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Sprengt die
Opernhäuser
in die Luft!
Pierre
Fünf Fragen, an Komponisten gestellt, die derzeit

alle unmittelbar mit musiktheatralischen Projekten

- sagen wir lieber: mit Bühnenwerken mit Musik -

beschäftigt sind, Fragen, die in ihrer - hier offen Boulez


zugegebenen - Einseitigkeit individuelle Standorte

provozieren wollen, die in ihrer Ergänzung oder


1967
Gegensätzlichkeit «Sprengstoff» zur Erhellung

gegenwärtigen künstlerischen Denkens freisetzen

sollen.

Das gerade 25 Jahre alte Interview, das Pierre Boulez Herr Boulez, Sie sind der Leichenredner der modernen
Oper. Obwohl in der kommenden Saison allein in Deutsch­
im Herbst des Jahres 1967 zwei Redakteuren des land 20 zeitgenössische Opern uraufgeführt werden,
behaupten Sie, es gebe überhaupt keine moderne Oper
Magazins Der Spiegel gab, zum Gegenstand der Von der gigantischen Betriebsamkeit gewisser Opernhäuser
lasse ich mich nicht täuschen. Ich bleibe dabei: Seit Alban
ersten Frage zu machen, war aus zweierlei Gründen Bergs Wozzeck und Lulu ...
... seit dem Jahre 1935 also ...
günstig: Aktueller denn je scheint dieses Gespräch ... ist keine diskutable Oper mehr komponiert worden. Und
Berg wußte wahrscheinlich, daß er ein Kapitel abgeschlos­
von damals zu sein in unseren Tagen, in denen sen hatte.
Aber unter den einigen hundert Opern, die seit Bergs Lulu
Opern wie Pilze aus dem Boden sprießen; kaum komponiert wurden, müssen doch ein paar sein, über die sich
reden läßt. Der weltweite Erfolg, den zum Beispiel Hans Wer­
jemand allerdings kennt heute noch - außer den oft ner Henze mit seinen Opern hat, kann kaum ein Zufall sein.
Henzes Produkte sind wahrhaftig keine modernen Opern.
falsch herbeigesprochenen Zitaten und dem provo­ Ich denke da immer an einen lackierten Friseur, der einem
ganz oberflächlichen Modernismus huldigt. Henzes Prinz
kanten Titel - den exakten Wortlaut des Interviews. von Homburg zum Beispiel ist ein unglücklicher Aufguß
von Verdis Don Carlos - von seinen andern Opern ganz zu
Wir drucken im folgenden den gesamten Wortlaut schweigen. Henze ist wie de Gaulle, er kann jeden Mist
machen, er glaubt, daß er immer König ist.
des Interviews sowie eine Stellungnahme, die Pierre Wenn Sie Henze für einen Epigonen halten, müßten Sie
eigentlich Gunther Schuller höher einschätzen. Schließlich
Boulez uns am 24. Mai 1993 zukommen ließ, danach hat er für seine im letzten Jahr unter internationalem
Applaus uraufgeführte Visitation als erster Opernkomponist
die Antworten von Hans-Jürgen von Bose, Manuel Jazz mit Zwölftonmusik verschmolzen.
Das ist sicher das 50. Mal, daß man versucht hat, Jazz mit
Hidalgo, Adriana Hölszky, Nicolaus A. Huber, abendländischer Musik zu amalgamieren. Aber das geht
nicht. Es gibt eine geschriebene Musik, die auf bestimmten
Wolfgang Rihm, Dieter Schnebel, Hans Zender und Gesetzen und besonderen intellektuellen Aspekten beruht,
und es gibt eine andere Musik, die lebt von der Improvisati­
Walter Zimmermann. on. Schullers Oper ist mißlungen, weil der Jazz seine Eigen­
.a schaft eingebüßt hat, improvisiert zu werden. Da gilt das
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6 Wort von Schönberg: Der mittlere Weg ist der einzige, der
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nicht nach Rom führt.
2 John Cage, Mauricio Kagel und György Ligeti sind zwar
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keine Opernkomponisten, doch ihre Werke werden als genügt ein Chirurg, um ein Kind auf die Welt zu bringen.
«sichtbare Musik» zelebriert, das heißt mit theatralischen Doch vorher gibt es noch etwas Wichtigeres zu tun,
Effekten, und meist als eine Art Happening dargeboten. Herr Boulez, Sie haben nun Komponisten entehrt und
Sehen Sie bei diesen Komponisten Ansatzpunkte für ein Intendanten entthront und eine ganze Epoche der Musik­
modernes Musiktheaterf’ geschichte zur Null-Periode erklärt. Trotzdem halten Sie es
Ansätze sicher, und vielleicht sind diese Arbeiten sogar offenbar für möglich, der Gattung Oper, die Ihrer Meinung
Quelle für eine Vision des neuen musikalischen Theaters. nach seit Berg tot ist, wieder etwas Leben einzuhauchen.
Doch besonders Kagel und Ligeti mangelt es an umfassender Denn man spricht davon, daß Pierre Boulez eine Komposi­
Theaterkenntnis. Und manchmal ist die musikalische Seite tion für die Bühne schreiben will.
recht dünn. Ich will - ob ich werde, ist noch ungewiß.
Aber es gibt genügend zeitgenössische Opern, die ihre Worin würde sich Ihre Oper nun von, sagen wir, den
