Sie sind auf Seite 1von 12

SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

„Gott allein kann helfen“


Der Komponist Bernd Alois Zimmermann (4)

Mit Werner Klüppelholz

Sendung: 26. April 2018


Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR 2018

Bitte beachten Sie:


Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung
und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service:
SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?

Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und
seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-
Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
SWR2 Musikstunde mit Werner Klüppelholz
23. April – 27. April 2018
„Gott allein kann helfen“
Der Komponist Bernd Alois Zimmermann

IV
Regte der tieftraurige Inhalt der gestrigen „Musikstunde“ eher zum Weinen an, so ist
es heute eher zum Lachen – und zum Gruseln. Zur vierten Folge über den
Komponisten Bernd Alois Zimmermann begrüßt Sie Werner Klüppelholz.

„Heute, beklagt sich Herr K., gibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein
große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der
chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfasste noch im Mannesalter ein Buch von
hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten besteht. Solche Bücher
können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Wie wenig
brauchen diese alle zu ihrer Tätigkeit! Ein Federhalter und etwas Papier ist das
einzige, was sie vorzeigen können! Und ohne jede Hilfe, nur mit dem kümmerlichen
Material, das ein Einzelner auf seinen Armen herbeischaffen kann, errichten sie ihre
Hütten. Größere Gebäude kennen sie nicht, als solche die ein einziger zu bauen
imstande ist.“ (Bertolt Brecht: „Originalität“).

Brecht hätte an der heutigen „Musikstunde“ seine helle Freude gehabt, denn von
Bernd Alois Zimmermann gibt es ein Werk, das zu zehn Zehnteln aus Zitaten
besteht, mit Hilfe vieler Vorgänger und Zeitgenossen errichtet wurde und das vor
Geist nur so funkelt, die „Musique pour les soupers du Roi Ubu“, die Musik zu den
Nachtmahlen des Königs Ubu.

Der Anlass des Stücks war Zimmermann Aufnahme in die West-Berliner Akademie
der Künste, was die Einleitung erklärt, das „Entrée de l’Académie“, das er mit Zitaten
überwiegend aus Kompositionen der Mitglieder beziehungsreich zusammensetzt;
insgesamt dreizehn an der Zahl – wie beim Abendmahl Jesu. Zimmermann
unternimmt gleichsam einen Rundgang durch die Noten der neuen akademischen
Mitbrüder wie Mussorgskij durch die Ausstellung seines Malerfreundes Hartmann.
Das ist der Anfang der „Bilder einer Ausstellung“, die „Promenade“, von der ein

2
Biograph schreibt: „Der Komponist hat sich selbst dargestellt, wie er hin und her
geht, manchmal stehen bleibt, dann rasch weitergeht, um näher an ein Bild
heranzutreten.“

Modest Mussorgskijs „Promenade“ in der originalen Klavierfassung, mit Leif Ove


Andsnes.

Musik 1
Mussorgskij: Bilder einer Ausstellung, Promenade I 1‘20“
L. O. Andsnes
M0240856 001

