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Alain Badiou, geboren 1 937, Philosoph, ist emeritierter


Professor an der Ecofe Normale Superieure und lehrte
zuletzt am College International de Philosophie sowie an
der European Graduate Schoof. Zudem ist er Begründer
und Leiter des Centre International d'Etude de Ia Philo­
sophie Fram;aise Gontemporaine.

Aktuelle Veröffentlichungen in deutscher Sprache


• Logiken der Weften, Zürich I Berlin 201 0
• Zweites Manifest für die Philosophie, Wien 201 0
• Das Konzept des Modells, Wien 2009
• Wofür steht der Name Sarkozy?, Zürich I Berlin 2008
• Wittgensteins Antiphilosophie, Zürich I Berlin 2008
• Dritter Entwurf eines Manifests für den Affirmatio­
nismus, Berlin 2007
Alain Badiou

Ist Politik denkbar?

Aus dem Französischen übertragen und mit


einem Nachwort versehen von Frank Ruda und
Jan Völker

morale provisoire #1

Hrsg. von Frank Ruda und Jan Völker

Merve Verlag Berlin


Originalausgabe:
Alain Badiou, Peut-on penser Ia po/itique?
©Editions du Seuil, Paris 1985, 20082.

Redaktorat: Elisa Barth /lsabel Fischer I Tom Lamberty

© 201 0 Merve Verlag Berlin


Printed in Germany
Druck- und Bindearbeiten: Dressler, Berlin
Umschlagentwurf: Jochen Stankowski, Dresden
ISBN 978-3-88396-265-8
www.merve.de
Inhalt

morale provisoire . . ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . . 9 2. Rekomposition .. ... . ............... .... ..... . ...... .... 77
... . . . .. ... . .

I . Das Ereignis. Empirischer Parcours . . 77


Vorwort zur deutschen Ausgabe . . .. 11
. . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .. . . . . . . . . . ..... . . . . . . . . . . .

I I . Definitionen und Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . .. . ... . . . . . .. . . . . . . . . 88

111. Widerlegung des Idealismus 91


Einleitend . . . 15
. . .. . . . . ..... . . . . . . . . .. . . . . . .

. . . . . . . . . .. . . . ..... . . . . . . . .. . . . . ... . . . . .. . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . .

IV. Genealogie der Dialektik . . . . . . . . . . . . ..... . . . . . . .. . . . . . . . ... 97


V. Formalismen 1 Verboten I Unmöglich 1 05
1. Zerstöru ng . .. . ... .. ........... .... ........ .... .... ........ 31
. . . . . . . . . . . .

. . . .. . .. . . . ..

VI. Formalismen 2 Diskriminante Intervention


und wettende Intervention . . 1 12
I. Über das historische Bez ugssystem 31
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .. . . . . . . . . . . . . .

VI I . Intervention und Organisation Die Politik.


I I . Solschenizyn und Schalamow . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Das futur anterieur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 21
111. Das Ende der S iege . 51
VI I I . Was ist der Dogmatismus? 1 27
. . . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . . . . . .... . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . .... . . . . . . .

IV. Die universale Bedeutung der polnischen


IX . Die Ent-Sublimierung . 1 30
Arbeiterbewegung . . 54
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . .

V. Die reaktive Bedeutung des zeitgenössischen


Antimarxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Was heißt es, ein Marxist in der Philosophie zu
sein? 1 35
VI. Die Zerstörerische Subjektivierung und die
. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Delokalisierung . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . 62
VI I . Die Figur des (Neu)Beginns . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 67
VI I I . Die Rück-kehr der Quellen . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...... 72
morale provisoire

Descartes gibt das Beispiel der Reisenden, die in einem


Wald die Orientierung verloren haben. Wollen sie nicht
an der gleichen Stelle verharren oder aber orientie­
rungslos umherirren, benötigen sie eine morale par pro­
vision, die ihre Schritte anleitet. Eine mora/e provisoire
versucht entschlossen eine Richtung zu verfolgen, sie
befragt das Denken auf orientierende Regeln für d ie Pra­
xis. Sich im Denken zu orientieren, heißt mit Kant, sich
nach dem subjektiven Prinzip der Vernunft zu orientieren.
Dies bedeutet dann, wie Rousseau, zunächst das bei­
seite zu lassen, was als Tatsache gilt: das Bestehende,
seien es Körper oder Sprachen , Individuen oder
Gemeinschaften, das die Maximen der Zeit heute prei­
sen. Ihnen setzt Badiou die Idee einer subjektiven Orien­
tierung des Subjekts entgegen, die von einem Punkt der
Unmöglichkeit aus ihren Weg nimmt. D ie Reihe morale
provisoire richtet sich gegen Libertäre, Liberale, Sophis­
ten und Sozialchauvinisten u nserer Zeit und versucht,
orientierende Interventionen für die Praxis und das Den­
ken zu versammeln. Sie zielt auf einen neuen Mut des
Denkens, der dem Unmöglichen, dem U nendlichen, dem
Gleichen und dem Illegitimen sein Recht zuspricht.
Morale provisoire ist an einem Jakobinismus des Den­
kans orientiert, der auf seinem Weg aus der Desorientie­
rung seine Feinde je neu bestim mt.

Frank Ruda I Jan Völker

9
Vorwort zur deutschen Ausgabe

Zu Beginn der achtziger Jahre war die philosophische


Situation für mich sehr negativ. Damals triumphierte der
moralische Reaktionismus der "neuen Philosophen" . Die
einzig respektable minoritäre Orientierung kam von Sei­
ten Heideggers und vom Motiv des Endes der Philoso­
phie, in seiner fortschrittlichen Form durch das besonders
illustriert, was wir die "Straßburger Schule" nannten,
deren wichtigste Namen die von Philippe Lacoue-La­
barthe und Jean-Luc Nancy waren. Ich war allerdings
nicht einverstanden mit ihrer geschichtlichen Montage:
Ich glaubte nicht, dass die "Metaphysik" der lange Verlust
eines ursprünglichen Sinns des Seins gewesen ist. Die
politische Situation war nicht besser. Eine große Zahl der
"linken" Politiker der sechziger und siebziger Jahre waren
entweder zu offiziellen Renegaten, fortan den Kapital­
parlamentarismus und die bewaffnete Macht der USA
preisend, oder zu Sozialdemokraten unter dem Hirten­
stab Mitterands geworden. M it Ausnahme meiner teuren
militanten Freunde, Natacha Michel, Sylvain Lazarus,
Judith Balso, Cecile Winter und einiger anderer, mit
denen ich d ie Konstruktion einer Politik neuen Typs fort­
setzte, war ich alles in allem vollkommen isoliert. Als
Marschgepäck blieb mir nur ein Satz von Zhou En-Lai
vom zehnten Parteitag der Chinesischen Kommunisti­
schen Partei, der mich zutiefst berührt hatte: ",hr könnt
akzeptieren, allein zu sein , denn wenn eure Linie korrekt

11
ist, werdet ihr eines Tages eine Armee sein." Das Buch, öffentlichung auf Französisch , welcher im Übrigen kaum
in dem ich den Stand meines Denkans über die Verbin­ mehr Erfolg als der "Theorie du Sujet" beschieden war.
dungen zwischen Philosophie und Politik festhielt, die ln Wirklichkeit ist es ein Buch des Übergangs, zwi­
1 982 erschienene "Theorie du Sujet", hat keinen öffentli­ schen der philosophischen Bilanz des Maoismus der
chen Erfolg gehabt, abgesehen, das muss man sagen, siebziger Jahre und der neuen Synthese, die 1 988 Das
von einem freundlichen Wort von Deleuze und von einer Sein und das Ereignis vorschlagen wird. Ich glaube, und
raffinierten Kritik von Ranciere. sei es nur um einen Titel Lenins, "Die Krise ist reif' auf­
ln diesem Kontext suchten mich Lacoue-Labarthe und zugreifen, dass die Öffentlichkeit heute, da es fünfund­
Nancy auf, wofür ich ihnen immer sehr dankbar sein zwanzig Jahre alt ist, mehr in der Lage ist, es zu verste­
werde. Sie schlugen mir vor, in einem Seminar vorzutra­ hen. Denn heute wissen alle sehr genau, dass die Politik
gen, das sie an der Ecole Normale Superieur unter Betei­ der Emanzipation nur fortgeführt werden kann, wenn sie
ligung von Jean-Francois Lyotard, Jacques Derrida und neu gedacht, neu gegründet wird, und das auch auf
Sarah Kofman abhielten. Das war der Beginn des sehr einem abstrakten N iveau , auf dem die Philosophie ihr
langen Weges, der zwanzig Jahre dauern sollte, um mich Verhältnis zu dieser Wahrheitsprozedur bestim mt. Dar­
aus der einsamen Anonymität herauszuführen. aus folgt, dass die Frage "Ist die Politik denkbar?", die in
Das Thema des Seminars war typisch post-heideg­ diesen Begriffen von Sylvain Lazarus seit dem Ende der
gerianisch. Der Titel war nämlich: "Der Rückzug des Poli­ siebziger Jahre gestellt wurde, sicherlich eine Frage von
tischen". Ich trug zwei Sitzungen nacheinander vor, ein­ heute ist. ln einem gewissen Sinn war es bereits d ie
mal mehr gegen den Strom. Ich lehnte mich nämlich Frage von Hegel, dann von Marx. Und es war sicherlich
gegen den Ausdruck "das Politische" auf, indem ich diejenige Platons. Ein Deutscher kann für diese Genea­
behauptete, dass in Wirklichkeit nur Politiken existieren. logie besonders sensibel sein.
Und wenn ich annahm, dass in einem gewissen Sinn die
Sequenz der marxistischen Politiken geschlossen war, Alain Badiou, April 2009
dann nicht um in einen erneuerten Humanismus zu ver­
fallen, sondern um die Würfel der Politik der Emanzipa­
tion erneut zu werfen, was auch immer die Schwierigkei­
ten oder die Sackgassen des Augenblicks sein mögen.
Es ist die Ü berarbeitung dieser beiden Seminare, die
Sie lesen werden, ein Vierteljahrhundert nach ihrer Ver-

12 13
Einleitend

ln meinem Land, das - zumindest seit 1 789 - die Stätte


der Politik par excellence war, in diesem Frankreich, in
dem der unversöhnliche Streit anzeigte, dass jedes
Subjekt hier politisch vorgeschrieben war, geschieht es
heute, dass die Politik in die Gestalt der Erscheinung
ihrer Abwesenheit übergegangen ist.
Selbst wenn d ie Politik in Verbindung mit dem, was
geschieht - Wahlen, Parlament, Gewerkschaften, Präsi­
dentschaft, Erklärungen im Fernsehen, Luxusreisen - ,
erwähnt wird, weiß jeder, durch ein Wissen, bei dem die
Worte nicht verantwortlich sind, dass es sich um einen
stillgelegten Schauplatz handelt. Aus diesem gehen
sicherlich Zeichen hervor, aber Zeichen, deren Gleich­
förmigkeit so beschaffen ist, dass sich mit ihnen allein ein
von jedem Begehren befreites automatisches Subjekt
verketten kann.
Die Gründungskategorien, in denen sich die Wahl­
möglichkeiten - von links und rechts, Arbeiterbewegung
und Chefetage, Nationalismus und Internationalismus,
Kapitalismus und Sozialismus, Sozialismus und Kommu­
nismus, Freiheit und Autorität - zeigten, werden zuneh­
mend wirkungslos und bezeichnen nach und nach nur
noch die Rückständigkeit der Berufspolitiker, Akteure
ohne Erben.
Sicherlich vervielfachen sich rätselhafte Kleinstereig­
nisse. Dennoch sind sie eingekreist und kontaminiert von

14 15
der allgemeinen Laschheit, die zu der Überzeugung ver­ des Politischen, sondern der Axiome seines Verschwin­
leitet, einer Repräsentation ohne subjektiven Einsatz dens. Denn wenn sich das Politische zurückzieht, ist man
beizuwohnen. im Regime dessen, was ganz allein statthat, und zwar so
Am weitesten von seinem nationalen Sein entfernt ist sehr, dass eine Erfahrung des Politischen n icht mehr in
Frankreich in der Politik unter die Souveränität des Skep­ Frage kommt. Die Philosophie beschriebe die Abwesen­
tizismus getreten. heit dieser Erfahrung als Rückzug , Rückzug unter den
Ich halte diese Figur, die man mit Heidegger ein histo­ delokalisierten Schutz der Verwaltung, Dissemination in
risches und nationales Geschick eines Rückzugs des das Statt-Gefunden-Haben eines Fortbestands ohne
Politischen nennen kann, n icht für fruchtlos. S ie verweist Begriff. Die Philosophie errichtet sich gemäß dieser Sicht
in meinen Augen weder auf eine Furcht noch auf einen der Dinge in dem Abstand - der Rückzug ist - einerseits
Verzicht. Ich behaupte vielmehr, dass sie den Philoso­ zwischen der riskanten Fülle des erfahrenen Ereignisses,
phen zur Bestimmung eines Wesens auffordert. dem Glück des revolutionären Hauptmanns oder des
Wenn die Vermittlungen der Politik klar sind, ist es der revolutionären Anführers und andererseits dem umherir­
I mperativ des Philosophen sie zu einem Fundament renden Automatismus des Kapitals, das m it der "Moder­
zusammenzuziehen. ln der letzten Diskussion über die­ nisierung" auf dem Gipfel seiner Macht angekommen ist
ses Thema wurden die Befürworter der Freiheit, verstan­ und in dem sich vom Politischen nichts in der Erfahrung
den als gründende Selbstdurchsichtigkeit, den Befürwor­ gibt; wo es möglich ist, die gesamte Ökonomie ausge­
tern der Struktur, verstanden als Vorschrift eines Kausali­ hend von der Hypothese eines x-beliebigen politischen
tätsregimes, gegenübergestellt. Sartre und Althusser, das Subjekts zu betreiben. ln den Abstand, der q uasi nichts
hieß, im Gru nde, der GRUND gegen den Grund. ist, aus dem unsere Zeit ihr U nglück hervor treibt, zwi­
Aber wenn man sich des Prozesses der Abwesenheit schen dem Glück und der Wiederholung, zwischen TUX�
versichern will, dann orientiert man sich an dem, was und aLJTOfJCITov, schleicht sich das Denken des Wesens
verschwindet, u nd es ist nicht die Gründung, die auf der des Politischen als Rückzug ein.
Tagesordnung steht, sondern es ist die Fähigkeit am Ort Dass aber das Politische weder der Begriff einer
des Verschwindens selbst zu verwesentlichen. Jedes Erfahrung noch die subjektive Norm einer Regierung ist,
Denken des Grundes führt zurück auf die Erfahrung, die hat in Wahrheit viel früher eingesetzt. Das Denken muss
Grund hat. Wenn die Philosophie sich in der Nähe des sich hier an diesem "viel früher" orientieren. Es muss
leeren Ortes hält, aus dem sich das Politische zurück­ dem zeitgenössisch sein, wovon die Erklärung des Rück­
zieht, dann ist sie n icht mehr die Wächterin des G rundes zugs nur ein letztes Ergebnis ist, insofern sie in der Phi-

16 17
nt. bald Revolution, von dem zweifelhaft ist, ob es heute
losop hie den Mang el der politis chen Erfah rung benen
Politis che im vorgeben kann, dass es ein Begriff der politischen E rfah­
Es ist vollko mmen richtig , dass sich das
aus es rung ist.
Rückz ug und in der Abwesenhe it befind et, von wo
die ln Frankreich hat die zwei Jahrhunderte alte revolutio­
nach seine m Wesen zu befrag en ist. Aber es ist
glichk eit, in das Den ken näre Idee, selbst in ihrer absoluten Leugnung, bestimmt,
Befre iung der Politik , deren Bewe
o­ dass es ein politisches Subjekt gibt und sie hat transver­
zwischen Mach iavelli und Lenin eingeschrie ben , philos
des sal zu einer sehr oft abscheulichen Geschichte - Arbei­
phisc h von der wiede rhergestellten Wese nhafti gkeit
termassaker im 1 9. Jahrhundert, "Burgfrieden" von 1 914,
Politis chen u nterjocht war.
Die philos ophische Operation orient iert sich in ihrer München und Petain, Kolonialkriege, moroser Verfall -
­ die Öffnung konstituiert, in der denkbar wurde, dass im
voran gehen den und kritischen Funktion an der Zerstö
in welch em verlus tig Politischen eine wieder erkennbare Universalität zirku­
rung des politis chen Philos ophem s,
liert. So dass der französische Intellektuelle, im Verbund
gegan gen ist, dass das Reale , von dem die Politik ihren
des m it der Arbeiterbewegung , über einen lnterventionsspiel­
Einsatz nimmt, imme r nur die wese nslose Figur
raum, über eine zivile Rolle in Bezug auf die realen An­
Ereignisses hat.
in gelegenheiten verfügte, die irreduzibel auf die Indifferenz
Das Politis che ist imme r nur die Fiktio n gewesen ,
Ereign isses schläg t. Eine blieb, die überall sonst im Westen sein Schicksal war.
welche die Politik das Loch des
Aber in der Repräsentation der revolutionären wie der
(von Rouss eau bis zu Mao) kanon ische Aussa ge: Dass
in konter-revolutionären Idee, in der sich das "wahre Frank­
die Masse n die Geschichte mach en , bezei chnet genau
ch , desse n reich" ausdrückte, gab es ein gutes Maß Illusion hinsicht­
den Masse n diese n verschwind enden Einbru
lich des sozialen Bandes, da man ja vermutete, dass die
immer nur verspätete und zerrissene Erzäh lung die politi­
Politik von der Konsistenz dieses Bandes, das man Pro­
sche Philos ophie ist.
i- letariat oder Volk oder auf der anderen Seite die Union
Was mit dem Politis chen, gleichzeitig m it der narrat
aller Franzosen nannte, garantiert sei. Das Denken des
ven und l ineare n Figur des Roma ns, einen heilsa men
als Fundament der Erfahrung begriffenen Politischen
Rückz ug antritt, ist die Fiktion eines Maße s, die Idee,
schlug eine Genealogie der (revolutionären oder natio­
dass das sozia le Band nach der philos ophis chen Norm
auf nalen) Repräsentation ausgehend von den sozialen
des guten Staates oder der guten Revol ution, was
Es ist Mengen vor.
das Gleich e hinau släuft, im Denke n mess bar sei.
Was die Krise des Politischen enthüllt, ist, dass alle
diese s in der einge richteten G ründu ng des politis chen
, Mengen inkonsistent sind , dass es weder Franzosen
Philos ophem s fiktiv hervo rgerufene Objekt, bald Staat

19
18
noch Proletariat g ibt und dass aufgrund dieser Tatsache ser Legierung hervorbrachten, hat sich der alte Marxis­
auch d ie Figur der Repräsentation genau wie ihr Gegen­ mus vollkommen getäuscht, und auf diese Weise wurde
teil, die Figur der Spontaneität, selbst inkonsistent sind. das marxistische Hervorrufen der Politik umgekehrt und
Die einfache Zeit der Präsentation fehlt. Die These eines verhüllt. Es ist allgemein bekannt, dass die so genannte
Wesens der dem Gemeinwesen inneren Verhältnisse, marxistische politische Ökonomie ihre eigene Kritik nicht
eines in der Ausübung der Souveränität repräsentierba­ zu kritisieren vermochte. Sie hat die philosophische Fik­
ren Wesens, sei es noch in der Form der Sklavendiktatur, tionalisierung der Wertung, durch Marx wie durch Lenin,
und des Verhältnisses selbst, noch dasjenige des Bür­ dass das Reale der Politik allein riskant und begegnend
gerkrieges, der in die Struktur der Klassen eingetragen ist, repräsentiert. Die Ökonomie, deren Kritik etwas
ist, löst sich auf. anzetteln sollte, was sie an einem singulären Punkt
Der Vorteil dieser Retroaktion, in der die wahrge­ absolut übersteigt, war der Umweg , über den die marxis­
nommene Nichtigkeit dessen, was konsistent war, die tische Politik, welche die interpretierende Ungewissheit
Bestimmung des Wesens des Politischen selbst zur Krise des Arbeiterbewusstseins ist, das als verletzliche Spal­
bringt, ist es, andere Genealogien, andere Referenzen zu tung die Entwicklung einer zuvor u nbemerkten politischen
autorisieren. Man kann nur heute wissen, dass Mallarme Fähigkeit bedeutet, sich als eine partikulare Lehre des
- kurz nach der Pariser Kommune, was kein Zufall ist - Politischen fixiert fand.
einer unserer g roßen politischen Denker ist, beispiels­ Was eine Strategie des Ereignisses sein müsste, eine
weise einem Rousseau gleich. Hypothese über die H ysterien des Sozialen, ein Organ
Es ist Mallarme, der schreibt, dass der "gesellschaftli­ des I nterpretations-Schnitts, ein Mut zum Glück, ist
che Bezug und sein momentanes Maß, ob man es schließlich über den Umweg der Ökonomie als etwas
zwecks Regierens straffe oder lockere, eine Fiktion ist." 1 präsentiert worden, was den sozialen Verhältnissen ein
Die Fiktion besteht genau in der Legierung des gesell­ angemessenes Maß vorschrieb. So ist der Marxismus
schaftlichen Verhältnisses und seines Maßes, eine Legie­ durch seine eigene Geschichte zerstört worden, die die­
rung, an der sich das politische Philosophem austariert. jenige seiner Fixion, mit einem x, ist, die Geschichte sei­
Darin sich vorzustellen , dass die politische Ökonomie ner Fixierung des politischen Philosophems.
und die sozialen Verhältnisse den begrenzbaren Ort die- Dass das Politische eine Fiktion ist, macht es n icht
unschuldig. Es entlastet es nicht einmal von seiner
1
Wahrheit, wenn es stimmt, wie Lacan sagt, dass die Fik­
A.d.Ü.: Stephane Mallarme, Geleit, in: ders., Kritische Schriften, her­ tion sich gerade als Struktur der Wahrheit präsentiert. Die
ausgegeben von Gerhard Goebel und Bettina Rammel, Gerlingen
1 998, S. 302-31 4, hier S. 3 1 1 .

20 21
Wahrheit des Politischen, sowie sie in der Politik enthal­ g ründung oder seine natürliche Abstammung legt; oder
ten ist, wurde genau in der Fiktion der politisch genann­ ob man im Gegenteil den Akzent auf die Souveränität
ten Ökonomie ausgesprochen. Man hat ihre Kritik ange­ und ihre repräsentative oder organische Macht das
kündigt, was sich jedoch etablierte war ihre allgemeine Gesetz der Totalität zu garantieren, legt. Und i mmer
Herrschaft. Diese Ankündigung vollzieht sich jedoch besteht die Schwierigkeit des politischen Philosophems
jedes Mal zum Nachteil dessen, wovon die Politik Wahr­ darin, herauszufinden , dass es keine Transitivität zwi­
heit hervorbringt und von dem es den Mangel und den schen dem Wesen des gemeinschaftlichen sozialen Ban­
Exzess wieder zu ergreifen gilt. des und seiner souveränen Repräsentation gibt. Das
Mallarme hat diese sehr geringe Unschuld der Fiktion Politische irrt zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und
diag nostiziert. "Ein g roßer Schaden angetan ward", dem Staat umher. Alle möglichen Begriffe sind Meta­
schreibt er, "der irdischen Gesellschaftung, sekulär, phern für diesen Hiatus. Das ist nicht so wichtig. Nicht so
indem man ihr den brutalen Trug, die Civitas, ihre Regie­ wichtig , solange die Zuweisung des Politischen zum
rungen, das Gesetzbuch anders zeigte, denn als Em­ Denken des gemeinschaftlichen Bandes, eine Zuwei­
bleme oder, hinsichtlich unseres Status, als das, was sung, in der schon die Arbeit des Fiktiven begonnen hat,
Friedhöfe im Vergleich mit dem Paradies, das auch ihnen unerschüttert bleibt. Und aus der Zerstörung des sozialen
verdunstet [... ]."2 Bandes durch die Undurchsichtigkeit der Axiome des
Die Fiktion des Politischen ist eine finstere Fiktion und Kapitals, den Ort des Rückzugs des Politischen zu
das umso mehr, als sie die wahre Verdunstung der Politik machen , führt nur dazu, die begriffliche Rechtsprechung
einrichtet. ln ihrem Kern ist diese Fiktion die des Zusam­ des Bandes zu erhalten. Genauso wenig führt es aus der
menschlusses, des Bandes, des Verhältnisses. Sie arti­ Fiktion hinaus, dem bedrohten oder zerstörten Band , die
kuliert die Souveränität über die Gemeinschaft. Das Poli­ vulgäre demokratische Bestimmung des Respekts der
tische ist philosophisch als Begriff des Differenzen anzufügen. Es kann keine molekulare Kritik
gemeinschaftlichen Bandes u nd als seine Repräsentation des molaren Begriffs des Politischen geben. So beson­
in einer Autorität bestimmt. Die Theorie ist offensichtlich ders die Punkte auch sein mögen, ihre politische
variabel, je nachdem, ob man den Akzent auf die Bestimmung im Denken des Verhältnisses, und sei es
Genealogie des Bandes, auf seine vertragliche Selbst- noch als Differenziation, füh rt auf die sehr geringe Reali­
tät des Politischen zurück. Wer möchte eine Differenz,
deren gemeinschaftliche Garantie der Respekt ist? Liegt
2 A.d. Ü.: Stephane Mallarme, Die Musik und die Literae. Vorteilshafte nicht einige Niedertracht in dieser Platzierung des Diffe-
Ortsveränderung, in: ders., Kritische Schriften, a.a.O., S. 75-1 29,
hier S. 1 1 9.
23
22
renzierten, im Denken, das unter dem Gesetz des guten sehen inhärent und bildet nur auf jenem Terrain ein Paar
Verhältnisses, der Differenz als Dialog befriedet ist? mit dem Totalitarismus, auf dem dieser sich als Höhe­
Schlimmer als die Verkennung ist die Anerkennung. punkt des Politischen bestimmt.
l n den Trümmern des Denkans des Politischen macht Denn es ist unbestreitbar, dass es das Politische war,
man heute großes Aufheben um die Demokratie und den das sich im Herzen des Jahrhunderts, in seinem sowjeti­
Kampf, der für sie gegen den Totalitarismus zu führen ist. schen Paradigma, als universeller Anspruch des Staates
Jedoch, was ist die Demokratie als Begriff? Was ist sie entfaltet hat. Und die diesem Ereignis zeitgenössischen
außerhalb der empirischen Zusammenstellung der par­ parlamentarischen Demokratien nähmen zu Unrecht an,
lamentarischen Abläufe? Ist es vorstellbar, dass die dass sie außerhalb der Sphäre stünden, in der der
weltweite Krise des politischen Denkans sich in dieser Zusammenbruch dieses Anspruchs eine Katastrophe des
Platitude auflöst, dass d ie (kapitalistischen) Regime des Denkans ausdrückt. ln Wahrheit ist es die Opposition von
Westens flexibler und geeigneter für den Konsens sind Demokratie und Totalitarismus und nicht der Totalitaris­
als d ie (genauso kapitalistischen) Regime des Ostens? mus allein, der das dialektische Wesen dessen aus­
So wertvoll die so verstandene demokratische Idee sein macht, was unter u nseren Augen in die Nacht des Nicht­
mag, sie kann sich keineswegs mit der Geschichtlichkeil Denkans eintritt und uns befiehlt eine neue grü ndende
der Krise des Politischen messen. Ihr empirischer Vor­ Geste zu vollbringen . Demokratie und Totalitarismus sind
rang ist vielmehr einer der Symptome des Ausmaßes und die beiden epochalen Versionen der Erfüllung des Politi­
der Tiefe dieser Krise. I ndem er Praktiken , die den plura­ schen in der doppelten Kategorie des Bandes und der
listischen Regimen - den repräsentativen Demokratien - Repräsentation. Unsere Aufgabe betrifft die Politik, inso­
inhärent sind , geltend macht, verschleiert dieser Vorrang, fern sie dem lrrepräsentablen Gelegenheiten der Ent­
dass das, was sich verbirgt, genau das ist, dem dieser Bindung anweist.
Plura l zuzuweisen ist, da die Mengen inkonsistent sind, Die erste Aufgabe, um das Politische in der Fiktion zu
und dass die Repräsentation das ist, was sich nicht mehr fixieren und sich an der Politik zu orientieren, ist, diese
vollzieht, da es nicht einmal mehr eine Präsentation gibt. von der Vorschrift des Bandes zu befreien. Man muss die
Die Demokratie ist sicherlich ein Begriff des Politi­ De-Fixion der Politik als gemeinschaftlichem Band oder
schen und zwar einer, der nah an das Reale der Politik Verhältnis, praktisch wie theoretisch, verwirklichen. Es
heranreicht. Aber die Demokratie ist in ihrem gemeinen empfiehlt sich axiomatisch zu behaupten, dass sich die
Sinn nie etwas anderes als eine Staatsform. ln dieser befreite Beweglichkeit der Politik im Modus des Schnitts
Hinsicht und als Begriff ist sie dem Fiktiven des Politi- und n icht im Modus des Zusammenschlusses an das

24 25
hält, was sie vom Realen berührt. Und dass sie ein akti­ Unentscheidbaren definiert ist. Was auch immer ihre aus
ves interpretierendes Denken ist und nicht die Aufhebung der Fiktion seiner Wahrheiten abgeleiteten scheinbaren
einer Macht. Garantien sein mögen, die politische E ntscheidung läuft
Darin untersteht die Politik dem Effekt des Subjekts, darauf hinaus, vom Punkt des U nentscheidbaren aus zu
verbunden mit dem Realen als Hindernis und von der entscheiden. Was eine große Rolle des Kalküls nicht
Fiktion des Sinns abgespalten. ausschließt, sondern fordert.
Man wird auch sagen, dass man die Politik von der Schließlich wird man sagen , dass die Politik nicht, im
Tyrannei der Geschichte befreien muss, um sie dem Gegensatz zum Politischen, das nach dem Maß des
Ereignis zu überantworten. Man muss die Kühnheit besit­ Sozialen und seiner Repräsentation gedacht wird, an das
zen, zu behaupten, dass vom Standpunkt der Politik aus Soziale gekettet ist, sondern, ganz im Gegenteil, dort
die Geschichte als Sinn nicht existiert, sondern nur perio­ eine Ausnahme herstellt.
disierte Gelegenheiten der Apriori des Zufalls. Die bedeutenden Fakten für die marxistische Politik
Die Theorie des guten Staates, des legitimen Regi­ sind nicht von der Ordnung der Massivität und des Ban­
mes, des Guten und des Bösen in der gemeinschaftli­ des, sie sind nicht strukturell . Viel eher handelt es sich
chen Ordnung, der Demokratie und der Diktatur berührt um unbenennbare Symptome, um angetroffene Formen
die Politik nur über den U mweg des Politischen, d . h . in des Bewusstseins, um rätselhafte Ereignisse. Im
der u nvermeidlichen Hervorbringung des fiktiven Philo­ Zusammenhang mit all diesem bewaffnet sich das aktive
sophems. D ie Politik ist die bewegliche Gelegenheit einer Denken mit seiner prekären Hypothese. Das Soziale ist
Hypothese. Ihr Prozess ist nicht von der Ordnung der die Benennung des Ortes der Bande. Sein Denken orga­
Legitimation, sondern von der Ordnung der Konsequenz. nisiert sich ausgehend vom Denken der sozialen Verhält­
Die Alternative zwischen Despotismus und Freiheit ist ihr nisse, der Ausbeutung und der U nterdrückung. Aber das
n icht wesenhafter, als sie es dem wissenschaftlichen Verhältnis berührt die Politik nur im Sinne ihrer Fixierung.
oder künstlerischen Prozess ist. Und die Konsequenz, Die politische Beweglichkeit hat ihre Wahrheit nicht im
ihrerseits, findet ihren Beweis nur in der unverifizierbaren sozialen Verhältnis. Für sie zählt, was sich als eine
Prüfung des Ereignisses. U nterbrechung des Verhältnisses, als eine Entgleisung
Welcher Glaube auch immer mit dem Ereignis einher­ erweist. Auch wenn sich die Sichtbarkeit der Unter­
geht, die am Ort des Politischen gegründete Politik kann brechung des Verhältnisses aus einer begrifflichen Ver­
n icht die Ökonomie des Muts hervorbringen, der im festigung des Verhältnisses selbst herleitet.
Gegensatz zur Angst als gespaltenes Schwanken im Obwohl die Mode es nicht unbedingt nahe legt, ist hier

26 27
unvermeidlich Marx zu nennen, weil Marx seinerseits Aufgezeigt zu haben, dass die Politik unrepräsentier­
einen Beginn der Fiktionalisierung des alten Politischen bar ist, da sie in der wahrnehmbaren Ordnung des
benennt. Ich werde nicht auf die Frage eingehen, ob Symptoms ein Subjekt erstellt, macht aus Marx einen
Machiavelli oder Spinoza ihm darin vorangehen. Denker der vom Politischen losgelösten Politik. Er fixiert
Marx geht keineswegs von der Architektur des Sozia­ die Fiktion der Politik. Er versichert sich nicht über eine
len aus, aus der er im Nachhinein sein Selbstbewusst­ Norm, sondern über ein "Es gibt" des Ereignisses, in dem
sein und seine Sicherheit gewinnt, sondern von dem sich dieses in der Sackgasse jeder begreifbaren und re­
I nterpretations-Schnitt eines Symptoms der Hysterie des präsentierten Ordnung mit einem Realen verschränkt.
Sozialen, von den Aufständen und Arbeiterparteien. Marx Die Wahrheit der Politik liegt im Punkt dieses "Es gibt"
definiert sich darüber, die Symptome im Regime einer und nicht in seinem Band.
politischen Wahrheitshypothese zu verstehen, so wie Die weitere Ausarbeitung zieht das Band der sozialen
Freud auf den Hysteriker im Regime einer die Wahrheit Verhältnisse fest zusammen, um darin den Raum der
des Subjekts betreffenden Hypothese hört. Damit das Politik als punktuellen Außer-Ort (horlieu) 3 dieses Orts
Symptom, das das Soziale hysterisiert, ohne der Fiktion festzulegen.
des Politischen verhaftet zu bleiben, in dieser Art und Diese Aussage steht am Beginn des Marxismus.
Weise aufgenommen werden kann, muss die proletarisch Nun ist das Ereignis, dessen Zeitgenossen wir sind,
politische Fähigkeit als radikale Hypothese der Wahrheit gemessen an diesem Beginn und vom Punkt der Politik
und als Fiktionalisierung jeder vorhergehenden Politik aus, die Krise des Marxismus.
von der Annäherung an das Gemeinschaftliche und das All diejenigen, selbst wenn sie es nicht eingestehen,
Soziale ausgenommen sein . Diese Hypothese berührt die die heute in Begriffen eines Todes des Marxismus den­
Wahrheit nur, i ndem sie alle sozialen Fakten beiseite­ ken, sehen sehr wohl, dass dieser Tod, den sie verkün­
lässt, eine Methode, die schon Rousseau für erforderlich den oder den sie sogar bereits vergessen , das offen­
hielt. Die Politik muss als gleichzeitiger Exzess über den sichtliche Zeichen eines weitaus tieferen , radikaleren
Staat und die bürgerliche Gesellschaft denkbar sein, Phänomens ist, nämlich der Krise des Politischen im
seien diese auch gut oder ausgezeichnet. D ie proleta­ Allgemeinen.
risch politische Fähigkeit, die kommunistisch heißt, ist
absolut beweglich, nicht staatlich, unfixierbar. Sie lässt
3 A.d.Ü. : Badiou verwendet hier im Französischen den Neologismus
sich weder repräsentieren noch von der Ordnung, die sie
.horlieu", der das Außen (hors) mit dem Ort (lieu) verbindet und den
überschreitet, ableiten. er bereits in seiner Theorie du sujet einführt. Vgl. dazu etwa: Alain
Badiou, Theorie du sujet, Paris 1 982, S. 28f.

