingegen eher mokratietheoretische Anfragen an die Partei ¹Die
parteiensoziologisch ausgerichtete Studien Linkeª. Kritische Bemerkungen zu einigen Auf-
fassungen und Handlungen, in: Deutschland Archiv
dies verneinen bzw. eine solche Problemstel- (DA), 41 (2008) 3, S. 402±407.
lung von vornherein als irrelevant, wenn 4 Vgl. zuletzt Dan Hough/Michael Koû/Jonathan
nicht unsinnig ansehen. 4 Unbestreitbar hat Olsen, The Left Party in Contemporary German Poli-
sich ¹Die Linkeª, die sich zum græûten Teil tics, Basingstoke 2007.

34 APuZ 47/2008
sollte es Apologeten spåter erleichtern, die eine identitåre Demokratie, in der der Volks-
Verantwortung am Unrecht des SED-Regi- wille mit dem Parteiwillen zusammenfallen
mes auf die jeweils hæhere Instanz zu schie- sollte. Ein solcher Interessenmonismus wi-
ben. derspricht dem Interessenpluralismus einer
freiheitlichen Gesellschaft diametral.
Freiheit und Menschenrechte unterwarf die
SED der marxistisch-leninistischen Ideologie Unverkennbar hat es aber in der politi-
± ein Freibrief, diese Grundwerte in der politi- schen Realitåt der DDR spåtestens in den
schen Praxis zu ignorieren. Der Bau der 1980er Jahren begrenzten gesellschaftlichen
Mauer 1961, das MfS und die politische Justiz Pluralismus gegeben. Eckhard Jesse ± er wen-
wurden zu Symbolen der Unfreiheit und der det die von Juan J. Linz entwickelten Krite-
Missachtung fundamentaler Rechte. Von rien 9 an ± hålt deshalb fçr diese Spåtphase die
vornherein war in der Dogmatik der SED die Bezeichnung ¹totalitårª fçr unangebracht
¹persænliche F(reiheit) des Menschen (. . .) und erkennt Indizien einer ¹autoritårenª
immer an gesellschaftliche Voraussetzungen Diktatur. Die SED habe den politischen Mo-
gebunden. Sie bestimmen den konkreten Rah- nismus nicht mehr vollståndig durchsetzen
men und den Inhalt der F(reiheit) des Indivi- kænnen, der Marxismus-Leninismus habe
duums.ª 5 In einer Diktatur kann dies nur hei- seine handlungsanleitende Funktion zuneh-
ûen: Der Potentat bestimmt, was Freiheit zu mend verloren. 10 Es gelang nicht, die DDR-
bedeuten hat; sie fungiert nicht als unpoliti- Bçrger vollståndig zu ¹sozialistischen Per-
scher Wert an sich. Entsprechend verkehrte sænlichkeitenª zu erziehen. Trotz einer steti-
die SED die Menschenrechte ± an deren erster gen Ausweitung ihres Repressionsapparates
Stelle bezeichnenderweise das ¹Recht auf Ar- MfS konnte die Partei in der Øra Honecker
beitª stand ± zu Pflichten in der sozialistischen die Bildung einer regimekritischen, wenn
Gesellschaft. Menschenrechte seien nicht indi- auch im Vergleich etwa zu Polen weit schwå-
viduell, sondern kænnten ¹nur als Klassen- cheren und weniger fundamental argumentie-
rechte existieren und verwirklicht werdenª. 6 renden Opposition nicht verhindern. Zu-
gleich nahm die Zahl der Ausreisewilligen
Was die SED als ¹Demokratieª ausgab, stetig zu.
hatte mit einer freiheitlichen politischen Ord-
nung nichts zu tun. Die Exegeten des Marxis- Dennoch hielt die SED bis zum bitteren
mus-Leninismus wandten sich explizit gegen Ende an ihrem totalitåren Machtanspruch
die ¹bçrgerliche Ideologieª, die Diktatur und fest: einer umfassenden Kontrolle und ideolo-
Demokratie als Antipoden gegençberstellt. gischen Durchdringung der gesamten Gesell-
Solange die ¹klassenlose Gesellschaftª des schaft. 11 Der Volksaufstand im Juni 1953 war
Kommunismus nicht erreicht sei, handele es ein Warnschuss gewesen, konnte er doch nur
sich vielmehr um ¹voneinander nicht zu tren- mit Hilfe der Sowjetarmee niedergeschlagen
nende Seiten der staatlichen Organisationª. 7 werden. Úkonomische und kulturelle ¹Libe-
Die Methoden der Diktatur waren aus dieser ralisierungenª unternahm die SED danach
Sicht in der noch nicht ¹klassenlosenª DDR nur vorsichtig und nahm sie wieder zurçck,
legitim. Theoretisch konnten tatsåchliche und sobald sie das Gefçhl hatte, ihr gleite das
vermeintliche Renegaten als ¹Klassenfeindeª Heft aus der Hand. Dieser dogmatische Starr-
gebrandmarkt und nach Belieben schikaniert sinn, den Ende der 1980er Jahre selbst die
werden, was in der Praxis auch geschah. Ent- wirtschaftliche Misere der DDR, der wach-
sprechend war die ¹sozialistische D(emokra- sende Unmut in der Bevælkerung und die
tie) darauf gerichtet, das ganze Volk in die Perestroika beim ¹Groûen Bruderª Sowjet-
Leitung und Planung des staatlichen, wirt- union nicht erweichen konnten, sollte
schaftlichen und kulturellen Lebens einzube- schlieûlich maûgeblich zur plætzlichen und
ziehen und damit die echte Volksherrschaft unerwarteten Implosion der DDR beitragen.
zu verwirklichenª. 8 Die SED propagierte
9 Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Re-

gimes, Boulder±London 2000.


5 Alfred Kosing, Wærterbuch der marxistisch-leni- 10 Vgl. Eckhard Jesse, War die DDR totalitår?, in:

nistischen Philosophie, Berlin 19873, S. 184. APuZ, (1994) 40, S. 12 ±23.


6 Ebd., S. 341. 11 Vgl. die Beispiele bei Klaus Schroeder, Der SED-
7 Ebd., S. 105. Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, Mçnchen
8 Ebd. 1998.