Im „Entrée de l’Académie“ hält sich Zimmermann streng an die vorhandene


Rangordnung und beginnt mit dem Präsidenten der Akademie der Künste. 1966
hieß er Hans Scharoun, den Zimmermann freilich nicht musikalisch zitieren kann,
denn er war Architekt; unter anderem der Baumeister der Berliner Philharmonie.
Ersatzweise verwendet Zimmermann den Rhythmus aus Mussorgskijs „Promenade“
und die Tonbuchstaben aus Scharouns Nachnamen, s – c - h – a, zu hören in den
Hörnern. Im dritten Takt tritt Boris Blacher auf, der Zimmermanns Eintritt in die
Akademie, deren Vize-Präsident er ist, vermittelt hatte; gefolgt von Wolfgang Fortner,
dem Direktor der Musik-Sektion. Darauf erklingt die gregorianische Melodie des
„Dies Irae“, des Jüngsten Gerichts, entnommen aus einem Werk des einfachen
Akademie-Mitglieds ganz vorn im Alphabet, Joseph Ahrens.
Zwei bereits verblichene Akademie-Mitglieder schließen sich an, Hindemith steht
neben Wagners Tristan. Was zunächst verblüfft, denn ein gegensätzlicheres Paar als
diese beiden ist kaum denkbar. Zimmermanns Zusätze könnten eine Erklärung
bieten. Er nimmt ein kleines Bruchstück aus Hindemiths „Mathis-Sinfonie“ und
kombiniert es simultan mit der „Sinfonie“ des im Dritten Reich kompromittierten
Fortner, dem Leiter der Musik-Abteilung.
Auch Hindemith gehörte einmal einer solchen Sektion an, als Mitglied im „Führerrat“
der Reichsmusikkammer, zu Berlin eben, bis er bei den Nazis in Ungnade fiel und
die Oper „Mathis der Maler“ schrieb, über den ebenfalls politisch verfolgten Künstler
Mathias Grünewald. Da ist das Beethoven-Zitat gleichzeitig mit Wagner schon
weniger verfänglich. Es stammt aus Beethovens Klaviersonate op. 31, 3, wo bereits

3
der berühmte Tristan-Akkord vorkommt. Soll heißen: Prioritäts-Ansprüche in der
Neuen Musik entlockten dem Geschichtskenner Zimmermann nur ein müdes
Lächeln. Der nächste Komponist ist kein Akademie-Mitglied, nämlich Arthur
Honegger, aus dessen Liturgischer Sinfonie Zimmermann eine Umkehrung des Dies
Irae zitiert. Für den religiösen Honegger hegte er große Sympathien, schon allein
wegen zweier Worte von ihm: „Musik ist Geometrie in der Zeit“ und „Musik ist
Gottesdienst“. Zimmermann hätte ihn zur Aufnahme-Feier vielleicht eingeladen,
leider seit elf Jahren tot, so findet Honegger auf diese Weise Erwähnung. Gegen
Ende der Einleitung erscheint das Akademie-Mitglied Luigi Dallapiccola mit einem
Ausschnitt aus den „Canti di liberazione“, den Gesängen der Befreiung. Ihr Text
enthält den Satz eines Schweizer Reformationstheologen, der auf Deutsch lautet:
„Wenn unser Glaube fest wäre, dann würde Göttliches in uns geschehen“.

Unmittelbar anschließend – kein Zufall - ein Selbstzitat Zimmermanns. Als letztes


Bruchstück hält es ebenfalls die Rangordnung ein, er ist schließlich zu dieser Zeit
das jüngste Akademie-Mitglied. Zimmermann notiert hier die Tonwiederholung im
Blech aus seiner Oper „Die Soldaten“, ein Motiv, das am Ende des Vorspiels für
Stolzius, also für ihn selbst steht und verbunden ist mit der Regieanweisung „Der
Vorhang öffnet sich langsam, die Bühne ist noch dunkel.“ Erst dann beginnt die
eigentliche Ubu-Musik. Viel Glück beim Hören, es geht alles rasend schnell.

Musik 2
BAZ: Musique pour les soupers du Roi Ubu, Entrée 1‘38“
Kölner Rundfunksinfonieorchester, Ltg. M. Gielen
HR 001000101 – A 001

Wir hörten das „Entrée de l’Académie“, gespielt vom Kölner


Rundfunksinfonieorchester unter Leitung von Michael Gielen.

Die „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ ist Zimmermanns Satyrspiel nach der
Tragödie der „Soldaten“. Begonnen hat alles mit einem Physiklehrer an einem
Gymnasium im bretonischen Rennes, der derart dick, tölpelhaft und sadistisch war,
dass er seinen Schüler Alfred Jarry wenn nicht physikalisch, so doch literarisch
inspirierte. Ursprünglich für ein Marionetten-Theater erfindet Jarry die Figur des

4
König Ubu, ein egomanischer, rücksichtsloser, gefräßiger, machtbesessener,
primitiver, feiger, wild gewordener Kleinbürger – die exakten Ähnlichkeiten mit einem
Politik-Darsteller der Gegenwart sind rein zufällig. Ubus erstes Wort im Drama ist
„Merdre“, von Paul Pörtner kongenial mit „Schreiße“ übersetzt. Schon da wollte das
Publikum der Pariser Uraufführung 1896 gleich wieder nach Hause gehen; der
einzige Kritiker, der positiv über das Stück berichtete, wurde umgehend gefeuert. In
derber Kasperle-Sprache entwickelt Alfred Jarry eine atemberaubende Geschichte.