Aufgabe im Theaterbetrieb durchaus erfüllen. Die Ham- Werken Henzes unterscheidenf
burgische Staatsoper, die das moderne Musiktheater pflegt Zunächst einmal: Der Text muß wirklich direkt für das
wie keine andere Bühne der Welt, kann immerhin zwei musikalische Theater konzipiert werden. Es darf keine
moderne Opern pro Saison aufführen. Und sie bekommt aus­ Adaptation eines literarischen Stoffes sein, wie das heute
gezeichnete Kritiken dafür - zum Beispiel ist sie jüngst bei ausnahmslos üblich ist. Vertonte Literatur ist steril.
ihrem Amerika-Gastspiel ganz enthusiastisch gelobt worden. Wie müßte der Text aussehen, den der Komponist Boulez
Langsam, langsam, der Erfolg der Hamburger Oper in Ame­ vertonen könnte?
rika ist ein Teil der Schwäche Amerikas. In Amerika - und Nicht vertonen, sagen wir lieber verwenden. Das wäre ein
besonders in der Metropolitan Opera - werden kaum soge­ Versuch, bei dem Text und Musik gleichzeitig konzipiert
nannte moderne Opern gegeben. Und Opernregie kennt würden. Das heißt, ich würde mich mit einem Schriftsteller
man dort praktisch nicht. Deshalb hat die Hamburger Oper zusammentun, der bei jedem Wort, das er niederschreibt,
Eindruck gemacht. Im übrigen ist das, was die Hamburger in spürt, daß Musik dazukommt, ja daß der Text nur mit
Amerika geboten haben und was sie daheim bieten, zwar in Musik zusammen existenzfähig ist.
unserer Zeit geschrieben worden , aber keineswegs modern. Eine seltene Begabung.
Nehmen Sie doch die Oper von Boris Blacher, die in Ham­ Ja, Brecht hat sie gehabt - leider hat er mit so unwichtigen
burg uraufgeführt worden ist, Zwischenfälle bei einer Not­ Musikern zusammengearbeitet.
landung - ist denn das moderne Musik, nur weil Blacher Weill und Dessau...
elektronische Mittel verwendet hat? Das erinnert mich an die Man kann nur davon träumen, daß Strawinsky und Brecht
Theaterstücke zu Anfang des Jahrhunderts, als man glaubte, in den zwanziger Jahren zusammengearbeitet hätten. Mein
modern zu sein, weil man ein Telephon auf die Bühne brach­ Gott, was hätte das für ein Resultat ergeben. Aber jetzt stehen
te. Diese Notlandungs-Oper ist einfach Filmkulissenmusik. sich bei Strawinsky - bei seiner Geschichte vom Soldaten bei­
Glauben Sie denn, daß der Intendant der Hamburgischen spielsweise - und bei Brecht Text und Musik als zwei fremde
Staatsoper, Rolf Liebermann, der ja selbst ein berühmter Welten gegenüber.
Opernkomponist ist, so wenig Geschmack hat, daß er Wenn Brecht und Strawinsky zusammengearbeitet
während seiner achtjährigen Intendanz nur miserable hätten... Glauben Sie, daß dann auch Brechts Texte anders
Stücke ausgewählt hat ľ ausgesehen hättenf
Ich glaube, sein Geschmack ist seine Intendanz. Er wählt die Sicher, er hätte weniger auf Folksongs geschielt, zu denen
Opern aus, die er selbst schreiben könnte. Er komponiert Weill ihn heruntergezogen hat.
jetzt nur noch durch andere. Kennen Sie in unserer Zeit einen Theaterschriftsteller vom
Und diese Opern sind Ihrer Meinung nach schlecht? Format Brechts, mit dem Sie Zusammenarbeiten könnten?
Schlecht ist nicht das richtige Wort. So etwas kommt über­ Ich habe mit Jean Genet Gedanken ausgetauscht. Er ist
haupt nicht in Frage, wenn man über die Entwicklung des einer jener außergewöhnlich begabten Schriftsteller, die zu
modernen Musiktheaters sprechen will. Meiner Meinung einer Synthese von Theater und Musik fähig wären, die
nach darf ein Intendant seinen bürgerlichen Durchschnitts­ nicht nur vom ästhetischen und vom dramatischen Stand­
geschmack nicht auch noch instutionalisieren und kulti­ punkt ausgehen, sondern die moderne Musik und moder­
vieren. Das moderne Musiktheater, das Herr Liebermann nes Theater miteinander verklammern können. Wir haben
entdeckt zu haben glaubt, hat er ganz schön in die Höhe bisher nur über die technischen Aspekte der modernen
getrieben. Und jetzt will er seine Aktien natürlich nicht sinken Musik und über die technischen Aspekte des Theaters
lassen. gesprochen.
Sie meinen, daß seine Methode, möglichst viele Aufträge Können Sie uns ein Beispiel dafür geben, was Sie bei
an junge Komponisten zu erteilen, auch nicht zur Reforma­ Genet interessiertf
tion des Musiktheaters beiträgtI In Genets Stück Wände überall gibt es eine sehr eindrucks­
Ich glaube nicht, daß man mit Aufträgen eine neue Bewe­ volle Szene, in der die Algerier die Franzosen beschimpfen,
gung ins Leben rufen kann. Da könnte man ja auch sagen, es aber nicht mehr in Worten. Sie zeichnen die Beschimpfun-

