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Towards a History of Jerusalem Tattoo Marks among Western Pilgrims /


‫לתולדות הקעקוע הירושלמי בקרב צליינים מאירופה‬

Article in Ḳatedrah be-toldot Erets-Yiśraʾel ṿe-yishuvah · January 2000


DOI: 10.2307/23404596

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Mordechay Lewy

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Jerusalem unter der Haut 1

MORDECHAY LEWY

Jerusalem unter der Haut


Zur Geschichte der Jerusalemer Pilgertätowierung1

Einleitung

Ziel dieses Aufsatzes ist es, das Phänomen der Jerusalemer Tätowierung
darzulegen und insbesondere deren religiöse Funktion als Identifikati-
onszeichen europäischer Pilger in Jerusalem ab dem 16. Jahrhundert klar-
zustellen. In den gebildeten Kreisen des 17. Jahrhunderts war die Jerusa-
lemer Tätowierung gut bekannt, und in der Entdeckungsliteratur jener
Zeit wurde sie zeitweise als Urtypus der Tätowierung überhaupt verstan-
den. Auf ihn verweisend, versuchten Reisende wie Gabriel Sagard 2, En-
gelbert Kaempfer 3 und William Dampier4 ihren Lesern die Natur der Tä-
towierungen jener Völker und Stämme zu veranschaulichen, auf die sie in
unbekannten Ländern trafen.
Die Erforschung der Tätowierungen galt als fast ausschließliche Do-
mäne der Anthropologen. Diese konzentrierten ihr Interesse an der Täto-
wierung als Merkmal der Stammesgesellschaften außerhalb des europäi-
schen Kontinents. Die Erforschung der europäischen Tätowierung be-
schränkte sich über eine lange Zeit – ab der Mitte des 19. Jahrhunderts –
auf den Bereich der Kriminologie und Gerichtsmedizin. Diese zwei Be-
reiche verstanden die Tätowierung als kriminelle Subkultur und Ausdruck

1
Dieser Aufsatz ist eine aktualisierte Überarbeitung meines ursprünglich in Hebräisch
erschienenen Artikels: Towards a History of Jerusalem Tattoo Marks among Western Pilg-
rims, in Cathedra, 95 ( 2000), S. 37-66. Eine gekürzte Fassung erschien im Ausstellungs-
buch (Hebr.), R. Sivan (Hg.), Body Lines, Jerusalem 2002, S. 46-55. Englische und arabi-
sche Versionen dieser Kurzfassung erscheinen demnächst in den entsprechenden Ausstel-
lungsbüchern.
2
Pater Sagard, der der Franziskaner-Rekollekten Observanz angehörte, hatte im Jah-
re 1636 die Missionsberichte seiner Brüder, die in Kanada in den Jahren 1615-1630
gewirkt haben, publiziert. Darin werden die Tätowierungen des Huronen-Stammes be-
schrieben und mit den Zeichen derer Pilger, die aus Jerusalem zurückkehren, verglichen.
G. Sagard, Histoire du Canada et voyages que les Frères mineurs Récollects y ont faits
pour la conversion des infidèles depuis l’an 1615, II, Paris 1865-1866, S. 346 f.
3
Der Lemgoer Arzt Kaempfer reiste im Jahre 1690 im Dienst der Holländischen Ostin-
dien-Gesellschaft nach Japan. Unterwegs hielt er sich in der damaligen Hauptstadt Siams,
Ayuttaya, auf. Die Tätowierungen der Palastgarde vergleicht er mit den Zeichen, die an
der Grabeskirche Jerusalems angefertigt werden. E. Kaempfer, A Description of the King-
dom of Siam, Bangkok 1987 (London 1727), S. 46.
4
Im Jahre 1691 kehrte der englische Seefahrer Dampier von seiner Pazifikreise nach
England zurück. Mit an Bord hatte er einen tätowierten Eingeborenen von den Philippi-
nischen Inseln, den er in der englischen Gesellschaft als Prinzen Giolo einführte. Dam-
pier schreibt, daß seine Tattoos in ähnlicher Weise angefertigt wurden wie das Jerusalem-
kreuz. W. Dampier, A new Voyage round the World, New York 1968 (New York 1927), S.
344.

© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 55, 1 (2003)


Also available online - www.brill.nl
2 M ORDECHAY L EWY

unterer Gesellschaftsschichten.5 Die Tätowierung ist indes eine weit um-


fassendere Erscheinung. Sie erstreckt sich über Jahrtausende, von prähis-
torischer Kultur bis in unsere Tage und erfreute sich großer geographi-
scher Verbreitung in den verschiedensten Kulturen. Aus ägyptischen
Mumienfunden und Fresken weiß man, daß dieses Phänomen bereits in
der alten ägyptischen Kultur auftrat.6 Auch in der griechisch-römischen
Kultur kannte man die Tätowierung (stigma), benutzte sie allerdings nur
zur Kennzeichnung von Sklaven und Verbrechern, damit sie nicht entlau-
fen konnten. Das Brandmarken mit glühenden Eisen wurde in dieser Kul-
tur nur beim Vieh vorgenommen.7
Trotzdem fand die Tätowierung im alten Orient und unter den Völkern
in der Peripherie des römischen Kaiserreichs eine besonders starke Ver-
breitung. Sie galt als Zeichen religiöser Zugehörigkeit, der Unterordnung
und gesellschaftlichen Identifikation. Auch wurden ihr magische und hei-
lende Fähigkeiten zugeschrieben.8 Ihre weite Verbreitung zwang die mo-
notheistischen Religionen, die sich von den heidnischen Kulten abzuset-
zen und abzugrenzen suchten, zu einer normativen Haltung gegenüber
der Tätowierung zu gelangen. So erging im Judentum ein Tätowierungs-
verbot: „Und Einschnitte um einen Toten sollt ihr nicht machen in euern
Leib, und Schrift sollt ihr an euch nicht machen; ich bin der Herr“ (Lev.
19:28).9 Die Mischna meint, daß derjenige, der auf seine Haut schreibt
und tätowiert, was er geschrieben hat, Peitschenhiebe verdiene. Aber in
der Mischnah findet sich auch ein abgemilderter Kommentar, wie der von
Rabbi Schimon, der besagt, der werde nur dann mit Hieben geahndet,
wenn er den Namen Gottes tätowiert. Eine andere Auslegung wiederum
bezieht das Verbot, Schrift zu tätowieren, auf den Götzendienst.10 Was
zur Zeit der Tannaim zweideutig blieb, entwickelte sich mit der Zeit zum
5
Der italienische Kriminologe Cesare Lombroso (1835-1909) behauptete, daß die Tä-
towierungsbräuche in der abendländlichen Gesellschaft den kriminellen Charakter der
sozialen Unterschichten offenbarten. Seine Lehre gab um die Jahrhundertwende den An-
stoß zu vielen Untersuchungen über Tätowierungsbräuche der Unterschichten, die Kri-
minelle identifizieren und klassifizieren sollten. Vgl. C. Lombroso, The savage Origin
of Tattooing, in Popular Science Monthly, April 1896, S. 793-806.
6
R. S. Bianchi, Tattoo in Ancient Egypt, in A. Rubin (Hg.), Marks of Civilization,
Los Angeles 1988, S.21-28.
7
C. P. Jones, Stigma: Tattooing and Branding in Graeco-Roman Antiquity, in Journal
of Roman Studies, 77(1987), S.139-155.
8
Vgl. zahlreiche Artikel, die F. J. Doelger dieser Thematik gewidmet hat. F. J. Dölger,
Antike und Christentum, I-IV, Münster 1974 (Münster 1929-1941).
9
Das Verbot im Buch Levitikus bezieht sich auf Trauerbräuche und insbesondere auf
die Einschnitte im Gesicht. Dieser Brauch war zählebiger als das Verbot. Er ist noch
belegt für die Trauer um den ermordeten Gedaljah ben Ahikam (Jer. 41:5). Die Tätowie-
rung zur biblischen Zeit wird eingehend von Gustav Dalman behandelt. Vgl. G. Dalman,
Arbeit und Sitte in Palästina, V, Gütersloh 1937,S. 273 ff., 286 f.
10
In der Mischna, Traktat Makkot, 3:6 steht geschrieben: „Derjenige der sich eine
Inschrift eintätowiert: hat er geschrieben und nicht tätowiert oder sich tätowiert und nicht
geschrieben – wird nicht mit Hieben bestraft. Es sei denn er schriebe und tätowiere mit
Tinte, mit blauer Farbe (Indigo?) oder mit alldem was geschrieben werden kann. Rabbi
Schimon ben Yehuda im Namen von Rabbi Schimon sagt: er wird nicht bestraft, es sei
Jerusalem unter der Haut 3

generellen Verbot. Maimonides spricht davon in seiner „Jad Chasaka“,


der „Schulchan Aruch“ bekräftigt es. Die Vorschrift der Halacha heute
ist ebenso klar.11
In der Vulgata erscheint der Begriff Stigma im Neuen Testament
einmal, und dies im Paulusbrief an die Galater, 6:17: „Denn ich trage an
meinem Körper die Zeichen (stigma) Jesu.“12 Als sich das frühe Chris-
tentum auf die Gebiete des Nahen Ostens ausbreitete, stieß es auf eine
Bevölkerung mit uralter Tätowierungstradition. Der Wunsch, sich von
den Heiden abzugrenzen, wie das missionarische Bestreben, die Götzen-
diener zu christianisieren, waren mit die Gründe dafür, daß das Christen-
tum eine ambivalente und pragmatische Haltung zur Tätowierung entwi-
ckelte.13 Im frühen Islam wurde die Tätowierung verboten. Der Hadith
sagt, daß „Allah diejenige verflucht, die andere Frauen tätowiert und sogar
Frauen, die ein Interesse daran bekunden“.14 Grund für das Verbot ist die
Furcht vor einem Eingriff in den Schöpfungsakt. Schließlich ist die Tä-
towierung einzig und allein zur Kennzeichnung von Tieren gestattet. Al-
lem Anschein nach waren die Tätowierungsbräuche zählebiger als die
islamische Gesetzgebung und breiteten sich unter Frauen der beduini-
schen und dörflichen Bevölkerung aus. Als das Christentum zur Staats-
religion des späten römischen Kaiserreichs erhoben wurde, annullierte
Kaiser Konstantin die Anordnung Caligulas und verbot die Tätowierung
der Gesichter jener, die entweder zur Sklavenarbeit verurteilt oder in der
Arena wilden Tieren ausgesetzt wurden. „Die Verletzung der Schönheit
des Menschen muß sich in Grenzen halten“, so seine Begründung, „denn
er ist geschaffen im Bilde Gottes“. 15

denn er schriebe den Namen des Herrn, wie es heißt: und eine tätowierte Inschrift sollt ihr
euch nicht anbringen ich bin der Herr.“ Die Exegese, die das Einschreiben des Namen des
Herrn auf dem Körper erlaubt, wird eingehend von Meir Bar-Ilan behandelt. Vgl. M. Bar-
Ilan, Magic Stamps on the Body among Jews in the first Centuries AD (Hebr.), in: Tarbiz,
57 (5748)=1997, S. 37-50. Er sieht diese Stempel, die oft im Talmud und in der Heichalot-
Literatur erwähnt werden, als apothropäische Zeichen, die der Rettung der Gerechten die-
nen. Ob es sich dabei um eine tatsächliche Tätowierungspraxis handelt, vermag Bar-Ilan
nicht zu entscheiden.
11
Vgl. Eintrag „Tattoo“, in: Encyclopedia Judaica, Jerusalem 1971, XV, S. 831 f.
12
„Ego enim stigmata Iesu in corpore meo porto“. Vgl. O. Betz, „Stigma“, in: Theolo-
gisches Wörterbuch zum Neuen Testaments, Stuttgart 1964,VII, S. 657-664 mit Quellen-
verzeichnis zur Tätowierung im frühen Christentum.
13
Der griechische Kirchenvater Basileus (330-379) hat im Artikel 27 seiner Glau-
bensprinzipien verfügt, daß die Tätowierung des Körpers ausdrücklich verboten sei, da-
mit „die Bräuche der Söhne Satans“ nicht nachgeahmt werden. Vgl. Doelger (wie Anm.8),
I, S. 202. Demgegenüber nimmt im 6. Jh. Prokopius v. Gaza eine entgegenkommende
Haltung bei der Beschreibung der Kreuztätowierung der Einwohner Gazas an ihren Hand-
gelenken ein. Vgl. Prokopius v. Gaza, Commentarius in Isaiam Prophetam, in Patrologia
Graeca, 87,2, Col. 2680.
14
H. Hirsch, Die Bedeckung und Ausschmückung der Frauengesichter in frühislami-
schen Quellen (Hebr.), in: Jama’a, 4 (1999), S. 21. Mein Dank für diesen Hinweis, wie
auch für viele Ratschläge bei der Verfassung dieses Aufsatzes, gilt meinem Freund Dr.
Uri Kupferschmidt von der Haifa University.
15
Codex Theodosius, 9,40,2. (Hg. v. Th. Mommsen/P. Krüger, I, Berlin 1905, S. 501).
4 M ORDECHAY L EWY

Als sich das Christentum im nördlichen Europa ausbreitete, fern von


den Kernlanden des auseinanderfallenden römischen Kaiserreichs, sah es
sich mit einer heidnischen Bevölkerung konfrontiert, die sich zu tätowie-
ren pflegte. 16 In der „Vita sanctae Brigitae“, die im 7. Jahrhundert in Ir-
land niedergeschrieben wurde, ist folgende Bekehrunglegende überlie-
fert.17 Ein abtrünniger Königssohn ersucht den Segen der Heiligen bevor
er mit seinen Kampfgefährten feindliche Nachbarn überfällt. Die Heilige
entspricht nicht seinem Wunsch. Da aber er und seine Mitstreiter „üble
Tätowierungen“ (stigmatibus malignis) auf ihren Körpern tragen, bittet
sie Gott, er möge ihre „teuflischen Zeichen“ (signa diabolica) löschen.
Den Wunsch der Heiligen konnte zwar Gott nicht verweigern, aber die
Überzahl der bekehrten Heiden auf den britischen Inseln hatten damals
nicht das Glück gehabt, St. Birgit zu begegnen und konnten daher ihre
Tätowierungen nicht löschen. Das pragmatische Vorgehen der Kirche
kam in dem Bericht der päpstlichen Legaten über ein Kirchenkonzil zum
Ausdruck, das im Jahr 786 in Calcuth, Northumberland, abgehalten wur-
de: „Gewiß, wenn einer die Schmerzen dieser Zeichnungen für Gott zu
ertragen bereit ist, erwartet ihn großer Lohn. Der indes, der dies aus dem
Aberglauben der Heiden heraus geschehen läßt, dem gereicht die Sache
nicht zum Erlangen des Heils ... der Herr bildete den Menschen schön in
seiner Gestalt, die Heiden jedoch tätowierten häßliche Narben (cicatri-
ces teterrimas) aus teuflischem Trieb.“18 Viele Jahrunderte später, im Jahr
1680, plädierte auch der lutheranische Theologe, Johannes Lundius (1638-
1686) für eine pragmatische Haltung zur Pilger-Tätowierung: „Es ist noch
heute auch beym heiligen Grabe gebräuchlich, wenn Christen dahin kom-
men, daß sich ihrer viele, nicht zwar aus Heidnischer Unsinnigkeit, son-
dern aus sonderlicher Andacht, und zum Zeichen, daß sie da gewesen,
etzliche Zeichen am Leibe pfätzen lassen.“ 19 Je weiter wir im Mittelalter
voranschreiten, desto mehr verändert sich die Bedeutung des Begriffs
„Stigma“. Nach und nach stand er für das Zeichen einer extatischen Iden-
tifikation mit den Wundmalen des Gekreuzigten.20 Vergleichbare Phäno-
mene kannte das späte Mittelalter in Hülle und Fülle – beginnend mit den
Wundmalen des heiligen Franziskus nach der Überlieferung im Jahre 1224.
Tätowierungen, die ihre Existenz heidnischen Bräuchen entlehnten, wur-