Sie beginnt mit dem Versuch von Mutter Ubu, ihren Mann anzustiften, den
polnischen Thron zu besteigen. Ein Ausschnitt aus ihrem Dialog: „König Venceslav
lebt noch ganz munter und selbst angenommen, er stirbt, hat er nicht Scharen von
Kindern? – Wer hindert dich, die ganze Familie zu massakrieren und ihre Stelle
einzunehmen? – Mutter Ubu, du beleidigst mich! Und du wirst gleich in der
Teufelspfanne schmoren. – Du armer Narr, wenn man mich in die Pfanne haut, wer
soll dir dann den Hosenboden flicken? – Na, wenn schon! Habe ich nicht einen
Hintern wie jeder andere auch? – An deiner Stelle würde ich eben diesen Hintern auf
einem Thron installieren. Du könntest dich unendlich bereichern, ununterbrochen
Leberwurst essen und dich in einer Kutsche durch die Straßen fahren lassen.“
Fußnote Jarrys: „Polen ist überall“. Es liegt etwa in den 1960er Jahren in Persien
oder in den 1980er Jahren auf den Philippinen, stets noch in Afrika oder wo auch
immer Despoten zig Milliarden ungestraft zusammenraffen, derweil ihre Völker
verhungern.
Bernd Alois Zimmermanns Komposition ist ein Ballett, für das er die
Gattungsbezeichnung „Ballet noir“ prägt. Die Tänzer und Tänzerinnen tragen also
kein gewöhnliches Weiß, vielmehr die Farbe des schwarzen Humors von Jarry und
Zimmermann. Die Ubu-Musik besteht aus zwei Ebenen. Aus einer sogenannten
Grundschicht, den erneut bearbeiteten „Giostra Genovese“, die ihrerseits aus Zitaten
von Tänzen alter Meister des 16. und 17. Jahrhunderts gebildet sind. Darüber liegt
eine Montage von Zitaten älterer und neuerer Komponisten; stets wortwörtlich und
mit Quellenangabe, nur in Klangfarbe und bei Bedarf Lautstärke verändert. Als
Besetzung verwendet Zimmermann eine Harmoniemusik, das sind nur Bläser, hier
mit einigen Zusatzinstrumenten wie E-Gitarre. Die erste Szene ist überschrieben
„König Ubu, Capitaine Bordure und seine Partisanen“, die schon mal die militärische
Fortbewegung üben mit Hilfe des „Radetzki-Marschs“.

5
Musik 3
BAZ: Musique pour les soupers du Roi Ubu, I 2‘40“
RSO Stuttgart, Ltg. B. Kontarsky
M0482822

Den ersten Satz der Ubu-Musik spielte das Radiosinfonieorchester Stuttgart, am Pult
Bernhard Kontarsky.
Die Beziehungen zwischen Alfred Jarrys Ubu-Dramen – insgesamt drei – und
Zimmermanns Ballett sind mehr oder weniger eng; es gibt jedenfalls kaum einen
Textabschnitt, den man ohne Rest und Zweifel einer Ballett-Szene zuordnen könnte.
Daher muss man sich die Qualitäten von Mutter Ubu, von der die zweite Szene
handelt, im Text selbst zusammensuchen. Sie ist roh, geldgierig, hässlich, unfähig
zum Kochen, sittenlos und überhaupt die letzte Schlampe. Es ist der reinste Hohn,
wenn Zimmermann hier aus Wagners Meistersingern zitiert. Und zwar aus der Szene
des dritten Akts, wo Walter versucht, ein Lied nach Art der Meister zu erfinden. Bei
dieser Textstelle setzt Zimmermann ein: „Sei euch vertraut, welch hehres Wunder
mir geschehen, an meiner Seite stand ein Weib, so hold und schön ich nie gesehen.“
Soweit der Hohn. Aber Zimmermann wird noch weitergelesen haben, denn da spricht
Wagner auch von ihm und dem Problem jeder Musik, die neu ist. Meister Sachs
kommentiert Walters Lied: „Das nenn ich mir einen Abgesang! Seht, wie der ganze
Bar gelang! Nur mit der Melodei, seid Ihr ein wenig frei: doch sag ich nicht, dass das
ein Fehler sei; nur ist’s nicht leicht zu behalten – und das ärgert unsre Alten.“

