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Martin Ertl: Um das zu bewerkstelligen, müssen zahlreiche Bestandteile des Gesamtsystems Bahn, also Schienen, Signaltechnik, Züge und Kommunikationssysteme modernisiert und digitalisiert werden. Der Bedarf ist groß. Schließlich ist die Lebensdauer all
dieser Komponenten sehr hoch. Das ist im Grunde sehr nachhaltig. Wenn die Politik die Ertüchtigung der Infrastruktur aber nicht zur Priorität macht, verzögert das die Durchsetzung wichtiger Innovationen.
Nicolas Lange: Güterzüge beispielsweise sind technologisch auf dem Niveau von vor 100 Jahren. Um sie in ein digitalisiertes Bahnsystem einzubinden, brauchen wir völlig neue technologische Lösungen. Aber auch die viel weiter entwickelten Personenzüge und
die Infrastruktur müssen noch große Entwicklungsschritte machen.
Dr. Nicolas Lange, Mitglied des Vorstands bei Knorr-Bremse und verantwortlich für das weltweite Rail-Geschäft
Martin Ertl: Deswegen muss investiert werden: in Signaltechnik, die kürzere Zugabstände erlaubt, in automatisierten Zugverkehr und in Technologien, die die Infrastruktur konstant überwachen, um Probleme an Strecken beheben zu können, bevor sie zu
Baustellen oder Umleitungen führen. Und: Die Bahn muss wettbewerbsfähiger gegenüber dem Warentransport auf der Straße werden. Der hat heute noch einen Kostenvorteil und liefert von Haustür zu Haustür.
Martin Ertl, Vice President Innovation and Portfolio Management bei Knorr-Bremse Rail Vehicle Systems
Nicolas Lange: Dass ausgerechnet jetzt ein ergebnisorientiertes Programm anlief, hat mehrere Gründe. Der „Green Deal“ der EU ist eine der Haupttriebfedern. Damit wollen die EU-Mitgliedstaaten bis 2050 klimaneutral werden, unter anderem durch die
Reduktion von Treibhausgasen im Verkehrssektor um 90 Prozent. Der Übergang zu mehr Bahnverkehr spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Martin Ertl: Europe’s Rail arbeitet in sechs wesentlichen Fokusgebieten, den sogenannten Flagship-Areas. Sie orientieren sich stark an den größten Bedürfnissen der Bahnbetreiber, wie Deutsche Bahn und Co. Knorr-Bremse ist in fünf Flagship-Areas mit neun
konkreten Projekten und Produktentwicklungen beteiligt.
Entwickeln die Mitglieder von Europe’s Rail gemeinsam oder unabhängig voneinander?
Martin Ertl: Das ist von Projekt zu Projekt verschieden. Im Fall der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) entwickeln zwar mehrere Unternehmen eine eigene DAK, die aber allesamt über eine Schnittmenge identischer Funktionen verfügen. Die DAK ist eine
Schlüsseltechnologie für die Digitalisierung des europäischen Güterverkehrs, weil sie die Automatisierung des Kupplungsvorgangs ermöglicht und die Züge mit Strom- und Datenleitungen ausstattet. Auch wenn hier verschiedene Hersteller an eigenen Lösungen
arbeiten, lautet das Zauberwort immer „Interoperabilität“.
Nicolas Lange: Das heißt, am Ende müssen alle Systeme problemlos miteinander funktionieren – eine Standardschnittstelle haben, wenn man so will. Damit können alle Bahnbetreiber, wie etwa die Österreichische Bundesbahn, die Deutsche Bahn oder die
SNCF, immer noch ihre individuellen Anforderungen an die jeweiligen Lösungen realisieren, ihre Züge lassen sich aber trotzdem problemlos aneinander kuppeln.
Wagen und 17.000 Lokomotiven sollen im Falle der DAK umgerüstet werden.
