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Juliane Fiedler

Konstruktion und
Fiktion der Nation
Literatur aus Deutschland, Österreich
und der Schweiz in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts
Konstruktion und Fiktion der Nation
Juliane Fiedler

Konstruktion und
Fiktion der Nation
Literatur aus Deutschland, ­Österreich
und der Schweiz in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts
Juliane Fiedler
Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-19733-9 ISBN 978-3-658-19734-6 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6

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Danksagung

Das Thema der Nationswerdung in der Literatur hat mich von Anfang begeistert, ich war Feuer
und Flamme – dass diese Flamme über die Jahre der Entstehung dieser Arbeit nicht erlosch,
daran hatten einige Personen Anteil, denen mein Dank gebührt.
Mein erster Dank gilt meiner Betreuerin Prof. Monika Ritzer, die mich bereits im Grundstu-
dium für die Literatur des 19. Jahrhunderts begeisterte und deren Veranstaltungen mich stets
inspirierten. Ich danke Ihnen für den Einblick in diese reiche und interessante Welt und die
vielen Einzelgespräche, in denen Sie mir Rede und Antwort standen.
Danken möchte ich an dieser Stelle auch Uwe Korn und Matthias Grüne, die mir mit wissen-
schaftlichem Feedback wie moralischem Beistand geduldig zur Seite standen sowie Friederike
Jacob und Katja Klemer, die mit ihrer literatur- und sprachwissenschaftlichen Expertise man-
ches Kapitel korrigierten und lektorierten. Der unermüdlichste Helfer aber war mein Bruder
Daniel, erste Anlaufstelle bei allen Nöten, der mir stets Mut zusprach und auch in stressigen
Zeiten immer ein offenes Ohr für mich hatte. Danke lieber Bruder, ohne Dich wäre es nicht
gegangen.
Ich danke meinen Eltern und meiner Familie für ihre Unterstützung und für die Gewissheit,
dass ich immer auf sie zählen kann. Der größte Dank gilt meinem Mann Mathias, der in den
guten und den weniger guten Zeiten stets zu mir hielt. Danke für deine Geduld und Liebe, das
Rückenstärken und Anteilnehmen.
Inhaltsverzeichnis

1. Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert .............................................................. 1


1.1. Die Entstehung der (deutschen) Nation ........................................................................... 6
1.2. Die Schweiz: Politische Kontextualisierung ..................................................................... 12
1.3. Österreich und die (groß-)deutsche Identität ................................................................. 14
1.4. „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen ............................. 17

2. Die Autoren und die Revolution 1848/49 ............................................................................... 31


2.1. Wilhelm Raabe und die Revolution ................................................................................. 32
2.2. Gottfried Keller: Kritiker an der deutschen Märzrevolution .......................................... 40
2.3. Zwischen Politik und Dichtung: Anastasius Grün ............................................................ 45
2.4. Entfremdung vom Vaterland und Auswanderung nach Amerika................................... 50

3. Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren ........................................ 61


3.1. Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum ..................................... 63
3.1.1. Der Traum von der Nation im Grünen Heinrich .................................................... 69
3.1.2. Gottfried Kellers vaterländische Lyrik ................................................................... 75
3.2. Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung ..................................... 78
3.2.1. Jürg Jenatsch: Befreier oder Verräter seiner Ideale? ............................................ 83
3.2.2. Deutschnationale Motivik in den Gedichten Conrad Ferdinand Meyers ............. 86
3.2.3. Drei Schmiede-Gedichte Meyers im Vergleich ...................................................... 91

4. Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten ......................................... 97


4.1. Franz Grillparzers Kritik am deutschen Nationalismus ................................................... 98
4.2. Adalbert Stifter und der österreichische Ausschluss aus der deutschen Politik ..........102
4.2.1. Die Erzählung Der Kuss von Sentze ......................................................................105
4.2.2. Stifters Witiko.......................................................................................................108
4.3. Anastasius Grüns Lyrik zwischen Krain, Österreich und Deutschland ..........................111
4.4. Ferdinand Kürnbergers politische Essayistik .................................................................114
4.5. Ferdinand von Saars Gedichte Germania und Austria .................................................116
VIII Inhaltsverzeichnis

5. Exkurs: Das Risorgimento in Italien .......................................................................................121

6. Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius ............................129


6.1. Protestantismus und Nationalismus: Martin Luther ....................................................130
6.2. Wilhelm Tell und der schweizerische Nationalmythos bei Keller und Raabe ..............137
6.3. Arminius-Bezüge bei Wilhelm Raabe und Friedrich Halm ............................................141

7. Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit ........................................................149


7.1. Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein......................................................151
7.1.1. Wilhelm Raabes Gutmanns Reisen: Vereinsleben und politische Agitation .......155
7.1.2. Privatheit und Öffentlichkeit in Gutmanns Reisen ..............................................157
7.2. Der Gesangsverein bei Raabe und Keller ......................................................................162
7.3. Die Turnervereine und ihre Darstellung in Kellers Grünem Heinrich ...........................168
7.4. Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün ...........................................................171
7.4.1. Schützenfestdarstellung in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters ................175
7.4.2. Anastasius Grüns Schützenfestgedichte .............................................................178

8. Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859 ..........................................183


8.1. Fest- und Gelegenheitslyrik am Beispiel der Schillerfestgedichte................................194
8.2. Raabes Gedicht Zum Schillerfest ...................................................................................196
8.3. Zwei Schillerfestgedichte von Gottfried Keller .............................................................199
8.4. Anastasius Grüns Schillergedichte im Vor- und Nachmärz...........................................205

9. Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert ................................................................211


9.1. Festspielkonzepte Richard Wagners: Ein Theater in Zürich (1851) ..............................212
9.2. Gottfried Kellers Festpoetik: Am Mythenstein (1861) ..................................................215
9.3. Das Festspiel als nationalpolitische Textsorte ..............................................................219
9.4. Paul Heyses Der Friede (1871).......................................................................................222
9.5. Das Festspiel für die Eidgenössische Bundesfeier in Schwyz (1891) .............................226
9.6. Friedrich Halms Festspiel Vor hundert Jahren (1859) ...................................................228
Inhaltsverzeichnis IX

10. Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts...........................................233


10.1. Der Roman zum Schillerfest: Raabes Dräumling ...................................................234
10.2. Fest und Nation im Grünen Heinrich ......................................................................238
10.3. Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann ..........................................................245

11. Schlussbetrachtung ............................................................................................................249

12. Siglenverzeichnis ................................................................................................................255

13. Bibliographie .......................................................................................................................257


1. Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

„Was ist des Deutschen Vaterland?“ fragte sich nicht nur Ernst Moritz Arndt 1813 im Kontext
der Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft,1 die neben einem neuen nationalen
Selbstbewusstsein auch eine erste Politisierung des Bürgertums zur Folge hatte. Die Frage, die
gleichzeitig eine Aufforderung des Dichters war, die deutsche Nation, nämlich das Gebiet „so-
weit die deutsche Zunge klingt“ zu einen, beschäftigte die Deutschen bis zur Reichseinigung
1871. Die Literatur fungierte in dieser Ära der Nationswerdung als Generator, Mediator und
Reflektor der nationalen Identitätssuche.2 Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49
führte die radikale, zehn Jahre andauernde Restriktionspolitik der Regierungen der deutschen
und österreichischen Länder zu einer Rücknahme politischer Inhalte in der Literatur. Erst Ende
der 1850er Jahre werden im Zuge nationaler Identitätsprozesse politische Stellungnahmen wie-
der deutlicher formuliert. Die mit der Reaktionsära eingeleitete politische Erschütterung des
liberalen Bürgertums kompensierte es durch den Nationalismus, das eine Heilung der Wunden
von 1848/49 versprach. In der Epoche des bürgerlichen Realismus bezogen sich die Autoren
auf die Nation, um eine nationale Einheitsfiktion zu konstruieren. Dies impliziert zwei Mo-
mente: einerseits stiftet und vermittelt Literatur nationale Identität, indem sie nationale The-
men und Problematiken behandelt, die zur Entstehung eines Wir-Gefühls beitrug. Andererseits
reflektiert sie die sich in politischen und gesellschaftlichen Sphären manifestierende nationale
Idee. Die in der vorliegenden Arbeit zu analysierenden und interpretierenden Texte waren also
überwiegend zur Aneignung, zur Identifikation bestimmt, und damit nach der Definition von
Aleida Assmann sog. „kulturelle Texte“.3
Das Thema Nation und Nationalismus erfreut sich wie in anderen wissenschaftlichen Diszip-
linen4 inzwischen auch in der Germanistik großer Popularität. Die überwiegende Forschungsli-
teratur, die sich dem Phänomen Nation, Nationalismus und nationale Identität aus literaturwis-
senschaftlicher Perspektive nähert, hat einen autoren- und/oder themenspezifischen Fokus,
der unweigerlich zu einer einseitigen Behandlung des Themas Nation und Literatur führt. Nur

1
Ernst Moritz Arndt (1769-1860): Des Deutschen Vaterland. In: Ders.: Gedichte. Leipzig 1840. S. 210-12.
2
Siehe zum Begriff der Identität den von Karlheinz Stierle und Odo Marquard herausgegebenen Sammelband:
Identität. München 1996. Sowie: Bernhard Giesen (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwick-
lung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Frankfurt 1991. Und: Wodak, Ruth u.a. (Hrsg.): Zur diskursiven
Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt (Main) 1998. Zur Kritik des Begriffs: Lutz Niethammer: Kollektive Iden-
tität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Hamburg 2000.
3
Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Poltermann, Andreas (Hrsg.): Literaturkanon, Medienereignis, Kul-
tureller Text: Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin 1995. S. 232-244. Hier v. a. S. 238.
4
Die seit den 1980er Jahren entflammte Nationalismus-Debatte hält bis heute an. Dementsprechend hat sich eine
immens große Menge an Definitionen von Nation und Nationalismus angehäuft, die sich alle mehr oder weniger
gleichen. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Otto Dann Nation und Nationalismus 1770-1990 (München
1993), Peter Alter Nationalismus (Frankfurt am Main 1985) sowie John Breuilly Nationalismus und moderner
Staat. Deutschland und Europa (Köln 1999).

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J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_1
2 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

einige wenige Arbeiten beschäftigen sich mit einem Vergleich aller drei deutschsprachigen Li-
teraturen, der die Literatur der Schweiz und Österreichs miteinbezieht.5 Da wäre zum einen der
von Klaus Amann und Karl Wagner herausgegebene Sammelband Literatur und Nation: Die
Gründung des deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur (Wien u. a. 1996), der
zwar wie die vorliegende Arbeit, die Texte der deutschen, österreichischen und schweizeri-
schen Autoren untersucht, ohne dabei einen direkten Vergleich der drei Länder zu ziehen (was
der Veröffentlichung als Sammelband geschuldet ist). Auch die Behandlung der Schweizer Au-
toren – nur durch einen Beitrag vertreten – kommt zu kurz. Zum anderen bietet Stefan Neu-
haus´ Monographie Literatur und nationale Einheit (Tübingen 2002) einen umfassenden Blick
auf das Thema, indem er die ersten nationalen Bestrebungen in Deutschland mit dem Jahr 1789
ansetzt, dann mit Schiller, Kleist und Heine die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts abhandelt, um
über die Gründerzeit schließlich im 20. Jahrhundert und der Gegenwart zu enden. Gänzlich un-
berücksichtigt bleibt dabei allerdings die Zeit zwischen 1848 und 1870.6 Aber gerade in den
Jahrzehnten zwischen der ersten bürgerlichen Revolution und der Reichseinigung fand ein
wichtiger Teil der Konstruktion von nationaler Identität in der Literatur statt. Bereits im Vor-
märz entstanden national intendierte und inspirierte Texte, die jedoch vornehmlich auf bürger-
liche Emanzipation und soziale Gleichheit zielten. Die Wirksamkeit der Forderungen nach nati-
onaler Einheit kam indes erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ihre
Entpolitisierung zur Entfaltung. Das infolge der Reaktionszeit (1849-59) rasch wachsende Ver-
eins- und Festwesen verstärkte die Dynamik und Verbreitung des Nationalismus.
Es wurde bisher von der deutschsprachigen Literatur gesprochen, unter expliziter Einbezie-
hung der Schweiz und Österreichs. Dies sei erklärt und präzisiert: Bis zur Etablierung des deut-
schen Nationalstaats umfasste die deutsche Kultur einen übernationalen deutschsprachigen
Kulturraum, der aus Deutschland (im Folgenden synonym für diejenigen deutschen Territorien

5
Zwar gibt es auch komparatistische Untersuchungen, die jedoch einen Vergleich Deutschlands zu einem anders-
sprachigen Land fokussieren (Polen, Frankreich, England). Vgl.: Einfalt, Michael (Hrsg.): Konstrukte nationaler
Identität: Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert). Würzburg 2002. Darin z. B. der
Aufsatz von Marina Allal: „Der Feind im Landesinnern“?: zur Verbindung von Antisemitismus und nationalen Ste-
reotypen im Frankreich und Deutschland des 19. Jahrhunderts. S. 75-97. – Surynt, Izabela (Hrsg.): Narrative des
Nationalen: deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Osnabrück 2010. – Ben-Ari, Nit-
sah: Romanze mit der Vergangenheit: der deutsch-jüdische historische Roman des 19. Jahrhunderts und seine
Bedeutung für die Entstehung einer neuen jüdischen Nationalliteratur. Tübingen 2006. – Uvanović, Željko
Deutsch-kroatische Literaturvergleiche: vier Studien. Köln 2010.
6
So auch Peter Sprengels Untersuchung zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der
Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998.
Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert 3

gebraucht, die sich innerhalb der Grenzen des heutigen Deutschlands befinden), der deutsch-
sprachigen Schweiz7 und dem deutschsprachigen Österreich8 bestand und auf den die schwei-
zerischen und österreichischen Autoren mangels einer eigenen Nationalliteratur Bezug nah-
men. Daher stellt erst die Analyse und Interpretation der Literatur aller drei Länder die Genese
der deutschen nationalen Identität im Spiegel der Texte vollständig dar. Während die Schweizer
Autoren die Bezugnahme auf die deutsche Kultur bewusst vom politischen Deutschland trenn-
ten, orientierten sich die deutsch-österreichischen Autoren an der entstehenden deutschen
Nation, um ihre schwindende Übermacht angesichts der nationalen Pluralität im habsburgi-
schen Vielvölkerstaat zu kompensieren. Diese Haltung lässt sich auch noch nach dem Aus-
schluss Österreichs aus der gesamtdeutschen Politik seit 1866 beobachten. Die durch das Ver-
eins- und Festwesen sich verbreitende kollektive Gedenkkultur, die das Bewusstsein einer
kulturellen und geschichtlichen Zusammengehörigkeit schärfte, war notwendige Vorausset-
zung für eine nationale Identifikation. So war der deutsche Weg zur Staatsgründung, dem die
Nationsbildung vorausging, von der Identifizierung über eine gemeinsame Kultur geprägt (da-
her der Begriff deutsche Kulturnation). Die Feststellung von Gellner, Hobsbawm und Anderson,
dass Kultur und speziell Literatur der primäre Raum für die Herausbildung nationaler Identität
sind, „fordern den Beitrag einer kulturwissenschaftlich aufgeschlossenen Literaturwissen-
schaft“.9 Alle Debatten um Nationen, Nationalbewegungen und Nationalstaatsbildungen, ge-
führt von Politologen, Soziologen und Historikern, vernachlässigen allzu oft die Darstellung der
elitären Trägerschicht des Nationalismus – die Autoren dieser Zeit – und das Medium der nati-
onalen Genese und Reflexion – die Literatur. Dabei ist im Fall Deutschlands das Verständnis der
Nationswerdung ohne die literaturwissenschaftliche Perspektive nicht möglich. Die vorliegende
Arbeit zielt nicht auf rezeptionsgeschichtliche Erkenntnisse, sondern untersucht die Bedeutun-
gen und Perspektiven von Nation und nationaler Identität, die die Texte selbst eröffnen. Litera-
tursoziologische wie sozialgeschichtliche Aspekte (Feste, Vereine) untermauern die hermeneu-
tisch angelegte Textanalysen und -interpretationen. Da die Untersuchung zwar die deutsche

7
Nach Angaben des Historischen Lexikons der Schweiz zählen unter „Deutschsprachig“ die Kantone „Zürich, Lu-
zern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Zug, Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Schaffhausen,
Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, St. Gallen, Aargau und Thurgau mit je einem Anteil um die 90%
Deutschsprachigen“. Vgl. Artikel „Deutsch“ in HLS 3, S. 667.
8
Gemeint sind die später unter dem Terminus „Cisleithanien“ zusammengefassten Gebiete Böhmen, Mähren,
Österreichisch-Schlesien, Galizien, Bukowina, des österreichischen Küstenland, Krain und Dalmatien. Zwar diente
der Begriff „Deutsch-Österreich“ nur in den Jahren 1918 und 1919 zum offiziellen Gebrauch, wurde aber bereits
im 19. Jahrhunderts inoffiziell gebraucht und soll in der vorliegenden Arbeit synonym für den deutschsprachigen
Teil der Habsburgermonarchie benutzt werden.
9
Sabine A. Döring: Vom ‚nation-building‘ zum Identifikationsfeld. Zur Integrationsfunktion nationaler Mythen in
der Literatur. In: Turk, Horst/Schultze, Brigitte/Simanowski, Roberto (Hrsg.): Kulturelle Grenzziehungen im Spie-
gel der Literatur. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus. Göttingen 1998. S. 63-83. Hier S. 72.
4 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

Nationswerdung zum Gegenstand hat, aber auch die schweizerische und österreichische Per-
spektive miteinbezieht, indem sie von einem vorgestellten gemeinsamen Kulturraum ausgeht,
ist sie nicht interkulturell10 sondern innerkulturell angelegt.
Die Literaturwissenschaft begriffen als Kulturwissenschaft hat unter anderem die Aufgabe,
kulturelle Strukturen sowie mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen aufzudecken. Bei der Be-
schäftigung mit dem Konzept Nation in der Literatur sieht sie sich dem Problem gegenüberge-
stellt, nationalpolitische Inhalte und literarische Form in Beziehung zueinander zu untersuchen,
also funktionale und ästhetische Aspekte gleichermaßen einzubeziehen. Dabei muss der poli-
tisch-historische Kontext des Textes berücksichtigen werden, ohne ihn jedoch auf eine bloße
Funktionalisierung zu reduzieren. Stattdessen muss die Literaturwissenschaft einen Weg fin-
den, den konzeptuellen Bedingungen Genüge zu leisten und daneben auf produktive Weise die
Einsichten der Politik- und Geschichtswissenschaften zu berücksichtigen. Dies kann nur durch
in literarische Einzelanalysen aufgefächerte literaturgeschichtliche Fallstudien erreicht werden,
die in der interdisziplinären Verbindung von Literatur-, Geschichts- und Politikwissenschaft ihre
Aussagekraft und Substanz gewinnen. So leistet die vorliegende Arbeit einmal einen Beitrag zur
Erforschung des Phänomens Nationalismus aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive.
Darüber hinaus ist ihre innovative Spezifik ihre Interdisziplinarität, die die Sicht auf den Natio-
nalismus als kulturelles Prinzip überhaupt erst zu erhellen vermag.

Bei der Auswahl der Autoren spielten verschiedene Faktoren eine Rolle: Neben dem national-
politischen Engagements des Autors sowie seiner literarischen Auseinandersetzung mit der Na-
tion in verschiedenen Textsorten sollte der Zeitraum der Untersuchung (1848 bis 1871) sowohl
biographisch als auch werkbiographisch entsprochen werden.11 Wilhelm Raabes Leben und
Werk erfüllt diese Ansprüche mit Ausnahme des Festspiels, das durch Paul Heyse dichterisch
und Richard Wagner poetologisch vertreten ist. Für die Schweiz boten sich Texte seiner beiden
bekanntesten Autoren des 19. Jahrhunderts, Keller und Meyer, zur Untersuchung an. Das Bei-
spiel eines Schweizer Festspiels nahm die Bundesfeier in Schwyz 1891 zum Anlass12 und wurde
von einem Autorenkollektiv verfasst. Für die österreichische Literatur wurden mehrere Autoren
untersucht: Anastasius Grün, Adalbert Stifter, Franz Grillparzer, Ferdinand von Saar, Ferdinand

10
Weil Deutschland, Österreich und die Schweiz zwar einzelne politische Nationen waren, aber kulturell einen
gemeinsamen nationalen Raum bildeten, kann die imagologische Untersuchungsmethode, wenn überhaupt, nur
im Kapitel 2.4 zur Amerika-Literatur greifen.
11
Dabei gehören auch Texte zum Untersuchungsgegenstand, die nach der Reichsgründung verfasst wurden. Sie
thematisieren die Nationswerdung retrospektiv und/oder beziehen sich auf die gleichen literarischen Strategien
der nationalen Identitätsstiftung, die auch für die Texte vor 1871 festgestellt wurden.
12
Als Bundesfeier wird in der Schweiz der Nationalfeiertag am 1. August bezeichnet, der den Abschluss des Bun-
desbriefs oder auch Rütlischwurs im August 1291 gedenkt. Im Jahr 1891 jährte sich also das Gründungsereignis
zum 600. Mal.
Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert 5

Kürnberger und Friedrich Halm. Die Diversität der österreichischen Autorenwahl ist in der Ver-
schiedenheit der Texte begründet. Nach der Ansicht von Claudio Magris liegt das vor allem da-
ran, dass das österreichische Bürgertum es nicht vermochte, eine „einheitliche, eigene dyna-
mische Kultur zu schaffen“, sondern dass teils unterschiedliche, teils sogar gegensätzliche
„Nationalitätsgefühle“ in der Habsburgermonarchie entstanden.13
Im ersten Kapitel soll, nachdem die systematische und historische Begriffsbestimmung der
Nation ausgearbeitet wurde, zunächst die nationalpolitischen Prädispositionen und Verhält-
nisse der drei zu behandelnden Länder Deutschland, Schweiz und Österreich vorgestellt wer-
den. Das Kapitel schließt mit der Berücksichtigung der raumtheoretischen Methode („spatial
turn“), die in der literarischen Auseinandersetzung mit der Eisenbahn ihre Anwendung findet.
Die Eisenbahn, mit deren Ausbau der nationale Raum zum ersten Mal in seiner ganzen Dimen-
sion greifbar wurde, präsentiert einen wichtigen Teil der Industrialisierung, deren Entwicklung
die Gründung des Deutschen Reichs mit beeinflusste. Das zweite Kapitel setzt sich mit der ers-
ten bürgerlichen Revolution in Deutschland von 1848/49 auseinander, in dessen Kontext es die
wichtigsten Autoren vorstellt: den Niedersachsen Wilhelm Raabe,14 den Zürcher Gottfried Kel-
ler und den Linzer Anastasius Grün. Es schließt mit Ausführungen zur Amerika-Auswanderung,
die eine Folge der politischen Reaktion war und die bei den Autoren zur kritischen Auseinan-
dersetzung mit der eigenen Heimat und dem überseeischen Ausland, nationalem Selbst- und
Fremdbild führte. Nachdem Kapitel drei und vier Autoren aus der Schweiz und Österreich und
ihre persönliche sowie literarische Auseinandersetzung mit der Nation behandeln, untersucht
das fünfte Kapitel in einem Exkurs das italienische Risorgimento und die Reaktionen der
deutschsprachigen Autoren auf diese für den deutschen Nationalismus prägende Bewegung.
Die erinnerungskulturelle Funktion der national mythisierten Identifikationsfiguren, die Kapitel
sechs erschließt, wird für die drei darauffolgenden Kapitel evident, die sich mit der Vereins- und
Festkultur (Kap. 7 bis 10) beschäftigen.
Zuvor aber soll der Versuch gemacht werden, der Frage beizukommen, die bereits die Intel-
lektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigte, nämlich was eine Nation überhaupt ist.