16
Schon in der Antike genossen die Briten den Ruf tätowiert zu sein. Tertullianus und
darauf basierend auch Isidorus v. Sevilla prägten den Begriff „stigmata britonum“. Vgl.
Doelger (wie Anm. 8), III , S. 205 f. Auch die Pikten bekamen von Isidorus diese Be-
zeichnung aufgrund ihrer Tätowierungen.
17
Ch. MacQuarrie, Insular celtic Tattooing: History, Myth and Metaphor, in J. Cap-
lan (Hg.), Written on the Body – The Tattoo in European and American History, London
2000, S. 32-45.
18
A.W. Hadden/W. Stubbs, Councils and ecclesiastical documents relating to Great
Britain and Ireland, III, Oxford 1964, S. 458.
19
J. Lundius, Die alten jüdischen Heiligtümer, Gottesdienste und Gewohnheit, Ham-
burg 1738, S.825 f.
20
Vgl. Eintrag „stigmates“ von P. Adnes, in Dictionnaire de Spiritualité, XVI, Col.
1212-1243.
Jerusalem unter der Haut 5

den im Mittelalter eher mit Begriffen wie Narben (cicatrices), Zeichen


(signa) oder Siegel (characteres) belegt.21
Die Kreuzritter (crucesignari) tätowierten in der Regel ihren Körper
nicht, sondern nähten das Kreuz an ihr Gewand; dies im Einklang mit
dem Kreuzzugsaufruf von Papst Urban II. aus dem Jahr 1095.22 Die Kreuz-
ritter waren aber diejenen, die das Kreuz auf ihrer Kleidung zum Erken-
nungszeichen der Pilgerfahrt nach Jerusalem für die nachfolgenden Ge-
nerationen erhoben. Mit dem wachsenden Pilgerwesen zu den vielen
Wallfahrtsorten in allen Teilen Europas im späten Mittelalter wurde es
Brauch, das Ziel der Pilgerfahrt anhand eines spezifischen Zeichens kennt-
lich zu machen. Dieses Symbol wurde wie eine Nadel an der Krempe des
Hutes oder an das Pilgergewand angesteckt.23 Im ausgehenden Mittelal-
ter trat eine Veränderung in dem Symbol ein, das die Pilgerfahrt ins Hei-
lige Land24 kennzeichnete. Dieser Wandel wurde allmählich durch die
Präsenz der Franziskanermönche eingeleitet, die vom 14. Jahrhundert an
eine ständige Vertretung im Lande Israel unterhielten. Sie waren für die
heiligen Orte der Christenheit in Jerusalem und Bethlehem zuständig.
Die Mameluckenherrscher sahen im Franziskanerorden die Verantwortli-
chen für die europäischen Pilger. Und auch der Heilige Stuhl verpflichte-
te die Vertreter des Ordens im Lande, von Beginn des Jahres 1384 an,
Sorge für die physischen und geistigen Bedürfnisse der Pilger zu tragen,
die in wachsenden Schüben das Heilige Land zu besuchen begannen.25
Diese franziskanische Repräsentanz ist auch bekannt unter ihrem lateini-
schen Namen custodia terrae sanctae.
In dem Emblem der Kustodie befindet sich das Jerusalemer Kreuz: ein
griechisches Kreuz mit gleichen Balken, auf dessen freien Feldern sich
21
Wilhelm v. Poitiers, der Hofchronist von Wilhelm dem Eroberer, erzählt zum Bei-
spiel, daß die verstümmelte Leiche von König Harald nach der Schlacht von Hastings
1066 nur durch seine „quibusdam signis“ (bestimmte Zeichen) identifiziert werden konnte
und nicht durch Herrschaftszeichen oder Gesichtszüge. Vgl. W. v. Poitiers, Gesta ducis
Guillelmi, in Patrologia Latina, 149, Col. 1256.
22
H. E. Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 1973, S. 16. Es gibt immerhin
literarische Quellen aus England, in denen Teilnehmer an Kreuzzügen das Kreuz am Kör-
per einprägten. In der hagiographischen Wundererzählung über Thomas Becket, die Ende
des 12. Jahrhundert verfaßt wurde, erwähnt Peter v. Peterborough „Leute, die soweit er-
picht waren das Kreuz auf sich zu nehmen, daß sie seine Form auf ihren Körpern ein-
brannten oder einschnitten“. Vgl. Miracula Sancti Thomae Canturiensis, zit. n. Eintrag
„Pilgrimages“ in Catholic Encyclopedia, New York 1911. In dem englischen Ritterroman
„Sir Ysumbras“, der Mitte des 14. Jahrhundert verfaßt wurde, schneidet sich der Held
vor Auszug zum Kreuzzug die Kreuzform in seine Schulter. „With his knyfe he share a
crosse, on hys sholder bare“. Zit. n. H. Hudson (Hg.), Four Middle English Romances,
Kalamazoo 1996, Verse 133-134.
23
K. Koester, Mittelalterliche Pilgerzeichen und Wallfahrtsdevotionalien, in Rhein
und Maas: Kunst und Kultur 800-1400 (Katalog), Köln 1972, S. 146-160.
24
Im Aufsatz werden die geographischen Bezeichnungen Heiliges Land, Land Israel
und Palästina synonym verwendet. Die Benutzung dieser aus der Geschichte gewachse-
nen Begriffe hat für den Aufsatz keine politisch-aktuelle Relevanz.
25
Über die Etablierung der Franziskaner im 14. Jahrhundert im Heiligen Land, vgl. S.
Sandoli, La Libération pacifique des Lieux Saints au XIV siècle, Kairo 1990, S. 73-159.
6 M ORDECHAY L EWY

zwischen den Balken vier kleine Kreuze befinden. In der Heraldik wird
dieses Kreuz cross potent genannt (Abb. 1A und 1B). Nach der franziska-
nischen Auslegung symbolisieren die fünf Kreuze die fünf Wundmale (der
Kreuzigung) Jesu. Die Übernahme dieses Symbols erklärt sich auch durch
die Stigmatawunden des Ordensgründers, des heiligen Franziskus. In die-
sem Emblem ist der Arm des Franziskus mit dem von Jesus verflochten26.

1A: Das Siegel des Vorstehers der 1B: Das Emblem der Kus- 2: Jerusalemkreuz auf dem Pil-
franziskanischen Kustodie und todie mit den Unterarmen gergewand eines Jerusalemfah-
Abt des Mt. Zion Klosters, vor von Jesus und Franziskus rers. Stich aus dem Buch von
1670. ineinander verwoben im Breuning, 1579.
unteren Teil.

Im Rahmen der Bemühungen der Kustodie, ihr Monopol über das Pilger-
wesen zu festigen, griff sie zu einem bewährten propagandistischen Mit-
tel: das Jerusalemer Kreuz wurde zum Erkennungszeichen europäischer
Pilger nach Jerusalem umgewandelt (Abb. 2). Das Jerusalemer Kreuz
wurde allmählich auch zum Erkennungszeichen der Pilger, die den Rang
eines Ritters vom heiligen Grab anstrebten.27 Im 15. Jahrhundert bildete
26
F. Quaresmius, Elucidatio Terrae Sanctae, (Übers. v. S. Sandoli), Jerusalem 1989, S.
67. Die Glasfenster aus dem englischen Franziskanerkloster in Old Coldington, die zur er-
sten Hälfte des 15. Jahrhundert datiert wurden, bringen erstmalig, soweit mir bekannt, die
fünf Wunden Jesu in einem heraldischen Rahmen. In der Mitte des heraldischen Emblems
befindet sich das verwundete Herz, und in den vier Ecken verteilt die durch Nägel durch-
bohrten Hände (oben) und Füße (unten). Die Glasfenster sind im Metropolitan Museum,
New York zu besichtigen (Inventar Nr. 12.210.1).
27
J. P. de Gennes, Les chevaliers du Saint Sépulchre de Jerusalem, Paris 1995, S. 270-
290. Soweit mir bekannt, kommt das Jerusalemkreuz in der Zeit des ersten Kreuzzugskö-
nigreichs (bis 1187) überhaupt nicht vor. Kreuze, die Ähnlichkeit mit dem Jerusalemkreuz
haben, aber statt mit vier mit mehrfachen Kreuzen zwischen den Balken besetzt sind, befin-
den sich auf einer emaillierten Truhe (sogenannte Coffret de St. Louis, datiert mit 1236)
und einem emaillierten Gefäß (Gemellion) aus Limoges (wahrscheinlich erste Hälfte des
13. Jahrhunderts). Vgl. P. de Montebello (Hg.), Enamels of Limoges 1100-1350 (Katalog),
New York 1996, S. 360 (Nr.123) und S. 374 (Nr.131). Ein vollausgebildetes Jerusalem-
kreuz erscheint erstmalig auf einer zypriotischer Münze eines Lusignan Regenten im Jahre
1306. Die Herkunft und Entwicklung des Jerusalemkreuzes bedarf einer gesonderten Stu-
die, an der der Verf. z. Zt. arbeitet.
Jerusalem unter der Haut 7

sich auf Betreiben der


Kustodie in der Grabes-
kirche eine Zeremonie
heraus, mit der diese Rit-
terwürde verliehen wur-
de (Abb. 3). Erste Kunde
von einem tätowierten
Kreuz an einem europäi-
schen Pilger erhalten wir
von dem deutschen Edel-
mann Alexander von Pap-
penheim. Während seiner
Pilgerreise in den Jahren
1563-64 bat er einen Ara-
ber in Jaffa, er möge ihm
auf seinen linken Ober-
schenkel mit einer Nadel
ein kleines Kreuz einste-
chen, und als Preis be-
zahlte er einen Medin.28
Das mir bekannte zweit-
frühe Zeugnis stammt von
dem englischen Reisen-
den Fyn es Mory son
(1566-1630), der Jerusa-
lem und Bethlehem im
Jahre 1596 bereiste. Da er
der anglikanischen Kir- 3: Die Zeremonie der Verleihung der Ritterwürde zum Heiligen Grabe,
che angehörte, mied er aus der Hs. der deutschen Übersetzung der Reisebeschreibung des Hein-
sowohl die Pilgertätowie- rich Wölfli, 1582. Der Zeichner ist wohl Johan Jakob Duenz
rung in Betlehem wie auch den Ritterschlag in der Grabeskirche. Er be-
gründete sein Verhalten damit, daß bei der Rückkehr nach England ihm
nicht nachgesagt werden könne, sich dem Brauch der Katholiken unter-
worfen zu haben. „Wee would not folow them in this small matter, but
excused our selves, that being to passe home through many kingdomes,we
durst not beare any such marke upon our bodie, whereby wee might bee
knowne.“ 29 Wir können daraus schließen, daß das Monopol der Franzis-
kaner über das europäische Pilgerwesen im Heiligen Land, einschließlich
Pilgerattribute wie Tätowierung und Ritterschlag, zu jener Zeit in Europa
hinreichend bekannt waren. Ebenso waren sie manchen Protestanten ein
Dorn in Auge. Das dritte Zeugnis stammt von dem holländischen Pilger
Martinus Seusenius, der sich zwischen dem 13. und 28. August des Jah-
res 1602 in Jerusalem und Umgebung aufhielt. Am zwanzigsten jenes Mo-
28
R. Röhricht/H. Meisner, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande, Berlin 1889,
S. 426.
29
J. Fleming, The Renaissance Tattoo, in J. Caplan (wie Anm. 17 ), S. 80.
8 M ORDECHAY L EWY

nats besuchte er Bethlehem. Fünf Tage später tätowierte ihm ein „Truche-
man van Bethlehem“ ein Kreuz auf den Arm, zum Preis von drei Medin.30
Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Tätowierung in Jerusalem (nahe der
Herberge) angefertigt wurde, denn der Weg nach Bethlehem galt in jenen
Jahren als gefährlich.31 Neu bei diesem Zeugnis ist, daß die Tätowierung
durch einen Dragoman aus Bethlehem ausgeführt wurde, zu dessen Auf-
gabenbereich es gehörte, die Pilger herumzuführen.

4: Moslemischer Derwisch tätowiert sich mit Ein- 5: Eine fatimidische Tänzerin mit Tätowierungen in
schnitten, Stich aus dem Buch von de Nicolay 1568 einer Zeichnung aus dem Ende des 11. oder Anfang
des 12. Jahrhunderts. Hs. aus der Sammlung des Is-
rael Museums in Jerusalem

Wie im weiteren klar wird, unterhielten die Dragomanen aus Bethlehem


eine enge Beziehung zu den Franziskanern. Die wichtige Frage ist je-
doch, woher diese Idee, europäische Pilger zu tätowieren, eigentlich
stammt.32 Für jeden, der versucht, die Entstehung der Pilgertätowierung
strukturell zu erklären, ist die Vorstellung ausgesprochen verführerisch,
30
F. Mühlau (Hg.), Martinus Seusenius’ Reise in das Heilige Land im Jahre 1602, Kiel
1902, S. 25.
31
Über Einwohner Bethlehems, die zu jener Zeit die Pilgerherbergen in Jerusalem auf-
suchten, um Andenken zu verkaufen, berichten zwei italienische Reisende. Es sind dies
Aquilante Rochetta (1599) und Stefano Mantegazza (1600). Vgl. B. Bagatti (Hg.), Bernar-
do Amico: Plans of the Sacred Edifices of the Holy Land, Jerusalem 1977, S. 13.
32
Über das Heilige Land hinaus, kann m. E. nur die Wallfahrt nach der Casa Santa in
Loretto Tätowierungsbräuche aufweisen. Die Ursprünge dieser Tradition sind noch nicht
zeitlich festgelegt worden. Im 19. Jahrhundert waren sie aber so verbreitet, daß sie den
Zorn Lombrosos auf sich zogen. Eine Sammlung der Tattoo-Motive aus Loretto befindet
sich im Anthropologischen Museum in Florenz. Vgl. W. Schönfeld, Körperbemalen, Brand-
marken, Tätowieren, Heidelberg 1960, S. 38.
Jerusalem unter der Haut 9

6 Tätowierte Moslems (Krieger und Frau) aus dem Buch von Roger 1635

sich durch stigmatisierende Zeichen mit den Wunden Jesu, nicht zuletzt
durch den physischen Schmerz während der Tätowierung des Jerusale-
mer Kreuzes, zu identifizieren. Ein solcher Zusammenhang erscheint nach-
vollziehbar; aber ich habe nur eine Quelle, die darauf hindeutet. Von Tho-
mas Coryate (1577?- 1617), dem literarisch bewanderten Hofnarren des
ältesten Sohnes des englischen Königs Jakob I., wird berichtet, daß er
sich, während seiner Pilgerreise nach Palästina in den Jahren 1612-14 in
Jerusalem, auch einen Jerusalemkreuz tätowieren ließ. Sein Reisebeglei-
ter Edward Terry, der Coryate in Indien sterben sah, schrieb 1651 über
ihn in seinem Buch „A Voyage to East India“ wie folgt: „This poor man
would pride himself in beholding of those characters, and seeing them
would often speak those words of St. Paul, written to the Galatians, (though
far besides the Apostels meaning) I bear in my body the marks of Lord
Jesus.“33
Es sei angebracht anzumerken, daß im Land Israel, wie auch in ande-
ren Regionen des Nahen Ostens, unter den Christen der Ostkirchen die
Tätowierungsbräuche erhalten geblieben sind, ebenso wie sie unter der
muslimischen Bevölkerung verbreitet waren. Die Tätowierungstradition,
ob mit Brandmarkung, Stechen oder Einschneiden, hielt sich im Orient
während des gesamten Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit. 34 (Abb.4,
33
Fleming, (wie Anm. 29), S. 79 f.
34
Vgl. E. Cerulli, Etiopi in Palestina, I, Roma 1943. In den Quellenangaben von Cerulli
fand ich 21 Reisebeschreibungen aus Europa zwischen den Jahren 1219 und 1556, die Tä-
towierungsbräuche unter den Äthiopiern – seien es als Brandmarkung oder Einschnitte – erwähn-
10 M ORDECHAY L EWY

