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Die Zeit als kanonbildender Faktor:

Generation und Geltung

ALEXANDER HONOLD (Berlin)

I.

Alles hat seine Zeit, heißt es in dem kanonischen Buch der Bücher. Der Kanon
selbst aber scheint keine Zeit zu haben, oder vielmehr alle Zeit der Welt, da er
ihrem Wandel nicht unterworfen ist. Doch erweist sich die eigentümliche Zeitre-
sistenz, mit der, was einem Kanon zugehört, Moden, Stilwechseln und selbst
Epochenschwellen entzogen bleibt, ihrerseits durchaus an historische Konven-
tionen und Institutionen gebunden: eine Leistung oder Errungenschaft, die man
je datieren und somit relativieren kann. Bringt man bei der Betrachtung kanoni-
scher Autoren, Werke, Ideen deren Zeitabhängigkeit ins Spiel, so demnach nur
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gegen den Kanon, in dem Zeitlichkeit als erklärtes Anathema fungiert, wie um-
gekehrt der Vorgang der Kanonisierung selbst eher zu verstehen ist als ein Auf-
gebot gegen die zehrende Macht der Zeit denn als deren Spätlese am Ende aller
Tage. Nicht Frucht der Evolution, sondern Furcht vor Erosion wäre also das
Wesen und die Möglichkeitsbedingung des Kanonischen.
Zumindest liegt es nahe, Selbstverständnis und Selbstverständlichkeit des Ka-
nons in kritischer Absicht zu konfrontieren mit dem Blick von außen, von einem
Punkt jenseits der kulturellen, geographischen oder historischen Grenzen seines
Geltungsbereichs. Mit und in dem Kanon zu sprechen, verlangt stets den Singu-
lar; den Kanon als Institut zu untersuchen, heißt dagegen, seine Einzigartigkeit
und Überzeitlichkeit in Frage zu stellen, das Selbstverständliche im Gegenteil als
das höchst Unwahrscheinliche zu behandeln und hinter der scheinbaren Perma-
nenz die erheblichen sozialen Anstrengungen zur Herstellung derartiger Dauer-
haftigkeit sichtbar zu machen. l
Nicht um eine pauschale kultursoziologische Entzauberung des Phänomens
überzeitlicher Geltung geht es im folgenden, auch nicht um die Profanierung des

In diesem Sinne plädieren Aleida und Jan Assmann methodisch dafür, das Moment der
Zeitresistenz nicht als gegebenes Attribut des Kanons zu nehmen, sondern »als Ergebnis
einer bewußten und mühevollen Anstrengung« sichtbar zu machen. »Permanenz stellt sich
nicht von selbst her, aber es gibt gesellschaftliche Institutionen, die mit ihrer Herstellung
befaßt sind.« (Aleida und Jan Assmann, »Kanon und Zensur«, in: dies. [Hrsg.], Kanon und
Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation /I, München 1987,7-27, hier: 11.)

Heydebrand, R. V. (Ed.). (1998). Kanon macht kultur : Theoretische, historische und soziale aspekte ästhetischer kanonbildungen.
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Pantheons abendländisch-euro zentrischer Kulturgüter en detail. Eine solche


Strategie wäre ebenso selbstwidersprüchlich wie kontraeffektiv, da nichts so sehr
die Bedeutung eines Kanons unterstreicht wie die Angriffe, die er auf sich zieht.
Eines Beweises bedarf die im Tagungsthema implizierte Feststellung, daß Ka-
nonisierungsprozesse an die Ausübung von kultureller Definitionsmacht und
letztlich auch an politische Herrschaft gebunden sind, ohnehin nicht mehr. Trotz
aller >canon wars<, die im übrigen schon seit jeher und meist bemerkenswert un-
spektakulär geführt werden, existiert ein Konsens über die Relevanz des Um-
kämpften, der weit größer ist als der jeweilige Streitwert. Dem >Prinzip Kanon<
jedenfalls scheinen auch die jüngst in den anglophonen Literaturen ausgefochte-
nen Kontroversen um die postkoloniale Erweiterung, gar Revolutionierung des
Curriculums keinen Abbruch getan zu haben, eher im Gegenteil.2
Die Ausgangsfrage dieses Beitrags zielt auf etwas anderes. Sie verfolgt die Ab-
sicht, die Konstellation von Kanon und Zeitlichkeit nicht als eine von außen her-
angetragene Unvereinbarkeit zu behandeln, sondern als ein Spannungsverhält-
nis, das innerhalb der Kanonisierungsprozesse selbst zu beobachten, ja für diese
sogar konstitutiv ist. Im Kanon wird die Geschichtlichkeit der Werke zugleich
aufgenommen und überschritten. Jeder Kanon setzt gegen die endlos verstrei-
chende Zeit und ihre transitorische Verlaufsform (das >Unwiederbringliche<) die
Überschaubarkeit einer zwar reichhaltigen, aber endlichen Auswahl. Im ersten,
dem theologischen Kanonisierungsprozeß ist dies ein als abgeschlossen betrach-
teter Katalog von heiligen Schriften, in der säkularisierten Form des Kunstka-
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nons eine Sammlung von Artefakten, denen transhistorische ästhetische Geltung


zugeschrieben wird. Diese überzeitliche Geltung kann ihrerseits gesellschaft-
lich-politisch begründet sein (etwa der Kanon einer Nationalkultur) oder imma-
nent durch die Qualitäten der Werke. Die Verbindlichkeit des Kanons muß sich
in jedem Falle behaupten gegen seine eigene Kontingenz, also gegen die Histo-
rizität und Arbitrarität der Kanonbildung selbst.
Zugleich aber ist die Erfahrung der Zeitlichkeit, sowohl im historischen wie im
biologisch-existentiellen Sinne, das generative Prinzip der Kanonbildung: Daß
nichts zeitlos existiert, fördert einerseits die Bilanzierung dessen, was bleiben-
den Wert hat; daß Überlieferungsketten abreißen können und die Kapazitäten des
kulturellen Gedächtnisses begrenzt sind, zwingt zur bewußten Reduktion. Ande-
rerseits: Abgestorben wäre ein Kanon, der sich nicht selbst der Veränderung aus-
setzen würde, der Modernisierung im doppelten Sinne: als Verlängerung der
Auswahl in die jeweilige Gegenwart hinein und als permanente Re-Evaluierung
des Vergangenen, das seine Aktualität neu zu beweisen hat. Der >Kanon-Krieg<
ist demnach auch ein Modernisierungskonflikt - ein Streit darum, ob aus einer
Mode, einer Zeit strömung sich etwas (ein Werk, ein Stil, eine neue Perspektive
auf die Tradition) über den Tag hinaus zu etablieren vermag.

2 So auch die These von Jan Gorak, The making ofthe Modern Canon. Genesis and Crisis
of a Literary Idea, London 1991, 87: »For as long as critics seek to reimagine their whole
field of operations - and the current prominence of literary theory indicates that desire is
at present very strong - they can hardly avoid recourse to some version of canon.«

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Generation und Geltung - die bei den Konzepte dienen der Kennzeichnung
dieses Spannungsverhältnisses von Zeitgebundenheit und Dauer, das in der Ka-
nonbildung die treibende Kraft darstellt. Während der Begriff Geltung an zeit-
lose Vernunftgründe appelliert, für deren Validität es keine Rolle spielen darf,
wann und von wem sie aufgefunden oder nachvollzogen werden - spätestens seit
Kant gehört es zu den erkenntnistheoretischen Pflichtübungen, Genesis und Gel-
tung einer Erkenntnis logisch zu trennen -, evoziert der Generationsbegriff den
Zeithorizont und die notwendige Pluralisierung jedweder kanonischen Verbind-
lichkeit. Wo von Generation die Rede ist, muß das Kommen und Gehen vieler
Generationen bedacht werden. Daß das Leben selbst unter dem Gesetz beständi-
gen Wandels steht, mag eine triviale Fassung dieses Sachverhalts sein - an der
sich freilich die ästhetischen und soziologischen Bemühungen um den Genera-
tionsbegriff die Zähne ausbeißen konnten.
Die folgenden Überlegungen versuchen, teils eher allgemein, teils an konkreten
literarhistorischen Exempeln, den kulturellen Prozessen zwischen diesen Polen Ge-
neration und Geltung nachzugehen, und sie tun dies, jeweils neu um eine Balan-
cierung zwischen Innen- und Außensicht des Kanons bemüht, am Leitfaden dreier
- ihrerseits konträr aufeinander bezogener - Begriffspaare: materielle oder imma-
terielle Existenzform des Kanons, Verlust oder Speicherung des Überlieferten, Gel-
tung aus konventionalisierter Tradition oder kraft individueller Dezision.
Zunächst ist der stille Platonismus auf seiten der überzeitlichen Geltung heraus-
zuarbeiten, demzufolge materiellen Gegenständen, oder sagen wir konkret: Bü-
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chern, eine wesenhaft immaterielle Existenzweise zuerkannt wird. Bücher nicht als
Gebrauchsgegenstände, schnöde Waren oder, neuerdings, selbstbezügliche Medien,
sondern als unsterbliche Werke in irdischer Hülle: das sind für den Hermeneuten
die Gegenstände und Partner seiner Auslegungskunst. Immateriell ist das Fortleben
der Artefakte im Kanon, unter Absehung von den Umständen ihres Produziertseins
wie von denen ihrer rezeptionsseitigen Verfügbarkeit. Die Problematisierung die-
ser Abstraktion von realen Existenz- und Überlieferungs bedingungen führt sodann
zu einem zweiten Gegensatzpaar, das von Kulturwissenschaft und Semiotik in den
letzten Jahren unter dem Stichwort der Memoria wieder ins Bewußtsein gerückt
wurde,3 zu der Opposition von Erinnern und Vergessen, von Aufbewahrung und
Auslöschung. Wenn wider die platonische Einseitigkeit die vergessene Materialität
und Medialität der einzelnen Kanonelemente sichtbar zu machen ist, so gilt dies um
so mehr für den Speicher selbst, der nur durch ständigen Bezug auf seinen Kom-
plementärwert, die tabula rasa, funktionstüchtig bleibt.
Durch die stete Taxierung des Gespeicherten im Hinblick auf die Möglichkeit
des Verlusts oder der Löschung greift eine Art Kanon-Ökonomie in die Überliefe-
rungslage ein, jener Entwertung des Gespeicherten gegensteuernd, die bei fort-
schreitender Kumulation sonst unweigerlich eintreten müßte. Daß kultureller Sinn

3 Vgl. besonders Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsg.), Memoria. Vergessen und
Erinnern, München 1993; Renate Lachmann weist in ihrer Einleitung auf das - semioti-
sche und zugleich ökonomische - Problem der »Regulierung des vorhandenen Zeichen-
haushalts« (XVIII) hin.