Musik 4
Wagner: Die Meistersinger, III. Akt, 2. Szene 2‘05“
B. Weikl, B. Heppner, Bayrisches Staatsorchester, Ltg. W. Sawallisch
M0497087 027

Das waren Bernd Weikl, Ben Heppner und das von Wolfgang Sawallisch geleitete
Bayrische Staatsorchester mit einem Ausschnitt aus Walters Preislied aus dem
Musikdrama „Die Meistersinger“ von Richard Wagner.

Die zweite Szene von Zimmermanns Nachtmahl-Musik enthält neben der


Grundschicht vier musikalische Zitate. Im Horn Beethovens Pastorale mit dem

6
„Erwachen heiterer Gefühle auf dem Lande“, in der Trompete Bachs
Brandenburgisches Konzert Nr. 1, zu dem eine Polonaise gehört, dann die besagte
Meistersinger-Stelle, wiederum in der Trompete, und schließlich das dritte der
Brandenburgischen Konzerte, von Bach gewidmet dem Markgrafen von Brandenburg
aus dem Geschlecht derer, die des Öfteren in Polen eingefallen sind. Dort hat Ubu
nach Ermordung des Königs gerade den Thron bestiegen. Weiter bei Alfred Jarry:
„Aber Vater Ubu, siehst du denn nicht, dass das Volk die Gabe des fröhlichen
Regierungsantritts erwartet? – Wenn du nicht Fleisch und Gold verteilen lässt, bist du
in zwei Stunden gestürzt – Fleisch ja, Gold nein. Schlachtet drei alte Pferde, das
reicht für diese Dreckschweine.“

Musik 5
BAZ: Musique… II 2‘17“
KRSO, Ltg. M. Gielen
HR 001000101 – A 001

Wir hörten den zweiten Satz mit dem Kölner Rundfunksinfonieorchester unter
Michael Gielen.

Seit der Einbeziehung von Literatur im Bratschen-Konzert „Antiphonen“ öffnet Bernd


Alois Zimmermann immer stärker die Grenzen des rein musikalischen Werks für die
anderen Künste und Medien. So auch in der „Musique pour les soupers du Roi Ubu“,
wo er plant, die einzelnen Sätze des Stücks durch kurze Couplets zu unterbrechen.
In der Partitur heißt es: „Die Couplets sind Epigramme über die jeweilige politische
oder kulturelle Situation des betr. Ortes oder Landes; sie sind unbegleitet von einer
korrekt angezogenen Person (conferencier) vorzutragen, die als Alfred Jarry
vorzustellen ist und bei jedem Couplet mit dem Fahrrad auf die Bühne fährt.“ Ich
weiß indes nicht, ob Zimmermann Jarrys Vorschlag kannte, statt der Klingel am
Fahrrad einen Revolver anzubringen.

Gleichviel, der Komponist dachte bei einer solchen Aktualisierung des Ubu-Stoffs an
den scharfzüngigen Berliner Kabarettisten Wolfgang Neuss. Ich habe mir zwei
Fassungen des Stücks mit Couplets von Kabarettisten unserer Tage angehört und
bin zu dem Schluss gekommen, es geht nicht, das hat sich überholt. Da erstens das

7
Geklingel heutiger Berufsspötter die Ungeheuerlichkeiten Jarrys nur verwässert, und
zweitens seine Farce keinerlei Aktualisierung mehr bedarf in einer Realität, die nicht
selten selbst zur Farce geworden ist.