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gen auf die Wände. Am Ende dieser Szene ist das Bühnen­ Genet nehmen und das «vertonen» kann. Dann müßte man
bild fertig. Sehen Sie, das ist eine Aktion, die zu gleicher Zeit es vollkommen ändern, aber das wäre wieder eine Adaption.
die technischen Aspekte der Bühne verwendet. Dieser Ein­ Diese Lösung finde ich überflüssig.
fall hat eine unglaubliche Ausdruckskraft. Deshalb interes­ Wie würde denn die Musik einer Boulez-Oper klingen,
sierte sich Genet auch für die Technik meiner Stücke. Er würde sie sich wesentlich von Ihrer Instrumentalmusik
wollte wissen, wie ich sie geschrieben habe und wie man sie unterscheidenI
dirigiert. Er sprach davon, die Gesten des Dirigenten in das Nein, überhaupt nicht. Ich finde, der Unterschied zwischen
Stück einzubeziehen, um die Anwesenheit der Musik zu Bühnenmusik und reiner Konzertmusik ist ja sowieso ver­
rechtfertigen. Also nicht nur ein Dirigent, der außerhalb der schwunden.
Bühne dirigiert. Denn eine moderne Oper muß, glaube ich, Daß es keine moderne Oper gibt, so meinen Sie, liegt
eine strukturelle Mischung von Technik, Ästhetik und Dra­ wohl in erster Linie daran, daß die kongeniale Zusammen­
maturgie sein. arbeit zwischen Librettist und Musiker nicht besteht. Gibt
Glauben Sie nicht, daß so etwas wie dieses Malen der es nun auch noch etwas anderes, das die zeitgenössische
Bühnenbilder bei Genet auf offener Bühne etwas von einem Oper verhindert?
fast zufälligen Glücksfall hat, der sich nur hin und wieder Ja. Es gibt zum Beispiel die Opernregisseure, die in ihrer
einmal in der Kunst verwirklichen läßt? Mehrheit weit hinter der Zeit herhinken.
Natürlich ist das Glückssache, aber alle Dinge, die gelingen, Günther Rennert, Ihr verstorbener Freund Wieland
sind, teilweise wenigstens, Glückssache. Deswegen sagte ich, Wagner, Franco Zeffirelli...
das ist mein Ausgangspunkt, und das ist nur ein Vergleich. Wieland Wagner war der einzige Opernregisseur, den ich
Ich will keineswegs mit der Musik das wiederholen, was gekannt habe, der mich zur Zusammenarbeit provoziert hat.
Genet einmal mit der Malerei gemacht hat. Sie werden in Können Sie sich auch eine Zusammenarbeit mit dem
einem eventuellen Musik-Theater von mir bestimmt nicht Italiener Zeffirelli vorstellen?
erleben, daß ein Schauspieler auf die Bühne kommt und auf Zeffirelli ist der Henzc unter den Regisseuren. Man muß
einem Instrument spielt. Das wäre eine dumme und unwirk­ allerdings einräumen, daß bei dem augenblicklichen Opern­
same Kopie. betrieb es ja auch ausgeschlossen ist, daß irgend jemand mal
Herr Boulez, uns kommt es sehr auf die Präzisierung eine abenteuerliche Regieleistung vollbringt. Ich habe den
Ihrer Vorstellungen eines neuen Musiktheaters an. Eindruck, daß den Opernintendanten ein spießiger Regis­
Wenn ich das Stück geschrieben hätte, dann könnte ich seur schon zu abenteuerlich ist.
etwas Genaueres sagen. Man kann eine Revolution doch Werden Sie bei Ihrer eigenen Oper auch Regie führen?
nicht nach einem vorgekauten Muster machen. Revolution - Nein, ich beherrsche das Metier nicht.
das ist nicht nur auf dem Gebiet der Musik so - braucht Gibt es einen Regisseur, der ähnliche Intentionen wie Sie
lediglich eine durchdachte Konzeption. Die Praxis liefert und Genet hat, mit dem Sie also dann gegebenenfalls
dann fortwährend Korrekturen. Und diese Praxis kann man Zusammenarbeiten könnten?
nur hinterher beschreiben. Ich kann zu Ihnen also über mein Ich kann mir nur zwei Leute vorstellen: Peter Brook oder
Gerüst sprechen, und das habe ich getan. Ingmar Bergmann. Das sind wirkliche Regisseure. Ich werde
Sie sagten, Sie könnten sich einzelne Szenen noch nicht jedenfalls einen Regisseur bitten, der nicht von der Opern­
vorstellen; doch sicher können Sie etwas darüber sagen, tradition belastet ist.
welche Ansprüche Sie an das Thema stellen. Herr Boulez, glauben Sie, Ihr modernes Musiktheater
Wenn ich schon mit einem Schriftsteller zusammenarbeite, in einem unserer ja sehr konventionellen Opernhäuser
dann muß die Gesamtkonzeption auch ein Stück Literatur verwirklichen zu können?
sein und nicht so eine pittoreske Nebensache so eine Ganz bestimmt nicht. Da kommen wir auch zu einem weite­
Abhandlung über Sozialprobleme. ren Grund, warum es heute keine moderne Oper gibt. Die
Das kann ja auch Literatur sein. neuen deutschen Opernhäuser sehen zwar sehr modern aus
Man glaubt, modernes Theater zu machen, wenn man bei­ - von außen; innen sind sie äußerst altmodisch geblieben. In
spielsweise von Vietnam spricht. Das ist wirklich ungenügend. einem Theater, in dem vorwiegend Repertoire gespielt wird,
Sie wollen ein zeitloses Thema habenI da kann man doch nur mit größten Schwierigkeiten moderne
Nein, nicht unbedingt. Genet hat über zeitgebundene The­ Opern bringen - das ist unglaubwürdig. Die teuerste
men geschrieben, denken Sie an die Neger. Oder in den Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen.
Wänden die Algerier durch Kubaner austauschen, das wür­ Aber glauben Sie nicht auch, daß dies die eleganteste wäre?
de überhaupt nichts Grundsätzliches ändern. Ich empfinde Da zweifellos kein Intendant Ihren Vorschlag befolgt...
Abneigung gegen eine Polemik, die nur an aktuelle Politik ... kann man in den bestehenden Opernhäusern das übliche
gebunden ist. Solche Absichten sind kurzsichtig. Repertoire spielen, Mozart, Verdi, Wagner, bis Berg etwa;
Sie wollen ein von aktuellen Problemen abstrahiertes für neue Opern müßten unbedingt Experimentierbühnen
Thema - eben wie in den Stücken von Genet? angegliedert werden. Diese scheinbar unsinnige Forderung
Ja, aber ich glaube nicht, daß man einfach ein Stück von ist im Schauspielbetrieb ja weitgehend verwirklicht.