APuZ 47/2008 35
Die SED/PDS und die demokratische Rechtsanwalt Gregor Gysi, dem Dresdener
Oberbçrgermeister Wolfgang Berghofer oder
Revolution dem Magdeburger SED-Bezirkschef Wolf-
gang Pohl Leute der zweiten Reihe saûen,
Die DDR-Diktatur zerfiel innerhalb weniger fçllte das Machtvakuum in der Partei.
Wochen. Die SED versuchte diesen Prozess
zwar nicht mit allen Mitteln ± vor einer ¹chi- Mit der Strategie, die Opposition in eine
nesischenª Reaktion auf die Groûdemonstra- ¹Regierung der Nationalen Verantwortungª
tionen in Leipzig, Berlin und anderen Stådten einzubinden, wollte Modrow das Vertrauen
schreckte sie zurçck ±, wohl aber so gut es der Bçrgerinnen und Bçrger zurçckgewin-
ging aufzuhalten, und geriet schnell selbst in nen, um die DDR unter sozialistischen Vor-
den Sog der Revolution. Was die Partei auch zeichen zu bewahren ± und scheiterte. Mo-
in den verschiedenen Phasen unternahm, sie drow konnte weder den Massenexodus noch
hinkte den sich çberschlagenden Ereignissen die Erosion staatlicher Strukturen, noch gar
hinterher. Auch der Wandel der SED war die Wiedervereinigung aufhalten. Doch bis es
weitgehend von auûen erzwungen. Nachdem soweit war, brauchte der Ministerpråsident
sich das Politbçro am 17. Oktober 1989 zum den Rçckhalt der Partei. Die SED/PDS war
Sturz Erich Honeckers als Generalsekretår zu dieser Zeit ± bis zu den ersten und letzten
durchgerungen hatte, rçckte dessen politi- demokratischen Wahlen in der DDR am 18.
scher Ziehsohn Egon Krenz an die Spitze der Mårz 1990 ± keine Staatspartei mehr, wohl
Partei. Er hielt an der ¹fçhrenden Rolleª der aber Regierungspartei. Als solche saû sie bzw.
SED fest. Sein Versuch, dem Aufstand der saûen ihre neuen Kæpfe mit den Bçrger-
Bçrger durch Dialog mit den allerdings nach rechtsgruppen am Zentralen Runden Tisch ±
wie vor als ¹Verfassungsfeindeª stigmatisier- und dort zwischen den Stçhlen: Einerseits
ten Oppositionsgruppen die Spitze zu neh- musste die diskreditierte SED, çber der das
men, scheiterte. Selbst in der SED regte sich Damoklesschwert des Verbots hing, auf die
Unmut çber die mangelnde Reformbereit- Opposition zugehen, andererseits die Politik
schaft. Die mit Korruptionsvorwçrfen kon- der Regierung vertreten.
frontierte Parteispitze verspielte das Vertrau-
en nicht nur des Volkes, sondern auch der ei- So stand das håufig gebrauchte, vereinnah-
genen Basis. Zehntausende Mitglieder mende ¹Wirª, mit dem sich die Partei an die
verlieûen binnen kurzer Zeit die SED. Seite der Bçrgerrechtler zu stellen versuchte,
im Gegensatz zu ihren Warnungen, dem
Wenige Tage nach dem Fall der Mauer am Runden Tisch allzu viel Macht zu gewåhren.
9. November stieg der Dresdener SED-Be- Beim Thema Auflæsung des MfS ± wohl das
zirkschef Hans Modrow zum starken Mann wichtigste Anliegen der Oppositionellen ±
in der DDR auf ± nicht als Parteivorsitzender, wagte die SED keinen offenen Affront, mach-
sondern in dem zuvor relativ einflusslosen te aber Modrows Taktik des Hinhaltens, Ab-
Amt des Ministerpråsidenten. Dem frischge- wartens und Verheimlichens mit. Die Fort-
backenen Politbçromitglied eilte der Ruf des existenz des ± spåter zynisch zum Sçnden-
¹Reformersª voraus. Von weitgehenden Zu- bock stilisierten ± MfS unter anderem Namen
geståndnissen wie freien Wahlen wollte Mo- begrçndete sie mit der Angst vor einem ¹Si-
drow zwar zunåchst nichts wissen. Doch cherheitsvakuumª in der DDR und half mit,
unter ihm wurde die ¹fçhrende Rolleª der den Rechtsextremismus als neues Feindbild
SED aus der Verfassung gestrichen. Er ver- aufzubauen. 13 Hauptmotiv war die Rettung
stand es geschickt, das Machtmonopol vom der Strukturen der DDR und der Partei selbst
Parteiapparat auf die staatlichen Institutionen ± auch gegen den Widerstand aus der eigenen
zu verschieben. 12 Die ¹alte Gardeª der SED Basis.
war kaltgestellt. Politbçro und Zentralkomi-
tee traten am 3. Dezember zurçck. Ein so ge- Es ist davon auszugehen, dass immerhin
nannter ¹Arbeitsausschussª, in dem mit dem knapp die Hålfte der verbliebenen Mitglieder
12 Vgl. Manfred Wilke, ¹Wenn wir die Partei retten
die Auflæsung der SED wollte. Auf dem Son-
wollen, brauchen wir Schuldigeª. Der erzwungene
Wandel der SED in der Revolution 1989/90. Interview 13 Vgl. ausfçhrlich Jçrgen P. Lang, Im Sog der Revo-

mit Wolfgang Berghofer, in: Jahrbuch fçr Historische lution. Die SED/PDS und die Auflæsung der Staats-
Kommunismusforschung 2007, Berlin 2007, S. 407 f. sicherheit 1989/90, in: DA, 40 (2007) 1, S. 97±105.

36 APuZ 47/2008
derparteitag im Dezember 1989 gelang es der ¹stalinistischeª Positionen fçr unvereinbar
Fçhrung unter dem neuen Vorsitzenden Gysi mit einer Mitgliedschaft zu erklåren. Die
jedoch, die Delegierten vom Fortbestand der PDS war zu keinem Zeitpunkt eine Bastion
SED zu çberzeugen, wobei die Rettung des demokratisch Gelåuterter.
riesigen Parteivermægens ein nicht unwesent-
liches Motiv gewesen sein dçrfte. Die mas- Krisenzeiten der PDS waren stets Hoch-
senhaften Austritte konnte sie damit jedoch zeiten der ¹Orthodoxenª. So drångte das De-
nicht stoppen. Die PDS, wie die Partei ab Fe- saster bei der Bundestagswahl 2002 die ¹Re-
bruar 1990 hieû, stand nicht in der Tradition formerª vorçbergehend in die Defensive. Die
derer, die fçr die Auflæsung der Partei votiert heftigen ideologischen Auseinandersetzungen
hatten, und auch nicht in der Tradition der zwischen den Parteiflçgeln ± es brauchte fçnf
demokratischen Revolution. Als Zeichen der Jahre, bis die PDS 2003 ein neues Grundsatz-
Erneuerung vollzog der Sonderparteitag zwar programm verabschieden konnte ± zeigten:
einen Bruch mit dem ¹Stalinismusª. Doch Die zahlenmåûig kleine KPF war keine
hatte dieser Begriff vor allem apologetische Randerscheinung, sondern gehærte zum Kern
Funktion; von einer grundlegenden Kritik an der Partei. Bestrebungen, den Einfluss der
der DDR-Diktatur war die PDS weit ent- ¹Orthodoxenª zu begrenzen, zielten darauf,
fernt. Jahre spåter sollte sich erweisen, dass ¹Politikfåhigkeitª zu erlangen und die PDS
nicht einmal ¹Antistalinismusª ohne Weiteres regierungsfåhig zu machen. Die herkæmmli-
als Konsens der Partei firmieren konnte. chen kommunistischen Strategien hielten die
¹Reformerª zwar fçr untauglich, aber nicht
fçr untragbar. Dieselben Motive steckten hin-
Die PDS nach 1990 ter der ¹Abgrenzungª zu linksextremisti-
schen Organisationen, deren Angehærige sich
Die ehemaligen Staatsparteien Osteuropas zuhauf in der West-PDS festgesetzt hatten.
nahmen nach dem Zusammenbruch des Nichts dagegen einzuwenden hatte die Partei
Kommunismus denkbar unterschiedliche allerdings, dass Personen aus dem linksextre-
Wege. Die polnisch-amerikanische Politolo- men Spektrum PDS-Mandate wahrnahmen.
gin Anna M. Grzymaøa-Busse hat aufgezeigt,
dass jene Organisationen in den neuen De- Die PDS håtte zuletzt anders ausgesehen,
mokratien reçssieren konnten, die sich pro- wåre sie nicht vier Jahre nach der Wiederver-
grammatisch, personell und organisatorisch einigung in den neuen Bundeslåndern ± weni-
am deutlichsten von der Vergangenheit ab- ger wegen ihrer politischen Angebote, son-
setzten. Der PDS stellte die Autorin ein mit- dern wegen ihres Habitus als Anti-West-Par-
telmåûiges Zeugnis aus. 14 Was ihre Organisa- tei ± auf unverhofft groûen Wåhlerzuspruch
tion betrifft, hat die PDS eindeutig mit der gestoûen. Die Wahlerfolge etablierten die
SED gebrochen. Das leninistische Parteiprin- PDS als Machtfaktor im ostdeutschen Partei-
zip machte innerparteilicher Demokratie engefçge. Ihre Abgeordneten bewiesen
Platz. Neue Eliten ± zumeist aus der mittle- schnell Verlåsslichkeit und brachten mit den
ren Funktionårsebene der SED stammend ± ¹Pragmatikernª eine neue Stræmung hervor,
ersetzten die alten Kader. Als ¹Reformerª die mit wenig ideologischem Gepåck daher-
trieben sie die Erneuerung der Partei voran, kam. 15 Die indirekte oder direkte Beteiligung
konnten aber ihre Vorstellungen nur bedingt an SPD-gefçhrten Landesregierungen leitete
durchsetzen. Denn ¹orthodoxenª Gruppie- in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpom-
rungen wie der Kommunistischen Plattform mern und Berlin programmatische Verånde-
(KPF) ± sie wåhnte die PDS auf dem Weg der rungen ein. Radikale Forderungen wichen
¹Sozialdemokratisierungª und Anpassung an realistischen Konzepten. Die betreffenden
das ¹Systemª ± gelang es beizeiten, die çber- Landesverbånde entfernten sich dabei weit
alterte und håufig im traditionellen Denken von der Strategie der ¹Reformerª, die das
gefangene Basis auf ihre Seite zu ziehen. Die Mitregieren mit der Formierung gesellschaft-
Eliten wechselten, die Mitglieder nicht. 1995 licher Opposition verknçpfte. Vor allem die
scheiterten die ¹Reformerª mit dem Versuch,
14 Vgl. Anna M. Grzymaøa-Busse, Redeeming the 15 Dies problematisieren Michael Koû/Dan Hough,