28 29
Die Bewegung dieses Textes wird angeleitet von dem 1.
Willen, d ieses Zeichen nicht in ein Zeichen von Nichts zu Zerstörung
konvertieren, von dem Willen, es auf der Höhe seiner
Radikalität zu halten und nicht den Ort zu verlieren , an
dem es uns an den Punkt führt, in das N icht-Denken ein­ Von der Krise des Marxismus muss man heute sagen ,
zutreten , und an den Punkt der Einwilligung, nur noch dass sie umfassend ist. Dabei handelt es sich nicht um
damit beschäftigt zu sein, gängige Taktiken zu verwalten. eine einfache empirische Eigenschaft. Es ist das Wesen
Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als die der Krise als Krise sich bis in ihre letzten Konsequenzen
Möglichkeit der Philosophie, zur Aufrechterhaltung der zu entfalten, d.h. für den Marxismus, in die Figur seiner
Politik in der Ordnung des Denkbaren und zum Heil der Vollendung einzutreten. U nd dies nicht in den verspro­
Figur des Seins, das sie in sich trägt, gegen die Automa­ chenen Formen der Vollendung und ihrer Vorgeschichte,
tismen des Indifferenten beizutragen . sondern im Gegenteil in der wirklich geschichtlichen
Die Bewegung besteht darin, gegen das einfache Modalität der Vollendung, d.h. in dem, was aus dem
Verzeichnen des Aufgebens, meinen eigenen Weg hin­ Marxismus eine zugleich ideologische wie praktische
sichtlich der Zerstörung des Marxismus vorzuschlagen Gegebenheit macht, die klar und einfach ungültig gewor­
und so, geschützt vor dem Verfall, mit den Axiomen der den ist.
politischen Rekomposition zu beginnen.

August 1 984 I. Ü ber das historische Bezugssystem

Um den umfassenden Charakter der Krise zu denken,


muss man auf das zurückkommen, was die singuläre
Kraft des Marxismus ausgemacht hat und was die -
heute ausgeschlossene - Evidenz seiner historischen
Bezüge ist. Was den Marxismus in gewisser Weise als
universelles Denken der revolutionären Tätigkeit aus­
zeichnete, war in einer axialen H insicht n icht seine
Fähigkeit zur Untersuchung, n icht seine analytische Kraft,
n icht die Beherrschung einer großen Geschichtserzäh-

30 31
lung, die er garantierte. Es lag ebenso nicht in dem, was Staaten beriefen sich auf den Sozialismus in actu , mate­
er im Bereich des politischen E ngagements erlaubte oder rialisierten die Stufe des Übergangs zum Kommunismus,
vorschrieb. Nein, was die Singularität des Marxismus verkörperten die Diktatur des Proletariats.
unter allen aus dem 1 9 . J ahrhundert hervorgegangenen Man ist versucht, d iese wesentliche Referenz staatli­
revolutionären Lehren ausmachte, war das historisch che Referenz zu nennen . Der Marxismus war die einzige
attestierte Recht, einen Schlussstrich unter die revolutionäre Lehre, deren Schicksal es war, sich in einer
Geschichte zu ziehen. Der Marxismus, und er allein, prä­ Staatslehre zu verkörpern . Durch sie gab es diesen wirk­
sentierte sich als eine, wenn nicht historisch bestätigte samen Schein einer Verschmelzung des Punktes und
(das ist eher eine andere Angelegenheit), so doch des Bandes. Die Idee einer Herrschaft der N icht-Herr­
zumindest historisch aktive revolutionäre politische schaft. Von einem subjektiven Standpunkt aus ist es
Lehre. Es gab wenigstens ein halbes Jahrhundert lang wichtig, hierin das zu sehen, was ich die siegreiche Refe­
eine historische Glaubwürdigkeit des Marxismus. Diese renz nennen werde.
Glaubwürdigkeit war tatsächlich die Garantie dafür, dass Der Marxismus ist als das erlebt worden , wodurch
die marxistische Politik ihrer gründenden Beweglichkeit zum ersten Mal in der Geschichte die U nterdrückten, die
angemessen blieb und sich vom Politischen, verstanden Arbeiter, die Bauern, indem sie die Waffen nahmen und
als rein spekulatives und immer schon verfallenes Dispo­ sich organisierten, wirklich den Gegner besiegen konnten
sitiv, ausnahm. und wirklich die militärische und staatliche Maschinerie
Der Marxismus verknüpft diese historische Glaubwür­ zerlegten und zerstörten , in der sich der Wachdienst der
digkeit mit drei grundsätzlichen Bezügen, deren Ver­ alten Unterdrückungen konzentrierte.
ortung einfach ist, aber deren schwierige interne Artikula­ Diese Idee des Sieges hat in der Versammlung der
tion vor allem durch die Arbeit von Paul Sandevince 4 Arbeiter, des Volkes und der I ntellektuellen im Marxismus
entwickelt wurde: eine entscheidende Rolle gespielt. Die Oktoberrevolution
war das prächtige Bild der Umkehrung des Prinzips der
1) Die Existenz einer Reihe von Staaten mit Macht in der Geschichte. Der Leninismus ist vor allem ein
emblematischer Funktion für die verwirklichte - und nicht siegreicher Marxismus.
nur geplante - revolutionäre Transformation. Diese Von diesem Punkt aus haben die sozialistischen
Staaten, die UdSSR zumindest von 1 9 1 7 bis 1 956, einen
4 deutlichen Schlussstrich unter die GESCH ICHTE gezo­
Zum Beispiel die Artikel von Paul Sandevince in der Nummer 41 von
Le Perroquet: "La fin des reterents", "Critique des representations",
gen; danach, zwischen 1 960 und 1 976, China als
.,La politique sous condition".

32 33
erneuter Ertrag einer bereits eingefahrenen Ernte. Fast wie auf den Bürgerkrieg. Es konstituiert die Nation so wie
sechzig Jahre lang haben diese Staaten die siegreiche es die Diktatur der Klassen errichtete. Diese Beispiele, in
Subjektivität verkörpert. Selbst wenn man die Illusionen Bezug auf China, haben in der J ugend der 1 960er Jahre
und den Schein, von denen es diesbezüglich zu hauf gab, eine zweite Welle der Versammlung um den Marxismus
in Rechnung stellt, ist es vielmehr diese Verkörperung, bewirkt, dem provisorischen Vermittler der Erschütterun­
die als die wirkliche staatliche Produktion aktiv war. gen , die mit dem Ausbruch des Oktober 1 9 1 7 begonnen
Der erste Bezug ist genau diese historische Skandie­ haben, und der sich als prekär erweisen musste.
rung, die ein politisches Subjekt um das Thema des Sie­
ges organisiert. 3) Der letzte Bezug ist schließlich die Arbeiterbewe­
gung selbst, dieses Mal einschließlich der Metropolen
2) Die nationalen Befreiungskriege konstituieren den des Westens und besonders des westlichen Europas. ln
zweiten Bezug. Es handelt sich um die Erfindung einer dem allgemeinen Element der marxistischen Referenz
neuen Form des Krieges unter der Führung der moder­ manifestierte diese Bewegung ihre politische Permanenz.
nen Parteien. Ein asymmetrischer Krieg, der auf dem Die Gewerkschaften, die marxistischen Parteien waren
Land verwurzelt ist, der die Bauern organisiert und sich nach und nach stabile innere Gegebenheiten des politi­
langsam und in Etappen entfaltet. China und Vietnam schen Lebens, und damit auch der geregelten Sphäre
sind dafür beispielhaft. Sicherlich geht es immer noch um des Parlamentarismus geworden. Von einem sozialen
den Sieg: Auf Lenins "der Aufstand ist eine Kunst" ant­ Standpunkt aus ergab es durchaus Sinn von den "Par­
wortet Mao Tse-Tungs "der Volkskrieg ist unbesiegbar." teien der Arbeiterklasse" zu sprechen , einer besonderen
Aber noch mehr handelt es sich um eine Vereinigung des Mischung eines institutionellen Fortbestandes und einer
nationalen Prinzips mit dem des Volkes. Der nationale relativen Dissidenz, einer Haltung der Erwartung und
Befreiungskrieg stellt eine einheitliche Bewegung auf, die zugleich der eines mittleren Managements, M ischfiguren
eine Nation gegen den Imperialismus zusammenschmie­ aus einer Ferne der revolutionären Idee und einer Nähe
det und ein Volk aus den halb-feudalen Zwängen befreit. einer oppositionellen Aktivität.
U nter der marxistischen Hegemonie, mit der Garantie der
Partei als Volksorganisation und strategischem Haupt­ Diese d rei Bezüge, Arbeiterbewegung, nationale Befrei­
quartier, vollzieht sich die aktive Einheit des Volkes und ungskämpfe, sozialistische Staaten, ordneten den Mar­
der Nation . Das Thema des Sieges wird wieder aufgegrif­ xismus in die wirkliche GESCHICHTE ein u nd nahmen
fen, aber nun bezieht es sich auf den Krieg im Ausland ihn von den einfachen Meinungen, selbst wenn diese

34 35
revolutionär waren, aus. Dadurch entwickelte sich die des Verdachts eingetreten.
Ü berzeugung, dass die GESCHICHTE im Sinne der Seien wir hier philosophisch wachsam. Der Misskre­
Glaubwürdigkeit des Marxismus arbeite. Der Aufstand, dit, in den die UdSSR gefallen ist, ist so g rundsätzlich
der Staat, der Krieg, die Nation, die Massenbewegung und die Banalität ihres Fiaskos ist so deutlich , dass es
der Gewerkschaft: alle diese Terme, in denen sich - gut sein könnte, dass das Denken auch noch die Spur
scheinbar - die politische Fähigkeit der Arbeiter zeigte, dessen, was wirklich in d iesem historischen Abenteuer
fanden ihre Artikulation im Marxismus und ihrem höch­ auf dem Spiel stand , verloren hat. Die Evidenz ist eine
sten subjektiven Vertreter, in der marxistischen Partei . gefährliche Macht der Dissimulation.
Man kann m i t "Krise des Marxismus" den schrittwei­ Die gewöhnliche Angriffsposition privilegiert den Ter­
sen Zusammenbruch dieses Dispositivs der Referenzen ror und die Unterdrückung, also die massiv bestätigten
bezeichnen . Der Marxismus befindet sich heute in der Tatsachen, um die UdSSR aus jeder vernünftigen Politik
U nmöglichkeit weiterhin Schlussstriche unter die heraus zu katapultieren .
GESCHICHTE zu ziehen. Seine Glaubwürdigkeit ist auf­ Aber was ist die Ordnung der Gründe, in der sich dies
gebraucht und er ist hiermit wieder zurückgeführt auf das als unvernünftig erweist? Welche denkbare politische
gemeinsame Verhältnis der Lehren und Doktrinen. Gesundheit wird durch die sowjetische Pathologie
Ü ber einen Zeitrau m von etwa dreißig Jahren hat man diagnostiziert?
gesehen, wie sich der Destitutionsprozess des staatli­ Subjektiv steht fest, dass der russische Horror in dem
chen Bezugs (Kritik des "real existierenden Sozialismus") prophetischen Vermögen der Kunst letztlich ans Tages­
und des Bezugs der nationalen Befreiungen (Kritik der licht des westlichen Bewusstseins gekommen ist. Das
befreiten Nationen, die ihrerseits, wie Vietnam, zur militä­ einfache Nennen der Fakten durch Victor Serge, durch
rischen Expansion fähig waren) öffnet. David Rousset, und durch viele andere reichte nicht aus.
Wen n Polen - zumindest seit Danzig 1 980 schließ­
-
Allein das Genie Solschenizyns hat das Regime der blin­
lich die Krise vollendet, dann weil in Polen die fast säku­ den Gewissheilen erschüttert. An diesem Punkt antizi­
lare Verbindung zwischen Marxismus und Arbeiterbewe­ piert die Kunst die Figuren des politischen Bewusstseins.
gung in radikaler Weise i n eine Krise geraten war: So Für denjenigen, der wie ich zugesteht, dass die Lite­
verschwand in ihrer einfachen Form die dritte und letzte ratur ein Reales benennen kan n, demgegenüber die
Referenz. Politik verschlossen bleibt, gibt es hier Grund, einen lite­
Der staatliche Bezug ist als erster, hauptsächlich aus- rarischen Streit zu eröffnen.
gehend von der Bilanz der Sowjetunion, in das Zeitalter Denn man muss die Entschlossenheit haben zuzuge-

36 37
ben, dass die Denunziation des Terrors n icht die radikale lität des roten Despoten appelliert er an die Totalität der
Kritik der Politik, die ihn gründet, ist und nicht sein kann. Seele des Meisters, des Wahren, dessen Transzendenz
Russland zur schmerzhaften M issionierung des Jahrhun­
derts auserwählt hat.
I I . Solschenizyn u n d Schalamow
Vom einzigen Punkt, der uns beschäftigt - die Posi­
tion eines neuen Begriffs der Politik - und so gewaltsam
Der Archipel Gulag soll den Westen an seine Pflicht, an das Paradox erscheinen mag, muss man anerkennen ,
sein Gewissen erinnert haben. Er soll der marxistischen dass Solschenizyn folglich zur gleichen Dimension des
Irreführung der Intellektuellen ein Ende gemacht haben . politischen Denkens gehört wie Stalin, dass er gewisser­
Die reuigen Revolutionäre, vor das Reale als Horror maßen vielmehr dessen Kehrseite als dessen Zerstörung
gestellt, sollen den Weg des Gesetzes und des Rechts ist.
wieder gefunden haben. Der politische Weg Solschenizyns ist sicherlich im
Zunächst wird man wird mir erlauben, zu würdigen, Hass Stalins vorgezeichnet. Aber die Stätte dieses Has­
dass Solschenizyn in einer bestimmten Weise über die­ ses, das, was erlaubt, dass es eine Möglichkeit und krea­
ser massiven Rückkehr der französischen Intellektuellen tive Fähigkeit des Hasses gibt, bleibt unbeweglich . Sol­
zur parlamentarischen Demokratie als Alpha und Omega schenizyn und Stalin denken, der eine wie der andere,
der politischen Ü berzeugung steht (auch wenn dies histo­ ausgehend vom russischen Nationalismus, immer einer
risch bedeutete, dass er ihr zugehörte). Es ist offensicht­ populistischen Sublim ierung entlehnt, in der die Figur
lich, dass sich Solschenizyn nicht um die Menschen­ eines Großinquisitors im Herzen eines Sturms der Leiden
rechte schert und sich über die Parlamente lustig macht. das Stigma eines Heils, das höher ist als das, zu dem der
Im Herzen seiner Äußerungen liegt das geistige Russ­ Westen, feige eingerichtet in seinem Wohlstand und sei­
land, dessen Leiden die Erlösung der g a nzen Menschheit nem Frieden, fähig ist.
bedeutet. Was ihn interessiert und seine Prosa mit einer Die Lager sind für Solschenizyn das Argument einer
esoterischen und grandiosen Spannung belebt, ist die Prophezeiung . Es geht darum, das Dossier des Bösen
christliche Berufung des russischen Volkes. Stalin war aktuell zu halten, so dass die geistige Forderung, einem
die erforderliche Kreuzigung, damit allein Russland der absoluten Verbrechen allein entsprechend, vom Grund
Weit das Böse der materialistischen Ideologie nennen des Abgrunds aufgehoben wird (im Hegel'schen Sinn der
kann. Dabei weist Solschenizyn absolut die demokrati­ "Aufhebung").
sche Schwäche zurück. Gegen die blasphemische Tota- Als Schriftsteller entfaltet Solschenizyn die Mittel der

39
38
russischen Tradition, so wie sie seit langem für dieses bigte wahrhafte politische Verbrechen des Jahrhundert
große in der Weite und der Kälte vertei lte Volk ein singu­ der Nazismus war, hat man das umfangreiche, christli­
läres Gleichgewicht des Realismus einrichtet , gewonnen che, nationale und antidemokratische Unternehmen Sol­
aus dem Dunklen des U mherirrens und des Todes sowie schenizyns auf d ie in der Propaganda unmittelbar wahr­
aus der chiliastischen Verherrlichung, deren Heidin die nehmbare ideologische Gleichung zurückgeführt: Stalin
bäuerliche Masse ist. ist Hitler. Dagegen zählten allein die Parlamente und das
Solschenizyn hat folglich minutiös das Universum der freie U nternehmertum.
Lager inventarisiert, um zu begrenzen, was es in ihm - in Insgesamt war Solschenizyn zu russisch, als dass der
seiner Logik - an Radikalem gab. Im Westen hat er Westen von ihm etwas anderes hätte entleihen können ,
erlaubt, dass das Bewusstsein des Stalinistischen P hä­ als das, was er bereits allein mit den schäbigen Kräften
nomens zugleich allgemein (die Lager als Wahrheit des seiner eigenen Reaktion hervorgebracht hatte: dass Sta­
Kommunismus) und oberflächlich (gegen das hilft es nur lin totalitär war.
das Wenige zu bewahren, was man hat) verschoben und Aber die Kategorie des "Totalitarismus", die selbst nur
begrenzt wurde. Denn die westlichen I ntellektuellen in ihrer Verbindung m it der Demokratie ein operativer
kümmerten sich kaum u m die mächtige nationale und Begriff ist, bleibt, ich habe das gesagt, u nterhalb der
christliche Problematik Solschenizyns. I hre Interessen Herausforderungen der weltweiten Krise des Politischen.
lagen woanders. Es ging daru m , dass d ie Revolution Sie öffnet das Denken nicht auf seinen eigenen I mperativ
aufhörte der transversale Begriff zu sein, von dem aus hin. Auch kommt es in der literarischen Bearbeitung Sol­
man philosophisch die Politik denkt. Hierin dachten sie schenizyns vor, dass uns die politische Intelligenz der
eine Befreiung zu vollenden, obwohl sie nur die anony­ russischen Lager, der Millionen von Toten, der verallge­
men Träger eines Symptoms der universellen Krise der meinerte Terror dessen, was dort geschehen ist und was
Politik und ihrer Subtraktion von jeglicher Anstrengung wir daraus zu machen haben, verschlossen bleibt.
des Denkens waren. Man darf sich im Schriftsteller nicht täuschen, wenn
Der symptomale Charakter dieser Loslösung wurde in die Kunst die Möglichkeit des politischen Denkens
seiner triebhaften Gewalt ablesbar. Da die ganze Verbin­ regiert. So groß wie Solschenizyn auch sein mag, seine
dung des Subjekts und der Politik auf dem Spiel stand, Größe ist ein Spiegel der schwarzen Größe, mit welcher
reichte es nicht, dass die Revolution u n möglich schien - Stalin das Desaster der Roten vollendet hat.
was sie für einen Lacanianer zum Realen erhoben hätte. Der, nach dem wir uns richten müssen, ist Warlam
Sie musste ein Verbrechen sein. Und weil das beglau-

40
41
Schalamow5 , dessen erste Texte über Kolyma - diese dazu nutzte, der physischen Seite zu dienen. "7
Datierungsfragen sind wichtig - in Frankreich 1 9696 Kolyma ist eine Reihe von Erzählungen und wenn
erschienen. man einen Vorfahren anführen müsste, wäre es
Schalamow ist zwanzig Jahre lang in den nordöst­ Tschechow, an den man denken würde, aber ein heftiger
lichen Lagern Sibiriens gewesen. Er ist in Russland Tschechow ohne Melancholie, ein postrevolutionärer
gestorben, befreit, aber krank und geistesgestört. Er Tschechow, wenn ich es so nennen kann. Diese Kurz­
bedient sich der Lager nicht zu einer Apologetik des geschichten halten sich am Rand der Fiktion und der
Bösen. Er gehört zur anderen russischen Tradition, der­ Erinnerung, in Frankreich in einer Ordnung der subtilen
jenigen, die d ie menschliche Physis aus der Nähe Abfolge herausgegeben, die keine Architektur, sondern
betrachtet, und sie über einige übertragbare Prinzipien vielmehr einen Verlauf auferlegen , der mit der F rage
aufhellt. Wenn er anmerkt, dass die Pferde unter den beginnt: ,,Wie tritt man einen Weg in unberührten
furchtbaren sibirischen Prüfungen schneller sterben als Schnee?"8 und abschließt mit: "Das war ein Brief von
die Menschen, erklärt er: "Und ich verstand das Wich­ Pasternak."9 Man denkt sogleich, dass der Schnee des
tigste, daß der Mensch nicht darum zum Menschen Leidens auch die Seite eines Buches ist und dass es am
geworden ist, weil er Gottes Geschöpf ist [ . . . ]. Sondern Ende "ei ne" - von Pasternak geliehene - "feurige Schrift
weil er physisch kräftiger und zäher war als alle Tiere, gibt, zugleich luftig und klar und lesbar."
und später dann, weil er seine geistige Seite erfolgreich Das Universum der Lager, so wie es dieser Verlauf
mit einer Art fragmentierten Sanftmut zusammensetzt, ist
5 Warlam Schalamow, - offensichtlich - grauenhaft. Der Tod, die Schläge, der
Erzählungen aus Kolyma (A.d.Ü.: Warlam
Schalamow, Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I, Berlin H unger, die Gleichgültigkeit, die Entkräftung sind perma­
20073; ders . , Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma II, Berlin 2008). nente Markierungen der Existenz. Es ist die ganze Zeit
6 Erzählungen von Schalamow wurden bereits 1 969 unter dem Titel
nicht Schalamows Anliegen, alles aus dem Bösen her­
Article 58 bei Denoel publiziert. (A.d.Ü.: Vgl. auch: Warlam Schala­
mow, Artikel 58. Die Aufzeichnungen des Häftlings Schalamow, Köln
zuleiten. Es handelt sich vielmehr um ein Welt-Schaffen
1967). Wir merken im Übergang an, dass die Opposition Solscheni­
zyn 1 Schalamow, die für das ins-Spiel-Setzen des Wesens der Poli­
tik passend ist, keine unmittelbare, subjektive Oppo�iti �.n ist. Sol­ 7 A.d .Ü.: Warlam Schalamow, Durch den Schnee, a.a.O., S. 41 .
schenizyn erkannte vollständig die Größe und selbst d1e Uberlegen­ 8 A.d.Ü.: Ebd., S. 7.
heit Schalamows an: "Vielleicht lassen Schalamows Kolyma-Erzäh­
lungen den Leser mehr von der Unbarmherzigkeit des insularen 9 A.d.Ü.: Hier und in einigen weiteren Fällen zitiert Badiou aus noch
Geistes und vom Äußersten an menschlicher Verzweiflung spüren." nicht ins Deutsche übersetzten Erzählungen Schalamows. ln diesen
Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag, Bd. 2, Frankfurt am Fällen ü bersetzen wir direkt aus dem Französischen und verzichten
Main 2008, S. 7. auf weitere Angaben.
42 43
und zwar so, dass die Ausnahme als Metapher des Nor­ der Praxis festzuhalten, von denen aus das Gedrängte
malen gilt und dass das literarische Vertiefen in diesen der Stunden aufgehellt und von wo aus die subjektive
Alptraum uns zur U niversalität eines Wollens erweckt. Auflösung aufgehalten wird. Schalamow schlägt vor, was
Dort, wo Solschenizyn die Archive des Teufels führt, man eine "Verhaltenscharta" der Gefangenen nennen
findet Schalamow am Rande des Möglichen den harten könnte - alles in allem ein Klassenstandpunkt "[ . . . ] Ich
Kern einer Ethik. Selbst die geographische Verschan­ werde einen Gefangenen wie m ich selbst nicht denunzie­
zung Kolymas (man gelangt m it dem Boot dorthin und ren , was immer er tut. Ich werde den Posten eines Briga­
der Rest des Landes wird von den Häftlingen "der Konti­ diers n icht anstreben, der die Möglichkeit gibt, am Leben
nent" genannt) trägt zum sonderbaren Eindruck bei, dass zu bleiben, denn das schlimmste im Lager ist es, einem
man es mit einer umgekehrten Utopie zu tun hat. Denn anderen Menschen, einem Häftling wie dir, den eigenen
der Leser vergisst zunehmend , dass es sich um Politik (oder irgendeinen fremden) Willen aufzuzwingen. Ich
handelt, um den Staat, um zentralisierte U ntaten, um sich werde nicht nach nützlichen Bekanntschaften suchen
in einer vollständigen Weit einzuschließen, in der alle und Bestechu ngsgelder verteilen. Und was habe ich
verzweigten und tiefen Unterschiede des Bewusstsei ns davon, dass ich weiß, dass lwanow ein Schuft ist, Petrow
und des Verhaltens auf das Wesentliche zurückgeführt ein Spion und Saslawskij ein falscher Zeuge?" 1 0
sind . Dies ist der Punkt, an dem er wieder auf den mögli­ Im Übrigen ist e s in d ieser Perspektive eher das offi­
chen Weg einer anderen Wahrnehmung der politischen zielle System - seine E rmittler, seine Schläger, seine
Wahrheit zurückkehrt. Vorsteher - als das Böse, das mit den Gefangenen eine
Stalin ist zum Beispiel für die Gefangenen nur eine Einheit bildet, in dem Maß, wie es eine Erfahrung, eine
beliebige Figur: "Der Tod Stalins hat auf uns, d ie wir Art monströser sozialer Produktion organisiert. Für
Männer mit Erfahrung waren, keinen großen Eindruck Schalamow sind nicht die Kommunisten das Grauen '

gemacht." Bedeutet das, dass das "System" verantwort­ sondern die Ganovenweit
lich ist und nicht Stalin, das Individuum? Nichts von dem "Der Chef ist grob und hart, der Erzieher verlogen, der
bei Schalamow. Was die "Männer mit Erfahrung" wissen, Arzt gewissenlos, doch all das sind Bagatellen im Ver­
ist, dass es vom Standpunkt des Realen der Lager (wie, gleich zur zersetzenden Kraft der Ganovenweit Die
in einem bestimmten Sinn, der Fabrik) nicht die anderen bleiben dennoch Menschen , und ab und zu
Beschwörung der großen strukturellen Unterdrückungen schaut das Menschliche in ihnen durch. Doch die Gano-
ist, die der Zirkulation der Wahrheit dient, sondern die
Hartnäckigkeit einzelne Punkte des Bewusstseins und
1 0 A.d.U..
. : Wartarn Schalamow, Durch den Schnee, a.a.O., S. 56.

44 45
ven sind keine Menschen." 1 1 Bedeutung ist. Das Lager erzeugt folglich kein politisches
Das Thema der Gauner ist wesentlich für das Buch. Denken im Hinblick auf den Staat, sondern nur den Weg
Es konzentriert den Hass und das Grauen. Für Schala­ einer singulären und immanenten Bestimmung:
mow besteht das Verbrechen Stalins weniger in den La­ "Die tödliche Sense Stalins mähte die ganze Weit
gern als darin, den Gaunern in den Lagern Macht und ohne Unterschied nieder. Alle waren Menschen, zufällig
Handlungsspielraum gegeben zu haben, weswegen es ausgewählt unter den Gleichgültigen, den Feigen, den
ihnen gegenüber weder ein kollektives Bewusstsein noch Bourgeois und selbst den Henkern. Und sie sind Opfer
verbindliche Prinzipien gibt. Dies ist ein entscheidender aus Zufall geworden."
Punkt: Für Schalamow ist es nicht die Politik, die die La­ Der hier angeführte Zufall barrt jeden Zugang zu einer
ger erlaubt hat, sondern ihre Abwesenheit. Nicht ihre apologetischen Lehre der Lager, ohne jedoch deswegen
staatliche, sondern ihre subjektive Abwesenheit. Die dem Irrationalen nachzugeben. Das Lager wird zunächst
Intellektuellen werden dafür krit isiert aufgrund politischer als Effekt des Realen verstanden, von dem aus, gemäß
Schwäche die "Moral" der Gauner angenommen zu einer ethischen Hypothese, ein literarischer Wahrheits­
haben: anspruch gestaltet wird. Und es ist die tiefe a-politische
"ln einem Wort: der I ntellektuelle will [ . . . ] ein Ganove Einstellung der Opfer, die im Ressort dieses Realen liegt:
unter Ganoven sein, ein Krimineller unter Kriminellen. Er "Die Professoren, Parteiarbeiter, Militärs, Ingenieure,
stiehlt, er trinkt, er ist selbst zufrieden, wenn er nach all­ Bauern und Arbeiter, die d ie Gefängnisse jener Zeit
gemeinem Recht bestraft wird : das infame und verfluchte überfüllten, hatten eigentlich weiter nichts vorzuweisen
Siegel der Politik wird an ihm schließlich beseitigt. Und im [ . . . ]. Das Fehlen einer einheitlichen verbindenden Idee
Ü brigen gab es niemals etwas Politisches. Es gab keine schwächte die Moral der Häftlinge außerordentlich. Sie
Politik im Lager." waren weder Gegner der Macht noch Staatsverbrecher
Schalamow rührt hier an den finsteren Egalitarismus und starben, ohne überhaupt zu begreifen, warum sie
des stalinistischen Lagers. Es ist nicht der Andere, der sterben mussten." 1 2
getroffen wird, wie im Nazi-Lager (der Jude, der Kom m u­ Und weiter:
nist, der Russe oder der Pole). Es ist der Gleiche. Wenn "Sie versuchten zu vergessen, dass sie politische
das Lager die Erfahrung einer Ethik ist, in der der Gegner Häftlinge waren. Übrigens haben sie niemals Politik
der Gauner ist, dann weil es selbst ohne dialektische betrieben, jedenfalls n icht mehr als die anderen «Acht-

11 12 ..
A.d.Ü.: Warlam Schalamow, Durch den Schnee, a.a.O., S. 232. A.d. U.: Warlam Schalamow, Linkes Ufer, a.a.O., S. 226.