13
Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. S. 135.
14
Wilhelm Raabes Stellung zum deutschen Nationalismus habe ich bereits in meiner Magisterarbeit besprochen:
J. F.: Wilhelm Raabe und die deutsche Nationalbewegung – Eine Untersuchung anhand Raabes Romanen „Der
Dräumling“ und „Gutmanns Reisen“. Leipzig 2008. Vgl. außerdem meinen Aufsatz Nation-Building in Nineteenth
Century German Literature. The example of Wilhelm Raabe. In: Söllner, Louisa/Vrzina, Anita (Hrsg.): Fictionaliz-
ing the World: rething the politics of literature. Frankfurt (Main 2016). S. 79-96.
6 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

1.1. Die Entstehung der (deutschen) Nation

„Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut.“15

Um der Heterogenität und Pluralität des Begriffs Nation, die Herder hier in der Metapher eines
wilden, ungejäteten Garten fasst, zu genügen, soll er im Folgenden zunächst historisch, dann
systematisch eingegrenzt werden. Seine begriffliche Erfassung ist unmittelbar durch die Ausei-
nandersetzung mit dem Volksbegriff bedingt. Denn das Volk, so Hubert Lengauer, stellt die
„physische Voraussetzung der herzustellenden politisch-nationalen Einheit“16 dar. Im 18. Jahr-
hundert legte Johann Gottfried Herder die theoretischen Voraussetzungen für eine neue Auf-
fassung von Volk und Nation17 und wurde so zum „Schöpfer des kulturellen Konzepts der Na-
tion“.18 Die eigentliche Bedeutung Herdes für das nationale Konzept bezieht sich auf seine
positive Umwertung des Volkes. Reinhart Kosellek bemerkt, Herder habe „eine Art kopernika-
nische Wende in der semantischen Entwicklung des Volksbegriffs herbeigeführt“, da er nun
„nicht mehr eine soziale Gruppe inner- oder unterhalb der Nation [bezeichnete], sondern die
Nation selbst“.19 Herder lehnte die negativ konnotierte Beschränkung des Volksbegriffs auf die
unteren sozialen Schichten ab und erweiterte ihn auf die Gesamtheit der Gesellschaft. Dem-
entsprechend bezeichnete der Begriff Nation im Sprachgebrauch seit der Französischen Revo-
lution die „bürgerliche Einheit eines Volkes“.20 Erst durch die Aufwertung des Volkes, die kol-
lektive Egalität bildet sich eine Gemeinschaft von Staatsbürgern, aus der die Nation hervorgeht
– der Staat ist dann ihr politischer Ausdruck. Herders demokratisches Verständnis des Volksbe-

15
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. In: Johann Gottfried Herder Werke in zehn Bän-
den. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt (Main) 1991. Bd. 7, S. 225. Vgl. ebd. S. 493: „Wie mir immer
eine Furcht ankommt, wenn ich eine ganze Nation oder Zeitfolge durch einige Worte charakterisieren höre:
denn welch eine ungeheure Menge von Verschiedenheiten fasset das Wort Nation“.
16
Hubert Lengauer: Kulturelle und nationale Identität. Die deutsch-österreichische Problematik im Spiegel von
Literatur und Publizistik der liberalen Ära (1848-1873). In: Lutz, Heinrich/Rumpler, Helmut (Hrsg.): Österreich
und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert: Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Dif-
ferenzierung im deutschen Mitteleuropa. Wien 1982. S. 195. Nach Lengauer war das Volk beim Prozess der Na-
tionsbildung die „Appellationsinstanz der Literatur“ (ebd.).
17
Vgl. den von Regine Otto herausgegebenen Sammelband Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann
Gottfried Herders. Würzburg 1996. Hier vor allem Wilhelm Schmidt-Biggemann: Elemente von Herders Natio-
nalkonzept (S. 27-34), Birgit Nübel: Zum Verhältnis von Nation und Kultur bei Herder und Rousseau (S. 97-111)
und Ernst Hannemann: Kulturelle Osmose und nationale Identität in Herders politischen Denken (S. 177-190).
Außerdem Anne Löchte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der „Ideen“, „Humanitäts-
briefe“ und „Adrastea“. Würzburg 2005.
18
August Winkler: Einleitung: Der Nationalismus und seine Funktionen. In: Ders. (Hrsg.): Nationalismus. Königstein
1985, S. 8.
19
Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck
(Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stutt-
gart 1978. Bd. 7, S. 141–431. Hier S. 283.
20
Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840). Frankfurt (Main) 1998. S. 176.
Die Entstehung der (deutschen) Nation 7

griffs fand im Lauf des 19. Jahrhunderts in realiter mit der allmählichen Auflösung der traditio-
nellen Ständegesellschaft seine Entsprechung. Erst durch seine affirmative Verwendung des
Volksbegriffs waren die sozial- und moralphilosophischen Voraussetzungen für die Entwicklung
des deutschen Volkes zur Nation gegeben.
Die Frage „Was ist eine Nation?“ stellte sich im 19. Jahrhundert unter anderem der franzö-
sische Religions- und Geschichtswissenschaftler Ernest Renan in seinem berühmten Sorbonner
Vortrag von 1882. Dieser ist Dorothea Weidingers zufolge eine „der (geschichtlich-politisch)
reifsten und rationalsten Erklärungen des Nationsgedankens.“21 Renan definiert die moderne
Nation als „ein geistiges Prinzip, das aus tiefen Verwicklungen der Geschichte resultiert, eine
spirituelle Familie, nicht eine von Gestaltungen des Bodens bestimmte Gruppe“.22 Laut Renan
beruht die Nation auf der Erfahrung von Kontinuität: Zum einen setzt sie eine gemeinsame
Vergangenheit in Form der kollektiven Erinnerung voraus,23 zum anderen ein „gegenwärtige[s]
Einvernehmen“, als Nation zusammenleben zu wollen. Daher ist das „Dasein einer Nation“, so
heißt es in seiner berühmten Definition, „ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen
eine andauernde Behauptung des Lebens ist“ (In: Jeismann/Ritter, S. 309). Ein Beispiel für eine
solche Willensnation sei die Schweiz, weil sie trotz unterschiedlicher Ethnien und Sprachen eine
Nation bildet, die eine starke nationale Identifikation mittels der kollektiven Zusage an ein be-
stimmtes politisches, ethisches und soziales System herstellt.
Renans Ausführungen haben verblüffende Ähnlichkeit mit dem hundert Jahre später als
durchschlagend und bis heute als Forschungskonsens geltenden, konstruktivistischen Ansatz
Eric Hobsbawms, Ernest Gellners und Benedict Andersons, denen zufolge die Nation auf der
gemeinschaftlichen Vorstellung ihrer Mitglieder basiert, also einen Akt des bewussten Willens
darstellt.24 Demnach sind Nationen erdachte Konstrukte: „Die subjektive Perzeption der Bür-
ger, die an die ‚erdachte Nation‘ glauben, kann der Nation durch die psychischen Prozesse der
Inklusion der Angehörigen der Binnengruppe und der Exklusion der ‚Fremden‘ eine objektive
Realität verschaffen.“25 Nach der Vorstellung des Prager Professors für Philosophie und Anth-
ropologie Ernest Gellner ist die Nation definiert als politischer Ausdruck sozialer Bindungen, die

21
Dorothea Weidinger (Hrsg.): Nation – Nationalismus – Nationale Identität. Bonn 1998. S. 14. Die kommentierte
Quellensammlung verschafft einen Überblick über die Entwicklung des Nationsbegriffs sowie des Nationalismus
seit dem 18. Jahrhunderts.
22
Renan, Ernest: Was ist eine Nation? Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882. Aus dem Französischen von
Henning Ritter. In: Jeismann, Michael/Ritter, Henning (Hrsg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus.
Leipzig 1993. S. 290-311. Hier S. 307.
23
Vgl. dazu auch den von Maurice Halbwachs geprägten Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Maurice Halb-
wachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt (Main) 1991.
24
Vgl. Eric Hobsbawn: Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt (Main)/New York
2005. – Ernest Gellner: Nationalismus. Kultur und Macht. Berlin 1997. – Benedict Anderson: Die Erfindung der
Nation: zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt (Main)/New York 2005.
25
Klaus von Beyme: Deutsche Identität zwischen Nationalismus und Verfassungspatriotismus. In: Hettling, Manf-
red/Nolte, Paul (Hrsg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland: historische Essays. München 1996. S. 80.
8 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

in ihrer Kultur übereinstimmen (vgl. Gellner, S. 17). Das heißt, dass sich eine Nation erst dann
politisch konstituieren kann, wenn sie sich über gemeinsame kulturelle Faktoren, beispiels-
weise die Sprache, identifiziert hat. Als Identifikationsmuster führt Kultur also dazu, dass inner-
halb einer Gruppe spezifisch kulturellen Profils ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht, das
eine nationale Dimension annehmen kann. Allgemein unterscheidet die Forschung zwischen
zwei Arten von Nationen: Die Staatsnation (die sog. „politischen“ Nationenbildung der Staaten
West- und Nordeuropas, beispielsweise Frankreich), ist durch ein dezidiertes geographisches
Gebiet definiert, in dem eine einheitliche politische Struktur vorherrscht. Die Kulturnation oder
auch Sprachnation ist durch Kriterien der Sprache und Kultur bestimmt.26 Für eine solche
„sprachliche“ Nationsbildung, wie sie überwiegend im Mittel- und Osteuropa auftrat, ist
Deutschland beispielhaft.

Im 19. Jahrhundert bildete sich aus dem Gebiet, das wir heute als Deutschland bezeichnen, aus
einem losen, eine Vielzahl von Einzelstaaten unterschiedlichster Größe und unterschiedlichster
Interessen umfassenden Staatenbund, die deutsche Nation heraus. Diese Entwicklung wurde
militärisch durch die sogenannten drei Einigungskriege, wirtschaftlich durch die Gründung des
Zollvereins und politisch durch den Zusammenschluss im Norddeutschen Bund beeinflusst.
Diese „von oben“ veranlassten Maßnahmen waren aber noch längst nicht ausreichend, dass
ein Bayer, Sachse oder Hamburger sich nicht nur zu seinem jeweiligen Landesherrn zugehörig
fühlte, sondern sich auch und vor allem als Deutscher betrachtete. Die Generierung einer nati-
onalen deutschen Identität war ein historischer und kultursoziologischer Prozess, der durch
den Rekurs auf eine gemeinsame deutsche Sprache, Kultur und Geschichte an Substanz ge-
wann. Die seit der Französischen Revolution fortschreitende Emanzipierung des deutschen Bür-
gertums prägte dabei den Nationalismus und umgekehrt. Denn die nationale Bewegung, ver-
standen als Gesamtheit der politischen und kulturellen Kräfte aus dem liberalen und
demokratischen Lager des Bürgertums, das sich für die deutsche Einheit einsetzte, verfolgte
neben der Reichseinigung auch immer eine Demokratisierung der gesellschaftlichen Strukturen
und Liberalisierung der politischen Verhältnisse. Die Forderung nach Einheit implizierte bereits
seit den Befreiungskriegen auch die nach Freiheit und bekam in den auch den Rest Europas
erfassenden Revolutionen von 1830 und 1848 eine kollektive, ständeübergreifende Dimension.
Das Scheitern der Aufstände und die folgende Reaktionspolitik nahmen der nationalen Bewe-
gung ihren radikalen, revolutionären Charakter. Der Liberalismus, speziell der Nationalliberalis-
mus, übernahm die Funktion einer treibenden Kraft der deutschen Nationalbewegung im 19.

26
Vgl. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates.
München/Berlin 1908. Vgl. auch Stefan Neuhaus S. 25. Nach Heinrich Winkler sind die beiden Begriffe auf
Rousseau, dem der Begriff der „Staatsnation“ und Herder dem Begriff der „Kulturnation“ zugeordnet wird, zu-
rückzuführen. Vgl. Winkler S. 7. Vgl. zum Sprachnationalismus Anja Stukenbrock: Sprachnationalismus. Sprach-
reflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617-1945). Berlin 2005. Hier v. a. S. 241 ff.
Die Entstehung der (deutschen) Nation 9

Jahrhundert: Allgemeine Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die Bildung einer politischen Öffent-
lichkeit waren Voraussetzung sowie Ziel des nationalstaatlichen Prozesses. Die liberale Tendenz
des Nationalismus war – gerade angesichts republikanischer Vorzeigestaaten wie der Schweiz
– für das Außenbild Deutschlands genauso wichtig wie für die innere Konstruktion einer Wir-
Identität.
Die Politisierung des deutschen Bürgertums,27 die mit der Französischen Revolution begon-
nen hatte, wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch ein gemäßigtes liberal-bürgerliches,
also moralphilosophisches Menschenbild bestimmt. Friedrich Schiller fungierte als Repräsen-
tant dieses Menschenbildes, sein Werk wurde nach der damaligen bürgerlichen Wertekultur
rezipiert. Im Jahr 1859 feierte man in ganz Europa den hundertjährigen Geburtstag des Dich-
ters, der in einem solchen Maß politisiert und nationalisiert wurde, dass man von einer ersten
nationalen Massendemonstration in Deutschland sprechen kann. Da sich im gleichen Jahr auch
eines der wichtigsten Artikulationsforen der Nationalliberalen, der Deutsche Nationalverein,
gründete, begreift die vorliegende Arbeit das Jahr 1859 als Beginn eines neuen, spezifisch
deutsch-kulturellen Nationalismus.
Das Werte- und Machtvakuum, das die Liberalisierung und Säkularisierung hervorgebracht
hatte, wurde durch das Konzept der modernen Nation, in der sich der politisch bewusste
Mensch als Teil des Ganzen geborgen fühlen konnte, kompensiert. Wichtigstes Forum der po-
litischen Artikulation des Bürgertums und der Arbeiterschaft28 waren die Vereine, die im Lauf
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine explosionsartige Entwicklung nahmen. Als gewis-
sermaßen kleinste nationale Einheit vermittelte das flächendeckende Vereinswesen abseits
von politischer Restriktion und Parteikämpfen das Gefühl von Gemeinsamkeit und Kollektivität.
Der Großteil der Vereine war im kulturellen Bereich verortet und repräsentierte sich nach au-
ßen hin in einer Fülle von Festakten, die wiederum ein eigenes Genre der Festliteratur – Fest-
gedichte, Festspiele und Festreden – hervorbrachte.
Im 19. Jahrhundert gewann der Nationalismus als gesamteuropäisches Phänomen seine
epochenbildende Signifikanz: Säkularisierung, Industrialisierung, Kolonialisierung und wissen-
schaftliche Entdeckungen führten zu einem radikalen Legitimationsverlust von politischen, re-
ligiösen und gesellschaftlichen Ordnungssystemen mit vormals wertorientierender und sinn-
stiftender Funktion und machten die „Bildung eines neuen Kollektivsubjekts als Quelle

27
Zum Begriff des Bürgertums vgl. Thomas Nipperdey, S. 259 ff. Außerdem den von Jürgen Kocka herausgegebe-
nen Sammelband: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Verbürgerlichung, Recht und Politik. 3 Bde. Göttingen 1995.
Darin insbesondere der Aufsatz von Miroslav Hroch: Das Bürgertum in den nationalen Bewegungen des 19.
Jahrhunderts. Ein europäischer Vergleich. Bd. 3, S. 197-219.
28
Zwar war das Bürgertum in der nationalen Bewegung in Deutschland ohne Zweifel die größte Kraft. Aber auch
die Arbeiterschaft, die sich im Zuge der Industrialisierung als neue Schicht ausbildete, zeigte Interesse an der
nationalen Idee, weil sie – im Prinzip – von einer klassenübergreifenden wenn nicht klassenlosen Gesellschaft
ausging. Vgl. zur Entwicklung der Arbeiterschaft Nipperdey, S. 219 ff. Außerdem Dieter Langewiesche (Hrsg.):
Arbeiter in Deutschland: Studien zur Lebensweise der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Pader-
born 1981.
10 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

politischer Legitimität“29 erforderlich. Dieses Kollektivsubjekt war die Nation. Die radikalen
strukturellen Veränderungen bedeuteten in ihrer Gesamtheit die Auflösung der traditionellen
Ständegesellschaft und den Beginn der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Sie
markieren den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Industrialisierung schuf
durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Mechanisierung der Druckmaschine neue
Kommunikationsmöglichkeiten, die der Idee des Nationalismus zur nötigen Mobilität verhalf
und weiteren Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht wurde. Mit den gesellschaftsstrukturel-
len Veränderungen setzte sich beispielsweise die soziale Arbeiterliteratur oder die Eisenbahn-
literatur (vgl. Kap. 1.5) auseinander.
Der Nationalismus besaß nicht nur eine Funktion als Wertinstanz, sondern hatte in seinen
Ausdrucksformen auch eine religiöse Dimension.30 Nationale „säkularisierte“ Riten und Mythen
ersetzten im 19. Jahrhundert die christliche Liturgie und schufen durch ihre Konventionalität
und Selbstreferenzialität die Voraussetzungen für eine Identifizierung in gruppenspezifischer
und schließlich auch nationaler Hinsicht. So sicherte der in geselligen Vereinen organisierte Na-
tionalismus zum einen seine politische Partizipation auf lokaler oder nationaler Ebene und
verband zum anderen die politische Kommunikation mit dem Aspekt christlicher Zusammen-
gehörigkeit und deren emotionalisierender Wirkung. Gleichermaßen dienten Gedenkfeiern als
kollektive Erneuerung einer Gemeinschaft bzw. einer Nation, weil sich bei ihnen der Kult der
Geschichte (siehe den Historismus des 19. Jahrhunderts) aufs engste mit dem Kult der Nation
verknüpfte. Ihr Ausdrucksmittel fand die Assoziations- und Festkultur in der Inszenierung und
Rekonstruktion von Geschichte und nationalen Mythen. Die traditionell deutschnationale Sym-
bolik und Rhetorik bekräftigten die Riten und Mythen durch ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit
sowie durch ihr repetierendes Moment: sie waren liturgische Ikonen der Nation. Der neue po-
litische Stil des 19. Jahrhunderts in Form nationaler Symbole, Riten, Feiern, Mythen und Mas-
senkundgebungen ermöglichte es dem Volk an der Nationswerdung unmittelbar teilzunehmen.
Gerade in Deutschland musste für eine nationale Konstruktion auf eine gemeinsame Kultur
zurückgegriffen werden: War aufgrund der territorialen Zersplitterung des Heiligen Römischen
Reichs Deutscher Nation31 eine nationale Identitätsfindung ohnehin schwierig gestaltet, hörte
es mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. 1806 überdies auf, als politischer Dach-
verband zu existieren. Was übrig blieb war allein das Bewusstsein einer kulturellen Zusammen-
gehörigkeit. Daher war die deutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert eine kulturelle Be-
wegung und der deutsche Prozess der Nationsbildung ein wichtiges Beispiel für die Annäherung

29
Christian Geulen: Nationalismus als kulturwissenschaftliches Forschungsfeld. In: Jaeger, Friedrich u. a. (Hrsg.):
Handbuch der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2011. Bd. 3, S. 439-457.
30
Vgl. dazu den von Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche herausgegebenen Sammelband Nation und
Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt (Main) 2004.
31
Um 1800 bestand das Reich aus über dreihundert souveränen Einzelstaaten und über tausend reichsunmittel-
baren Gebieten. Vgl. Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress. In: OGG 12. München
2001. S. 7.
Die Entstehung der (deutschen) Nation 11

der Kunst an die Politik. Die Autoren übernahmen im Zuge eines neuen Autorenverständnisses
erstmalig bewusst – unter dem Vorzeichen der nationalen Idee – politische und soziale Verant-
wortung durch aktives nationalpolitisches Engagement. Raum dafür gab die stark wachsende
Vereinskultur (Sänger-, Schützen- und Turnervereine, Festkomitees etc.), in der nationale und
kulturelle Sphäre aufs engste miteinander verknüpft waren. Durch ihre seit Mitte des 19. Jahr-
hundert zunehmende Institutionalisierung, die Äußerung einer „kulturellen Vergesellschaf-
tung“32 war, nahmen gesellschaftliche und politische Aktivitäten zu. Das gemeinschaftsstif-
tende Assoziationswesen war wesentlicher Träger einer kollektiven Gedenkkultur im 19.
Jahrhundert, die das Bewusstsein einer kulturell und geschichtlich begründeten Zusammenge-
hörigkeit schärfte und damit eine nationale Identifikation förderte. So war der deutsche Weg
zur Staatsgründung, dem die Nationsbildung vorausging, von der Identifizierung über eine ge-
meinsame Kultur geprägt (deshalb deutsche „Kulturnation“).33
Während die politische Dichtung zwischen Befreiungskriegen und bürgerlicher Revolution
ihre erste radikaldemokratische Phase erlebte, verändert sich ab 1850 der Charakter der nati-
onal intendierten Literatur im gleichen Maße, wie sich auch die politische Ausrichtung der na-
tionalen Bewegung wandelte. Daran war auch die scharfe Zensur vor allem in Preußen und
Österreich schuld. Die neue, zwar liberal orientierte aber tendenziell systemaffirmative Litera-
tur, war darüber hinaus in der Erkenntnis der Notwendigkeit einer staatlichen Ordnung und der
Sehnsucht nach einer nationalen Identitätsfigur begründet. Die vorliegende Arbeit stellt diesen
gemeinsamen Aspekt der nationalen Identitätsfindung in der deutschsprachigen Literatur her-
aus, indem sie zeigt, wie sich die Texte deutscher, schweizerischer und österreichischer Auto-
ren innerhalb des Sinngefüges Nation mit dem jeweiligen politischen und sozialen System aus-
einandersetzten. Dabei muss im Fall der Schweizer und Österreicher zwischen kultureller und
politischer Identität differenziert werden: Auch noch nach der Reichseinigung 1871 identifizier-
ten sich schweizerische wie österreichische Autoren in ihrer kulturellen und künstlerischen
Identität mit Deutschland. Nach Conrad Ferdinand Meyer sind sowohl Deutsch-Österreicher als
auch Schweizer „Glieder der deutschen Nation, während beide Bürger von Staaten sind“, die
nicht zum Deutschen Reich gehören.34 Daher solle der schweizerische – und man kann ergän-
zen auch der österreichische – Schriftsteller „das Bewusstsein der staatlichen Selbstständigkeit
seiner Heimat und dasjenige ihres nationalen Zusammenhangs mit Deutschland in gleicher
Stärke besitzen.“35 Die Texte der schweizerischen und österreichischen Autoren spiegeln die
Dialektik von Selbst- und Fremdbild, d. h. die „kontrastive Abgrenzung von einem Anderen“ als

32
Friedrich Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne. Opladen 1990. S. 213ff.
33
Stefan Riesenfellner spricht im Gegensatz dazu von österreichischer Staatsnation. Stefan Riesenfellner: Steiner-
nes Bewusstsein. Wien 1998. S. 269.
34
Conrad Ferdinand Meyer 1891 in einem offenen Brief An die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in
Prag zu den Körner-Feiern. In MSW 15, S. 278 f.
35
Meyer am 15. Februar 1881, abgedruckt in MSW 15, S. 277.
12 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

„Bedingung für die Möglichkeit des Eigenen“ wider.36 Die Analyse der literarischen Reflexion
der doppelt empfundenen nationalen Identität der deutschsprachigen Österreicher und
Schweizer ist ein Anliegen der vorliegenden Arbeit. Die nationalpolitische Situation der beiden
Länder in Bezug auf die deutsche Nationswerdung soll in den nächsten beiden Teilkapiteln un-
tersucht werden.

1.2. Die Schweiz: Politische Kontextualisierung

Im 19. Jahrhundert hatte die Schweiz als einzige föderalistische Republik in Europa und zudem
umgeben von drei monarchischen Großmächten eine exponierte Stellung als Vorbild und Zu-
fluchtsmöglichkeit liberaler Oppositioneller aus den reaktionären Nachbarländern inne. Als
„Fluchtburg in der Mitte Europas“37 galt sie insbesondere nach der gescheiterten Märzrevolu-
tion. Die Integration der meist politischen Flüchtlinge aus Deutschland – z. B. durch die Beru-
fung deutscher Professoren an Schweizer Universitäten – führte zu einer Belebung des kultu-
rellen und gesellschaftlichen Austausches.38 Mit den exilierten deutschen Intellektuellen und
Kulturschaffenden (Dichter, Journalisten, Verleger) wurde ein starker Einfluss deutscher Kultur
in der Schweiz sichtbar. Während das Reich innen- wie außenperspektivisch als Kulturnation
wahrgenommen, ja darüber definiert wurde, identifizierte sich die Eidgenossenschaft weitest-
gehend über ihre politische Qualität, nämlich über seine republikanische Verfasstheit. Obgleich
sich die Schweiz politisch von Deutschland abgrenzte, blieb das deutsche Nachbarland in kultu-
reller Hinsicht stärkster Bezugspunkt: Deutschland und die Schweiz stellten zusammen mit Ös-
terreich einen „multinationalen deutschen Kulturraum“39 dar. Dieser dominierte dabei die ei-
genen schweizerischen Integrationsbemühungen innerhalb der multilingualen nationalen
Identität.40

36
Birgit Neumann: Grundzüge einer kulturhistorischen Imagologie. Die Rhetorik der Nation in britischer Literatur
und anderen Medien des 18. Jahrhunderts. In: KulturPoetik 10/1 (2010). S. 1-24. Hier S. 2.
37
Ulrich im Hof: Mythos Schweiz. Identität – Nation – Geschichte. 1291-1991. Zürich 1991. S. 185.
38
Keller berichtet davon in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Baumgartner am 10. März 1849 und merkt
ironisch an: „es ist wundersam: Deutschland schickt der Schweiz Demagogen und Komunisten und die Schweiz
sendet dafür reaktionäre Staatsmänner nach Deutschland [gemeint sind Blunschli und Dr. Keller]. Ein liebreicher,
wohlriechender Handel!“ In: KB 1, S. 281.
39
Nicole Rosenberger: Schreiben für die Republik. Schweizer Literaturgeschichte im Dienste nationaler und wis-
senschaftlicher Identitätsbildung um 1900. In: Caduff, Corina/Gamper, Michael (Hrsg.): Schreiben gegen die Mo-
derne. Beiträge zu einer kritischen Fachgeschichte der Germanistik in der Schweiz. Zürich 2001. S. 192
40
Michael Böhler ist der Meinung, dass sich der „Nationalliteratur-Diskurs in seiner Dialektik der Abgrenzungsbe-
mühungen vom gleichsprachigen Kulturraum der Nachbarnationen und der Bildungsversuche einer
translingualen nationalen Identität weitgehend als Geschichte seines Scheiterns“ liest. Michael Böhler: Nationa-
lisierungsprozesse von Literatur im deutschsprachigen Raum. Verwerfungen und Brüche – vom Rande betrach-
tet. In: Huber, Martin/Lauer, Gerhard (Hrsg.): Bildung und Konfession. Politik, Religion und Literatur: Identitäts-
bildung 1850-1918. Tübingen 1996. S. 21-38. Hier S. 21.
Die Schweiz: Politische Kontextualisierung 13

In der Mitte des 19. Jahrhunderts, die den zeitlichen Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit
bildet, liefen verschiedene, analog verlaufende politische Entwicklungen in der Schweiz und in
Deutschland zusammen. Während zum Beispiel im Jahr 1848 die Errichtung eines gesamtdeut-
schen konstitutionellen Staats scheiterte („Einheit und Freiheit!“), wurde in der Schweiz durch
die Sonderbundkriege die Schaffung des Bundesstaats erreicht. Das Jahr 1859 dagegen war in
der Schweiz wie in Deutschland vom Schillerfest dominiert. Die schweizerischen Schillerfeier-
lichkeiten wurden stark national funktionalisiert, indem die Bedeutung Schillers als Erzähler des
Schweizer Gründungsmythos (aitiologischer Mythos nach Döring, S. 75) hervorgehoben wurde
(vgl. Kap. 6.2 und 10.2).
Während der Deutsche Krieg 1866 in der Schweiz viel Kritik an Bismarck hervorrief, fielen
die Sympathien im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 überwiegend zu Gunsten Preußens
aus, da Frankreich als Angreifer und der Bonapartismus als Zerstörer der französischen Republik
und als Begründer eines katholisch-autoritären Systems kritisiert wurde. Mit der Reichseini-
gung verbanden sich in der Schweiz Hoffnungen auf eine republikanische und liberale Verfas-
sung. So ergriff Conrad Ferdinand Meyer im Kontext des Deutsch-Französischen Krieges 1870
offen für Deutschland Partei, indem er in einem selbststilisierten Gestus seine spektakuläre
„Wende“ vom französischen Wesen ab und zum deutschen hin verkündete. Er bediente sich
der nationalen Euphorie, um seinen literarischen Erfolg zu ebnen: Huttens letzte Tage, im
Kriegsjahr 1871 in erster Auflage veröffentlicht, war „nicht nur eine dichterische, sondern auch
eine politische Tat.“ 41 Die Gründung des Deutschen Reichs bestätigte nicht nur die „doppelte
Loyalität“42 der Deutschschweizer Autoren, sondern potenzierte sie sogar noch, weil durch sie
politischer und kultureller Raum sich enger miteinander verknüpfte. Autoren wie Gottfried Kel-
ler konnten daher gleichermaßen durch ihre liberale Gesinnung sowie ihre ästhetische Geltung
als Personifizierung einer auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts angesetzte Hochblüte der
Schweizer Literatur dienen (vgl. Rosenberger, S. 199). In Kellers Person vereinigten sich politi-
sches und kulturelles Ideal, insbesondere da er als Zürcher Staatsschreiber43 diese Position in
einem offiziellen Amt vertrat. Während Keller als Kind des schweizerischen Liberalismus in sei-
ner politischen Identität von seiner Schweizer Heimat geprägt war, sah er sich literarisch in der
Tradition Deutschlands: „[F]ür einen Poeten ist die Schweiz ein Holzboden“.44 So gehören Kel-
lers Texte zum Korpus deutschsprachiger Werke mit identitätsstiftender Funktion und geben
gleichzeitig eine andere (Außen-)Perspektive wieder.