Communist Past. The Regeneration of Communist Die Linkspartei.PDS nach der Bundestagswahl 2005.
Parties in East Central Europe, Cambridge 2002, Die ostdeutschen Landesverbånde als Hort des Prag-
S. 272 ff. matismus?, in: DA, 40 (2007) 1, S. 11 ±19.

APuZ 47/2008 37
Berliner PDS tat sich immens schwer damit, le des Chemnitzer Programms. Ehrlicher
das, was man den rigiden Sparvorgaben ab- wåre die umgekehrte Formulierung gewesen:
trotzen konnte, als sozialistische Politik zu Sozialistische Politik ist Bezugspunkt der
verkaufen. Wåhler und Parteibasis goutierten Freiheit. Denn dort steht auch: ¹Gerechtig-
die Regierungsbeteiligung, nicht die Regie- keit verlangt, dass Freiheiten, die soziale
rungspolitik. Gruppen fçr sich in Anspruch nehmen, zu
Freiheiten aller anderen werden kænnen.
In anderen Landesverbånden gab es eine Freiheit ist nicht als egoistisches Haben, son-
entgegengesetzte Entwicklung. In Branden- dern als solidarisches Tun zu erreichen.ª 17
burg war die PDS jahrelang in vorauseilen- Eine solche Freiheit ist kein Individual-, son-
dem Gehorsam auf die SPD zugegangen, dern ein Kollektivrecht.
bevor sie resigniert in fundamentaloppositio-
nelle Attitçden zurçckfiel. Im Krisenjahr Selbst die ¹Reformerª sahen Freiheit nicht
2003 warnten selbst ¹Reformerª davor, die als politisch neutral an, sondern verknçpften
auûerparlamentarische Orientierung zu ver- sie eng mit bestimmten Forderungen ± zum
lieren. Die PDS hat den strategischen Wider- Beispiel dem Recht auf Arbeit, soziale Sicher-
spruch von ¹Widerstand und Ministeramtª, heit oder Gesundheit, oder Pflichten der Bçr-
wie es die zeitweilige Vorsitzende Gabriele ger, etwa zur ¹Wahrnahme sozialer und ækolo-
Zimmer einmal nannte, nie klåren kænnen. gischer Aufgabenª. 18 Die propagierte Selbst-
Ihre federfçhrenden Strategen hielten aber bestimmung der Individuen wird kanalisiert in
stets an dem Anspruch einer sozialistischen eine ¹solidarische Entwicklung aller durch be-
¹Transformation der Gesellschaftª und einer wusste Rahmensetzungª 19. In diesem Sinne
¹linken Hegemonieª fest, in welche die SPD kann nur eine çbergeordnete Instanz ± der
durch ¹Mitte-Links-Bçndnisseª langfristig Staat, die Partei ± definieren, was ¹Freiheitª
auch im Bund eingespannt werden sollte. ist. Entsprechend sollte an die Stelle des Parla-
Man kann von einer Måûigung, aber auch Er- mentarismus eine ¹partizipative Demokra-
weiterung der kommunistischen Revolutions- tieª 20 treten, die eine politische Mobilisierung
und Klassenkampfideologie sprechen. Wåh- der Bçrger fçr bestimmte politische Ziele ein-
rend die KPF auf dem strikten Antagonismus schloss und die formale Trennung von Staat
von Kapitalismus und Sozialismus beharrte und Gesellschaft aufhob. Es ist offensichtlich,
und die DDR zum Vorbild nahm, lieûen die dass das identitåre Demokratieverståndnis der
¹Reformerª offen, welche Gesellschaft sie an- SED in der PDS fortwirkte, nicht nur bei den
strebten. Ihrer Kritik an der ¹undemokrati- ¹orthodoxenª Kommunisten.
schenª DDR folgte kein eindeutiges Plådoyer
fçr den demokratischen Verfassungsstaat. Ei-
nerseits bekannte man sich verbal zu dessen ¹Die Linkeª
Institutionen und Prinzipien, legte anderer-
seits aber ein rein instrumentelles Verhåltnis Der Zusammenschluss mit der westdeutschen
an den Tag, bæten doch Pluralismus und Protestpartei WASG beendete die Isolation
Rechtsstaatlichkeit ¹trotz ihrer Dienlichkeit der ostdeutschen Ideologiepartei PDS in den
als Herrschaftsmechanismus eine Chance fçr alten Bundeslåndern. Die WASG war als Re-
Gegenmåchteª. 16 aktion auf die ¹neoliberale Wendeª der SPD
entstanden und brachte zahlreiche ent-
Im Laufe der Zeit rçckte mit der Freiheit tåuschte SPD-Mitglieder und Gewerkschafter
ein demokratischer Grundwert ins Zentrum in ¹Die Linkeª. Bei Wahlen stieû die neue
der zunehmend moderaten PDS-Programma- Formation in eine Klientel vor, die zuvor
tik. Allzu anstæûige Forderungen wie die Eta- 17 Programm der Partei des Demokratischen Sozialis-
blierung von Gegenmåchten ¹gegen den mus, Berlin 2003, S. 3.
Staatª hatte man ebenso entsorgt wie die po- 18 Michael Brie/Dieter Klein/Andr Brie, Programm

sitive Wçrdigung der russischen Oktoberre- der Partei des Demokratischen Sozialismus ± Entwurf,
volution. ¹Freiheit ist der Bezugspunkt sozia- in: PDS-Pressedienst vom 27. 4. 2001, S. 14.
19 Michael Brie, Ist sozialistische Politik aus der Re-
listischer Politikª, hieû es an exponierter Stel-
gierung heraus mæglich? Fçnf Einwånde von Rosa
Luxemburg und fçnf Angebote zur Diskussion, in:
16 Programmkommission der PDS, Thesen zur pro- ders./Cornelia Hildebrandt (Hrsg.), Parteien und Be-
grammatischen Debatte, in: PDS-Pressedienst vom wegungen. Die Linke im Aufbruch, Berlin 2006, S. 89.
26. 11. 1999, S. 4. 20 Ebd., S. 90.

