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1. Vorbetrachtung
2. Der Kulturbegriff und seine Tragödie
2.1Georg Simmel
2.2 Ernst Cassirer
3. Resümee
4. Literaturverzeichnis
1. Vorbetrachtung
2.1Georg Simmel
„Daß der Mensch sich in die natürliche Begebenheit der Welt nicht
fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr
gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt –
mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß
zwischen dem Subjekt und dem Objekt“ (Simmel, 2009: 55).
„Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in
seinem kontinuierlichen Strome fühlen, und das von sich aus auf seine
innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus
gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene,
ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zu selbstgenugsamer
Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilde. Kultur entsteht […], indem
zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die
subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis“ (ebd.: 58).
„Ohne Symbolik gliche das Leben des Menschen dem der Gefangenen in
der Höhle aus Platons berühmten Gleichnis“ (Cassirer, 1996: 71).
Cassirer geht davon aus, dass „Kultur“ alles menschliche Wirken umfasst
und der Mensch seine Umwelt immer schon symbolisch vermittelt
wahrnimmt. Alles Handeln ist deshalb stets ein symbolisches
Formen.Kultur entsteht dabei als Produkt dieses Formens.Der Mensch wird
von Cassirer als „animalsymbolicum“ betrachtet (vgl.ebd.: 51).Die Ratio
kann die Vielfalt kultureller Formen gar nicht überblicken und begreifen,
denn Kultur stellt sich für ihn gänzlich in symbolischen Formen dar.Was
also hat es mit dem Begriff des Symbols bei Cassirer auf sich?
Das Symbol hat für Cassirer die zentrale Bedeutung, es ist der „Schlüssel
zum Wesen des Menschen“ (ebd. 51; 63).Es ist jedoch klar zu trennen vom
bloßen Zeichen oder Signal, welches zum Handeln veranlasst, denn darauf
würden auch Tiere reagieren. Symbole sind universell
verständlicheDesignatoren (vgl. ebd.: 58), und dabei höchst variabel (vgl.
ebd.: 64).Sie ermöglichen den Erkenntnisgewinn bzw. Entwicklung. Signale
haben immer einen materiellen Bezugspunkt, während Symbolen bloß ein
Funktionswert anhaftet. Im Gegensatz zum Tier, dass nur praktische
Intelligenz und Phantasiebesitzt, verfügt der Mensch über „symbolische
Phantasie und eine symbolische Intelligenz“ (ebd.: 60).
Wenn Cassirer auf die spezifische Wahrnehmung von Mensch und Tier
eingeht, trägt seine Philosophie starke konstruktivistische Züge. Er
beschreibt den Menschen als zögerndes, nachdenkendes, beurteilendes und
insofern sich indirekt an die Umwelt anpassendes Wesen. Das Tier reagiert
auf Umwelteinflüsse hingegen stets unmittelbar und direkt, affektiv und
impulsiv. Er betont, dass sich zwischen Umwelt und Mensch ein
Symbolnetz entfaltet, eine künstliche Symbolwelt, der man nicht entkommt
(vgl. ebd.: 49). Ein unmittelbarer Kontakt mit der Wirklichkeit oder
Außenwelt besteht also nicht (vgl. ebd.: 50) oder höchstens zufällig[5];
vielmehr handelt der Mensch stets durch Symbole vermittelt.
Während Simmel den eigentlichen Grund für die Tragödie der Kultur
jedoch im antithetischen Verhältnis von Seele und Welt sieht, das sich nicht
auflösen lässt, sieht Cassirer in der Kultur ein positives Tun, nämlich dem
dauerndenBedürfnis sich erneuern, und in diesem Zuge auch reflektieren,
zu müssen, wobei die Kultur nie weiß wohin sie sich entwickeln wird (vgl.
ebd.). Die Objektivation des Geistes, stellt sich bei Simmel dem
Lebensstrom der Seele entgegen. Cassirer löst dieses Problem, indem er den
Betrachtungsradius erweitert und mit seiner Deutung des Werkbegriffs
einen Perspektivenwechsel evoziert.