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Damit würde auch das finanzielle Risiko geringer Und die zweite Schicht?
werden, das jeder Intendant eingeht, wenn er eine zeit­ Die lebt eben mit der Zeit. Die hört Beatles und die Rolling
genössische Oper auf den Spielplan setzt. Stones und was weiß ich sonst. Eine Beatles-Platte ist ja
Ja, die Belastung, in jedem Fall eine «erfolgreiche» Oper, auch wirklich cleverer und obendrein kürzer als eine Oper
eine publikumswirksame Oper präsentieren zu müssen, fie­ von Henze. Aber die dritte Schicht, das ist das Publikum,
le erfreulicherweise weg. Auf einer derartigen kleinen Büh­ auf das man setzen kann. Es ist ziemlich unabhängig von der
ne könnte man dann allerhand riskieren, während die bürgerlichen Gesellschaft und vor allem vom Geschmack
großen Opernhäuser als Museen Weiterbeständen. der bürgerlichen Gesellschaft.
Sie fühlen sich offensichtlich ganz wohl im Museum, bei­ Wie erklären Sie sich, daß gerade in der nichtbürgerlichen
spielsweise als Parsifal-Dirigent im Bayreuther Festspielhaus? Gesellschaft des Ostblocks beispielsweise Henze-Opern
Parsifal war eine Ausnahme. Die Bedingungen, unter denen ebenso gern gegeben werden wie in unseren bürgerlichen
man in Bayreuth arbeiten kann, sind außergewöhnlich. Bay­ Opernhäusern?
reuth hat nichts mit dem normalen Opernbetrieb zu tun. Die Ost-Länder sind auch bürgerlich. Glauben Sie denn,
Außerdem war Wieland Wagner ein Freund, den ich daß es jetzt noch kommunistische Länder gibt?
bewundert habe. Diese zwei Gründe waren für mich ent­ Kuba...
scheidend, in Bayreuth den Parsifal zu leiten. Vielleicht. Ich kenne das Land zwar nicht, aber ich glaube
Was interessiert Sie denn außer dem Parsifal noch? schon, wenn man einige Lormen des Austausches zwischen
Sehr wenig, ein paar weitere Wagner-Opern, Mozart, Mus­ Publikum und Künstler erproben will, dann ist es dort
sorgsky und Debussy. Dann ist schon Schluß. Wenn mir leichter. Es gibt da mehr unverbildeteren Enthusiasmus -
jemand anbieten würde, ich solle Verdis Macht des Schick­ eine wichtige Sache. Es gibt sicher keine blasierten Leute,
sals dirigieren, ginge ich lieber spazieren. die in die Oper gehen, weil man in die Oper gehen muß,
Diese Art von Oper ist für Sie eine «anmutige Lüge» - weil das von der Gesellschaft gern gesehen wird, weil das
wie einst Busoni formulierte? eine kulturelle Pflicht ist. Es gibt vielleicht auch mehr Begei­
Das Wort anmutig ist schon zuviel. Wenn Sie jemals Rigoletto sterung, mehr Naivität, mehr verborgene Genialität; aber
gesehen haben, dann wissen Sie doch selbst, was damit los möglicherweise wäre ich auch sehr enttäuscht, wenn ich
ist - besonders in einer sogenannten realistischen Regie von hinkäme.
Zeffirelli. Idiotisch. Ein Schauspiel- oder Filmpublikum Von der Sowjetunion erwarten Sie in dieser Hinsicht