38 APuZ 47/2008
nicht zum klassischen PDS-Elektorat gehært Einbringen alternativer Gesetzeª 22 diene.
hatte: Arbeiter, Arbeitslose und sozial Schwa- Die Mobilisierung auûerparlamentarischen
che. Es fiel ihr leicht, sich als ¹wahre Sozial- Widerstands, der in der PDS sachte in den
demokratieª zu gerieren. Die Erwartung, die Hintergrund gerçckt war, scheint wieder zu
Fusion trage zur Demokratisierung der PDS hæheren Weihen zu kommen.
bei, hat sich indes bislang nicht erfçllt. Meist
wird çbersehen, dass mit der WASG nicht ¹Die Linkeª hat sich programmatisch noch
nur Anhånger des Sozialstaatskonzepts Willy nicht konsolidiert. Die so genannten ¹Eck-
Brandts in die Partei kamen und auch in den punkteª sind ein Provisorium, ein Steinbruch
Vorstand gelangten. In den westlichen Lan- an Forderungen der WASG und der PDS.
desverbånden stellen Linksausleger eine star- Analog zu deren Vorstellungen ordnet ¹Die
ke Bastion. Sie lieferten sich heftige Macht- Linkeª den Freiheitsbegriff ebenso wie die
kåmpfe mit gemåûigten Kråften und obsieg- Menschenrechte politischen Bedingungen
ten meist. unter. Alles in allem gibt sich das Grundsatz-
papier antikapitalistischer und radikaler als
In der ¹Linkenª ringen zwei starke ¹ortho- das Chemnitzer PDS-Programm, was ¹Sozia-
doxª ausgerichtete Stræmungen um die pro- listischeª und ¹Antikapitalistische Linkeª
grammatische Lufthoheit: die ¹Sozialistische ausdrçcklich begrçûten. Populistische Forde-
Linkeª, in der neben Trotzkisten auch linke rungen verdrångten realistische Konzepte der
Gewerkschafter eine Heimat fanden, und das PDS, etwa zur Steuerpolitik. Die Feststel-
vergleichsweise lose Netzwerk ¹Antikapita- lung, mit dem Zusammenbruch der Sowjet-
listische Linkeª, in dem unter anderem KPF- union sei ¹das græûte Gegengewichtª zu den
Aktivisten mitmachen. Die ideologischen ¹zerstærerischen Tendenzen des ungehemm-
Auseinandersetzungen, welche die PDS ge- ten kapitalistischen Marktesª 23 weggefallen,
prågt hatten, setzen sich in der neuen Partei liegt nahe an der alten SED-Ideologie des
fort, wenngleich mit einem anderen Frontver- Systemantagonismus, welche die PDS eigent-
lauf. Denn paradoxerweise finden die ¹Or- lich hinter sich lassen wollte. Auf dem Verei-
thodoxenª in Parteichef Oskar Lafontaine nigungsparteitag der ¹Linkenª çberboten
und den auf die Arbeiterklasse fixierten so- sich die Vorsitzenden Lafontaine und Lothar
zialen Populisten der Ex-WASG Verbçndete. Bisky mit Parolen wie: ¹Wir stellen die Sys-
Diese Phalanx bekåmpft alle tatsåchlichen temfrage!ª Nur die Unverblçmtheit dieser
und vermeintlichen ¹liberalenª Auswçchse in Worte çberrascht.
der Partei. Die Kommunisten in der ¹Lin-
kenª werden auf-, die ¹Pragmatikerª der Noch steht nicht fest, wohin die Partei pro-
alten PDS, die fçr eine demokratische Ent- grammatisch treibt ± zu einer sozialistischen
wicklung stehen konnten, abgewertet. 21 Richtungspartei oder zu einer linken Samm-
lungs- und Protestorganisation? In jedem Fall
Nicht zu Unrecht befçrchten viele ¹Refor- werden diejenigen einen schweren Stand
merª, der wegen seines autoritåren Fçhrungs- haben, die sich einer pragmatischen Politik
stils nicht allzu beliebte Lafontaine kænnte verschrieben haben. Insgesamt verfolgt ¹Die
¹Die Linkeª in eine reine Protestorganisation Linkeª kein offen extremistisches Projekt, ist
verwandeln ± und in die strikte Gegnerschaft aber in wichtigen Teilen angesichts ihrer Hal-
zu seiner alten Partei SPD treiben. Zudem tung zu demokratischen Grundwerten, der
scheint sich in der ¹Linkenª nun der Habitus fehlenden Abgrenzung zu Extremisten und
¹Opposition um der Opposition willenª zu der fundamentalen Systemgegnerschaft nicht
festigen. Wie den ¹orthodoxenª Kråften war çber alle Zweifel an ihrer demokratischen
den aus der WASG stammenden Aktivisten Orientierung erhaben. Schlågt man einen
die als ¹neoliberalª verdammte Regierungs- Bogen zur SED, treten neben Elementen des
politik der PDS schon immer ein Dorn im Wandels ebenso deutlich Indizien der Behar-
Auge. Die ¹parlamentarische Arbeitª, heiût rung zu Tage.
es nun, sei so zu ¹gestalten, dass sie der Zu-
sammenarbeit mit auûerparlamentarischen
22 Programmatische Eckpunkte, in: Disput, (2007)
Kråften der ,Linken`, der æffentlichen Dar-
stellung eigener Reformvorschlåge und dem April, S. 45.
23 Ebd., S. 35.

21 Vgl. E. Jesse/J.P. Lang (Anm. 3), S. 97 ±108.

APuZ 47/2008 39
Rachid Ouaissa Jahren zur Realitåt bzw. gar zur Normalitåt
in der politischen Landschaft der arabisch-is-

Der Aufstieg lamischen Welt. Von Marokko bis Indonesien


stellen sie groûe Fraktionen in den National-
parlamenten, sitzen in wichtigen Ausschçssen

islamistischer und sind sogar ± wie die MSP (Mouvement


pour la Socit de la Paix/Bewegung fçr eine

Parteien
Friedliche Gesellschaft) in Algerien ± an Re-
gierungskoalitionen beteiligt. Långst schmie-
den sie politische Allianzen mit anderen Op-
positionsparteien in der Innenpolitik und
fungieren somit als potentielle Ansprechpart-

D er Aufstieg sozial-religiæser politischer


Bewegungen in islamisch geprågten
Låndern und ihr Wandel zu mehrheitsfåhi-
ner fçr den Westen ± wåre nicht das Gespenst
des 11. September 2001.

gen, relativ breiten Volksparteien wird in der Islamistische Bewegungen


populåren, aber auch in der Fachliteratur
håufig mit Vorbehalten, ja mit Øngsten aufge- Die heutigen islamistischen Parteien sind das
nommen. In der Literatur werden oft nur die Ergebnis einer jahrzehntelangen, etappenwei-
Gewaltbereitschaft solcher Bewegungen, ihre se fortschreitenden Transformation sowohl
Rçckståndigkeit, ihr reaktionåres Verhalten der so genannten islamistischen Bewegungen
und ihr Hass auf ¹den als auch struktureller Faktoren der politi-
Rachid Ouaissa Westenª betont, vor schen Systeme der MENA-Region. Als Un-
Dr. rer. pol.; geb. 1971 in Alge- allem aber werden tergrundorganisationen mit einer relativ be-
rien; Gastprofessor für ¹Politik diese Bewegungen als grenzten Anzahl an Militanten waren die isla-
des Nahen und Mittleren eine Art politisches mistischen Organisationen in den 1950er und
Ostensª am Centrum für Nah- Novum dargestellt. In 1960er Jahren nach der Machtçbernahme na-
und Mittelost-Studien der Phi- der Debatte dominie- tionalistischer Bewegungen in Moscheen und
lipps-Universität Marburg; wis- ren trotz relativ brei- studentischen Milieus verankert. Erst Anfang
senschaftlicher Mitarbeiter am ter Themenwahl und der 1980er Jahre konnten die so genannten
Lehrstuhl für Internationale Be- disziplinårer Vielfalt fundamentalistischen Bewegungen nach dem
ziehungen, Institut für Politik- auch in der wissen- Scheitern der auf staatlichen Rentenzahlun-
wissenschaft an der Universität schaftlichen Literatur gen aufgebauten Entwicklungsmodelle und
Leipzig, Beethovenstraûe 15, modernisierungstheo- mit der einsetzenden Legitimitåtskrise der så-
04107 Leipzig. retische und kultur- kular-nationalistischen Eliten breitere Gesell-
ouaissa@uni-leipzig.de zentrierte Ansåtze. 1 schaftsschichten fçr sich mobilisieren. Diese
Dabei ist die Politisie- Bewegungen rekrutierten sich çberwiegend
rung von religiæsen und/oder ethnischen aus Mitgliedern der Mittelschicht, 3 eine frç-
Werten bzw. der Rçckgriff auf tradierte Kul- here und meist auch organische Klientel 4 der
turbestånde, um politische und ækonomische Staatsklasse, die sich nun bei ihrem gesell-
Ziele zu erreichen, nicht typisch fçr den schaftlichen Aufstieg blockiert sahen.
Islam und schon gar nicht fçr die Lånder des
Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA), 2 1 Vgl. z. B. Sigrid Faath/Hanspeter Mattes, Keine De-