Fahren wir also fort mit unserem Prinzip, zwischen den Sätzen Zimmermanns die
Werke zu spielen, die er zitiert. Im nächsten ist das einer der „Drei Militärmärsche“
von Franz Schubert. Komponiert nicht, weil Schubert ein großer Militarist war, ganz
im Gegenteil, sondern weil sich vierhändige Klavierwerke am besten verkauften. Die
Nummer 3 mit Maria João Pires und Hüseyin Sermet.

Musik 6
Schubert: Trois Marches Militaires für Klavier zu vier Händen D 733, Nr. 3 6‘11“
M. J. Pires, H. Sermet
M0043779 004

Die dritte Szene, die einzig Schuberts Marsch zitiert, ist überschrieben „Pile, Cotice
(zwei Rüpel) und der Bär.“ Bei Jarry ist freilich noch Ubu im Spiel, mittlerweile –
Erklärung zu langwierig - Finanzmeister: „Ein Bär! O ich armer Mann, ich werde
gefressen. Gott schütze mich! Er stürzt auf mich los. Nein, er schnappt Cotice. Ah,
ich atme auf. (Der Bär stürzt sich auf Cotice, Pile greift ihn mit einem Messer an, Ubu
flieht auf einen Felsen). Zu mir, Hilfe, Herr Ubu! – Ja, prosit! Sieh zu, wie du
zurechtkommst, mein Freund! Ich bete gerade. Jeder wird gefressen, wenn er an der
Reihe ist.“ Und nach viel Kampf und Gebet heißt es: „(Eine Explosion. Der Bär fällt
tot um). Pile und Cotice: Sieg! - Vater Ubu: Sed libera nos a malo. Ist er wirklich tot,
kann ich herunterkommen? - Sobald Sie wollen – (Ubu klettert herunter) Ihr könnt
von Glück reden, wenn ihr noch lebt, so verdankt ihr das der unendlichen Tugend
des Finanzmeisters, der sich angestrengt, abgequält und heiser geschrien hat, um
für euch ein Paternoster zu beten und der mit ebenso viel Mut die geistliche Waffe
des Gebets gehandhabt hat wie ihr die weltliche Waffe. Wir sind sogar noch
weitergegangen in unserer Ergebenheit, denn wir haben nicht gezögert, auf einen
höheren Felsen zu steigen, damit unsere Gebete einen weniger weiten Weg zum
Himmel hätten.“

8
Musik 7
BAZ: Musique…. III 1‘47“
RSO Stuttgart, Ltg. B. Kontarsky
M0482822

Das Radiosinfonieorchester Stuttgart unter Bernhard Kontarsky spielte den dritten


Satz der Ubu-Musik.

Soweit ich sehe, hat sich bislang noch niemand der Mühe unterzogen, die Herkunft
aller Tänze zu bestimmen, aus denen Zimmermann die „Giostra Genovese“, den
Genueser Reigen zusammengesetzt hat, der hier als „Grundschicht“ fungiert. Zu
Anfang des nächsten Satzes ist der Fall jedoch eindeutig.

Das ist ein „Saltarello“, ein Sprungtanz“ von Tylman Susato, der im 16. Jahrhundert
vor allem als Notendrucker tätig war. Noel Cohen leitet die Boston Camerata.

Musik 8
Susato: Saltarello 1‘20“
The Boston Camerata, Ltg. N. Cohen
M0037486 003

Die vierte Szene der Ubu-Musik ist überschrieben “Das Pfuinanzpferd und die
Pfuinanzdiener.” Schon nach fünf Tagen auf Polens Thron entwickelt Ubu
Expansionsgelüste Richtung Osten, wohin er mit dem Pfuinanzpferd reiten will.
Mutter Ubu: „Viel Glück, Herr Ubu!“ Vater Ubu: „Ach, ich hätte beinahe vergessen, dir
zu sagen, dass ich dir die Regentschaft anvertraue. Aber das Finanzbuch nehme ich
mit. Dein Pech, wenn du mich bestehlen wolltest. Ich lasse den Rüpel Giron zu
deinem Schutz zurück. Adieu, Mutter Ubu – Adieu, Vater Ubu, und bring mir ja den
Zaren gut um!“ Das erste Zitat nach Susatos „Saltarello“ entstammt dem
Kammerkonzert mit dem Titel „Dumbarton Oaks“ von Igor Strawinsky, in der
Posaune. Strawinsky folgt hier den Brandenburgischen Konzerten, was an den
vorherigen Satz Zimmermanns anknüpft. Weitere Zitate des vierten Satzes sind
bereits bekannt, Schubert, Wagner und Beethoven. Michael Gielen mit den Kölnern.