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nicht endlos und unbeschränkt akkumuliert werden kann - im Gegensatz zu den


Gebilden, in denen er sich manifestiert -, dürfte ohne weiteres plausibel sein, obwohl
es unserem kustodisch veranlagten Zeitalter schwerfällt, daraus Konsequenzen zu
ziehen. Die Ökonomie jedenfalls ist, gegenläufig zum archivarischen Antrieb, ein
nicht zu unterschätzender Kanon-Faktor, da sie den Wert und Sinn des Überliefer-
ten nicht an sich und ein für alle Mal, sondern aktualiter und für eine bestimmte ge-
sellschaftliche Situation ermittelt. Trotz der überzeitlichen Erstreckung des Kanons
erfolgen die Notierungen kulturellen Werts stets zum jeweiligen Tageskurs.
Indem sie den Zuwachs des Überlieferten mit verschärften Reduktionstenden-
zen pariert, kann die informelle Kanon-Ökonomie die u. a. von Nietzsche gegen
den Historismus vorgebrachte Kritik entkräften, die treu und anhänglich mitge-
schleppte Kette des Vergangenen blockiere die Menschen für Gegenwart und Zu-
kunft. Gleichwohl findet gegenüber den Erbstücken früherer Zeiten niemals ein
Akt bewußter Evaluation statt; ebensowenig kann es einen Gesellschafts- oder
gar Generationenvertrag über den festzusetzenden kulturellen Kanon geben. Die
Last und Übermacht des >immer schon< Vorfindlichen gibt sich so fertig und ab-
geschlossen, als bedürfe sie nicht der Bestätigung durch die Gegenwart. Schon
die hypothetische Gefahr, etwas könne zurückgelassen werden oder verlorenge-
hen, genügt oft, um bei den Zeitgenossen den Eindruck zu erwecken, in einem
Akt bewußter Entscheidung das Überlieferte zu ihrer ureigenen Sache gemacht
zu haben - eine Möglichkeit der Eigenbeteiligung immerhin, die man früher,
eine Spur zu pathetisch, als Aneignung des kulturellen Erbes propagierte.
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>Kanon macht Kultur<, aber wer macht den Kanon? Wer sich zum Kanon ver-
hält, tut dies mit bescheidensten Mitteln: indem er vorfindet, sich wiedererkennt,
je nach Interessenlage die Akzente so oder anders setzt. Veränderungen gesche-
hen dabei nur selten deliberativ oder gar zielgerichtet. Die permanente Rekonfi-
guration des kulturellen Kanons stellt sich weder allein auf der Ebene sozialer
Systeme noch im Bewußtsein einzelner her, sondern in einem Zwischenbereich,
an dem Tradition und Dezision gleichermaßen beteiligt sind. Bei der Frage, wie
ästhetische Übereinkünfte aktiviert und gleichsam hinter dem Rücken der Betei-
ligten transformiert werden, kann wiederum das Generationsparadigma hilfreich
sein, speziell der Prozeß der Ausprägung besonderer Generationsstile, den die
Kunstsoziologie von Mannheim bis Bourdieu zu ihrem Gegenstand gemacht hat.
- Zeit und Kanon: Sie bedürfen einander wohl mehr, als es zunächst den An-
schein haben mag, gerade weil ihr Pakt nur einer liaison dangereuse entsprun-
gen sein kann.

Ir.
»Die Welt kostet Zeit, die Vernunft keine.«4 In dem weiträumigen Gebäude-
komplex, den Irnmanuel Kant der reinen wie der praktischen Vernunft errich-
tete, fanden historische Unwägbarkeiten und soziale Variablen keinen systema-

4 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986,233.

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tischen Ort. Rationalität, so gibt Kants durchaus stiefmütterliche Behandlung des


Historiographischen indirekt, aber deutlich zu verstehen, hat kein historisches
Apriori, sie ist in ihrer unumschränkten Geltung selbst ein Apriori der menschli-
chen Geschichte. Was aber, wenn im Palast der Vernunft plötzlich ein Feuer aus-
bräche? Es war Lessing, der sich diese Frage stellte, mehrfach sogar; bei ihm
brennt es lichterloh im Lehrgehäuse seiner Schriften.
»Ein weiser tätiger König eines großen großen Reiches«, so beginnt eine
Miszelle von 1778, die den schlichten Titel Die Parabel trägt, »hatte in seiner
Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz beson-
derer Architektur. «5 Was sodann entwickelt wird, ist eine analoge Konstruktion
zur sogenannten Ringparabel, eine Gleichniserzählung über die Entstehung der
Heterodoxien in der Welt und über die dringende Erfordernis, diese zugunsten
einer höheren Toleranz des Zusammenlebens zu beenden. Es sind in diesem
Fall nicht drei Ringe, die den Keim der Zwietracht verbreiten, sondern meh-
rerlei Versionen der architektonischen Anlage besagten Palastes. »Man glaubte
nämlich verschiedne alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Bau-
meistern des Palastes herschreiben sollten: und diese Grundrisse fanden sich
mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als
verloren war.«
Beiläufig können wir an dieser Stelle notieren, daß Lessing damit nichts an-
deres skizziert als die für den Kanon so charakteristische Dynamik von peni-
bler Gegenstandskonservierung und drohendem Sinnverlust. Daß verschiedene
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Interpretationen des Grundrisses in Umlauf sind, wird erst zum Problem, als
eines Tages Feuer im Palast gemeldet wird. Auf diese Schreckensnachricht hin
eilt jedermann »nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte, - nach seinem
Grundrisse. >Laßt uns den nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nicht
eigentlicher verbrennen, als er hier stehet!< Und so lief ein jeder mit seinem
Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hülfe zu eilen, einer dem
andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermutlich
brenne.« Es würde, soviel ist klar, über diesen Debatten unweigerlich zur Ka-
tastrophe gekommen sein - wenn Lessing nicht mit dem letzten Satz den Bild-
bereich seiner Parabel zurückgezogen und die Feuersbrunst, einen scheinbar
unmotivierten erzählerischen Haken schlagend, als bloßen Fehlalarm enthüllt
hätte.
Durch diese vielleicht voreilige Entdramatisierung mag ihm entgangen sein,
daß die Retter des Grundrisses, um im Bild zu bleiben, gar keine so schlechten
Karten hatten, wie es der didaktischen Intention der kleinen Erzählung zuträg-
lich gewesen wäre. Ist es doch mindestens ebenso notwendig, das Wissen um
die Struktur einer Anlage zu sichern, wie deren materiellen Bestand zu erhal-
ten. An der von Lessing erzählten Parabel vorbei schieben sich ganz andere
Fragen in den Vordergrund: In welcher Gestalt verbrennt der Palast, um Les-

5 Gotthold Ephraim Lessing, Eine Parabel, Werke, hrsg. Herbert G. Göpfert, 8 Bde.,
München 1970-1979, VIII (1979),117-127, hier: 118; die nachfolgenden Zitate ebd.,
1I9,119f.

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sings bemerkenswerten Komparativ aufzugreifen, denn nun »eigentlicher«? Exi-


stiert sein Grundriß nicht unabhängig von dem Papier, auf dem er eingezeichnet
ist, unabhängig auch von dem Mauerwerk, das ihm materielle Konkretion gab?
Und schließlich: Dient nicht gerade die hypothetische Beschwörung des Feuers
dazu, dieses Eigentlichere des Palastes, seine Idee jenseits von Stein und Papier
herauszuschälen? Es ist die dem Feuer zugeschriebene Abstraktionsleistung von
dem materiellen, medialen Substrat - ein Gedanke, der in Lessings Parabel we-
niger zurückgewiesen als vielmehr abgebrochen wird -, die hier mit dem zuge-
gebenermaßen verkürzenden Etikett des Platonismus belegt wird. Tat Lessing
nicht gut daran, das Feuer in seinem gedachten Palaste gar nicht erst zu riskie-
ren? Und wenn es tatsächlich nicht der Grundriß des imaginären Palastes gewe-
sen wäre, den der Wolfenbütteler Bibliothekarius damit schonen wollte, sondern
das Papier, auf dem er verzeichnet war?
Nach geläufigem Verständnis betrifft jene Qualität kultureller Produkte, die
Gegenstand von Kanonisierungsprozessen sein kann, nur deren Inhaltsdimen-
sion, nicht aber die des Ausdrucks. Wenn jedoch das materielle Substrat der
großen abendländischen Ideen aus diesem oder jenem Grunde >nicht durchhält<,
droht auch für die immateriellen, schwere- und alters losen Gedankengebilde der
Tradierungsfaden abzureißen. Schon aus der Antike sind uns die Verluste be-
trächtlicher Schatzkammern des Wissens durch verheerende Brandkatastrophen
überliefert. Mit den berühmten Bränden berühmter Bibliotheken wäre bald selbst
eine solche zu füllen, vom großgriechischen Alexandria angefangen bis ins bel-
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gische Löwen, wo die Bestände der alten Universitätsbibliothek dem Vandalis-


mus deutscher Truppen zum Opfer fielen. 6
Der Wert der Büchersammlungen, das könnte eine Chronik solch unermeßli-
cher Verluste demonstrieren, liegt nicht im Materiellen allein. Eben deshalb
konnte die brennende Bibliothek zu einem sinnfälligen Begriff dessen werden,
was wir am Kanon haben. Wohl aber ist der ideelle Wert einer Sammlung pro-
portional zu ihrer materiellen Anfälligkeit und Verwundbarkeit, die erst das
Schreckgespenst irreparabler Schäden heraufbeschwört, seien es zufällige oder
auch gewaltsam herbeigeführte. Wie keine andere Einrichtung, wie kein anderes
Medium repräsentieren Bibliotheken mit ihren Beständen die Wissensordnung
und den Erfahrungsreichtum einer Gesellschaft und konservieren sie für die
Nachwelt. Jeder Angriff auf ein derartiges Speichersystem kommt einem An-
schlag auf die geistige Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft im ganzen
gleich, zerstört mitsamt der wohlgeordneten Darstellung der Welt den Schlüssel
zu ihrer Beherrschung.
Wenn es stimmt, daß wir Kanonisierungen meist der Gefahr eines absehbaren
Niedergangs oder Verlusts verdanken,7 so ist für die gegenwärtige Situation des