5, 6) Der französische Reisende Greffin Affagart resümierte im Jahr 1534,


kurze Zeit vor dem Auftreten der Tätowierung der europäischen Pilger,
das Tätowierungs-Phänomen im Orient mit folgenden Worten:
„Sie [die Äthiopier – M. L.] halten heute [die Brandmarkung im Ge-
sicht – M. L.] nicht mehr als Sakrament der Taufe, sondern als ein Zei-
chen, sich von den Ungläubigen zu unterscheiden. So tun es auch andere
Christen. Auch die Türken und die Araber markieren ihre Gesichter und
Arme oder Hände mit bestimmten Zeichen oder Symbolen, die auf ir-
gendeine Weise von ihrem Glauben zeugen, so wie das die Christen tun,
wenn sie ein Kreuz oder die Gestalt von Jesus oder von Maria anbringen.
Und so (bringen) die Türken und die Araber wieder andere Zeichen (an),
die ihren Glauben symbolisieren.“35

Die Quellen zu Tätowierungen europäischer Pilger in Jerusalem

Einer der Gründe, weshalb das Thema Pilgertätowierung in der landes-


geschichtlichen Forschung Israels im allgemeinen und in der Forschung
des Pilgerwesens im besonderen ignoriert wurde, hat mit der dürftigen
Quellenlage zu tun. Dazu kommt, daß die israelische Forschung der christ-
lichen Präsenz in Palästina zu Beginn der Neuzeit kaum Aufmerksamkeit
schenkte. Die schlechte Quellenlage ist nur zu natürlich, schließlich ist
die Tätowierung zwar ein Zeichen für das ganze Leben, aber ihr Träger
nimmt sie mit ins Grab, wodurch sie nachfolgenden Generationen verlo-
ren geht. Die Pilgertätowierung ist auch in keiner der vielen historischen
Photoaufnahmen seit der Mitte des 19. Jh. dokumentiert worden. In Vor-
bereitung meiner Forschungen habe ich versucht, den schriftlichen Quel-

ten. Die Reisenden heben insbesondere die Feuertaufe hervor, die sie den äthiopischen Chris-
ten und den Kopten fälschlich zuschrieben. Gemeint ist eigentlich die Brandmarkung von
Kreuzen am Gesicht oder am Unterarm. Diese Praxis ist nicht als Ersatz für die Taufe zu
verstehen, die nach wie vor mit Wasser durchgeführt wurde. Über die Tätowierung unter
Fellachen und Kopten in Oberägypten vgl. W. S. Blackman, The Fellahin of Upper Egypt,
London 1927, S. 51-56. Über die Rezeption der äthiopischen Tätowierung bei europäischen
Reisenden im Mittelalter vgl. O. Meinardus, Some observations of ethiopian Rituals by me-
dieval Pilgrims, in Publications de l’Institut d’Études Orientales de la Bibliothèque Patriarca-
le d’Alexandrie, XIII, Alexandrien 1964, S. 132 f. Über die Tätowierung als Erkennungszei-
chen einer religiösen Minderheit vgl. E. Wakin, A lonely Minority: The modern Story of Egypt’s
Copts, New York 1963, S. 138. Eine ähnliche Funktion übernimmt die Tätowierung bei der
katholischen Minderheit in Bosnien. Vgl. M.E. Durham, Some tribal Origins and Customs of
the Balkans, London 1928, S. 104 ff. Tätowierungen aus der fatimidischen Periode Ägyptens
erscheinen in der Zeichnung einer Tänzerin. Die Hs. ist im Israel Museum Jerusalem aufbe-
wahrt (Abb. 5). Vgl. D. S. Rice, A drawing of the Fatimid Period, in: Bulletin of the American
School of Oriental Research, 21 (1958), S. 31-39. Über Tätowierung unter Beduinen und
Fellachen in Palästina vgl. Dalman (wie Anm. 9), S. 276 und 346 f. Auch der Missionar
Thomson, der über 30 Jahre in Libanon und Palästina wirkte, hat in seinem Buch – seinerzeit
ein Bestseller – die arabischen Tätowierungsbräuche eingehend beschrieben und sie der bibli-
schen Tradition zugeschrieben. Vgl. W.M. Thomson, The Land and the Book: Scenes and
Scenery of the Holy Land, London 1872, S. 64-67.
35
Zit. n. Cerulli (wie Anm. 34 ), S. 423.
Jerusalem unter der Haut 11

len und wenigen bildlichen Darstellungen nachzugehen, die auf das Phä-
nomen der Pilgertätowierungen hinweisen. Wie erwähnt, lassen Quellen
aus der Entdeckungsliteratur schon im 17. Jahrhundert darauf schließen,
daß sich die Kunde von der Jerusalemer Tätowierung weit verbreitet hat-
te.36 In der Palästina-Reiseliteratur aus dem 16. und 17. Jahrhundert fan-
den sich etwa zehn Quellen, die – mehr oder minder ausführlich – das
Phänomen der Pilgertätowierung bezeugten.37 Über die Tätowierung zwei-
er weiterer Reisender im 17. Jahrhundert erfahren wir aus sekundären
Quellen und aus dem Ölgemälde einer Person, die über die Jahrhunderte
nicht identifiziert werden konnte.38
Im 18. Jahrhundert werden die Quellen seltener, die sich mit der Tä-
towierung befassen. In den beiden ersten Jahrzehnten fanden sich nur
sekundäre Zeugnisse aus schwedischen Quellen, die sich auf Tätowie-
rungen schwedischer Reisender während der Blütezeit des schwedischen
Pilgerwesens beziehen. 39 Auch ein französischer Staatsman, Baron Con-
stantin François Volney, erwähnt die Tätowierung in seinem Buch über
seine Syrien- und Ägyptenreise, die er in den Jahren 1783-1785 unter-
nahm.40 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufen sich wieder
die Quellen, die den Brauch der Pilgertätowierung beschreiben: Missio-
nare, Forscher und neugierige Reisende äußern sich immer häufiger wäh-
rend ihres Aufenthaltes in Jerusalem und Umgebung über dieses Phäno-
men.41 Im weiteren Verlauf unserer Untersuchung wird deutlich werden,
daß die Tradition der Pilgertätowierung eine außergewöhnliche Überle-
bensfähigkeit hat, denn dieser Brauch wird in Jerusalem ohne Unterbre-
chung seit 400 Jahren bis auf den heutigen Tag praktiziert. Möglicher-
weise können noch weitere Quellen in der Reiseliteratur erschlossen wer-
den, aber dieses Phänomen kann, meiner Meinung nach, aufgrund der
heute bereits bekannten Quellen hinreichend analysiert werden.

36
Vgl. Anm. 2-4.
37
Alexander von Pappenheim (1563-64), Fynes Moryson (1596), Martinus Seusenius
(1602), George Sandys (1611), William Lithgo (1612), Thomas Coryate (1612-14), Jean de
Thevenot (1658), Laurentius Slisansky (1661-62), Franz von Troilo (1667-68), Friedrich
Otto von der Groeben (1675), Henry Maundrell (1697).
38
Rathge Stubbe (1669), Heinrich Wilhelm Ludolf (1699).
39
Vgl. M. Lewy, Cornelius Loos’ Map and his Expedition to Palestine (Hebr.), in: Ca-
thedra, 66 (1992), S. 85 f. Ein weiteres Zeugnis zur Pilgertätowierung eines Schweden liegt
in der Leichenrede zum Tode des Militärapothekers Johan Lambert vor. Vgl. R. Murray,
Till Jorsala, Stockholm 1984, S. 165.
40
F. Volney, Voyage en Syrie et en Égypte pendant les Anneés 1783, 1784 et 1785, II,
Paris 1787, S. 287 f.
41
U. a. der Missionar W. M. Thomson (1857), der italienische Ingenieur und Landesfor-
scher Ermete Pierotti (1864), der französische Reisende Gabriel Charmes (1880), der deut-
sche Seemaler C. W. Allers (1891), der englische Tätowierungskünstler George Burchett
(1892), der englische Journalist Steven Graham (1912) und der Erforscher der islamischen
Kunst John Carswell (1957).
12 M ORDECHAY L EWY

Die Dragomanen von Bethlehem – Tätowierungskünstler im 17. Jahrhundert

Die Bedeutung des akkadischen Begriffs turgu manu, dem das Wort Drago-
man (Übersetzer) entstammt, hat sich seit altersher nicht verändert. Er be-
zeugt, wie lebenswichtig die Übertragung von einer Sprache in die andere
in einem Gebiet wie dem antiken Orient war, in dem so viele interkulturelle
Begegnungen stattfanden. Unter osmanischer Verwaltung kam dem Drago-
manen eine bedeutende Stellung zu, bis hinauf in die höchste Ebene der
diplomatischen Hierarchie der „Hohen Pforte“. Die Aufgabe des Drago-
manen in Bethlehem war bescheidener, obwohl auch er als Vermittler zwi-
schen den Franziskanermönchen und verschiedenen Kontaktgruppen fun-
gierte.
Deswegen trugen damals die Mönche auch Sorge, den Dragomanen ihre
europäische Sprache, das Italienische, beizubringen. Vornehmlichste Ziel-
gruppe der Dragomanen waren die Pilger. Ihnen dienten sie als Reisefüh-
rer. Einer der ersten uns namentlich bekannten Reiseführer ist der Drago-
man Johannes Baptista, den Cotovicus im Jahre 1596 erwähnt. Nach ca. 16
Jahren wurde er wegen seiner Kenntnisse aus dem Munde des Reisenden
William Lithgow gelobt. Dieser kauzige Schotte folgte den Erklärungen
Baptistas auf Italienisch, einer Sprache, derer nicht alle Pilger in der Gruppe
kundig waren. „Der Dragoman (Trenchman) Baptista, lebte in Jerusalem
und blieb dort zwanzig Jahre, und selbst die Mönche erwarben von ihm ihr
Wissen.“42 Lithgow fügte hinzu, daß die Mönche alle drei Jahre im heiligen
Lande ausgewechselt wurden. Daher hatten die Dragomanen, die ortsansäs-
sig und der Landessprache mächtig waren, einen Vorteil bei der Beglei-
tung der Pilger. Aber die Dragomanen hatten noch eine Nebenbeschäfti-
gung. Vom holländischen Pilger Seusenius erfahren wir, daß sein Drago-
mane aus Bethlehem seinen Arm mit einem Kreuz tätowierte.43 Ein engli-
scher Reisender, George Sandys, gab seinem Reiseführer Atala Drogarman
vier Thaler, bevor er Jerusalem nach Ablauf des Osterfestes im Jahre 1611
verließ. Den Arm von Sandys tätowierten die Mönchsdiener („friers ser-
vants“). Der Guardianus, der Vorsteher der Kustodie, wollte aber wissen,
wieviel seine Diener für die Tätowierung der Pilger bekamen, und dies, um
deren Alimente, die sie für den Lebensunterhalt vom Kloster erhielten, ent-
sprechend zu kürzen.44 Wir wissen nicht genau, wo die Diener der Mönche
wohnten. Lithgow bemerkte aber ausdrücklich, daß derjenige, der ihn in
Jerusalem tätowiert hatte – ein gewisser Elias Areacheros –, Christ war
und Einwohner Bethlehems. Der nämliche Elias war verantwortlich für die
Einkäufe für die Mönche („purveier for the Friers“).45 Beim Versuch, wei-

42
Da Cotovicus’ Reisebeschreibung mir nicht zur Verfügung stand, zitiere ich aus Ba-
gattis Vorwort zu seiner Edition von B. Amicos Buch (wie Anm. 31) S. 12. Des weiteren
vgl. W. Lithgow, The total Discourse of the rare Adventures and painefull Peregrinations,
Glasgow 1906 (London 1632), S. 217 f.
43
Mühlau, (wie Anm. 30).
44
George Sandys Travels, London 1673, S. 156.
45
Lithgow (wie Anm. 42), S. 253.
Jerusalem unter der Haut 13

tere Details über diesen Elias herauszufinden, stieß ich auf den franzis-
kanischen Chronist des Heiligen Landes, Pietro Verniero di Montepelo-
so, dem in den Jahren 1612-32 nur ein Christ aus Bethlehem mit diesem
Namen bekannt ist, der als Dragomane diente. 1627 wurden als alteinge-
sessene Dragomanen aus Bethlehem die Folgenden erwähnt: „Elia e Ca-
tasso, nostri antichi torcimanni bethlehemitici“. 46 Anlaß zur Erwähnung
des Elias war die Zeremonie, in der die Frau seines Sohnes, Aziza, vom
griechisch-orthodoxen Glauben zum Katholizismus übertrat. Katholische
Bräute waren damals in Bethlehem „Mangelware“. Selbst Elias blieb in
seinen frühen Jahren nichts anderes übrig, als eine junge griechisch-or-
thodoxe Frau zu heiraten, die er am Ende allerdings davon überzeugte,
ihren Glauben zu wechseln. Elias wurde 1632 deshalb benannt, weil er
aufgrund moslemischer Ausschreitungen aus Bethlehem fliehen mußte.
Diesmal wurde er als führender und ältester Dragomane erwähnt, im Volks-
mund auch „dottore“ genannt.47 Derjenige, der im Jahre 1632 als Führer
aller Dragomanen in Bethlehem und im Jahre 1627 als alteingesessener
galt, soll bereits 15 Jahre zuvor, im Jahre 1612, gewirkt zu haben. Man
kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß es sich um
denselben Elias handelt, der den Arm von Lithgow tätowierte. Es scheint,
daß die Dragomanen verschiedene Aufgaben im Dienste der Mönche er-
füllten, einschließlich eines Nebenverdienstes als Tätowierer der Pilger,
so wie es den zusätzlichen Quellen zu entnehmen ist. Nicht nur in Jerusa-
lem wurde tätowiert, sondern auch in der Nähe des Franziskanerklosters
auf dem Areal der Geburtskirche in Betlehem.
Ein katholischer Pilger aus Mähren, Laurentius Slisansky, berichtete
davon bei seiner Reise, die er im Jahre 1660/61 unternahm.48 Der Franzo-
se Jean de Thévenot, der das Land 1658 besuchte, erzählte von den ka-
tholischen Einwohnern Bethlehems, die nach Jerusalem kamen und die
Pilger während des Osterfestes tätowierten.49 Nach einer Reise, die er im
Jahre 1667/68 unternommen hatte, berichtete ein katholischer Edelmann
aus Oberschlesien, Franz von Troilo, daß es unter der katholischen Be-
völkerung Bethlehems acht bis zehn Dragomanen („turcelmannen“) gäbe,
die die Pilger zu einem nicht im Voraus vereinbarten Lohn tätowierten.50
Auch der brandenburgische Abenteurer Otto Friedrich von der Gröben
notierte im Jahre 1675, daß ein Christ aus Bethlehem zum Kloster in
Jerusalem gekommen sei, um sich eine Pilgertätowierung anbringen zu
lassen.51 Die angeführten Quellen reichen aus, um die Behauptung zu
erhärten, daß erste Tätowierungen europäischer Pilger Ende des 16. Jahr-
46
G. Golubovich (Hg.), P. Verniero Chroniche o Annali di Terra Santa, II, Caracchi
1930-36, S. 133.
47
Ebd. S. 261: „Il piu vecchi e capi di quei torcimanni, une per nome Elias, detto
volgarmente il dottore, un’altro Michele.“
48
L. Slisanski, Newe Reisebeschreibung nachher Jerusalem und dem heiligen Land,
Leipzig (o.J.), S. 40.
49
J. de Thévenot, Relation d’un voyage fait au Levant, Paris 1665, S. 403 f.
50
F. von Troilo, Orientalische Reisebeschreibung, Leipzig-Frankfurt 1717, S. 389.
51
O. F. von der Groeben, Orientalische Reisebeschreibung, Marienwerder 1694, S. 283.
14 M ORDECHAY L EWY

hunderts auftauchen. In dieser Zeit entwickelte sich Bethlehem auf Be-


treiben der franziskanischen Mönche zum Zentrum der „Souvenir-Indu-
strie“. Vor allem scheint es sich um eine Spezialisierung der katholi-
schen Bevölkerung Bethlehems zu handeln, die auch zu den Pilgerher-
bergen nach Jerusalem kamen, vor allem in der Hochsaison während des
Osterfestes, kurz vor der Abreise der Pilger. Die Tätowierung gehörte
nicht zur Tätigkeit jener Handwerker, die religiöse Memorabilia anfer-
tigten. Auch die Andenkenhändler befaßten sich nicht damit. Die Täto-
wierungskunst war vor allem jenen vorbehalten, die den Mönchen am
nächsten standen – den Dragomanen selbst bzw. den Mönchsdienern.