„Denn am Ende des Weges steht nicht das Werk, in dessen beharrender
Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das ‚Du‘, das andere
Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben
einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln,
dem es ursprünglich entstammt“ (ebd.: 123, seine Hervorhebung).
Das Kulturobjekt „[…] bleibt doch nur ein Durchgangspunkt. Es ist kein
‚Absolutes‘, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von
einem Ichpol zum anderen hinüberführt“ (ebd.). Kultur ist somit Werkzeug
zur interindividuellen Verständigung. Das einzelne Werk entfacht beim
Benutzer den Drang, sich von der Tätigkeit des Schöpfers dieses Werkes in
Bann ziehen zu lassen, es zu deuten, mit Sinn zu füllen. In diesem Prozess
verändert sich das Werk, da die Deutung des Benutzers und die
ursprüngliche Intention des Werkschöpfers aufgrund unterschiedlicher
Hinsichten, anderer Lebenserfahrung, etc. grundverschieden sein können.
Der Gehalt des Kulturgutes steht nicht von vornherein fest, sondern er
ergibt sich erst in seiner Aneignung durch das Du. Kultur ist damit nichts
feststehendes, vielmehr ist es für sie wesentlich, dass sie sich stetig neu
schafft (vgl. ebd.: 124). Diese Schaffensprozesse können aber nicht nur auf
einzelne Subjekte, sondern auch auf ganze Epochen bezogen werden (Bsp.
Antike und Renaissance). Dabei liegt „[d]as Produktive […] mit dem
Traditionellen im steten Widerstreit“ (ebd.: 126). Es ist ein nie enden
wollender Wettstreit um Erhalt und Erneuerung (vgl. ebd.: 135), der aber
ebenso als Befreiung verstanden werden muss, da durch dieseandauernden
inneren Konflikte ungeahnte Kräfte frei werden. Doch auch wenn sich die
inneren Gegensätze immer weiter zuspitzen sollten,
„[…] wird dieses Drama der Kultur nicht schlechthin zu einer ‚Tragödie
der Kultur‘. Denn es gibt in ihm ebensowenig eine endgültige Niederlage,
wie es einen endgültigen Sieg gibt. Die beiden Gegenkräfte wachsen
miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören“ (ebd.).
Eine Tragödie der Kultur kann schlechthin nur dann angenommen werden,
wenn vorher ein Ziel ausgemacht ist, von welchem sie sich mehr und mehr
entfernt. Aus Cassirers Argumentation wird jedoch deutlich, dass sich ein
eindeutiges festes Ziel, auf welches sich Kultur in ihrer Fortentwicklung
hinbewegt, gar nicht ausmachen lässt. Alle Eigenschaften, die der Mensch
im Laufe seines Lebens erworben hat, wirken sich durch die biologische
Schranke der Nichtvererbbarkeit, nicht auf seine Gattung aus. Diese
biologische Schranke wirkt allerdings nicht in den Kulturphänomenen.
Durch die Schaffung von Kulturwerken innerhalb der symbolischen
Formen,hat der Mensch erreicht, wozu das bloße Leben in der „organischen
Natur“ nicht im Stande war. Das Individuum objektiviert sich im Werk,
welches zu den „Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit“
wird (vgl. ebd. 137f.). Auf diese Weise beeinflussen sie Individuen
nachfolgender Generationen. Sie begeistern Andere mit ihrem Werk und
motivieren zur Wiederaufnahme und Fortentwicklung dieser Ideen.
„Das Werk ist im Grunde nichts anderes als eine menschliche Tat, die
sich zum Sein verdichtet hat, die aber in dieser Verfestigung ihren Ursprung
nicht verleugnet. Der schöpferische Wille und die schöpferische Kraft, aus
denen es hervorgegangen ist, lebt und wirkt in ihm fort und führt zu immer
neuen Schöpfungen weiter“ (ebd.: 138).