6 Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Eine Ruine im Krieg der Geister. Die Bibliothek von Löwen
August 1914 - Mai 1940, Frankfurt a. M. 1993.
7 Darauf beruht die von Alois Hahn vorgebrachte These, die Kanonisierungsprozesse als
»ein Reflexivwerden der Traditionen« beschreibt (Alois Hahn, »Kanonisierungsstile«, in:
Assmann, Assmann [Anm. 1], 28-37, hier: 28).

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Kanons die angloamerikanische Debatte um seine allfällige Reform und Erwei-


terung weit weniger alarmierend als eine andere Krisendiagnose: die seit den
60er Jahren proklamierte Devise vom »Ende der Gutenberg-Galaxis«8, die für
den Kanon der abendländischen Neuzeit den Entzug oder mindestens die Ent-
wertung seiner bisherigen medialen Existenzbedingung bedeuten könnte. Ob wir
wirklich bereits definitiv am Ende des Buchdruckzeitalters angekommen sind,
ob dessen Funktionen von anderen Medien übernommen werden können und es
demnach auch einen kulturellen Kanon des Digitalzeitalters geben wird - all dies
mag hier noch dahingestellt bleiben. Bemerkenswert aber ist, daß von dieser me-
dientechnischen Epochenschwelle aus ein Blick zurück auf die bisherige Praxis
geworfen werden kann, der uns lehrt: Der abendländische Kanon war und ist bis
heute eine Bibliothek! Was auch immer über die Jahrhunderte hinweg an großen
Namen, Artefakten oder Gedankengebilden kanonische Geltung erlangte, wurde
organisiert, repräsentiert und tradiert nach dem Muster des Buches und der
Büchersammlungen.
An seinem Beginn war das Buchdruckzeitalter ebenfalls durch eine solche, mit
der gegenwärtigen gleichsam >korrespondierende< Medienschwelle gekenn-
zeichnet, die für uns insofern interessant ist, als sie dem Platonismus des Buches
enormen Vorschub leistete. Die damalige markierte die (hermeneutisch und re-
zeptionsästhetisch entscheidende) Differenz zwischen der vorneuzeitlichen Welt
autographischer Unikate, als materieller und ideeller Verlust noch untrennbar
miteinander verbunden waren, und dem Zeitalter der drucktechnischen Repro-
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duzierbarkeit, seit dem die prospektive Kommunikation mit der Nachwelt mit
gutem Grund darauf hoffen darf, daß von möglichst vielen Exemplaren wenig-
stens einige ihren Weg durch die Zeitläufte finden werden.
Diese Differenz ist erheblich. Sie zeigte sich in unserem Jahrhundert dort am
dramatischsten, wo mit geradezu exorzistischer Besessenheit ein Negativ-Kanon
exekutiert werden sollte: in der nazistischen Bücherverbrennung, mit der sich die
Herrschaft der Gewalt volkstümlich zu machen suchte. Dieses literarische Po-
grom ist, darauf hat Leo Löwenthai hingewiesen,9 für das Nachdenken über den
Kanon ein Präzedenzfall und experimentum erucis, das wie schon manche seiner
Vorläufer den Prozessen der Kanonbildung weniger fern steht, als es die säuber-
liche Trennung von Barbarei und Zivilisation wahrhaben möchte. An diesem
historischen Exempel hat auch Günther Anders in den 50er Jahren seine Beob-
achtung illustriert, daß den seriengefertigten Produkten des zwanzigsten Jahr-
hunderts eine neuartige und recht gespenstische Form von Unsterblichkeit in-
newohne: die der »industriellen Re-Inkarnation«. Die Bücherverbrennung sei,
trotz ihrer symbolischen Vorbedeutung für den späteren Völkermord, als Ritual
selbst zur Sinnlosigkeit verurteilt gewesen. Und zwar nicht, weil die Nazis der

8 So die in Verlängerung der Analysen Marshall McLuhans von Norbert Bolz erneut vorge-
tragene Formel (v gl. Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommu-
nikationsverhältnisse, München 1993).
9 Leo LöwenthaI, "Calibans Erben. Bücherverbrennungen und kulturelle Verdrängungsme-
chanismen«. in: Assmann. Assmann (Anm. 1),227-236.

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meisten Autoren dieser verbrannten Bücher glücklicherweise nicht mehr habhaft


werden konnten, sondern weil das Verbrennen einiger Exemplare der in Hun-
derttausender-Auflagen verbreiteten Werke eines Feuchtwanger oder Thomas
Mann als eine Geste von absurder Unzulänglichkeit zu durchschauen war. Deren
Schöpfungen waren, einmal gedruckt, nicht wieder aus der Welt zu schaffen,
nicht einmal mehr aus Deutschland. Denn »inmitten der johlenden Menge, die
den Scheiterhaufen damals umtanzte, tanzte ungesehen eine leichte, den Flam-
men nicht erreichbare Schar von Spöttern: die der Buchmodelle, die >Verbrennt
nur unsere Exemplare< riefen, >verbrennt sie nur! Uns verbrennt ihr nicht!< - um
dann in alle Winde zu zerstieben. - Und heute leben die angeblich Verbrannten
von Neuem in abertausenden von Exemplaren.« 10
Die Welt, so verallgemeinerte Anders seinen Befund, sei »platonoider«
denn jemals zuvor, »weil sie sich aus Dingen zusammensetzt, die zum größten
Teil genormte Serienprodukte sind; die als Imitationen oder Abdrücke von
Modellen, blue prints oder Matrizen das Licht der Welt erblickt haben; ihr Da-
sein also Ideen verdanken.« Der >Platonismus der Bücher< gab 1933 zur Ent-
warnung jedoch keinen Anlaß. Daß die Bücherverbrennung im Konkreten nur
einem Haufen bedruckten Papiers etwas anhaben konnte, war in der Semantik
dieses Aktes nachgerade kalkuliert; seine in pragmatischer Hinsicht offenkun-
dige Sinnlosigkeit unterstrich um so deutlicher die symbolische Stoßrichtung:
die eines metonymisch zu verstehenden Standgerichts in ahsentia. Bestimmte
Autoren stellvertretend zu setzen für ein Korpus von Schriften, so daß die
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Nennung des Autornamens als Oberbegriff eines ganzen Werkkomplexes oder


einer literarischen Strömung fungieren kann, ist in der bibliothekarischen Ord-
nung wie in der Kanonbildung ein althergebrachtes Prinzip. Der in Sichtweite
von der Berliner Universität und Staatsbibliothek errichtete Scheiterhaufen
diente höchstens oberflächlich der vermeintlichen >Säuberung< deutscher aka-
demischer Institutionen. Seine eigentliche Kriegserklärung war auf die Dis-
kriminierung intellektueller Schreib- und Denkhaltungen gerichtet, die ihrer-
seits kaum ein anderes Merkmal gemeinsam hatten als das durch diesen
Negativ-Kanon zusammengezwungene Schicksal der öffentlichen Verbren-
nung.
Der Gedanke bleibt dennoch eine Zumutung, daß bei diesem Feuer ein nega-
tives Abziehbild des Kanonprinzips am Werke war. Um ein anderes, ein fiktio-
nales Beispiel anzuführen, das nicht mit historischer Schuld beladen ist, sei - im
Sprung quer durch die Jahrhunderte - als Gegenstück eine Szene zu Beginn von
Cervantes' Don Quijote betrachtet, die Bücherverbrennung im sechsten Kapitel
des ersten Bandes. Nach der ersten, präludierenden Ausfahrt, die dem stolzen
Rittersmann eine gewaltige Tracht Prügel bescherte, klagen seine Nichte und
seine Haushälterin dem Dorfpfarrer ihr Leid. Sie sind sich sicher, »daß diese ver-
wünschten Ritterbücher, die er hat und so regelmäßig zu lesen pflegt, ihm den

10 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, I: Über die Seele im Zeitalter der
zweiten industriellen Revolution, Nachdr. d. 7., unveränd. Aufl., München 1987, 51; das
nachfolgende Zitat ebd., 52.