41
Rezension in der NZZ am 16./17. Oktober 1871. Abgedruckt in MSW 8, S. 164 f.
42
Rosemarie Zeller: Schweizer Autoren und die Reichsgründung. Gottfried Keller und C. F. Meyer. In: Amann,
Klaus/Wagner, Karl (Hrsg.): Literatur und Nation: Die Gründung des deutschen Reiches 1871 in der deutschspra-
chigen Literatur. Wien u. a. 1996. S. 461.
43
Der Staatsschreiber ist in der Schweiz der administrative Leiter der Staatskanzlei. Er ist dem Regierungspräsi-
denten unterstellt und steht der Regierung beratend und unterstützend zur Seite. Keller hatte dieses Amt vom
September 1861 bis März 1876 inne.
44
Keller an Wilhelm Baumgartner am 28. 1. 1849. KB 1, S. 273.
14 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

Da sich bis in die 1880er Jahre die deutschsprachige Schweizer Literatur zur deutschen Lite-
ratur rechnete (vgl. R. Zeller, S. 462), impliziert die Perspektive eines Schweizer Dichters zwei
Aspekte: Einerseits nimmt er politisch und sozial eine außenstehende Position ein, andererseits
ist er selbst Teil des Kulturraums Deutschlands, der seine kulturellen Wurzeln prägte (nicht zu-
letzt durch die gleiche Schriftsprache) und somit Vorbild für das eigene Dichten ist. Viele
schweizerische Dichter, die sich einem übergreifenden deutschen Kulturraum verwandt fühl-
ten, unterschieden zwischen politischer und nationaler Zugehörigkeit, zwischen eigener
schweizerischer Heimat und deutschem Vaterland, was Meyer folgendermaßen ausdrückte:
„Unsre Gefühle Deutschland gegenüber: nun ja, man liebt ja wohl seine Heimat (die Schweiz)
mit dem Herzen, sein Vaterland (Deutschland) mit dem Verstande.“45 Heimat hatte im 19. Jahr-
hundert und hat in der Schweiz bis heute neben dem konkreten Raumbezug auch eine juristi-
sche Bedeutung (Heimatrecht bezeichnet einen Aufenthalts- und Bleiberecht). Für Meyer hat
der Begriff eine emotionale Dimension, wogegen er das Vaterland rationalisiert, also durch his-
torische und kulturelle Faktizität begründet.
Die Schweiz war, so kann man resümieren, zum Zeitpunkt der deutschen Nationsbildung in
politischer und nationaler Hinsicht bereits das, was Deutschland erst noch werden sollte.46 Und
trotzdem hatte auch sie angesichts der politischen und religiösen Probleme (Sonderbundkrieg,
Kulturkampf) einen Prozess der nationalen Identitätssuche und -vergewisserung zu durchlau-
fen. Während sich die Eidgenossenschaft politisch von Deutschland abgrenzte, war für Öster-
reich die Entwicklung des deutschen Liberalismus eher vorbildhaft.

1.3. Österreich und die (groß-)deutsche Identität

Auch nach der politischen Trennung Deutschlands und Österreichs, die durch die Schlacht von
Königgrätz 1866 und die Reichsgründung 1871 entschieden wurde, bezogen sich große Teile
österreichischer Identität weiterhin auf das deutsche Kultursystem. Der liberale Politiker Adolf
Fischof drückte die empfundene Ambivalenz von real-politischer und ideell-emotionaler Natio-
nalidentität aus, wenn er 1869 fragte: „wenn der […] Sohn das Vaterhaus verläßt, sind darum
alle Bande gelöst, ist darum jede Liebe gewichen, jede Gemeinschaft aufgehoben? Sind die po-

45
Fritz Koegel: Bei Conrad Ferdinand Meyer. Ein Gespräch. Mitgeteilt von F. K. Düsseldorf. In: Die Rheinlande.
Monatsschrift für deutsche Kunst. 1/1 (Oktober 1900). S. 27-29. Hier S. 29.
46
Die Schweiz wurde daher „zum politischen Vorbild für Deutschland“. Vgl. Günter, Manuela/Butzer, Günter/von
Heydebrandt, Renate: Strategien zur Kanonisierung des ‚Realismus‘ am Beispiel der „Deutschen Rundschau“.
Zum Problem der Integration österreichischer und schweizerischer Autoren in die deutsche Nationalliteratur.
In: IASL 24/1 (1999). S. 55-81. Hier S. 64.
Österreich und die (groß-)deutsche Identität 15

litischen Schranken zugleich die Marken deutschen Geistes, deutschen Empfindens und deut-
scher Sitte?“47 Fischof appelliert in seiner Politischen Studie über Oesterreich und die Bürgschaf-
ten seines Bestandes in Anbetracht der deutschösterreichischen Identitätssuche an den emoti-
onalen, konstruktiven Faktor eines nationalen Kollektivs. Nach dem Ausschluss Österreichs aus
der gesamtdeutschen Politik musste sich zunächst eine eigenständige Nation der Deutschöst-
erreicher, eine spezifisch österreichische Identität entwickeln, die mit einer (Neu-)Konstituie-
rung der österreichischen Literatur einherging. Die nationale Genese der Deutschösterreicher
verlief damit zeitweise parallel zur deutschen und vollzog sich auf teils gleichen, teils verschie-
denen „Identifikationsebenen“.48
Dabei war die österreichische Habsburgermonarchie als Vielvölkerstaat nicht von einer son-
dern von gleich mehreren Nationenbildungen geprägt. Die verschiedenen Unabhängigkeits-
und Emanzipationsbewegungen der Tschechen, Böhmen und Ungarn sowie der irredentisti-
sche Nationalismus der Italiener und Polen waren Ausdruck einer Vielzahl von Interessenskon-
flikten auf regionaler und nationaler Ebene, die unter dem Begriff der Nationalitätenfrage sub-
sumiert wurden. Während die Ungarn, Tschechen, Böhmen und Südslawen einen eigenen Staat
für sich beanspruchten, lebten die Deutschen Österreichs „im Bewusstsein der nationalen Iden-
tität der Deutschen überhaupt“.49 Seit 1815 identifizierten sich mit Deutschland sowohl die
dem Reich ansässigen Deutschen als auch die Deutschösterreicher. Was zunächst nur eine ge-
meinsame Sprachgruppe bezeichnete, wurde im Lauf des deutschen und österreichischen
Identifikationsprozesses im 19. Jahrhundert auf kulturelle Gemeinsamkeiten erweitert. Hierin
begründet ist ferner die lange Zeit anhaltende österreichische Identifikation mit Deutschland.
Zwar versagte letztlich die „Utopie einer literarisch-kulturell bestimmten gesamtdeutschen
Identität“ (Lengauer, S. 193) angesichts der politischen Realität des deutsch-österreichischen
Verhältnisses gerade nach 1866, nichtsdestotrotz bildete sich noch bis ins 20. Jahrhundert hin-
ein eine wechselseitige Beziehung deutscher und österreichischer Kultur und Literatur aus,
durch die ein groß- bzw. gesamtdeutscher Kulturraum imaginiert werden konnte. Daher ist die
Ausbildung der deutschen Identität im 19. Jahrhundert nicht von der österreichischen zu tren-
nen, ja sie erhielt gerade in der Auseinandersetzung mit Österreich ihre spezifische Ausprä-
gung. Auf der anderen Seite entstand in der Habsburgermonarchie selbst ein neues Verständnis
der eigenen Identität(en); Beispiel dafür sind die Entstehung der Nation der Deutschösterrei-
cher zu dieser Zeit (vgl. Bruckmüller, S. 292) und das neue nationale Selbstbewusstsein der sla-
wischen Völker, das die Suprematie der Deutschen in der Dynastie gefährdete. Gerade letzteres
Phänomen, das durch die Unabhängigkeitsbewegungen Ungarns und Tschechiens noch ver-
stärkt wurde, führte zur einer Identitäts- und Legitimationskrise, die „mit zu den Bedingungen

47
Adolf Fischof: Oesterreich und die Bürgschaften seines Bestandes: Politische Studie. 1869, S. 20.
48
Vgl. Ernst Bruckmüller. Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse. Wien
1996. S. 292.
49
Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800-1866: Bürgerwelt und starker Staat. München 1991. S. 344.
16 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

für die außerordentliche geistige Kreativität des jungen Wien um 1890“ gehörte und die sich
durch „den identitätsstiftenden Effekt dieses kulturellen Entwicklungsschubs letzten Endes sel-
ber auf[hob]“ (Sprengel Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 11). Die Wiener Mo-
derne ist, so kann man sagen, das Ergebnis dieser spezifisch österreichisch kulturellen Identi-
tätssuche.50 Die deutschösterreichische Intelligenz leitete aus der deutschen, kulturell
begründeten Vorherrschaft innerhalb der Monarchie eine politische Dominanz ab. Dieser „of-
fensive Kulturnationalismus“51 wich erst allmählich mit der Niederlage 1866, dem Ausgleich mit
Ungarn 1867 und mit dem Abstieg der Liberalen einem defensiven Nationalismus.
Aufgrund der Auseinandersetzung mit den anderen Völkern im Habsburgerreich sowie der
Bezugnahme auf die deutsche Kulturnation, gab es auch nach 1866, und selbst nach 1871, ein
starkes Bedürfnis der Deutschösterreicher, sich Deutschland (wieder) anzunähern.52 Trotz des
Vollzugs der staatsrechtlichen Trennung beider Staaten nach dem Ende des preußisch-öster-
reichischen Krieges, war die soziale, emotionale und kulturelle Bindung nach wie vor vorhan-
den. Bei der Nationswerdung der Deutschösterreicher sind vor allem zwei, zueinander in Kon-
flikt stehende Identifikationsebenen wichtig: die bereits genannte Identifikationsebene
„deutsche Kultur“, die im 19. Jahrhundert protestantisch-liberal geprägt war, stand der öster-
reichischen Identifikation „Kaisertum“,53 die traditionell katholisch geprägt war, gegenüber. Zu-
dem gewann der dynastische Herrscher angesichts der österreichischen Nationalitätenvielfalt
als Garant der Pluralität und Symbol der nationalen Identität in gleichem Maße an ideeller Be-
deutung wie er an politischer verlor.54 Da seitens der Regierung keine Maßnahmen zur Ausbil-
dung eines „spezifisch österreichischen Profils“ getroffen wurden,55 verlagerte sich die

50
Vgl. beispielsweise Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32).
51
Karl-Heinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus: zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien 1992. S. 454.
52
Wie Hans-Thorald Michaelis anhand seiner Studie über das Wiener Schützenfest von 1868 überzeugend aus-
führt, gab es auch nach Königgrätz noch Kräfte in Österreich, die sich für eine gesamtdeutsche Konstituierung
des Deutschen Reichs einsetzten. Vgl. Hans-Thorald Michaelis: Das III. Deutsche Bundesschießen 1868 in Wien
als politisch-historisches Phänomen. In: Mitteilungen des Institut für Österreichische Geschichtsforschung 104
(1996). S. 58-95. Vgl. zum Verhältnis der Österreicher zu Deutschland nach 1866 dem Aufsatz von Helmut Rump-
ler: Das Deutsche Reich aus der Sicht Österreich-Ungarns. In: Ders. (Hrsg.): Innere Staatsbildung und gesell-
schaftliche Modernisierung in Österreich und Deutschland: 1867/71 bis 1914. Wien 1991. S. 221-233.
53
Charles Sealsfield war der Meinung, dass die österreichische Loyalität gegenüber der Monarchie konstitutiv für
die nationale Identitätsstiftung war: „Diese 30 Millionen Untertanen werden nicht so sehr durch militärische
Macht, als durch Zuneigung zum Herrscherhaus zusammengehalten.“ Charles Sealsfield: Österreich wie es ist
oder: Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents: von einem Augenzeugen. London 1828. Nachdruck hrsg. von
Primus-Heinz Kucher. Wien u. a. 1997. S. 170 f.
54
Vgl. Helmut Rumpler: Die Rolle der Dynastie im Vielvölkerstaat des 19. Jahrhunderts. In: Wolfram, Herwig/Pohl,
Walter (Hrsg.): Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung. Wien 1991. S. 165-175. Hier v. a. S.
173 ff.
55
Markus Erwin Haider: Im Streit um die österreichische Nation. Nationale Leitwörter in Österreich 1866-1938.
Wien 1998. S. 46. Erst 1908, mit der Einführung des Schulfaches „Vaterlandskunde“, wurde der Versuch unter-
nommen eine Identifikation mit der Gesamtmonarchie im Sinn einer Definition des Vaterlandes als gesamte
Monarchie zu vermitteln. Vgl. Telesko, Werner: Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte
in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien u. a. 2006. S. 60 f.
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen 17

deutschösterreichische Agitation in den privaten, halböffentlichen Raum (z. B. der Vereine). In


diesem dominierten auf Basis historisch-kultureller Gemeinsamkeiten deutschnationale Ab-
sichten, die in Abgrenzung zum erstarkenden slawischen Einfluss auf die Versicherung einer
kulturellen deutschen Identität abzielten. Die Schillerfeiern 1859 waren ein wichtiges kulturpo-
litisches Ereignis gesamtdeutscher, ja europäischer Dimension, bei der durch ihre Identifikati-
onsfigur Schiller manche politische oder mentale Kluft zwischen Deutschen und Österreichern
überbrückt werden konnte.
In welcher Art und Weise sich die deutschösterreichische Identität in Bezug auf die deutsche
Nationsbildung ausnahm und wie das Verhältnis zur deutschen Identität aussah, soll im Kontext
des deutschsprachigen Kulturraums untersucht werden. Das Ziel ist, die deutschösterreichische
Literatur in Bezug auf kulturelle und soziale Phänomene der nationalen Konstitution – z. B. die
spezifische Nationalmetaphorik, die Vereine, die Schillerfeier von 1859, das Festspielwesen, die
Mythen- und Sagenbildung – zu hinterfragen. Das Jahr 1859 ist dabei für den deutsch-österrei-
chischen Nationswerdungsprozess entscheidend. Die durch die Niederlage Österreichs im Sar-
dinischen Krieg hervorgerufene außenpolitische Schwächung hatte innenpolitisch eine Stär-
kung der liberalen Kräfte sowie eine Phase der Konstitutionalisierung zur Folge. Das Schillerfest
1859 verstärkte den Aufschwung der Liberalen und trug zur Konstituierung eines kulturell ge-
prägten, gesamtdeutschen Reichs bei – die konträr zu den weiteren politischen Ereignissen von
1866 und 1871 stand.

1.4. „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen

Selbstverständlich hat der aus den Kulturwissenschaften bekannte „spatial turn“, der sich mit
den Voraussetzungen und Möglichkeiten räumlicher Wahrnehmung und Darstellung beschäf-
tigt, auch die nationalfokussierende Literaturwissenschaft erreicht.56 Der nationale Raum, also
die Inszenierung nationalidentifikatorischer Elemente im Räumlichen, scheidet sich in abstrakt-
metaphorische und konkrete Raumvorstellungen. Nach der Auffassung des Historikers Karl
Schlögel war der Nationalstaat „der ‚Meister des Raumes‘, die Agentur, die Raumerschließung,
Raumbewältigung und Durchdringung organisierte und trug.“57 Der konkrete nationale Raum
stellt ein abgestecktes Territorium dar, mit und in dem sich gewisse politische, kulturelle und
mentale Prädispositionen einer völkischen Gemeinschaft verbinden. Indem die Nation sich auf
ein bestimmtes Gebiet orientiert (Vaterland) ist sie auch geopolitisch konzipiert.

56
Zum Raumbegriff in der Literatur vgl. die Einführung von Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientie-
rung in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. Außerdem Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur: eine
Vermessung der medialen Weltraumordnung. München 2007.
57
Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt (Main) 2003. S.
74.
18 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

Deutschland ist beispielhaft für die Nationalisierung und Politisierung des Raums – das wird
beim Vergleich mit anderen europäischen Nationalhymnen deutlich.58 Während die Marseil-
laise republikanisch, God save the queen monarchistisch ausgelegt ist, bedient das Deutsch-
landlied (entstanden 1842) eine geopolitische, geographisch imaginäre Raumauffassung: „Von
der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ signalisiert einen vorgestellten nati-
onalen Raum der Deutschen, der bereits 1813 durch Ernst Moritz Arndts Lied Des Deutschen
Vaterland59 imaginiert wurde:

Was ist des Deutschen Vaterland?


Ist´s Preußenland? Ist´s Schwabenland?
Ist´s wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist´s wo am Belt die Möwe zieht?
O nein, nein, nein!
Sein Vaterland muss größer sein! […]

Was ist des Deutschen Vaterland?


So nenne endlich mir das Land!
Soweit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt!
Das soll es sein! Das soll es sein!
Das wackrer Deutscher nenne Dein!

Die geographischen Ausmaße des deutschen Reichs, das zu dieser Zeit noch aus vielen einzel-
nen Staaten und Kleinstaaten mit jeweils eigener Gesetzgebung bestand, werden in der fünften
Strophe als Sprachgebiet definiert: „Soweit die deutsche Zunge klingt“ bezeichnet den deut-
schen Raum, in dem die nationale Identität durch die gemeinsame Sprache konstituiert wird.
Das göttliche Moment impliziert eine ideelle Überhöhung und Stilisierung des sprachhistorisch
definierten Raums. Das Lied bezieht sich nicht nur auf ein real bestehendes, in feste Grenzen
definiertes deutsches Territorium, sondern greift auf einen kulturell-ideellen Raum über.
Die Nationalisierung des Raums wurde im 19. Jahrhundert zunächst in der Literatur konzi-
piert und fand z. B. in der Metapher des Hauses Ausdruck, die das Vaterland induktiv als Vater-
haus und die Gründung des Deutschen Reichs als Bau eines Hauses erschließt:

„Wir hatten gebauet


Ein stattliches Haus –“ (BA 18, S. 277)

58
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Niels Werber 2007, S. 61 ff.
59
In: Arndt, Ernst Moritz: Gedichte. Leipzig 1840. S. 210-212.
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen 19

Die metaphorische Bedeutung des zitierten Mottos mit Bezug zur studentischen Bewegung des
Vormärzes,60 das Raabes Roman Gutmanns Reisen (1890) vorangestellt ist, wird im Lauf der
Handlung weiter ausgestaltet. So wird das Habsburgerreich dynastisch, nämlich als „Haus Ös-
terreich“ (BA 18, S. 336, 339) mit „historischen Hypotheken“ (S. 340) charakterisiert und auf
das neu zu gründende „neue deutsche Reichshaus“ verwiesen, das man „aufbauen und aus-
möblieren“ (S. 286) müsse. Die Anspielung auf die klein- oder großdeutsche Lösung, die der
Roman durch eine Liebesgeschichte symbolisiert, wird auf der Textebene räumlich erfasst und
ironisch gebrochen. So wird durch den Protagonisten Wilhelm Gutmann der desaströse Zu-
stand der neu zu bildenden Nation im Haus-Bild erfasst:

Was konnte es denn ihm, Willi Gutmann, […] am eigenen egoistischen Wohlbehagen viel
abbrechen, wenn auch im neuen Hause die Öfen rauchten, die Fenster und Türen nicht
schlossen und die Mietsherrn, Landes- und Hausväter aller Sorten: Fürsten, Herzoge, Groß-
herzoge, Könige, ja, und vielleicht auch – Seine Majestät der deutsche Kaiser jede Gelegen-
heit, die Mieter [sic!] zu steigern, am Schopfe faßten, dagegen aber auf Verbesserungen,
Neu-Tapezieren und dergleichen nie oder nur sehr selten sich einließen? Ihm, immer Willi
Gutmann, blieb doch unter allen Umständen stets als letzte Rettung das Räsonnieren in
der Kneipe, und wenn es ja zum allerschlimmsten kam, konnte er ja ganz ausziehen und
ging nach Amerika, der freien Schweiz, zu Louis Napoleon oder sonst irgendwohin ins Kos-
mopolitische, ins Weltbürgerliche, ins: Ubi bene, ibi patria! (BA 18, S. 286).

Im Jahr 1860, in das die Handlung versetzt ist, sind die Wunden der Reaktionsära noch frisch
und der angekündigte Neubeginn („Neue Ära“) erst noch zu realisieren. Das deutsche „Haus“,
das die Nationalvereinsmitglieder im Roman erbauen wollen, ist ein angesichts der reaktionä-
ren Regierungen wackliges Konstrukt, dem der junge Beamte Gutmann kritisch gegenüber-
steht. Die im Falle des Scheiterns zu ergreifenden Strategien dem reaktionären Staat zu entge-
hen, ob Rückzug ins Private oder Auswanderung, wurden auch schon von der Generation seines
Vaters ergriffen und werden in den Kapiteln 2.4 und 7.1.2 besprochen.
Auch in Raabes Gedicht Ans Werk, ans Werk aus dem Jahr 186061 dient die Haus-Metapher
der induktiven Beschreibung der Nation. In sieben Strophen wird durch monotone (insgesamt
15malige) Wiederholung des titelgebenden Leitverses zum Bau des Hauses bzw. der Nation
aufgefordert:

Ans Werk, ans Werk mit Herz und Hand,


Zu bauen das Haus, das Vaterland!
Ans Werk, ans Werk, und lasst euch nicht Ruh,
Gegraben, gehämmert zu und zu!
Mit Händen hart, mit Händen weich

60
Der Zweiteiler stammt aus einem Kommerslied, dass 1819 von Daniel August von Binzer nach Unterdrückung
der Jenaer Burschenschaft verfasst wurde. Raabe zitiert es auch in seinem Roman Abu Telfan. Vgl. BA 7, S. 58.
61
Das Gedicht ist auch in seiner Erzählung Nach dem großen Kriege enthalten. Vgl. Kommentar BA 20, S. 511.
20 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

behauen die Steine zum Bau für das Reich;


Ans Werk, ans Werk, seis Tag, seis Nacht,
Keine Rast bis das Haus zu Stand gebracht –
Ans Werk, ans Werk! (BA 20, S. 360)

Das „Vaterland“ wird als „Vaterhaus“ metaphorisch dargestellt und dementsprechend richtet
sich das Vokabular aus. Im Gedicht werden die „sorgenden Männer, zum Bund, zum Bund“
gerufen, damit sie „die Steine zum Bau für das Reich“ behauen: „Und leget dem Vaterhaus den
Grund, Und leget den Grund dem Vaterland.“ Die Transformation vom Staatenbund zum Bun-
desstaat forderte seine Opfer, wie zum Beispiel während und nach der 1848er Revolution.
Diese Opfer bilden die eigentliche Basis der Nation, sie sind der Grund des Vaterhauses; damit
wird der Vaterlandstod als Märtyrerakt der patriotischen Vaterlandsliebe stilisiert.

Nicht irren lasst euch, o lasset nicht nach,


Auch schlummert´s sich gut unterm eigenen Dach;
O denkt, wen die Arbeit fordert ins Grab,
Den senken wir mit in den Grund hinab;
Und der Grund ist unser, es schlafen darin
Die toten Väter von Anbeginn; -
Aus der Helden Asche soll steigen das Haus,
Ans Werk, ans Werk, o haltet aus!
Ans Werk, ans Werk! (BA 20, S. 361)

In der Manier des zeittypischen Historismus heroisiert der Text die Vergangenheit zur Legiti-
mierung der Gegenwart. Der Imperativ wird zugunsten einer Spezifizierung der Sender- bzw.
Adressatenschaft aufgelöst, in der das „Ihr“ in ein, durch die historische Kontinuität verbunde-
nes „Wir“ übergeht. Aufgrund der Konstruktion des geschichtlich begründeten Kollektivs wird
der Rezipient zum Konsens über den Inhalt veranlasst. Die Neukonstituierung des Deutschen
Reichs wird religiös begründet:

Keine Hand ist so schwach, keine Kraft so gering,


Sie muss tun zu dem Bau ein gewaltig Ding;
Mancher Geist gar stolz, von gar hellem Schein
Mag doch nur verwirrend leuchten darein!
O bietet die Herzen, o bietet die Hand,
Daß sich hebe der Herd im Vaterland!
Ans Werk, ans Werk, es ist Gottes Will;
Fluch dem, der dem Ruf nicht folgen will:
Ans Werk! Ans Werk! (BA 20, S. 362)62

62
Zur weiteren religiösen Legitimierung verweist Raabe, wie auch schon in seinem Schillergedicht, explizit auf Lu-
thers Ein feste Burg ist unser Gott (siehe Strophe 3, Zeile 2: „Ihr baut ja die feste Burg in Gott“) und fügt sich
damit erneut in die poetische und politische Tradition der Befreiungskriege ein.
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen 21

Der liedhafte Rhythmus – evoziert durch das abwechselnde Versmaß von Anapäst und Tro-
chäus – und die vielfache Repetition von Schlagwörtern erzielen eine hohe Dynamik und starke
Sogwirkung.63 Durch das leitmotivische Bild vom Reich als Haus bzw. von der deutschen
Reichseinigung als Hausbau versucht Raabe den abstrakten nationalen Raum zu konkretisieren.
Sein kurz nach Entstehung des Gedichts erfolgter Eintritt in den deutschen Nationalverein kann
als sein Beitrag am Bau der deutschen Nation gewertet werden.
Nach 1848 wurde der national zu konstituierende Raum durch soziokulturelle Vereinigungen
– Vereine und Parteien – vorangetrieben, in ihren kollektivierenden Veranstaltungen – Feste
und Versammlungen – propagiert und durch kollektive Erinnerungsorte verortet. Damit ent-
steht ein Zusammenhang von geographischer Ortung und soziokultureller Ordnung (vgl. Niels
Werber 2007, S. 12 f.). Literarische Raumbeschreibungen sind im 19. Jahrhundert einem nati-
onalen Deutungsmuster unterworfen, das sich vor allem durch Identifikation (Orte des Kollek-
tivs) definiert. In den Texten der Schweizer Autoren sind zum Beispiel traditionell die Schweizer
Berge als Orte der Handlung wichtigstes Identifikationsmedium, bei den deutschen Autoren
wird der Wald als spezifisch deutsches Nationalsymbol zum nationalen Raum erweitert. Der der
für die Stiftung einer Gemeinschaft wirksamste Ort ist die kollektive Erinnerung, der Geschichts-
raum, in dem sich räumlicher und zeitlicher Diskurs treffen. Durch den Rekurs auf eine glorreich
verklärte Vergangenheit wird die nationale Existenz in der Gegenwart nicht nur konstruiert son-
dern auch legitimiert. Die Konstruktion des nationalen Raums in der Literatur besitzt eine dop-
pelte Fiktionalität, die das Fehlen eines realen deutschen Staatsgebiets zu kompensieren ver-
sucht. Dabei wollten die Autoren den Begriff Nation oder nationale Identität durch räumliche
Konkretisierung oder metaphorische Darstellung erfassen. Die im 19. Jahrhundert entstandene
Eisenbahn war ein Medium, mit dem die regelrechte ‚Erfahrung‘ des nationalen Raumes eine
neue zeitliche wie räumliche Dimension erhielt.