Die Gefahren auf die Cassirer und Simmel hinweisen, sind heute
sicherlich noch aktueller denn je, betrachtet man die technischen
Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert. Was gestern noch modern war,
ist heute schon wieder veraltet. Die Welt ist noch um einiges schnelllebiger
geworden als sie es zu Lebzeiten der beiden Philosophen war. Der Mensch
ist überfordert von der Auswahl, in der sich ihm Kultur darstellt. Nicht nur
in Form technischer Geräte – denn Kulturgüter sind nicht ausschließlich
materielle, sondern auch geistige Gebilde – aber eben dort sehr prägnant,
stellt man fest, welchen immensen Einfluss die Kultur auf das tägliche
Leben der Menschen gewonnen hat. Insofern ist die angesprochene
Eigendynamik der symbolischen Formen bei Cassirer, bzw. die immanente
Entfaltungslogik objektiver Kultur bei Simmel, durchaus nachvollziehbar.
Kultur läuft nebenbei. Es wird sich für bewusstes Hinsehen gar keine Zeit
mehr genommen, weil keine Zeit bleibt. Ist die These „Je komplexer die
Kultur und die Gesellschaft werden, desto selbstzerstörerischer wirken sie
auf sich und ihre Benutzer“, berechtigt oder verhält es sich nicht gerade
umgekehrt: „Je komplexer die Kultur wird, desto besser für sie, weil gerade
dies ihrem Wesen entspricht und sie dadurch ihre Benutzer zu mehr
Reflexion erzieht“?
Vergleicht man nun beide Darstellungen, stellt man zunächst fest, dass
Cassirer und Simmel grundsätzlich ein tragisches Element im Wesen der
Kultur erkennen. Beide sehen in der zunehmenden Technisierung etwas
Kulturzersetzendes. Die Kulturgüter werden unüberschaubar vielfältig,
wobei sie im Menschen sinnlose Bedürfnisse der andauernden
Perfektionierung wecken. Die einzelnen Kulturgüter werden dabei nicht
mehr wertgeschätzt, d.h. es wird vom Subjekt nicht mehr reflektiert, welche
Bedeutung das Objekt im Gesamtgefüge der Kultur hat. Der Mensch
verdrängt Zufriedenheit und Anerkennungund entwickelt stattdessen
Habgier und Neid. Das Ziel seines Handelns verschiebt sich zugunstendes
Besitzes bestimmter Güter, in der Hoffnung damit sein gesellschaftliches
Ansehen aufzuwerten, mehr Macht und Einfluss ausüben zu können.Dieses
Streben beherrscht den Menschen innerhalb der Industriegesellschaft in fast
schon perverser Art und Weise. Simmel und Cassirer mahnen, sich dem
Überfluss der Kulturgüter bewusst zu werden und animieren dazu, sich
auch bewusst auf die Einfachheit der Natur zu besinnen.
Worin sich beide jedoch unterscheiden ist ihre Bewertung der „Tragödie
der Kultur“. Simmel ist, wie Cassirer richtig feststellt, kulturpessimistisch.
Die Kultur bzw. die Menschheit muss sich, seiner Ansicht nach, in letzter
Konsequenz selbst zerstören, da sie in einem unauflösbaren Konflikt
gefangen ist. Simmel sieht in der Kultur das Instrument, das der Mensch
benötigt, um sich zu entwickeln, mit dem Ziel eine Idee von sich und
seinem Wesen ausbilden zu können. Kultur dient ihm als Mittel zur
Identitätsfindung. Dieses Ziel erreicht der Mensch aber nun nicht mehr, da
die Kultur ihn in Bann zieht,begünstigt durch Spezialisierung und
Arbeitsteilung, zu einem „Fetischdienst an der Technik“ verpflichtet.
Bei Cassirer lässt sich ein echter Ausweg aus dem Dilemma der Kultur
auch nicht erkennen, doch seine Perspektive ist eine andere. Simmels
„Tragödie“ist für Cassirer nicht so dramatisch, weil der Dualismus, den
beide als ihre Ursache ansehen, für ihn eben kein „unheilvoller“ ist.