würde sich über eine derartige Darbietung totlachen. Das nichts?
«Opernpublikum» ist ja auch ein Kapitel für sich. Ich will Nein. Da werden ja ganz bürgerliche Opern wie Eugen
damit sagen, die Oper ist mit einem muffigen Schrank zu Onegin und Pique Dame am höchsten geschätzt. Die chine­
vergleichen. Doch es gibt Gott sei Dank nur noch eine sischen Rotgardisten hätten hier einiges zu tun. Hier könn­
Stadt, und das ist Wien, wo das Opernhaus noch das Zen­ ten sie sich nach Herzenslust austoben.
trum des Geschehens ist - eine Reliquie, ein gut gepflegtes Dann sind Sie sicher auch der Meinung, daß unser
Museum. Opernbetrieb hierfür die Rotgardisten ein ideales
Und in Paris, der Hauptstadt Ihres Heimatlandes? Betätigungsfeld wäre.
In der Provinzstadt Paris ist das Museum sehr schlecht Ja. Man sollte ruhig eine ganze Menge Rotgardisten impor­
gepflegt. Das Pariser Opernhaus ist voller Staub und tieren! Vergessen Sie nicht, die Französische Revolution hat
Scheiße - um gut deutsch zu sprechen. Da gehen nur noch auch sehr viel kaputtgemacht, und das war sehr gesund.
die Touristen hin, weil man die Oper von Paris gesehen Wenn man zuviel Blutdruck hat, gibt es nur eines: weg mit
haben muß. Das liegt auf der Touristentour wie die Folies dem Blut.
Bergères oder der Invalidendom, wo das Grab von Napo­ Das heißt, daß Sie - um ein neues musikalisches Theater
leon ist. schaffen zu können - die Gesellschaft ändern müssen ?
Diese Leute sind es offenbar nicht, die Sie sich als Die Gesellschaft kann ich nicht ändern, weil ich ...
Publikum wünschen? ...kein Revolutionär bin.
Nein, diese Operntouristen sind zum Kotzen. Wenn ich ein Kein politischer Revolutionär jedenfalls. Mir fehlt die Tech­
Bühnenwerk komponieren werde, dann schreibe ich nicht nik dafür. Deshalb wende ich mich an die aufgeschlossenen
für die Star-Fans, sondern ich denke an ein Publikum, das Menschen, die sich für Stücke von Genet, Pinter und
eine umfassende Kenntnis vom Theater hat. Beckett interessieren. Aber die Oper mit ihrem traditionel­
Kann man das Publikum so einfach in Gruppen einteilen? len Publikum hat nichts von den Veränderungen der Zeit
Doch, ganz gut. Ich sehe augenblicklich drei Schichten in gespürt. Sie lebt im Getto. Die Oper ist mit einer Kirche zu
unserer Gesellschaft. Die erste gibt sich kultiviert und geht vergleichen, in der man höchstens die Kantaten des 18. Jahr­
ins Museum, auch ins Musik-Museum. Wenn sie sich in den hunderts singt. Ich habe keine Sehnsucht, die Leute zu
Museen zu sehr gelangweilt haben, wollen sie etwas Aben­ befreien, die lieber im Getto ersticken wollen - ich habe
teuer kaufen, dann gehen sie zu den Liebermanns. Die bür­ gegen diese Art von Selbstmord nichts einzuwenden.
gerliche Gesellschaft braucht ihre Hofnarren. Herr Boulez, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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1993