Die Technik der Pilgertätowierung in den Reiseberichten des 17. Jahr-


hunderts

Die Tätowierungstechnik durch Stiche ist noch aus der Antike bekannt.
Der byzantinische Arzt Aetius beschreibt im sechsten Jahrhundert in sei-
nem medizinischen „Tetrabiblon“ die Art der Durchführung einer Täto-
wierung und lieferte Rezepte zur Herstellung der Farbe und sogar zur
Entfernung der Tätowierung.52 Die erste ausführliche Beschreibung, wie
in Jerusalem eine Tätowierung vorgenommen wurde, ist die von Théve-
not aus dem Jahre 1658.53 Einige Jahre später, im Jahre 1667/8, schilder-
te Troilo den Tätowierungsvorgang in Betlehem mit einer sonderbaren
Mitteilsamkeit wie folgt:
„Sie nehmen Ochsen-Galle, kleingestossene Kohlen, und den fetten auffge-
henden Rauch von den Lampen, das mischen sie untereinander, und ma-
chen eine ziemlich dick fliessende Dinte daraus, welche sie in einem klei-
nen bleyernen Geschirr bey sich tragen. So haben sie auch über die 60 un-
terschiedliche in Holz gestochene Formen und Modellen: das Hierosoly-
mitanische Ritter-Wappen, die Creutztragung des Herrn, das heilige Creutz,
die gantze Passion, item, das Zeichen von Nazareth, Maria Verkündung,
den schmerzlichen Weg, den Baum Terebinth und viel andere dergleichen
Zeichen und Formen mehr. So nun ein Reisender, da der ein dergleichen
Zeichen auf seine Armen zu haben verlanget, kan er ihm was und wie viel
deren ihme belieben auslesen. Der Turcellmann nimmt das auf Holz gesto-
chene Modell, bestreichets erstlich mit dem Kohlsäcklein und druckets auf
den Ort, wo es einer haben will, da scheinets es als wäre es mit einer Reiss-
Kohlen abgerissen. Nach diesem hat er zwey mit Baumwollen zusammen-
gebundene subtile Nehnadel, also, dass nur die Spitzen, doch ein ziemli-
ches Theil hervor gehen, und ist ein kleiner Hafft daran von zartem Holz,
auf dass er die Nadeln besser halten und regieren möge. Wann nun alle
diese Praeparatorien geschehen, ergreiffet er den Arm mit einer Hand und
ziehet die wohl ziemlich starck und grob an, und fänget an nach den Line-
amenten des auffgedruckten Modelles zu stechen. Wann er dann nun gantz
herum ist, wischt er den Ort mit einem Schwamm, den er in Wein eingetun-
52
C. P. Jones (wie Anm.7), S.142 f.
53
Thévenot (wie Anm. 49).
Jerusalem unter der Haut 15

cket hat, fein sauber ab, zu sehen ob etwas daran verfehlet, dasselbe vollends
auszubessern. Hernacher spannet er den Arm sehr strenge an, die mit Na-
deln gestochene Löcher mehr zu öffnen und zu erweitern, alsdenn nimmt er
das Dicke von der zugerichteten Dinten, und überschmieret den gantzen
Flecken von neuen in die Breite und in die Länge, so weit sich das Modell
erstrecket hat, verbindet es endlich mit einer Leinwant-Binden, und muss
also gantzer 8 Tage verbunden bleiben. Endlich wirds mit Wein das erste
mahl fein sauber abgewaschen undso den anderen und dritten Tag. Die Haut
fänget sich an von dem Ort abzuscheelen; nicht ein – sondern wohl zwey
oder dreymahl, und bleibet letzlich diss Zeichen an seinem Leibe, solange
einer lebet, und solte gleich einer ihme auch so gar die Haut lassen abzie-
hen, wird das eingestochene und gleichsam eingeätzte Mahl dennoch auf
dem Fleische gesehen werden. Was dann aber vor ein Schmertz sey solches
auszustehen, wird der am besten zu sagen wissen, der es erfahren. Der Arm,
oder das Glied, darauf man sich zeichnen lässet, entzündet sich gantz und
gar von der Ochsen-Galle, welches eine scharffe und beissende Materi an
sich selbst ist, derent wegen verursachets bey vielen, die nicht starcker com-
plexion seyn, auch so gar ein hitziges Fieber. So kan auch einer innerhalb12
Tagen nicht mehr als ein Stück machen lassen… Nicht, dass so viel Arbeit
an demselbigen zu machen wäre, sintemahl in drey oder vier Stunden eines
verrichtet, aber nur bloss und allein des Schmerzens und grosser Geschwulst
halber, biss dass sich dieselbige wiederum setzet und vergehet… Dieselbe
Zeichen dienen sonderlich besser und sicheren fort zu kommen, denn wo es
sonst hier und dar etwas schwer halten will, so sie dieses Zeichen sehen,
glauben sie gar bald, dass man nur die heiligen Oerter zu besuchen kom-
men seyn. Denn sonst einer leicht bey den Türcken vor einen Kundschafter
kan angesehen, angehalten, und wo der geringste Argwohn dazu kömmet,
hart bestraffet werden.“54
Im Jahre 1675 beschrieb von der Gröben den Vorgang und erwähnte die
Todesgefahr, die damit verbunden ist.55 Zu Ostern im Jahre 1697 schil-
derte der Engländer Henry Maundrell die Tätowierung als schmerzfreien
Vorgang:
54
Troilo ( wie Anm. 50), S. 489 ff.
55
Groeben ( wie Anm. 51), S. 483 ff.: „Es kam ein Christ von Bethlehem, der einen
gantzen Sack voll Formen hatte, in Holz geschnitten, aus welchem ich mir… erwehlet und
ausgelesen, auch folgender Gestalt einätzen leissen. Er wusch mir aber erstlich den Arm mit
Wein rein, netzete die Form ein wenig und besprengte sie mit gestossenen Kohlen. Hernach
druckete er sie mir auff den Arm, da solches nun geschehen, hat er in einem Glase Büchsen-
Pulver mit Essig fast wie Dinte temperiret und zugerichtet. Auch zwey subtile Nehnadel in
einem Stecken gestossen, die er wie eine Feder in das temperirte Pulver eintauchete, nahm
meinen Arm in eine Hand und stach mit der anderen Stich bey Stich in die abgezeichnete
Figuren so tieff, dass nach jedem Stich das Blut folgete und einen ziemlichen Schmertzen
verursachte.Da er nun mit etlichen tausend Stichen eine Figur geendet, wusche er mir die
Haut sauber ab und sahe wo noch nicht genug gestochen war, welches er denn mit neuen
Stichen verbesserte und mir nochmahls den Arm mit seinen Händen so druckete, dass sich
alle Löcher geöffnet und das Blut wie aus einer Sprützen heraus gesprützet. Wie nun sol-
ches geschehen, rieb er mir zum Überfluss das temperirte Pulver gar starck in den Arm
hinein und machete mir den Arm so weit als das Zeichen ging gantz schwartz, worauff ich
den Arm zwey Tage lang im Bande tragen musste. Nach verflossenen zweyen Tagen wusch
er mir den Arm rein mit starckem Wein und fing mir an das andere Zeichen zu stechen,welches
er wie das vorige endigte, verfuhr auch also mit dem Dritten, Vierten und Funfften. Wer
16 M ORDECHAY L EWY

„March 27. – The next morning nothing extraordinary passed, which gave
many of the pilgrims leisure to have their arms marked with the usual en-
signs of Jerusalem. The artists who undertake the operation do it in this
manner. They have stamps in wood of any figure that you desire, which
they first print off upon your arm with powder of charcoal; then, taking two
very fine needles tied close together, and dipping them often, like pen, in
certain ink, compounded, as I was informed, of gunpowder and ox-gall,
they make with them small punctures all along the lines of the figure which
they have printed, and then, washing the part in wine, conclude the work.
These punctures they make with great quickness and dexterity, and with
scarce any smart, seldom piercing so deep as to draw blood.“56
Maundrell erwähnt die mit der Tätowierung verbundenen Schmerzen mit
keinem Wort. Demgegenüber erzählte ein lutheranischer Pilger aus Ham-
burg, Ratge Stubbe, der im Jahre 1669 tätowiert wurde, nach den Worten
von Lundius, daß er die Tätowierung „mit nicht geringen Schmertzen ins
Fleisch [habe – M. L.] einpfäzen lassen“. Der Vorgang war so schmerzhaft,
daß „der Graff aus England, mit dem er hinein war, nicht mehr denn eine
Figur an seinem Arm einpfäzen zu lassen, habe ausstehen können“.57

Der Gebrauch von Holzmatrizen

Aus den Reisebeschreibungen der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts, las-


sen sich Arbeitsumfeld und die damalige Tätowierungstechnik rekonstru-
ieren. Hervorstechend ist vor allem der Gebrauch von aus Holz gefertigten
Matrizen (Moules, Formen, Stamps) zur Einprägung des Tätowierungsmo-
tivs. In diesen Vorlagen wurden christliche Motive geschnitzt, die für das
Heilige Land charakteristisch waren. Dem Pilger stand eine Vielfalt an Mo-
tiven zur Auswahl. Das Motiv wurde auf die Haut des Kunden geprägt, in
den meisten Fällen am Arm. Für den Abdruck wurde die Matrize ange-
feuchtet, mit einem Pulver aus Asche bestrichen und an der für die Täto-
wierung vorgesehenen Stelle aufgedruckt. So weit mir bekannt ist, kommt
diese Technik erstmals in der Jerusalemer Tätowierung vor. Weitere Unter-
suchungen zum Thema könnten einiges über den früheren Gebrauch von
Holzmatrizen ergeben; insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Wech-
selwirkung zwischen den Holzvorlagen, die gleichzeitig dem Textildruck
und den Tätowierungsvorlagen gedient haben können.58
nun einer schwachen Natur ist, der mag sich wohl vorsehen solche Zeichen stechen zu las-
sen, dann Sie den Arm gar sehr schwellend machen und durch Inflammation offtmahlen ein
Fieber zu verursachen pflegen, welches den Frembden dieser Oerter sehr gefährlich ist und
leicht den Todt befordern kan.“
56
H. Maundrell, A Journey from Aleppo to Jerusalem at Easter A.D. 1697, in: Th. Wright
(Hg.), Early Travels in Palestine, London 1848, S. 445 f.
57
Lundius (wie Anm. 19).
58
Eine solche Wechselwirkung vermute ich zwischen dem hölzernen Stempel für Tex-
tildruck aus fatimidischer Epoche aus der Sammlung des Metropolitan Museums in New
York (Inventar Nr. 1971.87) und dem Tätowierungsmotiv auf der Brust der fatimidischen
Tänzerin (Abb. 5). Vgl. D.S. Rice (wie Anm. 34).
Jerusalem unter der Haut 17

Im Laufe der Geschichte wurde verschiedenes Stichwerkzeug für Täto-


wierungen entwickelt – in Form eines Kamms mit vielen Zähnen oder ei-
nes Rohrs mit mehreren Nadeln: Die Vielzahl der Nadeln wiederum be-
stimmt das Muster der Ornamente in der Tätowierung.59 Auch in der dörf-
lichen Bevölkerung und unter den Beduinen in Ägypten und Palästina kennt
man den Gebrauch eines Röhrchens mit sieben oder fünf Nadeln zur Täto-
wierung von Ornamenten.60 Die Pilgertätowierung jedoch benötigt lediglich
zwei Nadeln, weil sie in ihrem Wesen nicht ornamental, sondern figurativ
ist. Sie lehnt sich am bekannten und gefragten ikonographischen Kanon an.
Auch ist das Pilgerwesen saisonabhängig und konzentriert sich vor allem
auf die Osterzeit. Im 17. Jahrhundert wird die Tätowierung als weitverbrei-
teter Brauch, fast als eine Routineangelegenheit beschrieben. So bei Théve-
not: „Wir verbrachten unsere Zeit ... mit der Kennzeichnung unserer Arme
nach altem Pilgerbrauch“.61 Und in Gröbens Worten: „Wie es der Brauch
aller Pilger ist.“62
Natürlich mußten die Tätowierungskünstler die Wartezeit verkürzen,
weil die Pilger in Stoßzeiten bei ihnen Schlange standen. Die Nutzung der
Vorlage sparte Zeit, da der Tätowierer das Motiv nicht zeichnen, sondern
lediglich auf die Haut prägen mußte. Die Tätowierung diente zur Doku-
mentierung des Wallfahrtsaktes in der Sprache der bekannten Symbole.
Diese wurden nach der Rückkehr in die Heimat von dem Pilger mit eini-
gem Stolz gezeigt. Troilo erwähnt die Pilgertätowierung aber auch als eine
gewisse Absicherung, von den osmanischen Behörden nicht der Spionage-
tätigkeit verdächtigt zu werden.63 Der Tätowierer ging also keinerlei Risi-
ko ein, wenn er im Vorhinein geschnitzte Vorlagen auf Lager hatte. Der
Tätowierungsvorgang und seine Vorbereitung verlangten einige Fertigkei-
ten. Sie entsprachen den Fähigkeiten der Bewohner Bethlehems. Die Be-
herrschung der Holzschnitzkunst war zur Gestaltung von religiösen An-
denken ebenso erforderlich wie bei der Gravur der Motive an der hölzernen
Matrize. Das Aschenpulver, das auf die Vorlage aufgetragen wurde, fand sich
in Bethlehem als Komponente zur Herstellung von Schießpulver zur Genü-
ge.64 Wein, als Desinfektionsmittel gebräuchlich, wurde in Bethlehem im
59
H. Schiffmacher/B.Riemschneider, 1000 Tattoos, Köln 1996, S. 6 ff. Ich möchte hinzufü-
gen, daß die Eingeborenen des Stammes Dayak in Borneo ebenfalls Holzmatrizen zur Tätowie-
rung verwenden, allerdings nur für ornamentale Motive. Eine Auswahl dieser Matrizen wurde in
der Ausstellung „Body Art- Marks of Identity“ im American Museum of Natural History von
November 1999 bis Mai 2000 gezeigt. Da leider kein Katalog zu dieser denkwürdigen Ausstellung
erstellt wurde, sei darauf hingewiesen, daß diese Matrizen vom Beginn des 20. Jh. zum Bestand
des Fowler Museum of Cultural History in Los Angeles gehören (Inventar Nr.XB3. 327-332).
60
Blackman (wie Anm. 34), S. 51; G. Dalman, (wie Anm. 9), S. 347.
61
Thévenot (wie Anm. 49).
62
Groeben (wie Anm. 51) S. 483.
63
Troilo (wie Anm. 50).
64
S. Ben Yosef, Artisanship and traditional Industries in Betlehem, in: E. Shiler (Hg.),
Bethlehem and Church of Nativity (Hebr.), Jerusalem 1980, S. 43. Über die Kunstfertigkeit
der Perlmuttschneider auch auf dem Gebiet der Holzschnitzerei und als Steinmetzer vgl.
Pfarrer Graf, Die Perlmutter Industrie in Bethlehem, in: Zeitschrift des deutschen Palästi-
navereins, 37 (1914), S. 327-338.
18 M ORDECHAY L EWY

christlichen Ritual verwendet, und dies mit einem Privileg seit dem 14. Jahr-
hundert, wie es der Mönch Niccolo di Poggibonsi berichtet hat.65
Die Matrizentechnik wurde auch im 18. Jahrhundert genutzt, wie aus
einem Brief des deutschen Reisenden Johann Georg Keysler im Jahre 1729
hervorgeht.66 Die Tätowierung anhand der hölzernen Matrizen erweckte
die Aufmerksamkeit Ermete Pierottis, der sich acht Jahre (1854-62) im
Auftrag der osmanischen Verwaltung als Ingenieur in der Stadt in Jerusa-
lem aufhielt:
„Ein anderer Brauch ist in Palästina weit verbreitet, zu dem nicht nur die
Mehrheit der Eingeborenen des Landes beider Geschlechter greifen, son-
dern auch viele Pilger aus fremden Ländern. Es ist die Tätowierung. Eine
Zeichnung, die auf ein Stück Holz eingraviert und mit Kohle eingeschwärzt
wird, wird hernach auf diesem oder einem anderen Teil des Körpers aufge-
prägt, und danach werden ihre Konturen mit dünnen Nadeln gestochen, die
in eine flüssige schwarze Mischung getaucht werden, die aus Schießpulver
und Ochsengalle angefertigt ist, und nach getaner Arbeit wird die Zeich-
nung (oder Inschrift) mit Wein gespült.“67
Hatte Pierotti recht, daß der Gebrauch von hölzernen Matrizen von den
Einheimischen wie auch von Pilgern in Anspruch genommen wurde? Setz-
ten die Einwohner von Bethlehem diese Tradition fort? Im folgendem
werden wir sehen, wie die Einwohner Bethlehems ihre Vorherrschaft in
der Tätowierungkunst eingebüßt haben. Die Matrizentechnik ging von
ihnen auf die koptischen Einwohner der Altstadt Jerusalems über.