46 47
1
undfünfziger» 3 der Zeit." renden" als H indernisse des einfachen Überlebens
"Das Massaker an tausenden von Menschen in aller begegnen, auch eine magische und weit zurückliegende
Straffreiheit kann gerade nur deshalb gelingen, weil diese Substanz, eine bedrängende Vertrautheit sind, der
Unschuldige waren." Schalamow ganze Erzählungen widmet, wie etwa "Das
Im Namen der Opfer selbst appelliert ganz Ko/yma Krummholz" 1 4 , in der er die Freundschaft zwischen einem
daran, sich nicht in der politischen U nschuld einzurichten. Mann und einem Baum schildert. Dies zeigt sich umso
Es ist diese N icht-Unschuld, die es woanders als in der intensiver, als diese geschlossene Natur, wie jede andere
reinen Reaktion zu erfinden gilt. Um das Grauen zu Sache in den Lagern, nichts Ursprüngliches mit dem
beenden, ist das Voranschreiten einer Politik erforderlich , gemein hat, der sie beschreibt, und der bei seiner Befrei ­
die integriert, was ihre Abwesenheit gekostet hat. u n g schreibt:
Dies begründet in dem Buch auch die Periodisierung "Mit meiner erfrorenen Hand das kalte Geländer
der Phänomene. Das perverse und unwandelbare Sys­ berührend und zitternd, den Gestank und den Staub der
tem des Totalitarismus gibt es n icht. Die Lager haben winterlichen Stadt einatmend, beobachtete ich die eiligen
eine klar artikulierte Geschichte. Im Zentru m , das Fußgänger und ich verstand, an welchem Punkt ich ein
schreckliche Jahr 1 937-1 938. Genau hier, in der Singula­ Städter war. Ich verstand, dass das, was dem Menschen
rität eines Moments, entfesselt sich die Grausamkeit. am teuersten, wesentlichsten ist, die Zeit ist, in der seine
Schalamow erklärt ausdrücklich, dass die Folter, die Heimat geboren wird , während Familie und Liebe noch
Befragungen und auch die massenweisen Erschießun­ nicht existieren. Es ist die Zeit der Kindheit und der ers­
gen der Gefangenen auf das Ende von 1 937 datiere n . Es ten Jugend. U nd mein H erz zog sich zusammen. Ich
gibt das Vor-1 937 und das Danach und 1 937 selbst, als grüßte l rkutsk von ganzem Herzen. l rkutsk war mein
hätte das Regime in diesem Jahr eine paroxistische Wologda, mein Moskau."
Phase seines Prozesses durchlaufen. Man wird verstanden haben, dass die Erzählungen
Und dann gibt es wie als Rückseite der in allen Schalamows n icht die politische Bilanz Stalins oder der
Erzählungen an den Tropf gelegten ethischen Intelligenz Lager sind.
eine Art Poetik des Großen Nordens, in dem die Kälte, Diese Bilanz liegt i n Wahrheit vor uns, denn sie hat
der Schnee, die Bäume, die Wildbäche, die den " Krepie- zur Bedingung, dass die emanzipatorische Politik, die
einzige, der auch die Philosophie zugehören kann, sich
1 3 Der Artikel 58 des sowjetischen Gesetzes nannte die ,Trotzkisten"
und andere politische Feinde des Volkes. Er ermöglichte die ..
14
schlimmste Auslegung. A.d.U.: Warlam Schalamow, Durch den Schnee, a.a.O., S. 222-224.

48 49
in dem Element des Aufstands einrichtet , jenseits der entschied." 1 6 Und der aus den Reihen hervortritt, um mit
tödlichen Krise, die sie heute erfasst. Aber Schalamow zitternder Stimme zu erklären: "Wagen Sie nicht, den
hinterlässt uns dieses unendlich Wertvolle: die Prosa, i n Mann zu schlagen" 17 - auf die Gefahr hin, in der folgen­
der der Wille einer solchen Bilanz wurzelt . Schalamow den N acht verprügelt zu werden und seinen ersten Zahn
errichtet kein Tribunal, auch wenn er i n letzter Instanz zu verlieren.
urteilt. Er ist eine Form des beispielhaften und übertrag­ Aber der andrerseits auch in "Marcel Proust" vom
baren Bewusstseins. Kostbaren der Bücher erzählt , ihrer Weitergabe, ihrem
Es ist notwendig , dem sowjetischen Terror ins Gesicht Verlust, und dass er, "von Auf der Suche nach der verlo­
zu sehen und zugleich ist es unmöglich einfach zu renen Zeit überwältigt gewesen sei", als er mit dem vier­
sagen: "dies sind nicht wir", während man sich die Augen ten Band beginnend, man weiß nicht warum, zu einem
zuhält . Denn dies ist, auf ihre Weise, unsere Geschichte, ihm bekannten Arzthelfer geschickt wird. Er, "ein Mann
insofern es darum geht, sie zu denken und sie zu unter­ aus Kolyma, ein Gulag-Gefangener."
brechen. Schalamow entlässt uns nicht aus dem
genauen Blick auf das, von dem man manchmal vorgibt ,
dass wir e s lieber nicht wissen würden . W i r sind, mehr 111. Das Ende der Siege
als irgendjemand, an das gebunden, was sich niemals
mehr wiederholen wird, was in seinen Fundamenten ent­ Wenn wir vom Gulag-Gefangenen lesen, bekräftigen wir,
wurzelt ist, das Grauen, dessen subjekt ive Wahrheit ohne auf die Absicht zu verzichten, die Politik zu verwe­
Schalamow klar und brüderlich in Prosa fasst. sentlichen, die Gewissheit, dass die staatliche Referenz
Der Schriftsteller ist hier ein Wegweiser der Handlung, der Politik vollkommen zerstört ist. Aber mit diesem Wai­
wenn diese eine Politik neu konstituieren, zusammenset­ senhaus des Realen dringt auch eine Teilung und eine
zen will, die d ieses N amens würdig, d .h . der veridischen Doppeldeutigkeit in das ein , dessen Emblem dieser Staat
Spannung des Subjekts homogen ist. war: in den Begriff des Sieges. Was heißt es, zu siegen?
Und welcher Wegweiser könnte denjenigen ersetzen, Während des gesamten 1 9. Jahrhunderts blieb diese
der - wie er es i n "Der erste Zahn" 1 5 erzählt -, in dem Frage für das politische Bewusstsein der Arbeiter dunkel.
Moment, in dem ein Gefangener vor ihm geschlagen Der Leninismus - der Marxismus der "Epoche der sieg-
wird , versteht, "dass sich alles, mein ganzes Leben, jetzt

16 ..
15 A.d.U .: Ebd. , S. 220.
A.d.Ü.: Warlam Schalamow: Der erste Zahn, in: Ders.: Geschichten
aus Kolyma, Frankfurt am Main 1 983, S. 21 7-223.
17 ..
A.d . U . : Ebd., S. 220.
50
51
reichen proletarischen Revolution", wie man sagte - hatte Der zweite Bezug (die nationalen Befreiungen) wurde
in diesem Punkt Klarheit gebracht: Siegen bedeutete, d urch d ie Verstaatlichung Vietnams destituiert, zumal für
sich zu engagieren, unter den besonderen nationalen die J ugend der westlichen Länder gerade das unterstüt­
Bed i ngungen, auf dem durch den vom Oktober 1 9 1 7 und zende Engagement für den Kampf der Völker in l ndo­
der UdSSR eröffneten Weg . Der Sieg hatte seine Heimat, china eine wesentliche Quelle des politischen Radika lis­
die "Heimat des Sozialismus". mus war. Vietnam erscheint heute als eine expansionisti­
Aber hier wird der Sieg expatriiert. Die UdSSR, China sche, militärische Macht, nah an das sowjetische Dispo­
oder irgendein Staat, sogar in dem gemeinen Bewusst­ sitiv angelehnt, dessen starke nationale Dynamik nicht
sein derer, die angeben, sich auf ihn zu berufen, hören organisch mit einer Dynamik des Volkes verbunden ist.
auf, das Emblem des Sieges zu sein, sie werden sogar Die heute deutliche Teilung zwischen dem vietnamesi­
dessen I nversion, das schwarze Zeichen, und es ist der schen Nationalismus und dem Engagement des Volkes
Sieg, der der U nstetigkeit und dem Verdacht ausgesetzt stellt die Berechtigung dessen in Frage, was, in der vor­
ist. Als erster marxistischer Begriffe ist jener der Diktatur herigen Sequenz, die Propaganda ihrer vorausgesetzten
des Proletariats davon betroffen, der am meisten kom­ Vereinigung bekräftigte. Der so genannte "Volks"-Krieg
promittierte in der aus dem Oktober hervorgegangenen hat ohne Zweifel d ie nationale Frage siegreich unter­
siegreichen Subjektivität. Dass er in d ie Krise gerät, ver­ stützt. Aber hat er es in einer d ialektischen Einheit mit der
dunkelt die Abgrenzung zwischen dem als politischem E manzipation des Volkes getan? Man kann sich heute
Realismus verstandenen Marxismus und den anderen fragen, ob das, was als d iese Einheit des Volkes ver­
Strömungen revolutionären Denkens. Die Diktatur des standen worden war, nicht einfach eine spezifische
Proletariats war in gewisser Weise das begriffliche M ark Technik des nationalen Krieges war, die allgemeine zeit­
des siegreichen politischen Prozesses, eine Bestimm u ng, genössische Form, die dieser Krieg in unserer Epoche
die das allgemeine Thema der proletarischen politischen annimmt, ohne dass d ieser Form notwendigerweise eine
Fähigkeit (die Diktatur des Proletariats als Symmetrie zur emanzipatorische politische Universalität des Volks inhä­
Diktatur der Bourgeoisie) und der besonderen Form des rent ist. Wenn es deshalb richtig bleibt - im Rahmen der
postrevolutionären Staates (die Diktatur des Proletariats notwendigen Befreiung der Nationen -, die Anstrengung
als Wesen der Klasse des sozialistischen Staates) betraf. des Krieges der Völker l ndochinas unterstützt zu haben,
D ie I nfragestellung der UdSSR als Geschichtlichkeil des ist es erforderlich, d iese Berechtigung von all jenem
S ieges erschüttert die begriffliche Bestimmtheit dieser abzugrenzen, was sie zu überschreiten vorgab, indem
Kreuzung . der Volkskrieg als tiefe Quelle einer politischen Neuheit

52 53
und als Obdach einer Regeneration des Marxismus ver­ am Leben halten? Es würde sich u m das politische
standen wurde. Vielmehr noch hat der Vietnamkrieg - Leben einer einzigartigen Referenz handel n , die außer­
seine Folgen zeigen es - aufgezeigt, wozu der Nationa­ halb ihrer selbst unbezeugt ist, und die weder im Staat
lismus, was die den Bedingungen der Zeit angepassten noch in der Nation - nicht einmal im Volk - repräsentier­
Erfindungen angeht, noch fähig war. Er hat bewiesen, bar ist.
dass nicht nur die (bürgerliche) Epoche der nationalen Jedoch, um welches "Leben" handelt es sich? Wo und
Kriege noch n icht vorüber war, sondern dass sie noch wie hat die Arbeiterklasse m ittels ihrer eigenen Kräfte
immer politische und militärische I nnovationspotenziale ihre u nabhängige politische Fähigkeit bewiesen , wenn
beinhaltete. D ies ist eine nützliche Lehre für den analyti­ man d ie Erfahrung des sowjetischen - oder chinesischen
schen Marxismus, ohne jedoch ein Trost für den militan­ - Staates, wie auch die der nationalen Befreiungen aus­
ten Marxismus zu sein. Die Taktiken und Pri nzipien des nimmt? Hält man sich an Europa, was lässt sich Wesent­
fortgesetzten Krieges sind heute Bestandteil des univer­ liches seit dem Spartakusaufstand von 1 9 1 9 in Deutsch­
sellen Arsenals der politischen Methoden. Ihr Klassen­ land anführen? Und weiter, was ist demjenigen entgegen
charakter ist aufgezehrt und wenn es sich um marxisti­ zu halten, der hinsichtlich der geschichtlichen Erfahrung
sche Erfindungen handelt, taugt ihr fortgesetzter nur d ie H inführung der Massen unter Leitung der reinen
Gebrauch nicht länger als Referenz für die revolutionäre Marxisten zu blutigen Misserfolgen registriert? Dem stellt
Spezifizität des Marxismus. sich als Alternative nur eine langsame parlamentarische
Korrumpierung, deren entwürdigendes Spektakel uns d ie
PCF 18 bietet, entgegen. D ie Arbeiterbewegung, verstan­
IV. Die universale Bedeutung der polnischen den als sozial bestimmte Bewegung, scheint weniger als
Arbeiterbewegung Bezug zu funktionieren, denn als eine Wiederholung
dessen, was seit jeher, erst für d ie Sklaven, dann für d ie
Wenn die Staaten und die Kriege wieder in Zweifel gezo­ Bauern, das Los der Unterdrückten gewesen ist: den
gen werden, kann man sich dann auf die alleinige Wechsel zwischen schweigsamer Unterwerfung und im
Betrachtung der sozialen Bewegung, besonders in ihrer Blut ertränkten Aufstand zu praktizieren. Zwischen den
Figur des Arbeiters zurückziehen? Kann man die Verbin­ beiden: der Streik, der nur die Gehälter ändert. Setzt man
dung zwischen einem von den staatlichen Abenteuern voraus, dass d ie politische Fähigkeit der Arbeiter u nter
des Jahrhunderts befreiten Marxismus und der Sponta­
neität dessen, was ich die Hysterien des Sozialen nenne, ..
18 A.d.U.: Kommunistische Partei Frankreichs.

54 55
dem Gesetz des Kapitals und des Empires nicht das uni­ gung, sie hat in ihr nicht gezählt. Vielmehr ist sie es, die
versale Prinzip der Revolte in seinen gewaltsamen oder ausgehend von sich selbst das Zentrum der Entfaltung
geregelten Formen überschreitet, scheint man die letzte des neuen politischen Denkans im gesamten sozialen
Grundlage der marxistischen Hypothese zu ruinieren. Körper konstituiert hat. I ntellektuelle, Bauern , die J ugend
An diesem Punkt hat die polnische Arbeiterbewegung, der Städte standen nach ihrem eigenen Eingeständnis
von 1 980 bis wenigstens 1 984, eine Neuheit eingeführt; unter der politischen Garantie der demokratischen Orga­
eine Neuheit, die bleibt, was auch immer die Peripetien nisation der Fabriken. Die politische Debatte ist in ihrem
und taktischen M isserfolge ihrer konkreten Geschichte praktischen Wesen auf die Arbeiterdebatte verwiesen.
sein mögen. Es ist in der Tat vollkommen möglich, dass Nun muss man zur Kenntnis nehmen, dass dieses
diese Bewegung die u n mittelbaren Ressourcen des politische Denken der Arbeiter in einer fast chemisch rei ­
Sinns erschöpft hat, die ihre erste Etappe zur Verfügung nen Weise Position gegenüber dem Marxismus-Leninis­
gestellt hatte. Es kann sein, dass sie heute besiegt ist mus bezogen hat. Die Arbeiterbewegung selbst, die sich
oder stagniert. Jedoch impliziert die Autonomie der Politik politisch über Massenereignisse konstituiert hat, organi­
die ihrer Genealogie. Was genau bedeutet übrigens der sierte ihr eigenes Denken in einer radikalen Fremdheit
"Misserfolg" der polnischen Bewegung, wenn sie selber gegenüber dem Marxismus-Leninismus.
affirmierte, dass ihr Ziel nicht im "Siegen" lag? Dies alles Hier ist also eine Bewegung, die einerseits zum ersten
bleibt zu denken. Wenn sogar Polen - als Ereignis - aus Mal seit langer Zeit die ursprüngliche Hypothese des
der journalistischen Aktualität verschwunden ist, braucht Marxismus zu verifizieren scheint: die Existenz einer
es dessen noch sehr viel, damit die Neuheit, die es spezifisch proletarischen politischen Fähigkeit, die zur
brachte, vollständig verfügbar wird. bourgeoisen politischen Fähigkeit heterogen ist; und die
Diese Neuheit ist umso beachtlicher als die polnische andererseits d iese Verifizierung nur in der namentlichen
Bewegung in vielerlei Hi nsicht die klassischste Arbeiter­ Inversion der Hypothese selbst realisiert, in dem Element
bewegung war - die klassischste "marxistische" Bewe­ der Feindseligkeit gegenüber dem, was ihr Taufname
gung -, die man in Europa seit Beginn des Jahrhunderts war, nämlich der Marxismus.
gesehen hatte. ln Polen war und ist die Klasse der Daraus, dass die g rößte zeitgenössische Arbeiterbe­
Fabrikarbeiter immer noch, sogar im Misserfolg, universal wegung die Selbstentwicklung ihres politischen Denkans
als politische Stütze dessen anerkannt, was die Polen nur in einer kompletten Äußerlichkeit zum Marxismus­
"die Gesellschaft" nennen. Die Arbeiterklasse war keine Leninismus gefunden hat, was auch immer dabei der
einfache Komponente der allgemeinen sozialen Bewe- Anteil der nationalen Zwänge (Kirche usw.) gewesen sein

56 57
selbst gesprochen wurde: Er hat gelebt. Was von seiner
mag, resultiert nach meine m Verstä ndnis, dass sich u nter
Erscheinung überlebt, ist nur ein Sprachkadaver, ein Dis­
unseren Augen das organ ische Band des Marxis mus und
kurs, der sich nur durch die Lüge des Todes erhält.
der soziale n Arbeiterrefere nz universal aufgelöst hat.
So konstit uieren heute weder die sozialistischen Diese heute so weit verbreitete Idee versteht sich
sozusagen von selbst. Es ist der prinzipielle Einwand,
Staate n, noch die nation alen Befrei ungsk ämpfe , noch die
den man ihm entgegen halten kann. Heute zu sagen,
Arbeiterbewegung historische Bezüg e, die tauglic h
dass der Marxismus vom Standpunkt des lebendigen
wären , die konkrete Universalität des Marxis mus zu
garantieren. Denkens aus tot ist, ist eine einfache Feststellung. ln ihr
liegt keine tiefe Idee, keine Entdeckung. Es ist eine
gewöhnliche Idee, von der es Grund gibt, zu befürchten,
V. Die reaktive Bedeutung des zeitgenössischen dass sie nur der Schein einer Klarheit ist.
Antimarxismus Es überrascht hingegen , dass diese Idee bislang nur
eine rein reaktive Fruchtbarkeit besaß. Was ist heute die
Es ist n icht übertrieben zu sagen, dass der Marxismus dominante Verwendung der Idee, dass der Marxismus tot
historisch besiegt ist. Wen n die lebendige Substanz sei­ ist? Was ist die in einem großen Maßstab aus ihr gezo­
ner Verkörperung ohnmächtig wird, gehört seine begriffli­ gene Konsequenz? Es ist ganz einfach, dass die allge­
che Erhaltung nur noch der Diskursordnung an, die auf meine Idee einer Politik, die anders ist als die Verwaltung
das gemeine Schicksal zurückverweist. von Zwängen - folglich eine Politik, die des Denkens
Angesichts dieser Zerstörung gibt es selbstverständ­ würdig ist - selbst tot ist. U nd dass eine solche Politik, in
lich zwei Wege, zwei Orientierungen des Denkens. der das Denken Buchhalter des Seins - und nicht der
Die erste läuft darauf hinaus zu sagen, dass der einfachen Notwendigkeit - wäre, ein schädliches Aben­
Marxismus von der Geschichte verurteilt und verdammt teuer ist. Ist es nicht tatsächlich schädlich sich dem Tod
worden ist . Da der Marxismus ja positive Garantien der unterzuord nen? Die Antimarxisten der neuen Generation
Geschichte forderte, muss er nach seinen eigenen Krite­ halten es für gesichert, dass man vor allem das bewah­
rien beurteilt werden. Die historische Zerstörung des ren muss, was man immer hat: d ie Freiheiten, das westli­
Marxismus bedeutet nichts anderes als seinen Tod, als che Denken, die Menschenrechte. Anders gesagt, das
universales Ereignis des politischen Denkens. Der "real politische Wesen des zeitgenössischen Antimarxismus ist
existierende" Sozialismus ist das Urteil, das von der faktisch die U nterstützung - und zum ersten Mal die
Geschichte über die Geschichtlichkeit des Marxismus massive U nterstützung - der parlamentarischen Form

59
58
der Länder des Westens durch die I ntellektuellen und der "Marxisten" nennen - und was auch immer heute der
Verzicht auf jeden Radikalismus, auf jede Wesenhaftig­ Sinn dieses Ausdrucks ist - werden wir sagen, dass die
keit der Politik, gewesen. Dinge sicherlich schlimmer sind , als es sich der Anti­
Dieser Modus der Reflexion der historischen Zerstö­ marxismus vorstellt. Denn die antimarxistische Kritik (der
rung des Marxismus läuft darauf hinaus, reaktiv die Gulag, das Ende der Freiheiten, die Verteidigung des
Tugenden der parlamentarischen Demokratie als verbes­ Westens . . . ) ist nur d ie Wiederholung sehr alter Ein­
serungsfähige, aber wesentlich gute Form des Staates zu wände. Wenn es nur diese gäbe, könnten wir darauf mit
denken. Dieser Kritik der Politik gelingt es nicht, die reine den alten Widerlegungen antworten.
und einfache Rückkehr zur liberalen Theorie der Politik ln der Krise des Marxismus gibt es mehr, als der
zu überschreiten. Das Recht ist als das wiederhergestellt, Antimarxismus zu träumen wagt.
dessen Fundament die Philosophie sichern muss. Erstes Symmetrisch dazu läuft eine dogmatische Verteidi­
Beispiel einer Kritik, deren Zeugnis die Restauration gung des Marxismus darauf hinaus, die alten Widerle­
eines klassischen Zeitalters des politischen Philoso­ gungen alter Einwände zu wiederholen , die wiederum der
phems ist. zeitgenössische Antimarxismus wiederholt.
Der zeitgenössische Antimarxismus folgt also einem Neuer Antimarxismus und alter defensiver Marxismus
konservativen und westlichen Trieb. Der Antimarxismus sind zwei Aspekte ein und desselben Phänomens, wel­
hat eine reaktive begriffliche Formation zum Kern, in wel­ ches das Phänomen der Aufrechterhaltung des Politi­
cher die historische Dynamik durch den Geist der kon­ schen in seinem Rückzug bis zu dem Punkt ist, an dem
servativen demokratischen Spiritualität ersetzt ist. Es das Denken vor seinem eigenen Imperativ der Krise
handelt sich hier um ein veritables Desaster des Den­ abdankt.
kens, dessen konjunkturelle Induktion das Desaster des I m Gegenzug besteht die widersprüchliche Auswir­
Marxismus ist. Dieses Desaster hat jegliche Radikalität kung der Neuheit darin , dass sich die "marxistische"
aus der philosophischen F rage in Bezug auf das Politi­ Arbeiterobjektivität der polnischen Bewegung im subjekti­
sche entfernt. H ier ist der Rückzug vielmehr ein Debakel. ven Antimarxismus entfaltet. Denn das, worum es sich
Was der zeitgenössische Antimarxismus als den handelt, ist eine neue politische Konfiguration der Arbei­
Misserfolg und die Lüge des Marxismus bezeichnet, terfähigkeit, und folglich eine neue, noch stille, Konfigu­
erhebt sich nicht einmal bis zum radikalen Denken der ration des Marxismus selbst.
Effekte der Zerstörung des Marxismus. Aber um diese Neuheit zu denken, muss man an fol­
Bringen wir dieses Paradox voran: Wenn wir uns gender Aussage festhalten, der einzigen, die nicht reaktiv

60 61
ist - denn jedes antimarxistische Denken der historischen Juxtaposition eines Realen und einer Ideologie führt zu
Zerstörung des Marxismus erweist sich als reaktiv: Das einem Mangel des Marxismus, sie erlaubt weder seine
zeitgenössische Sein dessen, was die neue Figur der Kraft noch seine Schwäche zu denken.
Politik klar und deutlich aussprechen und was sich wei­ Die grundsätzliche Frage ist folglich, wo der Punkt
terhin "Marxismus" nennen können wird, welcher die liegt, an dem man die Zerstörung des Marxismus unter­
emanzipatorische Hypothese fortsetzen muss, bedeutet sucht. Nimmt man , oder nimmt man nicht, teil an dem,
nichts anderes, als das vollständige Denken seiner was in seinem Zerstörungsprozess ist? Ich behaupte,
Zerstörung. dass das radikale Denken der Krise des Marxismus
erfordert, dass man in der subjektiven und politischen
Position der I mmanenz dieser Krise ist.
VI. Die Zerstörerische Subjektivierung und die Man muss Subjekt der Zerstörung des Marxismus
Delokalisierung sein, um dafür den Begriff vorzuschlagen. Jede Exzen­
trierung bringt ein farbloses und äußerliches, repetitives
Der Marxismus ist heute nicht tot. Er ist historisch zer­ und reaktives Denken dieser fundamentalen Krise der
stört. Aber es gibt ein Sein dieser Zerstörung. Genauer: Politik hervor.
Es ist möglich und erforderlich sich in der I mmanenz der Ich sage klarerweise nicht, dass man an den Marxis­
Zerstörung zu halten . mus "glauben" muss, um ihn zu kritisieren. Was mich
Die reale Existenz des Marxismus ist in jeder Etappe anbelangt, so glaube ich überhaupt nicht an den Marxis­
seiner Entwicklung ein immanentes politisches Gegebe­ mus. Ich stelle keine Glaubens- oder Bündnishypothese
nes. Der Marxismus ist keine Lehre. Er ist der Name des auf. Der Marxismus ist in keiner Weise eine große
Eins für ein konstituiertes Netz politischer Praktiken. Die Erzählung. Der Marxismus ist die Konsistenz eines politi­
Vision der Krise des Marxismus als einem realen (der schen Subjekts, einer heterogenen politischen Fähigkeit.
"real existierende Sozialismus"), die einen Diskurs (die Er ist das Leben einer Hypothese. Die extreme Gefahr, in
marxistische Lehre) verurteilte und disqualifizierte, kann der sich diese Konsistenz befindet, beweist sich in der
ihre Ziele nur verfehlen. Der Marxismus ist seinerseits subjektiven Erfahrung dieser Gefahr. Der Beweis dieser
tatsächlich nur "real existierend", insofern sich durch ihn Fähigkeit an den Grenzen der Inexistenz erfordert, dass
ein politisches Subjekt erhält. Daraus resultiert, dass das man mit ihr inexistiert. Denn die Äußerlichkeit, das zeigt
Denken der Zerstörung des Marxismus sich als histori­ die Erfahrung, führt zu einem äußerlichen Begriff der
scher Moment eines politischen Subjekts bestimmt. Die Krise, zur Prozessualisierung der Ideologie durch die

62 63
Vorannahmen eines politischen abgetrennten Realen. mehr den Mut des Denkens. Er ist ein staatlicher Fortbe­
Die Krise der Politik ist auf den Rückzug des Politischen stand, eine Apparatur der großen Parteien, der großen
zurückgeführt. Aber der Marxismus ist genau in der Krise, Gewerkschaften, politisch monströs und philosophisch
in sich selbst den Ein bruch des Realen auszuhalten. steril.
Vom zerstörten Marxismus aus lässt sich der Druck des Kein Marxist kann heute anders im Denken existieren,
Realen erfahren , der den h istorischen Prozess dieser denn als ein der Zerstörung des Marxismus' nahes Sub­
Zerstörung anleitet. jekt. Die Proklamierung der Gesundheit des Marxismus'
Es gibt in der U ntersuchung der Krise der Politik eine durch Staaten oder Parteien oder akademische I ntellek­
topalogische Frage. ln welcher Nähe mit dem ln-Zerstö­ tuelle ist eine tödliche Medizin.
rung-Sein des Marxismus kann man sich behaupten? Treiben wir die Idee weiter vora n . l n Wahrheit können
Welches immanenten Mutes versichert sich das Denken? allein Politiken den Marxismus und besonders d ie
Auf diese Nähe und diesen Mut zielen wir mit der Aus­ marxistisch-leninistische Form des Marxismus real zer­
sage: Das radikale Denken der Zerstörung des Marxis­ stören. Der Grund der Zerstörung, das Durchqueren
m us ist in seinem Wesen nichts anderes als d ie aktuelle selbst des Todes dessen, was sterben muss und der
Figur des Marxismus als Politik. Hier liegt der aktive Geburt dessen, was geboren werden m uss, sind d ie Auf­
Zugang zum zeitgenössischen politischen Subjekt. gaben der marxistischen Politiken eines neuen Typs.
Subjekt der Krise des Marxismus zu sein, steht der Denn der Tod und d ie Geburt sind selbst immanente
Idee entgegen , deren Objekt zu sein . Was heißt es, Phänomene.
deren Objekt zu sein? Das heißt: den Marxismus zu ver­ Was ist heute ein Marxist? Es ist derjenige, der in der
teidigen; den Lehrkörper gegen d ie Zerstörung zu Zerstörung des Marxismus in einer subjektiven Position
verteidigen. Das heißt : im künstlichen Leben des ist, der auf immanente Weise ausspricht, was sterben
Diskurses alle toten Referenzen aufrechtzuerhalten. Das muss und der folglich selbst stirbt, dabei d iesen Tod als
heißt: weiterhin Schlussstriche u nter d ie Geschichte zu Rekomposition der Politik anord nend. Während dieses
ziehen, obwohl die Glaubwürdigkeit erschöpft ist. Es gibt ganzen praktischen Prozesses kann das tatsächlich poli­
heute eine, sagen wir, marxistisch-leninistische Art für tische Denken der Zerstörung des Marxismus produziert
den Marxismus zu plädieren, die nichts anderes als eine werden .
Figur seines Todes ist . Dieser Marxismus, der sich der Sich innerhalb des Marxismus' aufzuhalten , bedeutet
Existenz starker Staaten versichert oder der Annahme, einen zerstörten , also unbewohnbaren Ort zu besetzen .
es existierte eine politische "Arbeiterklasse", hat nicht Ich behaupte, dass e s eine marxistische Subjektivität

64 65
gibt , die das Unbewohnbare bewohnt. Sie ist angesichts Politik hat kei ne historische Heimat mehr.
des zerstörten Marxismus in einer Situation des I nnen I Alle mit einem realen Arbeiter- oder Volksleben ver­
Außen. Die Topologie der Politik, die am Ort des Unbe­ sehenen politischen Bezüge sind heute im Verhältnis
wohnbaren zu denken bleibt , gehört der Ordnung der zum Marxismus atypisch , delokalisiert, unstet. Jeder
Torsion 1 9 an: weder dem marxistisch-leninistischen Erbe beliebige orthodoxe Marxist wird einwenden, dass die
i nnerlich , noch reaktive Äußerlichkeit des Antimarxismus. polnische Bewegung national und religiös ist, dass die
D ieses Verhältnis der Torsion setzt sich jeder übertriebe­ iranische Bewegung religiös und fanatisch ist, dass hier
nen Siegesgewissheit des vorherigen Marxismus, der im G runde nichts den Marxismus betrifft. Und dieser
u nfehlbaren Geradheit der "richtigen Linie" entgegen. orthodoxe Marxismus wird nur ein leeres Objekt in dem
Das politische Denken bezieht sich heute nur durch ein Prozess der Zerstörung des Marxismus sein.
verzerrtes Verhältnis auf seine eigene Geschichte. Es betrifft das Wesen der realen Politik, dass ihr die
Dies lässt sich auch anders ausdrücken: Heute sind historischen Bezüge über die Wege der Orthodoxie un­
die Bezüge der Politik nicht marxistisch. Es gibt eine fun­ denkbar bleiben. Die Orthodoxie ist eine geradlinige Mei­
damentale Delokalisierung des Marxismus. Vorher gab nung , aber der Marxismus ist Torsion , er hat nicht länger
es eine Art Selbstreferenz, denn der Marxismus bezog die Mittel, um eine Geradlinigkeit des Denkans zu sei n .
seine allgemeine Glaubwürdigkeit von den Staaten, die M a n muss sich in dem delokalisierten Ort aufhalten,
sich marxistisch nannten , von den nationalen an dem das Denken dessen hergestellt wird , was die
Befreiungskämpfen unter der Führung marxistischer Orthodoxie als undenkbar repräsentiert.
Parteien, von den Arbeiterbewegungen, die von marxisti­ ln Wahrheit bleibt uns nur der unbewohnbare Ort
schen Gewerkschaften eingerahmt waren. Aber dieses einer kommenden marxistischen Heterodoxie.
Bezugssystem ist verschwunden. Die großen histori­
schen P ulsschläge der Masse beziehen sich - zumindest
- seit dem Ende der Kulturrevolution in China n icht mehr VII. Die Figur des (Neu)Begi n ns
auf den Marxismus: Sehen Sie nach Polen oder auf den
I ran. Es gibt aufgrund dieser Tatsache eine Expatriierung Wenn der Marxismus nicht zu verteidigen ist, muss man
der Politik. Ihre historische Territorialität ist ihr nicht mehr ihn beginnen.
transitiv. Die Ära der Selbstreferenz ist geschlossen. Die Der Marxismus hat schon einmal begonnen , zwischen
1 840 und 1 850. ln der Geschichte, die von diesem
1 9 A.d.Ü.: Vgl. zum Begriff der Torsion: Alain Badiou, Theorie du sujet, Beginn inauguriert wurde, durchlief er dann Etappen, z.B.
a.a.O., S . 1 65-1 74.

