Die Teilung der Mittelmeerwelt
li! I I
9 Kaiserschnitt (Aus-
führung einer Schnittent•
bindung), persische Minia-
tur, 1307
Rationalität
Mit Rationalität (von lateinisch ratio
= Berechnung. Vernunft} wird ein
vernunftgeleitetes und an Zwecken
ausgerichtetes Denken und Handeln
bezeichnet.
Fundamentalistisch
bedeutet, starr an überlieferten poli-
tischen oder religiösen Grundsätzen
zu hängen, Neuerungen abzulehnen
und sich nicht der modernen Zeit
anzupassen.
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Griechische Antike und arabische Wissenschaft
o,e Blütezeit des Islams Die unter den Abbasiden (8.-13. jh. n. Chr.) entwi-
ckelte Zivilisation in den islamisch beherrschten Ge-
bieten wird als kulturelle Blütezeit des Islams bezeichnet. Zentren für Kunst, Kul-
tur, Wissenschaft und Forschung entstanden vor allem in den Städten Bagdad und
Córdoba. Neben dem Studium von Koran, Hadith und islamischem Recht wandte
man sich auch weltlichen Wissenschaften zu. Besonders begehrt war neben der
Philosophie vor allem solches Wissen, das von praktischem Nutzen war. Dazu
gehörten Mathematik und Astronomie, Chemie und Geografie, vor allem aber die
Medizin (s. M 1).
Bewahrung antiken Wissens In den neu eroberten Gebieten des Byzantinischen
Reiches trafen die Muslime auf die Werke der anti-
ken griechischen Wissenschaft und Philosophie. Im christlichen Westen war je-
doch die Kenntnis des Griechischen weitgehend untergegangen und somit der
Zugang zu den Quellen des antiken Denkens verschüttet. Unter Vermittlung syri-
scher Christen wurden die antiken Schriften, insbesondere die des Aristoteles, im
9. Jahrhundert in Bagdad, später auch in Toledo, von Muslimen ins Arabische
übersetzt und weiter entwickelt. So gelangten sie wieder in den Westen.
zunehmender Scillscand Die Begegnung von rationalem griechischen Denken
und Islam führte bei vielen Muslimen zu tiefgreifen-
den Spannungen. Vemunftbasiertes Nachdenken geriet in Konflikt mit göttlicher
Offenbarung. Seit etwa 1100 begann der Niedergang dee muslimischen Wissen-
schaft - vor allem aufgrund einer zunehmend fundamentalistischen Glaubens-
ausrichtung. Einige einflussreiche islamische Theologen kritisierten die Beschäf-
tigung mit Philosophie und Wissenschaft, weil sie angeblich vom wahren Glauben
wegführten. Sie waren der Meinung, dass Koran und Hadith als Offenbarung des
Göttlichen vollständig ausreichten, die Welt zu erklären. Es bestand für sie somit
keine Notwendigkeit mehr, sich selbstständig nachdenkend und kritisch mit der
Umwelt auseinanderzusetzen. Diese Auffassungen setzten sich in der islami-
schen Welt zunehmend durch und führten schliesslich zu einem starken Rück-
gang der wissenschaftlichen Diskussion .
... Beschreibt die Spannungen, zu denen es im Islam nach dem Kontakt mit
rationalem griechischen Denken kam.
(m Die Faszination der Wissenschaften
Der 1slam1sche Gelehrte Ibn Cha/dun, 14. /h.:
So widmeten sie [die Muslime] sich den angewandten
Künsten und den Wissenschaften. Sie entwickelten dann
das Verlangen, sich eingehend mit den philosophischen
Wissenschaften zu befassen.[ ... ] Diejerugen unter den Mus-
s limen, die sich mit theoretischen Fragen beschäftigten, setz-
ten sich mit diesen Künsten [v.a. der Philosophie] auseinan-
der und wurden darin sehr bewandert. [ .. ] Wegen seiner
grossen Berühmtheit setzten sie sich besonders mit ihm
[Aristoteles] auseinander, se, es, um ,hn zu widerlegen oder
,o ihn zu bestätigen. [ ... ] Diese Art der Wissenschaften ebenso
wie ihre Vertreter verbreiteten sich und faszinierten viele
Menschen so, dass sich viele ihnen anschlossen und ihren
Postulaten [Erkenntnissen, Theorien] Folge leisteten.
Zit. noch: Sylvain Gougenheim, Aristoteles ouf dem Mont Saint-Michel. Die
griechischen Wurzeln des Abendlandes, Darmstadt (WBG) 2011, 5. 236,
übers. v. Daniel König
2 Beschreibe, wie Ibn Chaldun die Beschäftigung der
Muslime mit der griechischen Wissenschaft ein-
schätzt - eher positiv oder eher negativ (M 2)?
eD Glaube oder Wissenschaft?
Der persische Dichter Nizam, (gest. 1203) erzählt die Ge-