Wie bereits erwähnt war die Industrialisierung Europas ein wichtiger Faktor für die Entwicklung
des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Die Eisenbahn war als „Motor der Industrialisierung“64
das neue Mittel, mit dem vor allem seit den 1840er Jahren das territorial wie politisch zersplit-
terte Reich erfahren wurde – im wahrsten Sinne des Wortes. Der in Deutschland seit Ende der
1830er Jahre betriebene Eisenbahnausbau hatte nicht nur für den ökonomischen Transfer er-
hebliche Bedeutung. Das Reisen innerhalb der deutschen Einzelstaaten war für immer mehr
Menschen zugänglich und förderte damit einen sozialen, materiellen und geistigen Austausch.
Wilhelm Raabe ging sogar soweit, die neu gewonnene Mobilität als eigentlichen reichseinigen-
den Faktor zu betrachten: „Das deutsche Reich ist mit der ersten Eisenbahn zwischen Nürnberg

63
Daher bietet sich eine Liedform des Gedichts geradezu an; tatsächlich komponierte Willy Sendt 1948, als wieder
das Vaterland aufgebaut werden musste, einen vierstimmigen Männerchoral.
64
Lars Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn - Hotel - Hafen – Flughafen. Bielefeld 2015. S. 10.
22 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

und Fürth gegründet worden.“65 Für den Literaturhistoriker und Autor Alexander Jung (1799-
1884) erschließt sich die Bedeutung der Eisenbahn durch seinen dezidiert sozialen Charakter:

Die Einzelnen sind aus den entferntesten Räumen in unendlich kürzerer Zeit zu einander
gebracht. […] So ändert die Gegenwart alles. Fährt doch hier, in dieser neuen Art der Be-
wegung, beinahe kein Individuum mehr, keine Familie in bescheidener Bürgerlichkeit, nein,
eine Gesellschaft im weitesten Sinne des Wortes fährt, das Volk, aus allen Ständen ein-
trächtig gesellt, die Fürsten mit eingeschlossen, fährt mit einem solchen Dampfzuge […].66

Jung zufolge hat die Bedeutung des neuen Verkehrssystems eine nationale sowie soziale
Dimension: Es führt den Einzelnen zu einem (nationalen) Kollektiv zusammen und schafft eine
soziale Annäherung. Für Heinrich Heine, der als Augenzeuge der Eröffnung der französischen
Eisenbahnlinie in Paris beiwohnte, verursachte die Entwicklung des Eisenbahnwesens eine
„Erschütterung“ der Welt, bei ihrem Anblick erfasse ihn „ein unheimliches Grauen“, da mit ihr
„ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte“ beginnt: „[D]ie Zeit rollt rasch vorwärts,
unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen, und die abgenutzten Helden der Vergangenheit,
die alten Stelzfüße abgeschlossener Nationalität, die Invaliden und Inkurabeln, werden wir bald
aus den Augen verlieren.“67 Durch die Eisenbahn wird nach Heine „der Raum getötet“, so dass
die althergebrachten nationalen Grenzziehungen an Bedeutung verlieren –„Deutschland ist
fortgerissen in die Bewegung“68. Wegen der Verkürzung der bisherigen Reisedauer auf ca. ein
Drittel der Zeit entwickelte nicht nur Heine die Ansicht, dass sich der Raum durch die neue
Entwicklung verkleinern, ja gänzlich schwinden würde.69 Die Vorstellung von der Wirkung der
Eisenbahn hat dabei zwei Seiten: neben der Raumverkleinerung bzw. -vernichtung beinhaltet
sie auch den Aspekt der Raumerweiterung, indem plötzlich weitere Reiseziele zugänglich
gemacht wurden. Die im Zug zu erfahrende ‚fortreißende‘ Bewegung bedeutet den Verlust der
bisher erfahrenen lokalen Ordnung (vgl. Wilhelmer, S. 10).

Das neue Verkehrssystem wurde kontrovers diskutiert und literarisch verwertet.70 Den reich-
lichsten Niederschlag der Eisenbahnthematik findet sich in der Lyrik, so dass in der zweiten

65
Entstehungszeit unbekannt. In: BAE 5, S. 425. Die Strecke Nürnberg – Fürth wurde im Dezember 1835 eröffnet.
66
Alexander Jung: Goethes Wanderjahre und die wichtigsten Fragen des 19. Jahrhunderts. Mainz 1854. S. 227 f.
67
Heinrich Heine im Mai 1848 in seinem Aufsatz Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. LVII. In: Wind-
fuhr, Manfred (Hrsg.): Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke [Düsseldorfer Ausgabe]. Bd. 14. Hamburg
1990. S. 57.
68
Ders.: Prosanotizen. Bd. 10. S. 336.
69
Vgl. dazu Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im
19. Jahrhundert. Frankfurt (Main) u. a. 1977. S. 35 ff.
70
Für einen ersten Überblick über das Thema siehe: Johannes Mahr: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der
Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. München 1982. – Manfred Rie-
dels Aufsatz: Vom Biedermeier zum Maschinenzeitalter. Zur Kulturgeschichte der ersten Eisenbahnen in
Deutschland. In: Segeberg, Harro (Hrsg.): Technik in der Literatur. Frankfurt (Main) 1987. S. 102-131. – Alfred
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen 23

Hälfte des Jahrhunderts eine eigene Textsorte der Eisenbahnlyrik entstand. Im Vergleich dazu
ist in den Romanen des 19. Jahrhunderts das Thema Eisenbahn nur sporadisch dargestellt.71
Drei ausgewählte Beispiele von Erzähltexten sollen im Folgenden verschiedene Aspekte und
Perspektiven der Auseinandersetzung mit der Eisenbahn zeigen.
Die von Heine noch problematisch empfundene Raum-Zeit-Wahrnehmung des Reisens,
spielt in Wilhelm Raabes 1890 verfassten Roman Gutmanns Reisen, der bereits im Titel das
Thema leitmotivisch hervorhebt, keine Rolle mehr. Indem der Beginn des Romans „einzig und
allein um den Weg nach dem Bahnhof“ handelt, stellt der Text zunächst den Transitort Bahnhof
in den Mittelpunkt der Geschichte. Denn, so fragt der auktoriale Erzähler rhetorisch:

Wie wären ohne den Weg zum Bahnhof die deutschen Völkerstämme zu einem erträgli-
chen Verhältnis untereinander, wie wären die beiden aus den annähernd dieselbe Sprache
sprechenden zwei deutschen Völkerschaften stammenden jungen Leute miteinander zu-
sammengekommen? Wie hätte aus dem heillosen Durcheinander im ganzen und im ein-
zelnen ein Herz und eine Seele, ein Fleisch und ein Blut werden können ohne den – Weg
zum Bahnhof? (BA 18, S. 214)

Durch die Eisenbahn scheinen nicht nur räumliche, sondern auch sprachliche und – wie der
Leser im Laufe des Romans feststellt – auch kulturelle Unterschiede zwischen den deutschen
„Völkerschaften“ überwunden werden zu können, so dass ihre Annäherung und Vereinigung
zur Nation an Substanz gewinnt. Die Bedeutung der Eisenbahnentwicklung für die Reichseini-
gung gewinnt aus Raabes späteren Perspektive – Gutmanns Reisen erschien 189072 – eine mi-
litärische Dimension: Die eisenbahngestützte Truppenmobilisierung und -versorgung bot im
Deutsch-Französischen Krieg Schnelligkeit und Effizienz und damit kriegsentscheidende Vor-
teile.
Der Roman behandelt retrospektiv die im Jahr 1860 in Coburg stattgefundene erste gesamt-
deutsche Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins, an der Raabe selbst teilnahm.
Damit tritt der Autor zum Augenzeuge auf, zum „Geschichtenberichter und Geschichteberich-
tiger“ (BA 18, S. 214): Mit Beginn der sog. Neuen Ära „trommelt[e]“ das liberale Bürgertum „die

Heinimann: Technische Innovation und literarische Aneignung: die Eisenbahn in der deutschen und englischen
Literatur des 19. Jahrhunderts. Bern 1992.
71
Vgl. Johannes Mahr: „Tausend Eisenbahnen hasten … Um mich. Ich nur bin die Mitte!“ Eisenbahngedichte aus
der Zeit des Deutschen Kaiserreichs. In: Segeberg, Harro (Hrsg.): Technik in der Literatur. Ein Forschungsüberblick
und zwölf Aufsätze. Frankfurt (Main) 1987. S. 132-173, hier S. 137.
72
Der Roman liegt zwar durch sein Erscheinungsjahr außerhalb des eigentlichen Untersuchungszeitraums, hat je-
doch trotzdem hohe Signifikanz bei der literarische Auseinandersetzung der deutschen Nationswerdung – was
zu zeigen sein wird. Raabe selbst erklärt 1892 im Nachwort der zweiten Auflage seines Schillerfest-Romans Der
Dräumling den unmittelbaren Zusammenhang beider Texte: „Beide Bücher, der Dräumling und die Reisen ge-
hören zueinander wie die Jahreszahlen 1859 und 1860. – Die Familien Gutmann und Blume würden sicherlich
nicht in Koburg sich so rasch zur gemeinschaftlichen Aufrichtung des neuen deutschen Reichs die Herzen und
die Hände geboten haben, wenn nicht vorher der Rektor Fischarth, der Sumpfmaler Haeseler und Fräulein
Wulfhilde in Paddenau im Dräumling die Schillerfeier trotz allem zustande gebracht hätten!“ (BA 10, S. 7)
24 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

ganze Landkarte nach Koburg hin“ (BA 18, S. 216), dem einzigen deutschen Staat, dem der
Deutsche Nationalverein Exil gewährte. Die topographische Verortung findet im Lauf des Ro-
mans eine zunehmende Konkretisierung und Materialisierung: Man sei in Coburg zusammen-
gekommen, um „einen neuen nationalen Kulturboden zuzurichten“ (BA 18, S. 257).
Dabei handelt der Beginn von Gutmanns Reisen nicht nur vom Weg zum Bahnhof, sondern
auch von der Reise mit der Eisenbahn nach Coburg. Es ist nicht die Reise eines Einzelnen, der
Reise des Alt-48ers und ehemaligen Handlungsreisenden Gutmann und seines Sohnes Wilhelm,
sondern eine „Erhebung“ (die althochdeutsche Bedeutung von „reisen“ ist „risan“ = erheben)
des ganzen deutschen Volkes, die freilich nach Raabe´scher Manier ironisch gebrochen wird.73
Die Zugfahrt von Vater und Sohn nach Coburg ist Teil eines geschichtlichen Prozesses, den der
Text induktiv anhand des Schicksals zweier Generationen darstellt. Die Fahrt geht über ge-
schichtsreiche Städte wie Wasungen (Wasunger Krieg 1747/48),74 Eisenach (Luther, Wartburg-
fest 1817 und 1848) und Kassel Wilhelmshöhe. Beim Anblick der riesenhaften, die Macht und
Stärke des absolutistischen Herrschers repräsentierenden Herkulesstatue erwacht der phleg-
matische Vater Gutmann75 aus seinem „stupor“, sie wirkt als politische „Offenbarung“ (BA 18,
S. 230). Die als „Epimenides Erwachen“ bezeichnete Erweckung des Alt-48ers aus seiner bür-
gerlichen Zurückgezogenheit besitzt eine mehrfache nationalpolitische Konnotation: Sie ver-
weist nicht nur auf die zur Epimenides-Sage parallel konstruierte Barbarossa-Sage vom Höhlen-
schlaf, sondern auch auf Goethes gleichnamiges patriotisches Festspiel, das er anlässlich des
Sieges über Napoleon 1814 verfasste.76 Mit dem Verweis auf die Zeit der Befreiungskriege ver-
bindet Raabe die politische Erweckung des liberalen Bürgertums nach der zehnjährigen Reak-
tionszeit, für das Vater Gutmann repräsentativ steht, mit den Ursprüngen ihrer politischen Re-
levanz und ihres früheren Erfolgs.
Vater Gutmann und sein Sohn „erfahren“ nicht nur den realen Raum, sondern auch einen
nationalpolitisch aufgeladenen, historischen Raum. Durch die Einbettung der Romanhandlung
in die Eisenbahnthematik verarbeitet Raabe literarisch seine Überzeugung, dass „[d]as deut-
sche Reich […] mit der ersten Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth gegründet worden“ (BAE
5, S. 425) sei.

73
Florian Krobb geht in seinem Aufsatz in Hinblick auf das Gesamtwerk Raabes von einer „Entmythisierung der
Bewegung vom Heimatort“ in Gutmanns Reisen aus, die er vor allem durch einen sprachkritischen Diskurs im
Roman begründet. Vgl. Krobb, Florian: „Von wegen leichtsinniger Reiseverplemperungsgelegenheit“: Zur Ent-
mythisierung der Bewegung vom Heimatort in Wilhelm Raabes „Gutmanns Reisen“. In: Fuchs, Anne/Harden,
Theo (Hrsg.): Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Post-
moderne. Heidelberg 1995. S. 493-505.
74
Der Wasunger Krieg gilt aufgrund seines bedeutungslosen Anlasses (es ging um den Streit zweier Hofdamen,
welche den Vortritt bei Hofe habe) als eine der skurrilsten Auswüchse der Kleinstaaterei in Deutschland und
kann daher als ironischen Hieb Raabes auf die territoriale Zersplitterung gedeutet werden.
75
Vgl. zum Phlegmas Vater Gutmanns Kap. 7.1.2.
76
Vgl. Kommentar BA 18, S. 490.
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen 25

In der Schweiz war es gerade umgekehrt: Erst mit dem Zusammenschluss der Eidgenossen-
schaft zum Bundesstaat 1848 konnte der Eisenbahnbau national einheitlich beginnen. Vorher
hatten die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Kantone dies noch (mit Ausnahme der
Strecke Zürich – Baden) verhindert. Ein regelrechter „Eisenbahnboom“ erfolgte dann 1852 mit
dem Erlass des Eisenbahngesetzes, dass die Privatisierung der Eisenbahn erlaubte. An einer der
zahlreichen Streckeneröffnungen nahm auch Gottfried Keller teil. An Ludmilla Assing schreibt
er 1856:

Auch ergreifen meine Herren Landsleute, als ob sie nicht bereits Feste genug hätten, be-
gierig den Anlaß der Eisenbahneröffnungen, um gleich ein großes Volksfest daraus zu ma-
chen, wo viele Tausende zusammenkommen. So ist jüngst eines in St. Gallen gewesen, wo
alle Arbeiter, welche die Bahn gemacht, in einem ungeheuren Aufzug mit bekränzten
Werkzeugen und Wagen erschienen, so symbolisch und ausgedacht, als ob es aus dem
Wilhelm Meister geschöpft wäre. Possierlich war es, als der Hauptredner begann: Dieß sei
der Tag, welchen Gott, die Ingenieurs und unser Volk gemacht hätten! (KB 2, S. 41)

Kellers kritisch kommentierte Beobachtung zeigt die Einbindung des neuen Transportwesens
in die Tradition der öffentlichen Festkultur, bei der die Teilnahme des ganzen Volkes am Bau
konstruiert wird. Indem die Arbeiter sich selbst feiern und ihr getanes Werk präsentieren, zei-
gen sie ihre empfundene Identifizierung mit der Eisenbahn. Der Festredner betont diesen sozi-
alen Zusammenhang und sakralisiert gleichzeitig die neue Technik, wenn er den Eisenbahnbau
als Verdienst Gottes, der Ingenieure und des Volkes würdigt. Der symbolisch aufgeladene Um-
zug zeigt, wie das Fest eine eigene Fiktionalität hervorbringt, der Keller sarkastisch literarische
Bedeutung zuschreibt.
In Kellers politisch-kritischem Altersroman Martin Salander (1886)77 rahmt der Bahnhof als
Transitort die Handlung ein. Zu Beginn bietet er den räumlichen Kontext für die Einführung des
titelgebenden Protagonisten, der – so erfährt es der Leser später – nach Jahren der Abwesen-
heit zu seiner Familie zurückkehrt. Bei seiner Ankunft an „einem Bahnhofe der helvetischen
Stadt Münsterburg“, die den Roman media in res eröffnet, fällt Martin Salander die veränderte
Stadtarchitektur auf, die neuen Straßenanlagen und vor allem statt des alten Bahnhofes „ein
weit größeres Gebäude“:

Die reichgegliederte, kaum zu übersehende Steinmasse leuchtete auch so still prächtig in


der Nachmittagssonne, daß der Mann wie verzückt hinsah, bis er von dem Verkehrstrubel
unsanft gestört wurde und das Feld räumte. Aber der erhobene Kopf, die an der Hüfte
gelind sich hin und herwiegende Reisetasche ließen erkennen, wie er vom Schwunge der

77
Kellers Roman ist neben Raabes Gutmanns Reisen der zweite Text, der außerhalb des zeitlichen Untersuchungs-
rahmen der vorliegenden Arbeit liegt. Er wird im Folgenden allein für das Kapitel über den nationalen Raum
verwendet.
26 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

Gedanken bewegt, von Genugtuung erfüllt dahinschritt, um Weib und Kinder aufzusuchen,
wo er sie vor Jahren gelassen. (HKKA 8, S. 5)

Die positive Beschreibung des Äußeren der Figur, die Salander als weitgereisten und stilsiche-
ren Mann von Welt ausweist, korrespondiert mit der Beschreibung des Bahnhofsgebäudes, das
der Text nicht nur übertragen, sondern auch wortwörtlich ins rechte Licht rückt. Verzückung
(„wie verzückt“) und „Genugtuung“ löst der Anblick des Prachtbaus („so still prächtig“) bei dem
Heimkehrer aus, da der Fortschritt der Stadt – ersichtlich durch die Repräsentativität des Bahn-
hofs – dem eigenen Erfolg in der Ferne entspricht. Der Bahnhof verkörpert also nicht nur den
„Eintritt in die Stadt“ (Schivelbusch, S. 152), sondern dient auch der Einführung und Charakte-
risierung des Protagonisten.
Der Bahnhof samt neuem Bahnhofsgebäude ist Ausgangspunkt Salanders Reisen nach Süd-
amerika und Zielpunkt seiner Heimkehr.78 Aber noch mehr durchzieht er das Leben der Familie
Salander in der Schweiz, wie das „das Ländchen überall von den Schienenwegen durchzogen“
(HKKA 8, S. 143) ist. So plant der Vater die Hochzeit seiner beiden Töchter Setti und Netti als
„freiheitliches Volksfest“ (S. 157), mit Aufführungen von „politische[n] Schauspiele[n] und Alle-
gorien […] unter freiem Himmel“ (HKKA 8, S. 246). Die Doppelhochzeit soll „[d]em Geiste der
Zeit entsprechend“ (S. 163) auf dem Bahnhof gefeiert werden:

Die aus der Stadt und ihrer Umgebung geladenen Gäste verfügen sich nach dem Bahnhof,
wo die Hochzeitspaare und deren Eltern sie erwarten. Jedermann ist anständig gekleidet,
wie zu einem sonntäglichen Ausfluge; aber keine Ballroben, keine Fräcke werden gesehen.
Im Saale der Bahnhofswirtschaft wird die Morgensuppe genossen, mitten im Verkehr des
reisenden Publikums, ein Bild des rastlosen Lebens. […] Dann führt ein Extrazug die Hoch-
zeit nach dem Orte, wo die Trauung stattfinden soll […]. (HKKA 8, S. 163)

Der versinnbildlichte Hochzeitszug der Gäste sowie die Öffentlichkeit der Feier soll ihr paritäti-
sches und demokratisches Moment demonstrieren, wobei die Kleiderordnung dieses Ansinnen
unterstützt. Das „Bild des rastlosen Lebens“, das der Ort der Hochzeit liefert, ist quasi ein Vo-
rausblick auf die ehelichen Probleme der beiden „merkwürdigen“ Bräuten mit ihren beiden
Ehemännern, den „denkwürdigen Zwillingsbrüdern“ (HKKA 8, S. 168 f.). Die Eisenbahn verbin-
det auch nach der Vermählung und dem Auszug der Töchter die Familie: Gegenseitige Besuche
sind dank ihr auch kurzfristig möglich und lassen die Überwindung der familiären Trennung
immerhin temporär zu. In den Augenblicken der Not – die Ehemänner der Schwestern werden

78
„Als auch alles Uebrige verrichtet war, begleitete die kleine Familie den Martin Salander auf den Bahnhof, zu
guter Zeit. Auch Herr Möni Wighart stellte sich um so pünktlicher ein, als er in der Restauration, den lustigen
Verkehr des Frühherbstes betrachtend, eine Tasse kräftiger Fleischbrühe zu genießen pflegte. Er versprach dem
Abreisenden, die Wohlwendsche Konkurssache unter der Hand zu beobachten und getreu zu berichten, was im
Publikum vorgehe und geredet würde. So fuhr Martin wieder den atlantischen Ufern zu.“ HKKA 8, S. 70 f. Auch
Salanders Sohn geht nach Südamerika.
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen 27

des Amtsmissbrauchs und Betrugs überführt – versagt jedoch die Eisenbahn, denn ihren noch
für die Hochzeit erwünschten öffentlichen Charakter erweist sich nun angesichts des Skandals
als nachteilig.79
Das Buch endet – und so schließt sich der Kreis – ebenfalls am Bahnhof. Der Spekulant und
Betrüger Louis Wohlwend, durch dessen Verschulden Martin Salanders gesamtes Vermögen
verloren gegangen ist, nimmt, geschwächt durch die Standhaftigkeit und Ehrlichkeit seines Ge-
genspielers, letzten Endes reiß aus: man „habe Wohlwend auf dem Bahnhofe gesehen, wie er
mit Weibern, Kisten, Koffern und bösen Blicken erschienen und mit einem Blitzzuge abgefahren
sei“ (HKKA 8, S. 354). Indem erster und letzter Satz des Romans den Bahnhof thematisieren –
und zwar als Ankunftsort Salanders und als Abfahrtsort Wohlwendts – rahmt er nicht nur die
Handlung, sondern präsentiert quasi leitmotivisch ein „Bild des rastlosen Lebens“, des Kom-
mens und Gehens, und der Dynamik der modernen, bereits in ihren Anfängen globalisierten
Welt. Keller entwirft hier nicht mehr eine Idylle der Schweiz als nationale, kohärente „Insel“,
sondern betont einen Individualismus und Materialismus, der im Kontext der Gründerzeit im
Kampf ums Dasein darwinistisch-negativ ausgelegt werden muss. In Kellers Martin Salander
findet die unmittelbare Einflussnahme der Eisenbahn in alle Bereiche des öffentlichen und pri-
vaten Lebens Ausdruck. Ihre Bedeutung für Keller hat eine politisch-soziale Dimension, denn
die Eisenbahn eröffnet auch ärmeren Schichten den Zugang zur neuen Freiheit.

