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Statine für alle?

Wann Cholesterinsenker gerechtfertigt sind


Prof. Dr. Thomas Meinertz,
Kardiologisch-Internistische Praxis Meinertz & Jäckle, Hamburg

An keiner medikamentösen Therapie schei- Doch wie sieht es bei Menschen aus, die noch
den sich die Geister so sehr wie bei der nie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall gehabt
Behandlung mit cholesterinsenkenden Sta- haben und auch nicht an einer kardiovaskulä-
tinen. Für Anhänger der Theorie der „Cho- ren Erkrankung leiden? Sollten diesen „noch
lesterinlüge“, nach der die Senkung eines gesunden“ Patienten Statine verordnet werden,
erhöhten Cholesterinspiegels mehr schadet um sie möglicherweise vor lebensbedrohli-
als nutzt, kommt eine Behandlung mit Sta- chen Komplikationen zu schützen (Primärprä-
tinen ohnehin nicht infrage. Für alle ande- vention)? Bei dieser Frage gehen nicht nur die
ren, die zumindest einräumen, dass erhöhte Meinungen der Experten, sondern auch die
Cholesterinwerte im Blut ein bedeutender Empfehlungen der verschiedenen Leitlinien
Risikofaktor sind und zum Entstehen der auseinander. Überraschend ist, wie groß diese
Arteriosklerose, der Arterienverkalkung, Unterschiede ausfallen.
und ihrer schweren Folgen (siehe Grafik Das hat eine dänische Studie (Mortensen M.
auf Seite 14 und 15) beitragen, stellt sich die et al., 2018) eindrucksvoll gezeigt: Die 45 750
Frage, ab welchem Cholesterinwert mit Sta- Dänen zwischen 40 und 75 Jahren, die an der
tinen behandelt werden soll. Studie teilnahmen, litten weder an einer kar-
diovaskulären Erkrankung noch waren sie mit
Wann also ist eine Behandlung mit Statinen Statinen vorbehandelt und fielen damit in die
gerechtfertigt? Die Antwort ist relativ einfach, Kategorie mit mäßigem Risiko. Die Wissen-
hat der Patient bereits einen Herzinfarkt oder schaftler gingen der Frage nach, ob eine medi-
Schlaganfall durchgemacht, leidet er an einer zinisch begründete Notwendigkeit bestün-
Koronaren Herzerkrankung (KHK) oder an de, die Teilnehmer der Studie mit Statinen zu
einer durch Arteriosklerose bedingten kar- behandeln. Die dänische Studie verglich insge-
diovaskulären Erkrankung, beispielsweise samt fünf unterschiedliche Leitlinien, die alle
auch mit Durchblutungsstörungen der Beine zum Ziel haben, eine kardiovaskuläre Erkran-
(pAVK). Bei diesen Patienten sollte nach den kung zu verhindern.
derzeit gültigen Leitlinien der LDL-Cholesterin- Das Ergebnis: Nach der US-amerikanischen
wert möglichst unter 70 Milligramm pro Dezili- Leitlinie (ACC/AHA-Guideline, 2013) hätten
ter Blut (mg/dl) beziehungsweise 1,8 Millimol 42 Prozent der Studienteilnehmer Statine ein-
pro Liter (mmol/l) gesenkt werden. Für alle nehmen müssen, nach der britischen Leitlinie
diese Patienten gilt: Je nie­driger der LDL-Wert, (Prevention of Cardiovascular Disease Clinical
umso besser. Auf diese Weise können sie dazu Guideline, 2014) 40 Prozent – nach den euro-
beitragen, sich vor einem erneuten Herzinfarkt päischen Leitlinien (ESC-/EAS-Guidelines,
und Schlaganfall zu schützen (Sekundärprä- 2016) gerade einmal 15 Prozent.
vention). Das ist durch viele wissenschaftliche Wie lassen sich diese erheblichen Abweichun-
Studien nachgewiesen. Dass dieses Ziel nicht gen erklären? Sie kommen zustande, weil die
immer erreichbar ist, steht auf einem anderen wissenschaftlichen Studien unterschiedlich
Blatt. Häufige Gründe hierfür sind tatsächliche interpretiert werden und das Risiko des Patien-
oder vermeintliche Nebenwirkungen der Sta- ten in den einzelnen Leitlinien unterschiedlich
tine. Hinzu kommt, dass viele Patienten nicht eingeschätzt wird.
gewillt sind, Statine lebenslang einzunehmen. Nach welcher Leitlinie soll sich der behan-
delnde Arzt richten? In Deutschland werden

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Momentaufnahme: Eine Ablagerung
(Plaque; im Bild blau) behindert
den Blutfluss.