schichte von BJSchr, einem frommen Muslim, der auf einer
Wanderung Mel1cha kennenlernt:
Nach einer Weile stieg vor den zwei Wanderern am Hon-
zone eine schwarze Wolke empor, und als Melicha sie er-
blickte, fragte er· .Weisse du eigentlich, warum die einen
Wolken pechschwarz sind und andere weiss wie Milch?"
s .Weil Allah es so befiehlt" entgegnete Bischt .. aber das
weissc du 1a ebenso gut wie ich" .Unsinn, das 1st nur eine
Ausflucht" widersprach Melicha .• Auf solche Weise komme
dein Denken niemals ans Ziel! Vielmehr besteht die dunkle
Wolke aus Rauch, wie er von einem Feuer erzeuge wrrd,
" während 1n der hellen bloss Feuchngkeu rst. Das - meine
ich - leuchtet doch ¡edem Vernünftigen ein'.'
Und als sich kurz darauf ein Wind erhob, fuhr der Schwätzer
fort: .Sag! Was rst der wehende W1nd7 Denk ein bisschen
darüber nach - man soll niche einfach stumpf und dumpf
,, dahinleben wie ein Rindvieh oder ein Esel"' Bischr [ ... ] ant-
wortete: .. Der Wind weht, weil Allah es so will; ohne sein
Urteil komme nichts zustande" .Wie lange erzählst du noch
solche Arnrnenrnârchen?" nef Melicha zornig .• Lass dich
doch endlich von der Wissenschaft leuen' Wind entsteht
20 immer da, wo die Luft durch dre Ausdünstung der Erde ,n
Bewegung gebracht wrrd. Aber Jetzt sieh den Berggipfel da!
Warum wohl rst er höher als die anderen, sag?" .. Allah füge es
nun einmal so, dass der eine höher, der andere niedriger 1st",
erwiderte Bischr geduldig .• Ist das etwa eine Erklärung. ein
21 Bewe,sr, höhnte sein Gefährte .•Willst du denn ewig alles
Allah in die Schuhe schieben' Nein' Der niedrige Berg wurde
Das islam ische W eltreich
durch Unwetter abgeílacht, indes eben der hohe davon ver-
schone blieb. So ist das!"
Zit nach Nlzomi, Ote sieben Geschichten der sœben Prinzessinnen, Zürich
1959, S. 103- 108, hg. und über:s. v. Rudolf Gelpke; zit. nach: Wolfgang Günter,
Islam und lslamismus, Schwalbach/Ts. (Wochenschau) 2006, S.26J
3 .. Charakterisiere die Positionen von Bischr und
Melicha in M 3. Gib Gründe an, warum sich die von
Bischr vertretene Auffassung im Hoch- und Spätmit-
telalter im Islam allgemein durchgesetzt hat. Wem
gehört die Sympathie des Dichters Nizami?
Aristoteles und seine islamischen Anhänger
Der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.) war der
erste Vertreter eines an Vernunft und Erfahrung orientierten
Denkens. Aus seinen Werken konnte man den Schluss ziehen,
dass die natürlichen Dinge auf natürliche Weise ohne Rückgriff
auf göttlich gewirkte Wunder zu erklären seien. Oies war weit
entfernt vom Glauben an die göttliche Schöpfung. von dem die
islamische Religion geprägt ist. Eine intensive Beschäftigung mit
Aristoteles beinhaltete deshalb d.e Gefahr, dass man in Gegensatz
zum islamischen Glauben geriet.
Die wichtigsten islamischen Anhänger des Aristoteles waren:
- der Perser Ibn Sina (Avicenna, um 980-1037), Arzt, Physiker,
Philosoph, Dichter, Jurist, Mathematiker, Astronom, Alchemist
und Musiktheoretiker;
- der Andalusier Ibn Baddscha (Avempace, um 1095-1138),
Philosoph, Astronom, Physiker und Psychologe;
- der Andalusier Ibn Rusd (Averroes, 1126-1198), Philosoph
und Am (s. auch M4). (s. auch al-Andalus, 5.142/143).
4 ~ Erkläre, warum die Lehre des Aristoteles ein
Problem für den Islam war (s. Kasten).
9 Statue des Averroes in Córdoba, 12.Jh.
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 Oie Teilung der Mittelmeerwelt Geschichtskultur
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Al-Andalus - friedliches Nebeneinander Die Stimmen zweier Historiker stehen stellvertretend für die li'!iEI Die Giralda in Sevilla, Spanien. Foto 2016
untersch1ed/1chen S,chtwe,sen auf die islamische Herrschaft in
Spanien:
mlJ Das Emirat/Kalifat
von Córdoba 756-1031 Sanliagod~
9
! - ,-!
/~ mlJ Die islamische Herrschaft war kein Zwischenfall
Compostel 7 León Roncesvafles Der spanische Historiker Américo Castro, 1957:
\, t 988
o
,r- , 178 í,., [Es ist] kaum verwunderlich, dass Sprache, Siete, Religion,
'
~~ >/ Kunst, Literatur, ja die spanische Lebensmukcur überhaupt