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Verstand verdreht haben«.ll Also inspiziert der Pfarrer, unterstützt durch den
Barbier, besagte Büchersammlung, in der mit Recht die Ursache von Don Qui-
jotes verblendetem Abenteurerturn vermutet wird. Da finden sich mehr als hun-
dert Bände, allesamt stattlich in Leder gebunden. Die Nichte des Bibliomanen ist
fest entschlossen, mit ihnen kurzen Prozeß zu machen: » ... es ist kein Grund, ir-
gendeines zu verschonen; denn sie alle sind die Unheil stifter gewesen. Am be-
sten wird es sein, sie zum Fenster hinaus in den Hof zu schleudern, sie zu einem
Haufen zu schichten und Feuer an sie zu legen«.12
Niemand widerspricht diesem Vorschlag, denn der Besitzer der prächtigen
Sammlung selbst ist noch unterwegs; nur eine kleine Korrektur wagt der Dorf-
pfarrer anzubringen, indem er auf einer Prüfung des Einzelfalls besteht. So nimmt
der Barbier einen schweren Folianten um den anderen aus dem Schrank und ver-
liest mit lauter Stimme Autor und Titel. Immerhin, das Stammbuch der Ritterge-
schichten, der Amadis von Gallien, findet Gnade und Schonung, denn, so der en-
ergische Protest des Barbiers, es sei »das beste aller Bücher, die in dieser Art
verfaßt worden«. Doch allzu viele Ausnahmen werden hernach nicht mehr ge-
macht, »und ohne sich am Ende mehr mit dem Durchsehen von Ritterbüchern
langweilen zu wollen, wies der Pfarrer die Haushälterin an, sie solle alle die
großen Bände nehmen und sie in den Hof werfen.« 13 Eines davon freilich fällt
genau zu den Füßen des Barbiers nieder, den das Verlangen überkommt, zu sehen,
von wem es sei: die Geschichte des berühmten Ritters Tirante des Weißen. »>Helf
mir Gott<, sprach der Pfarrer mit lautem Aufschrei. >So wäre denn Tirante der
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Weiße auch hier? Gebt mir ihn her, Gevatter, denn ich meine, ich habe in ihm einen
Schatz von Vergnügen und eine Fundgrube von Zeitvertreib gefunden.<<< 14
Die Faszination des Buches erweist sich als derart mächtig, daß selbst in der
Seele des gestrengen Inquisitors die Erinnerung an glückliche Stunden der Lektüre
wiederkehrt. Dieses Beispiel belegt nicht nur die These vom Negativ-Kanon, der
bei vielen Vorfällen systematischer Verfolgungen und Zerstörungen als Legitima-
tion herhalten mußte. Das Feuer, das der Literatur hier im Namen des gesunden
Menschenverstandes droht, hat durchaus einen positiven Nebensinn, denn es er-
hellt drastisch die geäußerte Vermutung, daß das Moment des Verlustes für die Ka-
nonbildung überhaupt einen bedeutsamen Faktor darstellt; und es erinnert an die
den kanonisierten Werken zugesprochene Fähigkeit, den stets >konservativen< Tu-
genden bloßer Überlieferung zum Trotze selbst ein lebendiges Feuer zu bewahren.

11 » ... que estos malditos libros de caballerfas que el tiene y suele leer tan de ordinario le han
vuelto eljuicio« (Miguel de Cervantes, Ellngenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha,
hrsg. John Jay Allen, Madrid 1983, 114 f.; dt.: Der sinnreiche Junker Don Quijote von
der Mancha, München 1979,51).
12 » ... no hay para que perdonar a ninguno, porque todos han sido los daiiadores; mejor sera
arrojarlos por las ventanas al patio, y hacer un rimero dellos, y pegarles fuego« (dt. Ausg.:
54/sp.: 117).
13 »Y sin querer cansarse mas en leer libros de caballerias, mand6 al ama que tomase todos
los grandes y diese con ellos en el corral.« (57/122)
14 »- jValame Dios! - dijo el cura, dando una gran voz -. jQue aquf este Tirante el Blanco!
Dadmele aca, compadre; que hago cuenta que he hallado en el un tesoro de contento y
una mina de pasatiempos.« (58/122)

Heydebrand, R. V. (Ed.). (1998). Kanon macht kultur : Theoretische, historische und soziale aspekte ästhetischer kanonbildungen.
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Die Zeit als kanonbildender Faktor: Generation und Geltung 569

III.

Der Eintritt Don Quijotes in die Weltliteratur beginnt mit einem Autodafe der
Bücher. Für Cervantes bietet die skurrile Inventur zeitgenössischer Populärlese-
stoffe die Möglichkeit, seinen Roman gegenüber der literarischen Tradition und
ihren herausragenden Protagonisten zu profilieren,15 ohne selbst für die ausge-
teilten Wertungen haftbar zu sein. Die Aufzählung und Ausmusterung namhafter
Ritter- und Schäferromane erkennt diesen Vorbildern allererst kanonische Dig-
nität zu - um den Preis allerdings, die von ihnen begründeten Formen zu einem
abgeschlossenen, nicht mehr innovationsfähigen Textkorpus zu verdinglichen.
Es sind eben >nur< Bücher, die hier zur Debatte stehen, die als weiterhin mögli-
che Denk- und Sprachhaltung, gar als aktuelle Lebensform zu verstehen eine pa-
thologische Fehlrezeption bedeuten würde. Indem er Ritter- und Schäferge-
schichten als entpragmatisierte Sujets der literarischen Überlieferung auftreten
läßt, transformiert Cervantes die Außengrenze der literarischen Fiktion in eine
Binnengrenze: Literatur wird zu einer im literarischen Text selbst darstellbaren,
kontingenten Größe, die dem wirklichen, und d. h.: >prosaischen< Leben gegen-
übergestellt wird. 16 Die ungeheuerlichste der Fiktionen aber ist diese, innerhalb
ihrer selbst eine Trennungslinie zwischen Fiktion und Realität ziehen zu können.
Wie wir wissen, hat die Austreibung des Ritter- und Schäfergeistes aus Don
Quijotes Bücherzimmer den gegenteiligen Effekt. Zunächst einmal für den
Protagonisten selbst, der dadurch lernt, auch ohne das materielle literarische
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Substrat seiner Phantasmagorien auszukommen; die Riesen, Ungeheuer und


fahrenden Rittersleute lassen sich nun, da das deutlichste Kennzeichen ihrer
Artifizialität gelöscht ist (ihr Status als bloße Bücherwesen), erst recht in die
prosaische Alltagswelt projizieren. Daß diese Bücherwesen von platonischer
Zählebigkeit sind, bringt gerade der Scheiterhaufen ans Licht. Doch wird man
die Szene und ihre Folgen keinesfalls als dessen Apologie mißverstehen oder
auch nur als Indiz nehmen dürfen, Cervantes habe die immaterielle und insofern
idealisierungsfähige Dimension literarischer Fiktionen auf Kosten ihrer materia-
len und medialen Aspekte bevorzugt. Was sich immerhin feststellen läßt, ist,
daß Don Quijote sich vom Fundus seiner als unzeitgemäß gebrandmarkten Haus-
bibliothek emanzipiert, indem er ihren Kanon internalisiert und mit dessen Ge-
schöpfen seine Mit- und Nachwelt zu reanimieren versucht. Don Quijote bietet,
als ein extravertierter Anachoret des Goldenen Zeitalters, den Zeitläuften selbst
die Stirn, weil er in einem Kanon lebt, der ihm die Welt bedeutet. Was er der Lek-
türe verdankt, ist transportabel und ohne weiteres in jedweder Umgebung rein-
stallierbar.

15 Diese Reflexion und Überwindung der Bezugnahme auf Vorbilder hat Harold Bloom als
wesentlichen Impuls der ästhetischen Wertgewinnung herausgestellt, zuletzt in seiner
apologetisch auftretenden Schrift The Western Canon. The Books and School ofthe Ages,
New York 1994.
16 So jedenfalls verläuft, über Hegel und Lukacs, eine Hauptlinie der Interpretation, die in
der Entgegensetzung von enthusiastischem Subjekt und der Sachlichkeit seiner gesell-
schaftlichen Umwelt den Grundkonflikt des neuzeitlichen Romans erkennt.

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570 Alexander Honold

Für Kanonisierungsfragen und insbesondere deren inhärenten Zeitfaktor ist


Don Quijote in dreierlei Hinsicht ein Lehrstück. Einmal darin, wie vorgefundene
literarische Genres in ihrer Normativität vehement abgestoßen, im Gegenzug
aber als Kanon und Sinnhorizont des eigenen Weltentwurfs weitergeführt, ja
universalisiert werden; zum zweiten präfiguriert der Roman, sicherlich nicht als
erster, die gegenwärtig sich großer Beliebtheit erfreuende Idee von der >Besten-
liste<, hinter der nichts anderes steckt als die Einsicht, daß man den Kanon >mit-
nehmen< kann - in Form von Büchern oder Kunstgegenständen, als Gedanken-
gut oder auch nur als eine Art Rangliste mit der Hierarchie des Wichtigen,
Bewahrenswerten, zeitlos Aktuellen. Zum dritten schließlich demonstriert die
besprochene Szene, daß Kanonbildungen kultur- wie lebens geschichtlich einge-
bunden sind in akute Situationen des Umbruchs, in denen ein äußerer Zwang die
Inventur dessen dringend gebietet, was mitzunehmen oder zurückzulassen ist.
Diese Inventur ist selbst ein kurrentes literarisches Thema, das es ermöglicht,
den jeweils vorausgesetzten Hintergrund an literarischer Tradition und deren
Vergänglichkeit gleichermaßen ins Bewußtsein treten zu lassen - nicht nur, wenn
es bereits brennt, aber dann erst recht.
Walter Benjamins Prosastück Ich packe meine Bibliothek aus stammt aus dem
Jahr 1931, ist also noch vor der eigentlichen Emigration und Fluchterfahrung
entstanden, die ihn schließlich das Leben kostete. Gleichwohl reflektiert, der hier
vom Auspacken der Bücher aus ihren Transportkisten erzählt, auch den komple-
mentären Vorgang, die geistige Habe zu bündeln und mit ihr unter dürftigsten
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Umständen >überwintern< zu müssen. Was im Regal aufgereiht einen fraglosen,


wohlgesicherten Bestand bildete, kommt in dieser kleinen Betrachtung verein-
zelt in den Blick, wird auf seine Geschichte, seine Brauchbarkeit hin geprüft;
manches erfährt gerade darin sein »Jetzt der Erkennbarkeit«, offenbart bei dieser
umherschweifenden Besichtigung erst seine wirkliche Bedeutung. »Was drängt
nicht alles an Erinnerung herbei, hat man sich einmal in das Kistengebirge bege-
ben, um die Bücher im Tag- oder besser im Nachtbau aus ihm herauszuholen.
Nichts könnte die Faszination dieses Auspackens deutlicher machen, als wie
schwer es ist, damit aufzuhören.«17 Wie schon dem Gespann von Barbier und
Pfarrer bei Cervantes immer wieder Bücher in die Hände fielen, die dann doch
der Schonung für wert befunden wurden, so trifft der Sammler hier unversehens
auf besondere Stücke, die ihn zwingen, sich intensiver mit ihnen zu beschäftigen
und die Prozedur des Packens fahrenzulassen.
Von einer ähnlichen Situation im Stockholmer Domizil Bert Brechts, die schon
den deutlichen Stempel von Exil und Verfolgung trägt, berichtet in fiktiver Form
Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands. In den drei Bänden dieses weit ausgrei-
fenden Romans hat die politische Geschichte von Faschismus, Widerstand und
Exil ihren Niederschlag gefunden, angetrieben aber ist die Erzählung von einem

17 Walter Benjamin, »Ich packe meine Bibliothek aus«, in: ders., Gesammelte Schriften,
unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershorn Scholem hrsg. Rolf Tiedemann, Her-
mann Schweppenhäuser, IV: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, hrsg. Tilman
Rexroth, Frankfurt a. M. 1972,388-396, hier: 394 f.