Martin Ertl: Unsere Qualitäten zeigen wir auch beim Elektro-Mechanischen Bremssystem, das viele Vorteile in den Bereichen Eco-Effizienz, Gewichtsreduktion, Konnektivität und Wartungsfreundlichkeit bieten wird. Anfang 2024 werden hier weitere Meilensteine
erreicht sein. Auch ist das Brancheninteresse an weiteren Zusatzfunktionalitäten für moderne Bremssysteme groß, zum Beispiel an Reproducible Braking Distance. Damit werden Bremswege noch präziser, aus allen Geschwindigkeiten, unter allen
Umweltbedingungen. Das bringt Bahnbetreibern noch mehr Stabilität im Betrieb, die sich in höherer Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit auszahlen wird. Zudem bietet es den nächsten Schritt in Richtung Autonomisierung.
Nicolas Lange: Auf übergeordneter Ebene zahlen beide Innovationen auf ein zentrales Ziel ein, nämlich das vorhandene Bahnsystem und die Infrastruktur besser auszulasten. Hochpräzise Bremswege werden es perspektivisch ermöglichen, die Mindestabstände
zwischen hintereinanderfahrenden Zügen zu reduzieren. Dadurch passen mehr Züge auf die Strecke.
Kooperation und Wettbewerb auf europäischer Ebene
Bei Europe’s Rail werden offenbar auch Wettbewerber zu Partnern. Warum sind hier Kooperation und Konkurrenz kein Widerspruch?
Martin Ertl: Sicherlich einigt der europäische Gedanke die Akteure zu einem hohen Grad. Manche mögen Konkurrenten bleiben, dennoch vereinen wir in partnerschaftlicher Zusammenarbeit unsere Kräfte zur Erreichung eines wichtigen europäischen Ziels.
Trotzdem sind wir in dieser Kooperation immer durch Anti-Trust-Gesetze beschränkt, was auch gut so ist. Wir sprechen beispielsweise nicht über Preise. Durch das hohe Maß an Kooperation, auf das wir uns geeinigt haben, legen wir die Grundlagen für
marktreife Produkte mit den gleichen Funktionen – Produkte, die am Ende dem Gesamtsystem Bahn nutzen.
Nicolas Lange: Diese Kooperation ist sicherlich auch zu einem guten Teil von Pragmatismus geprägt. Die Herausforderungen für die europäische Eisenbahnindustrie können nur gesamteuropäisch gelöst werden. Auch das ist ein legitimer Antrieb.
Nicolas Lange: Vor all diesen Themen steht allerdings stets eines: das liebe Geld. Wenn Sie das Schienennetz nicht sanieren, wenn Sie die DAK nicht finanzieren, wenn Sie die digitale Signaltechnik ETCS (European Train Control System) nicht flächendeckend
finanzieren, werden Sie keinen verbesserten Schienenverkehr hinbekommen. Und da ist die Politik, ist die EU gefragt, sich langfristig zu verpflichten. Der politische Wille ist entscheidend.
Wenn Sie am Ende einen Blick in die Glaskugel werfen: Wie sieht der Personen- und Güterverkehr in Europa in zehn Jahren aus?
Nicolas Lange: Meine Vision für den Personenverkehr ist ein integriertes Verkehrssystem. Man kommt reibungslos über automatisierte Fahrzeuge, öffentlichen Nahverkehr oder Car Sharing zum Bahnhof, setzt sich im Zug auf reservierte Plätze, steigt am
Endbahnhof aus und kommt dann wieder über ein hoch verfügbares anderes Verkehrsmittel ans Ziel – und das zu attraktiven Preisen. Das sollte in zehn Jahren machbar sein. Aber auch hier: Das muss gewollt und finanziert werden.
Martin Ertl: Im Güterverkehr werden wir die Umrüstung auf die Digitale Automatische Kupplung geschafft und den Güterverkehr der Straße gegenüber deutlich effizienter und wettbewerbsfähiger gemacht haben.
Nicolas Lange: Der Güterverkehr sollte, so jedenfalls lauten ja die Ziele der EU, durch Schlüsselinnovationen und neue Prozesse 30 Prozent im Transportmix ausmachen. Momentan liegen wir in Europa im Schnitt bei 18 Prozent. Österreich zeigt, dass 30 Prozent
möglich sind. Warum sollte das dann nicht für den ganzen Kontinent machbar sein?
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