Eine andere Perspektive, nämlich die der Eisenbahnarbeiter nimmt Ferdinand von Saar ein. Der
österreichische Autor, der sich „in kritischer Distanz zur sozialen und ökonomischen Politik des
Liberalismus […] v. a. für die Opfer der Modernisierungsprozesse“80 interessierte, gewährt in
seiner Novelle Die Steinklopfer einen Einblick in das Leben der Arbeiter, die die Eisenbahnschie-
nen legten. Von Saar (1833-1906), der sechzehnjährig in die Armee eintrat, aber 1860 die Offi-
zierskarriere zugunsten der Schriftstellerei aufgab, wurde durch seine Novellen aus Österreich
(1877) und den Wiener Elegien (1893) zum literarischen Chronisten seiner Zeit, in denen er ein
authentisches Bild seiner Epoche wiederzugeben versuchte. In Die Steinklopfer aus dem Jahr
1874 wird die Eisenbahn zur Alltagserfahrung seiner Figuren. Darin ist der Bau an der ersten
normalspurigen Gebirgsbahn Europas, der 1854 eröffneten Semmeringbahn, stoffliche Basis
einer Liebesgeschichte, die von der sozialen Emanzipation zweier Arbeiter handelt, die als

79
Der Pferdewagen wird aus praktischen Gründen der Eisenbahn vorgezogen, vor allem bietet er mehr Privatheit:
„[W]ir könnten einen Wagen nehmen, trotz der Eisenbahn, so müssen wir nicht mit Setti zu Fuß nach der Station
wandern und können auch ihre Sachen sofort aufladen. […] Und hier kommen wir gerade recht mit der Dunkel-
heit an, so daß es auch gar nichts zu gaffen gibt“ (HKKA 8, S. 294). „Sie [Netti] war in der Angst keines anderen
Beschlusses fähig, als sofort nach Münsterburg zu eilen; ein Bahnzug stand während mehrerer Stunden nicht in
Aussicht, auch fürchtete sie schon die Leute, die mitreisten, und die Angestellten sowie die auf den Stationsplät-
zen Herumstehenden. So machte sie sich kurzentschlossen auf und legte den dreistündigen Weg zu Fuß zurück.
Wie sich später ergab, waren Ahnung und Furcht wohlbegründet. Julian saß zwar nicht im Gefängnis wie Isidor;
aber er war bei der ersten Kunde von den Vorgängen im Lautenspiel außer Landes geflohen“ (HKKA 8, S. 298).
80
Karl Wagner, NDB 22, S. 316.
28 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

Steinklopfer die unterste soziale wie technische Stufe des Prozesses des Eisenbahnbaus reprä-
sentieren. Der Beginn der Novelle bewertet die Bedeutung der Semmeringbahn als außerge-
wöhnliches „Wunderwerk“ des Jahrhunderts durch die Perspektive eines Zuggastes, der seine
Fahrtimpression der lebensfeindlichen alpinen Natur schildert.81 Die bereits in den ersten Wor-
ten gestaltete, zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheidende Relativierung des Ein-
drucks, betont die Schnelllebigkeit der Zeit:

Wer in früherer Zeit – heutzutage ist der Eindruck nicht mehr so gewaltig – die Bahn über
den Semmering, die sich längs gähnender Abgründe und schroffer Felswände emporwin-
det, zum ersten Male befahren hat, der wird, wenn der Zug über schwindelerregende Via-
dukte donnerte oder plötzlich mit schrillem Pfeifen in die Nacht endlos scheinender Tun-
nels hineinbrauste, jene mit erhabenem Grauen gemischte Bewunderung empfunden
haben, die uns stets überkommt, wenn wir etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten,
verwirklicht vor uns sehen. (SSW 7, S. 113)

Der Text beschreibt die Eisenbahn in Relation zu der sie umgebenden bedrohlich wirkenden
Natur, die sie zu überwinden imstande ist. Während die Berge durch ihre enorme Höhe cha-
rakterisiert werden, durchkreuzt der Zug diese in einer waagerechten und betont schnellen, ja
rasenden Bewegung, die wie eine Flucht vor der scheinbar bezwungenen Natur wirkt. Dieser
räumlich bezogene Antagonismus von Vertikalität und Horizontalität wird durch einen visuellen
bzw. akustischen Reiz verbunden („gähnende Abgründe“ vs. „donnerte“, „schrillem Pfeifen“).
Die Widrigkeit der als unmöglich geglaubt zu überwindenden Natur betont dabei die Macht des
technischen Fortschritts. Indem man „fast so rasch wie der Gedanke, aus der unruhvollen,
staubdurchwirbelten Hauptstadt am Ufer der Donau an den Strand der blauen Adria versetzt
werden kann“ (SSW 7, S. 113), werden die Gesetze von Raum und Zeit scheinbar aufgehoben.
Die eigentliche Realität des Textes besteht darin, dass er die Arbeiter dieses „Wunderwerks“,
„welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt,
Steinblöcke gewälzt, Abgründe überbrückt“ (ebd.) haben, in das Zentrum seiner Geschichte
setzt und damit sozialkritisch vorgeht. Die Darstellung eines „schlichte[n] Lebensbild[es]“ von
den „armen Menschen, welche seit jeher, ohne daß ihnen selbst bis jetzt die Segnungen des
Fortschritts zuteil geworden wären, treulich mitgeholfen bei der großen Kulturarbeit der Völ-
ker“ (SSW 7, S. 114) steht in krasser Diskrepanz zu den Errungenschaften der neuen, technisier-
ten Welt.

81
Auch Ferdinand Kürnberger schwärmt in seinem Aufsatz Politischer Allerseelentag vom 12. November 1871 von
dem Semmering: „Was für Rhodos der Koloß, für Ephesus der Diana-Tempel. Für Athen und die Akropolis und
für Rom das Kapitol war, das ist für Wien die benachbarte Semmeringbahn. Selbst ich und mein deutscher Nach-
bar, die wir schon oft über den Semmering gefahren, – als nun die Auffahrt über Spital hinausging, lagen wir wie
Kinder in dem Fenster und bewunderten die dämonisch packende Gewalt des Schauspiels, das ‚herrlich wie am
ersten Tag‘ war, wieder von neuem“ (In: Kürnberger: Siegelringe, S. 189).
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ Nationale Raumvorstellungen 29

Die Bahn war hergestellt. Der zyklopische Lärm der Arbeit, das Donnern der Sprengschüsse
war verhallt, und das zahl- und rastlose Menschengewirr, das sich aus dem entlegenen
Böhmen, den mährisch-ungarischen Niederungen, aus dem steinigen Karst und dem ge-
segneten Friaul hier zusammengefunden hatte, war weiter südwärts gezogen, um dort sein
mühevolles Tagewerk fortzusetzen. (SSW 7, S. 114)

Wie das Schienennetzwerk die Überwindung des Raums, eine Verbindung zwischen dem Ent-
fernten herstellt, bringt die Arbeit an den Schienen die Menschen, wenigstens zeitweise, aus
den entlegensten Gebieten der Habsburgermonarchie zusammen. Der Text zeigt anhand des
Schicksals zweier Steinklopfer, wie der unaufhaltsame Fortschritt im industriellen Zeitalter auf
Kosten der Arbeiter ging und setzt ihnen damit gleichzeitig ein literarisches Denkmal.82 Zwar
kritisiert der Erzähler „das harte Los dieser Parias der Gesellschaft, die unsere Dome und Pa-
läste, unsere Unterrichtsanstalten und Kunstinstitute bauen“ (S. 114), möchte aber gleichzeitig
die Intention der Novelle entpolitisieren, indem er explizit seine Geschichte lediglich als Schil-
derung eines individuellen, „schlichte[n] Lebensbild[es] aus der großen Masse“ deklariert.

Das Kapitel hat drei verschiedene Perspektiven auf das neue Transportwesen, die Annäherung
und Verdichtung des Raums, präsentiert. Bei Raabe wird die Entwicklung der Eisenbahn durch-
weg positiv aufgenommen, nämlich als Zusammenführung der deutschen Völker zur Nation.
Das Verkehrsnetz verbindet systematisch die einzelnen Städte und Regionen und ermöglicht
den kulturellen Austausch miteinander. In Raabes wie auch in Kellers Roman wird die Rolle des
Bahnhofs als neues Zentrum im städtischen Gefüge betont. Der Schweizer erweitert dessen
Bedeutung um die politische Dimension. Für ihn ist die Eisenbahn Zeichen von Freiheit und
Modernität. Ferdinand von Saar evolviert auf der Folie seiner Sozialkritik den alten Dualismus
von Natur und Kultur, der durch die neue Technik weiter verschärft wird. Indem die Monumen-
talität der Berge die enorme Geschwindigkeit des Zuges orthogonal gegenübergestellt wird,
bekommt die Kultivierung des eigentlich unwegsamen alpinen Raums eine neue Dimension.

Die Untersuchung der Texte zeigte, dass sich die Autoren mit unterschiedlichen Merkmalen der
Eisenbahnthematik auseinandersetzen: Während Raabe durch seine Darstellung einer Zugfahrt
durch nationalpolitisch aufgeladene Orte eine raumzeitliche Verschränkung vornimmt und Kel-
ler Bahnhof und Schienen als roten Faden in seinem Text etabliert, eröffnet von Saar die beiden
Antagonismen Natur versus Kultur und technischer Fortschritt versus sozialer Rückschritt. Auch
wenn die Autoren sich mit unterschiedlichen Aspekten des Transitorischen auseinandersetzen,

82
Vgl. Wolfgang Häusler: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich
ist.“ Historische Perspektiven zu Nestroys Der Schützling. In: Ehalt, Hubert Christian u. a. (Hrsg.): Hinter den
Kulissen von Vor- und Nachmärz. Soziale Umbrüche und Theaterkultur bei Nestroy: Beiträge zum Nestroy-Sym-
posium im Rahmen der Wiener Vorlesungen. Wien 2001. S. 61-80. Hier S. 65.
30 Einführung: Literatur und Nation im 19. Jahrhundert

thematisieren sie alle drei in ihren Texten die Eisenbahn als sozial und/oder national integrie-
rendes Medium. Diese raumbezogene Vorgehensweise der Literatur, die neu zu bildenden Na-
tion territorial zu verorten und zu erfahren, basiert dabei auf der Vorstellung von der Überwin-
dung des (regionalen) Raums und der Realisierung eines gesamtdeutschen Nationalstaats.
2. Die Autoren und die Revolution 1848/49

In der Revolution von 1848/49 erfuhr die Nationalbewegung durch Gründung des Frankfurter
Parlaments ihre vorübergehende rechtliche Legitimierung. Obwohl die Revolution scheiterte
und der konservativ-bürokratische Obrigkeitsstaat wiederhergestellt wurde, bildete sich durch
die Schaffung einer nationalliberalen Öffentlichkeit und dem sozialen Aufstieg des Bürgertums
ein neues politisches Selbstverständnis. Für den Dichter Hieronymus Lorm beginnt damit eine
neue Verbindung von Kunst, Nation und Politik:

Jetzt aber, wo die Nation zu leben beginnt und sich mit Ideen erfüllt, nicht mächtiger und
unaufhaltsamer als physische Gewalt an allen scheinbar geheiligten Institutionen zerstö-
rend rütteln, vermählt sich die Poesie inniger als jemals mit dem Nationalleben; die wird
die Schönheit seiner Bewegungen, der Kultus seiner Arbeiten und das eigentliche Glück
seiner Errungenschaften. Die Poesie wird zum letzten Glauben der Völker, sie ist die Reli-
gion der Politik.83

Zwar setzt diese Arbeit mit dem Jahr 1859 an, in dem sie den Ausgangspunkt der nationalkul-
turellen Entwicklung in Deutschland sieht, ihre kulturelle Spezifik und politisch gemäßigtere
Ausrichtung erhielt die nationalkulturelle Bewegung allerdings erst durch die Erfahrung der Re-
volution und ihrer blutigen Niederschlagung. In dessen Folge veränderte sich die nationale Agi-
tation, indem sie sich zunehmend neuer Medien der Kommunikation, wie der Vereine be-
diente. Obschon die Märzrevolution und ihr Scheitern nicht die Wende vom Idealismus zum
Realismus begründete, so passte sich das realistische Schreiben doch an die Bedingungen der
Wirklichkeit an. Der Konflikt zwischen Idealismus und Realismus rief eine Krise epochalen Cha-
rakters hervor, die in der Suche nach einer neuen Wertsphäre mündete.
Die hier vorgestellten Autoren, ob die Realisten der ersten (Stifter, Keller) oder zweiten Ge-
neration (Raabe, Meyer), wurden alle von der Revolution 1848/49 beeinflusst, indem sie die
Überwindung des politischen Idealismus84 miterlebten. Keller, Stifter, Grün, Halm und von Saar
hatten im Vormärz zu schreiben begonnen, so dass sie von der vormärzlichen politischen Lite-
ratur entscheidend geprägt wurden. Während Raabes literarische und zeichnerische Anfänge
in der Zeit um die Revolution zu verorten sind, haben Meyer und von Saar erst in den 1860er
Jahren ihre ersten Werke verfasst. Franz Grillparzers Leben und Werk umfasst gleich mehrere
Epochen, von der Romantik über die Restaurationszeit bis hin zum Realismus.

83
Heinrich Landesmann (Pseudonym Hieronymus Lorm): Poesie und Politik. (1848). Abgedruckt in: Hahl, Werner
u. a. (Hrsg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Bd. 2. S.
52-53. Hier S. 53.
84
Vgl. zu Begriff Ludwig August von Rochau: Der politische Idealismus und die Wirklichkeit. In: Plumpe, Gerhard
(Hrsg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Stuttgart 2005.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018


J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_2
32 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Die im Spiegel der Autoren zu behandelnde Revolution 1848 war nicht nur aus Sicht der
Deutschen und Österreicher ein Befreiungsschlag, sondern wurde auch von den Schweizern als
wichtige politische Zäsur empfunden. Während Keller und Grün Revolutionsgedichte verfass-
ten, deren Sujet die 1848/49-Revolution bildet, verarbeitete Raabe das Ereignis episch und
zeichnerisch. Seine politischen Gedichte verfasste der Niedersachse erst zehn Jahre später.

2.1. Wilhelm Raabe und die Revolution

„Nur diejenigen Kunstwerke haben Anspruch auf Dauer, in denen die Nation sich wieder findet.“
(BAE 5, S. 343)

Die untersuchten Texte von Wilhelm Raabe lassen allenthalben politische Implikationen und
gesellschaftliche Wertvorstellungen erkennen, so dass sie – im Sinne des oben zitierten Epi-
gramms – seinem literarischen Anspruch gerechten werden, Spiegel der Nation zu sein. Die
enge Verbindung von schriftstellerischer und politischer Tätigkeit zeugt dabei von Raabes Wil-
len, der Vision des nationalliberalen Bürgertums einer einigen und freiheitlichen Nation näher-
zukommen. Die Untersuchung seiner Texte und Zeichnungen wird zeigen, wie der Autor
deutschnationale Räume entfaltet, in dem er tagespolitische Ereignisse und historisch-mythi-
sche Elemente in Bezug zueinander setzt, um das Idealbild eines einigen und freiheitlichen
Deutschlands zu imaginieren. Die folgenden Ausführungen zeigen Raabes Auseinandersetzung
mit der Revolution anhand seines erzählerischen Werks, seiner Zeichnungen sowie seiner Lyrik.
Als Untertan im Herzogtum Braunschweig, das aus mehreren voneinander getrennten Lan-
desteilen bestand, gehörte die Konfrontation mit der territorialen Zerrissenheit des Deutschen
Bundes zu Raabes Lebensalltag. Deutschnationale Implikationen finden sich demnach bereits
früh in seinen Texten. In einer noch in der Schule geschriebenen Erzählung aus dem Jahr 1848
entfaltet er einen deutschnationalen Raum:

An der Landstraße steht ein alter Brunnen, beschattet von zwei hohen Eichen. […] Dort
zieht ein Trupp junger Leute her: Freischärler sind´s, die das Vaterhaus oder die Schule
verlassen haben, im fernen Norden für die deutschen Brüder gegen die Dänen zu kämpfen.
Das deutsche Vaterlandslied des alten Arndt ertönt, die Federn nicken von den Hüten, die
Waffen blitzen, und aus der Ferne klingen wieder feierlich die Orgelklänge herüber. Und
darüber scheint Gottes herrliche Sonne; ich aber sitze an der sprudelnden Quelle und
denke nach, wie es doch so herrlich im Vaterlande sei und wie es trotz seiner [jetzigen]
Zerrissenheit mächtig und groß werden könne; denn der alte Geist schreitet noch mächtig
Wilhelm Raabe und die Revolution 33

durch die deutschen Gaue, und die Bewohner sind noch treu und tapfer, wie die Helden
der Hermannsschlacht.85

Zur Entstehungszeit des Aufsatzes, im Frühling 1848, brach der Schleswig-Holsteinische Krieg
zwischen dem Königreich Dänemark und der nationalliberalen deutschen Bewegung in Schles-
wig und Holstein, in Allianz mit den meisten Staaten des Deutschen Bundes, aus. An dem Kriegs-
geschehen war eine beträchtliche Anzahl von Freiwilligen beteiligt, die von der provisorischen
Regierung in Kiel zum Kampfeinsatz aufgerufen wurden. Die Verortung der Szenerie nach
Deutschland wird durch die Symbolhaftigkeit der Eiche als deutscher Wappen- und National-
baum, der die Freiheit per se repräsentiert, verdinglicht. Die beiden Eichen versinnbildlichen
die Doppeleiche, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Symbol für die Zusammengehörig-
keit der Herzogtümer Schleswig und Holstein geworden war.86 Die Einbettung in die deutsch
konnotierte Idylle steht im Kontrast zum eigentlichen Inhalt des Aufsatzes: Junge Männer ver-
lassen das Vaterhaus, um sich der deutschen nationalliberalen Partei in Schleswig-Holstein an-
zuschließen und den territorialen Ansprüchen der Dänen zu widersetzen. Die familiären Zu-
schreibungen („deutsche Brüder“) zeigen die selbstverständliche Identifikation mit dem Krieg
und seinem nationalen Ziel und imaginieren eine brüderliche Gemeinschaft. Der Text ordnet
die ausziehenden Freischärler durch Bezugnahme auf Arndts Lied Des Deutschen Vaterland in
die Traditionslinie der Befreiungskriege von 1813 ein. Der intertextuelle Verweis soll die kollek-
tive Erinnerung an den erfolgreichen Krieg gegen Napoleon wachrufen und ein entsprechendes
Gefühl des Patriotismus hervorrufen. Der militärische Aufmarsch der jungen Freischärler wird
durch positive Wortverbindungen als Idyllenbild stilisiert („Federn nicken“, „Waffen blitzen“)
und religiös legitimiert („aus der Ferne klingen wieder feierlich die Orgelklänge herüber“, „dar-
über scheint Gottes herrliche Sonne“). Mythisierungen („der alte Geist“) und Historisierungen
(„Helden der Hermannsschlacht“)87 verbindet der Text mit Motiven aus Heldensagen („schrei-
tet noch mächtig“, „treu und tapfer“), um so einen kollektiv wahrgenommenen nationalen
Raum zu kreieren. Die Konstruktion von nationaler Identität basiert, wie dies im damaligen Ge-
schichtsverständnis üblich war, auf dem Bewusstsein von politischer und geschichtlicher Macht
(„der alte Geist schreitet noch mächtig durch die deutschen Gaue“) – was durch nationale Sym-
bolik (die „hohen Eichen“) versinnbildlicht wird. Sich selbst schließt der Erzähler, als bloßer Be-
obachter der Szenerie, von dem national konnotierten Geschehen aus. Die Zäsur („ich aber

85
Der Aufsatz, den Raabe zwischen dem 12. und 23. April 1848 verfasst hat, ist bei Wilhelm Brandes abgedruckt:
Ein Aufsatzheft des jungen Raabes. In: MGFG 1913, S. 64-77. Hier S. S. 74 f. Der Text ist nur teilweise abgedruckt,
vollständig ist er im Braunschweiger Stadtarchiv einzusehen. H III 10.
86
Siehe z. B. das Wappen von Looft oder die 7. Strophe des Liedes „Wanke nicht, mein Vaterland“ von 1844:
„Teures Land, du Doppeleiche, / unter einer Krone Dach, / stehe fest und nimmer weiche, / wie der Feind auch
dräuen mag! / Schleswig-Holstein, stammverwandt, / wanke nicht, mein Vaterland!“. Vgl. dazu Jörg Matthies:
„Unter einer Krone Dach…“ Die Doppeleiche als Schleswig-Holsteinisches Unabhängigkeitssymbol. Beilage der
Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 13. Neumünster 2003.
87
Siehe zur Bedeutung der Hermannsschlacht bei der Konstruktion von Nationen Kap. 6.3 vorliegender Arbeit.
34 Die Autoren und die Revolution 1848/49

sitze“) benennt seinen differenzierten Umgang mit der politischen Situation. Der Ich-Erzähler,
der eine starke Affinität zum Autor aufweist, entzieht sich dem allgemeinen Auszug, er sitzt
alleine am Brunnen und bewältigt das Problem der territorialen Zersplitterung Deutschlands
nicht physisch, sondern mental („ich […] denke nach“). War bis dahin das Sujet gegenwartsbe-
zogen, zielt das durch den Perspektivwechsel von der auktorialen zur Ich-Erzählsituation einge-
leitete Gedankenspiel auf die Zukunft („werden könne“), um schließlich durch entsprechende
Pronomina („noch mächtig“, „noch treu und tapfer“) auf die vergangene Gigantomanie zu ver-
weisen. Indem Raabe alle drei Zeitdimensionen miteinander verknüpft, eröffnet er eine Konti-
nuitätslinie nationalem Inhalts, die von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zu-
kunft reicht.

Das Thema des ersten Schleswig-Holsteinischen Krieges greift der junge Raabe für das Deck-
blatt seines Zeichenbuchs auf.88 Im unteren Teil der Collage (vergrößerter Ausschnitt siehe un-
ten Abb. 1) trennt eine Irminsul-Säule einen Germanen in Rüstung, mit Schwert und Schild links
von einem Freischärler mit Federhut und Flinte rechts. Letzterer ist, wie ein Hinweisschild de-
klariert und die mit Kanonendampf umwölkten Kriegsschiffe im Hintergrund andeuten, Soldat
im Schleswig-Holsteinischen Krieg. Die Datierung des Blattes, es entstand am 21. Mai 1848,
erlaubt die realhistorische Kontextualisierung: Gut einen Monat vorher, am 13. April 1848,
hatte der braunschweigische Herzog Wilhelm, nachdem die Nachricht der dänischen Überle-
genheit in Braunschweig eingetroffen war, die Mobilmachung der Truppen nach Schleswig be-
fohlen. Vom 16. bis zum 25. April besuchte der Herzog (als einziger der deutschen Bundesfürs-
ten) den Kriegsschauplatz persönlich. Dieses Zeichen der Solidarität wurde von der Bevölkerung
äußerst positiv aufgenommen, wie der jubelnde Empfang bei seiner Rückkehr und die wohl-
wollende Berichterstattung der Presse bezeugen.89 Der zeitliche und räumliche Zusammen-
hang des kleinen Szenenbildes impliziert eine nationalpolitische Stellungnahme des jungen

88
Die Zeichnung ist abgedruckt in: Raabe und Braunschweig 1870 – 1910. Lebenszeugnisse und Werke des Schrift-
stellers und Zeichners aus den Beständen der Stadt Braunschweig. Katalog zur Ausstellung der Stadtbibliothek in
Verbindung mit dem Städtischen Museum. 5. Juli bis 13. September 1998. Bearb. von Gabriele Henkel. Braun-
schweig 1998. S. 69. Im Vorfeld des Zweiten Schleswig-Holsteinischen Krieges (auch Deutsch-Dänischer Krieg
1864) äußert Raabe gegenüber seinem Schwager Hoffnungen auf dessen einheitsstiftende Wirkung: „Auch bei
uns ist die Aufregung in Sachen Schleswig-Holstein´s sehr intensiv und wächst von Tag zu Tage; ich glaube sogar,
das Volk rührt sich mehr wie bei Euch, und von unsern democratischen Kreisen aus, wird alles gethan, die Mas-
sen in Fluß zu bringen. […] [I]ch glaube, die Crisis ist zum Besten der Nation: das particularistische Loyalitätsge-
fühl bekommt wieder einen Stoß, und das Fieber wird bis [!] sich bis zur nächsten Abrechnung nicht legen. Es
bleibt nichts übrig als die Revolution und nur die Revolution; in den Kreisen, in welchen in verkehre, fühlt und
sagt das Jedermann.“ Am 10. Dezember 1863. In BWR, S. 40.
89
Siehe den Bericht des preußischen Abgesandten vom 6. Mai 1848 an den preußischen König: „Von allen deut-
schen Fürsten hat sich bis jetzt keiner den auf die Kräftigung und einheitlichen Entwicklung des deutschen Bun-
des gerichteten Bestrebungen Euer königlichen Majestät mit größerer Aufrichtigkeit und Entschiedenheit ange-
schlossen, als gerade der Herzog von Braunschweig.“ In Karl Lange: Herzog Wilhelm von Braunschweig und die
deutsche Revolution. In: Jahrbuch des braunschweigischen Geschichtsverein 9/2 (1937). S. 83-102.
Wilhelm Raabe und die Revolution 35

Raabe, die sich ganz in der Tradition des liberalen Nationalbewusstseins der Zeit befindet: Tem-
poral umfasst die Zeichnung eine Spanne von den Germanen bis zur Gegenwart, bezieht also
den Rekurs der Nationalliberalen auf die germanische Mythologie mit ein. Lokal erstreckt sich
das Bild auf einen Raum von den Alpen bis zur Nord- und Ostsee und umfasst damit zusätzlich
das gesamte Deutsche Reich in seiner Bedeutungsanalogie.