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Die Zeit als kanonbildender Faktor: Generation und Geltung 571

genuin ästhetischen Impuls zur rettenden Kritik der kulturellen Überlieferung.


Zu den auffallendsten - von Kritikern häufig als unkünstlerisch beanstandeten -
stilistischen Besonderheiten des Werks gehört das Verfahren der schier endlos
reihenden Aufzählung von Personen, Institutionen oder Schauplätzen. 18 Dieser
Katalogstil folgt einem Ethos der möglichst vollständigen Rekonstruktion und
Beschreibung, mit dem Ziel, nicht nur die Spuren längst vergessener historischer
Akteure zu erfassen, sondern auch die der Bücher und Kunstwerke, welche auf
die politischen und ästhetischen Positionen jener Akteure besonderen Einfluß
hatten oder gehabt haben konnten. Eingebettet in diese Arbeit des Aufbewahrens
ist auch die Episode der überstürzten Abreise Brechts aus Lidingö, die eine im
doppelten Sinne zeitabhängige Version des Motivs der bedrohten Bibliothek dar-
stellt. Die Zeit des näherrückenden Krieges diktiert das Tempo einer eilenden,
bedrängten Durchmusterung - ein Umgang mit dem Bestand, der dem gelasse-
nen Gestus des Sammlers, wie ihn Benjamin beschrieben hat, entgegengesetzter
nicht sein könnte.
Die Durchsicht und Auswahl der wenigen mitzunehmenden Bücher, das ist
die eigentliche Stunde des Kanons. »Erwogen wurde jetzt nur, was Brecht auf
die Reise mitnehmen konnte. In eine schwarze Seemannskiste gelegt wurden
die wichtigsten Manuskripte, Notizblätter und Journale, sowie eine äußerst ge-
sichtete Auswahl von Büchern.« 19 Es folgt in unverbundener Reihung der Ka-
talog dieser äußerst gesichteten Auswahl, deren Aufzählung dennoch mehrere
Seiten füllt, und weit mehr als eine Seemannskiste. Ihre Parade wird immer
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wieder durch räsonierende Bemerkungen unterbrochen, jeder Titel muß seine


Anwartschaft auf einen Platz im Notgepäck verteidigen: »Brecht vergaß zeit-
weise die Panik des Exodus, begann zu lesen ... Immer wieder zögerte er, ...
wollte erklären, was ihn mit diesem und jenem Buch verband, wollte zitieren,
Rufe aber trieben ihn zur Eile an.« Es ist kein selbstzufrieden sich ausbreiten-
der Chronistenfleiß, wenn Namen um Namen, Titel über Titel seitenlang
Revue passieren; im »Augenblick der Gefahr« (Benjamin) erhalten die aufge-
zählten Namen den Charakter einer Anrufung, die ihnen, bei Strafe des
Zurücklassens, die Dringlichkeit und Unentbehrlichkeit gerade ihres Beitrages
abverlangt.
Das Bewußtsein des gefährlichen Augenblicks erhöht den Einsatz, schärft die
Kriterien und schafft doch auch Raum und >Anfälligkeit< für unerwartete Er-
kenntnisblitze und Momente der Kontemplation. Man kann nicht umhin, in die-
ser historisch datierten Packszene, die ohne die Beglaubigung des Authentischen
auskommt, auch eine Studie darüber zu sehen, wie zu lesen sei. Die Musterung
bedeutet nicht in erster Linie Reduktion, sondern Versammlung, Zusammen-
kunft, Geistergespräch, bei dem etwas Neues entsteht, nie gesehene Querverbin-

18 Vgl. dagegen die positive Würdigung dieses Prinzips bei Peter Bürger, »Über die Wirk-
lichkeit der Kunst. Zur Ästhetik in der Ästhetik des Widerstands«, in: Alexander Stephan
(Hrsg.), Die Ästhetik des Widerstands, suhrkamp taschenbuch 2032, Frankfurt a. M.
1983,285-295, hier: 293.
19 Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, dreibändige Ausgabe in einem Band, Frank-
furt a. M. 1983, H. 312; die nachfolgenden Zitate ebd., 314, 315.

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dungen, überraschende Unverträglichkeiten, im ganzen ein verdichtetes Bild der


Arena kultureller Deutungskämpfe.
Weder zufallsbedingte Erosion noch bewußte Auswahl allein herrscht in die-
ser ad hoc gebildeten Sammlung. Erst die Zerreißprobe, die zwischen Überlie-
fertem und Aktualität eintritt, läßt etwas entstehen, das als subjektiv gefärbte
Version eines Kanons gelten darf. Wenn es auch die >Jetztzeit< ist, zumal in ihrer
akuten, auf die Spitze getriebenen Form des gefährlichen Augenblicks, welche
den Raum schafft für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Bildung jener
Überlebens-Kooperative, die man Kanon nennt, dann folgt daraus nicht, daß der
im Kanon mitgeführte Anspruch auf Zeitunabhängigkeit hinfällig und von vorn-
herein erledigt wäre. Aus der Notzeit geboren, verdankt er seine Überlebens-
fähigkeit doch dem Bezug auf ein Dauerndes, das über den Okkasionalismus der
jeweiligen Forderung des Tages hinausweist. Der Impuls der Rettung bzw. der
rettenden Kritik, wie er besonders in Walter Benjamins kulturhistorischen Stu-
dien und ihrer impliziten Kanonbildung zu beobachten ist (in expliziter Form
dann in seiner Briefanthologie Deutsche Menschen), kann seine überschießende,
die Krise und Katastrophe überschreitende Energie nur in der Reklamation
ästhetischer Konstanten gewinnen.
Der Kanon ist stets Prozeß und Resultat zugleich; das macht den Kern jener
prekären Spannung aus, auf deren Kennzeichnung die Exposition des Begriffspaa-
res von Generation und Geltung abzielte. Einer historisch induzierten Auswahl ist
die Aufgabe und der Anspruch ins Stammbuch geschrieben, mit ihrer Geltungskraft
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die eigene Herkunft zu negieren. Die Verwandlung von Genesis in Geltung gleicht
einer Münchhauseniade der unerreichbaren Selbstüberschreitung. Der Kanon ist
mit einer Kontingenz geschlagen, die er abstreifen und sogar abstreiten muß. Die-
ses Dilemma wird nicht gelöst, sondern lediglich transponiert mit dem Aufkom-
men des Begriffs des Klassischen, der, wie Hans Ulrich Gumbrecht für den Be-
reich der französischen Kultur gezeigt hat, dem des Nationalkanons als Derivat
und Substitut folgte,20 wobei der Antagonismus beider Prinzipien wohl geringer
zu veranschlagen ist als ihr äquivalentes >Leistungsangebot<. Noch in Baudelaires
Definition der Moderne, der kanonisch gewordenen Bestimmung des Nichtkano-
nisierbaren, welches vollständig im Zeitmodus des Vorübergehens aufgeht, selbst
innerhalb dieser Ästhetik des Transitorischen ist das Transhistorische als Bezugs-
größe wirksam, als der dem Aktuellen komplementäre >Ewigkeitspol<,21 dessen
Inanspruchnahme erst die Legitimation ästhetischer Urteile ermöglicht.
Es scheint also, daß in diesem Spannungsverhältnis nur der generative Pol ge-
genüber Zeit und Geschichte anfallig ist; wie aber könnte die einmal eröffnete
Liste des Bewahrenswerten je zum Abschluß gelangen? Ein Blick zurück auf den
Urtyp dieser Art von Kanonbildung zeigt, daß wir es dabei mit dem Problem des

20 Hans Ulrich Gumbrecht, »>Phoenix aus der Asche< oder: Vom Kanon zur Klassik«, in:
Assmann, Assmann (Anm. 1),284-299.
21 »La modernite, c'est le transitoire, le fugitif.le contingent, la moitie de l'art, dOn! l'autre
moitie est !'eternel et l'immuable.« (Charles Baudelaire, »Le Peintre de la vie moderne«
[1863], in: ders., (Euvres comp!etes, 2 Bde., hrsg. und komm. Claude Pichois, Paris 1975,
H, 683-724, hier: 695).