wie die Geschichte Europas dokumentiert. mokratie fçr die Feinde der Demokratie? Algeriens
Dilemma im Umgang mit dem islamischen Funda-
Aus islamistischen Bewegungen entstanden mentalismus, in: Blåtter fçr deutsche und inter-
nationale Politik, (1992) 3, S. 281±289.
inzwischen in vielen Låndern politische Par- 2 MENA: Middle East and North Africa.
teien mit modernen Strukturen und Arbeits- 3 Vgl. Asef Bayat, Revolution without Movement,
stilen. Die Forschung çber islamistische Par- Movement without Revolution: Comparing Islamic
teien steckt indes noch in den Anfången. Bis- Activism in Iran and Egypt, in: Society for Compara-
her werden islamistische Parteien in der tive Study of Society and History, 40 (1998) 1, S. 157;
westlichen Literatur meist nicht als politische Richard Paul Mitchell, The society of the Muslim
Brothers, New York 1993, S. 329 f.
Parteien wahrgenommen, sondern mit terro- 4 Vgl. Hartmut Elsenhans, Abhångiger Kapitalismus
ristischen bzw. extremistischen Organisatio- oder bçrokratische Entwicklungsgesellschaft. Versuch
nen und gewaltbereiten Gruppierungen çber den Staat in der Dritten Welt, Frankfurt/M. ± New
gleichgesetzt. Dabei gehæren sie seit einigen York 1984, S. 165 ±192.

40 APuZ 47/2008
Gerade aufgrund der Entwicklungswege scheiterte die Ûbernahme marktradikaler
der 1960er und 1970er Jahre waren in vielen Strategien 8 im Zuge der Umsetzung von
arabischen Rentierstaaten breite Mittelschich- IWF-Maûnahmen durch die Staatsklasse am
ten entstanden. Neben der direkten Kooptati- Widerstand der Mittelschichten, die sich
on in die Staatsklasse durch verschiedene wegen des Marktversagens einem verånderten
Aufstiegskanåle wie die Massenorganisatio- Marktinterventionismus, einer moral econo-
nen, die herrschenden Parteien oder die Bç- my, unter nationalistischen und staatsorien-
rokratie bot der riesige æffentliche Sektor so- tierten Vorzeichen zuwandten. 9
ziale Aufstiegsmæglichkeiten. Mit Hilfe der
Erdælerlæse erzielten die Staatsfçhrungen be- Unter diesen Umstånden boten sich der
achtliche soziale Fortschritte. Die Schaffung Islam bzw. die Ethnie und Identitåt (z. B. die
von Arbeitsplåtzen, Lohnsteigerungen, Kauf- Berberbewegung in Nordafrika) als neue Ka-
krafterhæhungen, niedrige Preisen fçr Kon- nåle sozialen Protests an. Soziologisch 10 han-
sumgçter durch staatliche Subventionen und delte es sich çberwiegend um stådtische
ein kostenloses Gesundheits- und Schul- Bewegungen, die ihre Anhånger selten aus
system erhæhten den Lebensstandard und låndlicher, rçckståndiger, armer und analpha-
den Wohlstand der breiten Bevælkerung. betischer Bevælkerung rekrutierten. In der
Durch Rentenakkumulation und Rentendis- Literatur çber islamistische Bewegungen ist
tribution gewann der Staat ein hohes Maû an die Rede von einer ¹Koalition der Verliererª,
Autonomie gegençber der Gesellschaft und die sich aus Segmenten der Bourgeoisie, pro-
band zugleich diverse Gruppen der Gesell- letarisierten Staatsangestellten, dem Indus-
schaft klientelistisch an sich. Durch die auf trieproletariat, unterbeschåftigten Intellek-
der politisch motivierten Rentendistribution tuellen, Notabeln bzw. Angehærigen der
fuûende Sozialpolitik konnte die herrschende Oberschicht, Agrarkapitalisten und Studen-
Klasse alle gesellschaftlichen, politischen und ten zusammensetzt. 11
ækonomischen Bereiche an sich binden und
dadurch die fçr den sozialen Aufstieg nætigen Zurecht weist Gilles Kepel 12 darauf hin,
¹Kapitalsortenª determinieren. 5 Es gab nur dass der Erfolg und das Geschick der Islamis-
einen Islam, nåmlich den offiziellen. Das glei- ten nicht in der Mobilisierung und Einbin-
che galt fçr die Sprache und das gesamte kul- dung der Unterschichten liegt, sondern viel-
turelle Leben. mehr in der Fåhigkeit, eine Synthese zwi-
schen den Unterschichten und den
Das Scheitern der Entwicklungsmission
aufsteigenden (frommen) Mittelschichten
durch den Niedergang der staatlichen Renten
herzustellen. Denn die Islamisten pflegen
ab Anfang der 1980er Jahre fçhrte zur Dis-
einen radikalen Diskurs, der die frustrierten
kreditierung der nationalistisch-laizistischen
Diskurse. Die Legitimitåtskrise der herr-
8 Vgl. Joel Beinin, The Working Class and Peasantry
schenden Klassen sowie die verånderten in-
in the Middle East: From Economic Nationalism to
ternationalen Umstånde fçhrten zur so ge- Neoliberalism, in: Middle East Report, 210 (1999),
nannten politischen und ækonomischen Úff- S. 18 ±22.
nung (Infitah) in den meisten Låndern der 9 Vgl. Herta Mçller, Marktwirtschaft und Islam:

MENA-Region. Die beiden oft euphorisch Úkonomische Entwicklungskonzepte in der islami-


und verfrçht als Demokratisierung und Libe- schen Welt unter besonderer Berçcksichtigung Alge-
ralisierung bezeichneten Strategien gelten je- riens und Øgyptens, Baden-Baden 2002.
10 Vgl. Domenico Losurdo, Was ist Fundamentalis-
doch eher als das, was Naomi Chazan 6 als mus?, in: Marxistische Blåtter, 7 (2002), S. 8; Nilufer
survival strategies beschreibt. 7 Dagegen Narli, The Rise of the Islamist Movement in Turkey, in:
Barry M. Rubin (Hrsg.), Revolutionaries and Refor-
5 Vgl. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur mers. Contemporary Islamist Movements in the
Theorie des Handelns, Frankfurt/M. 1998. Middle East, Albany, N.Y. 2003, S. 125 ±140.
6 Vgl. Naomi Chazan, Patterns of State-Society In- 11 Vgl. Abdennasser Djabi, Al Intikhabat. Eddawla

corporation and Disengagement in Africa, in: D. oua El Mujtama˜ (Les lections, l'Etat et la socit),
Rothchild/dies. (Hrsg.), The Precarious Balance: State Algier 1998; N.M. Ayubi, The Political Revival of Is-
and Society in Africa, Boulder, Col. 1988, S. 122. lam: The Case of Egypt, in: Middle East Studies, 12
7 Vgl. Rachid Ouaissa, Die Dynamik der Staatsklasse (1980), S. 481±499; Gudrun Kråmer, Øgypten unter
in Zeiten niedriger Renten am Beispiel Algerien, in: Mubarak: Identitåt und nationales Interesse, Baden-
Martin Beck et. al. (Hrsg.), Der Nahe Osten im Um- Baden 1986, S. 106.
bruch ± Zwischen Transformation und Autoritarismus, 12 Vgl. Gilles Kepel, Jihad Expansion et Dclin de

Wiesbaden (i. E.). l'Islamisme, Paris 2000, S. 9.