66 67
den Sieg des Oktober 1 9 1 7 und die theoretisch-politische so wie Marx ihre politische Bezeichnung begründet, sind
Form des Leninismus. Heute handelt es sich um wesent­ nicht um diese Bezeichnung herum gruppiert. Sie sind
lich mehr als um eine Etappe. Von einer Etappe zu spre­ keine Fraktion , deren Einheit eine Lehre ist. Die Kommu­
chen, bedeutet, dass der erste Beginn noch immer gilt. nisten sind eine existierende Dimension der ganzen
Wir stellen die radikale Hypothese auf, dass dieser Menge der Arbeiterklasse, was Marx die "Arbeiterpar­
Beginn gerade aufgehört hat gültig zu sein und dass sich teien" nennt. Die "Kommunistische Partei" ist ein allge­
ein ganzer Zyklus der Existenz des Marxismus in der meines Attribut der Arbeiterparteien. Marx bemüht sich ,
Expatriierung vollendet. dieses Attribut zu isolieren und zu denken, wodurch sich
Als Marx den Marxismus begründete, war seine fun­ das gesamte Reale der Arbeiterbewegung als politisches
damentale Referenz die Arbeiterbewegung. Es gab Reales erweist.
weder die Referenz sozialistischer Staaten noch die der Schließlich ist die These von Marx nicht nur: "Es gibt
nationalen Befreiung. Das war offensichtlich keine Selbst­ die Arbeiterbewegung." Die These von Marx ist auch: "Es
referenz. Die Arbeiterbewegung war in ihrer historischen gibt Kommunisten", es gibt diese spezifische irreduzible
Emergenz ab den Jahren 1 820-1 830 sicherlich nicht Dimension der Arbeiterbewegung, deren Kriterien er
"marxistisch". Wenn wir das Manifest der Kommunisti­ anzugeben und deren politische Konsistenz er herzu­
schen Partei, diesen absolut inauguralen Text, erneut stellen versucht. Dort liegt die interpretative Operation,
lesen, dann sehen wir, dass Marx sein politisches Den­ die die Wahrheit der proletarischen Politik formuliert,
ken ausdrücklich auf der Annahme der vollkommen deren begrifflicher Name jener der Kommunistischen
unabhängigen Existenz der Arbeiterbewegung aufbaut. Partei ist.
Der Ausgangspunkt ist: "Es gibt die revolutionäre Arbei­ Dies ist die Figur des Beginns. Es handelt sich nicht
terbewegung." Das heißt, das, was ein Subjekt im darum, einen Teil des existierenden Phänomens abzu­
Symptom als Hindernis bezeichnet, an dem es sich ent­ trennen und zu strukturieren. Es handelt sich um ein "Es
bindet. Das ist ein reines "Es gibt", es ist ein Reales. l n gibt", um den Akt des Denkens im Schnitt eines Realen.
H insicht auf dieses "Es gibt", stellt Marx seine Thesen Es handelt sich um eine Form der Nähe des politischen
auf. Dies ist der Sinn der rätselhaften Formel, nach der Denkens zum Realen der Arbeiterbewegung , die in ihren
"die Kommunisten keine besondere Partei gegenüber Attributen, ihren Symptomen, und besonders im kommu­
den andern Arbeiterparteien" 20 sind . Die Kommunisten, nistischen Attribut gegeben ist. Wenn Marx erklärt, dass
ein Gespenst in Europa umgeht, das Gespenst des
20 A.d.Ü.: Karl Marx I Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Kommunismus, dann gibt er nicht vor, selbst das
Partei, Berlin 1 969, S. 57.

68 69
Gespenst zu sein oder durch seine Lehre die bedrohliche sein. Darin besteht auch die Chance, die Politik aus der
Figur zur Erscheinung zu bringen. Sein Anliegen ist, marxisierten Form des politischen Philosophems zu
diese Heimsuchung im Element der Wahrheit zu denken. befreien.
Darauf folgte die lange Geschichte der Marxisierung Wir sind folglich auf die Figur des Beginns zurückge­
der Arbeiterbewegung. Die Lehre von der "Vereinigung fü hrt: Wir gehen nicht mehr vom "Es gibt den Marxismus"
von Marxismus und der realen Arbeiterbewegung". Die aus, denn dieses "Es gibt" befindet sich in seiner Zerstö­
deutsche Sozialdemokratische Partei, Oktober 1 91 7 , die rung. Wir gehen aus vom "Es gibt" eines Schnitts und in
Dritte I nternationale: alles das, was das Bezugssystem der Absicht dieses "Es gibt" schlagen wir, wie Marx im
konstituiert hat, von dem wir zu Anfang gesprochen ha­ Manifest, inaugurale politische Hypothesen vor. Noch
ben . ln d ieser langen Geschichte wird der Marxismus das genauer: Wir (re)formulieren die Hypothese einer politi­
reflexive Denken dieser Marxisierung werden . Er wird die schen Fähigkeit, die sich der Nicht-Herrschaft verschrie­
Selbstreferenz begründen. Der Marxismus spricht dann ben hat.
vom Modus, in dem der Marxismus in das Reale des Deswegen ist es richtig zu sagen, dass der Marxis­
Klassenkampfes eindri ngt: marxistische Parteien, mus seine erste Existenz vollendet. Es gibt einen durch­
marxistische Führungen, marxistische Staaten. Das "Es laufenen Zyklus und ich benutze "Zyklus", um ihn von
gibt" wird : "Es gibt Marxismus". Während dieser gesam­ einer einfachen Etappe zu unterscheiden. Was vollendet
ten Sequenz erweist sich der Marxismus als fähig, von ist, ist ein erster Zyklus der Marxisierung , der bis an den
sich selbst, von seiner historischen Glaubwürdigkeit, von Punkt geführt wurde, dass d iese Marxisierung sich voll­
seinem Siegesmarsch zu sprechen . Diese Arbeit ist not­ ständig als Objekt des Marxismus entzieht. Diese Marxi­
wendigerweise auch die der Fiktionalisierung. Der sierung hat einen Haufen Dinge hervorgebracht, bewun­
Marxismus wird selbst seine eigene Repräsentation. dernswerte und schreckliche, sie hat das Werk von Marx
Die Krise der Bezüge bedeutet, dass der Marxismus hervorgebracht, den Oktober 1 9 1 7, Stalin , die Dritte
heute n icht mehr in der Verfassung ist, sich selbst in der I nternationale, die chinesische Revolution, die Befreiung
Erfahrung zu denken. Er begegnet sich nicht selbst als der Nationen lndochinas. Und es gibt, es liegt gerade
strukturierender Kraft der realen Geschichte. Alle d iese hinter uns, an uns haftend, d ie extreme Grenze dieses
Erfahru ngen , die im Verhältnis zum Marxismus delokali­ Zyklus', die bereits seine Vollendung bewirkt und die,
siert sind , bieten eine Diskontinuität in der vorherigen sagen wir, von der chinesischen Kulturrevolution bis zur
Geschichte der Marxisierung der Geschichte an . Das polnischen Arbeiterbewegung reicht.
Objekt des Marxismus könnte nicht die Marxisierung Was sich in diesem Zyklus als Existenzprinzip des

70 71
Marxismus gezeigt hat, ist in weiten Teilen ungültig. "Hegel'schen Typs" funktioniert: zugleich notwendig und
Deswegen werden wir zu einer Figur des Beginns gelei­ nichts Bestimmtes vorschreibend . Der Marxismus ist sich
tet. Die heutigen wahrhaften Politiken sind nicht zur selbst sein eigener Hegelianismus geworden . Der Bezug
Marxisierung zeitgenössisch, sondern zu einem histo­ der Errungenschaften des Marxismus' muss zerstückelt,
risch-politischen "Es gibt", dessen emanzipatorische herausgelöst, neu begründet werden, um auf seine
Dimension, die Heterogenität zu den (auch den marxisti­ Weise an der zeitgenössischen Bezeichnung des "Es
schen) Figuren der Herrschaft, es erneut zu denken gilt. gibt" teilzuhaben, die an seinem Beginn liegt, weil sie an
Wir müssen das Manifest erneut schreiben. die G ründungshypothese geknüpft ist: "Es gibt eine poli­
tische Fähigkeit, die sich der N icht-Herrschaft verschrie­
ben hat."
VIII. Die Rück-kehr der Quellen Die Politik muss eine gewagte Lücke in das metaphy­
sische Dispositiv des marxistischen Wissens schlagen.
Was wird in der Figur des (Neu)Beginns aus dem, was Lenin dachte, dass Marx d rei Bezüge des Denkens
man die "Errungenschaften des Marxismus" nennt? Ist artikuliert hatte: einen philosophischen Bezug (Hegel und
der Neubeginn als Dekonstruktion des Marxismus-Leni­ die deutsche idealistische Dialektik), einen historisch­
nismus das reine und einfache Vergessen dieser "Errun­ politischen Bezug (die revolutionäre französische Arbei­
genschaften"? Die Frage hat so viel Sinn, weder mehr terbewegung) und einen wissenschaftlichen Bezug (die
noch weniger, wie jene, die danach fragte, ob die ontolo­ englische politische Ökonomie).
gische Kehre des Denkens das vollständige Vergessen Was uns anbelangt, so haben wir zwei Dinge. Wir
der Metaphysik bedeuten muss. Denn der Marxismus­ haben das marxistische Denken, so wie es sich in dem
Len inismus ist unverkennbar die metaphysische Epoche Zyklus der Marxisierung entfaltet hat und wie es heute
der politischen Ontologie. zerstört ist, aber nicht wen iger oder mehr zerstört als das
Marx ist in der Ordnung des Denkens nicht von n ichts Hegel'sche Denken des Endes der Geschichte. Und wir
ausgegangen. Hegel war ihm eine obligatorische Refe­ haben von der chinesischen Kulturrevolution bis zur pol­
renz, der sicherlich weder von selbst das Prinzip der n ischen Arbeiterbewegung politische Ereignisse, deren
Formulierung des "Es g ibt" noch die Regel des politi­ symptomale Funktion es zu bewerten und deren Subjekt
schen Engagements lieferte. Ich würde sagen, dass der es zu interpretieren gilt, wohl wissend, dass in der einfa­
vorherige Marxismus - derjenige des vollendeten Zyklus' chen Abstammung des vollendeten Zyklus des Marxis­
der Marxisierung - als Ganzes wie eine Referenz mus dieses Subjekt hinsichtlich seiner Wahrheit

72 73
undenkbar bleibt. Formulierung einer marxistischen Theorie des politischen
21
Um die Dinge anders zu sagen, haben wir uns aufs Subjekts bereitstellen kann.
Neue zur Frage der Quellen des Marxismus zu äußern. All dies ist disparat und problematisch. Aber das von
Zu sagen , dass seine Quellen die deutsche Philosophie, Hegel, Ricardo und dem Juni 1 848 konstituierte
die eng lische Ökonomie und die französische Politik wa­ Ensemble war am Anfang auch nicht in einer sehr mani­
ren, ist eine mög liche Definition des ganzen ersten festen konsistenten Identität gegeben.
Zyklus' der Existenz des Marxismus. Die Idee des Ohne Zweifel muss man , um mit dem Beginn zu
(Neu)Beginns bedeutet, dass diese drei Quellen heute beginnen, bis zum Ende der Vollendung des vorherigen
versiegt sind. U nd dass die neue Anordnung der Quellen Zyklus' denken. Die erste Aufgabe ist die der Prüfung des
unseres Denkens vielleicht vollkommen heterogen zu abschließenden Randes dieses Zyklus', d.h.: die effektive
dem ist, was die marxistische Tradition aufnehmen Kritik des Marxismus-Leninismus , der Prozess seiner
konnte. Dekonstru ktion.
Wenn Heidegger im Poem das suchen musste, was Durch diese Kritik, die eine politische - zugleich theo­
unter dem epochalen Einfluss der Metaphysik für ihn retische und praktische - Direktive ist, bringen wir den
bereits eine Quelle ihrer Dekonstruktion war, so haben gesamten Marxismus in die Situation, eine Quelle für die
wir ebenso die rätselhafte wahre Aussage zu finden, in Eröffnung eines anderen Denkens der Politik zu sein. Die
der sich schließlich unter der Macht der Marxisierung das Dekonstruktion des Marxismus-Leninismus richtet die
aussagt, was sie von der marxistischen Politik verdunkelt Zerstörung des Marxismus' in der Instanz des
und vergisst. Diese Politik bedarf hinsichtlich ihrer Quel­ (Neu)Begi n ns ein. Diese Spaltung ist die Geste, durch
len weniger einer Lehre, denn eines Poems, d . h . der welche man wieder fähig wird, sei es zum Preis der
Interpretation eines Ereignisses. Angst und der Gefahr, in sich das "Es gibt" des Realen zu
Sicherlich gibt es die polnische Arbeiterbewegung, die empfangen, auf dem eine vollkommen neue Praxis der
mehr eine Quelle, denn ein Objekt ist. Weil es nicht ihr Politik gründen kann.
Sieg ist, der das Gesetz ausmacht, sondern ihr Schnitt, Wir sind unsere eigenen Erynnien, das kann uns
wie bei der französischen Arbeiterbewegung des 1 9. immer vorgeworfen werden . Es ist wahr, das Blut ist nicht
Jahrhunderts. zu entfernen. Aber es ist sicherlich eher der Antimarxist,
Ich habe selbst lang und breit d ie These entwickelt, der glaubt, er könne sich die Hände davon rein waschen.
dass in Frankreich die Theorie Lacans über d ie Spaltung
des Subjekts und die Eklipse des Objekts eine Quelle zur
21
Vgl. meine Theorie du sujet, Paris 1 982.

74 75
Ich frage auf "marxistisch" - auf unaussprechbarem 2.
Marxistisch: Welches ist die Geste, durch die die Politik Rekom position
wieder beweglich wird und sich von der finsteren Fiktion
des Politischen, d.h. von der Ökonomie und vom
Marxismus-Leninismus freimacht? Wenn diese Geste I. Das Ereignis. Empirischer Parcours
unmöglich, unauffindbar ist, wird d ie Entscheidung, wie in
der Tragödie des Sophokles, u nter dem Undenkbaren Das Paradox des U nternehmens, in das wir verwickelt
vorangehen. Wenn dies so ist, wird der Marxismus in der sind, dadurch dass sich das Politische zurückzieht, ist
gebildeten und organisierten Verletzbarkeil einer Hypo­ das folgende: Die Bestimmung des Wesens der Politik,
these über die Wahrheit des proletarischen politischen die sich weder der Struktur (Inkonsistenz der Mengen,
Subjekts, wie in der Tragödie des Aischylos, die affirma­ Ent-Bindung) noch des Sinns (die GESCHICHTE macht
tive Spaltung des Gesetzes, die er zu unserem Unglück nicht alles) versichern kan n , hat keine andere Markierung
geworden war, auf sich nehmen. als das Ereignis. Das ereignishafte "Es gibt", in seiner
Zufälligkeit, ist genau die Stätte, an der das Wesen der
Politik zu umgrenzen ist. Die Festigkeit der Verwesentli­
chung ruht auf der Prekarität dessen, was geschieht.
Aber das Ereignis ist nicht von der Ordnung der Rea­
lität. Das Denken orientiert sich hier an der Unterschei­
dung des Ereignisses von seiner gängigen Imitation , die
man die Tatsache nennen kann. Die zeitgenössische
Zufriedenheit der politischen Reflexion mit der Unwesent­
lichkeil des Journalismus hängt zuerst an der Verwirrung
von Ereignis und Tatsache.
Nichts ist heute entscheidender als die Entfernung der
"politischen" Tatsächlichkeit, und speziell der m it ihr
verbundenen numerischen Betrachtung, von der Be­
stimmung des Wesens der Politik. Nur von der Tyrannei
der Zahl befreit, der Zahl der Wähler genauso wie der
Zahl der Demonstranten oder Streikenden , wird die

76 77
Repräsentation an d ieses Reale rührt, in dieser Reprä­
Politik denkbar.
sentation n icht lesbar. I nsbesondere liefert die Behaup­
Seien wir von Anfan g an überze ugt, dass heutzutage
tung des "Anstiegs des Rassismus", durch d ie Stimmen­
sehr wenig , fast keine Politik zirkuliert, und dass sie sich
et, auszählung der Rechten oder der extremen Rechten
ganz beson ders an den Rände rn der I nexistenz befind
bezeichnet, keinen realen politischen Sinn. Der Beweis
wenn sie mit ihrer Zahl prahlt .
dafür ist, dass diese Behauptung wie all jene, die den
Das gängige Regim e desse n, was sich als politische
Anstieg von was auch immer präsentieren, nur er­
Reflex ion präsentiert, ist - typisc herweise - der Wahl­
schrecken kan n . Nun ist aber der Schrecken kein politi­
komm entar. Nun stellen aber wede r der Komm entar noch
sches Gefühl. Er ist ein Gefühl des Kommentars.
die Wahle n Zugän ge zum Wesen der Politik dar.
Um zu verstehen, was die Wahlzahl unter d iesen
Der Komm entar ist das Murmeln des U nvermögens ,
Umständen ausschließt, genügt es, sich mehr auf das
das spezifische Merkm al der inaktiven Demokratie, das
Ereignis denn auf d ie Tatsache zu beziehen .
heißt des Journ alismu s. Eine Wahl ist sicher lich eine Tat­
Das Ereignis ist das, was den Tatsachen entschwin­
sache, eine Realität und kann aus diesem Grund ganz
n det und von dem aus die Wahrheit d ieser Tatsachen
und gar wichti g sein. I m Allgem einen ist sie h ingege
zuweisbar ist.
wede r ein Ereign is noch ein Reale s. Und wenn sie es ist,
Verfügen wir über ein Ereignis dieser Ordnung? Kann
dann hängt dies, wenn ich es so sagen kann, nicht von
der die Politik als Wahrheit hinsichtlich der "politischen" Tat­
ihr ab. Man muss das Verhä ltnis, welches die Realität
sächlichkeit geschehen? Behaupten wir als provisorische
Wahl zum politis chen Reale n unterhält an d iesem Punkt
al­ Hypothese, dass die "Tatsachen" der Talbot-Fabrik23 das
des Unmö gliche n diagno stizieren, an dem das Wahlk
kül scheit ert, das zu zähle n, von dem das Verhä ltnis
dennoch ihre Konsis tenz herste llt. 23 D1e
.
Tatsachen von Talbot situieren sich zwischen November 1 983
Zum Beisp iel ist es klar, dass in allen jüngst en franzö­ und Februar 1 984. Die Geschäftsleitung schlägt einen Entlassungs­

sische n Wahle n ein sehr wichtiger subjektiver Einsatz mit


plan von fast 3000 Arbeitern vor. Streik, Besetzung der Werkstatt
83. Mobilisierung der Leitung und der "Gewerkschaft" CSL. Ausein­
er
der massiven städtischen Präsenz immig rierter Arbeit andersetzungen. Unter "die Araber in den Ofen" - Rufen Angriff auf
22 Jedoch ist der Punkt , an dem die 83 durch die, welche die Presse schamhaft die "Nicht-Streikenden"
verbu nden war. nennen wird. Die CGT hat dem Plan (genau so wie die Regierung)
zugestimmt. Sie bewertet die Besetzung als "abenteuerlich". Sie
mischt sich nicht ein. Die CFDT, die sich dem Aufruf an die CRS
22 Was man (aber dieser Signifikant ist bereits reaktionär) das "lmmi­ anschließt, unterstützt die Evakuierung, die schließlich vollzogen
grantenproblem" genannt hat, hat eine Hauptrolle in den Kommu­ wird.
Die Objektivität ist, wie man sieht, einfach. Der su bjektive Bruch ist
nalwahlen von 1 982, der Nachwahl von Dreux, den Europawahlen
wesentlich.
von 1 984 (Erfolg der Liste der Front Nationale) gespielt.
79
78
Ereignis angezettelt haben, dessen Vergessen die Wah­ sums zum Ende der Arbeitslosigkeit zu gelangen . Wie es
len organisieren. das ruhige Dorf der Plakate zeigte, dessen Schornsteine
Gewiss ist das, was in der Fabrik von Poissy zu rauchten, war es möglich, die Krise mit einer sommer­
Beginn des Jahres 1 984 geschehen ist, heute, als Tat­ abendlichen Sanftmut zu behandeln, mit einer heiteren
sache, größtenteils vergessen. Es ist kein entscheiden­ republikanischen Kultur und zur allgemeinen
des Datum in der Chronologie der Tatsachen, die die Zufriedenheit.
parlamentarische oder gewerkschaftliche Erzählung aus­ Talbot kristallisiert in einem Punkt, je nach Wahl der
heckt. Aber es ist ein Aspekt der Unterscheidung von Überzeugungen, entweder die Lüge dieses Verspre­
Ereignis und Tatsache, dass sie sich nicht auf die gleiche chens oder auch den vollkommenen Fehler dieser Lehre.
Bedeutungsskala beziehen . Es ist vollkommen möglich ­ Die Regierung erweist sich hier zwischen zwei unmögli­
wie ich es bereits für Polen gesagt habe -, dass ein chen Konsensen suspendiert: jenem ihres Versprechens
Ereignis aus dem expliziten Gedächtnis verschwi ndet, und jenem der Brutalität des Kapitals, fü r welche der
während die treue U nendlichkeit seiner Effekte unsicht­ gesunde Menschenverstand des Volkes annahm, dass
bar darin beharrt, die Wahrheit zirkulieren zu lassen. Thatcher, Reagan oder Chirac, und sei es nur durch die
Die Politik hat auch die Aufgabe, die Chronik neu zu größere Entsprechung ihrer ideologischen Geschichte,
interpunktieren. Sie verteilt in ihr andere Akzente, isoliert befähigter seien .
andere Sequenzen . Das zweite Element der Talbot-Situation ist die Unfä­
Ich werde zeigen, in welchem Sinn das, was in dieser higkeit der CGT24 eine Arbeitersituation zu meistern,
Fabrik geschehen ist, die politische Zeit periodisiert hat. sobald diese Situation massiv durch die Brutalität der
Talbot ist anscheinend nur eine lokale Miniatur der Restrukturierung gesättigt ist und sie ein Minimum an
nationalen "politischen" Tatsachen. Was sieht man näm­ Selbstkonstitution, an Fähigkeit zu unabhängiger Rede,
lich? D rei charakteristische Elemente der ablaufenden an immig rierten Arbeitern umfasst. Die CGT und die PCF
Gegebenheiten. erweisen sich hier suspendiert zwischen der Zusti mmung
Das erste Element ist die Regierungspolitik der indu­ zu den E ntlassungen sowie zu der Ausweisung der
striellen Restrukturierung. Diese Politik ist u nbestreitbar I mmigranten, was sie als Gewerkschaftsvermittler besei­
die Verweigerung all dessen, womit die sozialistische tigt, und der islamischen Demagogie, was sie als Träger
Partei 1 98 1 ihre Anhängerschaft gewonnen hat. Die Pro­ des produktiven Chauvin ismus und als Organisatoren für
paganda der Zeit verneinte die Krise des Kapitals und
zeigte ihre Gewissheit, durch den Aufschwung des Kon-
..
24 A.d.U.: Der KPF-nahe Allgemeine Gewerkschaftsbund.
80 81
Fabriken qualifizierter guter Franzosen beseitigt. Repräsentation einer "Arbeiterbewegung" klammerte,
Das dritte Element ist schließlich die Fähigkeit der welche die konkrete Geschichte in jeder Hinsicht als Fik­
Banden der CSL 25 eine bedeutende Anzahl angestellter tion erwiesen hat. Daher ein Abstieg in die Hölle der
Franzosen unter dem Schlachtruf "die Araber in den Wahlquoten einer Splittergruppe.
Ofen" gegen die Streikenden zu organisieren und auf Das dritte Element liest sich wie folgt: Zunahme der
diese Weise einen wahrhaften kleinen Bürgerkrieg und Fähigkeit der extremen Rechten - mit einer vielmehr
nationalen Krieg im Rau m der Fabrik auszulösen. petainistischen als nazistischen Abstammung -, die
Nun sind diese drei Elemente unmittelbar in den nu­ Leere der Identität oder die Krise zu füllen; die Provinzia­
merischen Makrosituationen der Wahl lesbar. Die kleine lisierung Frankreichs in weltweitem Maßstab und die
Zahl der praktischen Akteure (2000 oder 3000) steht in massive Präsenz der immigrierten Arbeiter beschäftigen
metonymischem Verhältnis zu den Millionen Wählern . das reaktive Bewusstsein einer Masse von Menschen.
Das erste Element liest sich wie folgt: Inkonsistenz Daher die 1 1 % für Le Pen, errichtet auf einem abstrakten
der sozialistischen Partei, welche kein unabhängiges Diskurs der sozialen Befriedigung des Gleichen: die
politisches Projekt trägt und zwischen ihrer kulturellen Franzosen zuerst, d ie F ranzosen sind französisch, eine
emanzipatorischen Farbe und ihrer staatlichen Funktion Art von stammtischhafter Tautologie, deren "Niemands­
der Vereinigung mit den E rfordernissen des Kapitals land" der Araber ist.
nach Augenmaß hin und her navigiert. Daher ein ange­ Und dennoch muss man daran festhalten , dass nur
messener Ü bergang von 30% zu 20% bei den Wahlen dort, wo der Isomorphismus des Ereignisses und der
von 1 984. Realität, des Mikro und Makro verschwindet, die Ereig­
Das zweite Element liest sich wie folgt: historischer nishaftigkeit des Ereignisses politisch interpretierbar ist.
U ntergang der PCF, welcher es, im Unterschied zur ita­ Sprechen wir zunächst von einem stillen subjektiven
lienischen Partei, seit 30 Jahren weder gelang bzw. wel­ Sieg. ln Talbot haben die Banden der CSL gesiegt. Sie
che es n icht vermochte, sich für den staatlichen und haben nicht gegen die Arbeiter gesiegt, sondern gegen
nationalen Zusammenhalt unentbehrlich zu machen, die die Regierung der Linken. Seit diese nämlich als Lektion
Meinungsströme zu beherrschen, noch die objektiven aus dem Ereignis die "Rückkehr der I mmigranten"
u nd subjektiven Transformationen des arbeitenden Vol­ genannte Politik gezogen hat, billigt sie zugleich das glei­
kes in den Fabriken zu kontrollieren, weil sie sich an d ie che Material der reaktiven Äußerung. Das heißt, dass die
I mmigranten nicht mehr in ihrer I nnerlichkeit zur Gesell­
schaft und zur Fabrik - d.h. als seit 20 Jahren hier
25 A.d.Ü.: Bund freier Gewerkschaften.
82 83
ansässige Arbeiter -, sondern in ihrer nationalen Äußer­ menauszählung zur gleichen Zeit unlesbar gemacht, zu
lichkeit repräsentiert werden müssen. Verstanden mehr der sie sie verfestigt, denn die extreme Rechte ist offen­
als Disposition des Denkens denn als Praxis der Sub­ sichtlich parlamentarisch glaubwürdig, insofern ihr Dis­
vention, liegt die Politik der Rückkehr der Immigranten kurs nicht länger als extremistisch oder a-typisch wahr­
auf dem exakt gleichen Terrain wie die Lehre der extre­ genommen wird , sobald dieser Diskurs, obwohl
men Rechten. Der Parameter der formalen Nationalität missverstanden, durchgängig, wenn man das sagen
muss vollkommen für alles andere, und im Besonderen kann , zirkuliert.
für den realen Arbeiter maßgebend sein, und das bis in Der Punkt, an dem diese Torsion aufzulösen ist, ist
die Fabrik hinein. nicht so klar, wie man glauben könnte. Die ausdrück­
Zwischen "die Araber in den Ofen" und "die Immi­ l ichen Deklarationen des Antirassismus haben d ies­
granten zurück, ich erkaufe ihre Abreise für x M illionen" bezüglich keinerlei Effekt. Man muss noch einmal die
gibt es eine wichtige Differenz des Tons, aber es gibt, Tatsachen prüfen, an denen das Ereignis zu konstituie­
leider, keinerlei Unterschied des politischen Prinzips. Die ren ist.
reaktive Subjektivität ist gleicherweise von diesen beiden Die axiale Aussage des Arbeiterwiderstands in der be­
Sätzen einberufen. Die extreme Rechte hatte in Talbot setzten Talbotfabrik war: "Wir wollen unsere Rechte." Es
folglich subjektiv den Sieg über die Regierung davon ist klar, dass d iese Aussage - jene eines Rechts als
getragen. Nun ist diese siegreiche Antizipation in den eines des entlassenen, immigrierten Arbeiters, wie ich
Wahlen unlesbar, da der Kommentar den Rassismus der unterstreiche - sich an keiner Stelle in der Wahlzahl wie­
Rechten wie selbstverständlich dem Antirassismus der derfindet. Es ist jedoch der vierte Term der Talbot-Situa­
Linken gegenüberstellt, und der eine den anderen über­ tion , ein zusätzlicher Term, der allein die Kraft hatte, die
trumpft. l n Wahrheit ist das Verhältnis, das sich anläss­ Situation so u mzugestalten , um aus ihr ein Ereignis zu
tich Talbots zwischen der Aktion der extremen Rechten machen.
und der U mstrukturierung der Politik der Linken bezüglich Einige behaupten heute, dass es, wenn die Aussage
der immigrierten Arbeiter ausgebildet hat, kein Verhältnis der immigrierten Arbeiter vom parlamentarischen Feld
frontaler Opposition, sondern ein Verhältnis kommunizie­ ausgeschlossen bleibt, ganz einfach daran liegt, dass sie
render Torsion. Einer Torsion, die bewirkt hat, dass eine kein Wahlrecht haben.
fundamentale Identität zwischen Aussagen zirkuliert, die Dies ist der Punkt, an dem das politische Denken auf
sich in formell getrennten oder entgegengesetzten seinen I mperativ unter der Anweisung der Zahl
Punkten situieren. Diese Torsion wird durch die Stim- verzichtet.

84 85
Was mich betrifft, so bin ich ein unerschütterlicher Religion, in welcher, wie im römischen Reich , der Kult
Partisan des Wahlrechts der I mmigranten. Ich bin es, in den Sieg über den Glauben davon trägt. Der Parlamenta­
den Aktionen wie in der Propaganda, seit zwölf Jahren: rismus seinerseits organisiert die Erscheinung eines
seit den ersten Hungerstrei ks der Arbeiter ohne Papiere Konflikts der Programme auf dem anerkannten Boden
1 972. einer Ü bereinstimmung der Notwendigkeiten. Auf alle
Aber ich glaube keinesfalls, dass die Sphäre der Re­ Fälle ist das politische Bewusstsein an das, was sich von
präsentation und der Zahl geeignet sei, das Ereignis zu ihm an die Verteidiger eines Systems der staatlich prakti­
qualifizieren, von dem ich in der Ordnung der Politik kablen Sätze delegieren lässt, verwiesen.
spreche. l n der Arbeiteraussage der Rechte ist das Gesetz d es
Ich behaupte im Gegenteil, dass die Aussage der Ar­ politischen Bewusstseins ein ganz anderes, denn keine
beiter von Talbot, so wie sie für immer statt gehabt hat, programmatische oder abzählbare Figur zu haben,
dass diese Aussage, die sich dennoch um das Recht bestimmt gerade, dass sie sich konstituiert. Wie dies die
dreht, intrinsisch unrepräsentierbar ist. Und in dieser Regierung und die Gewerkschaften im Chor sagen: die
Unrepräsentierbarkeit besteht genau die Politik dieser fraglichen Rechte existieren nicht. Und die marokkani­
Aussage. schen Arbeiter affirmieren vor dem H intergrund der Tat­
Sagen wir es anders. Die Figur der Politik, welche sachen übrigens zur gleichen Zeit wie sie dieses Recht
genauso die westliche parlamentarische Delegation wie proklamieren, dass sie, als Arbeiter, die seit zwanzig Jah­
der despotische Bürokratismus des Ostens einführen, ist ren in Frankreich arbeiten, gerade kein Recht haben.
jene des programmatischen Ausdrucks der Kräfte. Die Das Bewusstsein wird hier durch das Ereignis einge­
Wurzel davon wäre, dass die Interessen oder Ideale der führt, durch welches sich ein Recht ohne Recht aussagt,
Gruppen sich durch das I ns-Werk-Setzen von Program­ d . h . um den Ausdruck von Marx und Lyotard aufzuneh­
men und Plänen in der Zusammensetzung der Regierung men, das absolute Unrecht, das Unrecht überhaupt, 26
abzeichnen . Programme und Pläne, deren Natur im was diesen Leuten angetan wird .
Westen wie im Osten zunächst ökonomisch ist. Die des­ Dieses Unrecht ist nicht repräsentierbar und kein
potische Bürokratie stellt einfach ihre Fähigkeit, das Programm kan n dessen Kompensation einschreiben. Die
nationale Programm, wenn man so sagen kann , in einem
Zug auszudrücken, im, übrigens rein dekorativen und
26 Die Idee des "Unrechts überhaupt", das den Arbeitern angetan wird,
abstrakten, Gewand einer diktatorischen Arbeiterlegiti­
wird in Marxens "Kritik der Hegeischen Philosophie des Rechts" prä­
mität auf. Es handelt sich hier um eine Art laizistische sentiert. Das "Unrecht" ist ein zentraler Begriff des letzten Buchs von
Jean-Franr;:ois Lyotard, Der Widerstreit, München 1 989.