Koptische Tätowierungsstempel

Der Erforscher der islamischen Kunst, John Carswell, berichtete, daß er


1956 bei seinem Besuch der Jerusalemer Altstadt im christlichen Viertel
auf das Geschäft eines Bestatters stieß, das ein Werbeschild für farbige
Tätowierungen zierte.68 (Abb. 7) Auf die Frage nach der seltsamen Ver-
bindung beider Berufe erklärte ihm der Geschäftsinhaber, Jakob Razouk,
daß die Tätowierung ein Saisongeschäft sei, insbesondere in der Oster-
zeit, während er an der Anfertigung von Särgen das ganze Jahr hindurch
verdiene. Aus dem Gespräch wurde ersichtlich, daß die Familie Razouk
koptischer Abstammung ist. Nach der Familienüberlieferung zog die Fa-
65
N. di Poggibonsi, A Voyage beyond the Seas, Jerusalem 1993 (Jerusalem 1945), S. 51.
66
J. G. Keysler, Neueste Reisen..., I, Hannover 1751, S. 40 f.
67
Zit. n. der hebr. Ausgabe: R. Zeevy (Hg.), Ermete Pierotti – Customs and Traditions
of Palestine, Tel Aviv 1985, S. 110 ff.
68
Die Ausführungen in diesem Abschnitt basieren vor allem auf Carswells Buch: J.
Carswell, Coptic Tattoo Design, Beirut 1958. Es erschien in einer limitierten Auflage von
200 Exemplaren und ist heute nur schwer zugänglich. Mein Dank gebührt dem Berliner
Ausstellungsexperten Dr. Hendrik Budde, der keine Mühe gescheut hatte, das selten gewor-
dene Buch aus dem Bestand der Archäologischen Abteilung des Museums in Dahlem zu
kopieren. Die in den Katalogen der beiden Staatsbibliotheken in Berlin erwähnten Kopien
sind seit längerer Zeit „verschwunden“.
Jerusalem unter der Haut 19

7: Jakob Razouk vor seinem Geschäft im christlichen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Aufgenommen im
Jahre 1956

milie Mitte des 18. Jahrhunderts aus Oberägypten nach Jerusalem. Ra-
zouk tätowierte hauptsächlich die koptischen Pilger (ca. 200 in der Sai-
son). Es gab jedoch unter seiner Klientel auch Angehörige der orientali-
schen Kirchen (Äthiopier, Syrer und Armenier) wie auch ein paar Euro-
päer. Er benutzte häufig Matrizen aus Olivenbaumholz, teilweise beid-
seitig graviert, zum Stempeln der Arme seiner Kunden. Nach und nach
führte er jedoch die Benutzung der elektrischen Nadel ein.
Seit Carswells Besuch, insbesondere seit dem Jahr 1967, sank die
Nachfrage nach Tätowierungen. Koptische Pilger aus Ägypten kommen
nicht mehr ins Land. Im Jahr 1971 verbot der koptische Patriarch She-
nouda III. nach Streitigkeiten mit den Äthiopiern um den Besitz in Dir
A-Sultan die Pilgerfahrt nach Jerusalem. Nach koptischem Brauch wur-
de das Jahr des Jerusalembesuches am Unterarm tätowiert. Damit diente
diese Tätowierung häufig als Pilgerfahrtbeweis. 69 Der Enkel von Jakob
Razouk erzählte mir, daß er sich an einen Zwischenfall aus dem Jahr 1964
erinnert, bei dem eine junge Koptin aus Ägypten die Rückreise vom Flug-
hafen Kalandia (bei Jerusalem) nach Kairo stornieren mußte, weil sie hoch-
schwanger war. Während sie nach der Geburt ihres Sohnes in Jerusalem
auf den Rückflug wartete, fragten sie andere Pilger, ob sie denn auch das
69
Vgl. Blackman, (wie Anm. 34), S. 54. Auch die Armenier haben ihre Pilgerfahrt nach
Jerusalem mit Tätowierungen dokumentiert. Der englische Journalist Steven Graham hat z.
B. eine russisch-orthodoxe Pilgergruppe 1912 nach Jerusalem begleitet. Nach seiner Rück-
kehr traf er in Rußland eine alte Armenierin und erzählte ihr von seiner Jerusalemfahrt. Die
Alte verlangte prompt, ihr die Tätowierung auf dem Arm zu zeigen. Da Graham sich nicht
tätowieren ließ, schenkte die Armenierin seinen Reiseerlebnissen keinen Glauben. Vgl. S.
Graham, With the Russian Pilgrims to Jerusalem, London 1913, S. 258 f.
20 M ORDECHAY L EWY

Neugeborene mit dem Zeichen der Pilgerfahrt tätowieren ließ. Razouk


konnte sich gut daran erinnern, wie die Mutter in das Geschäft seines
Großvaters geeilt kam, um noch rechtzeitig vor der Abreise das Baby zu
tätowieren. Als Carswell Jakob Razouk besuchte, waren in seinem Besitz
184 auf Holz gravierte Motive (einige auf beiden Seiten der Matrizen).
Carswell bat um die Erlaubnis, einen Teil davon auf Papier abzustem-
peln, um sie zu veröffentlichen. Damit wurde sein Buch eigentlich zu
einem Katalog der koptischer Tätowierungsmatrizen in Jerusalem (Abb.
16). Die meisten Vorlagen blieben auch nach dem Tode Jakobs und sei-
nes Sohnes Wadia bis heute im Familienbesitz. Mittlerweile setzt die En-
kelin Jakobs als einzige die Tätowierungstradition der Familie fort.70

16: Eine Auswahl hölzerner Tätowierungsmatrizen aus dem Familienbesitz Razouks. Daneben ein Arm
mit einem aufgeprägten Motiv einer der Matrizen.

Eine kleine Zahl von Matrizen fand ihren Weg in verschiedene Museen
in der Welt. Vier Vorlagen werden im Musée de l’Homme in Paris auf-
bewahrt.71 Auch in der Ethnographischen Sammlung des Israelmuseums
in Jerusalem werden drei Vorlagen aufbewahrt, die aus der Sammlung
70
Ihr Bruder führt heute das Geschäft „Citadel Souvenirs“ am Jaffator 31. Obzwar im
Laden unerwähnt, werden Interessierte an die Schwester verwiesen, die in der nahegelege-
nen St. George Street zu Hause arbeitet. Zur Osterzeit fertigt die Schwester Tätowierungen
für Armenische Pilger im Gulbekian Seminar, gegenüber der St. James Kirche an.
71
In der Ausstellung im Grand Palais, „De la Bible à nos jours: 3000 ans d’art“, die vom
6. Juni bis 27. Juli 1985 in Paris stattfand, wurden 5 Matrizen aus dem Familienbesitz
gezeigt. Vier davon gehören heute zum Bestand des Pariser Museums. Vgl. De la Bible à
nos jours: 3000 ans d’art, (Katalog), Paris 1985, Ausstellungsobjekte Nr. 304-307[bis]. Eine
weitere Auswahl aus dem Familienbesitz wird in der noch laufenden Ausstellung „Body
Lines“ im Tower of David - Museum of the History of Jerusalem gezeigt.
Jerusalem unter der Haut 21

der Familie Razouk stammen.72 Eine Vorlage stellt einen auf einem Pferd
reitenden Heiligen mit Kind dar (Inventar Nr. 312.70), die mit der Vorlage
62 in Carswells Katalog identisch ist (Abb. 8). Sie ist tief und sehr gekonnt
graviert und trägt die Form eines Stempels.
Auf einer anderen Vorlage ist auf einer
Seite im mamelukischen Stil ein Leopar-
denpaar dargestellt – die jenen ähneln, die
sich auf dem Steinrelief an der Stirnseite
des Löwentors (bzw. Stephanstor) der Je-
rusalemer Altstadt befinden. Auf der ande-
ren Seite jener Vorlage ist die Gestalt der
Maria Magdalena neben dem Grab Jesu
eingraviert (Inventar Nr. 314.70), die mit
den Vorlagen 31 und 31a im Katalog von
8: Koptische Matrizenstempel – Ein be- Carswell identisch ist (Abb. 9A, 9B). Die
rittener Heiliger mit Kind Vorlage ist auf den beiden Seiten mit ei-
ner tiefen Gravur versehen, und ihre Oberflächen sind vom häufigem
Gebrauch abgenutzt. In diese Matrize ist ein Loch gebohrt, um einen Fa-
den einzufädeln, und sie wurde wahrscheinlich zusammen mit anderen

9A: Koptische Matrize – Maria Magda- 9B: Leopardenpaar


lena neben Grab Jesu.

Vorlagen auf einer Kette aufgereiht. Möglicherweise ist dies ein weiterer
Beweis für die Mobilität der Tätowierer, die den Pilgern zu den Hospizen
und selbst zu den heiligen Stätten folgten. Eine weitere Vorlage stellt auf
einer Seite die heilige Veronika dar und auf der anderen die Auferstehung
Jesu aus dem Grabe (Inventar Nr. 313.70); sie ist mit den Vorlagen 122
72
Baronesse Alix de Rothschild hat diese Matrizen der Ethnographischen Sammlung
1970 gestiftet. Sie wurden wahrscheinlich in einer der vielen Antiquitätenläden in der Alt-
stadt gekauft und nicht direkt von der Familie, denn der Enkel von Jakob Razouk wußte
nicht, daß sie in das Israel Museum gelangten.
22 M ORDECHAY L EWY

und 122A im Katalog von Carswell identisch (Abb. 10A, 10B). Das Re-
lief ist flach, die Matrize nicht abgenutzt . Offenbar ist sie weniger pro-
fessionell angefertigt; es erscheint plausibel, daß es sich dabei um die
jüngste der drei Vorlagen handelt.

10 A: Koptische Matrize – Heilige Veronika 10 B: Koptische Matrize – Auferstehung Jesu

Im Katalog von Carswell gibt es nur zwei datierte Matrizen. Die ältere
Vorlage trägt armenische Anfangsbuchstaben; nach Carswells Entschlüs-
selung ergibt sich das Datum 1749.73 Die jüngere Vorlage stammt aus dem
Jahr 1912, und sie stellt die Himmelfahrt Jesu dar. 74 Zweifellos befinden
sich diese Vorlagen schon seit Generationen im Besitz der Familie Ra-
zouk. Es wird allerdings schwer fallen zu bestimmen, welche Vorlagen die
Kopten selbst angefertigt haben und welche sie bei den Handwerkern aus
Bethlehem oder bei den Armeniern erwarben. Eine Tatsache sticht den-
noch hervor: Kurz nachdem die Quellen über die Beschäftigung der Dra-
gomanen Bethlehems mit den Pilgertätowierungen versiegen, tauchen die
Vorlagen im Gebrauch der koptischen Familie in Jerusalem auf. Es ist dem-
nach einleuchtend, daß die Kopten und gewissermaßen auch die Arme-
73
Carswell (wie Anm. 68), Nr. 68. Das Jahr 1749 ist nicht unbedeutend für die Ge-
schichte des Armenischen Patriarchats, denn in diesem Jahr verstarb ihr Erneuerer, Gregor
der Kettenträger. Vgl. R. Ervine, Gregor the Chainbearer: the Rebirth of the Armenian Pa-
triarchate, in: A. O’Mahoney (Hg.), The Christian Heritage in the Holy Land, London 1995,
S. 102-111.
74
Carswell (ebd.), Nr. 145.
Jerusalem unter der Haut 23

nier aus Jerusalem das Tätowierungshandwerk als Nachfolger der Dra-


gomanen aus Bethlehem übernommen haben.75 Obwohl sich heutzutage
die häufigste Klientel aus den Christen der Ostkirchen zusammensetzt,
finden wir dennoch bei der Analyse der Motive in den Matrizen Themen,
die traditionell unter den europäischen Pilgern verbreitet waren.

Farbe und Dauer der Behandlung sowie Begleiterscheinungen

Entsprechend den bereits vorliegenden Beschreibungen, wird die Tinte


für die Tätowierungen aus einer Lösung gefertigt, die sich aus einem
schwarzen Stoff (Lampenruß, zerstoßene Kohle oder Schießpulver) zu-
sammensetzt, der mit Ochsengalle vermischt wird. Die Rindergalle, und
vor allem Ochsengalle, ist ein Mittel, das bindet und die Ausbreitung der
Lösung beschleunigt, ohne dabei die Farbe zu verdünnen.76 Baron Volney
schrieb, daß sich die Farbe zur Tätowierung von Pilgern aus Schießpul-
ver oder Antimoniumkalk zusammensetzt. Es liegt kein Beweis für eine
Verwendung von Indigo vor.77 Es muß daraufhingewiesen werden, daß
die Ochsengalle einzigartig für die Jerusalemer Tätowierung ist. In den
Tätowierungsbräuchen anderer Kulturen ist sie unbekannt. Was die Dau-
er des Tätowierungsvorganges betrifft, so sind die Schilderungen unein-
heitlich. Troilo schrieb, daß die Anfertigung einer Tätowierung ca. vier
Stunden dauerte; falls der Arm nach der Tätowierung anschwoll und die
Körpertemperatur stieg,78 war die Fortsetzung der Tätowierung jedoch
erst nach zwölf Tagen möglich. Diese Zeitangabe ist jedoch insofern nicht
plausibel, weil die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Pilger insgesamt
nur zehn Tage betragen hat. Gröben behauptete, daß jede Tätowierung
zwei Tage, einschließlich des Verbandtragens, in Anspruch nahm.79 Bei-
de hoben die Begleiterscheinungen – hohes Fieber und Schwellungen –
hervor, und sie erwähnten, daß die Tätowierung mit Lebensgefahr ver-
bunden war. Der Pilger Slisansky benötigte für vier Tätowierungen zwei
Tage.80 Thévenot erzählte, daß nach ca. drei Tagen die Behandlung, ein-
schließlich der Schwellung, zu Ende war. Er bemerkte jedoch, daß der
Arm zum dreifachen Umfang anschwoll.81 Maundrell berichtete über eine
75
Ebd., S. XVII-XVIII.
76
Die gelbliche Farbe dieser Galle nimmt mit der Zeit einen dunkelbraunen Farbton an.
Im 17. Jh. wurde die Galle zur Marmorierung von Papier bei der Buchbindung verwendet.
Ebenso wurde die Galle zur Farbgebung beim Druck von Kupferstichen und Lithographien
eingesetzt.
77
Volney, (wie Anm. 40). Das Antimonium ist ein halbmetallenes chemisches Element
mit einem bläulichen Glanz. Es wurde beim Gießen von Lettern verwendet. Seine chemische
Bezeichnung ist Sb, und sein Atomgewicht beträgt 121.76. Indigo wurde häufig im Nahen
Osten zur Farbgebung benutzt. Sein Zusatz bei Tätowierungsflüssigkeit ergab eine bläuliche
Farbe. Vgl. J. Balfour- Paul, The Indigo in the Arab World, Richmond Surrey 1997, S.164 f.
78
Troilo (wie Anm. 50), S. 389 ff.
79
Groeben (wie Anm. 51), S. 283 ff.
80
Slisanski (wie Anm. 48).
81
Thévenot (wie Anm. 49), S. 404 f.
24 M ORDECHAY L EWY