=r:
\

X es verlangen, der jahrhundertealten Verflechtung zwischen

Simancas Christen und Mauren Rechnung zu tragen.[ ... ) Ich möchte
9.1 9
s noch einmal wiederholen, dass das christliche Spanien keine
Gegebenheit war, die eine eigene festgelegte Existenz besass,
auf die gelegentlich der .Einfluss" des Islams einwirkte wie
~ r' eine Mode oder ein Folge des Lebens ,,jener Zeiten". Das
christliche Spanien baute sich vielmehr auf, indem es seinem

/ Mittelmeer

X
Grenzstreifen
__,, muslimlscher Vorstoß
muslimlscher Sieg
10 Leben alles einfügte und einverleibte, wozu es durch seine

Verflechtung mit der arabischen Welt gezwungen war.[ ... )

Ich scheue weder die Gefahr, mich zu täuschen, noch
möchte ich mich mie meiner Überzeugung zurückhalten,
wonach nämlich das Originellste und Un,versalsce des spa-
Atlantischer X christlicher Sieg
" nischen Genius in einem bestimmten Zustand des Lebens
Ozean (;;CJ muslimisches Gebiet um 800 ® Residenz begründet lag. der in den Jahrhunderten des christlich-isla-
c:::J chrisUiches Gebiet um 800 • Festung misch-jüdischen Zusammenlebens geprägt wurde.
200km c::J muslimisches Gebiet um 1031 d Aufstand Amërico Castro, Spanien. Vision und Wirklichkeit, Köln/Berlin (Kiepenheuer
~ &Witsch) 1957, S. 102, übers. v. Suzanne Heintz