9
Musik 9
BAZ: Musique…., IV 1‘20“
KRSO, Ltg. M. Gielen
HR 001000101 – A 001

In seiner dritten Ubu-Farce – „Ubu in Ketten“ - kehrt Alfred Jarry die Rollen um, aus
dem König ist ein Sklave geworden, dem aber erneut alle dienen wollen. Jarrys Ubu-
Stücke sind enorm personenreich, im ersten etwa treten „die ganze polnische und
die ganze russische Armee“ auf. Bei „Ubu in Ketten“ kommen neu hinzu die Herren
Pissembock und Pissedoux; doux steht im Französischen für süß oder sanft. Ihnen
weist Zimmermann eine Pavane zu, ein prunkvoller höfischer Tanz, dessen Name
manche ableiten vom spanischen Wort pavó gleich Pfau. Zimmermann nimmt etwas
von Orlando Gibbons, die „Lord Salisbury‘s Pavane“. Mit Isabelle Sauvuer.

Musik 10
Gibbons: Lord Salisbury’s Pavane 0‘41“
Isabelle Sauveur
M0247633 029

Mit dem gerade gehörten Stück beginnt die fünfte Szene, „Pavane de Pissembock
und Pissedoux“. Unter anderem führt Letzterer bei Jarry eine Gefangenen-Befreiung
durch, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen: „Vorwärts, Kameraden, es lebe
die Freiheit! Wir sind frei zu tun, was wir wollen, selbst gehorchen: wir können gehen,
wohin es uns gefällt, selbst ins Gefängnis. Die wahre Freiheit ist die Sklaverei!“ Es
gibt eben alternative Definitionen. In Zimmermanns Zitat-Montage tauchen hier
Wagners „Siegfried-Idyll“ oder der Luther-Choral „Ein feste Burg“ auf, vermutlich in
triefender Ironie; Zimmermann hat sich öffentlich nie zu seinen Hintergedanken bei
den Ubu-Bruchstücken geäußert. Den Beginn des Zitat-Reigens im fünften Satz
macht Hans Werner Henze, aus dessen „Ode an den Westwind“ Zimmermann im
Tenorsaxophon und später in anderen Instrumenten zitiert. Mit Henze hätte er sich
eigentlich solidarisch fühlen können, denn der wurde von den seriellen Zukunfts-
Musikern genauso abgelehnt wie er selbst. Wäre da nicht die Leidensgeschichte
seiner Oper „Die Soldaten“ gewesen, während Henze zur gleichen Zeit mit seinen
Opern – die Zimmermann für bestenfalls mittelmäßig hielt – die größten Erfolge

10
feierte. Wolfgang Fortner, auch er ein erfolgreicher Opernkomponist, kommt hier
erneut vor. In der Einleitung hatte Zimmermann aus dessen „Sinfonie“ zitiert, hier legt
er zwei Takte desselben Stückes auf die Noten von Henze. Sind schließlich beide
homosexuell, bemerkte er gegenüber einem Schüler. Gleich anschließend der
sechste Satz, nur noch aus der Grundschicht bestehend und betitelt „Wiegenlied der
kleinen Finanzinvestoren, die nicht schlafen können“. Sie denken vermutlich an die
Börsenkurse. Bernhard Kontarsky mit den Stuttgartern.