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Beobachterparadoxons zu tun haben. Die erste Gestalt, die der Kanon im Sinne
des Speichers und Archivs annimmt, ist die der Arche Noah. Ihre Ausgangslage
ist ebenso klar wie dramatisch: Vor der großen reinigenden Flut, mit der Gott
seine Schöpfung zu strafen gedenkt, gibt er dem selbständigsten und labilsten
unter seinen Geschöpfen Gelegenheit, eine regenerationsfähige Musterkopie
alles bisher Dagewesenen zu ziehen und in Sicherheit zu bringen (noch die Da-
tensicherung des Computerzeitalters bedient sich vergleichbarer Verfahren). Die
Arche Noah ist mithin das erste Speichersystem und zugleich eine Präfiguration
dessen, was wir als Kanon bezeichnen: eine aus früheren Zeiten in die Gegen-
wart tradierte Auswahl des Wichtigen und Wertvollen, vielleicht aber auch nur
zufallsbedingt oder gnadenhalber Geretteten, wer weiß.
Die Bibel indes vergißt nicht, eine in diesem Zusammenhang selten beachtete,
aber nicht unwesentliche Frage aufzuwerfen und sogleich zu beantworten. Wer
wird am Ende, wenn Noahs schwimmender Kasten vollzählig bestückt ist, von
draußen die Tür schließen? Der Mensch nämlich kann dies nicht, kann nicht zu-
gleich Mittelpunkt des Lebenshorizontes sein, den es zu retten gilt, und Herr des
Kanons, der die Sammlung am Ende für vollständig erklärt und sie abdichtet
gegen jene Sintflut, die in sprichwörtlicher Konsequenz zu folgen hat. Natürlich
ist es Gott selbst, der die Luke schließt;22 solche theologisch intrikaten Fragen,
die das Eingreifen des extramundanen Gottes in seine Schöpfung betreffen, las-
sen sich nicht anders als in anekdotischer Form überspielen.
Unter den Auspizien moderner Unübersichtlichkeit, für die diese persönliche,
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metahistorische Schöpferinstanz wohl nicht mehr verantwortlich zeichnet, stellt


sich das Problem der Abschließbarkeit in ganz anderer Schärfe. Die Zeitkoordi-
naten eines Kanons sind fremdbestimmt und selbstbezogen zugleich, die eines
historisch induzierten und eines geschlossenen Systems, der Arche Noah vor
allem darin gleich, daß es seinen Umweltbezug zunächst einmal kappen muß, um
überleben zu können. Irgendwann aber kommt, um den Vergleich noch ein Stück
weiterzutreiben, auch für den Kanon der Moment, in dem es nötig wird, die Luke
wieder zu öffnen und der zeitweilig sistierten Fortentwicklung der Artenvielfalt
ihren erforderlichen Freiraum zurückzuerstatten.
Für die Kanonbildung sind Abschottung und Öffnung gegenüber dem Lauf der
Zeit unvermeidliche und sich wiederholende Vorgänge, zuweilen in so rascher
Folge, daß sich den Beteiligten und Beobachtern solcher Kanonisierungs- und De-
kanonisierungsprozesse die Frage nach einem Rhythmus bzw. einer Regularität
der Vorgänge aufdrängt - oder, im Gegenteil, ihnen aufgrund der eigenen Invol-
viertheit die Orientierung in der Permanenz des Wandels gänzlich verlorenzuge-
hen droht. Angesichts der erheblichen Auswirkungen, die Kanonverschiebungen
für die Definition individueller wie kultureller Identität haben, scheint eine nähere
Betrachtung der Frage angebracht, ob und wie diese beiden Phänomene der >Ge-
neration< zusammenhängen - das kontingente Schicksal des Kanons mit dem der
ebenfalls kontingenten je eigenen Lebenswelt und Lebenszeit.

22 » ••• und sie gingen hinein, wie denn Gott ihm geboten hatte; und der Herr schloß hinter
ihm zu.« O. Mos. 7,16)

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574 Alexander Honold

IV.

Als Walter Benjamin zu Anfang der 30er Jahre in der Frankfurter Zeitung eine
Folge von »Deutschen Briefen« vorstellte und kommentierte, tat er dies, einem
damals unpublizierten Einleitungsentwurf zufolge, um seinen Lesern »das Ant-
litz eines >geheimen Deutschland<<< vor Augen zu führen und gegen jene Kräfte
zur Geltung zu bringen, »die, lärmend und brutal, ihm öffentliche Wirksamkeit
verwehrten und zur geheimen es verurteilt haben.«23 Die dem Georgekreis ent-
lehnte Devise des geheimen Deutschland wurde dabei nicht im Sinne des
Elitären in Anspruch genommen, sondern in jenem des Unabgegoltenen - ein
Gegenkanon zum herrschenden Blick auf die deutschen Klassiker. Die Buchaus-
gabe wenige Jahre später konnte selbst nur noch als Kassiber ihr Publikum er-
reichen; anstelle des einleitenden Vorworts läßt Benjamin darin ein Schreiben
Goethes an Zelter zu Wort kommen, das er, außerhalb der chronologischen
Reihe, als vorausgreifendes Epitaph der bürgerlichen Epoche den Dokumenten
ihrer gescheiterten Hoffnungen voranstellt. »Reichtum und Schnelligkeit ist was
die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten,
Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es worauf
die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der
Mittelmäßigkeit zu verharren ... Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung
halten in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letz-
ten sein einer Epoche die sobald nicht wieder kehrt«.24
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Das Bewußtsein, den >Letzten einer Epoche< anzugehören, konnte bei den Ge-
nerationen, deren prägende Erfahrungen zwischen Jahrhundertwende und Er-
stem Weltkrieg lagen - in der Spanne etwa, die von George und Hofmannsthai
bis zu Benjamin selbst reicht -, auf große Empfänglichkeit rechnen. Schon auf
phänomenaler Ebene waren jene technischen Armaturen und Implantate, die als
»Fazilitäten« die menschlichen Fertigkeiten zunächst unterstützen, dann »über-
bilden« und schließlich deren Verdrängung und Verkümmerung zur Folge haben
sollten, im Grunde erst nach dem rasanten Industrialisierungsschub der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts greifbare Wirklichkeit geworden. Was aber noch
stärkeres Gewicht besaß, war die in Goethes Diktum gleichfalls angedeutete Vor-
stellung einer Beschleunigung ohnegleichen, die umfassende Änderungen der
Lebensgrundlagen unterhalb des Generationenrhythmus zur Folge hatte. Im
Falle Goethes dagegen konnten Werk und Existenz noch als Muster für betont
>unrevolutionäre< Metamorphosen im biologischen Gleichklang gelten.
Für die Modeme sollte sich eine Form der Beschleunigung als konstitutiv er-
weisen, die nicht mehr nur an den Nahtstellen des Übergangs und Epochen-
wechsels spürbar war, sondern auch die Vorstellung stabiler, extensiver Zustände
zwischen diesen Nahtstellen nicht bestehen ließ. Übergänge ohne zwischenzeit-
liche Ruhephasen, also >Übergängigkeit< pur: das war es, was Baudelaire als

23 Benjamin, Gesammelte Schriften, IV (Anm. 17),945.


24 Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799-1832, hrsg. Hans-Günter
Ottenberg und Edith Zehm, I, München 1991, 851 (Brief vom 6. 6. 1825); leicht abge-
wandelt zitiert bei Benjamin: Gesammelte Schriften. IV (Anm. 17), 151.

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Die Zeit als kanonbildender Faktor: Generation und Geltung 575

qualitativ neue Dimension in der Temporalität der Modeme erfaßt und mit dem
Begriff des Transitorischen belegt hatte. Was aber bedeutete dieser umfassende
Wandel, als dessen einzige Gesetzmäßigkeit die der Beschleunigung erkennbar
war, für die dieser Dynamisierung Ausgesetzten?
Die Fin-de-siecle-Generation war die erste, die bereits in ihrer Jugend den Ent-
zug zuvor fragloser Lebensgrundlagen und Perspektiven zu verspüren bekam,
noch ehe sie in deren Übernahme hineinwachsen konnte; die erste auch, die just
aus dieser Lage eine Haltung, vielleicht sogar eine Waffe zu schmieden verstand.
Als die ihnen gemäße Form der Selbstbehauptung entdeckten die Jung-Wiener
wie Hugo von Hofmannsthal, die sich als eine Generation von Spätgeborenen
und Enterbten sehen mußten, Stichwort und Gedankengut der Decadence. 25 Ihre
Rezeption der aus Frankreich aufgegriffenen Kunstbewegung war weniger von
deren sensualistischer Raffinesse inspiriert als vom Zeitbewußtsein eines histo-
rischen Niedergangs. Das Selbstgefühl, einer Gemeinschaft der »ersten ganzen
Künstler« anzugehören, war in seiner Exklusivität geradezu apokalyptisch grun-
diert von der Vorahnung, »daß wir vielleicht in Wien die letzten denkenden, die
letzten ganzen, beseelten Menschen überhaupt sind«.26
Kennzeichnend für diese >Jugend< in Wien war eine ambivalente, zwischen
Rückzug und radikalem Neubeginn lavierende Position, deren Differenz zur ge-
wissen Haltung des alten Goethe besonders deutlich wird in jener Bestimmung der
eigenen Generationslage, die der neunzehnjährige Hofmannsthal 1893 im ersten
seiner D' Annunzio-Essays entwirft. »Man hat manchmal die Empfindung, als hät-
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ten uns unsere Väter ... und unsere Großväter ... und alle die unzähligen Genera-
tionen vor ihnen, als hätten sie uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlas-
sen: hübsche Möbel und überfeine Nerven.«27 Der junge Hofmannsthai beschreibt
sich und seine Künstlerfreunde als eine Generation, die zur vorangegangenen in
einem tiefempfundenen Widerspruch lebt und die >der< Tradition überhaupt, als
Abfolge einander ablösender oder widerstreitender Stilepochen, befremdet ge-
genübersteht. Alle tradierten Stile und Ausdrucksfonnen rücken perspektivisch
zusammen in der Wahrnehmung, daß sie> Tradition< sind. Das spricht für eine neue
Qualität des Bewußtseins historischer Diskontinuität, wie sie erst die europäische
Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte. 28

25 Einflußreichster Vennittler der im französischen Sprachraum entstandenen Literaturströ-


mung für das Junge Wien war Hennann Bahr, vgl. etwa sein Manifest »Die Decadence«
(1894), Wiederabdr. in: Gotthart Wunberg (Hrsg.), Die Wiener Moderne . Literatur, Kunst
und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, 225-232.
26 Hugo von HofmannsthaI, Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, Gesammelte Werke. Reden
und Aufsätze - Aufzeichnungen, hrsg. Bemd Schoeller, Ingeborg Beyer-Ahlert, 3 Bde.,
Frankfurt a.M. 1979-1980, III (1980), 311-595, hier: 383.
27 Hofmannsthai, »Gabriele D'Annunzio« (1893), in: ders., Gesammelte Werke (Anm. 26),
1,174-184, hier: 174.
28 Ab dieser Phase ist es, wie Hans Robert Jauß die Ästhetik Baudelaires zusammenfaßt,
»keine bestimmte Vergangenheit« mehr, die »den für das Schöne der modemen Kunst
konstitutiven Gegensatz« abgibt (Hans Robert Jauß, »Literarische Tradition und gegen-
wärtiges Bewußtsein der Modernität«, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation,
Frankfurt a. M. 1970, 11-66, hier: 56).