86 87
Politik beginnt, wenn man sich überlegt, n icht die Opfer tiv eingebunden finden und dass in ihm ein Scheitern des
zu repräsentieren, ein Projekt, in welchem die alte Regimes des Eins erkennbar ist. Folglich ein irreduzibles
marxistische Lehre Gefangene des expressiven Sche­ "es gibt Zwei". Oder auch: ein Punkt des Unrepräsentier­
mas blieb, sondern den Ereignissen treu zu sein, in baren. Oder auch: eine leere Menge.
denen die Opfer sich artikulieren. Diese Treue wird von Ich nenne Struktur der Situation den existierenden
nichts anderem als einer Entscheidung getragen. Und Mechanismus der Zählung-als-Eins, der die Situation als
d iese Entscheidung, die niemandem etwas verspricht, ist diese Situation in der Sphäre des Repräsentierbaren
ihrerseits nur an eine Hypothese geknüpft. Es handelt qualifiziert.
sich um die Hypothese einer Politik der Nicht-Herrschaft, Ich nenne Ereignis, dass die Qualifikation im Regime
deren Begründer Marx gewesen ist und die heute erneut des Eins einen Rest lässt, folglich , die Dysfunktion dieses
zu begründen ist. Regimes. Das Ereignis ist n icht gegeben, denn das
Von dieser Perspektive aus hat das politische Enga­ Regime des Eins ist das Gesetz jeder Gabe. Das Ereig­
gement die gleiche reflektierende Universalität wie das nis ist so das Produkt einer I nterpretation.
Geschmacksurteil für Kant. Das politische Engagement Ich nenne Intervention die überzähligen Aussagen
lässt sich aus keinem Beweis folgern u nd es ist noch we­ und Tatsachen, durch welche sich die Interpretation
niger der Effekt eines Imperativs. Es ist weder abgeleitet ausführt, die das Ereignis birgt, d.h. das "es gibt Zwei",
noch vorgeschrieben. Das Engagement ist axiomatisch. die Spaltung.
Ich nenne Politik, was im Regime der Intervention d ie
Konsistenz des Ereignisses einrichtet und über die prä­
II. Definitionen und Axiome politische Situation hinaus propagiert. Dieses Propagie­
ren ist niemals eine Wiederholung. Sie ist ein Effekt des
Der Einsatz ist, das nicht programmatische Wesen der Subjekts, eine Konsistenz.
Politik zu erfassen und das zu denken, was ich eine Ich nenne Treue die politische Organisation, das heißt
intervenierende Treue nennen werde. das kollektive Produkt der ereignishaften Konsistenz jen­
Ich übernehme für einen Moment den Stil der Dar­ seits seiner unmittelbaren Sphäre.
legung Spinozas. Talbot ist eine prä-politische Situation, i nsofern als die
Ich nenne eine prä-politische Situation einen Komplex Qualifikation der Situation als Gewerkschaftsstreik gegen
von Tatsachen und Aussagen, der so beschaffen ist, die Entlassungen hier im Scheitern gehalten wird . Die
dass sich in ihm Arbeiter- und Volkssingularitäten kollek- Aussage der immigrierten Arbeiter über ihre Rechte ist in

88 89
dieser Qualifikation nicht abzählbar, noch ist sie übrigens liehe genau die Realität, folglich die Möglichkeit. Die
gezählt worden. Die Parameter, welche die Aktion der Möglichkeit des Unmöglichen ist der Grund der Politik.
CSL und die Auseinandersetzungen, die Trägheit der Sie setzt sich massiv dem entgegen , was man uns heute
CGT, die Abfahrt der CFDT27 , die Ankunft der CRS28 , die lehrt, nämlich, dass die Politik die Verwaltung des Not­
Regierungsbilanz in Begriffen einer Politik der Rückkeh r wendigen ist. Die Politik beginnt mit der gleichen Geste,
sind - all dies formiert eine kohärente Menge, die durch mit welcher Rousseau die Gründung der Ungleichheit
eine globale Situation legitimiert ist und d ie man als Eins aufdeckt: alle Tatsachen beiseite zu lassen.
repräsentieren kann. Diese Parameter bewirken die Es ist wichtig, alle Tatsachen beiseite zu lassen, damit
Zählung-als-Eins, die Struktur. Die immigrierten Arbeiter das Ereignis geschehen kann.
als wirkliches Bewusstsein sind die leere Menge d ieses Die I ntervention gibt dem Ereignis, das sie interpre­
Eins. Sie sind in ihr, in aller Strenge, unzählbar. tiert, Konsistenz, indem sie die ereignishafte Aussage als
Die Leere ist immer dieser mit dem Realen vernähte Aussage des reflektierenden Urteils propagiert. Indem sie
Punkt, von dem aus sich die Fülle der Repräsentation dies tut, organisiert sie die Treue. Die Organisation ist
einfach als einer der Terme der Zwei erweist. eine Materialität des reflektierenden Urteils.
Das Ereignis ist hier die Aussage des Rechts ohne
Recht. Es ist durch die I nterpretation der inadäquaten
programmatischen Formen produziert, in denen es ope­ 111. Widerlegung des Idealismus
riert. Das I ndiz der Inadäquation dieser Formen ist die
flottierende Vielheit: Die einen sagen : wir brauchen ln meiner Definition der prä-politischen Situation fordere
zwanzig Millionen, die anderen: die Erstattung der Sozi­ ich, dass ,,Arbeiter- und Volkssingularitäten" betroffen
alversicherungsbeiträge, die anderen: ein zusätzliches seien. Diese Präskription ist axiomatisch, d . h . allgemein .
Monatsgehalt pro Jahr nach Dienstalter, usw. Die I nter­ Ich will sagen , dass sie das Wesen der Situationen
pretation produziert dieses Ereignis, dass - in einer prä­ betrifft und nicht diesen oder jenen konkreten U mstand,
politischen Situation - ausgesagt worden ist, dass es welcher die J ugend, d ie I ntellektuellen, usw. implizieren
unmöglich sei, die Arbeiter wie schäbige Waren zu kann. Hinsichtlich seiner wesentlichen Bestimmung, d.h.
behandeln. ln diesem Zusammenhang ist dieses U n mög- strategisch, verbiete ich in der Tat, dass sich die Politik
ohne subjektive I mplikation der Arbeiter, der Menschen
27 A.d.Ü.: Französischer demokratischer Gewerkschaftsbund. aus den bevölkerungsreichen Vororten, der Immigranten,
usw. entfalten kann.
28 A.d.Ü.: Spezialeinheit der Nationalpolizei Frankreichs.

90 91
Nun setze ich mich so einem entscheidenden Ein­ Bedingung hinsichtlich der Situationen unterworfen ist.
wand aus. Was nützt es, wird man mir sagen, den Mar­ "Arbeiter-" und "Volks-" sind Spuren des alten sozialen
xismus in seiner substantiellen H istorisierung (ich möchte Substantialismus, der vorgab, die Politik aus der Organi­
sagen: der das Proletariat substantialisiert) zu zerstören sation der Gesellschaft in Klassen abzuleiten.
und ihn auf die Hypothese einer Politik der Nicht-Herr­ Kant nahm in der Kritik der reinen Vernunft den Ein­
schaft zurückzuführen, wen n Sie die Empirie der Arbeiter wand in dem Kapitel, das "Widerlegung des Idealismus"
in extremis wieder einführen? Wir sehen wohl - setzt heißt, vorweg . Er begründete, dass die Erkenntnis nur in
derjenige fort, der Einspruch erhebt -, dass die Idee ei­ der Stätte der Repräsentation operieren kann, da
nes generischen und emanzipatorischen Arbeiter-Seins, ansonsten nie etwas präsentiert wird . Anders gesagt:
kurz: die Idee eines Proletariats von I hnen durch eine un­ Das Sein als Sein m uss die Sackgasse der Repräsenta­
gründbare und rein subjektive Hypothese ersetzt wird , tion enthalten, damit die Repräsentation repräsentiert.
von der es die Konsequenzen zu untersuchen und n icht Die Evakuierung des Dings-an-sich ist in Wirklichkeit d ie
die Effekte zu verifizieren gilt. Sie haben so das expres­ Auflösung der subjektiven Konstitution der Erfahrung und
sive Band zwischen dem Sozialen und dem Politischen nicht, wie es Hegel glaubt, ihr Übergang an die Grenze.
aufgelöst. Sie haben d ie Geste des Proletariats zuguns­ Denn die Erfahrung ist das Subjekt nur als (topologisch)
ten einer Axiomatik des politischen Prozesses liquidiert. mit einem Realen, das ihm fehlt, verbundenes. Hegel
Gehen Sie also bis ans Ende! Beseitigen Sie auch in der glaubt eine Inkonsequenz Kants aufzuheben, aber in
Axiomatik die Bedingung des Arbeiter- oder Volkspara­ Wirklichkeit ist er inkonsequent bezüglich der Kantischen
meters der Situationen. Denn Sie haben hier nur das Lehre des Subjekts.
situative Phantom des verlorenen Proletariats. Ich versuche hier den absoluten politischen Idealis­
Dieser Einwand erinnert an denjenigen Hegels gegen mus zu widerlegen, den eine "maximale" I nterpretation
Kant: Warum das "absurde Ding-an-sich" beibehalten? meiner Axiomatik autorisieren könnte und der darin
Wenn das Subjekt die Erfahrung konstituiert, gehen wir bestünde, sich an die Intervention zu halten, ohne jemals
bis ans Ende, das heißt, begreifen wir das Absolute die (Arbeiter und Volks-) Qualifikation der Ereignisstätte
selbst als Subjekt. Es darf keinerlei unrepräsentierbare zu benennen, an der die I ntervention überzählig ist.
Hinterweit fortbestehen. Ich argumentiere notwendigerweise - wie Kant - über
Ebenso gilt, dass, wenn der Prozess der emanzipato­ das Absurde. Wenn man tatsächlich direkt etablieren
rischen Politik zur einzigen Bedingung hat, für den Punkt könnte, dass die prä-politischen Situationen Arbeiter­
des Ereignisses offen zu sein, er keiner prädikativen situationen sein müssen, hätte man tatsächlich ein politi-

92 93
sches Privileg der Arbeiter und folglich die substantielle gerliehen Gesellschaft und den Vermittlungsgesetzen ,
Voraussetzung restauriert, die unsere neu gründende die in i h r d i e sozialen Verhältnisse bestimmen, abge­
Geste ablehnt. Wenn es kein Proletariat im Sinne eines trennt sind.
in Gestalt seines sozialen Seins bestimmbaren politi­ Unter d ieser Annahme würde die Politik der Nicht­
schen Subjekts gibt, kann man nicht über den Weg eines Herrschaft für die Beherrschten selbst nur in der Form
konstruktiven Arguments zu etablieren hoffen, dass die der Repräsentation existieren, da ja kein zur I ntervention
eminenten politischen Situationen Arbeitersituationen Anlass gebendes Ereignis sie in seine Stätte ein­
sind. Unsere einzige Chance ist, zur Rechtfertigung zu schlösse. I nsbesondere würden d ie Arbeiter- und Volks­
gelangen , dass es unmöglich sei, die Arbeiter- und aussagen nicht die Materie der politischen Intervention
Volksqualifikation der Situationen (strategisch) nicht zu konstituieren.
berücksichtigen. Genauer: strategisch exzentriert hinsichtlich des
Atoms der Politik (der I ntervention ausgehend vom
Theorem. Die politische Intervention unter den Ereignis), könnten die Beherrschten ihr Interesse für
aktuellen Bedingungen, das heißt die moderne Politik d iese Politik nur in programmatischen Termen formulie­
kann es strategisch nicht vermeiden , Ereignissen, deren ren , das heißt, sie müssten sich hier aus dem einzigen
Stätte eine Arbeiter- oder Volksstätte ist, treu zu sein. Grund vereinen , dass die Politik als egalitäre Politik oder
Nehmen wir an, sie könnte es vermeiden . Da die als Politik der Nicht-Herrschaft repräsentierbar ist.
axiomatische Hypothese die einer Politik der Emanzipa­ Nun ist das Wesen der Politik, die Repräsentation
tion ist, folglich einer subjektiven nicht-staatlichen und der auszuschließen und niemals das programmatische
Nicht-Herrschaft verschriebenen Politik, würde daraus Bewusstsein als Figur zu nehmen. Ihr Wesen besteht
resultieren, dass diese Politik sich entfalten könnte, ohne vollkommen in der Treue zum Ereignis, so wie sie sich im
jemals in ihr unmittelbares Feld die Orte einzuschließen, Netz der I nterventionen materialisiert.
an denen materiell die Masse der Beherrschten (was Infolgedessen ist es unmöglich , dass die Politik stra­
auch immer ihre Zahl sei) - unter den modernen Beding­ tegisch vermeiden könnte, den Arbeiter- und Volkscha­
ungen, seien es die Fabriken, die Vorstädte, die I mmi­ rakter der Situationen in Rechnung zu stellen. Wenn sie
grantenheime oder die computerisierten monotonen d iese Vermeidung durchführte, wäre sie bezüglich ihres
Arbeitsämter - existiert. Besonders, wenn es sich u m eigenen i nauguralen Axioms inkonsequent.
Fabriken handelt, wäre d ie Ausnahme radikal, d a m a n ja
ohne Mühe zeigen kann, dass d ie Fabriken von der bür-

94 95
Korollarium. Die militante Figur der Politik fordert, i n IV. Genealogie der Dialektik
ihrem eigenen Begriff, ohne Vermittlung (insbesondere
ohne parlamentarische oder gewerkschaftliche Vermitt­ Es ist heutzutage ein gängiges Thema, dass das Politi­
lung) die Präsenz des Arbeiter- und Volksereignisses in sche dem Denken nur um den Preis mit der spekulativen
den großen Stätten, Fabriken, Vororten, usw. Es ist Philosophie, m it der Dialektik, Schluss zu machen,
bemerkenswert, dass diese Forderung sich nicht von der zurückgegeben werden kann .
Annahme einer "Arbeiterklasse" oder eine "Volkes" Der Punkt ist, sich über die Dialektik zu
ableitet, sondern im Gegenteil aus dem Verschwinden verständigen. 29
jeglicher Annahme dieser Ordnung. Und tatsächlich, Ich sage, dass die Begriffe des Ereignisses, der
wenn Sie "die Partei der Arbeiterklasse" haben, haben Struktur, der I ntervention und der Treue die Begriffe der
Sie Ihre ursprüngliche Vermittlung und Sie sind keines­ Dialektik selbst sind, insofern diese nicht auf das platte
wegs gezwungen, ohne Vermittlung die Politik in den und schon für Hegel i nadäquate Bild der Totalisierung
Fabriken, den Vororten, usw. zu initiieren. Alles in allem und der Arbeit des Negativen zurückgeführt wird. Die
verlangt n iemand von den I ntellektuellen der PCF sich Dialektizität der Dialektik besteht genau darin ihre begriff­
hier einzum ischen. Im Gegenteil, heute existiert die Poli ­ liche Geschichte zu haben und die Hegel'sche Matrix bis
tik entweder nicht (was der Kapitalismus vollkommen zu dem Punkt zu teilen , an dem sie sich in ihrem Sein als
zulässt) oder sie beruft ihre Akteure, d.h. in der gegen­ eine Lehre des Ereignisses und nicht als ein geregeltes
wärtigen Situation eine Mehrheit der Intellektuellen, an Abenteuer des Geistes erweist, vielmehr eine Politik,
die konstitutiven Orte ihres ereignishaften Wesens ein. denn eine Geschichte.
Die direkte militante Figur ist so aus ihrem Status der Von dem Punkt aus, an dem wir das dialektische Den­
Ausführung oder der Versammlung herausgerissen. S ie ken beherrschen und reinigen, können wir seine Genea­
ist ein immanenter Begriff der politischen Existenz als logie erneut zusammenstellen. Ein anderer Begriff, ande­
solcher. D ies folgt unerbittlich aus dem nicht programma­ re Vorfahren. Wenn man die Axiomatik, an der die Politik
tischen Wesen der Politik. Wer sie nicht macht, ist i n ihr einsetzt, aufklären will, wird man - zum Beispiel - diejeni­
nicht. gen betrachten, die ich die vier französischen Dialektiker
nenne: Pascal, Rousseau , �allarme und Lacan.

29 Ein guter Teil meiner Theorie du Sujet ist dem Begriff der Dialektik
gewidmet. Sie stützt sich auf Hegel, die Materialisten der Antike und
Mallarme.

96 97
Welche Bedeutung hat diese Frage? Eine beachtli­ Mit dem gleichen Zug, durch den es von Bedeutung
che, seitdem es darum geht, die Neu-Begründung jeder ist, einen Zyklus der Existenz der Politik abzuschließen
Politik in einen befreiten philosophischen Horizont einzu­ und einen neuen zu eröffnen, schlage ich eine differente
schreiben. Befreit von was? Von der mechanistischen Abstammung vor. Jede Geburt betreibt Genealogie.
oder szientifischen Herangehensweise, in welcher der Es handelt sich darum, wie man heute weiß, mit der
Marxismus seit seiner Einführung in Frankreich durch repräsentativen Vision der Politik Schluss zu machen.
Lafargue und durch Guesde befangen ist. Jedes aktive Die kanonische Aussage Lenins, nach der die Gesell­
Denken muss seine nationale Einschreibung realisieren. schaft in Klassen unterteilt ist und die Klassen von politi­
Der französische Marxismus sah sich als Erbe der Auf­ schen Parteien repräsentiert werden, ist überholt. ln
klärung, des antiklerikalen Kampfes, des Fortschritts der ihrem Wesen ist diese Aussage mit der parlamentari­
Wissenschaft. Er hat die christliche Dialektik als aner­ schen Konzeption homogen. Denn der Schlüsselpunkt,
kannten oder blinden Schicksalspol gehabt. Er hat das im einen wie im anderen Fall, ist der der Repräsentation
revolutionäre Ideal laizisiert und provinzialisiert. des Sozialen in der Politik. Die Politik, in diesem Sinn,
Jedes Mal, wenn man dieses reduzierte Bild abweh­ Lenin sagt es auch, "konzentriert die Ökonomie". 30
ren wollte, hat man einfach dem französischen Marxis­ Repräsentation und Konzentration sind das, von dem aus
mus eine kleine Dosis Hegel'scher Tragik injiziert. Oder die Existenz von Parteien zu denken und die Stätte der
man hat die materialistische Referenz aufgewertet (eher Politik zu bemessen ist. Dies ist die Figur, in welcher der
Spinoza oder Lukrez als Diderot oder Helvetius). Aber Marxismus sich verloren hat.
der repräsentative Kern des Marxismus, sein Gravitäts­ Man wird zunächst ein dialektisches Denken in sei­
zentrum, bewegte sich n icht: wissenschaftliche Theorie nem Konflikt m it der Repräsentation erkennen. Ein sol­
der Geschichte, unterstützt von einer positiven Theorie ches Denken verfolgt in seinem Feld den unrepräsentier­
der P roduktionsverhältnisse und der Organisation der baren Punkt, von dem aus sich erweist, dass man an das
Gesellschaft in Klassen. Es ist wahr, dass im H intergrund Reale rührt.
dieser Repräsentation die nationalen Charakteristika der Rousseau beispielsweise verbietet radi kal die politi­
Arbeiterbewegung lagen : Gewerkschaftsbewegung, sche Repräsentation. Das Volk, als absolute Grundlage
Logik der Kämpfe, Vorrang des Programms.
Man muss, davon profitierend, dass die alte Arbeiter­ 30 A.d.Ü . : Badiou bezieht sich hier auf die Formulierung Lenins, nach
bewegung tot ist, m it dem alten Marxismus Schluss der die Politik " der konzentrierte Ausdruck der Ökonomie" sei. Vgl.
W. l . Lenin, Noch einmal über die Gewerkschaft, die gegenwärtige
machen. Lage und die Fehler Trotzkis und Bucharins, in: ders., Werke, Berlin
1 972, Bd. 32, S. 58-99, hier: S. 73.

98 99
der Souveränität, kann sie an niemanden und auch n icht ren Signifikanten." 3 1 Aber sie zeigt genau an, dass kein
an sich selbst delegieren, worin Rousseau nicht anar­ besonderer Signifikant das Subjekt, das gezwungen ist in
chistisch ist. Verstanden als reine politische Fähigkeit, ist dem Zwischen-Zwei einer Zeichenkette zu stehen ,
das Volk unrepräsentierbar. Rousseau ist dem Parla­ repräsentiert.
mentarismus vollkommen feindlich gesinnt. ln allen Fällen - und es handelt sich für jeden um den
Für Mallarme kann die Poesie weder den Poeten Ort, an dem sich ein Effekt des Subjekts: Gott, Volk,
noch die Weit ausdrücken. Der Poet muss vom Werk Poem, Begehren, bildet - ist das Gesetz des Begriffs das
abwesend sein, so als ob es ohne ihn statthätte. U nd , einer Prozedur der U nrepräsentation . Auch für mich re­
was die Weit angeht, sagt Mallarme m it großem Nach­ präsentiert die Politik keineswegs das Proletariat, die
druck, dass man ihr nichts hinzufügen wird. Das Poem Klasse oder die Nation. Was in der Politik Subjekt wird,
muss folglich einen singulären Prozess bewirken, der obwohl in seiner Existenz durch den politischen Effekt
sein eigenes Wesen ausstellt, ohne es darzustellen. selbst erwiesen, bleibt in ihr unartikulierbar.
Jedes Ding entschwindet hier. Es geht nicht darum, dass etwas, was existiert, reprä­
Für Pascal ist Gott in der Philosophie nicht repräsen ­ sentiert sein könnte. Es geht um das, wodurch etwas zur
tierbar. Nichts i n der Weit führt z u ihm. Die Weit ist für Existenz kommt, was nicht repräsentiert wird und was
Pascal ebenso wenig transitiv zu Gott wie für m ich das rein und einfach seine Existenz präsentiert. Pascal ver­
Soziale zur Politik. Ebenso wie die sozialen Mengen in abscheut die (cartesianische oder thomistische) Idee der
der Politik inkonsistent sind, so bezeichnet - für Pascal ­ "Gottesbeweise". Für Rousseau präexistiert das Volk in
das "doppelt Unendliche" der Welt kein Ganzes, aus dem keiner Weise vor dem Vertrag, durch welchen es sich als
sich Gott folgern ließe. Das subjektive Verhältnis zu Gott politische Fähigkeit konstituiert. Und dieser Vertrag selbst
besteht im Aleatorischen einer Wette (man muss auch hat keinen denkbaren "Beweis". Mallarme will ein Poem,
auf die kommunistische Politik wetten: Sie werden sie das sich in sich selbst reflektiert, unerklärbar durch ir­
n iemals vom Kapital her ableiten). gendetwas Äußeres. Vom Lacan'schen Subjekt wird man
Schließlich repräsentiert für Lacan nichts das Subjekt.
Er insistiert auf der Tatsache, dass auch wenn das ..
3 1 A.d.U.: Wir übersetzen hier Iitera! aus dem Französischen. Die
Begehren (im Signifikanten) artikuliert ist, es so dennoch deutsche Übersetzung dieses Satzes von Creusot und Haas lautet:
nicht artikulierbar ist. Dafür gibt es natürlich die Formel: "Ein Signifikant ist, was für einen anderen Signifikanten das Subjekt
vorstellt." Vgl. Jacques Lacan, Subversion des Subjekts und
"Ein Signifikant repräsentiert das Subjekt für einen ande-
Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, in: ders.,
Schriften II. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas,
Weinheim I Berlin 1 986, S. 1 65-204, hier: S. 1 95.

1 00 101
nicht einmal sagen, dass es existiert. Es ist vielmehr das Pädagogik ein , indem er in der Selbstaufwertung des
Reale, das ek-sistiert. Ich finde selbst keinen großen Menschen eine Krise hervorruft. Er zeigt seine absolute
Gefallen an den Existenzbeweisen des Proletariats. Es Spaltung an: Der Mensch ist vollständiges E lend (winzige
ist bereits genug, eine heterogene Politik ohne die Parzelle des Universums, eingezwängt zwischen dem
Garantie irgendeiner Deduktion zu riskieren. unendlich Großen und dem unendlich Kleinen, des Sinns
Wenn es einen Punkt des Unrepräsentierbaren gibt, beraubt) und unvergleichliche Größe (reflektierendes
dann kann sich das Denken nicht dem Reflex der Reali­ Denken seines Elends selbst). Hiervon ausgehend
täten unterordnen. Es muss notwendig einen Schnitt schlägt die i nterpretative U nterbrechung die Hypothese
machen, damit sich eine Prozedur der Erklärung in des Heils durch die Gnade vor, einzig dem Abgrund der
Bewegung setzt, die keinen äußeren Bezug hat. Das Spaltung angemessen. Und Mallarme lehrt d ie Teilung
Denken, das nicht repräsentiert, produziert Effekte durch der Sprache. Es gibt auf der einen Seite ihre Funktion
die Unterbrechu ng einer Kette der Repräsentationen. der Kommunikation, des Austausches, welche Mallarme
Jedes dialektische Denken ist folglich zunächst I nterpre­ monetär nennt und auf der anderen Seite, das, was sich
tations-Schnitt. Es bezeichnet ein Symptom, von dem im System des Poems ankündigt und bezüglich dessen
aus eine (hypothetische) I nterpretation bezüglich der Mallarme eine radikale Hypothese formuliert: die Fähig­
Effekte des Denkens zu formulieren ist. So bei Marx, der keit der Sprache, das Wesen des Dings auf dem Grund
im Manifest auf der Basis dieser Ereign is-Symptome, die des Nichts auszustellen .
die Arbeiteraufstände zu Begin n des 1 9. Jahrhunderts l n allen Fällen verkettet sich der B ruch mit den Reprä­
sind, die Hypothese der proletarischen politischen Fähig­ sentationen mit einer generischen Hypothese in H insicht
keit formuliert - einer Politik, die keine Politik der Reprä­ auf die Existenz einer Prozedur, in der die Wahrheit zir­
sentation wäre. kuliert, ohne repräsentiert zu sein. Es ist eine Hypothese
Man erkennt ein d ialektisches Denken an seiner inter­ der Fähigkeit des Wahren: proletarische-politische Fähig­
pretativen Methode. Es beginnt immer mit der Zurück­ keit (Marx), Fähigkeit der Souveränität des Volkes
weisung der Repräsentationen. Die Lacan 'sche Methode, (Rousseau), Fähigkeit des wiedervereinenden Heils
· ähnlich der Freuds, besteht darin, die bewussten Reprä­ (Pascal), Fähigkeit des absoluten Buchs (Mallarme),
sentationen als Anleitung zur U ntersuchung des Subjekts Fähigkeit des Subjekts in der Wahrheit (Lacan). Und
zurückzuweisen und schräg durch interpretative U nter­ diese Hypothese instruiert retroaktiv am Ort des anfängli­
brechung, über rätselhafte Indizien vorzugehen: Lapsus, chen Symptoms selbst, an dem das Den ken einen Bruch
Träume, Seltsamkeilen der Worte. . . Pascal leitet seine vollzieht (der Aufstand, das Poem, die Freiheit, die Spal-

1 02 1 03
tung im Abgrund, das Delikt des Signifikanten), das Sub­ lieh der Existenz des Subjekts nur in einer Form der Wet­
jekt, für das diese Fähigkeit der Prozess der Existenz te. Es ist eine lange Wette, eine hypothetische Erklärung.
selbst ist: das Proletariat, die Masse, das Volk, der christ­ Rousseau gesteht sehr gern zu, dass zweifellos keine
liche Mensch , das Unbewusste. wirkliche Gesellschaft durch den Vertrag gestützt wird,
Ein dialektisches Denken schlägt folglich ein Loch in durch welchen sich das Volk als subjektive politische Fä­
das Dispositiv des Wissens (der Repräsentationen), higkeit einsetzt. Das Buch Mallarmes ist nicht geschrie­
anlässlich eines symptomalen Stoßes, den es im Regime ben worden. Man kann nach Pascal über kein besonde­
einer Hypothese der Fähigkeit interpretiert, an der sich res Heil entscheiden, die Zahl der Erwählten ist unbe­
die Nachträglichkeil eines Subjekts erweist. stimmt, vielleicht gleich Null. Und die Wahrheit des Sub­
Diese vollständige Methode findet man - außer bei jekts ist in der Schwebe, da die psychoanalytische Kur,
Marx und Freud, die ihr modernes Regime sichern - in ihrem Recht nach, unendlich ist. Wir wissen, was uns
Frankreich nur bei Pascal, Rousseau, Mallarme und betrifft, was der "real existierende" Sozialismus wert ist.
Lacan. Aber diese U nentscheidbarkeit des Subjekts der
Bemerken Sie, dass alle vier außergewöhnliche Hypothese ist das Lösegeld dafür, dass es nicht reprä­
Meister der Sprache sind und zu den größten unserer sentierbar ist. Sie l iegt im Prinzip der Wahrheit. Um das
Schriftsteller gehören. Das heißt, dass in Frankreich, wo zu erklären und das anfängliche Ereignis widerhallen zu
die philosophische Gesamtheit niemals die deutsche lassen, ist die Ressource der Kunst n icht überflüssig.
Selbstsicherheit gehabt hat, allein die Kunst, die Haltung Weder für die Religion noch für d ie Poesie und sicherlich
der U nentscheidbarkeit in der sich das Subjekt mit einem auch nicht für den Analytiker, noch für den Gesetzgeber
Ereignis verbindet, organisiert. Rousseaus. Noch für die Politik, ohne jeden Zweifel, eher
Ziehen wir tatsächlich in Betracht, dass wenn das eine Kunst, denn eine Wissenschaft.
dialektische Denken im Bruch einer Ordnung der Reprä­
sentationen besteht, es niemals eine andere Garantie
bezüglich des Realen als seine eigene Erfahrung hat. V. Formalismen 1
Der Stoß, der seine Löcherung autorisiert, ist ein singulä­ Verboten I Un mög lich
res Ereignis.
Das dialektische Denken beginnt nicht m it der Regel, Mit dem Mut, m it dem uns solche Vorfahren versorgen,
sondern mit der Ausnahme. Und das neue theoretische komme ich zu den formalen Vermittlu ngen zurück.
Gesetz, das diese Ausnahme artikuliert, besteht hinsieht- Dem, der mit nichts beginnt, erlaubt man die

1 04 1 05
einfachste Abstraktion. len: d ie, die nur wahre Sätze produzieren können und
Das Modell, nach dem ich vorgehen werde, ist von die, die nur falsche Sätze produzieren können. Später
einer besonderen Magerkeit. Es dient dazu, die Sack­ werden wir die Klasse derjenigen, die in gleicher Weise
gassen der Konzeptualisierung des Repräsentierbaren falsche oder wahre Sätze produzieren können, hinzufü­
zu begründen. Seine Ernsthaftigkeit ist der analog, die gen. Wir fügen uns so selbst zum anfänglichen Univer­
Lyotard dem Corpus der Anekdoten der Sophistik und sum hinzu.
des Skeptizismus zuweist oder Lacan seinen Gleichnis­ Mit höchster Ehrfurcht gegenüber der hegemonialen
sen, wie jenem der drei Gefangenen: die Schwierigkeiten Konstitution des Staatsbewusstseins bei uns und in Erin­
des Seins in einer Ordnung zur Schau zu stellen, in der nerung an das, was hier vor sehr langer Zeit meine Ver­
die treffende logische Komik allein zur Funktion hat, die pflichtung war, werde ich die Linke die Klasse derjenigen,
Realität auf D istanz zu halten. Mein Corpus leitet sich die immer das Wahre sagen, die Rechte die Klasse sys­
aus dem Buch von Raymond Smullyan ab, das zum Titel tematischer Lügner nennen. Dies wird uns vom berühm­
hat: Wie heißt dieses Buch?32 auf eine Weise, dass ten kretischen Lügner unterscheiden, den wir sehr wohl
jedem, der nach dem Titel dieses Buches fragt, der Spie­ die Bühne, von rechts nach links, überqueren sehen
gel vorgehalten wird: Wie heißt dieses Buch? So wie wir werden.
schließlich jedem, der uns fragt, was unsere Politik ist, Bemerken wir, hinsichtlich des Wahren und des Fal­
antworten können , dass es darum geht, dass er an der schen, dass der Satz allein über den Platz, rechts oder
Frage partizipiert: Was ist unsere Politik? links, an dem sich sein Produzent befindet, qualifizierbar
Ich setze ein Universum voraus, in dem es nur Sätze ist. Es gibt folglich eine ursprüngliche Verschränkung
gibt, deren intuitive Qualifikation wahr oder falsch ist. l n zwischen der Aussage und der Äußerung, da mich die
diesem Universum sind die Produzenten von Sätzen an Bestimmung des Platzes der Äußerung sogleich autori­
feste Gesetze gebunden, die sie in zwei Klassen eintei- siert, die Aussage zu qualifizieren. Wir haben hier eine
Topologie der Wahrheit, insofern sie durch den Ort
32 This book needs no title, Englewood Cliffs, N .J. 1 980 (dt. Braun­ erkennbar wird . Ihr Schicksal ist mit der Orientierung
schweig 1 981 ). Raymond Smullyan ist ein besonders erfindungsrei­ eines Raums verbunden. Wir werden sehen, wie es sich
cher Logiker, dessen "Didaktik" aufschlussreich für den Philosophen
dabei mit der Zeit verhält.
ist. ln gewisser Hinsicht nimmt er, indem er sie perfektioniert, wieder
die Kunstgriffe der Präsentation der Logik auf, die man bei Lewis Der Schlüssel des Dispositivs liegt darin, dass
Garroll findet. Zitieren wir neben dem genannten Buch seine Theory wenigstens ein Satz hier n icht artikulierbar ist, eine Aus­
of Formal Systems (Princeton 1 961 ), in der man die anregendste
Präsentation des berühmten Theorems von Gödel über die Unvoll­ sage ohne zugelassene Äußerung. Es handelt sich um
ständigkeit der formalisierten Arithmetik erster Ordnung findet.