Musik 11
BAZ: Musique…. V und VI 4‘35“
RSO Stuttgart, Ltg. B. Kontarsky
M0482822

Kommen wir zum Schluss- und Höhepunkt der „Musique pour les soupers du Roi
Ubu“. Der letzte Satz trägt den Titel „Marche du Décervellage“, der
Gehirnauspressungs-Marsch. Hier ist der Bezug zu Jarrys Text eindeutig, bei dem es
sich so anhört (Ubu ist noch König von Polen): „Ich habe die Ehre euch
anzukündigen, dass ich den gesamten Adel vernichten und seine Güter
beschlagnahmen werde. - Die Adeligen: Zu Hilfe! Schrecklich! – Bringt den ersten
Adeligen und gebt mir den Fleischerhaken. Die zum Tode Verurteilten werde ich
durch die Falltür stoßen, sie werden dann in das Groschengrab sinken, wo man
ihnen das Gehirn auspressen wird. Wer bist du, Hundsfott? – Graf von Witebsk –
Wie hoch ist dein Einkommen? – Drei Millionen Reichstaler – Verurteilt! (Er packt ihn
mit dem Fleischerhaken und wirft ihn in das Loch) – Mutter Ubu: Was für ein
primitives Verfahren! – Zweiter Adeliger, wer bist du? - Großherzog von Posen –
Ausgezeichnet. Mehr will ich nicht wissen. Ins Loch mit dir. Dritter Adeliger, wer bist
du? – Prinz von Podolien – Wie hoch ist dein Einkommen? – Ich bin ruiniert – Ins
Loch mit dir für diese schlechte Antwort.“

Nun wird auch das Dies Irae in der Einleitung des Stücks verständlicher.
Zimmermann beschreibt das Werk als „eine Farce, die bieder und scheinbar fröhlich,
dick und gefräßig wie Ubu selbst daherkommt, scheinbar ein gewaltiger Ulk, für den
jedoch, der dahinter zu hören vermag, ein warnendes Sinngedicht“. Und er nennt
den letzten Satz „ein Symbol für den Weg einer freiheitlichen Akademie unter der

11
Regierung eines Usurpators.“ Der Marsch besteht nur noch aus drei Zitaten, die
Renaissance-Tänze haben ausgedient. Das erste ist ein Rhythmus in der Pauke, aus
Berlioz‘ „Symphonie fantastique“, der „Gang zum Richtplatz“. Das zweite ein Akkord
im Klavier aus Karlheinz Stockhausens „Klavierstück IX“; dort 280 mal wiederholt, bei
Zimmermann 631 mal. Das ist nicht sehr häufig, bedenkt man, dass Ubus
Regierungszeit 8374 Jahre gedauert hat, doch häufig genug, um das Gehirn vor dem
Auspressen schon einmal weichzuklopfen und empfänglich zu machen etwa für die
immer gleiche politische Propaganda. Zimmermann schätzte Stockhausen als
Theoretiker, als Komponist weit weniger und erst recht nicht als Mensch mit seinen
Herrschaftsansprüchen in der Neuen Musik. Nicht allein Zimmermann urteilte: „In
der Komponistenrepublik ist Stockhausen ein Usurpator, ein Franz Josef Strauß, um
andere Namen zu vermeiden.“ Das dritte Zitat bedarf keiner Erläuterung, höchstens:
Dieses Klanggebilde begleitete schon den berittenen Angriff des Ku Klux Klan auf
Schwarze im Stummfilm „Birth of a Nation“, den deutschen Luft-Angriff auf Kreta in
der Wochenschau 1941, den Hubschrauber-Angriff auf ein vietnamesisches Dorf im
Film „Apocalypse Now“, mit dem sich dann die Piloten der US-Marine vor ihren
Einsätzen im Golfkrieg 1990 antörnten. Selten war Musik so brutal und bösartig wie
in Bernd Alois Zimmermanns „Gehirnauspressungs-Marsch“. Und nie so
erschreckend aktuell.

Musik 12
BAZ: Musique…VII 4‘10“
KRSO, Ltg. M. Gielen
HR 001000101 – A 001

Das war der Schlussatz der „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ von Bernd Alois
Zimmermann, mit dem Kölner Rundfunksinfonieorchester unter Michael Gielen.
Werner Klüppelholz verabschiedet sich dankend.

12

Das könnte Ihnen auch gefallen