Hinzu kommt, dass vermeintlich oder wirk-


lich gesunde Menschen eine Abneigung gegen
die langfristige Einnahme von Medikamenten
haben. Dies umso mehr, wenn sich die Einnah-
me „nur“ langfristig günstig auswirkt, eventu-
elle Nebenwirkungen aber schon relativ kurz-
fristig auftreten können.
Die Einstellung zur Statin-Therapie erfor-
dert aus meiner Sicht ein Umdenken, sowohl
bei den Patienten als auch bei den Ärzten.
weiteren Risikofaktor haben. Wenn das Risiko Die Patienten sollten wissen, dass die Statin-
von Frauen und Männern, in den nächsten Behandlung eine gesunde Lebensführung
zehn Jahren aufgrund einer kardiovaskulären nicht ersetzen kann: Erfolgreich ist Vorbeu-
Erkrankung zu sterben, unter zehn Prozent gung nur, wenn man den Entschluss fasst, sich
liegt (ESC-Score), brauchen sie nicht mit Stati- regelmäßig zu bewegen, gesund zu ernähren
nen behandelt zu werden – sofern die europä- und auf das Rauchen zu verzichten. Alle ande-
ischen Leitlinien zugrunde gelegt werden. Die ren Risikofaktoren sollten konsequent behan-
US-amerikanische Leitlinie sieht eine Therapie delt werden. Allerdings kann man durch diese
mit Statinen vor, wenn das Risiko, eine kardio- Maßnahmen das erhöhte LDL-Cholesterin nur
vaskuläre Erkrankung zu erleiden, über mehr unzureichend beeinflussen.
als 7,5 Prozent liegt. Wichtig ist, dass nicht Nach dem derzeitigen Stand des Wissens über-
primär der LDL-Cholesterinwert zur Behand- wiegen die Vorteile einer Behandlung mit
lung führt, sondern immer ein Mensch mit Statinen bei Menschen mit sehr hohem und
einem bestimmten Risiko für kardiovaskuläre hohem Risiko. Nur schwere Nebenwirkun-
Erkrankungen bei einem gegebenen LDL-Cho- gen sollten ein Grund sein, die Einnahme zu
lesterinwert mit einem Statin behandelt wird. beenden. Dann sind neuerdings sogenannte
PCSK9-Hemmer verfügbar, die alle zwei bis
vier Wochen unter die Haut gespritzt werden.
Umdenken erforderlich Aus vergleichenden Studien mit einem Schein-
Was lässt sich für die Praxis folgern? Die unter- medikament (Placebo) weiß man, dass die
schiedlichen Empfehlungen zur Therapie mit Nebenwirkungen von Statinen seltener sind
Statinen beziehen sich überwiegend auf Pati- als vielfach angenommen (Muskelbeschwer-
enten mit mäßigem kardiovaskulären Risiko – den bei fünf bis zehn Prozent der Patienten
hier sind die US-amerikanischen, kanadischen und ein geringfügig erhöhtes Risiko für Diabe-
und britischen Leitlinien strenger als die euro- tes um 0,2 Prozent).
päischen Leitlinien. Die Ärzte haben einen erheblichen Ermessens-
Angesichts der Skepsis und der häufig negati- spielraum beim Verordnen von Statinen in der
ven Einstellung gegenüber einer Statin-Thera- Vorbeugung. Sie sollten sich am Regelwerk der
pie wäre es schon ein großer Gewinn, wenn ESC orientieren – mit Augenmaß. Das heißt:
die weniger weit gehenden Empfehlungen Für die Entscheidung, „noch gesunde“ Frauen
der europäischen Leitlinien befolgt würden. und Männer mit Statinen zu behandeln, muss
Dies ist leider nicht der Fall. Die Berichterstat- immer das individuelle Gesamtrisiko jedes
tung über die „Cholesterinlüge“ hat sich auf Einzelnen berücksichtigt werden – nicht der
die Einstellung vieler Menschen ausgewirkt. Laborwert „LDL-Cholesterin“ alleine.

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