APuZ 47/2008 41
Unterschichten mobilisiert, und propagieren lichkeiten. Daher sind sie auch zum Konsens
gleichzeitig mittelschichtorientierte Wirt- mit den herrschenden Eliten bereit.
schaftsprogramme, die deren sozialen Auf-
stieg ermæglichen sollen. 13 Wåhrend sich die Beispiele aus Asien zeigen, dass die Rolle
Mittelschichten erhofften, durch ihre Integra- dieser neuen Mittelschicht als Tråger einer
tion in die Bewegung die Regierenden zu Re- politisch-demokratischen Kultur umstritten
formen zu zwingen, hielten die Unterschich- und unsicher ist. In vielen Låndern haben sie
ten die Herrschenden fçr korrupt und bestan- sich mit den autoritåren Regimen arrangiert.
den auf ihrer Beseitigung, notfalls mit Die Angehærigen der neuen Mittelschichten
Gewalt. 14 Auch die Verhaltensstrategien die- haben kein groûes Interesse an einer demo-
ser Bewegungen, zwischen moderat und radi- kratischen Entwicklung, sondern vielmehr an
kal, hången von der Machtbalance der beiden einer staatlich gelenkten Kapitalisierung.
Schichten innerhalb der Bewegungen und Ihren Aufstieg und ihren Status sehen sie in
von der Fåhigkeit der Mittelschichten, die der Stårkung staatlicher Aufgaben. 16 Die
Unterschichten zu disziplinieren, ab. Somit neuen Mittelschichten erhoffen sich einen
wird auch die Macht der beiden Flçgel, mo- Zugang zu den staatlichen, politischen Ren-
derat und radikal, davon beeinflusst, welche ten durch verschiedene Aufstiegsmæglichkei-
Strategien der Staat aufbietet, um breitere ge- ten in der Bçrokratie und dem Staatsapparat.
sellschaftliche Schichten an sich zu binden. So kam es zugleich zur Radikalisierung und
Diese Strategien sind wiederum von den Internationalisierung der islamistischen Be-
staatlichen finanziellen Spielråumen, folglich wegungen (Al Qaida) sowie zur Integration
von der Rente, abhångig. moderater islamistischer Parteien (MSP in
Algerien, El Wasat in Øgypten).
Gerade wegen der politischen und soziolo- Jedoch hångt der Wille zur Partizipation
gischen Heterogenitåt ihrer Anhångerschaft nicht allein von den islamistischen Parteien
und den daraus resultierenden diametral ent- ab. Letzten Endes, trotz fast 20 Jahren kos-
gegengesetzten politischen Erwartungen der metischer Reformen in der MENA-Region,
beiden gesellschaftlichen Schichten kænnen entscheiden immer noch die autoritåren Re-
sich solche Bewegungen nur schwer wie eine gime darçber, welchen Akteuren der Zugang
moderne politische Partei organisieren und zum politischen System gewåhrt wird. Zwi-
sind deswegen zum Scheitern bzw. zur Spal- schen Integration, Exklusion und Inklusion
tung verurteilt. Zugleich scheint gerade nach verfolgen die Staaten der MENA-Region un-
den Bçrgerkriegserfahrungen in Algerien und terschiedliche Strategien in ihrem Umgang
Øgypten ± wobei die Fålle Palåstina und Li- mit islamistischen Parteien. 17
banon aus anderen Grçnden eine Ausnahme
bilden ± Gewalt als Strategie islamistischer
Bewegungen gescheitert zu sein. 15 Der radi- Islamistische Parteien: Wahlen,
kale Flçgel der Bewegungen ist auf der natio- Programme und Strategien
nalen Ebene militårisch besiegt worden. Der
moderate Flçgel hingegen sieht Optionen in Die islamistischen Parteien befinden sich seit
der politischen Partizipation durch Duldung einigen Jahren in einem intensiven Lern- und
und/oder Kooptation durch die Staatsklasse. Transformationsprozess. Nach Wahlerfolgen
Die Angehærigen der neuen Mittelschicht bei den ersten freien und pluralistischen Wah-
haben kein Interesse an einem Konflikt mit len in vielen Staaten der MENA-Region
dem Staat und seinem Sicherheitsapparat, haben auch diese Parteien, zumindest auf lo-
sondern erhoffen sich bessere Aufstiegsmæg- kaler Ebene, politische Verantwortung çber-
nommen. Somit mçssen sie nicht nur ihren
13 Vgl. Janine Clark, Social Movement Theory and 16 Vgl. Thomas Schwinn, Konvergenz, Divergenz

Patron-Clientelism. Islamic Social Institutions and the oder Hybridisierung? Voraussetzungen und Erschei-
Middle Class in Egypt, Jordan, Yemen, in: Compara- nungsformen von Weltkultur, in: Kælner Zeitschrift fçr
tive Political Studies, 7 (2004) 8, S. 941±968. Soziologie und Sozialpsychologie, 58 (2006), S. 213.
14 Vgl. Stephen C. Pelletiere, A Theory of Fundamen- 17 Vgl. Holger Albrecht/Kevin Kæhler, Dimensionen

talism: An Inquiry into the Origin and Development of des politischen Islam ± Eine Einfçhrung, in: dies.
the Movement, Strategic Studies Institute, Carlisle (Hrsg.), Politischer Islam im Vorderen Orient. Zwi-
1995. schen Sozialbewegungen, Opposition und Widerstand,
15 Vgl. Olivier Roy, L'islam mondialis, Paris 2002. Baden-Baden 2008, S. 19.