Rasche Eroberung der Im Jahr 711 drang ein muslimisches Heer in Spani-
Iberischen Halbinsel en ein. Es besiegte die dort herrschenden germani-
schen Westgoten und eroberte das ganze Land bis auf einen Streifen im Norden.
Die Bevölkerung der eroberten Gebiete akzeptierte schnell die neuen Herren, da
diese keinen Religionswechsel zum Islam forderten und mehr Wohlstand erwar-
ten liessen als unter den Westgotenkönigen. Die Muslime nannten das neue Ge-
biet erst Emirat, dann Kalifat von Córdoba (756-1031, s. M 1). Es erlebte eine
grossartige wirtschaftliche und kulturelle Blüte.
Wohlstand und Frieden Grundlage des Wohlstands war eine hoch entwickelte
Landwirtschaft, für die zahlreiche Einwanderer aus
Syrien neue Nutzpflanzen mitbrachten: z.B. Zuckerrohr, Zitrusfrüchte, Reis, Ap-
10 Erden, gegen Türken und Keezer. Die Reconquista ist der
rikosen und Pfirsiche. Darüber hinaus brachten die Zuwanderer auch die Technik
raffinierter Bewässerung mit, mit der sie die Erträge erheblich steigern konnten.
Hinzu kam die planmässige Ausbeutung der Bodenschätze, die bereits von den
Römern erschlossen worden waren. Vom wachsenden Wohlstand profitierten alle
Einwohner, besonders die zahlreichen jüdischen Fernhändler, aber auch die
Christen, die bis etwa 850 die Bevölkerungsmehrheit stellten. Juden, Muslime
und Christen lebten zwar weitgehend getrennt, aber überwiegend friedlich mitei-
nander. Etwa ein Drittel der Christen trat zum Islam über, um die Steuerzahlung
für ,.Nichtgläubige" zu sparen. Gegen Ende der muslimischen Herrschaft nahm
allerdings die religiöse Intoleranz der Muslime zu.
Erläutere die Etappen der muslimischen Eroberung der Iberischen Halbinsel
,;i
anhand der Karee.
2 "3 Fasse die Massnahmen der muslimischen Herrscher in al-Andai us zusammen,
i, I1.I die zu einem wachsenden Wohlstand führten.
eE ,,Das Wunder der Reconquista"
Der spanische Historiker Claudio Sánchez-Albornoz, 1957:
Die Reconquista [s. Kasten], unsere grossartige mittelalterli-
che Unternehmung. eine normale Reaktion auf die verräte-
rische islamische Invasion Spaniens; das Wunder der Recon-
quista, von unglaublichem Heldenmut geprägt, hat niche
s nur unseren Nac,onalcharakcer geschmiedet, sondern hat
uns auch befähigt, unsere amerikanischen Heldentaten zu
verwirklichen. wo w,r die Neue Welc erobere haben, für Spa-
nien, für die westliche Zivilisation, und vor allem für Chris-
tus. Die Reconquista machee uns zum Schwere Gottes auf
Schlüssel zur spanischen Geschichte.
Claudio Sónchez-Afbornoz. España: Un enigma hisMrico {Spanien: ein histo-
risches Rätsel]. Buenos Aires, 1957; zit nach: Georg Bossong, Das maurische
Spanien. Geschichte und Kultur. München (Beck), ,2016. S. 12
2 , Arbeite heraus, wie die beiden Historiker argu-
mentieren. Fasse jede der beiden Stellungnahmen in
einem Saez zusammen.
3 ., Erläutere, inwiefern einer der beiden Texte (M 3,
M4} die offizielle Sichtweise der Franco-Diktatur
ausdrückt, die sehr fremdenfeindlich war.
4 • Setze dich mie den beiden Bewertungen auseinan-
der und nimm selbst Stellung dazu.
5 , Finde Beispiele aus der Schweiz, bei denen über
Erinnerungskultur gestritten wurde (s. S. 218/219).
Die Reconquista
Reconquista (Wiedereroberung) ist ein spanisches bzw.
portugiesisches Wort. Es bezeichnet die Zurückdrängung des
muslimischen Machtbereichs (al-Andalus) und die Vertreibung
der Muslime auf der Iberischen Halbinsel durch die Heere
christlicher Königreiche im Mittelalter. Als Beginn der Reconquis-
ta wird zumeist die Schlacht von Covadonga (718 oder 722)
angenommen, als Enddatum der 2. Januar 1492 (Eroberung
Granadas durch die Katholischen Könige).
Oie Reconquista lässt sich grob in drei Phasen unterteilen:
- Oie erste Phase dauerte vom Beginn der christlichen Rebellion
in Asturien (718) bis zur Rückeroberung der alcen Königsstadt
Toledo im Jahr 1085.
- ln der zweiten Phase (1086-1212) griffen nordafrikanische
Kräfte ein, die den Vormarsch der Christen zeitweilig zum
Stehen brachten. ln dieser Phase nahmen die Auseinanderset·
zungen stärker als zuvor den Charakter eines Religionskrieges
an. Sie endete mit eînem entscheidenden militärischen Erfolg
der Christen,
- ln der dritten Phase (1213-1492) wurden die Muslime auf ein
relativ kleines Territorium mit dem Zentrum Granada
zurückgedrängt, das schliesslich ebenfalls erobert wurde.
Durch die Reconquista wurde die Grundlage für die Einigung
Spaniens unter christlichen Vorzeichen geschaffen.
Verfassertext

II
142 145
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