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576 Alexander Honold

Wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Begriff des Klassischen, so übernimmt
nun derjenige der Tradition bestimmte Funktionen des Kanonischen. Der An-
spruch überzeitlicher Geltung mutiert dabei zu einem epochenübergreifenden
Sammelbegriff, der zwar noch die Konnotation des Dauerhaften trägt, nicht aber
die des dauerhaft Gültigen. Die Entstehung von Traditionsbewußtsein ist, als
eine Gegenbewegung zum drohenden Geschichtsverlust, nichts anderes als die
Komplementärerscheinung zum Rigorismus des Absolut-modem-Seins. Die
Erfahrung des Bruchs mit der Überlieferung, die in Regionen einer unvollstän-
digen Modemisierung wie der Habsburgerresidenz sich besonders deutlich
ausgeprägt zu haben scheint, führt zu zwei Konsequenzen unterschiedlicher
Tragweite. Zunächst zu einer völligen Disponibilität aller vergangenen Stilfor-
men, denen gegenüber die Gegenwart sich insgesamt in einem Verhältnis der In-
differenz befindet. Dies ist die Erfahrung von Robert Musils >Mann ohne Eigen-
schaften< (auf der Handlungsebene ebenfalls ein Protagonist des Fin-de-siecle),
der sich in die Verlegenheit gesetzt sieht, für die Eimichtung seines Hauses eine
passende Grundausstattung selbst festlegen zu müssen: »Von der stilreinen Re-
konstruktion bis zur vollkommenen Rücksichtslosigkeit standen ihm dafür alle
Grundsätze zur Verfügung, und ebenso boten sich seinem Geist alle Stile, von
den Assyrern bis zum Kubismus an.«29
Im Gegenzug zu dieser Indifferenz formieren sich, wiederum mit auffälliger Ko-
inzidenz im Wien der Jahrhundertwende, die Versuche, das Problem einer eigen-
ständigen ästhetischen Kommunikation, eines neu zu etablierenden Generations-
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stils offensiv anzugehen, wofür wiederum Hofmannsthals erwähnter D' Annunzio-


Essay eines der herausragenden Zeugnisse bietet. »Wir! Wir! Ich weiß ganz gut,
daß ich nicht von der ganzen großen Generation rede. Ich rede von ein paar tausend
Menschen, in den großen europäischen Städten verteilt. ... Trotzdem haben diese
zwei- bis dreitausend Menschen eine gewisse Bedeutung; ... sie sind nicht notwen-
digerweise der Kopf oder das Herz der Generation: sie sind nur ihr Bewußtsein. Sie
fühlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als Menschen von heute; sie verstehen
sich untereinander, und das Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das
einzige, was sie im guten Sinne vor den übrigen voraushaben.«3o
An die Stelle der Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe oder einer bestimmten so-
zialen Schicht tritt hier eine kleine, durch ihren künstlerischen Ausdruckswillen
verbundene und sich verständigende Gemeinschaft. Hofmannsthai beschreibt
damit eine für die Wiener Decadence bezeichnende Wendung vom lebens weltlich
fundierten zum ästhetisch-stilgeschichtlichen Generationsparadigma, das in dem
fast zeitgleich aufkommenden Begriff des »Kunstwollens« (Alois Riegl) und den
Ansätzen zu einer Stilgeschichte nach Generationen seine theoretische Resonanz
finden sollte.
Derartige Versuche, historische Prozesse zu >organisieren<, also dem bloß äußer-
lichen, chronologischen Verlauf einen inneren Mechanismus abzugewinnen - Auf-

29 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke, hrsg. Adolf Frise,
2 Bde., Reinbek 1978, I, 19.
30 HofmannsthaI, »Gabriele D'Annunzio« (Anm. 27),175.

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Die Zeit als kanonbildender Faktor: Generation und Geltung 577

stieg und Fall, Keim und Blüte, Väter und Söhne- hatten sich seit Wilhe1m Dilthey31
zu einem Paradigma der Geisteswissenschaften entwickelt, das mit Riegl, Wölfflin
und Wilhelm Pinder32 in der Kunstgeschichte, mit Eduard Wechßlers »Begriff der
Altersgemeinschaft«33 und vor allem mit Julius Petersens Arbeit zur Romantik34
auch in der Literaturwissenschaft Fuß fassen konnte. An der Differenz, welche die
empirisch erfaßbare Altersgleichheit einer Generation von einem Bund Gleichge-
sinnter scheidet, entfachte sich die Frage nach dem ästhetischen Zusammenhang
gleichzeitig wirkender Kunstproduzenten, nach der Zurechenbarkeit ihrer Arbeit zu
einem kollektiven Stil bzw. einer »Generationsentelechie« (Karl Mannheim).35
Die historische Diskussion dieses stilgeschichtlichen Generationsbegriffs, die
ihren Höhepunkt in den 20er Jahren hatte, kann hier nicht im einzelnen darge-
stellt werden. Entscheidend für die Frage der Historizität von Kanonbildungen
ist das von HofmannsthaI formulierte Dilemma einer »Mischung von Gebun-
densein und Wurzellosigkeit«.3 6 Das Problem schon seiner Generation war es, in
der Konstellation von Traditionsgebundenheit bei gleichzeitigem Traditionsver-
lust nur mehr negativ Position beziehen zu können, nicht jedoch durch die Ent-
wicklung einer eigenen Formensprache. Daß zur gemeinsamen Ausdrucksform
eines Generationsstils einzig dessen voluntaristische Minimalbedingung - eben
das »Kunstwollen« - vorhanden war, sollte sich indes für die kunstgeschichtli-
che und soziologische Analyse als heuristischer Glücksfall erweisen. Sie würde,
wie hier gleichfalls nur angedeutet werden kann, an diesem Fall zu dem verall-
gemeinerbaren Resultat gelangen, daß die Verbindlichkeit des Generationsstils
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weniger auf der Ebene der hervorgebrachten Resultate zu finden ist als in der
ähnlich gelagerten, ähnlich polarisierten Intentionalität. Die Jung-Wiener waren,

31 Wer sich nicht mit dem »Gerüst des Verlaufs geistiger Bewegungen« begnügen wolle,
sondern nach ihrem »inneren psychologischen Zeitmaß« frage, der komme nicht umhin,
die elementaren und omnihistorischen Parameter der menschlichen Lebenszeit - nämlich
Lebensalter und Generation - in die Geschichtsschreibung einzuführen. (Wilhelm
Dilthey, Ȇber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Ge-
sellschaft und dem Staat« [1875], in: ders., Gesammelte Schriften, V, 6. Aufl., Stuttgart
1974,31-73, hier: 36.)
32 Wie Petersen dem Einfluß Diltheys, so ist Pinder dem kulturmorphologischen Denken
von Klages, Spengler und Nadler verpflichtet. Ihm geht es um die Ableitung des ästheti-
schen Schaffens und seiner historischen Wechselfälle aus quasi-naturwissenschaftlichen
Regularitäten, vor allem aus der »Tatsache der gesetzmäßigen Gruppierung entscheiden-
der Geburten« (Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte
Europas, 2. Aufl., Berlin 1928 [1. Aufl. 1926],15).
33 Eduard Wechßler, »Die Auseinandersetzung des deutschen Geistes mit der französischen
Aufklärung (1732-1832)«, DVjs 1 (1923),613-635, hier: 615.
34 Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die
moderne Literaturwissenschaft, Leipzig 1926, 140.
35 Begriff und Konzept der Generationsentelechie, die Karl Mannheim von Pinder über-
nahm, ermöglichten »eine Übertragung des Rieglschen >Kunstwollens< vom Phänomen
der Stileinheit auf die Generationseinheit« (Karl Mannheim, »Das Problem der Genera-
tionen« [1928], in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hrsg. Kurt H. Wolff,
Berlin, Neuwied 1964,509-565, hier: 518).
36 HofmannsthaI, »Gabriele D'Annunzio« (Anm. 27),177.