schnelle und schmerzfreie Tätowierung.82 Keysler begegnete dem schwe-


dischen Theologen Michael Eneman nach dessen Rückkehr vom heiligen
Land: sein Arm war voller Pilgerzeichen. Eneman erzählte ihm, daß er ei-
nen Katholiken sah, der aufgrund seines hohen Fiebers fast seine Seele
aushauchte, als er sich alle zwölf Apostel auf seinem Körper und Judas
Ischariot auf seinen Hintern tätowieren lassen wollte.83 Volney hob die
Schmerzen hervor, die durch das Stechen zugefügt wurden, und bezeugte,
daß er einem Mann begegnete, dessen Arm infolge der Verletzung des Zen-
tralnervs amputiert werden mußte.84 1879 erzählte der deutsche Reisende
Rudolf Kleinpaul, daß „gewöhnliche Leute“ in Jerusalem den Pilgern eine
schmerzfreie Tätowierung anböten.85 Und in der Tat machte der französi-
sche Reisende Gabriel Charmes diese Erfahrung im Jahr 1880. Er erzählte,
daß er bei der Tätowierung in der Altstadt keinerlei Schmerz empfunden
und dabei die Wasserpfeife, eine Tasse Kaffee und eine lebhafte Unterhal-
tung mit Frau und Tochter des Tätowierers, Francis Souwan, genossen
habe.86
Von dem Hygienestandard unter seinen Kollegen in Jerusalem berichte-
te der englische Tätowierer Georg Burchett, der in seiner Jugend zu An-
fang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts am Fleischermarkt (Souk al
Lahm) einen Tätowierungsstand eröffnete. Er wurde nach eigenen Anga-
ben in einer dunklen Altstadtgasse von ein paar Schlägern verprügelt, weil
er es gewagt hatte, für sein neu eröffnetes Geschäft als einem Ort zu wer-
ben, an dem die im Westen üblichen Hygienestandards eingehalten würden
– seine Konkurrenten erblickten darin jedoch unlauteren Wettbewerb.87 Der
englische Journalist Graham beschwerte sich im Jahr 1912 über die man-
gelhafte Qualität der Tätowierungen, die von den „arabischen Handwer-
kern“ ausgeführt wurden, die sich gegenüber der armenischen Jakobskir-
che niedergelassen hatten. Seinen Angaben zufolge wurde die Arbeit im
Akkord bewerkstelligt, war jedoch langwieriger und schmerzhafter als eine
Armimpfung. Die Tätowierungszeichen waren nur im Laufe des ersten Jah-
res deutlich sichtbar und verwandelten sich danach in blaue Flecke, die für
das ganze Leben erhalten blieben.88 Bekanntlich „verschwimmt“ auch bei
Kindern die Tätowierung und verwandelt sich mit der Zeit in einen blauen
Fleck. Das Ausbleichen bei Pilgerinnen aus Rußland war – laut Graham –
ein Indiz für die schlechte Qualität der Tätowierung.
82
Maundrell (wie Anm. 56), S. 445 f.
83
M. Lewy, Two Letters from Michael Eneman’s Journey to the Holy Land (Hebr.), in
Cathedra, 53 (1989), S. 75 - 84. Vgl. Keysler, (wie Anm. 66).
84
Volney (wie Anm. 40).
85
R. Kleinpaul, Die Dahabiye: Reiseskizzen aus Ägypten, Stuttgart 1879, S. 191.
86
G. Charmes, Voyage en Palestine: Impressions et souvenirs, Paris 1884, S. 91. Der
deutsche Seemaler Allers berichtet in seinem Tagebuch, daß die Jerusalemer Tätowierung
oberflächlich sei, schmerzlos vollzogen wird und keine hohe Temperatur verursacht. Vgl.
C.W. Allers, Bakschisch: Skizzen zu einer Orient-Kreuzfahrt im Jahre 1891, Hamburg 1973,
(o. O., 1891), keine Paginierung.
87
J. Burchett, Memoirs of a Tattooist, London 1958, S. 52 f.
88
Graham (wie Anm. 69).
Jerusalem unter der Haut 25

Es scheint unmöglich, eine allgemeine Wertung der Tätowierungs-


qualität, der Anfertigungsdauer und des damit verbundenen Schmerzens-
grades vorzunehmen. Die Begleiterscheinungen hängen auf jeden Fall
von der Professionalität des Tätowierers ab. Es sollte dabei aber nicht
übersehen werden, daß die Leidensschilderungen männlicher Pilger den
Tätowierungsvorgang als Mutprobe verherrlichten und die Tätowierung
in gewissem Maße als Teil des Männlichkeitskultes begriffen. In den
von uns untersuchten Quellen findet sich kaum ein Hinweis darauf, der
das Ertragen von Schmerzen als Identifikation mit den Wunden Jesu er-
klärt. Wie auch immer: es gilt, sich an die Worte von Pierotti zu erinnern:
„Es gibt solche, die behaupten, daß das Tätowieren mit keinerlei Schmerz
verbunden ist, und es gibt solche, die das Gegenteil behaupten. Da ich es
am eigenen Leibe nicht erfahren habe, kann ich mir keine Meinung über
das eine oder das andere bilden.“ 89

Die Ikonographie der Motive in der Pilgertätowierung

Bei der Analyse der Motive der Pilgertätowierung müssen wir die Spra-
che ihrer Symbole entziffern, die in ihrem Wesen christlich-religiös ist.
Diese Motive haben ihre Wurzeln in der langen Tradition der christlichen
Ikonographie. Jeder ikonographischen Analyse sollten eigentlich Bild-
quellen zugrunde liegen. Da aber diese Quellen spärlich sind, ist jedoch
ein Rückgriff auf Informationen aus schriftlichen Quellen unvermeidbar.
Die Motive in der Pilgertätowierung greifen auf den bekannten Kanon
der christlichen Ikonographie zurück. Die ständige Benutzung von Holz-
matrizen verstärkte zudem noch ihre Permanenz. Die Frage, die sich in
diesem Zusammenhang zu prüfen lohnt, ist, inwieweit Carswells Katalog
der koptischen Tätowierungen, der die gängigen Motive der Mitte des
18. Jahrhunderts und der Zeit danach enthält, auch die Motive wieder-
gibt, die im 17. Jahrhundert in den Tätowierungen europäischer Pilger
verbreitet waren.

Bildquellen

Uns sind vier bildliche Quellen aus dem 17. Jahrhundert zugänglich, die
Tätowierungen zeigen. Drei befinden sich in Stichen, die den Reisebü-
chern jener Pilger beigefügt sind, die aus Jerusalem tätowiert zurück-
kehrten. Die vierte Quelle ist das Ölgemälde eines Porträts, das anhand
einer tätowierten Inschrift an seinem Arm identifiziert wurde. Die syste-
matische Erfassung des gewaltigen Corpus von Kupferstichen in euro-
päischen Büchern – vor allem der Reisebücher – aus jener Zeit, wird in
der Zukunft unweigerlich weitere Bildquellen erschließen helfen.
89
Pierotti (wie Anm. 67).
26 M ORDECHAY L EWY

1. Das Reisebuch des schottischen Abenteurers William Lithgow: 90


In der ersten Auflage des Buches über seine Reisen aus dem Jahr 1632
finden sich zwei Illustrationen von Pilgertätowierungen.91 Eine nannte
er ‘Armes of Jerusalem’, d. h. ‘Wappen von Jerusalem‚’ (Abb. 11). In
der Tätowierung finden sich unterhalb des Kreuzes die Buchstaben IHS
– die drei ersten griechischen Buchstaben des Namens Jesu. In der Zeile
darunter steht der Name der Stadt Jerusalem –
IERUSALEM – und in der untersten Zeile ist
das Jahr 1612 angegeben, das Jahr der Pilger-
reise Lithgows. Die Komponenten der Tätowie-
rung könnten als Dokumentation der Pilgerfahrt
verstanden werden, auf der das Symbol seiner
religiösen Zugehörigkeit, die Bezeichnung des
Ortes und das Datum enthalten sind. Doch als
Lithgow auf dem Rückweg in die Heimat Räu-
bern in die Hände fiel und um sein Leben flehte,
11: Tätowiertes Motiv des Je- zeigte er ihnen als Beweis die ihm ausgestellte
rusalemkreuzes als Wappen Pilgerurkunde vor und nicht die Tätowierung.
der Stadt auf dem Arm von
Lithgow, Ausgabe von 1632 Lithgow, begeisterter Protestant und großer
Anhänger des Königs von England und Schott-
land, hatte darum gebeten, auch das Zeichen von
König James (Jacob) I. auf seinen Arm zu täto-
wieren (Abb. 12). Darüber hinaus bat er darum,
das Motto „Es lebe König James“ – lateinisch:
I[acobus] Vivat R[ex] – hinzuzufügen.
Die demonstrative Sympathie für den prote-
stantischen König innerhalb der Grabeskirche
weckte nicht ganz unerwartet den Zorn von Gu-
ardianus. Nachdem sein Zorn sich gelegt hatte,
ließ der Franziskaner es sich jedoch nicht neh-
men, sich an Lithgow mit dem Hinweis zu wen-
12: Die Krone des Königs Ja- den, den König um eine finanzielle Unterstüt-
kob I. als Tätowierung auf dem
Arm Lithgows
zung für den Unterhalt der Heiligen Stätten zu
bitten.92 In der Reisebeschreibung erwähnte Lith-
gow, daß auch die Vorlage des Heiligen Grabes auf seinen Arm tätowiert
worden sei. Dieses Motiv kommt in den Illustrationen seines Buches
allerdings nicht vor. Eine andere Quelle unterrichtet uns darüber, wie
dieses Motiv in der Pilgertätowierung dargestellt wurde.

2. Kupferstich der tätowierten Arme des Hamburger Pilgers Ratge Stubbe:93


In der Forschung bezieht man sich gelegentlich auf einen Stich, der 1676
ursprünglich von dem Kupfergraveur H. Winterstein angefertigt wurde,
90
Lithgow (wie Anm. 42).
91
Ebd., S. 252 f.
92
Ebd. S. 254.
93
Lundius (wie Anm. 19), S.732.
Jerusalem unter der Haut 27

der von 1652 bis 1682 in Norddeutschland (Abb. 13) wirkte. Auf diesem
Stich sind Unterarme zu erkennen, die mit den Pilgerzeichen aus Jerusa-
lem tätowiert sind. Zunächst wurden sie einem unbekannten Pilger aus

13: Die tätowierten Arme von Ratge Stubbe, Stich von 1676

Hamburg aus dem Jahr 1669 zugeschrieben. Einige Forscher schrieben


diese Arme dem brandenburgischen Reisenden Otto von der Gröben zu,
auch wenn dieser erst 1675 das Heilige Land besuchte.94 Erst Otto Meinar-
dus, der Erforscher der koptischen Kirchengeschichte, war es, der die
Identität des anonymen Pilgers erkannt hatte und konstatierte, daß es sich
dabei um Ratge Stubbe, Angehöriger einer bekannten Seefahrerfamilie
aus Hamburg, handeln mußte.95 Die Arme auf dem Kupferstich sind reich
an Pilgermotiven. Am rechten Arm können von unten nach oben folgen-
den Motive erkannt werden: das Jahr 1669 (Jahr seines Besuches in Jeru-
salem); das Jerusalemer Kreuz, unterhalb mit Palmwedeln und mit In-
schrift IERUSALEM geschmückt; drei Kronen (symbolisieren die drei
Magi, die dem neugeborenen Jesus Geschenke brachten); darüber der Stern
von Bethlehem (der bei der Geburt Jesus erstrahlte); oben enden die Zei-
chen in der dekorativen Inschrift BETLEHEM. Wir haben damit die Ver-
einigung der Embleme, die für der Städte Jerusalem und Bethlehem ge-
94
H. Bellmann, Die Tatauierung, in W. Pessler (Hg.), Handbuch der deutschen Volks-
kunde, III, Potsdam 1938, S. 57- 65. Auch dem Verfasser ist diese Fehlidentifizierung un-
terlaufen. Vgl. Lewy (wie Anm. 39), S. 86.
95
O. Meinardus, Jerusalemer Pilgerstätten auf Hamburger Armen: Zur Tätowierung ei-
nes Hamburger Jerusalempilgers, 1669, in Beiträge zur deutschen Volks und Altertumskun-
de, 26 (1988-1991), S. 121.
28 M ORDECHAY L EWY

standen haben, vor uns. Diese standen auch im Zentrum der christlichen
Pilgerreisen ins heilige Land.
Auf dem linken Arm sind vier Motive zu erkennen. Das unterste Mo-
tiv ist der Totenkopf des Ersten Menschen und darüber der gekreuzigte
Jesus und über dessen Kopf die Inschrift in Abbreviatur INRI 96, die auf
Geheiß des römischen Statthalter Pontius Pilatus angebracht wurde. Die
Plazierung des Totenkopfes unter der Kreuzigung entspricht der präfigu-
rativen Auslegung im Christentum, wonach Adam, der erste Mensch im
Alten Testament, die Ankunft Jesu im Neuen Testament ankündigt. Meinar-
dus brachte seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß in der Täto-
wierung der Kreuzigung der Kopf Jesu seiner linken Hand zugewandt ist,
obwohl nach ikonographischem Kanon sein Kopf sich eigentlich nach
rechts richten müßte.97 Wahrscheinlich, so meine Erklärung, benutzte der
Tätowierer Stubbes eine Matrize, auf der die Kreuzigungsszene in der
üblichen Ausrichtung geschnitzt war. Mit der Prägung auf den Arm ver-
kehrten sich jedoch die Seiten wie in der Spiegelschrift. Bei seiner Druck-
vorlage hat der Kupferstecher die Seitenverkehrung offensichtlich über-
nommen, ausgenommen die in der Schrift. Im Folgenden sind die Rich-
tungsangaben rechts wie links nach den Seiten der Bilder selbst angege-
ben und nicht die des Lesers.
Über der Kreuzigung befindet sich eine rechteckige Tafel, auf der die
Anfangsbuchstaben LUCFU zu erkennen sind.98 Diese Tafel bezeichnet
den Stein der Salbung, der sich in der Grabeskirche zwischen Golgatha
und dem Grab Jesu befindet. Oberhalb der Tafel ist die Auferstehung Jesu
dargestellt. In der Darstellung selbst erkennt man Jesus mit der Sieges-
fahne und zu seiner Linken das Grab auf seinen zwei Kapellen (die En-
gelskapelle und die Grabeskapelle). Die Darstellung ist mit dem Schrift-
zug „Resurexit propter iustificationem“ umrahmt, ein Zitat aus dem Rö-
merbrief (4:25). Der Umriß der Kapellen ähnelt denen, die vor dem Brand
von 1808 dort standen, also jene Kapellen, die im Jahr 1555 unter der
Leitung des franziskanischen Kustos Bonifatius von Ragusa erbaut wur-
den. Über dem Auferstehungsmotiv ist die Himmelfahrt Jesu dargestellt.
Unter seiner Figur werden, gemäß der Überlieferung, die Abdrücke sei-
ner Füße im Felsen des Ölbergs dargestellt. Um die gesamte Darstellung
zieht sich der Schriftzug „Et ascendit in caelum“.
Die Qualität der Tätowierung muß hoch gewesen sein. Lundius mein-
te dazu, „Es wäre so wohl geprickt, als wäre es ein Kupferstück.“99

3. Der Katalog der Tätowierung des Pilgers Otto von der Gröben:100
In seiner Reisebeschreibung schildert Gröben nicht nur die Zeichen der
Tätowierungen, sondern fügte zur Veranschaulichung auch Kupferstiche
96
I[esus] N[azarenum] R[ex] I[udaeorum].
97
Meinardus (wie Anm. 95), S. 120.
98
L[apis] U[bi] C[hristus] F[uit] U[nctus].
99
Lundius (wie Anm. 19), S. 825.
100
Groeben (wie Anm. 51), S. 283-286.
Jerusalem unter der Haut 29

bei. Aus allen Matrizen, die sich ihm anboten, wählte er fünf Tätowierun-
gen aus. Auf seinem rechten Arm sind drei Motive tätowiert (Abb. 14).