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Was geht denn nicht - bisweilen erst nach Jahren Щ»*.. Щш
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Liegt es an der Sprache der Musik selbst, wie oft
behauptet wird?
Liegt es an der Trägheit unserer Gesellschaft?
Zorn ist ungerecht - aber man redet sich manchmal
ein, zu laut schreien zu müssen, um die Trägheit
aufzurütteln, und schießt dabei übers Ziel hinaus -
und daneben.
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Angry young man, wise old man?
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Unter diesem Gesichtspunkt entschließe ich mich ш
nicht zur Vernunft. ш
Aber wie Sprengstoff hat schwarzer Humor oder

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roter (wie die gleichfarbigen Garden) nichts zum


besseren gewendet... sondern allerhöchstens zu
Mißverständnissen geführt. *ψ
In den vergangenen 30 Jahren bin ich mit so eini­
gen Produktionen konfrontiert worden - und ich .
träume noch immer von einer wirklichen Verände­ .~
rung. Ist das mein Fehler? <
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Adieu tristesse, aber bonjour... was? *ся


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Pierre Boulez (24. Mai 1993) eS
Title: Sprengt die Opernhäuser in die Luft!

Author(s)/Editor(s): Felix Schmidt, and Jürgen Hohmeyer

Source: Neue Zeitschrift für Musik 154/4 (Juli 1993) 14–19) 14–19

ISSN: 0170-8791

e-ISSN: 0000-0000

Publisher: B. Schott's Söhne Copyright © 1993 by B. Schott's Söhne. All rights reserved.Content compilation copyright ©
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