1 06 1 07
die selbstbezügliche Aussage, eine Variante der Aus­ ist, in meinem Sinne keine politische Kategorie, weil es in
sage des Kreters: "Ich bin rechts." Das ist übrigens die gleich welcher Situation nicht zu verwirklichen ist. Es ist
Regel der Realität oder der parlamentarischen Höflich­ eine Kategorie des Seins des Gesetzes selbst. Damit
keit, dass niemand sagt: "Ich bin rechts. " Die Rechte ist lege ich auch fest, dass die klassische Vorstellung der
immer in der zweiten Person: "Du bist rechts" ist das Ü berschreitung des Verbots, wenn sie, wie man vorgibt,
Gängige. "Ich bin rechts" ist niemals die Aussage der eine erotische Wirkung hat, keine politische Wirkung hat.
Rechten, die verneint, dass diese Aussage einen Sinn Wenn er sich nur damit begnügt zu sagen , dass er
hätte. Es ist allein die Aussage der extremen Rechten, rechts ist, unterstellt sich der Politiker der extremen
insofern gehört sie auch n icht richtig dazu. Aber, leider, Rechten mehr der Provokation seines Genießens als
gehört sie in die Zeit. seinem Effekt auf der politischen Bühne. Leider sagt er
"Ich bin rechts" ist in meinem Modell nicht von einem vieles anderes.
Rechten artikulierbar, welcher, immer das Falsche Dem Verbot werde ich die Geschichtlichkeil des
sagend , nicht seine Wahrheit sagen kann. Ebenso nicht Unmöglichen entgegenstellen.
von einem Linken, der, die Wahrheit sagend, gezwungen Betrachten wir d ie folgenden Sätze, in die diesmal,
ist, sich als Linker zu bekennen. Diese Aussage ist folg­ immer noch in unserer Topologie von rechts I links, zwei
lich gemäß dem Gesetz des Ortes nicht zu verwirklichen. Personen impliziert sind, sagen wir A und B . Der Satz 1
Das heißt so viel wie, dass sie in der Position des allge­ ist: "B ist rechts. " Der Satz 2 ist: "A ist links." Für sich
meinen Realen ist: Die Konsistenz des Ortes leitet sich genommen, sind diese Sätze von jedem Beliebigen arti­
banaler Weise davon ab, dass Rechts und Links gemein kulierbar, außer natürlich der erste von B selbst, da n ie­
haben, nicht das von-Rechts-Sein sagen zu können , was mand sich als rechts deklarieren kann. Aber im
selbstverständlich und in der Tat ihr wirkliches politisches Allgemeinen sind diese Sätze keinesfalls verboten . Im
Sein ist, des einen wie des anderen. Besonderen kann A ohne weiteres sagen, dass B rechts
Dieses Reale ist indessen nur strukturell. Es ist der ei­ ist und B kann ohne weiteres sagen, dass A links ist. Es
gentliche Mangel der möglichen Aussagen. Es hat n ichts genügt hier, dass die Wahrheit und Falschheit dieser
mit irgendeiner Situation zu tun, da ja jede Situation , d . h . Behauptungen mit der Klasse der Sprecher konform sind.
jeder Komplex von wahren oder falschen Sätzen, eine Wenn also B links ist - er sagt die Wahrheit - und A
Möglichkeit realisiert, die unter der Bedingung dieses ebenfalls links, ist die Aussage von B, dass A links ist, mit
Mangels steht. Ich werde festlegen , dass ein solcher seiner Äußerungsstätte konform, wahr.
struktureller Mangel ein Verbot des Ortes ist. Das Verbot Das Problem ist, dass das Ereignis hier die Bühne in

1 08 1 09
seiner eigenen Funktion der VerunmöglichunQ betritt das eines Einzelnen ist, desjenigen , der als rechts quali­
Wenn A sagt, dass B rechts ist, macht er es für immer fiziert wurde. Das Unmögliche ist eine Kategorie des
unmöglich, dass B sagt, A sei links und dies ganz gleich, Subjekts, nicht des Ortes; des Ereignisses, nicht der
ob A und B rechts oder links sind . Weder der Satz 1 noch Struktur. Sie ist das Sein für die Politik.
der Satz 2 sind strukturell verboten. Aber die Äußerung Um das auszusagen, was verboten ist, muss man
von 1 durch A macht die Äußerung von 2 durch B un­ schlicht und einfach das Gesetz des Ortes sprengen. Um
möglich. demgegenüber auszusagen, was historisch ihr Unmögli­
Wenn tatsächlich A sagt, dass B rechts ist, gibt es ches ist, muss man nur eine Tatsache zur Seite schie­
zwei Möglichkeiten: ben. Der Satz 2 wird wieder artikulierbar, wenn das I ndi­
A ist links, er sagt die Wahrheit, folglich ist B rechts. ln viduum B sich so verhält, als ob der Satz 1 n icht von
der Konsequenz sagt B das Falsche, folglich kann er Individuum A artikuliert worden wäre.
nicht sagen, dass A links ist, da das ja wahr ist. Das Verbot verlangt die totale Zerstörung, um darüber
A ist rechts, er sagt das Falsche, folglich ist B links hinwegzugehen. Für das Unmögliche ist eine Art Taub­
(und nicht rechts, wie A vorgibt). Folglich sagt B die heit ausreichend . Mein Ereignis konstituiert sich in dem
Wahrheit und kann also nicht sagen, dass A links ist, da Missverstehen dessen, was ihm voran gegangen ist und
A ja rechts ist. das eigentlich dessen Verunmöglichung sein soll.
Sobald die Aussage, dass jemand rechts ist, von wem So ist die Arbeiteraussage der Rechte in Talbot nicht
auch immer artikuliert wird, ist dieser jemand folglich die unmittelbare und strukturelle Subversion der Ord­
außer Stande zu sagen, dass jener, der ihn so qualifiziert nung. Zu ihr reicht aus, nicht zu verstehen, was sie ver­
hat, links ist. Er hätte es aber gekonnt, wenn der andere unmöglicht, das heißt das, was von der gesamten
nicht als erster gesprochen hätte. Die U nmöglichkeit des Gesellschaft gesagt worden ist: dass der immigrierte
Satzes 2 ist dieses Mal nicht wie das "ich bin rechts" ein Arbeiter nur eine importierte Ware, folglich ohne schriftli­
Verbot der Struktur, sie induziert sich von einer konsta­ ches Recht auf Unterhalt und auf Identität ist. Da die
tierbaren Tatsache, der wirksamen Artikulation des Sat­ Aussage des Rechts ohne Recht ja intrinsisch möglich
zes 1 . ist, unmöglich nur durch all das, was ihr vorhergeht, kann
l n diesem Sinne spreche ich davon, dass es sich um sie auf dem Boden des Widerrufs der vorangegangenen
eine historische U nmöglichkeit handelt und nicht um ein Tatsachen und ohne die Vernichtung des Gesetzes zu
Verbot des Ortes. Bemerken Sie auch, dass sich das fordern geschehen.
Verbot an alle richtet, wohingegen unser Unmögliches Das historisch zugeschriebene Wesen des Unmögli-

1 10 111
chen ist es folglich, der Stimme der Zeit gegenüber taub Existenz der Linken der Wahrheit und der Rechten des
zu sein. Damit ist eine prä-politische Situation geschaf­ Falschen durch ein Zentrum geregelt ist, das sich aus
fen, deren Prinzip , wie man sieht, die U nterbrechung ist. Leuten zusammensetzt, die gleichermaßen zu wahren
Unterbrechung der gewöhnlichen sozialen Hörigkeit, wie zu falschen Sätzen fähig sind.
Ausschluss der Tatsachen. Deswegen kommt auch die Ein politisches Verbrechen hat stattgefunden. Die
Polizei, die immer die Polizei der Tatsachen ist, Polizei Polizei ermittelt. Drei Verdächtige werden aufgrund von
gegen die Tauben. "Sind sie taub?", sagt der Bulle. Er I ndizien verhaftet. Die Polizei wei ß zu diesem Stand der
hat Recht. Die Polizei ist immer nur der Verstärker der Ermittlung vier Dinge:
bereits etablierten Tatsachen, ihr maximaler Lärm, auf all Es gibt nur einen Schuldigen .
die gerichtet, deren Taten und Worte attestieren, dass sie Dieser Schuldige gehört nicht zur Partei der Rechten,
tauben Ohres sind, da es ja historisch unmög lich ist. die kein politisches I nteresse daran hat, hinter dem Ver­
Setzen wir folglich fest, dass die politische Markierung brechen zu stecken.
einer prä-politischen Situation erfordert, dass man in ihr Von den drei Verdächtigen ist einer links, der andere
durch das Erfassen dessen, was sie unterbricht, ange­ rechts, der d ritte aus dem Zentru m . Das U nglück ist, dass
leitet wird. Denn der Punkt des Unmöglichen ist nur zu man n icht weiß, wer welcher ist.
diesem Preis möglich. Allerdings, und das ist der vierte Punkt, haben die drei
Man macht heute einen großen Rummel um die Verdächtigen jede Aussage verweigert, außer diesen:
Kommunikation. Allerdings ist es klar, dass es die Der Verdächtige A erklärt: "Ich bin unschuldig."
lnkommunikation ist, die, eine Möglichkeit aus dem Der Verdächtige B erklärt: "A ist tatsächlich unschul­
Unmöglichen machend, die Wahrheit in der Politik zirku­ dig."
lieren lässt. Der Verdächtige C erklärt: "Das ist n icht wahr, A ist
schuldig."
Von einem streng analytischen Gesichtspunkt aus ist
VI. Formal ismen 2 die Situation hier durch vier Parameter bestimmt, die ihr
Diskriminante Intervention und wettende Intervention die Struktur einschreiben.
Sie haben die Tatsache selbst, das Verbrechen. Sie
Was sind die Strukturen und Wege dieser Zirkulation? haben die konjunkturellen Zwänge, die immer Einschrän­
Eine einzige kleine Geschichte wird uns anleiten. kungen von Hypothesen sind. ln diesem Zusammen­
Nehmen wir dieses Mal einen Ort an, der neben der hang: dass die Rechte das Verbrechen nicht begangen

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hat oder dass die drei Verdächtigen die drei Parteien folglich entweder links oder aus dem Zentrum. Aber er ist
repräsentieren. Sie haben die Sätze, deren Bezug die nicht links, da es ja A bereits ist. Nun gibt es aber nur
Tatsache ist, und die Erklärungen der Verdächtigen. einen Repräsentanten jeder Partei. Folglich ist B aus
Diese Sätze verschränken das Subjekt übrigens zugleich dem Zentru m . Zudem ist er in dieser Hypothese schuldig,
mit der Tatsache selbst (wer ist schuldig?) und mit der da ja der einzig andere mögliche Schuldige, der Linke, A,
Äußerung von Sätzen, die zur Tatsache relative sind . es nicht ist.
Schließlich haben Sie den strukturellen oder logischen Von hier aus kommt man zu einer kohärenten analyti­
Zwang, das Gesetz des Ortes, der sich relativ zur Topo­ schen Hypothese: A ist links, B aus dem Zentrum und
logie des Wahren und zu seinen Klassen verhält. schuldig, C, schließlich , ist zwangsläufig rechts, was
Eine Situationsanalyse heißt, eine Tatsache ausge­ passt.
hend von den Sätzen über die Tatsache und im Rahmen Unglücklicherweise gibt es andere kohärente Hypo­
der konjunkturellen und formalen Zwänge zu befragen, thesen. A, wir haben es gesagt, kann tatsächlich auch
noch ohne jegliche Politik. Es geht daru m , das zu meis­ nicht links, sondern aus dem Zentrum sein. ln welchem
tern, was in der Situation der durch die Tatsache selbst Fall, wenn B rechts ist und sagt, dass A unschuldig ist, er
gestellten Frage entscheidbar ist, das heißt in der durch lügt, folglich A schuldig ist. Und C ist links, was passt. Die
die strenge Analyse gestellten Frage. Man verfährt hier Hypothese: A aus dem Zentrum und schuldig, B rechts, C
ohne I ntervention, das heißt ohne überzählige Aussage. links funktioniert, das heißt erschöpft die Gegebenheiten
Weil sie noch nicht prä-politisch ist, ist die Situation noch und die Zwänge. Schließlich, immer noch in der
unter der Aufsicht der Tatsachen. Beobachten wir den Annahme, dass A aus dem Zentrum ist, kann es sein,
Intellekt des Detektivs bei seiner Arbeit. dass B links ist. Er sagt As Unschuld erklärend das
A sagt "Ich bin unschuldig". Wenn er rechts wäre, Wahre, aber er erklärt dadurch seine eigene Schuld , da
spräche er falsch. Folglich wäre er schuldig . Das ist nicht ja der Schuldige, wenn er nicht der aus dem Zentrum ist,
exakt, da ja ein konjunktureller Zwang uns davor warnt, der Linke sein muss. Und wiederum ist C rechts. Die
dass die Rechte nicht hinter dem Verbrechen steckt. Hypothese A aus dem Zentrum, B links und schuldig, C
Folglich ist A entweder l inks oder aus dem Zentru m . rechts, passt gleichermaßen .
Wen n er links ist, d a e r j a sagt, dass e r unschuldig ist, Wir gelangen so z u einer Tabelle, die ein analytisches
ist er es, da er nach dem formalen Zwang zum Wahren Wissen der Situation ist (S bezeichnet die Schuld):
gezwungen ist. ln diesem Fall sagt der Verdächtige B ,
der sagt, dass A u nschuldig ist, das Wahre. Dieser B ist

1 14 115
einführt. Der subjektive Effekt ist hier, dass man d ie
1 2 3 Situation erweitern muss, nur damit sich in ihr, vielleicht,
das Ereignis herausstellt, das sie hütet.
Ein Subjekt, folglich eine Politik, ist das Zwischen­
A L Z +S z
Zwei eines aufzuklärenden Ereignisses und eines aufklä­
renden Ereignisses. Es ist das, was ein Ereignis für ein
B Z+S R L+S anderes Ereignis repräsentiert.
Hier beginnt die Logik der I ntervention, die der Punkt
c R L R des Supplements ist, durch den die zuvor in der Situation
blockierte Wahrheit in der Figur des Ereignisses zirkuliert.
Wir haben das vor Augen, wozu die analytische Intel­ Jedoch wäre es u nvernünftig, sich vorzustellen, dass
ligenz maximal fähig ist, die höchste Subtilität des Kom­ die Intervention von jedem konjunkturellen Zwang abge­
mentars ohne jegliche I ntervention. Das sind die zogen ist und insbesondere von jedem Zwang der Dauer.
bekannten Szenarien, auf die unsere Journalisten so Wer ein bisschen Politik betrieben hat weiß, an welchem
versessen sind. Noch sind sie weit davon entfernt, für Punkt sie, in Bezug auf die Situation, u nter dem Druck
unendlich komplexere Situationen so viel deduktive einer Dringlichkeit ist. Von der Aufmachung dieser Dring­
Arbeit wie in dieser skelettartigen Situation zu fordern ! lichkeit hängt ab, dass die Wahrheit ist.
Wir betrachten in der Ausschöpfung der faktischen und Sagen wir hier, dass der Intervenierende, der einen
ordnungsgemäßen Gegebenheiten die Korrelation zwi­ sehr kurzen Zugang zu den drei inhaftierten Verdächti­
schen einer Tatsache und drei Hypothesen, wo das gen hat, über sehr wenig Zeit verfügt, die Zeit für maxi­
Ereignis, die Geste des Verbrechens, wie ihre Lokalisie­ mal ein oder zwei Sätze seinerseits.
rung der Äußerung (die Linke oder das Zentrum ) im Die Politik konzentriert sich oft darin, dass die gute
U nentscheidbaren verborgen bleiben. Frage gestellt werden muss, die einen Schnitt für die
Nun haben wird die Ressourcen der Analyse ausge­ Befreiung dessen macht, dessen unmögliche Möglichkeit
schöpft und wir haben folglich durch diese Tabelle die die Tabelle, die Einheit der Hypothese, weiterführte. Das
Zählung-als-Eins der Situation, ihre Vereinheitlichung ist die ganze dringliche Ästhetik der Intervention.
gemäß der Regel des Ortes auf uns genommen. Die Intervention wird hier über ihren einzigen U mweg
in der Interpretation weiter zu gehen, erfordert, dass der Gewissheit, den Sie in der Tabelle lesen , die Situa­
man etwas hinzufügt, dass man erweiternde Aussagen tion angreifen: Der Verdächtige C kann nicht schuldig

117
1 16
sein. Die I ntervention geht vom Punkt der Dummheit der Die Intervention ist darin diskriminant, dass man im
Polizei aus, welche, allein vom analytischen Stand aus, C Vorhinein diesen Gewinn mit Gewissheit kal kulieren
hätte befreien müssen. Die I ntervention greift sofort die­ kann. Entweder die Antwort von C entscheidet die Frage,
ses Symptom der Dummheit in der Situation auf, indem wenn sie Nein ist, oder wenn sie Ja ist, reduziert sie die
sie C fragt und dies ist die erste Frage: "Sind Sie schul­ Zahl der kohärenten Hypothesen von drei auf zwei und
dig?" Sie stellen diese Frage nur, weil Sie, durch reine bestimmt den Schuldigen.
Analyse, ihre wahre Antwort kennen , die "Nein" ist, da C Aber gerade die Intervention , insofern sie das Atom
ja nicht schuldig ist. Sie könnten folglich von d ieser Ant­ der Politik ist, könnte sich nicht mit der Benennung des
wort ausgehend den Ort der Äußerung ihres Gesprächs­ Schuldigen zufrieden geben. Dessen Lokalisierung (Links
partners ermessen, das heißt, wissen, ob C rechts oder oder Zentrum) bedeutet ihr weitaus mehr, weil sie mit der
links ist, da er ja auch, wie die Tabelle zeigt, nicht aus Äußerung - mit dem Subjekt - und nicht mit der objekti­
dem Zentrum sein kann. ven Tatsache allein verbunden ist. Nun regelt die
Das politische Kunststück, das darin besteht, einem Schwebe zwischen den Hypothesen 1 und 3 diesen
Gesprächspartner die Frage zu stellen, die von seinem Punkt n icht. Wenn diese Schwebe der Fall ist (C hat "Ja"
eigenen Ort der Äußerung beherrscht wird , ist, was ich geantwortet) , erhöht sich die Dringlichkeit, denn der
eine diskriminante Intervention nenne. Intervenierende muss auf einmal zwischen den beiden
Wenn C antwortet, dass er nicht schuldig ist, ist die An­ fortbestehenden Hypothesen entscheiden.
gelegenheit vollkommen geregelt. Er sagt das Wahre, er Die politische Kunst führt dazu, Folgendes zu tun: A
ist folglich links und es ist die Hypothese 2, die validiert ist. zu fragen, ob C schuldig ist. Hier ist es ebenfalls die
Wenn C jedoch mit Ja antwortet, dass er schuldig ist, Gewissheit, derer man sich versichert (C ist nicht schul­
ist er rechts und wir verbleiben mit zwei Hypothesen, 1 dig), um zwischen Hypothese 1 und 3 zu diskriminieren.
und 3. Denn wenn A mit "Ja" antwortet, wie es falsch ist, dann
ln jedem der Fälle hat man einen Zugewinn an Wissen. weil er die Fähigkeit zum Falschen hat, es ist folglich die
Zunächst weil wir die Hypothesen von drei auf zwei Hypothese 3, die begründet ist (ich erinnere daran, dass
zurückgeführt haben. Aber vor allem, weil die Frage des die 2 aus dem Spiel ist, denn wäre sie die richtige, hätte
Schuldigen - jene, die immer noch die analytische I ntelli­ die erste Frage des I ntervenierenden uns dies bereits
genz kitzelt - sich im gleichen Zug geregelt findet: ln den gelehrt).
Hypothesen 1 und 3 ist B der einzige mögliche Wenn jedoch A mit "Nein" antwortet, ist es wahr und
Schuldige. ich kann n icht schlussfolgern , denn Links und Zentrum

1 18 1 19
haben beide die Fähigkeit zum Wahren. VII. Intervention und Organisation.
Meine Frage ist folglich so beschaffen, dass sie ihre Die Politik. Das futur anterieur.
Qualifikation retroaktiv von ihrer Wirkung erhält. Das "Ja"
macht sie siegreich, das "Nein" vollständig vergeblich , da ln der Konzeption der Politik, an die ich mich halte, sind
es auf die vorherige Situation zurückführt. es nicht die Kraftverhältnisse, die zählen, sondern die
Die erste Frage produzierte einen Effekt notwendiger praktischen Prozesse des Denkens. Schauen wir u ns an,
Modifikation im Wissen . ln diesem Sinn hatte sie den an welchem Punkt die toten Politiken, von welcher Seite
Status einer gesicherten Fortsetzung der analytischen auch immer, ihre Begriffe militarisiert haben: Strategie,
I ntelligenz. Das versteht sich nicht von selbst, wenn ich Taktik, Mobilisierung, Tagesordnung, Offensive und
das Risiko eingehe, keinen Effekt zu haben. Die Defensive, Bewegung und Position , Eroberung, Truppen,
Schwebe dessen, was in der Form der Antwort eintritt, ist Generalstab, Allianzen . . . Das Modell des Krieges ist
vollständig und balanciert d ie Zeit der Antizipation, bevor omnipräsent. Was man zum indest in der Sprache wahr­
ihr das retroaktive Siegel zwischen Nichtigkeit und nimmt, ist die I nversion des Clausewitz'schen Axioms.
Beherrschung aufgeprägt wird. Man könnte sagen, dass die Politik die Fortführung des
Es ist dieser Typ der Intervention, den allein sein Krieges m it den gleichen Worten ist.
Effekt qualifiziert und der u nter der Gefahr der Nichtigkeit Gibt es in dieser kriegerischen Figur eine Verantwor­
ist, den ich wettende I ntervention nenne. Die Politik ist tung Marxens für den Todeskampf, in den er die histori­
pascalsch, indem sie vorgibt, dass es in jedem Fall bes­ schen Klassen einbindet? Ich würde vielmehr sagen ,
ser ist zu wetten, wenn man zur, extremen Grenze des­ dass Marx eine vorherrschende und ältere Konzeption
sen gelangt, was die Sicherheit der Analyse autorisiert validiert hat, d ie aus der Gewalt ihren konzentrierten Aus­
und was die diskriminante I ntervention , wie ich es gesagt druck macht, indem sie d ie Politik dem Machtkonflikt
habe, weiterführt. unterstellt.
Das Scheitern im vorliegenden Fall heißt, nicht Die marxistische Neuerung, so sagt er selbst in dem
besiegt worden zu sein, sondern nur die Doppeldeutigkeit Brief an Weydemeyer33, liegt weder in den Klassen noch
verifiziert zu haben , zu der die Analyse der Situation in ihrem Kampf. Sie beruht auf der strategischen Hypo­
führte. Eine intrapolitische Niederlage ist für mich die these des Kommunismus, d.h. auf der Hypothese der
eintretende Unfähigkeit, die Politik von der Analyse zu Abschaffung der Politik, die nur als Figur der Gewalt, die
trennen. Scheitern heißt, einen gegebenen Zustand der
Gewissheit nicht zu u nterbrechen. � -
A.d.U.: Karl Marx, Brtef an Weydemeyer (1 852), tn: MEW, Bd. 28, S.
. .

507f.

1 20 121
die Herrschaft umgibt, verstanden wird. Die Ambiguität kale Politik, die an die Wurzel geht, die die Verwaltung
von Marx liegt dari n , die Politik in ihrem antagonistischen des Notwendigen ablehnt, die die Ziele reflektiert, die die
Begriff erhalten zu habe n , die innovativen Bewusst­ Gerechtigkeit und die Gleichheit erhält und praktiziert,
seinsformen an das übertragend, was er sich als escha­ und die doch zur Zeit des Friedens steht und nicht das
tologisches Ende der Politik selbst vorstellte. ln diesem leere Erwarten der Katastrophe ist? Was ist ein Radika­
Sinn lässt sich klarerweise sagen, dass Marx vielmehr lismus, der zugleich eine unendliche Aufgabe ist? Denn
den möglichen Inhalt einer anderen Politik bezeichnet ist es wichtig festzulegen, dass die Politik, die revolutio­
hat, als dass er mit der überkommenen Form jeder mög­ näre Politik, wenn man dieses Adjektiv beibehalten will,
lichen Politik gebrochen hat. Marx hat in gewisser Weise genau wie die Analyse für Freud, wesentlich endlos ist.
der gewöhnlichen Idee der Politik den H inweis auf ihr Wohingegen das alte antagonistische Gesetz so schnell
mögliches Verschwinden hinzugefügt, eines Verschwin­ wie möglich seine Angelegenheiten beenden wollte und
dens, von dem er sich vorstellte, dass es sich durch die wohingegen das parlamentarische Gesetz, den Zielen
Mittel der alten Politik selbst vollzieht, sobald sie vom gegenüber indifferent, nicht über seine inaktive Gegen­
Arbeitersubjekt in die Hand genommen würde. wart hinaussieht, d . h . etwas Zählbares, das sich zwi­
Man muss heute die Aktualität der Unabhängigkeit der schen der nächsten Wahl und der nächsten Währungs­
Politik in Bezug auf die Staatsgewalt herstellen, und nicht abwertung verteilt.
deren Prophetie betreiben, dabei ganz die Zuschreibung Diesbezüglich lege ich fest, dass die wettende I nter­
der Hypothese zu den Arbeiter- und Volksereignissen vention, d ie sich auf das Ereignis m it der Hypothese
wahrend . Dieses Erhalten berüh rt besonders Polen, wo bezieht, dass sich Anderes unter dem Seiben verbirgt,
die Politik jedenfalls in einer transformierten Vision der dass die Zwei durch die Struktur als Eins gezählt worden
Zeit situiert ist und wo die andauernde arbeiterhafte poli­ ist, das Atom der Politik ist. Diese Intervention ist nur
tische Konsistenz definitiv gegenüber der Angriffsfähig­ möglich unter der Hypothese von Hypothesen, dem
keit bevorzugt wird. inauguralen Axiom, das behauptet, dass man den Ereig­
Dass die Politik in ihrem Feld den Staat und den nissen eine politische Konsistenz geben kan n , in denen
Krieg, den Zwang und die Rebellion beherrschen sollte, sich aussagt, dass es Heterogenes gibt, dass die Politik
daran besteht kein Zweifel. Man sollte heute aber daran nicht durch die Ökonomie vernichtet worden ist, oder
zweifeln, dass sie koextensiv m it dieser Beherrschung dass die Gerechtigkeit eine intrinsische Dimension des
und ihr zentraler Begriff der des Antagonismus sei . Subjekts ist und dass man ihre Wirkung dort erfassen
Oder e s wäre vielmehr z u fragen: Was ist eine radi- kann, wo sich die staatliche Kommunikation unterbricht,

1 22 1 23
dort, wo sich das soziale Band in affirmative Singularitä­ Meinungsströme. Instrumental ist sie über die Vermittlung
ten zerteilt. ihres Programms, wodurch sie die I nteressen und
Die wettende Intervention politisiert eine prä-politische Bewusstseine organisiert. Es geht darum, die Positionen
Situation, indem sie eine I nterpretation vorschlägt, in der der Macht an sich zu reißen, von denen aus das Ins­
sich das Ereignis konstruiert. Sie hält die Zwei gegen die Werk-Setzen dieses Programms den Termen , die man
Struktur des Eins. D ies mit dem Risiko ihrer Nichtigkeit. ausdrückt, Befriedigungen verschaffen wird .
Es ist folglich das vollkommene Gegenteil einer gelehrten Diese Ontologie der Organisation oder der modernen
und programmatischen I ntervention. Sie artikuliert nicht Partei, die eine Art Leibniz'schen Ausdruck und eine
das, was zu tun sei, sondern was gedacht worden sein programmatische Theorie des politischen Bewusstseins
wird. Dieses futur anterieur ist konstitutiv, da sich dieses dialektisiert, ist meiner Meinung nach allen politischen
Denken bezüglich der interven ierenden Hypothese sowie Strömungen absolut gemein, und der gewöhnliche
der direkten Akteure der Situation erst in der Retroaktion Marxismus, der alte Marxismus, führt an diesem Punkt
erweist oder nicht. keinen bedeutenden Bruch ein. Die Dialektik konzentriert
Dieses Denken ist, wie das, was der Zählung entgeht, sich hier in dem Punkt, an dem das Programm, d ie Ver­
gewesen, weil gesprochen zu haben es in der Antwort, bindung der Expressivität und des I nstrumentellen, des
die es verifiziert, seiend machen wird . vereinigten Bewusstseins und der Praxis des Staates
Die Zeit dessen , was Totalitarismus genannt wird , ist sich seinerseits allgemeinen Realitäten unterworfen fin­
die Vergangenheit, d ie Legitimität ist Iegendenhaft oder det, in denen n icht mehr lesbar ist, was es eigentlich
auf der Rasse gegründet. Die parlamentarische Zeit ist ausdrücken soll. Denn der Staat müsste in der program­
die Nullität der Gegenwart auf ihrer Habenseite. Die klas­ matischen Vision in gewisser Weise das Partei-I nstru­
sische revolutionäre Zeit ist schließlich die Zukunft. ment des sein. Nun ist er aber unwiderruflich deren
Aber die reale politische Zeit ist das futur anterieur. Meister, derjenige, der nichts ausdrückt, sondern sich
Diese Zeit impliziert die Organisation in der doppelten abtrennt. Die staatliche Teilung ist vom Ausdruck her
Dimension i h rer Vorgängigkeil und ihrer Zukunft. u nzugänglich. Die allgemeinen Aufgaben des Staates
Für gewöhnlich wird d ie Organisation in der Spannung binden den Willen an die I mperative, in denen die Auf­
zwischen ihrer expressiven Funktion u nd ihrer instru­ rechterhaltung des Orts, wenn nötig durch den Terror,
mentalen Funktion gedacht. Expressiv ist sie, insofern , notwendig den Sieg über das Prinzip der Ent-Bindung
als sie eigentlich repräsentieren soll: im Marxismus die davon trägt, ein Prinzip, in dem die Idee wurzelt, dass ich
Klassen mit politischer Fähigkeit; im Liberalismus die in der Politik auf eigene Rechnung wollen kann.

1 24 1 25
l n der herrschenden, liberalen oder marxisierenden , VIII. Was ist der Dogmatismus?
sowie faschistischen Konzeption ist die Politik in Wirklich­
keit u nterdrückt. Weder die Idee der Klasse noch die der ln den vorgelagerten prä-politischen Situationen fordert
freien Meinungen kann sie ersetzen . Der Komplex von die wettende I ntervention aus zwei Gründen organisiert
Staat und Ökonomie besetzt alles Sichtbare. Die moder­ zu werden . Zunächst, weil es darum geht, ich habe es
nen Parteien, ob sie nun einzeln oder viele seien, erhal­ gesagt, die Kommunikation zu unterbrechen, damit das
ten ihre reale Qualifikation nur vom Staat. Nun ist der Unmögliche in seiner Geschichtlichkeil geschieht. Der
Staat sicherlich ein wesentlicher Term des politischen organisierte kollektive Körper ist zunächst eine kon­
Feldes, aber er ist für sich selbst a-politisch. Das ist der struierte Taubheit gegenüber der Anweisung der eta­
tiefe Sinn, den ich der polnischen Aufwertung der Gesell­ blierten Tatsachen. Der Einsame hat das Ohr zu weit
schaft zuschreibe. ln Wahrheit geht es nicht um die He­ offen. Das organisierte Kollektiv allein besitzt d ie Dichte
gel'sche Opposition von Staat und bürgerlicher Gesell­ eines Ohrstöpsels. Dann, weil eine wettende Intervention
schaft. Es geht darum, den Ort einer Rekonstitution der nur rational ist, wenn sie den Bereich der diskriminanten
Politik zu benennen, die nur ausgehend von der Unab­ I ntervention ausgeschöpft hat. Man tut sich zusammen,
hängigkeit vom Staat eine Chance hat stattzufinden , u m zu kontrollieren, dass das Risiko notwendig ist.
n icht weil der Staat der gegnerische oder oppositionelle Noch ein Geschichtchen , das letzte.
Term ist, sondern weil er a-politisch ist. Daraus entsteht l n meinem rechts I links Ort nehme ich an, dass es
eine riskante und dauerhafte intervenierende Konfigura­ drei Personen g ibt, A, B und C. A sagt: "B und C sind von
tion, die sich auf die Fabrikarbeiter stützt, deren einziges der gleichen Partei."
Ziel darin besteht, dass sie in jedem Moment die imma­ Nehmen wir an, weil ich wissen will , was sich an
nente Ereignishaftigkeit der Politik zu bewahren sucht. Wahrheit in dieser Behauptung versteckt, dass ich C fra­
So verstanden, ist die Organisation durch E ntschei­ ge: "Sind A und B von der gleichen Partei?" Alles in allem
dung notwendig, die weder durch eine strukturelle Gege­ eine plausible Intervention. Aber was wird mir C
benheit vom Typ der Klasse noch durch eine passive antworten?
Gegebenheit vom Typ der Meinung unterstützt wird. Sie a) Wenn A links ist, sagt er die Wahrheit. Folglich sind
ist, ganz einfach, Organisation der Politik, Organisation B und C von der gleichen Partei.
des futur anterieur. Nehmen wir an, B und C seien links. A und B sind
also von der gleichen Partei, der Linken. U nd weil C auch
links ist, wird er mir die Wahrheit antworten, d . h . : "Ja".