42 APuZ 47/2008
Wåhlern, sondern auch den Medien Rede und schen MSP und der marokkanischen PJD
Antwort stehen. 18 Islamistische Parteien (Parti de la Justice et du Dveloppement) zei-
pflegen zwar weiterhin einen populistischen gen, dass sich islamistische Parteien mit einer
Diskurs, jedoch sind sie långst von der Real- långeren parlamentarischen Tradition zuneh-
politik eingeholt worden. Inzwischen wissen mend von den pyramidal-hierarchischen Par-
auch die Kader dieser Parteien, dass es keine teistrukturen und von charismatischen Fçh-
Patentrezepte fçr gesellschaftliche und sozio- rungspersænlichkeiten trennen. 23 In islamisti-
ækonomische Probleme gibt, etwa nach dem schen Parteien etablieren sich nach und nach
Motto al-Islam huwa al-Hall, der Islam ist innerparteiliche Demokratie mit programma-
die Læsung. Somit sind sie nicht nur gezwun- tischer Ausrichtung und die dazu gehærigen
gen, Wahlprogramme vorzulegen, sondern Flçgelkåmpfe. Die Kandidaten fçr den Partei-
diese auch in æffentlichen Diskussionen zu vorsitz mçssen, wie die letzten Parteitage der
verteidigen, wie der Fall Øgypten zeigt. 19 MSP und PJD zeigten, um die Zustimmung
Zudem sind selbst Stammwåhler dieser Par- der Mitglieder werben und sich einer harten
teien kritischer geworden. Rhetorische oder innerparteilichen Konkurrenz stellen. An der
religiæse Qualitåten allein sind nicht mehr Fçhrungsspitze der Parteien ist der Trend zu
ausreichend fçr eine gute Platzierung auf der erkennen, dass sich zunehmend eine techno-
Kandidatenliste. 20 Auch die Pråsenz in den kratische Elite auf Kosten der alten religiæsen
Medien und in modernen Kommunikations- durchsetzt. Fçr diese neue Elite ist die Partizi-
råumen wie dem Internet ist eine Kompetenz, pation an Wahlen und die Pråsenz in Parla-
die sich islamistische Parteien im Zuge der menten zur hæchsten Prioritåten geworden.
Parteienkonkurrenz angeeignet haben, wie Damit gewinnen islamistische Parteien zuneh-
Ivesa Lçbben fçr die Muslimbrçder in Øgyp- mend an Autonomie gegençber ihren konser-
ten beschreibt: ¹Keine Organisation (. . .) hat vativen Mutterorganisationen.
auch nur eine annåhernd vergleichbare Inter-
netpråsenz, hat mehr Chatrooms und Web- Die Partizipation am politischen Wettbe-
sites als die Muslimbruderschaft.ª 21 werb ist mit politischen Kosten verbunden.
Die islamistischen Parteien scheinen in ein
Zugleich vollzieht sich durch den Einzug in ¹Partizipationsdilemmaª geraten zu sein:
die Nationalparlamente eine Institutionalisie- Durch ihre Kooptation nehmen sie es in Kauf,
rung und Modernisierung der Parteistruktu- bei den Marginalisierten der Gesellschaft,
ren. Durch die Teilnahme an Parlamentsaus- einem wichtigen Teil ihrer Anhångerschaft, an
schçssen und parlamentarischen Arbeitsgrup- Glaubwçrdigkeit zu verlieren. Die Erfahrun-
pen lernen die Abgeordneten islamistischer gen islamistischer Parteien in Marokko, Alge-
Parteien nicht nur mit ideologischen Gegnern rien, Jordanien und im Jemen zeigen, dass die
(etwa Nationalisten und Kommunisten) zu- Parteien durch solche Prozesse schwåcher
sammenzuarbeiten, sondern auch, auf unter- und nicht stårker geworden sind. Auch die po-
schiedlichen Politikfeldern ækonomisch und litische Einflussnahme, die sich solche Partei-
politisch und nicht religiæs zu argumentieren. en durch die Pråsenz in den Parlamenten oder
Dieser Lernprozess schlågt auf die innerpar- durch die Beteiligung an Regierungskoalitio-
teilichen Debatten und die Streitkultur durch nen versprochen haben, entpuppt sich oft als
und fçhrt zur ¹Deradikalisierungª und Pro- unrealistisch. Die Parteien sehen ihre Rolle
fessionalisierung. 22 Die Beispiele der algeri- nun håufig als Wåchter der islamischen Moral
und beschrånken sich auf die Durchsetzung
18 Vgl. John L. Esposito/Mohammed A. Muqtadar
einiger eher kosmetischer Gesetze, etwa des
Khan, Religion and Politics in the Middle East, in: Verbots der Ausstrahlung der so genannten
Deborah J. Gerner (Hrsg.), Understanding the con-
¹Star Akademieª 24 in Algerien und Kuwait.
temporary Middle East, Boulder, Col. 2000, S. 319 ±
343.
19 Vgl. Ivesa Lçbben, Die ågyptische Muslimbruder- 23 Vgl. Eva Wegner, The Contribution of Inclusivist

schaft ± Auf dem Weg zur politischen Partei? in: H. Approaches Towards the Islamist Opposition to Re-
Albrecht/K. Kæhler (Anm. 17), S. 75 ±97. gime Stability in Arab States: The Case of the Mo-
20 Interviews des Autors mit Gird Fath, Abgeordneter roccan Parti de la Justice et du Dveloppement.
der MSP, Algier, Februar 2007. Working Paper RSCAS, European University In-
21 I. Lçbben (Anm. 19), S. 84. stitute, San Domenico, Nr. 42 (2004).
22 Vgl. Mona El-Ghobashy, The Metamorphosis of 24 Diese TV-Show åhnelt der Unterhaltungssendung

the Egyptian Muslim Brothers, in: International Jour- ¹Deutschland sucht den Superstarª. Sie wird im Liba-
nal of Middle East Studies, 37 (2005) 3, S. 373 ±395. non produziert und in die arabische Welt ausgestrahlt.

APuZ 47/2008 43
Gewollt oder ungewollt sind islamistische der EU zu realisieren. Wie stehen islamisti-
Parteien långst zur Hauptsåule der autoritå- sche Parteien Demokratie und Marktwirt-
ren Regime geworden. Durch ihre so ge- schaft gegençber? Eine Analyse der Partei-
nannte ¹kritischeª Partizipation verleihen sie programme ergibt, dass islamistische Parteien
den Regimen Legitimation und verhindern zwar Marktæffnung fordern und die staatsin-
die Entstehung eines schlagkråftigen Opposi- terventionistische Vergeudung von Ressour-
tionsblocks. Weiterhin profitieren die ins Par- cen kritisieren, dem Staat aber weiterhin eine
lament gewåhlten Mitglieder islamistischer wichtige Rolle zuweisen, insbesondere in den
Parteien direkt und indirekt von der staatli- Auûenwirtschaftsbeziehungen, wo sie am Ar-
chen Rentenvergabe und von diversen ande- gument erlittener kolonialer Ausbeutung
ren Begçnstigungen, etwa der Vergabe von festhalten.
Importlizenzen. Die Gehålter von Abgeord-
neten sind in diesen Låndern unverhåltnismå- Die Texte dieser Parteien entwickeln sich
ûig hoch. Inzwischen verfolgen auch viele von einer kulturalistisch gefårbten Beschrei-
Mitglieder islamistischer Parteien vor allem bung von Prinzipien der moral economy zu
ihre Geschåftsinteressen und sind in Korrup- einer pragmatischen Darstellung von Politi-
tionsaffåren verstrickt. ken, die Markt und Plan unter den Bedingun-
gen der Globalisierung mit dem Schutz der
nationalen Wirtschaft vor Importkonkurrenz
Moderate Islamisten als Partner und der Færderung von Exportmæglichkeiten
fçr Europa? verbinden, von denen Beschåftigung und
technologische Entwicklung erwartet wer-
den. Die Parteien plådieren in ihren Program-
Die Auûenpolitik Europas gegençber der men fçr græûere Spielråume fçr den Privat-
arabisch-islamischen Welt basiert spåtestens sektor bei gleichzeitiger Verstårkung des
mit der im Jahre 1995 in Barcelona initiier- Wohlfahrtstaates und verurteilen Verschwen-
ten Euro-Mediterranen Partnerschaft (EU- dung und Korruption. Sie sind gegen Plan-
ROMED) auf den beiden Såulen Demokra- wirtschaft, sprechen sich aber nicht etwa fçr
tisierung und Marktwirtschaft. Das Ziel Eu- die Abschaffung des æffentlichen Sektors,
ropas ist die Schaffung einer Zone des sondern fçr seine Regulierung durch den
Friedens, der Sicherheit und der Prosperitåt Staat aus. Islamistische Parteien lehnen einen
an seiner Peripherie durch den Export von ¹wildenª Kapitalismus ab, 27 lassen jedoch
Demokratie und Marktwirtschaft. Jedoch Raum fçr Privatbesitz. Sie sprechen sich
scheint diese Strategie, wie der Ausgang die- gegen einen starken Staat und staatliche Ein-
ses so genannten Barcelona-Prozesses zeigt, mischung aus, wobei sie die Rolle des Staates
weitgehend gescheitert zu sein. 25 Einer der bei der Organisation des Wirtschaftssystems
Hauptgrçnde scheint in den mangelnden betonen. Moderate Islamisten plådieren au-
Ambitionen der herrschenden Eliten der ûerdem fçr eine soziale Marktwirtschaft nach
Staaten sçdlich des Mittelmeers bei der Voll- europåischem Vorbild.
endung des Projekts zu liegen, da die Um-
setzung der Demokratiefærderung der EU Diese programmatische Ausrichtung ist
nur auf Kosten der Machthaber im Sçden strukturell bedingt. Da die Angehærigen der
erfolgen kann. Auch die von der neuen Mittelschichten die Hauptklientel isla-
EU vorgesehene Stårkung der Zivilgesell- mistischer Parteien ausmachen, sind auch die
schaft wird dort zum Teil als Plan zur Ent- wirtschaftlichen Programme auf die Mittel-
machtung der herrschenden Eliten ver- schicht ausgerichtet. 28 Ironischerweise sind
standen. 26 es Islamisten, die am stårksten den Vereinba-
rungen des Washingtoner Konsenses, ein von
Es drångt sich die Frage auf, ob islamisti- IWF und Weltbank propagiertes Konzept
sche Parteien als Partner fçr die EU in Frage
kommen, um die oben beschriebenen Ziele
27 Vgl. Abdallah Djaballah, Shar'iyyat al-Amal as-
25 Vgl. die Beitråge in APuZ, Barcelona-Prozess, siyasi (Legitimation der politischen Arbeit), Algier
(2005) 45. 2002.
26 Vgl. Muriel Asseburg, Demokratiefærderung in der 28 Vgl. Janine Clark, Islam, Charity, and Activism.

arabischen Welt ± hat der partnerschaftliche Ansatz der Middle-Class Networks and Social Welfare in Egypt,
Europåer versagt? in: Orient, 46 (2005) 2, S. 272 ±290. Jordan, and Yemen, Bloomington 2004.