Cassirer sieht das Werk oder Kulturobjekt sich zwischen Erhaltung und
Erneuerung bewegen. Beide Pole wachsen wechselseitig miteinander an,
ohne sich zu zerstören. „Die Objektivität der Kultur und das eigene Ich
erschließe sich vor allem über das Du, das heißt in der recht verstandenen
Interaktion mit dem anderen Ich. Und gerade hierin sieht Cassirer den Weg,
die Tragödie der Kultur zu vermeiden“ (Orth, 1991: 115).
Mit der Schaffung eines Kulturobjekts hat der Erzeuger bei Simmel
hingegen zum Ziel, sich selbst besser kennenzulernen, zu wissen was er
kann und was er ist. Cassirer sieht Kultur als Mittel der Kommunikation
zwischen Personen und ganzen Epochen an. Wenn jemand ein Kulturobjekt
schafft, dann mit dem Ziel sich zu bereichern, sich seiner Fähig- und
Fertigkeiten bewusst zu werden, sein Können zu reflektieren. Aber
genauso, um andere Menschen mit seinen Gedanken vertraut zu machen,
sie zu motivieren, sich ebenfalls mit der Thematik zu beschäftigen und sein
Werk zu erweitern oder umzugestalten, oder miteinander Erfahrungen
auszutauschen. Dem Werk kann auch eine repräsentative Wirkung als
Monument eines bestimmten Ausschnitts einer Kultur verliehen werden.
Cassirer und Simmel stellen allerdings fest, dass ein Werk im weitesten
Sinne, ist es einmal produziert, zu einem gewissen Teil für sich fortbesteht.
Es entfaltet sich anhand einer inneren Logik, die unabhängig von der
Intention seines Erzeugers entsteht. Diese immanente Entwicklungs- oder
Entfaltungslogik entsteht aus der Nutzung des Werkes und dessen
Mehrdeutigkeit heraus. Denkt man an Grundsätze von Moral und Recht, so
kann keine Fortentwicklung jene Grundsätze in Gänze diskreditieren, und
tut sie es doch, so wäre ein Totalumsturz bzw. der Verlust dieses Kulturguts
die Folge. Das Kulturgut besteht in seiner Form, losgelöst vom sich ständig
verändernden Inhalt, quasi als Selbstläufer fort. Es wird selbst zum Subjekt.
Das Wesen der Kultur ist die dauernde Veränderung. Auf der einen Seite
ist sie der Tradition verpflichtet, beruft sich auf ihre Geschichte. Auf der
anderen Seite möchte der Mensch stetig aus sich heraus, seinen Einfluss auf
die Natur und Umwelt vergrößern und Kultur damit immer wieder
neuschaffen und verfeinern bzw. spezialisieren.Das Dilemma der Kultur,
der Dualismus zwischen Subjekt und Objekt kann nicht zu einer Lösung
gebracht werden. Am Ende dieses Vergleichs stehen beide Positionen sich
gleichwertig gegenüber. Daher kann nicht mit letzter Sicherheit entschieden
werden, ob sich Kultur mit zunehmender Komplexität unausweichlich zu
Grunde richten wird, oder sich gerade aus diesem steten Erneuerungs- und
Reflexionsprozess schöpft.
4. Literaturverzeichnis
Cassirer, Ernst (2009): Die Tragödie der Kultur. In: Konersmann, Ralf;
Benjamin, Walter (Hg.): Grundlagentexte Kulturphilosophie. Benjamin,
Blumenberg, Cassirer, Foucault, Lévi-Strauss, Simmel, Valéry u.a.,
Hamburg: Meiner, S. 117–138.
Simmel, Georg (2009): Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In:
Konersmann, Ralf; Benjamin, Walter (Hg.): Grundlagentexte
Kulturphilosophie. Benjamin, Blumenberg, Cassirer, Foucault,
Lévi-Strauss, Simmel, Valéry u.a. Hamburg: Meiner, S. 55–76.
Witsch, Monika (2008): Kultur und Bildung. Ein Beitrag für eine
kulturwissenschaftliche Grundlegung von Bildung im Anschluss an
Georg Simmel, Ernst Cassirer und Richard Hönigswald.
Würzburg: Königshausen & Neumann.