1 26 1 27
Wenn B und C rechts sind, sind A und B nicht von der Zählung-als-Eins zurückschickt.
gleichen Partei, A ist durch Hypothese links, B rechts. Der Dogmatiker steht niemals unter der Macht der
Aber weil C rechts ist, lügt er, folglich wird er bejahen, Zwei. U nd in der Konsequenz ist er selbst das Korrelat
dass sie von der gleichen Partei sind. Wiederum antwor­ der Struktur. Das Ereignis mangelt ihm aus Prinzip.
tet er mir: "Ja". Die Organisation, so wie ich ihren Begriff etabliere, ist
b) Wenn nun A rechts ist, hat er das Falsche gesagt. ein Ereignisapparat, ein Risikoapparat, ein Wettapparat
Folglich sind B und C nicht von der gleichen Partei. Dieser ist in seiner ganzen diskriminanten kollektiven
Nehmen wir an, B sei links und C rechts. A und B sind Wissenschaft in der Lage, den Dogmatismus abzuweh­
nicht von der gleichen Partei , aber C lügt, folglich ant­ ren und den S ituationen zumindest un-kalkulierbare
wortet er mir: "Ja". Fragen zu stellen.
U nd schließlich, wenn B rechts ist und C links, sind A Der Situation nachgelagert, ist d ie Organisation in
und B von der gleichen Partei . Und weil C die Wahrheit Wirklichkeit kein Instrument, sondern ein Produkt. Sie
sagt, antwortet er mir: "Ja". bezeichnet, dass das, was statt gehabt hat, nicht aus­
Die Antwort von C ist "ja" in allen Zugehörigkeitskom­ schließlich die Stätte gewesen sein wird.
binationen. Das heißt, dass meine Frage absolut n ichts Durch seine propagandistische Treue, die Verteilung
diskriminiert, noch mir irgendwie weiterhilft, herauszufin­ der wettenden I nterventionen , lässt sie diesen Punkt
den wer A, B und C sind . Die Situation ist durch meine offen, an dem die Vernähung des Eins nachlässt die
Intervention n icht geöffnet worden. Diese Situation wäre Zwei zu verbinden. Sie ist die reflektierende Materialität
vielleicht prä-politisch gewesen, aber ich wüsste nichts des "Es gibt" in seinem futur anterieur. Die politische
davon. Organisation ist erforderlich, damit die wettende Inter­
Wir vereinbaren, diese Art der I ntervention, die, indem vention einen Prozess dessen herstellt, was von einer
sie einer Situation die Frage stellt die in ihr keinen Effekt Unterbrechu ng zu einer Treue voranschreitet
produziert, nicht dazu dienen kan n , sie zu qualifizieren, l n diesem Sinn ist die Organisation nichts anderes als
die nichtige Intervention zu nennen. die Konsistenz der Politik.
Sagen wir, dass die formale Matrix des Dogmatismus
so beschaffen ist. Was der Dogmatiker sagt, ist nur
scheinbar überzählig. Die Ununterschiedenheit der Ant­
worten, die er erhält, etabliert, dass er nur ein Parasit der
Situation ist, welche ihm die strukturale Massivität der

1 28 1 29
IX. Die Ent-Sublimierung lässige ist nicht das, was man erwartet, sondern das,
wovon man ausgeht. Die politische Wette nimmt an, dass
Bleibt noch zu etablieren, dass dieser Prozess oder diese sich die Organisation aus der Unterbrechung, aus dem
Prozedur nicht konstruktiv ist. Ich möchte damit sagen, Unzu lässigen, gemäß den su kzessive aktualisierbaren
dass sein Verhältnis zum Gesetz nicht darin besteht, es Wetten ableiten wird, und i m futur anterieur einen n ie­
durch die Vorführung eines exemplarischen Falles zu mals durch den Fels des Gesetzes gebarrten Radikalis­
validieren. So ist Talbot für nichts exemplarisch. Es ist mus entfaltet.
eine singuläre Einschreibung, von der aus die Politik, und Der konstruktive Gedankengang begegnet niemals
nicht das, was die Politik konstruierte, vorgeht, um zu dem Gesetz. Er macht nichts anderes , als einen Fall
beweisen, dass sie legitim ist. gemäß dem immanent bleibenden Gesetz vorzuführen.
Wenn man die politische Prozedur mit einem Gedan­ Der nicht konstruktive Gedankengang oder der den Weg
kengang vergleicht, wird man sehen, dass er immer über über das Absurde nehmende ist Begegnung, Begegnung
das Absurde verläuft. Das Ereignis läuft durch seine Kraft mit dem Widerspruch. Man muss also entweder der
der U nterbrechung nämlich darauf hinaus, anzunehmen, Anfangshypothese oder der Nichtwidersprüchlichkeit, das
dass das, was zulässig ist, aufgehört hat zu gelten. Das heißt dem Gesetz selbst, nachgeben. Wenn die Begeg­
U nzulässige ist der wichtigste Bezug einer Politik, die nung mit dem Widerspruch immer anders ist, bewegt sich
dieses Namens würdig ist. Die Politik zieht aus ihm durch der nicht konstruktive Gedankengang deduktiv in der
organisierte I nterventionen die Konsequenzen und erhält suspendierten Existenz.
sich so, insofern sie keinem Widerspruch begegnet, das Die Politik setzt in der Form des Ereignisses die
heißt, keiner Verpflichtung auf die Hörigkeit gegenüber Begegnung mit einer Unterbrechung des Gesetzes in das
dem gemeinen Lärm zurückzukommt Prinzip ihrer Prozedur selbst. Die sukzessiven Interven­
De facto ist ein Gedankengang, der den Weg über tionen stehen unter der gewetteten Hypothese einer kon­
das Absurde nimmt, eine Wette. Man nimmt an, dass, sistenten Treue zum Ereignis. Es geht darum zu organi­
aus einer Hypothese, die einen Satz verneint, unzuläs­ sieren, dass aus einem realen , folglich vom Punkt des
sige Konsequenzen folgen werden, die e inen dazu zwin­ Gesetzes absurden Ereignis das U nendliche hervorge­
gen werden, d iesen Satz zuzulassen . Allerdings weiß hen kann. Das Nicht-Konstruktive ist so das natürliche
man nicht, wann man dem Widerspruch begegnen wird. Element des politischen Prozesses.
Daher die Gefahr einer u nendlichen Deduktion. Mallarme resüm iert all dies perfekt in /gitur.
Die Wette der Politik ist entgegengesetzt. Das Unzu- "Der Zufall [ . . . ] enthält das ABSURDE - beinhaltet es,

1 30 131
jedoch i n latentem Zustand , und hindert es, zu existieren: bar. Da es weder einen Haltepunkt noch ein Symbol ihrer
wodurch es dem UNENDLICHEN möglich wird zu sein." 34 U nendlichkeit gibt, muss die Politik auf das Erhabene,
Ü bersetzen wir: Das durch die I ntervention politisierte das Sublime verzichten. Ohne Zweifel ist es dies,
Ereignis, das i m mer ein Würfelwurf ist, setzt das wodurch sie sich, in subjektiven Termini, am grundle­
Absurde, das Unzulässige, in d ie Latenz seiner Prozedur. gendsten von der revolutionären Repräsentation distan­
Und so ist das U nendliche der politischen Aufgabe ziert. Wie man bei Kant sieht, ist die erhabene
möglich. I ndexierung der revolutionären Geschichtlichkeil im Ur­
Bemerken Sie, dass die darunter liegende Dialektik sprung präsent. Aber seien wir aufmerksam für das, was
d ie der Existenz und des Seins ist. Das politische Unend­ vielleicht das grundlegendste Charakteristikum der polni­
liche ist; dadurch , dass die Absurdität des Ereignisses schen Bewegung ist und was der konstante innere
durch die intervenierende Prozedur, wenn nicht gar als Kampf gegen das Erhabene der Handlung ist.
Latenz der Prozedur selbst, d.h. der Organisation inexis­ Grundlegender, radikaler ist die E nt-Sublimierung,
tent gemacht wird. denn das Ereignis ist nicht, kann nicht die gewittrige oder
Die Politik ist vom Punkt einer Schwäche der Zählung­ bestirnte Fülle sein, in der sich das Unendliche zeigt. Das
als-Eins aus die unendliche Aufhebung des Seins durch Ereignis ist vielmehr der unzulässige leere Punkt, an dem
die dauerhafte Latenz-Setzung der Existenz der Zwei. sich nichts präsentiert, aber an dem es seinen Ursprung
So ist der Antagonismus nicht das Prinzip eines An­ im Absurden hat, und von dem aus das Unendliche in der
griffs, sondern dessen, was das politische Sein im konsistenten Reihe der Interventionen verwirklicht wird.
Unendlichen der Wette innehat und so bemächtigt ist, die Uns bleibt, die selbst erhabene, poetische Weisung,
Existenz aufzuheben. auf das E rhabene verzichten zu m üssen. Das politische
Dass das U nendliche die durch das intervenierende U nendliche muss sich von jeder Präsentation distanzie­
Risiko propagierte ereignishafte Konsistenz sei, bewirkt, ren, sich abtrennen. Es ist die Direktive Mallarmes, mit
dass dieses U nendliche n iemals präsentierbar ist. U nzu­ der ich schließe: ,.[ . . . ] Dass vom Unendlichen so die
lässig in ihrer Quelle ist die Politik in ihrer Prozedur Gestirne wie das Meer sich scheiden (...]."35
unpräsentierbar. So ist sie zugleich radikal und unbeend-

34 A.d.Ü.: Stephane Mallarme, /gitur oder der Wahn des EI-Behnon, in:
ders., Gedichte, übers. u. kommentiert von Gerhard Goebel unter
Mitarbeit von Frauke Bünde und Bettina Rommel, Gerlingen 1 993,
S. 21 9-242, hier S. 237. 35 A.d.Ü. : Ebd . , S. 223.
1 32 1 33
Dieser Text stammt zu einem großen Teil aus zwei Vor­ Frank Ruda I Jan Völker
trägen, die im Januar 1 983 und Juni 1 984 im Rah men
des an der ENS d'Uim von Jean-Luc Nancy und Philippe Was heißt es, ein Marxist in der Philosophie zu sei n?
Lacoue-Labarthe geleiteten Centre d'etude philosophique
du politique gehalten wurden. Mir liegt viel daran, ihnen "[ . ] /e travail qui fait vivre
. .

hier zu danken. en nous ce qui n 'existe pas."


Manche Passagen sind auch aus Artikeln hervorge­ (Paul Valery) 36
gangen, die im zweiwöchentlich erscheinenden Le Per­
roquet, das ich mit Natacha Michel herausgebe, veröf­ 1 983 hält Georges Peyrol "30 Wege, leicht einen Alt­
fentlicht worden sind. Marxisten zu erkennen" 37 fest. Der Alt-Marxist ist sich
unter anderem der Existenz einer revolutionären Arbei­
terbewegung unzweifelhaft gewiss, so unbemerkt sich
diese auch zeitgenössisch zeigen möge. Man wird bloß ,
so der Alt-Marxist, ein wenig ausharren müssen, dann
wird die Arbeiterbewegung schon endlich etwas tun und
hervorbringen, was wieder über sie reden macht. Über­
dies hält es der Alt-Marxist für unabweisbar, dass die
zentralen Organe eben jener Arbeiterbewegung die
Gewerkschaften und Arbeiterparteien sind, da sie die
erste und wichtige Etappe des politischen Kampfes,
nämlich den ,ökonomischen Kampf' zu organisieren ver­
mögen und in der Lage sind diesen zu einem veritablen
,ideologischen Kampf' weiterzuentwickeln, in dessen
Konsequenzen endlich die herrschaftlichen Pläne der

36 Paul Vah3ry, Poesie et pensee abstraite, in: ders., CEuvres, Bd. 1 ,


Paris 1 957, S. 1 324.
37 Georges Peyrol, 30 moyens de reconnaitre a coup sOr un vieux-
marxiste, in : Le Perroquet 29-30 (1 983), S . 5-6. Wir resümieren hier
bewusst selektiv nur einige dort angeführten Punkte.

1 34 1 35
Bourgeoise und ihr längst überkommenes Modell der seinen bisherigen Formen ist an ein E nde gekommen.
Organisation der Arbeit durchkreuzt und schl ießlich Oder um es genauer zu sagen: Die Sequenz, in der
beendet werden . Der Alt-Marxist u nterstützt daher, "da es praktisch die Konsequenzen der kommunistischen
ja sonst nichts gibt"38 , die Linke, obwohl diese - leider, Hypothese, in marxistischer, dann leninistischer und
wie der Alt-Marxist gern hinzufügt - wenigstens zu Teilen schließlich maoistischer Gestalt in der Politik entfaltet
auch schon durch die ökonomischen Verhältnisse kor­ wurden, hat aufgehört zu existieren. 39 Emanzipatorisches
rumpiert ist. Aber zumindest teilt die parlamentarische politisches Denken kann nicht mehr so weiter machen
Linke, die zwischen politischer Angepasstheit und oppo­ wie zuvor. Zugleich gilt es bei dieser Diagnose zu
sitionellem Gestus hin und her zirkuliert, mit dem Alt­ beachten, dass "das Ende oder der Abschluß einer politi­
Marxisten die unbefragbare Evidenz der Existenz einer schen Sequenz nicht aufgrund von äußeren Kausalitäten
sich in Bälde in der ein oder anderen Weise hervortre­ oder Widersprüchen zwischen ihrem Wesen und ihren
tenden Arbeiterbewegung, die endlich dem Alt-Marxis­ Mitteln ein[tritt], sondern durch den strikt immanenten
mus Recht zusprechen wird. Effekt einer Erschöpfung ihrer Kapazitäten . [ . . . ] Die
Dass es sich bei diesem polemischen wie ironischen Kategorie des Scheiterns ist, anders gesagt n icht rele­
Text um ein wichtiges Dokument einer - nicht bloß fran­ vant [ . . . ]. Es gibt kein Scheitern , es gibt ein Aufhören
zösischen, sondern eminent politischen - Debatte han­ [ . . . ]."40 Das E nde einer Sequenz hat einen immanenten,
delt, ist weniger dem Faktum geschuldet, dass ,Georges keinen äußerlichen Grund - es handelt sich um ein strikt
Peyrol' das Autoren-Pseudonym des frühen Alain Badiou immanentes Urteil, ein immanentes Ende. Als ein solches
ist. Vielmehr zeigt sich in Badious harscher Polemik
bereits die Einsicht einer geschichtlichen Diagnose, die 39 Eine deutliche Bestimmung dessen, was das Ende dieser Sequenz
n icht nur Badious Denken in der Folge beständig beglei­ in Konsequenz für eine Politik der Emanzipation bedeutet, findet sich
ten und zur Transformation antreiben wird , sondern die unter anderem in: Interview with Badiou, auf: scentedgardensforthe
blind.blogspot.com/2006_1 0_1 5_scentedgardensfortheblind_archive
sich überdies im Niedergang des so genannten real exis­ . html (02.2010). So heißt es dort klar: "Since the mid-80s, more and
tierenden Sozialismus, spätestens mit dem Jahr 1 989, more, there has been something like a saturation of revolutionary
politics in its conventional framework: class struggle, party,
als geschichtliche Wirklichkeit bewahrheiten wird. Die dictatorship of the proletariat, and so on. [ . . . ] We can interpret the
Diagnose sowie die geschichtliche Wirklichkeit lässt sich work of Mao, the Cultural Revolution, that's all very interesting, but
unter die schl ichte Formel bringen: Der Marxismus in we cannot forget that it's also the end of something, much more than
a beginning. But an end is also something new. lt's the beginning of
the end, the newness of the end. After that, though, the field is
saturated. "
38 Ebd . , S. 5. 40 Alain Badiou, Über Metapolitik, Zürich I Berlin 2003, S. 1 38.

1 36 1 37
lässt sich einerseits der Zusammenbruch des von Badiou Denken etwa die Behauptung eigen, dass sich die
angeführten D ispositivs der historischen Bezüge des Sequenz, sei es auch ebenso unmerklich wie sich die
Marxismus - sozialistische Staaten, nationale Befrei­ Existenz der Arbeiterbewegung zeigt, so lange fortsetzt,
ungskriege, Arbeiterbewegungen - verstehen, anderer­ bis sie zu ihrem einzig denkbaren natürlichen Ende, der
seits wird dieses Urteil immanent von einem politischen Revolution , kommt. Es ist gerade diese dogmatisch
Ereignis der frühen 80er Jahre vollzogen. Es ist d ie marxistische Annahme der unzerstörbaren Kontinuität
Neuheit der polnischen Arbeiterbewegung, die zwar der vorangegangenen Sequenz und die damit implizierte
maximal d ie marxistische Hypothese zu bestätigen Leugnung eines möglichen anderen historischen Endes
scheint, sich aber zugleich gerade in radikaler Distanz der Sequenz, die zu problematischen, besser: obskuran­
zum Marxismus konstituiert. Um in der Folge weiterhin tistischen Konsequenzen führt. Denn sie impliziert zwar
den emanzipatorischen Anspruch politischen Denkens, einerseits die richtige Überzeugung , dass sich in
den der Marxismus für die beendete historische Sequenz geschichtlichen Verhältnissen Transformationen zutragen
repräsentierte, fortzuführen, bedarf es der "Position eines können, die so fundamental sein können, dass sich die
neuen Begriffs der Politik [ . . . ] ."41 Das zwei Jahre nach Auffassung von Geschichte selbst ändern wird. Anderer­
Peyrols Intervention auf Französisch erschienene B uch seits aber gibt der "Alt-Marxist" angesichts der historisch
Badious "Ist Politik denkbar?" lässt sich vor diesem Hin­ singulären Situation den Prototypen eines historisch
tergrund als ein Versuch verstehen , weitreichende, dezi­ überkommenen philosophisch-politischen Denkans ab,
diert philosophische, Konsequenzen aus dieser histori­ das sich dadurch auszeichnet, sich selbst als Denken der
schen Konstellation - dem Ende einer Sequenz der Geschichte zu verstehen und doch zugleich unfähig zu
Politik und der Notwendigkeit neue Mittel des Denkans sein, sich von Geschichte wahrhaft irritieren zu lassen.
der Politik finden zu müssen - zu ziehen. Zugleich muss Der Alt-Marxist sieht zwar die Sequenzialität der Politik,
dabei die entscheidende theoretische, wie praktische aber nicht ihr mögliches Ende; er vermag daher die Sin­
Borniertheit der Alt-Marxisten überwunden werden. Denn gularität historischer Veränderung zugleich nur um den
"Alt-Marxist" bezeichnet in Badiousch-Peyrol'scher Termi­ Preis der Aufgabe gerade ihrer S ingularität zu denken.
nologie den Verteidiger einer Wissenschaftlichen­ Die von Marx begründete Wissenschaft der Geschichte,
Marx'schen Lehre, die trotz geschichtlicher Entwicklun­ die aus dem Studium der konkreten Situationen die
gen beständig stabil zu bleiben vorgibt. So ist d iesem unbezweifelbare Existenzannah me eines in die
geschichtlichen Verhältnisse - und sei es nur latent -
eingeschriebenen Subjekts der Geschichte gewinnt, hat
41 Vgl. in diesem Band, S. 39.
1 38 1 39
i n der Konsequenz dazu geführt, die Wahrheit der politi­ implizit schon das vorliegende Buch bestimmt, stellt
schen Verhältnisse und Handlungen so zu verstehen, Badiou die Philosophie in rigidester Form unter die
dass sie in einem konstitutiven Zusammenhang mit Bedingung der Politik. 44 Wichtig zu beachten ist in jedem
einem Sinn der Geschichte - die Emanzipation der Fall, dass Badiou damit keineswegs dem "zeitgenössi­
gesamten Menschheit, die durch das Proletariat ange­ sche[n] Antimarxismus"45 das Wort redet. Ohne den anti­
trieben wird -, selbst stehen. Es ist aber gerade dieses marxistischen Sachverwaltern des Bestehenden oder
konstitutive Band von Wahrheit und Sinn oder Bedeutung den dogmatischen Verteidigern des Marxismus Recht zu
der Geschichte, so Badious Einsatz, das mit der geben, handelt es sich eher darum , aufrecht zu halten,
Erschöpfung der Kapazitäten dieser Sequenz der kom­ dass die Politik der Philosophie nicht einen allgemeinen
munistischen Hypothese zerrissen ist. Vor diesem H in­ Sinn der Geschichte zu denken gibt. Die Singularität -
tergrund ist der zentrale Mangel der marxistischen Kritik eines historischen Ereignisses und seiner ebenso singu­
der politischen Ökonomie, dass d iese "ihre eigene Kritik lären Konsequenzen - der Politik gilt es zu denken, und
nicht zu kritisieren vermochte."42 Gegen die Überzeugung es gilt, sich daran zu orientieren, dass "eine Politik nur in
des Alt-Marxisten, weiterhin an eine Beständigkeit dieses einer Sequenz existiert, insofern das, wozu das Ereignis
Bandes glauben zu können, indem er, die Wissenschaft wahrheitsgemäß fähig war, sich entfaltet."46 Dass d iese
der Geschichte wie letztere selbst auf seiner Seite ver­ Frage selbst geschichtlichen Ursprungs ist und sich prä­
meinend, eine - wie auch immer schwer zu entziffernde ­ zise aus diesem ihre Fraglichkeil ergibt, hängt gerade mit
Vernunft hinter und unter den geschichtlichen , sozialen, dieser Sequenzialität der Politik zusammen. Wie aber
wie politischen Prozessen deklariert, setzt Badiou lässt sich nun eine Sequenz hinsichtlich ihrer S ingularität
gerade, mit einer seiner späteren Formulierungen verstehen, wenn die alt-marxistische Versuchung ver-
gesprochen, das Axiom, dass es "keine Vernunft in der
Geschichte" gibt und "jede Sequenz [ . . . ] auf das bezogen 44 ln "Ist Politik denkbar?" stellt die Politik noch - wie ü berhaupt für den
werden [muss], was sie an Singulärem und Relativen frühen Badiou - die einzige nicht-philosophische Bedingung der

besitzt."43 Mit diesem grundlegenden Axiom, welches


Philosophie dar, auch wenn sich bereits durch die wichtigen Auf­
nahmen künstlerischer Werke eine Veränderung abzeichnet. Spä­
testens mit "Das Sein und das Ereignis" wird diese Form der
Bedingtheit von Badiou weiter differenziert und spezifiziert. Die
4 2 Vgl. in diesem Band, S. 21 . Philosophie ist bedingt von vier Bereichen des Denkens: Liebe,
Kunst, Politik und Wissenschaft. Zur Lehre der Bedingungen verwei­
43 Alain Badiou, D'un desastre obscur. Sur Ia fin de Ia verite d'etat, La sen wir auf: Alain Badiou, Conditions, Paris 1 992.
Tour d'Aigues 1 998, S . 33. Unsere Übersetzung, F.R. I J .V. Im vor­ 45 Vgl. in diesem Band, S . 60.
liegenden Band spricht Badiou noch nicht von ,Sequenz', sondern
46 Alain Badiou, Über Metapolitik, a.a.O. , S. 37.
von ,Zyklus' im Unterschied zu Etappe, vgl. in diesem Band, S. 7 1 .

1 40 141
mieden werden muss? Wie lässt sich folglich die histori­ Formen der U ngleichheit abschaffen und das einrichten ,
sche Spezifizität des Endes der Sequenz verstehen, das was die Denker der Arbeiterbewegung des 1 9. Jahrhun­
den Marxismus in seiner bisherigen Gestalt invalidiert? derts die ,Gemeinschaft der Gleichen' nannten . 48 M it der
Badiou unterscheidet, mittlerweile, und für diesen Pariser Kommune aber, dieser eigentümlichen Verbin­
Kontext hilfreich, zwischen zwei Sequenzen dessen, was dung von Massenbewegung unter Einbezug der Arbeiter,
er die kommunistische Hypothese47 nennt. Die histori­ die sowohl eine geschichtliche Neuheit einführte als auch
sche Spezifität von der das vorliegende Buch ausgeht, ein radikales Scheitern der angenommenen Verbindung
ergibt sich aus der singulären Konstellation , die zum von Umsturz und Massenbewegung bedeutete, wird die
Ende der zweiten Sequenz geführt hat, die sich aber zu­ erste Sequenz beendet. Die Pariser Kommune, in den
gleich nicht unabhängig von der ihr vorhergehenden Se­ zwei Monaten ihres Bestehens, in denen sie eine voll­
quenz denken lässt. Die erste Sequenz bezeichnet die kommen neue Ausübung der Macht darlegte, wies die
Zeit der Schöpfung, der Formulierung der kommunisti­ immanenten Grenzen der ersten Sequenz auf, da sie
schen Hypothese, die zweite die der ersten Versuche ih­ nicht in der Lage war, die angegebene Verbindung auf
rer Realisierung. Die erste Sequenz beginnt mit der eine nationale Ebene zu hieven oder sich wirksam gegen
Französischen Revolution und dauert etwa 80 Jahre an, die konter-revolutionäre Bewegung abzusichern. Knapp
bis zur Pariser Kommune, von etwa 1 792 bis 1 871 also. 50 Jahre später beginnt für Badiou mit der Russischen
Sie verbindet unter der Idee des Kommunismus in kon­ Revolution die zweite Sequenz der kommunistischen
kreter Form die Massenbewegungen - Demonstrationen, Hypothese, die von 1 9 1 7 bis 1 976 andauert. Das Ende
Unruhen, Streiks usw. - und die Vorstellung, den Staat der Kulturrevolution und der Mai 1 968 schließen unge­
umzustürzen und die Macht zu erringen. Der Staat als fähr 50 Jahre nach dem Beginn diese Sequenz ab. Die
Form der Restriktionen der Möglichkeiten muss, so die Frage der zweiten Sequenz ist: ,Wie können wir (entge­
grundsätzliche Annahme der ersten Sequenz, zerstört gen der E rfahrung der Pariser Kommune) siegreich
werden, um wahrhaft egalitäre und befreite Handlungs­ sein?' Lenin war der erste, der eine Antwort auf diese
möglichkeiten zu ermöglichen. Der einzig mögliche Agent Frage gab, indem er einen symbolischen Körper für die
für diese Aufgabe war genau die Massenbewegung (die kommunistische Hypothese entwarf, der anders als die
Arbeiterbewegung). Der bekannte Name für diesen Um­ Kommune dauerhaft und beständig zu sein vermochte.
sturz ist der der Revolution. Die Revolution sollte alle Er bot eine Lösung desjen igen Problems an, an dem die

47 Vgl. Alain Badiou, L 'hypothese communiste, Paris 2009 und Alain 4 8 Vgl. dazu etwa: Jacques Ranciere, La nuit des proletaires, Paris
Badiou, Wofür steht der Name Sarkozy ?, Berlin I Zürich 2008. 1 981 .

1 42 1 43
Pariser Kommune gescheitert war. Die zweite Sequenz der ersten ererbt hatte. Andrerseits war sie aber nicht in
ist somit mit den ungelösten Problemen der ersten be­ der Lage, mit den gleichen Mitteln , mit denen sie die
schäftigt: Welche Form symbolischer, materialer Form Frage der ersten Sequenz beantwortete, die Probleme zu
kann es geben, um d ie ,Gemeinschaft der Gleichen', das lösen, die sich wiederum als Konsequenzen ihrer eigene
Reale der politischen Situation, zu stabilisieren, ohne Konstruktion ergaben. So erwies sich die kommunisti­
dass es von den konter-revolutionären Momenten heim­ sche Partei, die gegen eine geschwächte reaktive Macht
gesucht wird? Wie kann die neue Macht, der neue Staat siegreich zu sein vermochte, u nfähig, den Ü bergang zu
auf eine Weise organisiert werden, dass er n icht von sei­ dem zu organisieren, was Marx die Diktatur des Proleta­
nen Feinden zerstört werden kann? Die bekannte und riats nannte. U nfähig also, die Konstruktion eines neuen
wirkmächtige Antwort, die zunächst Lenin und dann an­ Staates, eine Organisation der Macht, die der Nicht­
dere darauf gaben, war: durch die Partei. Man kann auch Macht geweiht ist - der dialektischen Formel des Nieder­
sagen, dass die Partei die Antwort der zweiten Sequenz gangs des Staates -, zu verwirklichen. Vielmehr wurde
der kommunistischen Hypothese auf die Frage ist: Wie durch diese spezifische Konstruktion der kommunisti­
können wir siegreich sein? Daher spielt das Thema des schen Partei ein neuer Staat errichtet, der sowohl autori­
Sieges in dieser Sequenz eine wesentliche Rolle. Die tär als auch terroristisch war und sich weit von der Idee
Besessenheit mit dem Thema des Sieges und dem des des Niedergangs des Staates entfernte. Es ist gerade die
Realen ist direkt mit Fragen der Organisation und Diszi­ historische Einrichtung dieser neuen Staatsform, d ie das
plin verbunden und daher vollkommen mit einer Theorie immanente Ende, d ie immanente Limitierung der zweiten
und Praxis einer zentrierten und homogenen Klassen­ Sequenz markiert und die noch von den letzten Ereignis­
partei verwoben. Die (kommunistische) Partei Lenins war sen dieser Sequenz - etwa dem Mai 1 968 und der Chi­
eine Partei der Klasse und offerierte damit eine direkte nesische Kulturrevolution - zu überwinden gesucht wird.
Antwort auf die Frage, in welcher Form die neue Macht, Während d ie Kulturrevolution versucht, die Partei kom­
der neue Staat, organisiert werden konnte. Diese cha­ munistischen Typs gegen sich selbst in Stellung zu brin­
rakteristische Konstruktion der zweiten Sequenz zeigte gen, sucht die Bewegung des Mai 68 einen neuen Typ
sich - etwa in Russland, China, Vietnam, Albanien und der Organisation zu erfinden, der sich abseits des Par­
Korea - in der Verbindung von Disziplin, lokalen Siegen, teiformates u nd der Staatsmacht hält. Jedoch, so lässt
demilitarisierter Organisation, Beständigkeit und der sich abkürzend sagen, misslingen schließlich beide Ver­
Konstruktion eines neuen Staates. Die zweite Sequenz suche und führen zur Restitution der Ordnung des Staa­
löste damit zwar einerseits Schwierig keiten, die sie von tes. Das Ende der Sequenz, das u nter anderem als Krise

1 44 1 45
des Marxismus adressiert wird, erfordert nun für Badiou ses"50 ausgeht, in ihren geschichtlichen Singularitäten
ein neues Denken der Politik, das jede Form schlechter philosophisch) denkbar?' 5 1 Anders gesagt, aufgrund der
(alt-marxistischer) Wiederholung der Versuche der vor­ sequentiellen Form der Politik stellt sich immer erneut d ie
angegangen Sequenzen , wie jede Form schlicht reakti­ Frage, ob die Philosophie auf der Höhe ihrer Zeit zu sein
ven Antimarxismus' - zwei Seiten derselben Medaille - vermag, ohne dem Renegatenturn oder der schlechten
vermeidet. Denn sie beide stellen unterschiedliche Ge­ Wiederholung zu verfallen .
stalten einer Orientierung des Denkens dar, die sich von Die Frage "Ist Politik denkbar?" kann folglich weder
der immanenten - und das meint immer subjektiven, auf altbekannte, alt-marxistische oder reaktive Antworten
praktischen - Dimension der Politik zur äußerlichen, verweisen , da d iese gerade die Frage als Frage n icht zu
objektiven Dimension bewegt: Sie setzen d ie Objektivität denken vermögen, noch darf einer weiteren Versuchung
einer wissenschaftlichen Lehre oder die Verwaltung der nachgegeben werden, welche zwar erlaubt d ie F raglich­
gegebenen Objekte der Krise und dem Ende der politi­ keit d ieser Frage zu denken, jedoch ihren h istorisch sin­
schen Sequenz entgegen . Für Badiou ist es aber gerade gulären Index ausstreicht: der Versuchung, das Ende der
entscheidend, "Subjekt der Krise des Marxismus zu sein Sequenz als ein Geschehen zu begreifen, das sich als
[ ] 49 Das heißt aufs Neue und unter neuen historischen
. . . . '. statthabende Krise des Politischen, als Rückzug des
Bedingungen die Frage zu stellen, wie man dem Marxis­ Politischen begreifen ließe, der durch die ,totalitären
mus treu bleiben kann - was es heute heißen kann, ein Regime' des 20. Jahrhunderts hervorgebracht wurde.
Marxist zu sein -, ohne sich den da-subjektivierenden, Denn mit der fundamentalen Bedingtheit der Philosophie
das heißt objektiven Versuchungen wie Versuchungen durch das, was sich in der Politik ereignet, wird der Philo­
der Objekte hinzugeben, die die Radikalität dieser Frage sophie zugleich die Möglichkeit genommen, souverän
durch die Rückkehr zu einer Position struktureller Passi­ von einem zeitlosen Wesen der Politik, eben von dem
vität verunmöglichen. Denn mit dem Ende der Sequenz Politischen zu sprechen. Philosophie kann nicht länger
verändert ebenfalls das klassisch philosophische Diktum
seine Gestalt, das lautet: ,das Wesen der Politik, das 50 Vgl. in diesem Band, S. 1 8.
Politische, ist (philosophisch) denkbar'. Es kehrt vielmehr 5 1 Darauf, dass diese Frage zunächst von Sylvain Lazarus gestellt
in der Form einer grundsätzlich Frage wieder: ,Ist Politik
·wurde, verweist Badiou bereits im Vorwort zur vorliegenden Aus­
(die immer von der "wesenslose[n] Figur des Ereignis- gabe. Überdies verdeutlichen die Verweise auf die Arbeiten von Paul
Sandevince - dem Pseudonym Lazarus' - seinen Einfluss auf
Badious Denken. Vgl. dazu auch: Sylvain Lazarus, Peut-on penser
Ia politique en interiorite ?, Editions des Conterences du Perroquet
49 Vgl. in diesem Band, S. 64. 1 986.