Abb. 1

Abb. 2
36 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Eine weitere Zeichnung aus dem gleichen Jahr (Abb.2) illustriert die Berliner Barrikadenkämpfe
der Aufständischen von 1848/49.90 Im Vordergrund steht ein Revolutionär, seine Flinte ladend,
in heroischer Pose. Die weiße Bluse und die fehlende Kopfbedeckung deklarieren den Arbeiter,
sein zerrissenes Hemd deutet auf bereits geschehene Kampfhandlungen hin. Neben ihm auf
der Barrikade kämpfen Arbeiter (in Hemd und Weste) neben Bürgern (in Gehröcken und Zylin-
der) Seite an Seite. Über ihren Köpfen weht die schwarzrotgoldene Fahne. Hinter der Barrikade
herrscht Tumult, Männer schleppen lange Balken, die Barrikade weiter aufbauend, rufend,
trommelnd, in Waffen stürmend. Auf der anderen Seite stehen in Reih und Glied die in Pulver-
dampf gehüllten Soldaten der Regierung, bereit, die Aufständischen niederzuwerfen. An ihrer
Spitze befehligt ein Offizier mit preußischem Spitzhelm und erhobenem Arm den Angriff. Die
Szene zeigt den Kontrast von Anarchie und Chaos auf Seiten der Revolutionäre, Ordnung und
Organisation auf Seiten des Militärs. Die dynamisierenden Bildelemente veranschaulichen den
Kampfgeist und Patriotismus der Revolutionäre. Dieser Heroisierung entspricht auch die Dar-
stellung eines verletzten Freischärlers oder Burschenschaftlers (kenntlich durch die gekreuzten
Bänder über der Brust), der in seiner unverletzten Hand seinen Degen wieder kampfbereit in
den Himmel streckt. Das Kampf-Sujet der Zeichnung verdeutlicht die Ursprünge des Aufstands,
die Anfänge des selbstständig organisierten Kampfes durch das Volk seit der Französischen Re-
volution. Die räumliche und proportionale Zentrierung der Revolutionäre, ihre quantitative
Überzahl und qualitative Ausdifferenzierung zeigen Raabes Sympathien für die Revolution. Das
Motiv ist im bewussten Kontrast zu manch einseitig stilisierter Darstellung des „Professoren-
parlaments“ der Frankfurter Nationalversammlung gewählt.91 Der Barrikadenkampf war ein be-
liebter Gegenstand der zeitgenössischen Revolutionsdarstellungen: Zeichnungen und Holzsti-
che von J. Kirchhoff und C. Becker zeigen, wie Raabes Pinselzeichnung, in verherrlichender
Weise den verlustreichen Kampf von Bürgertum und Arbeitern gegen das (preußische) Militär
fast immer aus der Perspektive der Revolutionäre.
Bereits im Jugendwerk Raabes lassen sich also zeichnerische und dichterische Zeugnisse für
politische Ansichten finden, denen allen die gleiche affirmative Grundhaltung zur Revolution
von 1848/49 eigen ist. Das Thema durchzieht Raabes gesamtes Oeuvre, manchmal in ironisch
überspitzter Form, manchmal nur am Rande so nebensächlich erwähnt, dass die Brisanz seiner
Polemik gerne überlesen wird. Ernüchtert vom blutigen Ende der ersten bürgerlichen Revolu-
tion der Neuzeit distanziert sich Raabe in seinen dichterischen Texten bald von ihr. Das „Jahre
der Gnade Eintausendachthundertundachtundvierzig“, so Raabe in seiner Erzählung Ein Früh-
ling (1857), war für ihn eine politische Sackgasse „wo wir so anmutig gegen die Mauer rannten“
(BA 1, S. 272). Die Wirkungen der Märztage waren geprägt vom Rückzug des Bürgertums aus

90
Lavierte Pinselzeichnung, mit der Feder nachgearbeitet, 50,2 x 42 cm. Signiert: „Wilhelm Raabe 1848“. In: Hen-
kel, S. 74.
91
Kritik dazu siehe auch das Vorwort zu dem Ausstellungskatalog Kunst der bürgerlichen Revolution von 1830 bis
1848/49. Unter Mitarbeit von Volkmar Braunbehrens. Berlin 1972.
Wilhelm Raabe und die Revolution 37

der Politik ins Private. Dementsprechend zentriert Raabe in der Erzählung Zum wilden Mann
(1873) im Hinterzimmer des Apothekers Philipp Kristeller Dürers Kupferstich Melencolia I und
umrahmt es von „zwei Straßenszenen aus dem Jahre 1848“.92 Die Rezeption des Bildes im 19.
Jahrhundert steht „im Bann des nationalistischen Erbes“93 und ist daher bei Raabe nicht nur als
ironische Spitze zu lesen, sondern verweist vielmehr auf den konsekutiven Zusammenhang von
Revolution und nationaler Reflexion.94
Auch in dem ironisch gebrochenen Roman Gutmanns Reisen distanziert sich Raabe von den
Ereignissen von 1848: Der damalige Barrikadenkämpfer Alois Pärnreuther, der sich vom einsti-
gen „glänzenden, ritterlichen Vorbild“ (BA 18, S. 281) zehn Jahre später zum „kahl, dick und fast
allzu gemütlich gewordene[n] Ideal“ (S. 286) entwickelt hat, stellt eine Parodie auf die Alt-48er
dar. In der von dem Nationalverein in Coburg diskutierten Verfassungsfrage scheint daher die
Agitation der von der Frankfurter Nationalversammlung verabschiedeten Verfassung obsolet:
„Wer von uns hier weiß denn noch genau was von der Reichsverfassung von 1848? Ich nicht!
Du nicht! Du wahrscheinlich auch nicht, Bruder Major, – als nur keine unnötige Aufregung
drum.“95 Die Ablehnung der Paulskirchenverfassung durch den Deutschen Nationalverein im-
pliziert zwar keine prinzipielle Ablehnung ihres politischen Programms, beinhaltet aber eine,
aus dem Scheitern der Revolution und der Reaktionszeit zu erklärende, distanzierte Haltung.

Raabes politisch aktive Phase begann erst zehn Jahre nach der bürgerlichen Revolution mit ei-
ner Bildungsreise 1859, dessen eigentliches Ziel Italien er wegen Ausbruch des Zweiten Italie-
nischen Unabhängigkeitskrieges verwerfen musste. Daher beschränkte sich seine Reiseroute
auf Deutschland und Österreich, wo er mit der liberalen und demokratischen Intelligenzia in
Kontakt trat: „Redacteure u Schriftsteller in Masse sind mir begegnet“ (BAE 2, S. 36).96 Kurz
vorher hatte sich die politische ‚Erweckung‘ bereits lyrisch angekündigt. In der Zeit zwischen
1859 und 186697 verfasste der vor allem als Romancier bekannte Raabe seiner eigenen Aussage

92
BA 11, 165 f. Auch bei Gottfried Keller steht der Kupferstich Dürers im engen Zusammenhang mit der Revolution:
sein Gedicht Melancholie entstand im Revolutionsjahr 1848.
93
Hartmut Böhme: Die literarische Wirkungsgeschichte von Dürers Kupferstich "Melencolia I". In: Schönert,
Jörg/Segeberg, Harro (Hrsg.): Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und
Wirkung der Literatur. Frankfurt (Main) 1988. S. 83.
94
Weitere Anspielungen gibt es beispielsweise in der Erzählung Deutscher Mondschein (1872), in der Raabe den
Rückzug ins Private, ins „Poetische“ nach der gescheiterten Revolution konterkariert.
95
BA 18, S. 354. Auf der Coburger Versammlung des Deutschen Nationalvereins war man gegen eine Agitation der
Verfassung von 1848. Das Schlagwort lautete: „die Nationalverfassung von 1849 ist todt, erwecken wir sie nicht
wieder!“ (Adolf Streckfuß in: Verhandlungen, S. 28 f.).
96
Auf seinen Stationen (Leipzig, Dresden, Prag, Wien, München, Stuttgart) traf Raabe u. a. auf Hermann Marggraff,
Gustav Freytag, Friedrich Gerstäcker, Ernst Keil, der ihn „als seinen Berichterstatter nach dem Kriegsschauplatz
schicken“ (BAE 2, S. 34) wollte, Emil Adolf Roßmäßler, Ferdinand Stolle, Hermann Lingg, Friedrich Wilhelm Hack-
länder, Hermann Hauff, Edmund Hoefer und Wolfgang Menzel.
97
Tagebucheintrag am 5. Dezember 1857: „Ich entdecke, daß ich Verse machen kann!!!!“ und wiederholt in den
nächsten 4 Tagen bis zum 9. Dezember täglich: „Reime!“. Trotz der Stilisierung dieser lyrischen Offenbarung
38 Die Autoren und die Revolution 1848/49

nach Gedichte, die durch „Mono-, Pan- Theismus“ einerseits, als auch durch „jugendliche Wuth
auf die damalige königlich hannoversche Politik bis an´s Ende aller Dinge“ (BAE 2, S. 298) ande-
rerseits motiviert wurden. So auch die fünfstrophige Stanze Vorüber war der große Sturm ge-
zogen, die er Mitte August 1860 verfasste, die aber deutlichen Bezug zur bürgerlichen Revolu-
tion 1848/49 erkennen lässt.98 Die erste Strophe entwirft ein durch die revolutionäre
Metaphorik aufgeladenes Stimmungsbild, indem sie antonymisch die bedrohliche Atmosphäre
während eines gewaltigen Unwetters der anschließend befriedeten Natur gegenüberstellt:

Vorüber war der große Sturm gezogen


Der Himmel leuchtete in roter Glut;
Nach Westen all die schwarzen Wolken flogen,
Und jedes Dasein faßte neuen Mut.
Nicht hat die Windsbraut mehr den Wald gebogen;
Nicht rauschte mehr des Regens wilde Flut:
Der Schönheit Sieg! Vor trat sie aus dem Dunkeln,
Ein Duft und Klang – ein Leuchten und ein Funkeln! (BA 20, S. 366)

Der Dualismus der Begriffspaare („neuen Mut fassen“ – „gebeugt werden“, „des Regens wilde
Flut“ – „Der Schönheit Sieg“, „Dunkeln“ – „Leuchten“) verstärkt die vorige Bedrohlichkeit und
die Aufbruchsstimmung des Nachher. Der Sturm ist politisch, als Metapher für die Revolution
zu lesen, deren Ergebnis – im Gegensatz zur politischen Realität von 1848/49 – erfolgreich ima-
giniert wird. Die positive Konnotation der nachrevolutionären Situation, die nicht die Gegen-
wart des artikulierten Ichs ist, sondern ebenfalls in der Vergangenheit liegt, wird durch affirma-
tiv gestaltete Sinneseindrücke verstärkt. Der Zustand der Natur wird auf das artikulierte Ich
übertragen, indem es die Situation vor und während des Sturms respektive der Revolution träu-
mend erlebt:

Vom Vaterland hab ich den Tag geträumet,


Eh kam der Sturm und als der Sturm gekommen; -
Und was getan ward und was ward versäumet,
Was von den Tapfern, Treuen, Edlen, Frommen
Den Feigen, Falschen, Schlechten eingeräumet,
Das hat mir ganz die Seele eingenommen!
Versunken war ich ganz im Schmerz und Grimme,
Bis in dem Donner weckt´ mich eine Stimme.

existieren noch weit frühere Gedichte Raabes, die eventuell bereits in die Zeit der Magdeburger Lehre hinein-
reichen (zu deren Datierung siehe den Kommentar von Karl Hoppe in BA 20, S. 506). Das Ende dieser „Reimflut“
bezeichnet Raabe in einem Brief an Adolf Glaser im Februar 1866: „Ich glaube, meine mehr lyrische Periode
glücklich hinter mir zu haben“ (In BAE 2, S. 112).
98
Raabe nahm das Gedicht nachträglich in seine Erzählung Auf dunklem Grunde auf. Die Erzählung, die 1861 in
Westermanns Monatshefte erschien, hatte Raabe bereits im Sommer 1859 begonnen und beendete sie Anfang
Oktober 1860.
Wilhelm Raabe und die Revolution 39

Ja, eine Stimme war im großen Wetter,


Und durch den Sturm vernahm ich diese Worte:
„Zur rechten Zeit wird kommen doch der Retter!
Zur rechten Zeit und an dem rechten Orte!
Im Buch des Schicksals wenden sich die Blätter;
Verzweifelt nicht an euch und euerm Horte!
Die Rüstung nehmt! – Es wird ein blutig Tagen,
Bald wird die Schlacht, die große Schlacht geschlagen!“ (BA 20, S. 366 f.)

Das Gedicht verarbeitet symptomatisch die erlebten politischen wie gesellschaftlichen Verhält-
nisse Deutschlands im 19. Jahrhundert, indem es die endzeitliche Stimmung in apokalyptischen
Naturbildern ausdrückt. Der Sturm, der durch die Folie eines „wilde[n] Traumes“ erlebt wird,
kehrt die moralischen Pole von Gut und Böse um: die „Tapfern, Treuen, Edlen, Frommen“ las-
sen sich von den „Feigen, Falschen, Schlechten“ verdrängen. Dem Ich wird im Traum von einer
namenlosen Stimme die Rettung des Vaterlandes verkündet. Die mythische Prophezeiung, die
durch die Einbindung in eine gewaltvolle Natur zum Göttlich-Schicksalhaften dramatisiert wird,
scheint die Antwort auf die Fragen in Raabes Schillerfestgedicht von 1859 zu sein, in dem eben-
falls eine extrem negativ stilisierte Situation zur Besserung zu wenden gilt: „Wird nie ein Retter
kommen diesem Lande? Wird kein Befreier lösen unsre Bande?“ (BA 20, S. 350). In beiden Ge-
dichten, die kurz hintereinander entstanden, soll eine herausragende Persönlichkeit, die durch
einen göttlichen Auftrag autorisiert und legimitiert ist, den Weg aus der Krise führen.
Dem revolutionär aufgeladene Sturm, dessen Charakterisierung als „wilde Flut“, „wilder
Traum“ (S. 366) und „wilder Aufruhr“ (S. 367) auf das anarchisch-unkultivierte Element des
Sturms bzw. der Revolution verweist, folgt die Ruhe und Frieden: als der Wald „erwacht aus
wildem Träume“ und „alle Dinge Ruh gefunden“ haben

Da fühlt ich mit dem Wald mein Herz erhoben


Aus tiefster Schwermut, die es bang umwoben! (BA 20, S. 366)

Die Versöhnung der Natur entspricht der Erlösung des Menschen aus seinem Zustand der
„Schwermut“ und Angst. Beide Gefühlsäußerungen des Ichs deuten auf eine pejorative Bewer-
tung der Märzereignisse hin. Der „Schönheit Sieg“ ist das Ergebnis der Schlacht der Natur, die
die Schlacht um das Wohl des Vaterlandes symbolisiert. Diese Zeichenhaftigkeit wird durch
ähnlich gestaltete Bilder belegt: Der „große Sturm“, der den Himmel „in roter Glut“ leuchten
lässt, steht sinnbildlich für die „große Schlacht“, die ein „blutig Tagen“ verkündet. Statt „tiefster
Schwermut“ geht der Sieger mit neuem Mut aus der Schlacht hervor, das Licht siegt über den
„Schatten“, die „Schönheit“ über das Wilde – das heißt: die Kultur überwindet die Natur, das
Gute bezwingt das Böse.
Die politische Funktionalisierung des Gedichtes Vorüber war der Sturm gezogen äußert sich
in der diachronen Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei will Raabe
40 Die Autoren und die Revolution 1848/49

die extrem negativ empfundene Gegenwart durch den historischen Rückgriff überwinden. Die
Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse artikuliert er als Appell an den Rezipienten, den
er damit in seine Zukunftsvision miteinbezieht. Durch die Imagination einer Gemeinschaft, der
Raabe gemeinsame Metaphern, Symbole und kollektive Erinnerungen supponiert, zielt er auf
eine soziale wie nationale Integration.
Die literarischen und zeichnerischen Zeugnisse Raabes indizieren eine historisch mythisierte
Strategie für die Generierung einer deutschen Identität. Um die politischen und gesellschaftli-
chen Unsicherheiten zu kompensieren dient der Rückgriff auf die Vergangenheit der nationalen
und politischen Selbstvergewisserung und Verortung in einen geschichtlichen Zusammenhang,
in den das Individuum aufgehoben ist.99

2.2. Gottfried Keller: Kritiker an der deutschen Märzrevolution

Die europaweiten revolutionären Umbrüche erfasste die Schweiz am frühesten: die dortige
Konfrontation zwischen den liberal-radikalen, antiklerikalen Kräften und der konservativ-katho-
lischen Partei hatte sich bereits 1844/45 mit zwei gegen die jesuitische Machterweiterung ge-
richteten Freischarenzügen geäußert und gipfelte 1847 in dem sog. Sonderbundkrieg. Den Zu-
sammenschluss der konservativ-katholisch geführten Kantone zum Sonderbund beendeten die
liberalen Kantone schließlich durch ihren Sieg im Sonderbundkrieg im November 1847, der
1848 zur Gründung des Bundesstaates führte. Während an Conrad Ferdinand Meyer die politi-
schen Ereignisse in der Schweiz „beinahe unberührt und jedenfalls spurlos“100 vorübergingen,
war der Einfluss sowohl der politisch-konfessionellen Auseinandersetzungen in der Schweiz als
auch der Revolution in Deutschland auf Gottfried Kellers dichterische Anfänge von großer Be-
deutung. Keller hatte im Kontext seiner Teilnahme an den beiden – gescheiterten – Freischa-
renzügen 1844 und 1845 das Gedicht Sie kommen, die Jesuiten!101 verfasst, in dem er deutliche
Worte gegen den Jesuitismus findet:

99
Vgl. die jüngsten Forschungen zu Raabes historischem Erzählen z. B. das Symposium der Raabe-Gesellschaft
Geschichtsdarstellung und Geschichtspolitik: Wilhelm Raabe und das historische Erzählen des Realismus vom
September 2008, dessen Ergebnisse im JRG 2009 veröffentlicht wurde. Außerdem die Dissertation von Dagmar
Paulus: Abgesang auf den Helden. Geschichte und Gedächtnispolitik in Wilhelm Raabes historischem Erzählen.
Würzburg 2014.
100
Karl Fehr: Conrad Ferdinand Meyer. Tübingen 1980. S. 25. Überhaupt zeichne ihn, so Meyer in seiner autobio-
graphischen Skizze aus dem Jahr 1885 eine „Unparteilichkeit in politischen Dingen“ aus (MSW 15, S. 131).
101
Das Gedicht erschien erst als Beitrag für ein politisches Flugblatt sowie für die „politisch-literarische Wochen-
schrift“ Freie Schweiz und wurde 1846 unter dem Titel Lojola´s wilde verwegene Jagd. Keine Vision in Kellers
ersten Gedichtband veröffentlicht, 1883 wurde es unter dem Titel Jesuitenzug 1843 in den Gesammelten Ge-
dichten unter Erweiterung um zwei Strophen aufgenommen. Keller schreibt über die Rezeption des Gedichts
im Rückblick: „Das erste Produkt, welches in einer Zeitung gedruckt wurde, war ein Jesuitenlied, dem es aber
schlecht erging; denn eine konservative Nachbarin, die in unserer Stube saß, als das Blatt zum Erstaunen der
Frauen gebracht wurde, spuckte beim Vorlesen der gräulichen Verse darauf und lief davon. Andere Dinge dieser
Gottfried Keller: Kritiker an der deutschen Märzrevolution 41

Von Kreuz und Fahne angeführt,


Den Giftsack hinten aufgeschnürt,
Der Fanatismus ist Profoss,
Die Dummheit folgt als Betteltross:
Sie kommen, die Jesuiten! (HKKA 13, S. 119)

Der sich in allen fünf Strophen wiederholende Titel ist gleichermaßen Warnung und Prophezei-
ung und bezieht sich auf die Berufung der Jesuiten an die höheren Schulen durch die konser-
vative Regierung in Luzern, die den ersten Freischarenzug auslöste. Der schlecht vorbereitete
Umsturzversuch der Luzerner Liberalen wurde schnell zurückgeschlagen, die aus anderen Kan-
tonen herbeieilenden Freischärler wurden schließlich ebenfalls besiegt. Verhaftungen und Re-
pressionen folgten, auf die sich Keller in dem unveröffentlichten Text Schlosser Münch in Basel
bezieht und in dem er ebenfalls wortreich gegen die verhassten Jesuiten wettert: „Ei die ver-
maledeiten grund- Boden-, ohne Zweifel wohl auch geschlecht[']s- herz- Nieren- und Gewissen-
losen Teufel!“.102 Die scharfen Worte mildert Keller im Rückblick freilich. Keine der beiden Frei-
scharenzügen, an denen Keller von Zürich aus teilnahm, schafften es nach Luzern. Ihr Scheitern
verarbeitete Keller ironisch in seiner Novelle Frau Regel Amrain und ihr Jüngster aus dem Jahr
1856, indem er die Seldweyler wortwörtlich „nicht zum Schusse“ kommen lässt, da sie „bei
ihren Auszügen immerdar entweder zu früh oder zu spät und am unrechten Orte eintrafen“
(HKKA 4, S. 188). Um die Ziele der Freischarenzüge zu karikieren, hinterfragt der auktoriale Er-
zähler ihre Zweckmäßigkeit: „als ob ein Hering zu einem Lachs würde, wenn man ihm den Kopf
abbeißt und sagt: dies soll ein Lachs sein!“. Auch die überfallenen Bauern fragen aufgebracht
die festgesetzten Freischärler: „habt ihr geglaubt, wir stellen keinen Staat vor, weil wir noch
Religion haben und unsere Pfaffen zu ehren belieben?“ Die aus der zeitlichen Distanz relati-
vierte Bewertung des Konflikts steht im starken Gegensatz zu Kellers Hasstiraden der 1840er
Jahre.
Seine lyrische Auseinandersetzung mit den Zeitereignissen wurde nach eigener Aussage
durch das „Pathos der Partheileidenschaft“ bestimmt und durch die Gedichte eines Lebendigen
von Georg Herwegh, den Keller in dem Gedicht Herwegh verewigte, sowie Anastasius Grüns

Art folgten, Siegesgesänge über gewonnene Wahlschlachten, Klagen über ungünstige Ereignisse, Aufrufe zu
Volksversammlungen, Invektiven wider gegnerische Parteiführer u. s. w., und es kann leider nicht geläugnet
werden, daß lediglich diese grobe Seite meiner Produktionen mir schnell Freunde, Gönner und ein gewisses
kleines Ansehen erwarb. Dennoch beklage ich heute noch nicht, daß der Ruf der lebendigen Zeit es war, der
mich weckte und meine Lebensrichtung entschied“ (HKKA 15, S. 399).
Auch Anastasius Grün war ein Kritiker der Jesuiten, Friedrich Heer meint sogar, Grün sei „von der Angst vor den
Jesuiten […] besessen“. Heer: Kampf um die österreichische Identität. Wien 1982. S. 190.
102
Vgl. Walter Morgenthaler: Gottfried Kellers Jesuitenschelte. In: Der Rabe 61 (2000). S. 102-107.
42 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Schutt inspiriert.103 Die Begegnung mit Feuerbach 1848 in Heidelberg, die Keller „tabula rasa“104
mit seinen bisherigen religionsphilosophischen und damit auch ästhetischen Ansichten machen
ließ, war eng mit den politischen Umwälzungen verbunden. Keller erlebte in Heidelberg haut-
nah die Badische Revolution, die sich von Südwestdeutschland aus auf ganz Deutschland aus-
breitete. Der Schweizer schildert in einem Brief an seinen Freund, den Dirigenten und engen
Vertrauten Wagners, Wilhelm Baumgartner, am 10. März 1848 die revolutionären Spannun-
gen: „Es gährt wieder ziemlich unter dem Volke hier zu Lande […]; man ist Nachts seines Lebens
nicht sicher, wenn man allein über die Straße geht“ (KB 1, S. 279 f.). Trotz der Gegnerschaft des
Liberalen Keller gegenüber dem vornehmlich in Baden ausgeprägten radikaldemokratischen
Charakter der Revolution, bestand ein ungetrübtes Interesse an den politischen Vorgängen in
Deutschland und seine Auswirkungen auf die Schweiz. Denn obgleich sich Keller kritisch gegen-
über dem „rohe[n] Proletariat“ der Heidelberger und der „bonirt[en]“ (ebd.) republikanischen
Mittelschicht äußerte, war er grundsätzlich ein Sympathisant des politischen Programms der
Revolution. In einem anderen Brief an den Schweizer Juristen und Schriftsteller Eduard Döss-
ekel vom 25. März 1848 nimmt Keller eine dezidiert schweizerische und überlegene Perspek-
tive ein:

Ungeheuer ist, was vorgeht, Wien, Paris, Berlin hinten und vorn, fehlt nur noch Petersburg.
Wie unermesslich aber auch alles ist, wie überlegen, ruhig, wie wahrhaft vom Gebirge
herab können wir armen, kleinen Schweizer dem Spektakel zusehen! Wie feingliederig und
politisch raffiniert war unser ganzer Jesuitenkrieg in allen seinen Phasen und Beziehungen
gegen diese freilich kolossalen, aber abc-mäßigen Erschütterungen! Selbst daß unsere
Leute weniger Todesverachtung gezeigt haben als fast alle diese verschiedenen Städte, ist
mir lieber und beweist (ohne Schindluder betreiben zu wollen) die feinere Kultur, das Be-
wußtsein, daß es eben gehen muß und soll, ohne sich allzu toll zu gebärden. Sobald die
Gefahr, das böse Prinzip uns wieder einmal turmhoch überragte, wie es jene armen Teufel
seit langem tat, würden wir schon bei der Hand sein. (KB 1, S. 154)

103
Keller in seinem autobiographischen Rückblick 1867/77: „Wie früher die Erzeugnisse der letztvergangenen Li-
teratur, las ich jetzt diejenigen der zeitgenössischen. Eines Morgens, als ich im Bette lag, schlug ich den Band
der Gedichte Herweghs auf und las. Der neue Klang ergriff mich wie ein Trompetenstoß, der plötzlich ein weites
Lager von Heervölkern aufweckt. In den gleichen Tagen fiel mir das Buch „Schutt“ von Anastasius Grün in die
Hände, und nun begann es in allen Fibern rhythmisch zu leben, so daß ich genug zu tun hatte, die Masse unge-
bildeter Verse, welche sich täglich und stündlich hervorwälzte, mit rascher Aneignung einiger Poetik zu bewäl-
tigen und in Ordnung zu bringen. Es war gerade die Zeit der Sonderbundkämpfe in der Schweiz; das Pathos der
Parteileidenschaft war eine Hauptader meiner Dichterei und das Herz klopfte mir wirklich, wenn ich die zorni-
gen Verse skandirte“ (HKKA 15, S. 399).
104
„Ich werde tabula rasa machen (oder es ist vielmehr schon geschehen) mit allen meinen religiösen Vorstellun-
gen, bis ich auf dem Feuerbachischen Niveau bin. Die Welt ist eine Republik, sagt er, und erträgt weder einen
absoluten, noch einen konstitutionellen Gott (Rationalisten). Ich kann einstweilen diesem Aufruf nicht wider-
stehen. Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident oder erstem Konsul, welcher nicht viel Ansehen genoß,
ich mußte ihn absetzen! Allein ich kann nicht schwören, daß meine Welt sich nicht wieder an einem schönen
Morgen ein Reichsoberhaupt wähle. […]“. An Wilhelm Baumgartner am 28. Januar 1849. KB 1, S. 274.
Gottfried Keller: Kritiker an der deutschen Märzrevolution 43

Auch hier wird Kellers Antipathie gegenüber der Anarchie der revolutionären Vorgänge in Eu-
ropa deutlich, denen er das rationale, überlegte Verhalten der Schweizer während des Sonder-
bundkrieges 1847 gegenüberstellt. Indem Keller dabei die Schweizer Berge verwendet, um
seine (und allgemein die der Schweizer) erhöhte Perspektive zu verbildlichen, verbindet er
seine politische Aussage mit nationalidentifikatorischem Symbolik.
Das zweiteilige Gedicht Die Schifferin auf dem Neckar ist Kellers lyrischer Kommentar zur
deutschen Revolution. Während der erste Teil, mit „1848“ untertitelt, die Überfahrt sieben an-
getrunkener und zudringlicher Gesellen und den siegreichen Abwehr der Schifferin gegen de-
ren Avancen schildert und damit indirekt die – aus Sicht des Schweizers – anarchischen Zu-
stände der Revolution verbildlicht, behandelt das zweite, im Folgenden zu analysierende
Gedicht, „1849“ untertitelt, unmittelbar die revolutionären Kämpfe.105 Das Gedicht 1849 han-
delt von der Flucht einer Gruppe von deutschen Revolutionären vor der preußischen Armee
und ihrer Rettung durch eine Schifferin. Die durchgängig männlichen Kadenzen evozieren eine
sich immer weiter steigende Dramatik, die kongruent zum Inhalt steht.