14: Tätowierte Kreuzigung bei Groeben, 15: Die Via Dolorosa als Tätowierung auf dem Arm
1694 von Groeben

Das erste Motiv bilden Abbreviaturen jenes Steines, auf dem die Sal-
bung Jesus stattfand; wir kennen sie vom Unterarm Stubbes. In der Ab-
bildung ist über dem Stein die Kreuzigungsszene dargestellt, die Gröben
im Text selbst nicht erwähnt. Wie auf dem Tattoo von Stubbe ist Jesus
auch hier seiner linken Hand zugewandt und nicht nach rechts ausge-
richtet. Dies erneut infolge der Seitenverkehrung bei der Prägung der
Holzmatrize auf dem Arm und bei der Druckvorlage des Stiches im Buch.
Das zweite Motiv ist eigentlich die Darstellung des Leidensweges 101, die
nach folgender Ordnung in Abbreviaturen aufgeschlüsselt ist (Abb.15):
1) LF= L[ocus] F[lagellationis] – das Haus, in dem Jesus von den römi-
schen Soldaten Stockhiebe erhält.102 Bis zum heutigen Tage dient die Fla-
gellationskirche als zweite Station.
2) DP= D[omus] P[ilati] – das Haus des Pontius Pilatus. Das Prätorium,
in dem das Gericht gegen Jesus stattfand.103 Heute der Ort der ersten Station.
3) DH= D[omus] H[Herodii] – das Haus von Herodes. Der Ort, wo nach
der Tradition die Priester Jesus verleumdeten und Herodes mit seinen Sol-
daten Jesus verspottete, ihn in ein „purpurnes Gewand“ kleidete und zu Pila-
tus schickte.104 Er gehört heute nicht mehr zum Leidensweg.
101
„Der schmertzliche Kreitz Weg Christi“.
102
Johannesevangelium, 19:2-3.
103
Markusevangelium, 15:16.
104
Lukasevangelium, 23: 9-12.
30 M ORDECHAY L EWY

4) AP= A[rcus] P[ilati] – Das ist der unter dem Namen Ecce Homo
bekannten Bogen, nach dem „Ecce Homo! des Pilatus.105 Dem Ursprung
nach ist es der römische Siegesbogen, den Kaiser Hadrian aus Anlaß sei-
nes Sieges im Jahre 135 n. Chr. errichten ließ. Zwar verlief der Leidens-
weg unter diesem Bogen, der Ort selbst gehört aber nicht zu den Stationen.
5) LV=L[abitur] V[irgo] – Der Ort, an dem Maria vor Schmerz die
Besinnung verlor, als sie sah, wie ihr Sohn unter der Last des Kreuzes
leidet. Am Ort stand einst die Kirche „Our Lady of the Spasme“. Heute
zählt der Ort als vierte Station des Leidenswegs.
6) CC= C[ecidir] C[hristus] – Der Ort, an dem Jesus das erste Mal
niederstürzte, als er das Kreuz trug. Heute gilt er als dritte Station.
7) SC= S[imon] C[ireneus] – Der Ort, an dem Simon von Kyrene Je-
sus half, das Kreuz zu schultern, nachdem dieser gestürzt war. 106 Der Ort
gilt heute als fünfte Station und befindet sich an der Ecke der Talstrasse
(Rehov Hagai). Auf der Tätowierung von Gröben ist er in der Nähe des
Damaskustores eingezeichnet.
8) DP= D[amascena] P[orta] – Das Damaskustor, das sich außerhalb
des Leidenswegs befindet.
9) DE= D[omus] E[pulonis] – Das Haus des Reichen, der im Neuen
Testament erwähnt wird, weil er Lazarus nicht zu Hilfe eilte.107 Nach der
Überlieferung befindet sich das Haus in der Talstraße, nahe der fünften
Station.
10) DL= D[omus] L[azari] – Das Haus des armen Lazarus. Nach dem
Lukasevangelium ist der Arme am Eingang des Hauses des Reichen hin-
gestreckt. 108 Das Haus Lazarus ist im Neuen Testament mit keinem weite-
ren Hinweis überliefert.
11) SV= S[ancta] V[eronica] – Der Ort, an dem die heilige Veronika
Jesus das Schweißtuch zuwarf und nach der Überlieferung Jesus das Ge-
sicht trocknete. Heute die sechste Station.
12) PI=P[orta] I[udicalis] – Das Tor des Gerichts; dort stürzte Jesus
zum zweiten Mal – wird heute als die siebte Station betrachtet.
13) FI =F[ilii] I[erusalem] – Der Ort, an dem Jesus zu den Töchtern
Jerusalems sprach. Die Frauen Jerusalems klagten über die Bitterkeit sei-
nes Schicksals, aber Jesus sprach zu ihnen: „Töchter Jerusalems, weinet
nicht um mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder.“109
Heute stellt dies die achte Station dar. Von hier ab ist der Übergang auf-
gezeichnet, der direkt zum Hügel führt, der Golgatha symbolisiert, den
Ort der Kreuzigung Jesu. Die Stationen in der Grabeskirche sind nicht
auf der Tätowierung eingezeichnet. Wie damals existiert auch heute kein
direkter Übergang von der achten Station zu Golgatha, denn die Kirche
des heiligen Charalambos versperrt nach wie vor den direkten Weg dorthin.
105
Johannesevangelium, 19:5.
106
Lukasevangelium, 27:26.
107
Ebd., 16: 19-22.
108
Ebd., 16:20.
109
Ebd., 23:28.
Jerusalem unter der Haut 31

Der Weg, wie er von Gröben beschrieben wird, gibt die damals verbrei-
tete Tradition des Leidensweges in Jerusalem wieder. Die Anzahl seiner
Stationen wurde erst später auf 14 begrenzt, wie wir es aus den Aufzeich-
nungen des Franziskanermönches Elzear Horn aus dem Jahre 1725 ken-
nen110 (Abb. 17). Auch die Tätowierung der Skizze des Leidensweges
wurde seitenverkehrt auf den Arm geprägt. So liegen eigentlich das Da-
maskustor und das Praetorium rechts der Via dolorosa und nicht auf ihre
linken Seite. Die Inschriften wurden aber bereits in Spiegelschrift ge-
schnitzt.

17: Skizze der Via Dolorosa nach Horn, 1725

110
E. Horn, Ichnographiae Monumentorum Terrae Sanctae, Jerusalem 1962, S. 141-
160. Vgl. E. Shiler, Via Dolorosa (Hebr.), Jerusalem 1980, S. 16 ff.
32 M ORDECHAY L EWY

Das dritte Motiv auf dem rechten Arm Gröbens stellt Jesus dar, der
das Kreuz mit der Inschrift SEQUERE ME – „Folgt mir nach“ – trägt
(Abb. 18).
Auf dem linken Arm Gröbens befinden sich zwei Motive. Das eine
Motiv ist die Zusammenfassung der Symbole des Jerusalemer Kreuzes
mit dem Stern von Bethlehem (Abb. 19), das dem ähnelt, welches wir
bereits auf dem Unterarm von Stubbe gesehen haben. Gröben zufolge
symbolisieren die Palmwedel, die das Jerusalemer Kreuz zieren, die Sied-
lung Bet Pagi am Rande des Ölberges auf dem Weg nach Jericho.111 In
den fünf Kreuzen, die das Jerusalemer Kreuz ausmachen, erblickt Grö-
ben das Symbol der Ritter von Jerusalem („Die fünff Kreutz das Zeichen
der Ritter“).112 Solchermaßen identifiziert, entsteht ein direkter Bezug
zwischen dem so beurkundeten Ritterschlag im Heiligen Grab und den
geläufigen Pilgermotiven in der Tätowierung.
Das andere Motiv auf dem linken Arm von Gröben zeigt die Aufer-
stehung Jesu aus dem Grabe. Er hält in seiner Hand eine Fahne, und zu
seiner Rechten befindet sich die Grabkapelle (Abb. 20). Dasselbe Motiv

18: Tätowierung des „sequere me“ 19: Die Auferstehung Jesu bei 20: Kombiniertes Wappen von
bei Groeben Groeben Jerusalem und Bethlehem, tä-
towiert bei Groeben

erscheint bei Stubbe, dort aber ist die Kapelle zur Linken Jesu. Es ist
schwer festzustellen, welches die ursprüngliche Seite war, denn die abge-
druckten Kupferstiche setzten die Fertigung einer Druckvorlage voraus,
111
Aus dieser Ortschaft brachten die Jünger Jesu einen Esel mit, damit er beritten den
Weg zum Tempel machen konnte (Matthäusevangelium, 21:1-2). Die Menge hat mit Palm-
wedeln in der Hand Jesus beim Einzug nach Jerusalem auf einem Esel bejubelt (Johannese-
vangelium, 12:13). Aus diesem Zusammenhang konnte Beit Pagi (=Haus der jungen Dat-
teln im Hebr.) mit Palmwedeln identifiziert werden. Palmwedel aus Jericho galten mindestens
seit dem 7. Jh. als bevorzugte Pilgerandenken, die mit auf dem Rückweg nach Europa ge-
nommen wurden. Vgl. Antoninus’ Travels, in O. Limor (Hg. u. Übers.), Holy Land Travels
(Hebr.), Jerusalem 1998, S. 227. Seit dem 12. Jh. taucht der Begriff PALMARIUS [Träger
der Palmwedel] als Synonym für einen aus dem Heiligen Land zurückkehrenden Pilger auf.
112
Groeben (wie Anm. 51).
Jerusalem unter der Haut 33

und diese konnte wiederum die Seitenverkehrung aufheben, wie es auch


mit der Prägung der Holzmatrize auf den Arm geschehen konnte.
Allerdings ist ein Ölporträt erhalten, auf dem dasselbe Tätowierungs-
motiv gezeigt wird, und dort findet sich die Kapelle zur rechten Seite
neben der Auferstehung Jesu. Weil im Ölbild die Tätowierung abgebil-
det ist, ohne daß eine Druckvorlage gefertigt werden mußte, habe ich
den Eindruck, daß der Stich in Gröbens Reisebeschreibung die richtige
Fassung der Tätowierungsmatrize wiedergibt.

4. Ölporträt eines tätowierten Pilgers aus dem Jahre 1699: 113


Während der Vorbereitung einer Ausstellung, die sich mit der Palästina-
kunde in Halle/S. im 18. und 19. Jahrhundert befaßte, wurde mir das Por-
trät einer ehrwürdigen Person gezeigt (Abb. 21). Das Ölbild befand sich
fast dreihundert Jahre lang unerkannt im Magazin des Archivs der Fran-
ckeschen Stiftungen. Die darauf abgebildete männliche Person blieb uni-

21: Portrait des Heinrich W. Ludolf und eine Vergrößerung (rechts) seiner Pilgertätowierung, Sammlung
der Franckeschen Stiftung, Halle/S.

dentifiziert. Auf dem rechten Unterarm des Mannes sind Zeichen einer
Tätowierung zu erkennen, die für jene Pilger charakteristisch waren, die
aus Jerusalem zurückkehrten. Das Pilgerjahr ist mit 1699 angegeben,
darüber ist die Szene der Auferstehung Jesu eingeprägt und zur rechten
Seite Jesu die Kapelle. Über diesem Motiv sind die Abbildung der Kreu-
zigung und zu seinen Füßen der Totenschädel des Ersten Menschen täto-
113
M. Lewy, Die tätowierten Pilgerzeichen aus Jerusalem, in: H. Budde/M. Lewy (Hg.),
Von Halle nach Jerusalem: Ein Zentrum der Palästinakunde im 18. und 19. Jahrhundert,
Halle 1994, S. 75-76. Vgl. P. Raabe, In Franckes Fußstapfen, Zürich 2002, S. 174. Ebenso
vgl. Th. Müller-Bahlke, Die Wunderkammer: Die Kunst- und Naturalienkammer der Fran-
ckeschen Stiftungen zu Halle, Halle/S. 1998, S. 117.
34 M ORDECHAY L EWY

wiert. Zwischen dieser Tätowierung und der am Arm von Stubbe besteht
eine offensichtliche Ähnlichkeit, obwohl der Gekreuzigte auf dem Ölbild
sein Gesicht zu seiner rechten Hand wendet – wie es in der christlichen
Ikonographie üblich ist. Es scheint, daß auf der Matrize aus dem Jahre
1699 die Kreuzigung schon von vornherein seitenvekehrt geschnitzt wur-
de. Die Holzschnitzer aus Betlehem, die die Tätowierungmatrizen aus dem
Jahre 1669 (Stubbe) und 1675 (Gröben) in Umlauf brachten, waren sich
aber noch nicht der Notwendigkeit bewußt, daß auch das Bildmotiv und
nicht nur die Buchstaben INRI seitenverkehrt zu schnitzen waren. Dieser
Vergleich deutet auf eine verbesserte Kunstfertigkeit im Schnitzerei-
und Gravurhandwerk, vielleicht dank der Anleitung durch europäische
Mönche, die sich in der Gravurtechnik des Kupferstechens auskannten.
Die franziskanische Druckanstalt in Jerusalem nahm allerdings ihre Tä-
tigkeit erst ab 1846 auf.
Ist der ehrwürdige Pilger zu identizifieren, der den rechten Ärmel sei-
nes Gewandes hochkrempelt und so die Tätowierung auf seinem Unter-
arm entblößt? Ist eine Jerusalemfahrt im Jahre 1699 bezeugt, die mit den
Franckeschen Stiftungen in Verbindung gebracht werden kann? Während
der Vorbereitungen zur Austellung in Halle entdeckte ich im Archiv der
Frankeschen Stiftung einen Brief, der auf das Jahr 1699 datiert ist und
aus Jerusalem an den Gründer der Stiftungen August Herrman Francke
geschickt wurde. Dieser Brief war zwar dem Palästinaforscher Reinhold
Röhricht bekannt, der hatte aber irrtümlich vermerkt, daß der Brief in der
Handschriftensammlung der königlichen Bibliothek (heute Staatsbiblio-
thek) in Berlin aufbewahrt würde. 114 Daß sich der Brief aus Jerusalem
und das Porträt des Pilgers, der zur gleichen Zeit seine Jerusalemreise
mittels Pilgertätowierung datierte, unter dem selben Dach befinden, konnte
m.E. kein Zufall sein: Der Verfasser des Briefes ist der Gelehrte Heinrich
Wilhelm Ludolf.115 Meiner Ansicht nach ist er identisch mit der Person,
die mit tätowiertem Arm vom Ölporträt stolz auf uns herabblickt.