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578 Alexander Honold

gegen die auf ihnen lastenden Vorgaben der Tradition, in gleicher Weise auf künst-
lerischen Ausdruck gerichtet, nicht auf den gleichen künstlerischen Ausdruck.37
Eine stets labile, spannungs geladene Balance von Kontinuität und Diskonti-
nuität, so läßt sich Hofmannsthais Einsicht reformulieren, bildet die funktionale
Ausgangsbedingung für die Etablierung von synchronen Generationsstilen wie
auch von diachronen Kanonbildungen. Man kann sich dies klarmachen, wenn
man hypothetisch eine kulturelle Situation >ohne Generation< annimmt und
dabei zu folgender Alternative gelangt: entweder zu einer Stagnation gleichblei-
bender Ausgangsbedingungen, in der keinerlei Wechsel mehr möglich erscheint;
oder zu einer völligen Diskontinuität, zur übergangslosen Ersetzung des Alten
durch das Neue, bei der weder ein Erfahrungstransfer noch die damit einherge-
henden Friktionen und Konflikte stattfinden.
Gerade die historischen Überlappungszonen schaffen jene von Wilhelm Pin-
der auf den Begriff gebrachte »Dngleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«38, die
auch den Kanon selbst einer Generationsdynamik unterwirft. Während aber die
Verbindlichkeit eines Stils auflebt und schwindet mit seinem Aktualitätsindex,
ragt der Kanon aus längst vergangenen Stilformen und Lebenswelten in die erst
im Ansatz befindlichen zukünftigen hinein. 39 Im Kanon verbindet sich der Im-
perativ permanenter Erneuerung mit der Notwendigkeit des Tradierens über
Zeit- und Generationsgrenzen hinweg. Demgegenüber scheint die Leistung des
Generationsparadigmas, ungeachtet der mit ihm verbundenen historischen Peri-
odisierungsangebote, vorwiegend in seiner synchronen Integrationsfunktion zu
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liegen. Wie der Kanon allgemein, so dient erst recht der Kanon einer bestimm-
ten Generation der kommunikativen Identitätsbildung bzw. -verstärkung; die
fragliche Einheit einer Generation, einer Epoche, eines bestimmten Zeitgefühls
zeigt sich in der Gemeinsamkeit ihres kulturellen Repertoires.
Über die Kanon-Mechanismen der In- bzw. Exklusion definiert sich zugleich
die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generationsgemeinschaft bzw. zu einem
synchronen kulturellen Feld (Bourdieu), wobei neben dem bloßen >Geltenlas-
sen< bestehender Übereinkünfte auch ein Entscheidungsspielraum offensteht,
der von brüsker Ablehnung bis zu emphatischer Affirmation eines bestehenden
Konsensangebotes reicht. Als kulturelles Bezugssystem einer Gruppe gleichzei-
tiger Akteure ermöglicht es der Kanon, konfligierende Positionen auf einer ge-
meinsamen Plattform, in einer übergreifenden symbolisch-diskursiven Ordnung
auszutragen - ein doppelbödiger Vorgang, den die Kultursoziologie Pierre Bour-
dieus treffend als »Konsens im Dissens«40 beschreibt.

37 Vgl. dazu Alexander Honold, »Die Wiener Decadence und das Problem der Generation«,
DVjs 70 (1996), 644-669.
38 Pinder (Anm. 32), 12.
39 Zur Abgrenzung von Kanon und Stil vgl. auch Assmann, Assmann (Anm. 1), 16, die »ge-
genüber der >weichen< Ablösung von Stilen« beim Kanon eine dramatische »Gesche-
hensfigur von Abkehr und Rückkehr« annehmen.
40 Wie Bourdieu dargelegt hat, setzen kulturelle Distinktionen und Antagonismen ein ge-
meinsames symbolisches Terrain voraus; »die manifesten Konflikte zwischen Richtun-
gen und Doktrinen verschleiern, zumindest den darin Befangenen, die verschwiegene

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Die Zeit als kanonbildender Faktor: Generation und Geltung 579

Wie aber stellt sich dieses je vorfindliche intersubjektive Angebot her? Und in
welchem Verhältnis stehen beim Bezug auf dieses gemeinsame Terrain die kon-
trären Prinzipien der Normativität (Geltung) und der Innovation (Generation),
also: konventionelle Tradition und individuelle Dezision? Für diese Fragen, die
sowohl den Überlebensmodus des Kanons wie auch seine jeweilige Akzeptanz
betreffen, bietet der Generationsbegriff, wie ihn die Soziologie Karl Mannheims
(und in deren Gefolge die Kulturtheorie Bourdieus) auffaßte, eine Reihe von
Einsichten, die für eine weitergehende Debatte des Kanonbegriffs hier abschlie-
ßend zu skizzieren sind.
Mannheim unterschied zwischen dreierlei Graden der Generationszusammen-
gehörigkeit, von der den beteiligten Individuen äußerlichen »Generationslage-
rung« über den »Generationszusammenhang«, der die »Partizipation an den ge-
meinsamen Schicksalen« einschließt,41 bis hin zur »Generationseinheit«. »Die
Frage ist nun, was stiftet eine Generationseinheit?« Mannheim nennt als Krite-
rien »die Verwandtschaft der Gehalte, die das Bewußtsein der einzelnen erfül-
len«, sowie die »formenden Kräfte, durch die gestaltet, diese Inhalte erst ein Ge-
präge und eine Richtungsbestimmtheit erhalten.« Die Betonung von Form und
Gestaltung deutet darauf hin, daß Mannheim die kohärenzbildenden Kräfte einer
solchen Generationseinheit hauptsächlich im Bereich des Ästhetischen vermutet
bzw. am Modellfall der Kunst sich das Zustandekommen dieser Einheit ver-
ständlich zu machen versucht. »Die tief >emotionale< Bedeutung eines Schlag-
wortes, einer echten Geste, eines Kunstwerks besteht darin, daß man mit ihnen
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nicht nur die Gehalte, sondern auch die in sie eingesenkten Formungstendenzen
und kollektiv verbindenden Grundintentionen in sich aufnimmt und durch diese
sich mit den Kollektivwollungen verbindet.«
In der Kunst, verstanden im summarischen Sinne der ästhetischen Praxisfor-
men, ist eine ebenso unwillkürliche wie ansteckende Mimesisfunktion wirksam.
Kunst ahmt nach, um ihrerseits nachgeahmt zu werden; insofern ist diese Mime-
sis, in doppelter Hinsicht, auf das >Treffende< aus. Was eine Generation jeweils
als das Treffende empfindet, sei's eine Redewendung, ein Musikstück oder eine
bestimmte Mode, erkennt man daran, daß dieses in Windeseile sich verbreitet
und Nachahmer findet. Durch diesen verstärkenden Resonanzeffekt wird die Mi-
mesisfunktion der Kunst zum Paradigma eines nichtexpliziten Kommunizierens,
durch das sich gleichsam hinterrücks eine Konkordanz unter den Beteiligten her-
stellt. Mannheims »Generationseinheit« zielt letztlich auf dasselbe Phänomen,
das bereits Alois Riegls »Kunstwollen« (das auf die bizarre Vokabel der »Kol-
lektivwollungen« abgefärbt haben dürfte) thematisierte und das zuerst von Pin-
der mit dem Begriff der »Generationsentelechie«42 belegt wurde.

Komplizität in ihren Voraussetzungen, ... nämlich den Konsensus im Dissensus, der die
objektive Einheit des kulturellen Kräftefeldes einer beliebigen Epoche bildet« (Pierre
Bourdieu, »Champ intellectuel et projet createur« [1966], dt.: »Künstlerische Konzeption
und intellektuelles Kräftefeld«, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, 2. Aufl.,
Frankfurt a.M. 1983,75-124, hier: 123).
41 Mannheim (Anm. 35), 542; die nachfolgenden Zitate ebd., 544 f.
42 Pinder (Anm. 32), 146.

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580 Alexander Honold

Haltbar und brauchbar daran ist wohl hauptsächlich die Erkenntnis, daß das
Verbindende eines Generationsstils sich nicht als Effekt oder Summe der kultu-
rellen Strebungen herstellt, sondern auf der Ebene eines Postulats liegt. Kon-
sensbildung verläuft demnach gerade nicht entelechial, sondern self-fulfilling:
Ob ein bestimmtes Stilelement tatsächlich typisch ist, d. h. den Stil der Genera-
tion treffend, erkennt man, wie bei Mannheim angedeutet, daran, daß es Nach-
ahmer findet - und zwar solche, die sich selbst nicht als Nachahmer sehen. In for-
melhafter Kürze zusammengefaßt: Der Generationsstil ist kollektive, synchrone
Nachahmung ohne bewußtes Vorbild. »Man gebiert nicht auf geheimnisvolle
Weise einen Stil«, umschrieb Robert Musil 1921 in einer Zeitungsglosse den
nämlichen Sachverhalt mit maliziösem Zungenschlag: »Stil wird immer von den
Nachläufern gemacht; wenn sie ganz weit hinterdrein laufen, so daß sie die
Spitze nicht mehr sehen, werden sie Vorläufer.«43
Die generative Verlaufsform stilgeschichtlicher Erneuerung vollzieht sich als
permanente Wiederkehr des Kräftespiels von Sezession, Integration, erneuter
Sezession usw. Jede neue Generation schreibt sich und ihren Blick auf die Tra-
dition in den Kanon ein, indem sie zwar dessen Wertgrundlagen attackiert, aber
die >Spielregeln< ihres Zustandekommens fortsetzt und für sich adaptiert. Es ist
etwas Paradoxes um diese »immerwährende Erscheinung, die man neue Gene-
ration, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode
und Erneuerung nennt«:44 Jede neue Generation trachtet die Zeit auf ihre Seite
zu bringen und wird, durch das schiere Verstreichen der Zeit, selbst beiseite ge-
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drängt. »Wir haben die Sache ja mehrmals mitgemacht«, so nochmals Musil, und
jedesmal »war eine neue Generation da.«45 Stiltendenzen kommen und gehen zu
sehen, ermöglicht die Partizipation an einem Geschehen zyklischer Erneuerung.
Im Paradigma der Generation steckt letzten Endes eine recht eigenwillige Theo-
rie der Mode: Man wechselt die Stile, um nicht, an einem Generationsstil haf-
tend, selbst mit ihm ausgewechselt zu werden. Der Kanon dagegen entspräche,
in seiner >steilen< Form jedenfalls, die nicht auf Überlieferung, sondern auf Ret-
tung zielt, dem Versuch, die ars longa der Zeitlichkeit zu entwinden und sie auf
die Seite der Zeit als Dauer zu bringen.

43 Musil, »Stilgeneration oder Generationsstil«, in: ders., Gesammelte Werke (Anm. 29), 11,
661-663, hier: 663.
44 Musil (Anm. 29), 132.
45 Musil (Anm. 43), 662.

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