Es ringen die Ströme gewaltig zu Tal,


Die Deutschen nach Einheit mit Feder und Stahl;
Der Neckar erreichet den fliehenden Rhein,
Doch ewig muß Deutschlands Zerrissenheit sein.

Die feindlichen Stämme, sie kämpften im Tal;


Die Preußen, die Hessen, die Bayern zumal
Verfochten mit blutiger Mühe den Thron:
Die Badischen sind gegen Süden geflohn.

Am Strand blieb ein Häuflein Rebellen zurück,


Die finden zum Fliehn weder Furten noch Brück´;
Vom Rotweine trinken die Neige sie noch
Und bringen voll Wut ihrem Hecker ein Hoch. (HKKA 13, S. 239)

Die ersten drei Strophen verorten das Gedicht zeitlich und räumlich, nämlich mit der Nieder-
schlagung der Aufständischen bei Mannheim.106 Die Metaphern einer wilden, unbändigen Na-
tur werden mit Bildern der Revolution verbunden, ja teilweise miteinander vertauscht, wie das
Zeugma in den ersten beiden Zeilen. Der Fluss, politische Allegorie der Revolution, dient in Kel-
lers Gedicht den Aufständischen zur Flucht, „womit das definitive Scheitern ihres Kampfes zum

105
Die beiden Gedichte sind kongruent zueinander gestaltet: durch Parallelität der Zeit (Revolution 1848/49, die
Titel benennen es bereits), des Ortes (Neckar) des Handlungsaufbaus (eine Gruppe junger Männer, Deutscher,
wird von einer jungen Schifferin über den Neckar übergesetzt) und Figurencharakteristik (die Schifferin wird als
kühn beschrieben, ihr Blick ist frei).
106
Bei Mannheim mündet der Neckar in den Rhein. Die Stadt war eines der Zentren der Badischen Revolution; so
wurde am 27. 02. 1848 auf der Mannheimer Volksversammlung erstmals die „Märzforderungen“ formuliert.
44 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Ausdruck kommt.“107 Mit dem Ende des Aufstands ist auch die nationale Einigung fehlgeschla-
gen: Nicht das Zusammenfließen von Rhein und Neckar wird akzentuiert, sondern ihr Auseinan-
derfließen, das die Umgebung Teilende. „Deutschlands Zerrissenheit“ ist aber nicht nur auf die
territoriale, sondern auch auf die nationale Diversität bezogen („feindlichen Stämme“). Als die
flüchtige Gruppe von einem Reiterregiment aufgespürt und beschossen wird, eilt unvermittelt
die Schifferin mit ihrem Boot zu Hilfe, um den Bedrängten zur Flucht zu verhelfen.

Das ist eine düstre Gesellschaft im Boot,


Wie Blut weht am Hute die Feder so rot,
Zerrissen die Bluse, geschwärzt das Gesicht;
In den Augen glimmet ein Totenlicht.

Ein dürftiges Fähnlein im Winde sich rollt,


Aus schlechtem Kattun, das ist schwarz, rot und gold;
So tanzt auf den Wellen der schwankende Kahn,
Die Schifferin sucht ihm die rettende Bahn. (HKKA 13, S. 239 f.)

Die Farben der deutschen Bundesfahne, die seit den Befreiungskriegen als Symbol für die Ein-
heit und Freiheit Deutschland galten, werden durch das Aussehen der Revolutionäre gespiegelt
(rote Feder, geschwärztes Gesicht, glimmende Augen): das Äußere verweist hier auf das Innere,
auf die politische Überzeugung der Flüchtlinge. Die Situation der Verfolgung, die von Zerstö-
rung und Tod gezeichneten Revolutionäre und die Ärmlichkeit der Fahne machen indes den
Ausgang der Revolution deutlich. In Opposition dazu steht die Schifferin, die als Herrin der Lage
„sicher und frei“ ist und die „wilden Fluten“ beherrscht. Sie steht für die schweizerische Über-
legenheit, die Keller in seinem Brief an Eduard Dössekel als wortwörtlich „vom Gebirge herab“
beschreibt. Das Motiv der Fahne bekommt im weiteren Verlauf des Gedichts leitmotivische Be-
deutung als Symbol für die deutschnationalen, verlustreichen Kämpfe: Das Fähnlein „ver-
schwindet und steht wieder auf“. Als die rettende Bucht erreicht ist und die Revolutionäre auf
abseitigen Wegen in den Wald flüchten „verliert sich des Deutschpaniers klagendes Weh“
(HKKA 13, S. 240). Das Anthropomorphisieren der deutschen Fahne verdichtet das Scheitern
der Revolution, das mit dem Verb „verliert“ eine doppelte Semantik erhält.
Sowohl die brieflichen Selbstzeugnisse als auch die Gedichte über die Revolution zeugen von
Kellers gespaltener Haltung: Zum einen unterstützte er als Liberaler die Ziele und Forderungen
der deutschen Revolutionäre, andererseits erschrak er über die Gewalt und Anarchie der Be-
wegung. Die in dem Gedicht Die Schifferin dargestellte Naturgewalt, die trotz ihrer Bedrohlich-
keit die einzige Rettung darstellt, drückt diese Ambivalenz aus. Kellers Auseinandersetzung mit
der Revolution ist gegenwartsbezogener als Raabes, der sie in seinen Texten entweder durch
historische Rückgriffe oder erst im Rückblick thematisiert. Der Schweizer hingegen verarbeitet

107
Gert Sautermeister: Die Lyrik Gottfried Kellers. Exemplarische Interpretationen. Berlin 2010. S. 67.
Zwischen Politik und Dichtung: Anastasius Grün 45

die eigenen Erfahrungen während der ereignisreichen Tage in Baden zeitnah, aber durch die
stete Bezugnahme zu der politischen Situation der eigenen Heimat, räumlich distanziert.

2.3. Zwischen Politik und Dichtung: Anastasius Grün

Der Österreicher Anton Alexander Graf von Auersperg (1806-1876), der sich 1829 den Künst-
lernamen Anastasius Grün zulegte und sich damit seiner aristokratischen Wurzeln entledigte,108
galt bereits bei seinen Zeitgenossen als Vorreiter der nationalliberal geprägten Dichtung im
Vormärz.109 Nach einer Deutschlandreise, bei der er in Kontakt zur demokratischen und libera-
len Intellektuellen-Elite kam (Schwabe, Lenau, Uhland), begründete seine 1831 verfasste Ge-
dichtsammlung Spaziergängen eines Wiener Poeten seinen schriftstellerischen Erfolg.
Die Spaziergänge, die Grün wegen der österreichischen Zensur erst anonym veröffentlichte,
bringen seine Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen in Österreich während des
Vormärz zum Ausdruck und sind daher „eine politische Bestandsaufnahme der Gegenwart“.110
Die in der Sammlung enthaltene Hymne an Österreich ist bereits durch ihren Titel gattungsspe-
zifisch verortet und verweist damit auf eine nationale Tradition der panegyrischen Lyrik mit
Anspruch auf kollektivierende Wirkung. In dem Lobgesang wendet sich das artikulierte Ich in
direkter Rede an die allegorisch dargestellte Figur der „Austria“, die, mit Kranz, Wappen und
Speer ausstaffiert, bereits durch ihr physisches Erscheinungsbild als nationale Allegorie Öster-
reichs erkennbar ist.

Riesin Austria, wie herrlich glänzest du vor meinen Blicken!


Eine blanke Mauerkrone seh´ ich stolz das Haupt dir schmücken,
Weicher Locken üpp´ge Fülle reich auf deine Schultern fallen
Blonden Golds, wie deine Saaten, die im Winde fröhlich wallen.

108
Das Pseudonym diente ihm als Schutz vor der Zensur. Vgl. im Brief an August Frankl am 19.3.1848: „Den Namen
Anastasius Grün, unter welchem ich so lange gekämpft habe, will ich nicht ablegen, wie man auch die Rüstung,
die in der Schlacht war, nicht beseitigt oder gar wegwirft. Das Visir ist ja schon längst gelichtet.“ In: BGF, S. 23.
Indem Grün einen bürgerlichen Namen wählte, ist das Pseudonym doppelt politisch intendiert: es diente nicht
nur als Schutz vor Repressalien aufgrund seiner liberalen Ideen, sondern offenbart auch den Wunsch, als bür-
gerlicher Autor wahrgenommen zu werden.
109
Vgl. dazu die Einleitung in Spaziergänge eines Wiener Poeten des Herausgebers Eduard Castle: „Auersperg ist
unbestritten als der Erste den Weg gegangen, den ihm die politischen Dichter der vierziger Jahre, die Hoffmann,
Herwegh, Dingelstedt, Freiligrath, nachgewandelt sind; er hat als Erster die Deutschen gemahnt, nicht an die
Befreiung aller geknechteten Nationen im Kreise ringsum mitzuwirken und von ihr die deutsche Freiheit zu
erwarten, sondern für sich selbst zu sorgen, rüstig das eigene Feld zu bestellen.“ In: Castle Eduard (Hrsg.): A-
nastasius Grüns Werke in sechs Teilen. Berlin u. a. 1909. Bd. 1, S. 116. Vgl. dazu auch Antal Mádl: Vorbilder und
Funktion der Wiener Revolutionsdichtung des Jahres 1848. In: Zeman, Herbert (Hrsg.): Die österreichische Lite-
ratur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Graz 1982. S. 569-578.
110
Hans Peter Bayerdörfer: Vormärz. In: Hinderer, Walter: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur
Gegenwart. Würzburg 2001. S. 320. Zur Rezeption Grüns Spaziergänge vgl. Scharmitzer, S. 112 ff.
46 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Festlich prangt dein Leib, der wonn´ge, in dem grünen Sammtgewande,


Dran als Silbergurt die Donau, und die Rebe als Guirlande;
Leuchtend flammt dein Schild, der blanke, welchem Lerch´ und Aar entsteigen,
Aller Welt von deinem Bündniß mit dem Tag und Licht zu zeigen! (GGW 2, S. 355)

Die Glorifizierung der Austria beschränkt sich vor allem auf ihr Äußeres, das durch Überfluss
charakterisiert ist. Haar, Kleidung und Waffen symbolisieren österreichisch konnotierte Land-
schaft, so dass zwischen dem Land und der Figur, dass sie repräsentiert, unmittelbare Kohärenz
hergestellt wird. Während die ersten beiden Strophen typische Formen und Symbole panegy-
rischer Vaterlandslyrik bedienen, lobt die nächste Strophe ein eher untypisches Merkmal der
Habsburgermonarchie:

Freiheit prangt als heil´ge Losung über deinen Friedenshütten,


Freiheit glänzt auf allen Bannern, drunter je dein Volk gestritten;
Besser als die Händ´ in Fesseln taugen dir die fessellosen,
Sei´s das Schwert der Schlacht zu schwingen, sei´s zu pflücken Friedensrosen.
(GGW 2, S. 356)

Das Rekurrieren auf die Freiheit ist gerade angesichts des sonst gebräuchlichen identifikatori-
schen Konzepts des Gottesgnadentums ungewöhnlich. So ist hier nicht die einzelne Freiheit des
Individuums gemeint, die im reaktionären Obrigkeitsstaat des Habsburgerreichs stark einge-
schränkt war, sondern seine Freiheit nach außen. Die Strophe reflektiert die Konstitution eines
nationalen Selbstverständnisses, das durch die „beständige Mythisierung der staatsbildenden
(und einigenden) Siege gegen das Heidentum (Türken) [und] die Franzosen“ (Telesko, S. 22)
geprägt ist.
Die letzte Strophe stellt eine Zäsur dar, das artikulierte Ich resümiert über das Gesagte me-
tasprachlich und lässt dabei das Gedicht „keineswegs hymnisch“111 enden:

Also klang jüngst meine Hymne. Sonst, wenn Dichter Hymnen singen,
Glänzt ihr Aug´ wie Sonnenjubel, jauchzt ihr Herz wie Harfenklingen;
Doch wie mocht´ es denn geschehen, daß ich mußte bei der meinen
So aus tiefstem, vollstem Herzen viel der bittren Thränen weinen? (GGW 2, S. 357)

Mit der letzten Strophe bricht das Ich nicht nur die Erwartungshaltung des Rezipienten, sondern
auch den fiktionalen Charakter, indem er selbstreferentiell das eigene Schreiben thematisiert.
Obgleich der Autor die emotiv verstärkte Kritik (“Herz“, „Herzen“, „Thränen“) unbenannt lässt,
verweist die rhetorische Frage auf die Negation der affirmativen Inhalte der vorherigen Stro-
phen. Damit stellt Grüns Hymne keine Zustandsbeschreibung Österreichs dar, sondern lässt

111
Schulmeister, Otto: Spectrum Austriae: Österreich in Geschichte und Gegenwart. 1980. S. 387.
Zwischen Politik und Dichtung: Anastasius Grün 47

sich als Appell für ein in der Zukunft noch zu bildendes Habsburgerreich lesen. Die Gegenüber-
stellung der Lage, wie sie sein könnte, aber nicht ist verweist auf die von Grün empfundene
Ambivalenz von kaiserlicher Empathie und liberaler Weltanschauung.
Gut zehn Jahre später wurden Grüns politische Hoffnungen mit dem Ausbruch der Märzre-
volution erfüllt. Nach dem Vorschlag Heinrich von Gagerns befürwortete Grün den staatsrecht-
lichen Anschluss Österreichs an ein kleindeutsches Reich.112 In einem Brief an den Verein „Slo-
venja“ in Wien äußert sich Grün dezidiert zu seiner politischen Position in der deutschen Frage
1848:

Ja, die alte Macht und politische Größe Österreichs […] suche ich allerdings außer Öster-
reich, nämlich bereits in der Geschichte der Vergangenheit! Sie ist gefallen mit jenen Män-
nern, welche Österreichs Völker wie ein dürres, lebloses Rutenbündel zur Züchtigung für
andere zusammengeschnürt hielten, statt sie als frische, lebendige Zweige eines großen
Baumes an der freien Gottesluft freudig sprießen zu lassen; das Band zerbarst, und das
Bündel zerfällt; Österreichs alte Macht ist zerfallen und zerfällt noch immer. Nicht Öster-
reichs Größe, nein Österreichs Rettung suche ich in und außer Österreich, in und mit
Deutschland, Rettung jener Teile, die noch für Österreich zu retten sind, und als einziges
Rettungsmittel deren kompakten Anschluß an das große, verbrüderte Deutschland! Seit
Ungarn sich ungroßmütig im Moment der dringendsten Gefahr von den Erblanden losriß,
seit die Überzeugung gewonnen werden mußte, daß, wie auch das Waffenglück sich
wende, die Lombardie [sic!] sowie Galizien auf die Dauer für Österreich unhaltbar sei,
kenne ich keinen andern Weg, den noch erübrigenden schönen Länderrest vereint als ein
großes, noch immer mächtiges Ganzes zu erhalten, als den gemeinsamen Anschluß an
Deutschland.113

Den österreichischen Machtverlust und Zerfall, der 1848 durch die Unabhängigkeitsbewegun-
gen in Ungarn und Italien offenkundig wurde, sieht Grün im repressiven Konservatismus der
Habsburgermonarchie begründet. Das Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates könne nach
Grün demnach nicht verhindert werden; der Anschluss an das zu bildende deutsche Reich
könne nur den Zusammenhalt des deutschsprachigen Teils Österreichs gewährleisten. Den ge-
wünschten Anschluss an Deutschland fasst der Autor im März 1848 wie Raabe in der Metapher
des Hausbaus zusammen: „Wir müssen alle zusammenwirken, um den neuen Bau verständig
und ehrlich zu führen.“ (BGF S. 23). Die Erhebung stand also auch für Grün im engen konseku-
tiven Zusammenhang mit den Bestrebungen einer nationalen (großdeutschen) Einheit.

112
Heinrich von Gagern sprach sich für einen Doppelbund aus, den Zusammenschluss der deutschen Staaten zu
einem Bundesstaat sowie einen Anschluss an Österreich zu einem loseren Staatenbund. Vgl. dazu Huber, Ernst
Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850.
Stuttgart [u. a.] 1988. S. 800 f.
113
In: Hock, Stefan (Hrsg.): Anton Auerspergs (Anastasius Grüns) politische Reden und Schriften. Wien 1906. S.
13f. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Dieter Scharmitzer: Anastasius Grün (1806-1876): Leben und Werk.
Wien u. a. 2010. S. 269.
48 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Grün hatte von Graz aus die der Revolution unmittelbar vorausgehenden Wiener Ereignisse
beobachtet und war zum Ausbruch der Unruhen am 13. März in die Hauptstadt gereist, um
dort die ersten drei Tage der Erhebung zu erleben und mitzugestalten.114 Die Forderung nach
staatlicher Bewilligung einer neuen Verfassung, die Grün zusammen mit Eduard Bauernfeld am
16. März persönlich beim Kaiser vortrug, war erfolgreich. In seinen Erinnerungen berichtet Bau-
ernfeld von den Wiener Märzereignissen und den Stunden, die er mit Grün am Hofe erlebte
und die ihnen, wie er schrieb „einen tiefen Einblick in die hohen und höchsten Ortes herr-
schende Rath- und Hilflosigkeit gewähren“ ließen. Durch den Aufstand, so Bauernfeld, sei die
„Regierungsmaschine […] plötzlich in´s Stocken gerathen“ und es war, „als drohe eine sechs-
hundertjährige Monarchie durch die feurigen Reden von ein paar Studenten wie ein Kartenhaus
über den Haufen zu fallen.“115 Grün trieb es indes „[n]achdem am dritten Tage der Erhebung
das herrlichste gewonnen war, […] mit dringender Gewalt hierher [nach Graz, J. F.] zurück“
(BGF, S. 23). Dort wurde er in das Komitee zur Organisierung der Nationalgarde gewählt und
arbeitete dafür, so Grün, „fast über das Maaß meiner physischen Kräfte“ (ebd.). Im April 1848
erfolgte Grüns Wahl in das deutsche Vorparlament und schließlich im Mai in die Frankfurter
Nationalversammlung.116 Als er mit seinem Vorhaben, slowenische Vertreter in das Paulskir-
chenparlament zu holen scheiterte, legte Grün sein Mandat am 13. September nieder.117 In
dieser Zeit entstand das Gedicht Frühlingsgruß, dessen programmatischer Titel und die Kontex-
tualisierung im Untertitel: Frankfurt, April 1848 das Revolutions-Sujet ankündigt:

Schmettre, du Lerche von Oesterreich


Hell von der Donau zum Rhein!
Juble! Du kommest aus Morgenroth,
Ziehest in Morgenroth ein.

Schwinge dich, Adler von Oesterreich,


Ledig von Fessel und Band,
Bringe die Grüße vom Donaubord
Allem germanischen Land!

Jauchze, du Herze von Oesterreich,


Jauchze mit jubelndem Schrei:
Heil dir, mein deutsches Vaterland,

114
Vgl. Brief an Frankl vom 19. März. BGF, S. 22 ff.
115
Eduard Bauernfeld: Erinnerungen aus Alt-Wien. Hrsg. von Josef Bindtner. Wien 1923. S. 278.
116
Aus dem Revolutionsjahr 1848 sind drei politische Schriften Auersperg erhalten: An meine slovenischen Brüder!
Ein Wort zur Verständigung gelegenheitlich des vom Vereine „Slovenja“ in Wien ergangenen Aufrufes, seine
Antwort auf das offene Sendschreiben des Vereines „Slovenja“ und das Schreiben an den krainischen Landes-
ausschuss.
117
Grün stand auch weiterhin zwischen den deutschen und slowenischen Interessen. Als Mitglied des Krainer
Landtags (1861-67) verstand er sich als Vertreter der Deutschen, was ihn in Konflikt zu den Slowenen brachte.
Um dies zu vermeiden wechselt er 1867 in den steiermärkischen Landtag.
Zwischen Politik und Dichtung: Anastasius Grün 49

Einig und mächtig und frei!

Brüder, wir Boten aus Oesterreich


Grüßen euch traulich mit Sang;
Schlagt ihr mit freudigem Handschlag ein,
Hat es den rechten Klang.

Der dreihebige Daktylus sowie die in jeder ersten Zeile sich wiederholenden Epipher evozieren
einen auffordernden Rhythmus, der den gehäuften Imperativen entsprechen. Der Appell be-
zieht sich im Wesentlichen auf die zwei primären Konstitute des Paulskirchenparlaments, Frei-
heit und Einheit. Dem sich wiederholende „Oesterreich“ wird jeweils ein attributives Subjekt:
„Lerche“, „Adler“, „Herze“, „Boten“ und ein entsprechender Imperativ: „Schmettre“,
„Schwinge“, „Jauchze“ und „Grüßen“ zugeordnet. Grünentfaltet in seinem Gedicht einen nati-
onalen Raum, in dem Deutschland und Österreich als übergeordnetes Reich vorgestellt wird,
das über die Realität des Deutschen Bundes hinausgeht („mein deutsches Vaterland,/Einig,
mächtig und frei!“). „[V]on der Donau zum Rhein“ reicht dieses Gebiet, das erst im Kontext der
Revolution, also durch die Befreiung aus den „Fesseln“ der Obrigkeit, entstehen kann. Denn die
Einheit, die hier nicht nur auf die nord- und süddeutschen Staaten bezogen ist, sondern
Deutsch-Österreich mit einschließt, kann nur durch Freiheit erlangt werden. Das Wort „Brü-
der“, das an exponierter Stelle die letzte Strophe eröffnet, verweist auf die doppelte Semantik
von sozialer Gleichheit wie territorialer Einheit.
Nach der gescheiterten Revolution zog sich Grün für zehn Jahre aus der Politik zurück, erst
1860 setzte er infolge der kaiserlichen Berufung seine politische Karriere im sog. Verstärkten
Reichsrat fort. Im April 1861 bemerkte Grün gegenüber seinem Freund Frankl, dass der „Frei-
heit- und Einigungsdrang […] in den germanischen Völkern wieder erwacht“ sei und fragte sich,
wann und „[i]n welcher Form die Bewegung in Deutschland, das von außen bedroht und von
innen in Gährung begriffen ist, zum Abschluß und zur Beruhigung kommen“ (BGF, S. 136)
könne. Für ihn müsse ein geeinigtes Deutschland „Kern und Mittelpunkt eines neuen politi-
schen Systems für Mitteleuropa werden […], eines Systems der politischen Probität, einer ge-
ordneten Volkswirtschaft und Volksfreiheit und eines gesunden Kulturlebens“, in dem Öster-
reich eine „hervorragende Stellung einzunehmen berufen“ (BGF, S. 136) sei. Während Grün in
nationalliberaler Manier Deutschlands politische, wirtschaftliche und kulturelle Führungsrolle
in Mitteleuropa vorsieht, formuliert er Österreichs Stellung dagegen eher schwammig. Neben
der friedlichen Koexistenz beider Staaten räumt er den nicht deutschsprachigen Nationen des
Habsburgerreichs ihre kulturelle und normative Souveränität ein. Als fünf Jahre später die klein-
deutsche Lösung im Deutschen Krieg militärisch beschlossen wurde, sah Grün die Lage kriti-
scher. Am Tag des Vorfriedens von Nikolsburg, am 26. 7. 1866, äußerte er gegenüber August
Frankl seine Befürchtungen hinsichtlich der neuen nationalen Situation der Deutschösterrei-
cher: „Wir Deutschen werden unter der magyarisch-slavischen Suprematie (losgerissen von un-
50 Die Autoren und die Revolution 1848/49

sern Stamm- und Kulturgenossen) uns nimmermehr heimisch fühlen können und als die neu-
esten ‚Schmerzenskinder‘ dem großen homogenen Elemente zusteuern“ (BGF, S. 207).118 Die
noch 1861 geäußerte Erwartung einer Belebung der kulturellen Heterogenität im Fall eines
Ausschlusses Österreichs aus dem Deutschen Bund ändert sich nach der Schlacht von König-
grätz bei Grün zu der Annahme, im Konflikt zwischen Deutschösterreichern, Ungarn und Slawen
die politische und kulturelle Führung im Habsburgerreich zu verlieren.

Aus der Infragestellung der nationalen Zugehörigkeit resultierte eine Entfremdung vom Vater-
land, die durch die Jahre der politischen Unterdrückung in Österreich und den deutschen Staa-
ten im Nachmärz weiter zunahm. Sie steigerte sich zu einer Welle der Auswanderung, vor allem
nach Amerika, das als Sinnbild der Freiheit und der Unabhängigkeit galt.