Die Motive

Aus den bildlichen Quellen, die uns zur Verfügung standen, können die
folgenden Motive bezeugt werden: Das Jerusalemer Kreuz (als Symbol
der Stadt Jerusalem oder der Ritter vom Heiligen Grab), der Stern von
Bethlehem und die Kronen der drei Magi (als Symbol der Stadt Bethle-
114
R. Röhricht, Bibliotheca Geographica Palestinae, London 1989 (Berlin 1890), S. 288.
115
Für Textedition des Briefes vgl. D. Sturm, Ein Brief aus Jerusalem: Heinrich Wil-
helm Ludolf an August Hermann Francke, in: Budde/Lewy (wie Anm. 113), S. 68-74. Hein-
rich Ludolf war der Neffe des Begründers der Äthiopischen Wissenschaften, Hiob Ludolf.
Er stand lange Zeit seines Lebens im diplomatischen Dienst Englands und Dänemarks. Er
gilt als einer der Vorreiter der Slawistik mit Schwerpunkt auf Rußland. Sein Jerusalembe-
such sollte einen ökomenischen Dialog zwischen lutherischen Strömungen und der grie-
chisch-orthodoxen Kirche fördern, denn Ludolf strebte die Idee einer Universalkirche an.
Sein Versuch in Jerusalem gilt als gescheitert.
Jerusalem unter der Haut 35

hem), die Auferstehung Jesu und die Grabeskapelle in der Grabeskirche,


die Kreuzigung Jesu, den Salbungsstein, den Leidensweg (schematische
Darstellung),das Tragen des Kreuzes, die Himmelfahrt Jesu und die Jah-
resangabe der Pilgerreise.
Aus den schriftlichen Quellen sind uns weitere Motive bekannt, aber es
fehlt hierzu eine Bildquelle als Beleg. Troilo, der in seiner Reiseschilde-
rung sechzig Tätowierungsmatrizen erwähnt, bereicherte die Forschung
besonders bei der Angabe von Motiven, obwohl er in seinem Buch kein
einziges Beispiel zur Illustration bringt.116 Unter den weiteren Motiven, die
er aufzählt: die Heimsuchung Marias, das Zeichen der Stadt Nazareth,
Passionsgeschichten, das Heilige Kreuz und der Terebinth. Slisansky fügte
diesen die Motive des Golgathahügels und den Berg Zion hinzu.117 Es soll
auch erwähnt werden, daß Mitglieder der schwedischen Expedition von
Cornelius Loos auf ihren Armen fünf tätowierte Zeichen aus dem Jahre
1711 trugen, die uns sämtlich bereits von anderen Bildquellen her bekannt
sind.118 Das ist ein fester Beweis dafür, daß sich im Verlauf von 50 Jahren
die verschiedenen Motive nicht wesentlich veränderten und daß der Ge-
brauch von Matrizen die Motivauswahl begrenzte, die den europäischen
Pilgern angeboten wurden. Während das Jerusalemer Kreuz jenes Motiv
war, das im Laufe von 100 Jahren die weiteste Verbreitung fand, habe ich
den Eindruck gewonnen, daß zusammengesetzte Szenen wie z. B. die Auf-
erstehung Jesu, seine Himmelfahrt und Kreuzigung mit der Zeit unter den
europäischen Pilgern seltener gebraucht wurden. Sind die Matrizen aus dem
17. Jahrhundert soweit abgenutzt gewesen, so daß sie aus dem Verkehr ge-
zogen werden mußten? Hat die Tatsache, daß das Tätowierhandwerk im
Verlauf des 18.Jahrhunderts aus der Hand der aus Bethlehem stammenden
– vornehmlich katholischen – Tätowierer an die Angehörigen der Ostkir-
chen (Kopten, Armenier und andere) aus Jerusalem überging, die Motiv-
auswahl, die den westlichen Pilgern geboten wurde, gemindert oder gar
verändert? Wir haben darauf keine eindeutige Antwort.
Aus der Überprüfung der koptischen Motive im Katalog Carswells119
geht hervor, daß unter den koptischen Tätowierungsvorlagen das Motiv
der Auferstehung Jesu am häufigsten verbreitet ist. Dieses Motiv taucht
in 48 von insgesamt 184 Vorlagen auf, allerdings in einer Fassung, die
sich von der unterscheidet, die unter europäischen Pilgern verbreitet war.
Während bei diesen die Grabkapelle neben Jesus dargestellt wird, ent-
steigt in den koptischen Darstellungen Jesus einem offenen Sarg, in ei-
ner Hand eine Fahne, neben ihm zwei Engel und über ihm die Taube des
heiligen Geistes – meist ohne die Grabeskapelle auch nur andeutungs-
weise zu skizzieren.
116
Troilo (wie Anm. 50), S. 390.
117
Slisanski (wie Anm. 48), S. 40.
118
Lewy (wie Anm. 39), S. 85. Anders als Ludolf hat der schwedische Edelmann Con-
rad Sparre, ein Mitglied der Expedition von Loos nach Palästina, seinen tätowierten Arm
bei seiner Porträtierung nicht bloßgelegt. Vgl. Ebd. S. 75.
119
Carswell (wie Anm. 68).
36 M ORDECHAY L EWY

Zwei Vorlagen des Auferstehungsmotivs aus dem Katalog erwecken


besonderes Interesse. In der Vorlage 1 des Katalogs (Abb. 23) ist Jesus
am oberen Ende der Stufen zu sehen (ein Hinweis auf den Eingangsbe-
reich der Engelskapelle?), in seiner rechten Hand die Fahne, links von
ihm ein Gebäude mit Kuppel und Kreuz. Die Kuppel hat zwar Ähnlich-
keit mit der Grabeskirche, meiner Ansicht nach ist es aber eine mißlunge-
ne Kopie der Grabeskapelle. Der Verdacht, daß es sich hier um eine Ko-
pie der unter den europäischen Pilgern bekannten Vorlage handelt, wird
zur Gewißheit angesichts der Inschrift, die die Matrize umrahmt.
Die Buchstaben erwecken den Eindruck, als würde es sich um eine
lateinische Schrift handeln, sie ergeben jedoch keinen Sinn und bleiben
auf dem Niveau einer unverständliche Wiedergabe. Vielmehr erinnert es
uns an eine Gravur, die in ihrem Versuch scheiterte, die Inschriften wie-
derzugeben, wie sie in Matrizen der Auferstehung Jesu aus dem 17. Jahr-
hundert überliefert wurden. Diese Inschrift kennen wir von den Matrizen,
die den europäischen Pilgern damals angeboten wurden. Der mißglückte
Versuch rührt daher, daß die lateinische Schrift dem Holzschnitzer fremd
war. 120 Mir scheint, daß diese kopierte Matrize von einem Graveur herge-
stellt wurde, der nicht zu den Tafelgästen der Franziskaner in Bethlehem
zählte. Die Vorlage belegt den Übergang des Tätowierhandwerks vom
lateinischen Bethlehem in das orientchristliche Jerusalem – ein Über-
gang, der sich wahrscheinlich Mitte des 18. Jahrhunderts vollzog.
Die Vorlage 141 im Katalog von Carswell belegt eine noch größere
Abweichung von der Matrize, die bei den europäischen Pilgern üblich
war (Abb. 24). Auf den mühsamen Versuch, die lateinische Schrift zu

Die Phasen der koptischen Aneignung der


Tätowierungsmatrizen anhand des Auferstehungs-
motivs Jesu: Auferstehung Jesu im Vergleich zur
Abb. 20.

23: Frühe koptische Version der Auferstehung 24:Spätere koptische Version der Auferstehung

120
Vgl. die Inschrift zu deren Wiedergabe in den Abbildungen 13 und 20.
Jerusalem unter der Haut 37

kopieren, wird gänzlich verzichtet. Die Taube des Heiligen Geistes, die
charakteristisch ist für die koptischen Motive der Auferstehung Jesu, strahlt
an ihrer Stelle am oberen Ende der Vorlage. Die Darstellung des Gebäudes
wurde zur dominanten Komponente, während die Gestalt Jesu schrumpfte.
Wie früher hielt er jedoch noch immer einen Stab mit einem Kreuz, der in
etwa einer Fahne ähnelt. Ganz besonders stechen in dieser Miniaturdarstel-
lung sieben Weihrauchlampen in den Wölbungen des Gebäudes hervor, die
gleichzeitig den inneren Raum der Grabeskapelle und der Grabeskirche
andeuten. In stilistischer Hinsicht wurde die Vorlage 141 später als Vorlage
1 hergestellt. Geben die weiteren Tätowierungsvorlagen des Katalogs den
Stil und die Motive wieder, die für die Tätowierungen der europäischen
Pilger charakteristisch waren?
Im Katalog finden sich einige Vorlagen (48, 55a, 56 und 60), die die
Kreuzigung darstellen – und in denen, im Gegensatz zu den früheren Ma-
trizen für europäische Pilger, das Schild oberhalb des Gekreuzigten leer
bleibt und von der Gravur der lateinischen Initialen INRI abgesehen wird.
Die Vorlagen beachten sorgfältig die Ausrichtung von Jesus’ Gesicht zu
seiner rechten Hand und die Plazierung des Schädels zu Füßen des Kreu-
zes. Auf der Vorlage 56a (Abb. 25) wurde versucht, in das Schild Buchsta-
ben zu schnitzen. Es ist jedoch unklar, ob es lateinische Buchstaben sind.
In den Darstellungen der Kreuzigung erscheinen in der Regel zwei Frauen-
gestalten. Sie sind zwei der drei Marien, die nach christlicher Überliefe-
rung bei der Kreuzigung zugegen waren.121 Mir scheint, daß in der Vorlage
der Kreuzigung keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Version
für Pilger aus Europa und der koptischen Version bestehen. Man kann da-
her nicht mit Sicherheit folgern, daß die Matrize, die in Bethlehem verbrei-
tet war, später aus stilistischen Gründen nicht mehr benutzt wurde.
In zwei Vorlagen von Carswells Katalog – 10 und 102 – erkennt man
eine Verkopplung des Jerusalemer Kreuzes mit dem Emblem von Bethle-
hem (Stern und drei Kronen). Auf der Vorlage 102 (Abb. 26) zeigt sich
unter Palmwedeln die lateinische Inschrift IERUSALEM. Diese Vorlage
scheint gebräuchlicher zu sein als die Vorlage 10 (Abb. 27), auf der jede

25: Koptische Matrize zur 26: Koptische Matrize für 27: Koptische Matrize der
Kreuzigung kombinierte Embleme von Wappen ohne Inschrift
Jerusalem und Bethlehem
121
G. Ferguson, Signs and Symbols in Christian Art, Oxford 1973, S. 88.
38 M ORDECHAY L EWY

Inschrift fehlt. Die Unterschiede zwischen diesen Modellen und denen, die
man aus dem 17. Jahrhundert kennt, sind nicht wesentlich, ausgenommen die
Zurückhaltung beim Gebrauch lateinischer Schriftzüge. Mir scheint vielmehr,
als ob die Tätowierer in Jerusalem, einschließlich der koptischen Kollegen,
angesichts der kontinuierlichen Nachfrage seitens der Pilger aus Europa, nicht
auf diese Vorlagen verzichten wollten.
Die große Nachfrage nach Tätowierungen mit dem Jerusalemer Kreuz hielt
sich auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts. Der französische Reisende Char-
mes berichtete im Jahr 1880, Souwan habe ihn in der Altstadt mit dem Zeichen
des Jerusalemer Kreuzes tätowiert. Im Laden Souwans fand Charmes 200
eingerahmte Empfehlungen, darunter eine mit folgendem Text: „Dies zum Zeug-
nis, daß Francis Souwan das Jerusalemer Kreuz am Arm Seiner Hoheit dem
Prinz von Wales [Sohn von Königin Viktoria, später König Edward VII.] ein-
tätowierte. Die Zufriedenheit, die Seine Hoheit über diese Arbeit zum Aus-
druck bringt, wird damit bewiesen, daß er empfohlen werden kann. Gezeichnet
Vanne, Adjutant in der Begleitung Seiner Hoheit des Prinzen von Wales. Jeru-
salem, 2. April, 1862.“122 Und so empfahl Edward VII. auch seinen Söhnen,
sich bei Souwan in Jerusalem während ihres Besuches im Jahre 1882 tätowie-
ren zu lassen. Das Jerusalemer Kreuz schmückte demnach auch den königli-
chen Arm des Herzogs von York, des späteren König George V. Auch über den
preußischen Thronfolger Friedrich, den späteren Kaiser Friedrich III. und Vater
von Kaiser Wilhelm II. wird erzählt, daß er sich während seines Besuches in
Jerusalem im Jahre 1869 (auf der Durchreise zur Eröffnung des Suez-Kanals)
das Jerusalemer Kreuz auf seinem Arm tätowieren ließ.123
Einzigartig im Katalog von Carswell ist auch die Vorlage 52a wegen ihrer
hebräischen Inschrift (Abb. 28). Sie zeigt einen Teil des Tempelberges, in
ihrem vorderen Teil ist die Klagemauer eingezeichnet. Die hebräische Inschrift
Beispiele für Synkretismus bei religiösen
Memorabilia aus Jerusalem

28: Koptische Matrize jüdischer Motive (Tempel und Klagemauer) mit hebräischer Inschrift "Jerusalem".
Daneben ein Fingerring aus Jerusalem mit jüdischen, christlichen und moslemischen Symbolen

122
Charmes (wie Anm. 86), S. 92. Es wird erzählt, als ob Souvan sich weigerte eine Be-
zahlung anzunehmen und nur an einem Empfehlungsschreiben interessiert gewesen war.
Der Adjutant des Kronprinzen schenkte ihm schließlich zehn goldene Souverains. Vgl. Bur-
chett, (wie Anm. 87), S. 100.
123
Kleinpaul (wie Anm. 85).
Jerusalem unter der Haut 39

lautet „Jeruschalajim“. Obwohl Tätowierungen im Judentum nicht gut gehei-


ßen wurden, deutet die Existenz dieser Matrize in den Händen von Kopten
jedoch darauf hin, daß es in Wirklichkeit auch Juden gab, die sich tätowieren
lassen wollten. Dieses Faktum wird auch bekräftigt in den Erinnerungen des
britischen Tätowierers Burchett. In seiner Jugend desertierte Burchett aus dem
Dienst in der britischen Marine, während sein Schiff in Jaffa vor Anker lag.
Als er nach Jerusalem kam, wahrscheinlich zu Beginn der neunziger Jahre des
19. Jahrhunderts, eröffnete er einen Tätowierstand am Fleischermarkt in der
Nähe der Grabeskirche. Er berichtet, daß „die heilige Stadt bereits seit fünfzig
Jahren zum Zentrum der Tätowierung wurde. Es wirkten in ihr Tätowierer aus
Griechenland, Maroniten, Syrer, Franzosen, Juden und Italiener. Die Tätowie-
rer in Jerusalem hatten mit der Tätowierung von Pilgern und Touristen alle
Hände voll zu tun.“124

Zusammenfassung
Der Beginn der Tätowierung im Nahen Osten gründet auf einer uralten Tradi-
tion, die auch in den christlichen Gemeinden des Orients verwurzelt war. Anders
als das Judentum verbat das Christentum die Tätowierung nicht in eindeutiger
Weise. Für das Christentum war die damit verbundene Absicht am wichtigsten,
und so wurde die religiöse Pilgertätowierung zum Phänomen, das geduldet
wurde, ohne daß die Kirche dazu offizielle Ermutigungen ausgesprochen hat-
te. Der Beginn der Pilgertätowierung in Bethlehem knüpft an die wachsende
Produktion religiöser Memorabilia an, die unter den Franziskanern gefördert
wurde. Die Tätowierung wurde zu einer Art beurkundeter Pilgerreise. Täto-
wierungskünstler waren die Dragomanen, die als Pilgerführer, den Franziska-
nermönchen am nächsten standen. Mitte des 18. Jahrhunderts verlagerte sich
das Zentrum der Tätowierungstätigkeit vom „lateinischen“ Bethlehem ins
„christlich-orientalische“ Jerusalem. Dies ist auch die Zeit, in der die europäi-
sche Pilgerfahrten nach Jerusalem einen Tiefpunkt erreicht haben. Es besteht
kein Zweifel, daß die Pilgertätowierung bezogen auf die Matrizentechnik und
die für sie charakteristischen Motive ein spezifisches Phänomen Jerusalems
und Bethlehems ist. Der Vorrat an Vorlagen der Familie Razouk ermöglichte
eine Untersuchung der Motive und ihrer Häufigkeit. Wir können nicht abschät-
zen, wie umfangreich das Phänomen der Tätowierung der europäischen Pilger
war, weder zu Beginn in Betlehem am Ende des 16. Jahrhunderts, noch am
Höhepunkt des Pilgerwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In
jedem Fall aber wurde die Jerusalemer Tätowierung bald zu einem festen Be-
griff auch außerhalb des Landes Israel. Vor diesem Hintergrund ist es an der
Zeit, dem Phänomen der Pilgertätowierung seinen bescheidenen, aber auch
gebührenden Platz im Rahmen der Geschichte des Pilgerwesens im Allge-
meinen und der Geschichte Jerusalems im Besonderen einzuräumen.
***
Übersetzung aus dem Hebräischen: Esther Kontarsky
124
Burchett (wie Anm. 87), S. 52.

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