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580 Alexander Honold

Haltbar und brauchbar daran ist wohl hauptsächlich die Erkenntnis, daß das
Verbindende eines Generationsstils sich nicht als Effekt oder Summe der kultu-
rellen Strebungen herstellt, sondern auf der Ebene eines Postulats liegt. Kon-
sensbildung verläuft demnach gerade nicht entelechial, sondern self-fulfilling:
Ob ein bestimmtes Stilelement tatsächlich typisch ist, d. h. den Stil der Genera-
tion treffend, erkennt man, wie bei Mannheim angedeutet, daran, daß es Nach-
ahmer findet - und zwar solche, die sich selbst nicht als Nachahmer sehen. In for-
melhafter Kürze zusammengefaßt: Der Generationsstil ist kollektive, synchrone
Nachahmung ohne bewußtes Vorbild. »Man gebiert nicht auf geheimnisvolle
Weise einen Stil«, umschrieb Robert Musil 1921 in einer Zeitungsglosse den
nämlichen Sachverhalt mit maliziösem Zungenschlag: »Stil wird immer von den
Nachläufern gemacht; wenn sie ganz weit hinterdrein laufen, so daß sie die
Spitze nicht mehr sehen, werden sie Vorläufer.«43
Die generative Verlaufsform stilgeschichtlicher Erneuerung vollzieht sich als
permanente Wiederkehr des Kräftespiels von Sezession, Integration, erneuter
Sezession usw. Jede neue Generation schreibt sich und ihren Blick auf die Tra-
dition in den Kanon ein, indem sie zwar dessen Wertgrundlagen attackiert, aber
die >Spielregeln< ihres Zustandekommens fortsetzt und für sich adaptiert. Es ist
etwas Paradoxes um diese »immerwährende Erscheinung, die man neue Gene-
ration, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode
und Erneuerung nennt«:44 Jede neue Generation trachtet die Zeit auf ihre Seite
zu bringen und wird, durch das schiere Verstreichen der Zeit, selbst beiseite ge-
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drängt. »Wir haben die Sache ja mehrmals mitgemacht«, so nochmals Musil, und
jedesmal »war eine neue Generation da.«45 Stiltendenzen kommen und gehen zu
sehen, ermöglicht die Partizipation an einem Geschehen zyklischer Erneuerung.
Im Paradigma der Generation steckt letzten Endes eine recht eigenwillige Theo-
rie der Mode: Man wechselt die Stile, um nicht, an einem Generationsstil haf-
tend, selbst mit ihm ausgewechselt zu werden. Der Kanon dagegen entspräche,
in seiner >steilen< Form jedenfalls, die nicht auf Überlieferung, sondern auf Ret-
tung zielt, dem Versuch, die ars longa der Zeitlichkeit zu entwinden und sie auf
die Seite der Zeit als Dauer zu bringen.

43 Musil, »Stilgeneration oder Generationsstil«, in: ders., Gesammelte Werke (Anm. 29), 11,
661-663, hier: 663.
44 Musil (Anm. 29), 132.
45 Musil (Anm. 43), 662.

Heydebrand, R. V. (Ed.). (1998). Kanon macht kultur : Theoretische, historische und soziale aspekte ästhetischer kanonbildungen.
dfg-symposion 1996. J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung & Carl Ernst Poeschel GmbH.
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