1 46 1 47
politische Philosophie im Sinne einer Philosophie des Perspektive des vorliegenden Buchs als nichts weiter
Politischen, als einer invarianten, ja objektiven Gegeben­ denn ein Symptom einer grundlegenderen Einsicht
heit der Erfahrung sein. "Ist Politik denkbar?" interveniert gelten: Die philosophische Rede vom ,Politischen' ist
in eine historische Situation , und es richtet sich nicht schon immer das Resultat eines philosophischen Phan­
allein gegen die theoretische Vorherrschaft reaktiver tasmas, der Fiktion der Konsistenz der sozialen Mengen,
Renegaten, dogmatischer Funktionäre und Sophisten, das sich nicht aufrechterhalten lässt. Wenn sich auch die
sondern es setzt sich zugleich entschieden von der Diagnose vom , Rückzug des Politischen', welche durch
These einer konstitutiven Verwobenheil zwischen Philo­ Jean-Luc Nancy und Phillipe Lacoue-Labarthe entwickelt
sophie und Politik, die unter dem Namen des ,Politischen' wurde, den traditionellen Auslegungen der politischen
firmiert, ab. Denn d ie philosophische Rede vom Politi­ Philosophie in fruchtbarer Weise entgegenzustellen
schen ist schon immer mit der Vorstellung liiert, ein ver­ sucht, so bleibt sie ihr dennoch zugleich grundlegend
bindendes Wesen oder ein einheitliches inneres Band verhaftet. Denn einerseits ist damit die Diagnose eines
zwischen den präsentierten Elementen einer historischen Verschwindans der angenommenen Wesenhaftigkeit des
Situation oder dem, was man das Soziale nennt, und sei­ Politischen ausgesprochen, d ie es aufrechtzuerhalten
ner Repräsentation angeben zu können: einmal in gilt, da es sich bei dieser immer schon um eine Fiktion
Gestalt eines verbindenden Verhältnisses, das die ad­ gehandelt hat. Andrerseits aber geht die Diagnose vom
äquate Repräsentation der Pluralität und der Differenzen , Rückzug des Politischen' nicht weit genug, sie erhält die
der sozialen Mengen sichert und dessen staatliche Form "begriffliche Rechtsprechung des Bandes"52 , das heißt
die parlamentarische Demokratie wäre, ein anderes Mal sie erhält - so die dialektische Volte Badious - die philo­
in Gestalt einer alle sozialen Mengen umfassenden ein­ sophische Bestimmung des Wesens des Politischen
heitlichen Repräsentation, deren ebenso staatlicher Form eben als die eines entzogenen Wesens. Das Politische
herkömmlicher Weise der Name des ,Totalitarismus' als wesenloses, entzogenes Wesen zu bestimmen,
gegeben wird. Die Rede vom Politischen instruiert für annulliert aber wiederum die geschichtliche Singularität
Badiou damit nur ein Staatsdenken - in der einen oder der Frage, ob Politik denkbar ist, indem sie zur Einfüh­
anderen Form -, da sie immer von der Fiktion eines klar rung eines invarianten, obgleich wesenlosen Wesens
zu bestimmenden Wesens der Politik ausgeht, das die führt. Diese Diagnose verfolgt damit nicht die letzten
Philosophie zu denken hätte. Dass Badious Zeitgenos­ Konsequenzen ihrer eigenen Einsicht. Denn tatsächlich
sen die Rede von der Krise des Politischen und von sei­
nem Rückzug anstimmen, kann daher auch aus der
52 Vgl. in diesem Band, S. 23.

1 48 1 49
eröffnet sie zugleich den Blick für d ie singulären Heute, ein Vierteljahrhundert nach "Ist Politik denkbar?"
geschichtlichen Ereignisse und ihre konkreten Konse­ stellt Badiou die axiomatische Anforderung einer
quenzen, die die Politik auszeichnen und welche schon Erneuerung der Politik unter die Idee des Kommunismus.
immer ein Loch in das Politische geschlagen haben. Der Es gibt daher zwei Begriffe, die innerhalb der Untersu­
Einsatz des Badiou'schen Denkens der Politik besteht bis chung der Rekomposition einer Politik mittlerweile von
heute darin, diese Konsequenzen zu verfolgen, vor allem großer Bedeutung sind : der der Idee und der des
dadurch, dass er die Rede vom Politischen gänzlich Kommunismus.
zurückweist, um gerade die historische Singularität und Die Idee des Kommunismus ist zunächst eine Idee:
Sequenzialität der Politik zu behaupten. 53 So setzt "Ist "Ich nenne ,Idee' eine abstrakte Totalisierung dreier ein­
Politik denkbar?" gegen die alt-marxistisch, dogmatische facher Elemente, einer Wahrheitsprozedur, einer histori­
Verteidigung des Marxismus, gegen den reaktiven Anti­ schen Erscheinung und einer individuellen Subjektivie­
marxismus der Renegaten, sowie gegen die politische rung."55 Kommunismus wiederum, so Badiou weiter, ist
Philosophie, selbst noch die N ancys und Lacoue-La­ zwei Jahrhunderte lang der wichtigste Name einer Politik
barthes, die These ein, dass man sich an der Politik zu der Befreiung gewesen. Man kann daraus seinen allge­
orientieren hat. Nicht, um sich gegen Marx zu wenden, meinen Status ableiten. "Das Wort ,Kommunismus' hat
sondern vielmehr um ebenso wie Marx in den 40er Jah­ den Status einer Idee, und das heißt, dass dieses Wort,
ren des 1 9 . Jahrhunderts, ein "Denker der vom Politi­ ausgehend von einer I n korporation, und also vom I n ne­
schen losgelösten Politik"54 zu sein. ren einer politischen Subjektivierung, eine Synthese der
Politik, der Geschichte und der Ideologie bezeichnet. "56
Die kommunistische Idee gehört n icht in die unerreich­
*
bare Ferne eines politischen ldeenhimmels, noch ist sie
ein bloß realhistorischer Term, der in der Vergangenheit
aufgebraucht worden und von der Geschichte begraben
5 3 Eine wenig hilfreiche Kommentierung dieses Verhältnisses findet wäre. Die kommunistische Idee entfaltet sich in der
sich bei Oliver Marchart, dem unter anderem die Reichweite sowohl
Geschichte und nimmt dieser so die vorgebliche Lineari­
des Begriffs der Singularität als auch desjenigen der Sequenzialität tät und Endlichkeit. Die Idee des Kommunismus ist nicht
der Politik - welche eine konkrete Analyse singulärer Sequenzen
erfordert - entgeht. Vgl. Oliver Marchart, Post-Foundational Political
55 Alain Badiou, L 'hypothese communiste, Circonstances, 5, Paris
Thought. Po/itical Difference in Nancy, Leforl, Badiou and Laclau,
Edinburg h 2007. 2009, S. 1 85. Unsere Übersetzung, F.R. / J.V.
54 Vgl. in diesem Band, S. 29. 56 Ebd. , S. 1 86f.

1 50 1 51
eine Idee von etwas, sondern der Kommunismus selbst Subjekte einer Politik, und doch ist diese Trias nicht rein
hat den Status einer Idee in seinem synthetischen Ver­ subjektiv, sondern der Subjektivierungsprozess ist durch
nähen von Politik, Geschichte und Ideologie. Die Idee ein objektiv Reales und ein objektiv Symbolisches
des Kommunismus sagt, dass die Idee nur eine kommu­ bedingt. Badiou liest mit Lacan die Geschichte der Politik.
n istische sein kan n u nd Kommunismus schon immer eine Mittels der kommunistischen Idee wird das Symbolische
Idee gewesen sein wird. der Geschichte durch das Reale der Ereignisse ange­
ln ihrem Denken durchwandert die kommunistische schnitten, so dass sich an diesem Schnitt ein neues ima­
Idee so drei Gebiete: Politik, Geschichte und Ideologie. ginäres Subjekt herausgebildet haben wird. Die histori­
Der erste Term - die Politik - bezeichnet eine praktische sche Signatur dieses gesamten Prozesses entfaltet ihre
politische Prozedur, mit der in einer gegebenen und mar­ eigene Logik gegenüber der zeitlichen-linearen Struktur
kierten, historischen, Sequenz das Ereignis eines eman­ der symbolischen Geschichtsordnung. Die Situation einer
zipatorischen Denkens aufrechterhalten wird. Der zweite konkreten historischen Zeit wird durch ein ihr spezifi­
Term - die Geschichte - bezeichnet die historische sches Reales entzweigebrochen. Es ist die Praxis eines
I nskription dieser Prozedur in empirische, lokale Gege­ Subjekts, die dieses l n-Zwei-Brechen vornimmt. Dieses
benheiten. Mit dem letzten Term schließlich, der Ideolo­ Subjekt entwirft sich dabei als handelndes zugleich auf
gie, ist hier d ie individuelle Subjektivierung bezeichnet, in eine imaginäre Zukünftigkeil hin, es entwirft das imagi­
der sich das Subjekt entschließt, Teil der Politik, die sich näre Bild einer Schließung dieses an sich unendlichen
in die Geschichte eingräbt, zu werden. Man kann dies in Prozesses. Seine Praxis, gegen über der geordneten Zeit
anderen Begriffen reformulieren: Die Geschichte, von der der Geschichte und gegenüber der realen zeitlosen
hier die Rede ist, ist eine symbolische Ordnung, in die Unterbrechung ist d ie des futur anterieur. Ein neues
sich ein reales Politisches einträgt. D ieser Eintrag ist die Subjekt der Politik wird stattgehabt haben. Politik unter­
"imaginäre Operation"57 der kommunistischen Idee, über bricht GESCH ICHTE und macht Geschichte.
die sich das Individuum subjektiviert. Die Lacan'sche Das Fundament der kommunistischen Idee ist immer
Trias vom Realen, Symbolischen und Imaginären ist h ier, materialistisch . Einerseits begründet sie sich von einem
in der kommunistischen Idee, zu einer materialistischen politischen Realen her, das in einen symbolisch geord ­
Diagonalen geworden. ln dieser Verbindung von Realem, neten Prozess ein Loch schlägt. Dieser Materialismus
Symbolischem und Imaginärem konstituieren sich die erschei nt aber gleichsam nur in einer subjektiven Inter­
vention, so dass er selbst immer noch einmal gebrochen
ist durch die konkrete Entfaltung einer Idee. Was die
57 Ebd., S. 1 89.
1 52 1 53
kommunistische Hypothese behauptet, betrifft so exakter das Verhältnis von "Ist Politik denkbar?" zur
zunächst auch das konkrete Individuum in den Fängen Frage der kommunistischen Hypothese herauszustellen.
der scheinbar naturalisierten Geschichtsverläufe. Es ist Die Struktur figuriert hier bereits als Zählung-als-Eins.
möglich, u nter der kommunistischen Idee zu leben, das Badiou unterscheidet noch nicht (im strengen Sinn) zwi­
statuiert die kommunistische Hypothese. schen Präsentation und Repräsentation, und damit auch
Ein Vierteljahrhundert vor diesen Ü berlegungen zur noch nicht zwischen erster und zweiter Zählung, oder, mit
kommunistischen Hypothese sichert Badiou in "Ist Politik anderen Worten: noch nicht zwischen Struktur und Ver­
denkbar?" die wesentlichen materialen Spuren, aus fassung, obgleich die oben bereits rekonstruierte Kritik
denen ihr Denken möglich wird. Dies ist ganz wörtlich zu des Begriffs des Politischen implizit auf diese U nter­
verstehen. Zum einen ist Badious Text von 1 985 eine scheidung Bezug nimmt. Die erste Zählung-als-Eins, mit
Bestandsaufnahme des Kommunismus in seiner marxis­ der überhaupt etwas präsentiert wird, wird den Titel
tischen Gestalt und seiner Zerstörung. Die Geschichte, Struktur erhalten, die zweite Zählung-als-Eins, die diese
so scheint es, begräbt im wahrsten Sinne den Kommu­ Zählung mitzählt und so die Präsentation repräsentiert,
nismus als solchen. Zum zweiten ist die Aufgabe, eine den Titel Verfassung (!'Etat). Badiou bezeichnet diesen
neue Politik zu rekomponieren die Aufgabe, deren Dring­ Begriff der Verfassung in "Das Sein und das E reignis" als
lichkeit das Buch anmahnt. Die Mittel zu ihrer Lösung "politische Metapher". 59
sucht der zweite Teil von "Ist Politik denkbar?" zu expli­ Es ist eine Erkenntnis der marxistischen Analyse,
zieren. Badiou entwickelt in "Ist Politik denkbar?" eine dass der Staat (!'Etat) nicht mit I nd ividuen, sondern mit
Reihe entscheidender Begriffe, die in systematischer Klassen bzw. bereits gezählten sozialen Formationen
H insicht vor allem in "Das Sein und das Ereignis" aufge­ u mgeht. Der Staat repräsentiert die Situation schon
griffen und weiter entwickelt werden. Badiou stellt selbst immer auf seine Weise und gibt die repräsentierten Ele­
eine präzise, kurze Abfolge dieser Begriffe auf: prä-politi­ mente als Grundlage seines Agierens aus. Der klassi­
sche Situation, Struktur, Ereignis, Intervention, Politik, sche Marxismus setzt dagegen auf eine Abschaffung der
58
Treue; dies sind die Begriffe, die das Fundament einer Repräsentation, eine Abschaffung des Staates und auf
Rekomposition der Politik bilden . Es sei an dieser Stelle eine reine Präsentation der Elemente einer Situation . "Ist
unter Variation der Abfolge kurz auf diese zentralen Politik denkbar?" steht an diesem Ü bergang: Von der
Begriffe eingegangen, u m am Schluss noch einmal marxistischen Idee der Präsentation der Vielheiten gegen

58 Vgl. in diesem Band, S . 88f. 59 Vgl. Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005, S . 1 1 5.

1 54 1 55
die Repräsentation des Staates hin zu der späteren wendigkeit formalisiert, dass die Politik sich nicht selber
Erkenntnis Badious, dass Präsentation und Repräsenta­ verstaatlichen darf, will sie lebendig bleiben. Diese Not­
tion unweigerlich miteinander verbunden sind. Die Politik wendigkeit ist jedoch klar an dem Ereignis namens
im marxistischen Sinne als Angriff auf den Staat zu prä­ Solidarnase gewonnen. 60
sentieren, diese Idee ist, das hat der U ntergang der Die Intervention wird in "Ist Politik denkbar?" als jene
zweiten Sequenz der kommunistischen Idee gezeigt, I nterpretation einer Situation definiert, die die "überzähli­
historisch überkommen . S päter wird Badiou zeigen kön­ gen Aussagen und Tatsachen" bestimmt. 6 1 Nichts ist für
nen , dass jede Situation eine Struktur und eine Verfas­ die Rekomposition einer Politik von größerer Bedeutung.
sung hervorbringen muss. Man kann von hier aus jedoch Ereignisse entstehen nicht von selbst, sie müssen den
zugleich bestimmen, wo der E insatz von "Ist Politik denk­ S ituationen entborgen werden. Badiou kommt im Fol­
bar?" liegt. Einerseits ergibt sich als Konsequenz aus genden auf die I nterpretation vor allem als wettende
dem Ende der zweiten Sequenz, dass Politik sich nicht I nterpretation zurück, denn jede I nterpretation geht eine
an staatlichen Parametern orientieren kann , sie ist keine Wette ein, von deren Ausgang sie nichts ahnen kann, auf
Frage der Macht und damit auch keine Frage der Partei. deren Erfolg sie aber dennoch setzt. ln einem gewissen
Politik entsteht in D istanz zum Staat und im Abstand zu Sinne lässt sich Badious Werk überhaupt als Intervention
Verstaatlichungsprinzipien, wie es Parteien und Pro­ in eine Situation verstehen. Das Hauptwerk "Das Sein
gramme darstellen. Andererseits zeigt sich, dass der und das Ereignis" ist unter anderem eine I ntervention in
Staat nicht politisch ist. Politik als Name einer sich die Situation der Ontologie. "Ist Politik denkbar?" ist
beständig transformierenden Praxis ist so immer darauf einerseits eine Intervention in eine historische S ituation,
angewiesen, sich im Abstand vom Staat zu halten und die auf das E nde der sozialistischen Regime weist,
sich gegenüber der Tendenz zu Verstaatlichung zu anderseits damit bereits eine I ntervention am Rande der
behaupten. I m Namen Solidarnos6 ist dieses Moment der Ontologie. Nicht nur verweist "Ist Politik denkbar?" voraus
Transformation bereits angelegt. Mit Solidarnos6 ist ein auf die ontologische Systematisierung der hier gewonne­
konkretes Moment der Geschichte benannt, an dem nen Einsichten, sondern es verdeutlicht auch, inwieweit
Badiou die Grundlagen dieser in "Das Sein und das sich das politische Denken Badious an konkreten
Ereignis" formalisierten Einsichten für die Politik gewin­ geschichtlichen Situationen entzündet. Das Buch ist eine
nen kann. Wenn 1 985 die Politik als Unmögliches der
Struktur gefasst wird , wird später mit der doppelten For­
60 Vgl. ebd. , S. 1 23ff.
malisierung von Struktur und Verfassung noch die Not-
6 1 Vgl. in diesem Band , S. 89.

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solche I ntervention, weil es aus der Geschichte die Politik des Verbots zu Kategorie des Unmöglichen. Das Unmög­
zu bergen sucht; es ist am Rande der Ontologie, weil es liche, auf das die I ntervention setzt, ist eine Art unendli­
aus der konkreten geschichtlichen Analyse die ontologi­ ches Urteil , die allein negative Bestimmung von etwas
schen Mittel zu einer Rekomposition der Politik freizule­ innerhalb einer Situation , von etwas Nicht-möglichem.
gen sucht. Und es erkennt, dass der Rand der Ontologie Das Verbot hingegen kennt sein Verbotenes genau und
der Riss ist, der m itten durch die Geschichte geht. macht es dadurch bereits i mmer zu einem verfemten
Die I ntervention wettet darauf, an dieser Entzweibre­ Freund des Staates.
chung Politik neu bestimmen zu können. Es geht Es stellt sich jedoch die Frage nach dem Subjekt der
zunächst um die Behauptung, eine Ereignisstätte, wie es I ntervention . Wer ist im Stande, eine wettende Interven­
in "Das Sein und das Ereignis" heißen wird, auffinden zu tion zu wagen? Zwischen einer Frage, die analytisch
können. Um die Leere einer Situation markieren zu kön­ nicht beantwortet werden kann - was ist geschehen, wer
nen, ist es zunächst notwendig , ihre scheinbare Fülle zu sagt d ie Wahrheit - und dem aufklärenden Ereignis, das
ignorieren. Eine Taubheit gegenüber den Tatsachen ist die Wahrheit feststellt, emergiert das wettende Subjekt.
an den Tag zu legen ; was die Polizei als Verstärker der Das politische Subjekt ist das Subjekt einer unmöglichen
Doxologien wieder und wieder behauptet, gilt es bestän­ Äußerung. Das Subjekt ist in ,Ist Politik denkbar?' so zwi­
dig zu überhören. Damit geht aber auch einher, dass schen zwei Ereignissen, als "Zwischen-Zwei" 62 , als das,
man sich der Vorstellung des Gesetzes und des Gesetz­ "was ein Ereignis für ein anderes Ereignis repräsentiert"
bruchs zu widersetzen hat, denn die Überschreitung des bestimmt. 53 ln der Frage der Politik geht es immer um ein
Verbots hat keine politischen Konsequenzen. Es ist viel­ kollektives Subjekt, von Badiou hier noch als Arbeiter­
mehr gerade das Gesetzlose, welches nun konstitutiv oder Volkssubjekt bestimmt. Die prä-politische Situation,
den Prozess bestimmt, das Gesetzlose (des Ereignisses) in welche d ieses kollektive Subjekt intervenieren kann,
als Gesetz des Prozesses (der Treue), auf den die wet­ zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr nicht nur "das
tende Intervention setzt. Politik interessiert sich vielmehr Scheitern des Regimes des Eins"64 bereits erkennbar
für das Unmögliche, das der Situation inhärent ist, das geworden sein wird , sondern auch ein kollektives Subjekt
immer ein Unmögliches der Situation ist. H ier liegt ein eingebunden ist. Prä-politisch ist eine Situation, wenn
versteckter Kantianismus des Badiou von Ist Politik
denkbar?. Wie Kant nämlich die Antinomien aufzulösen
62 Vgl. in diesem Band, S. 1 1 7.
sucht, indem er von kontradiktorischen zu konträren
63 Vgl. in diesem Band, S. 1 1 7.
Urteilen übergeht, so wechselt Badiou von der Kategorie
64 Vgl. in diesem Band, S. 89.

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etwa durch einen Streik das Regime des Eins infrage der Talbot-Fabrik, dass die immigrierten Arbeiter insofern
gestellt ist. Diese I nfragestellung verläuft retroaktiv: Nicht nicht zu dieser Situation gehören, als dass sie nicht als
jede Situation ist prä-politisch, sondern einige werden rechtmäßige, legale Elemente gezählt worden sind. Die
prä-politisch gewesen sein. Sie hat ein ereignishaftes Einforderung des "Rechts ohne Recht"66 durch die immi­
Moment, dem es durch eine wettende I ntervention zur grierten Arbeiter ist somit zugleich d ie Einforderung einer
Wahrheit zu verhelfen gilt. Zugleich wird d ie S ituation Umschrift der Situation. Sie fordern , im strikten Sinne,
überhaupt nur durch die wettende Intervention politisiert das Unmögliche, sie sind Subjekt einer unmöglichen
worden sein . H ier wird bereits erkenntlich, dass die Frage Äußerung. Diese Forderung auf ein Recht in einer Situa­
der Intervention später in "Das Sein und das Ereignis" tion, in der sie kein Recht haben, sollte man n icht voreilig
strukturanalog in den Zusammenhang des Subjekts und als humanistische Einklagung einer ausstehenden Aner­
seiner Treue zum Ereignis einrücken kann. Die Frage der kennung missverstehen. Nur zu glauben, dass die
Subjektivierung ergibt sich aus der notwendigen Inter­ Arbeiter wie die anderen Arbeiter behandelt werden wol­
vention, die die geschichtliche Ordnung m it einer realen len, würde bedeuten, dass die immigrierten Arbeiter
politischen Unmöglichkeit punktiert. Die Affirmation eines schlicht in die S ituation integriert werden wollen . Es ist
Punktes der U nmöglichkeit lässt das Subjekt an dieser richtig, sie fordern, auch wie die anderen behandelt zu
Löcherung der Situation entstehen. Hier ist bereits zu werden. Dies ließe s ich auch mit der Parole der von
erkennen, dass d ie Subjektivierung auch im Abzug von Badiou mit gegründeten Organisation politique verglei­
der Endlichkeit der Situation zu verstehen ist und die chen: Qui est ici, est d'ici. Aber in d ieser Forderung liegt
Löcherung der Situation auch eine Öffnu ng des Subjekts mehr, als allein das gleiche Spiel mit neuen Mitspielern
auf eine Unendlichkeit ist. weiterspielen zu wollen. Es geht nicht darum, die I n klu­
Das Subjekt ist so zunächst an das Ereignis verwie­ sion der Situation zu rearrangieren, sondern darum, die
sen, dass ihm vorangeht, an dessen unmöglicher Mög­ Situation mit einem u nmöglichen Element zu supplemen­
lichkeit es sich herausbilden kan n . Ereignis wird die tieren. Richtiger als von einer Einforderung zu sprechen
"Dysfunktion" eines Regimes des Eins genannt. 65 Die wäre es dementsprechend, von einem Aufsuchen zu
Zählung-als-Eins präsentiert die in einer S ituation gege­ sprechen: ein Aufsuchen der Leere in der Situation, der
benen Elemente als d ieser einen Situation eingeschlos­ das scheinbar naturalisierte Eins aufspaltet und ein
sene, andere Elemente kennt sie nicht. Sie sagt im Falle Reales in der symbolischen Ordnung markiert. Man sieht,

65 Vgl. in diesem Band, S . 89. 66 Vgl. in diesem Band, S. 90.

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warum das Ereignis den Meinungen, den Zählungen , den Freiheit der Gleichheit ist dann eine Freiheit zu eigenen
Tatsachen Feind ist: ln diesen ist es ausgeschlossen, es Organisationsformen , eigener Erziehung und eigener
ist ihnen überzählig, unmöglich . Da das Ereignis Gleich­ Praxis, in der jeder Beliebige als Gleicher gilt.
heit markiert, ist es nicht damit getan, die Forderung der Der Prozess der Treue kann sich dementsprechend
immigrierten Arbeiter zu integrieren. Das Ereignis muss nicht an den gleichen Parametern ausrichten wie die
vielmehr bewahrheitet werden, in seinem Wesen fortge­ Struktur, die das Ereignis verunmöglicht. "Dem Ereignis
schrieben werden . Dies bedeutet nicht, dass sein Wesen treu zu sein, das ist das Sich-Bewegen in der Situation,
protokolliert und programmatisch wiederholt wird, das die zu d iesem Ereign is einen Zusatz bringt, indem man
Ereignis ist vielmehr in seiner Wesenlosigkeit, d ie sein die Situation "gemäß" dem Ereignis denkt (aber alles
Wesen ausmacht, fortzusetzen. Dies geschieht durch Denken ist eine Praxis, ein auf die Probe stellen)."68 ln
den Prozess der Treue, die das Ereignis bewahrheitet, politischer Hinsicht ist die Treue dann die "politische
ohne ihm jedoch seinen fragilen Zustand nehmen zu Organisation, das heißt das kollektive Produkt der ereig­
können, in dem es sich in der Suspension der Zählungen n ishaften Konsistenz jenseits seiner unmittelbaren
und in der Distanz von der Repräsentation einrichtet. Sphäre". 69
Treue gibt dem Ereignis Konsistenz, insofern es die Die Treue ist eine Praxis und ein Denken zugleich. Da
essentielle Aussage des Ereignisses weiterträgt und das Ereignis nicht der Ordnung der Realitäten angehört,
seine Konsequenzen entfaltet: Nicht diese und jene existiert es nicht, es ek-sistiert allein , es steht in seiner
Arbeiter sind den anderen gleich, sondern überhaupt alle Unmöglichkeit heraus. Das intervenierende Subjekt ent­
in der Situation präsenten Subjekte sind gleich. Die nicht scheidet sich zur Verpflichtung, das Ereignis zu denken
exklusive, kollektive Struktur macht ein E reignis zu einem und die Praxis dieses Denkens zu entfalten. Dies zeigt,
politischen Ereignis. 67 Damit wird die hierarchisierte wie im E reignis Materialität und Denken ineinander ver­
Struktur, die nur die repräsentativ säuberliche Verteilung knüpft sind: Denn die Entscheidung, dass ein E reignis
von Macht kennt, als solche in Frage gestellt. Politik ist stattgehabt hat, produziert reale Effekte. Sie produziert
somit an Gleichheit wie zugleich an F reiheit orientiert, Effekte auf dem Niveau der Situation, zunächst jedoch
Gleichheit ist ihre axiomatische Voraussetzung, Freiheit auf einem anderen, subjektiven, N iveau, welches einen
verwirklicht sie im Abstand von der Zählung-als-Eins, das anderen Begriff einführen lässt: den des Lebens. Denn
heißt aber immer auch: im Abstand vom Staat. Diese
68 Alain Badiou, Ethik, Versuch über das Bewusstsein des Bösen ,
Wien 2003, S. 62. (Übersetzung leicht modifiziert, F.R. I J.V.)
67 Vgl. hierzu Alain Badiou: Über Metapolitik. Berlin 2003, S. 1 5 1 . 69 Vgl. in diesem Band, S. 89.

1 62 1 63
die Treue zu einem Ereignis, die Bestätigung seiner Ek­ Die kommunistische Hypothese besagt, dass dies, auch
sistenz gegen alle Existenz und die Fortschreibung sei­ wenn die "Weit" von heute eine andere ist als die zu der
ner Effekte, bringt das Subjekt - im Politischen das kol­ Zeit der letzten, vergangenen Sequenz des Kommunis­
lektive Subjekt - dazu, zu leben. Man kann so sagen , mus, möglich ist. Die Situation ist in der Tat eine radikal
dass das Subjekt erst unter der Idee zu leben beginnt. andere. Es geht darum, in dieser "Weit" dem Kommunis­
Vorher liegen die Regime der Tatsachen, der Biologis­ mus eine andere symbolische Gestalt zu verleihen . Es
men , der Regulierungen, der Alltäglichkeiten, alles in geht darum, eine Weit überhaupt zu denken, deren Idee
allem die Organisation des Lebens, das als Verwaltung es Subjekten zu leben ermöglicht. Es geht folglich nicht
der Endlichkeit begriffen werden kann. Aus dieser Ord­ darum, neue Parteien zu gründen , andere Staaten aus­
nung der Biomacht ist nur zu entrinnen , wenn das Sub­ zurufen, sondern daru m , die kommunistische Hypothese
jekt eine Stelle der Unmöglichkeit in ihr behauptet: sie neu zu entwerfen. "Wir müssen das Manifest erneut
markiert und auf ihr, koste es was es wol le, insistiert. schreiben"70 , weil wir heute, wie Badiou immer wieder
U nter einer Idee zu leben stellt Badiou dem Leben ohne insistiert, in der gleichen Situation sind wie Marx 1 840. Es
Idee entgegen. gilt also, die Marx'sche Geste zu wiederholen.
Letzteres ist der kapitalistische I mperativ der Zeit.
Aber welcher Zeit? Die globalisierte "Weit" von heute Wir möchten vor allem Alain Badiou und Isabelle Vodoz
zeigt sich tatsächlich als Zeit ohne Weit, damit als Zeit für die freundschaftliche U nterstützung danken. Unser
ohne Gegenwart. Was die kommunistische Hypothese Dank gilt zudem Annika Bach, Bruno Besana, Sophie
besagt, ist, dass der Zeit von heute die Annahme einer Ehrmanntraut und Mark Potocnik.
Weit entgegengesetzt werden kann. Diese Weit ist
zunächst zu denken und zu behaupten. Es macht n ichts,
dass die Ord nungshüter wiederholen, von ihr sei nichts
zu sehen, dieser Weit entsprächen keine Tatsachen und
keine vermessenen Zahlen. Eine Weit zu denken
bedeutet zugleich , sie zu bauen. Wenn der Imperativ der
vorgeblichen Weit von heute, von der jeder eigentlich
weiß, dass sie selbst nur eine Behauptung, nämlich die
eines Lebens ohne Idee ist, so ist dieser eine Weit ent­
gegenzusetzen, in der es möglich ist, eine Idee zu leben .
70
Vgl. in diesem Band, S. 72.

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