44 APuZ 47/2008
von wirtschaftspolitischen Maûnahmen, das len und ihre Ideologie hintanzustellen. Dar-
u. a. Leitlinien zur Haushaltsdisziplin, zur çber hinaus ist ein wachsender Pragmatismus
Senkung der Steuersåtze und zur Liberalisie- im Verhalten moderater islamistischer Partei-
rung des Handelspolitik enthålt, verpflichtet en bei der Handhabung politischer Probleme
sind. 29 Die Rolle des Staates wird dabei çber- sowie eine zunehmende Bereitschaft zur Ko-
wiegend in der Regelung der auûenwirt- operation mit såkularen Akteuren festzustel-
schaftlichen Beziehungen gesehen. 30 len. 32

Zur Frage nach dem Verhåltnis von mode- Auch in Bezug auf Kontakte mit der fçr
raten islamistischen Parteien zur Demokratie die EU sowie die Agenturen der Entwick-
bzw. zur Frage der Vereinbarkeit von Demo- lungspolitik so wichtigen Zivilgesellschaft ist
kratie und Islam ist eine Fçlle an wissen- es mittlerweile nicht mehr zu bestreiten, dass
schaftlicher Literatur vorhanden. Dabei kom- islamistische Parteien auf Grund ihrer
men die Autoren zu vællig unterschiedlichen ¹Volksnåheª gute Beziehungen zu diversen
Ergebnissen, die von Kompatibilitåt bis zur zivilgesellschaftlichen Gruppierungen pfle-
Unvertråglichkeit von Islam und Demokratie gen. 33 Aufgrund der ækonomischen und poli-
reichen. 31 Dies scheint einerseits der Tatsache tischen Programme kænnten moderate isla-
geschuldet zu sein, dass es an empirischem mistische Parteien also geradezu als perfekte
Datenmaterial mangelt, zum anderen mag es Partner fçr den Westen gelten, um Frieden in
auch an einer gewissen Vorsicht liegen, die der unmittelbaren Nachbarschaft Europas zu
eine Reihe von Autoren an den Tag zu legen schaffen.
scheinen, wenn sie çber den ± zugegebe-
nermaûen ± interpretierbaren Begriff der Dabei gibt es auf Seiten islamistischer Par-
Demokratie im Verhåltnis zu politischen teien ± auch nach den Erfahrungen von
Grundeinstellungen islamistischer Parteien Hamas in den Palåstinensischen Gebieten
schreiben. nach ihrem Wahlerfolg und der widersprçch-
lichen Haltung des Westens ± zunehmend
Tatsache ist, dass islamistische Parteien De- Skepsis gegençber der Frage, ob ¹der Wes-
mokratie aus strategischen und/oder Ûber- tenª mit ¹Demokratieª auch wirklich Demo-
zeugungsgrçnden in ihren Programmen fest kratie meint.
verankert haben. Sie tendieren immer mehr
dazu, Færderer und Forderer der Demokratie
zu sein. Dabei wird Demokratie aber nicht
als westliches Produkt verstanden, sondern
oft auf ihre technische Seite reduziert.
Islamistische Parteien treten fçr mehr Trans-
parenz und fçr die Etablierung und Einhal-
tung demokratischer Spielregeln ein. Durch
die Einbindung in das parlamentarische und
bçrokratische System lernen die Parteien na-
tionale Interessen in den Vordergrund zu stel-

29 Vgl. Bradford Dillman, Globalization, Moderniza-

tion, and the Islamic Salvation Front in Algeria, in:


Mary Ann Ttreault/Robert A. Denemark (Hrsg.),
Gods, Guns and Globalization: Religious Radicalism
and International Political Economy, Boulder, Col.
2004, S. 153±189. 32 Vgl. Ray Takeyh, The Lineaments of Islamic De-
30 Vgl. Herta Mçller, Wider den Souverånitåtsverlust
mocracy, in: World Policy Journal, 18 (2001) 4, S. 59±
des Staates im Globalisierungsprozeû. Islamisierung 67; Graham E. Fuller, Islamists In The Arab World:
als regionale Entwicklungsstrategie, in: Peter Gårtner The Dance Around Democracy, Carnegie Paper, Wa-
(Hrsg.), Staatlichkeit im Epochenbruch? Antworten shington, D.C., Nr. 49 (2004).
aus der Perspektive des Sçdens und Ostens, Hamburg 33 Vgl. Yahia H. Zoubir, State and Civil Society in Al-
2001, S. 92 f. geria, in: dies. (Hrsg.), North Africa in transition: state,
31 Vgl. Carlos Garcia-Rivero/Hennie Kotze, Electoral
society, and economic transformation in the 1990s,
Support for Islamic Parties in the Middle East and Gainesville, FL 1999, S. 29± 42.
North Africa, in: Party Politics, 13 (2007) 5, S. 611 ±
636.

APuZ 47/2008 45
... besser, man hat sie alle!

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Extremistische Parteien APuZ 47/2008

Richard Stæss
3-7 ¹Extremistische Parteienª ± Worin besteht der Erkenntnisgewinn?
Die Erklårungskraft des Parteityps ¹extremistische Parteienª ist gering, weil
damit Parteien erfasst werden, die sich in den meisten Merkmalen deutlich unter-
scheiden.

Eckhard Jesse
7-11 ¹Extremistische Parteienª ± Worin besteht der Erkenntnisgewinn?
Die Frage nach den Erfolgsbedingungen extremistischer Parteien vermittelt auf-
schlussreiche Erkenntnisse çber die Gefåhrdungen des demokratischen Verfas-
sungsstaates.

Cas Mudde
12-19 Radikale Parteien in Europa
Die græûte Herausforderung fçr die europåischen Liberaldemokratien bildet
heute die radikale Rechte, insbesondere der radikale Rechtspopulismus. Das
21. Jahrhundert kænnte zur Epoche des politischen Radikalismus werden.

Armin Nolzen
19-26 Die NSDAP vor und nach 1933
Von 1929/30 an wuchs die NSDAP von einer Splitterpartei zur Massenbewe-
gung, in deren Apparaten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nahezu zwei Drittel
der deutschen Bevælkerung organisiert waren.

Luke March
26-33 Die Kommunistische Partei in der Sowjetunion und in Russland
Der Aufsatz untersucht die Entwicklung der KPdSU zu ihrer Nachfolgerin, der
KPRF, und beschreibt den Extremismus beider. Die KPRF unterscheidet sich
stark von ihrer Vorgångerin.

Jçrgen P. Lang
34-39 Wandel und Beharrung: SED und PDS
Jahrzehntelang hatte die SED die Diktatur aufrechterhalten. Als PDS etablierte
sich die Partei in einer freiheitlichen Demokratie, ohne jedoch deren Werte und
Prinzipien grundsåtzlich anzuerkennen.

Rachid Ouaissa
40-45 Der Aufstieg islamistischer Parteien
Die islamistischen Parteien befinden sich in einem Partizipationsdilemma. Die
Struktur ihrer sozialen Basis fçhrt zur zunehmenden Måûigung und Professiona-
lisierung. Zugleich verlieren sie Zustimmung und Verhandlungsmacht.

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