2.4. Entfremdung vom Vaterland und Auswanderung nach Amerika

Die Enttäuschung über die gescheiterte Revolution und die Beklemmung der nachmärzlichen,
reaktionären Phase bestimmte auch die Literatur der nächsten Jahre. In dem vom Rückzug des
politischen Bürgertums gekennzeichneten Jahrzehnt stiegen die Auswanderungen aus den
deutschen Staaten und Österreich um ein vielfaches an,119 was sich in einer Reihe von Auswan-
derungs-Literatur, meist Süd- und Nordamerika betreffend, niederschlug.120 Sie lässt sich in
zwei Sektionen unterteilen: Zum einen die Sektion der Amerika-Literatur im Stile Friedrich Ger-
stäckers und Charles Sealsfield, die aus eigener Erfahrung heraus das Leben in Amerika meist
aus Sicht der deutschen Emigranten schildert. Zum anderen die Texte deutschsprachiger
Schriftsteller, die niemals in Amerika waren und vom Schreibtisch aus die Amerika-Auswande-
rung bearbeiteten, wie der Österreicher Ferdinand Kürnberger, dessen Roman Der Amerika-
Müde (1855) eine der bekanntesten Auswanderer-Dichtungen wurde. Neben diesen beiden
Arten von Auswanderungs-Literatur verarbeitet eine Vielzahl von Texten des 19. Jahrhunderts

118
Der Begriff „Schmerzenskinder“ war umstritten. So entstand auf dem Frankfurter Schützenfest 1862 ein Eklat
zwischen kleindeutschen und großdeutschen Anhängern, ausgelöst durch die Rede des Nationalvereinlers Au-
gust Metz, der neben Kurhessen und Schleswig-Holstein auch Österreich als Schmerzenskinder Deutschlands
bezeichnete. Vgl. Beilage zur Allgemeinen Zeitung. 18. 6. 1862. S. 3312.
119
Zu den Auswanderungszahlen vgl. Günter Moltmann: Aufbruch nach Amerika. Die Auswanderungswelle von
1816/17. Stuttgart 1989. S. 21 f.
120
Amerika war Thema vieler Romane der Zeit, so z. B. Friedrich Gerstäckers sechsbändiges Werk Nach Amerika.
Ein Volksbuch (Leipzig/Berlin 1855) oder G. F. Streckfuss´ Der Auswanderer nach Amerika (Zeitz 1836). Literatur
zu dem Thema vgl. Hamann, Christof/Gerhard, Ute/Grünzweig, Walter (Hrsg.): Amerika und die deutschspra-
chige Literatur nach 1848: Migration – kultureller Austausch – Kolonialisierung. Bielefeld 2009. Bauschinger,
Sigried (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur: Neue Welt, Nordamerika, USA. Wolfgang Paulsen zum 65.
Geburtstag. Stuttgart 1975. Darin u. a. Fritz Martini: Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer. Amerikaspiegelun-
gen im Erzählwerk von Keller, Raabe und Fontane. S. 178-204.
Entfremdung vom Vaterland und Auswanderung nach Amerika 51

die Massen-Migration der Zeit motivisch. Dabei wird in den Texten entweder die ökonomische
oder politische Motivation hervorgehoben und damit implizite Kritik an den sozialen und poli-
tischen Verhältnissen in der Alten Welt geübt, der Amerika-Aufenthalt einer Figur als entwick-
lungsförderndes Element (das im eigenen Land nicht möglich gewesen wäre) verwendet oder
der Akt des Fortgehens als die Gemeinschaft zerstörender, desintegrierender Faktor darge-
stellt. Gerade letzteres Phänomen illustriert die Entfremdung vom Vaterland, die Interferenz
von Heimat und Fremde, wobei Amerika genau die politischen und gesellschaftlichen Vorzüge
verhieß, die sich in Europa mit der Niederschlagung der Märzrevolutionen als unerreichbar er-
wiesen hatten. So ist der Amerikadiskurs in den Texten des 19. Jahrhunderts laut Tobias Lach-
mann eine „spezielle Ausprägung des Nationalitätendiskurses“,121 in denen die amerikanische
Gesellschaft meist als Idealtypus der modernen, liberal-emanzipatorischen Gemeinschaft dar-
gestellt wird.
Während die meisten Autoren sich wegen Zensur und polizeistaatlicher Verfolgung aus dem
literarischen Leben zurückzogen, beschrieb Raabe in seinem in den Jahren 1854 bis 1856 ge-
schriebenen Romanerstling Die Chronik der Sperlingsgasse, obwohl „in der Gipfelphase der
nachrevolutionären Reaktionszeit“122 entstanden, erstaunlich offen die bestehenden sozialen
Missstände. Seine Kritik bezieht sich zum einen auf die mit Pauperismus und sozialer Ungerech-
tigkeit kämpfende Schicht der Proletarier, deren Heraufkommen im Zuge der industriellen Re-
volution Raabe als einer von wenigen Autoren der Zeit erkannte und in der Chronik in der Dar-
stellung Berlins als großstädtischer Mikrokosmos und polysozialer Schmelztiegel verdichtete.123
Zum anderen dokumentierte Raabe, der als Buchhandelslehrling in Magdeburg die restriktiven
Maßnahmen des reaktionären Obrigkeitsstaats unmittelbar erfahren hatte, mit seinem Erst-
lingswerk die polizeistaatliche Unterdrückung von Presse und Literatur durch die Zensur. Der
Roman zeigt anhand des Figureninventars, dem politisch engagierten Milieu der bürgerlichen
Oppositionellen des Vor- und Nachmärzes, wie der Zusammenhang von Individuum und Gesell-
schaft, von Einzelnem und Gesamtstaat verloren gehen kann. Der systemkritische Journalist Dr.

121
Tobias Lachmann: Irritationen von Identitäten. Gottfried Kellers „Regine“. In: Gerhard, Ute/Grünzweig, Wal-
ter/Hamann, Christof: Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848: Migration – kultureller Austausch
– Kolonialisierung. Bielefeld 2009. S. 211-224., hier S. 223. Lachmann bezieht sich in seiner Aussage auf Keller.
122
Wolfram Siemann: Bilder der Polizei und Zensur in Raabes Werken. JRG 28 (1987). S. 84.
123
So beginnt der Roman äußerst pessimistisch: „Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in
der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krie-
ges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt; - es ist eine böse
Zeit!“ (BA 1, S. 11). In einem Brief an Wilhelm Jensen vom 18.11. 1874 schreibt Raabe: „Leider war es mir vor
zwanzig Jahren, als man von Schopenhauer noch nichts wußte, bitterster Ernst, als ich meine schriftstellerische
Thätigkeit mit den Worten anfing: ‚Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist theuer geworden in der Welt;
Stirnrunzeln und Seufzer gar Wohlfeil.‘“ Zu dem Einfluss Schopenhauers auf Raabe siehe Anmerkung zu BA 1,
S. 461 von Karl Hoppe.
52 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Wimmer etwa, der aufgrund seines „fatalen politischen Husten[s]“124 aus Berlin ausgewiesen
wird, „umherirr[t], verbannt, vertrieben“ (BA 1, S. 79) und dadurch seine Heimat einbüßt, aber
durch seinen Münchner Heimatschein immerhin eine neue Wohnortsberechtigung besitzt: „Bin
ich nicht heimatsberechtigt in München an der Isar, stehen nicht viele Löcher offen im edlen
Was-ist-des-Deutschen-Vaterland?“ (S. 80). Der Heimatbegriff des politisch Verfolgten impli-
ziert eine Kritik am deutschen Staatenpluralismus, die durch seine sarkastische Umdeutung als
offenes Loch sowie den ironischen Verweis auf Arndts Lied Des Deutschen Vaterland an Schärfe
gewinnt. Während Wimmer seine neue Heimat innerhalb der deutschen Grenzen sucht, ist sein
Freund Roder zur gänzlichen Aufgabe seiner nationalen Identität gezwungen: Die polizeilichen
Behörden „haben ihn im Jahr Achtzehnhundertundneunundvierzig nach Amerika gejagt, sie
fürchteten sich gewaltig vor ihm“ (BA 1, S. 122). Nicht nur politische Unterdrückung wie im Falle
Roders sondern auch extreme Armut, wie die der Schuhmacherfamilie Burger, werden als Aus-
wanderungsgrund vom Text thematisiert. Das „jung[e] Amerika“ (S. 71) wird daher zum „er-
sehnten Lande“, zum „neuen Vaterland“ (S. 72), das bereits in der Beschreibung der Überfahrt
zu Deutschland kontrastiert wird:

Vielleicht ist es nur ein Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt, während hier die Nacht sich
über so viele Millionen legt. Dort steht der Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der
Hand; im Mastkorb schaut ein freudiges Auge nach dem ersehnten Lande aus, überall Le-
ben und Bewegung. – Hier zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt die
Bücher der Vergangenheit auf, die Zukunft daraus zu enträtseln, und findet vielleicht, daß
die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in demselben Augenblick, wo auf
jenem einsamen Schiff der Willkommensschuß donnert, „Amerika!“ die zu dem Schiffsrand
stürzende Auswanderschar ruft und eine Mutter ihr kleines, lächelndes Kind in die Mor-
gensonne und dem neuen Vaterland entgegenhält! (BA 1, S. 71 f.)

Der Text fängt die hoffnungsvolle Stimmung der sich auf der Überfahrt befindenden Auswan-
derer lebendig ein, indem er ihre Aktivität und Vitalität der Passivität und Rückwärtsgerichtet-
heit der Zurückgebliebenen gegenüberstellt („Führer“ – „Denker“, „Leben und Bewegung“ –
„Bücher der Vergangenheit“). Im Antagonismus von vital konnotierten anbrechendem Tag und
„ewiger“ Nacht werden zeichenhaft die diametralen Voraussetzungen der Alten und der Neuen
Welt beschrieben. In diesem Urteil schwankt jedoch der Text. Zwar wird Amerika als gelobtes
Land deutlich affirmativ und entsprechend dazu die politische und soziale Situation im Deut-
schen Reich als untragbar gestaltet. Dennoch wird das unfreiwillige Verlassen der Heimat als
klarer Verlust empfunden, sogar als Ende der Nation („Nation im Todeskampf“, BA 1, S. 169)
bewertet:

124
BA 1, S. 120. Oppositionelle Politik als Krankheit wird im Text wiederholt metaphorisch dargestellt: „Geben Sie
acht, Wachholder, ohne Spektakel wird´s nicht abgehen. Das Volk hat sich erkältet oder erhitzt; einerlei! Schwit-
zen, schwitzen! Schweiß und Blut! Probatum est.“ […] „Aha“, lacht der Doktor Wimmer – „die oktroyierte Ver-
fassung!“ BA 1, S. 63.
Entfremdung vom Vaterland und Auswanderung nach Amerika 53

Hunderte von Auswandrern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der
einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor sang: „Was ist
des Deutschen Vaterland“, und die alten Eichen schienen traurig die Wipfel zu schütteln;
sie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine
fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab, wohl aber murrend und grollend ihre eigenen
unglücklichen Söhne und Töchter! (BA 1, S. 148)

Der Text verschränkt an dieser Stelle räumliche und zeitliche Dimension in Bezug auf die natio-
nalen Antagonismen Fremdheit und Heimat: Denn während einst fremde Eroberer und Ein-
dringlinge (die Römer) Deutschland tot verließen, ist es in der erzählten Gegenwart das eigene
Volk, die Deutschen, die – aufgrund des „inneren Feindes“ – in die Fremde ziehen müssen. Das
zitierte Lied Arndts Des Deutschen Vaterland zeigt eine neue Art der Zerrissenheit der Deut-
schen. War noch zur Entstehungszeit des Liedes, während der Befreiungskriege, der Partikula-
rismus Hindernis der Nationsbildung, hemmte im Nachmärz der Konflikt zwischen der staatli-
chen Obrigkeit und dem sich emanzipierenden Bürgertum eine Identifikation mit Deutschland.
Selbst in den anthropomorphisierten Eichen, das Symbol für die deutsche Nation schlechthin,
spiegelt sich die Desorientierung und Identitätskrise wider: „die alten Eichen […] wußten keine
Antwort darauf zu geben“. Das Deutsche Reich bietet aufgrund des Zustandes der politischen
Unterdrückung keinen Halt mehr für eine autonome Existenz. Der Text macht deutlich, dass die
Menschen nicht freiwillig emigrieren, sondern aufgrund politischer Verfolgung und sozialer
Missstände aus ihrem Heimatland flüchten:

Es ist nicht mehr die alte germanische Wander- und Abenteuerlust, welche das Volk fort-
treibt von Haus und Hof… Not und Elend sind´s, welche jetzt das Volk geißeln, daß es mit
blutendem Herzen die Heimat verläßt. Mit blutendem Herzen; denn trotz der Stammeszer-
rissenheit, trotz aller Biegsamkeit des Nationalcharakters, der so leicht sich fremden Eigen-
tümlichkeiten anschmiegt und unterwirft – worin übrigens in diesem Augenblick vielleicht
allein die welthistorische Bedeutung Deutschlands liegt – trotz alledem hängt kein Volk so
an dem Vaterland als das deutsche.“ (BA 1, S. 166)

Die Auswanderungsthematik impliziert auch die Beschäftigung mit der eigenen Nation, dem
wegen politischer und sozialer Unterdrückung fremd gewordenen Vaterland, und mit der frem-
den Nation Amerika, die Heimat werden soll. Eine „Nation im Todeskampf“ (BA 1, S. 169) ist
das nachmärzliche Deutschland, dessen politische Bedeutung nur angeblich und damit leere
Eitelkeit ist – eine Spitze, die der Text häufig wiederholt.125

125
„[D]as hat man davon, wenn man sich nach deutscher Größe umguckt: einen Dorn stößt man sich in den Finger,
die Hosen zerreißt man, und zu sehen kriegt man nichts als – den großen Christoffel.“ BA 1, S. 149.
54 Die Autoren und die Revolution 1848/49

Migration spielt in vielen Romanen und Erzählungen Raabes eine Rolle, ja sie durchzieht
quasi leitmotivisch sein Werk.126 Der Aufenthalt in der Fremde – meist ist es Süd- oder Nord-
amerika – hat fast immer die Funktion, eine Entwicklung der ausgewanderten Figur zu initiie-
ren, die sich dann bei deren Rückkehr als neues Element (positiv oder negativ) im Handlungs-
zusammenhang mit den Daheimgebliebenen konstituiert.127

Auch in der vergleichsweise fortschrittlichen Eidgenossenschaft war die Auswanderung nach


Amerika kein Einzelphänomen. Im 19. Jahrhundert wurden Hunger- und Wirtschaftskrisen zum
wichtigsten Argument für die Auswanderung. Dementsprechend wurde das Thema auch von
Schweizer Autoren literarisch besprochen. In Gottfried Kellers privaten Umfeld gab es einige
Amerika-Auswanderer: Judith Keller, eine Verwandte aus dem väterlichen Dorf, Eduard Münch,
der bei Kellers Mutter einige Zeit wohnte und der Maler Johann Salomon Hegi, den Keller in
München kennenlernte und der bereits während der Revolution 1848/49 mit dem Gedanken
spielte, nach Amerika auszuwandern. Keller, der diese Entscheidung kritisch kommentierte,128
hatte in dieser Zeit eine gegenläufige, nämlich europaaffine Position:

Ich werde fast mit jedem Tage europalustiger, da ich nun erst recht an die Revolution
glaube, je schlechter es ihr geht. Aber ein Mensch, der nicht an die Freiheit glaubt, wie
unser Hegi, der muß freilich auswandern, denn das, an was Er glaubt, will sich noch viel
weniger zeigen und Gestalt annehmen […]. (KB 1, S. 278).

Während Keller in der Zeit der Märzrevolution an seinen Hoffnungen auf Reformen festhielt,
verwendet der Schweizer in seinen Texten das Motiv der Amerika-Auswanderung, um die Er-
fahrung der Fremdheit als identitätsstärkende, pädagogische Wirkung zu verarbeiten. Dabei
steht die Auswanderung meist konträr zum idealisierten Bild der Heimatidylle, der Emigrant
bleibt stets ein Außenseiter. Im Grünen Heinrich verlässt Judith nach dem Ende ihrer Liaison mit
Heinrich die Schweiz und wandert nach Amerika aus. In der ersten Fassung des Romans von
1854/55 wird in der (vereitelten) Abschiedsszene die freiheitlichen Hoffnungen der Auswande-
rin mit den Zwängen kontrastiert, denen Heinrich im militärischen Dienst stehend und in dem
Moment der Abfahrt im Heer exerzierend unterworfen ist:

126
Dieser Meinung ist auch Hamann, Christof: Bildungsreisende und Gespenster. Wilhelm Raabes Migranten. In:
Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. Literatur und Migration. München 2006. Sonderband IX/06. S. 10
127
Beispiel dafür ist bei Raabe der junge Wolf in Die Leute aus dem Walde, der durch seinen Amerika-Aufenthalt
die Entwicklung seiner Persönlichkeit vollendet, indem er durch die Kultivierung der Natur (die Rodung des
„wilden Waldes der Welt“) seinen wilden Charakter kultiviert. Vgl. BA 5, S. 320.
128
„Hegi hat mir geschrieben, daß er nach Amerika gehe, nun erwarte ich täglich die Nachricht, daß du nach Afrika
und ein dritter gar nach Australien wolle, so muß ich am Ende doch nach Asien ziehen, damit wir recht ausei-
nander fahren! Da schlage doch der Teufel in die Welt.“ Am 21. Februar an Baumgartner. KB 1, S. 278.
Entfremdung vom Vaterland und Auswanderung nach Amerika 55

Aber diesen Leuten [den Auswanderern, J. F.] hatte sich Judith angeschlossen; denn ich
entdeckte sie, als ich zufällig hinsah, hoch und schön unter den Frauen, mit Reisekleidern
angethan. Ich erschrak heftig und das Herz schlug mir gewaltig, während ich mich nicht
regen noch rühren durfte. Judith, welche im Vorüberfahren, wie mir schien, mit finsterem
Blicke auf die Soldatenreihe sah, erschaute mich mitten in derselben und streckte sogleich
die Hände nach mir aus. Aber im gleichen Augenblicke kommandirte unser Tyrann „Kehrt
Euch!“ und führte uns wie ein Besessener im Geschwindschritte ganz an das entgegenge-
setzte Ende des weiten Platzes. Ich lief immer mit, die Arme vorschriftsmäßig längs des
Leibes angeschlossen, „die kleinen Finger an der Hosennaht, die Daumen auswärts ge-
kehrt,“ ohne mir was ansehen zu lassen, obgleich ich heftig bewegt war; denn in diesem
Augenblicke war es mir, als ob sich mir das Herz in der Brust wenden wollte. Als wir endlich
das Gesicht wieder der Straße zukehrten, nach den maßgebenden Zickzackgedanken im
Gehirne des Führers, verschwand der Wagen eben in weiter Ferne. (HKKA 12, S. 103 f.)

Die Gegenüberstellung der Gruppe der Auswanderer auf dem Weg ins freiheitliche Amerika,
für Heinrich „Republik und Hoffnung der Welt“ (HKKA 12, S. 294), und der exerzierenden Hee-
reseinheit, die dem Befehl des sich tyrannisch gebärdenden Exerziermeisters willenlos Folge
leisten muss, konterkariert Heinrichs Lage. Die Kluft, die zwischen den Migranten und den Sol-
daten besteht, wird gestisch durch Judiths entgegengestreckten, für Heinrich unerreichbaren
Hände versinnbildlicht. Dagegen zeigen Heinrichs Hände gemäß Schweizer Heeresvorschrift
nach unten, seine Gestik wird von außen diktiert. Innerlich ist der Held zerrissen, denn während
der „Kopf“ in die eine Richtung sieht, ist ihm „als ob sich [...] das Herz in der Brust wenden
wollte.“ Die Diskrepanz zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Heinrichs innerer Bewegtheit
und dem äußeren Zwang, der durch den Willen des Heerführers bestimmt ist, wird durch das
Sich-Entfernen der Auswanderer-Gruppe gelöst. Auch Heinrich entfernt sich, sobald es ihm
möglich ist: „Glücklicher Weise ging man nun auseinander, und indem ich mich sogleich ent-
fernte und die Einsamkeit suchte, fühlte ich, daß jetzt der erste Theil meines Lebens für mich
abgeschlossen sei und ein anderer beginne.“ Erst Judiths Migration, ihre endgültige Unerreich-
barkeit, markiert das Ende Heinrichs Jugendzeit und der Beginn des selbstverantwortlichen Er-
wachsenenalters. Während in der ersten Fassung des Grünen Heinrich die Begegnung Judiths
und Heinrichs ihre letzte bleibt, kehrt in der zweiten Fassung von 1879/80 Judith aus Amerika
zurück. Wie in vielen Romanen des 19. Jahrhunderts hat auch bei Keller die Amerika-Auswan-
derung die Funktion, die Entwicklung und/oder Erziehung der migrierten Figur zu fördern – der
Fortgang wird zum „Fort-Schritt“ (Hamann 2006, S. 13) für Judith: „Da sah ich, daß dieses Weib,
das die Meere durchschifft, sich in einer neuen werdenden Welt herumgetrieben und zehn
Jahre älter geworden, zarter und besser war, als in der Jugend und in der stillen Heimat“ (HKKA
3, S. 272). Diese Besserung ist die Folge eines darwinistischen „Kampfes“, mit dem sie in der
Neuen Welt konfrontiert wurde. Denn anstatt dass Judith „in Amerika ihre Zeit in Städten und
guten Häusern“ verbrachte, wie Heinrich angesichts ihrer fürsorglichen Art als „Hausmütter-
chen“ vermutete, hatte sie „im Kampfe mit der Noth der Menschen und indem sie ihre Aus-
56 Die Autoren und die Revolution 1848/49

wanderungsgenossen geradezu erziehen und zusammen halten mußte, sich selbst nothgedrun-
gen veredelt und höher gehoben“ (S. 273). In einer Mischung aus „Selbsterhaltungstrieb“ und
„Opferfähigkeit“ (ebd.) hilft sie als Investorin, Krankenschwester, Lehrerin und Seelsorgerin den
Schweizer Siedlern in deren neue Existenz. Lebte sie vorher ähnlich wie Heinrich außerhalb der
dörflichen Gemeinschaft, bekam sie durch ihre Führungsrolle in der Gruppe der Schweizer
Emigranten eine integrierende Funktion in der Gesellschaft, die auch nach ihrer Rückkehr in die
Schweiz weiterbesteht. Ihre weiterentwickelte Persönlichkeit strahlt auf Heinrich über und er-
möglicht auch seine innere Reifung.129 Denn Judiths Besserung zum „zarteren und besseren“
Menschen ist mit ihrer Entsexualisierung verknüpft, ihr Amerika-Aufenthalt wird zur Läuterung
der vormals sinnlichen Frau, die nach ihrer Rückkehr durch ihre fürsorgliche und mütterliche
Art das Überleben des Protagonisten sichert.130 Judiths Besserung, die durch ihre Auswande-
rung initiiert wurde, ist damit stellvertretend für Heinrich vollzogen worden.

In der österreichischen Monarchie war die Verfolgung der Liberalen und Demokraten, der Dich-
ter und Intellektuellen noch massiver als in Deutschland, so dass gesellschaftspolitische Kritik
nicht oder nur indirekt geübt werden konnte. Die semantische Transponierung vom Selbst- zum
Fremdbild ist in den zahlreichen Auswanderungsromanen und -gedichten zu sehen, die erst
affirmativ-verheißungsvoll, später auch reflektiert und distanziert gestaltet sind.
Ferdinand Kürnberger beschreibt in einem „fragmentarischen Bericht“ die ersten Tage der
Wiener Revolution im März 1848, die er als „Oesterreichs Wiedergeburt“ feiert:131

Die akademische Jugend sprach: Es werde Licht und es ward Licht. In sechs Tagen ward die
Welt erschaffen, in zwei Tagen Österreich. Der große Völkerpferch der Monarchie hat sich
in einen civilisirten Staat verwandelt, die Hund-Wache der geh[eimen] Polizei und Censur
hat aufgehört, die Heerden sind Nationen geworden (Die Wiener-Revolution, S. 130).

Kürnbergers parallel zur Genesis konstruierte Metapher zeigt, dass für ihn die Revolution einer
Neuerschaffung der Welt gleichkommt, die er als Kultivierung eines unzivilisierten Naturzustan-
des begreift. Die „akademische Jugend“, der Kürnberger als Mitglied der Akademischen Legion

129
Gegenüber Theodor Storm äußerte sich Keller über das erneute Auftreten Judiths und das neu konzipierte Ro-
manende der zweiten Fassung: „Hier tritt Judith wieder ein, die als gemachte Person aus Amerika zurückkehrt,
die den Teufel hat zähmen lernen, aber immer einsam geblieben ist […]. Ihm [Heinrich, J. F.] ist sie das Beste,
was er erlebt hat, nach allem, eine einfache Naturmanifestation, und er hat ihr auch immer im Sinne gesteckt.
So bildet sich noch ein kurzer Abendschein in den beiden Seelen.“ Am 25. 6. 1878. In KB 3/1, S. 421.
130
Vgl. dazu Todd Kontje: Patriotismus und Kosmopolitismus bei Gottfried Keller. In: Gerhard, Ute/Grünzweig,
Walter/Hamann, Christof (Hrsg.): Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller
Austausch – frühe Globalisierung. Bielefeld 2009. S. 191-210. Hier S. 201.
131
Ferdinand Kürnberger: Die Wiener-Revolution, fragmentarischer Bericht. In: Wiener Sonntagsblätter 12
(19.3.1848). S. 130-136. S. 131. Im Folgenden als „Die Wiener-Revolution“ abgekürzt.
Entfremdung vom Vaterland und Auswanderung nach Amerika 57

selbst angehörte, bezeichnet er als Macher der Revolution und stilisiert sie euphorisch zu „lau-
ter Heilande und Erlöser der Welt“ (Die Wiener-Revolution, S. 31).
Die erreichte Emanzipation währte nicht lange: Ende Oktober 1848 beschossen kroatische
und österreichische Truppen erst die Stadt, um sie dann zu stürmen – über 2000 Revolutionäre
verloren ihr Leben. Kürnberger floh kurz darauf nach Dresden, wo er bis Februar 1850 inhaftiert
wurde. Nach seiner Entlassung lebte er einige Zeit unter falschen Namen in Hamburg, und
kehrte 1856 nach Wien zurück, wobei er wiederrum mehrmals wieder ins Exil musste. In diese
Zeit der Verfolgung und des Exils fällt die Verfassung und Erscheinung seines Romans Der Ame-
rika-Müde, der die innere und äußere Zerrissenheit seines Autors widerspiegelt. In dem Roman
entwirft Kürnberger, der selbst nie in Amerika war, ein kritisches Bild Amerikas, das – der Titel
deutet es an – die beraubten Hoffnungen der Auswanderer auf ein neues, besseres Leben be-
schreibt. Kürnbergers Absicht war es, „die Verunglückung eines Auswanderers der amerikani-
schen Lebenspraxis zur Last zu schreiben.“132
Die anfangs verheißend dargestellten Erwartungen des Protagonisten Dr. Moorfeld an Ame-
rika als Land der Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten werden im Lauf des Romans ent-
täuscht: „Amerika ist ein Vorurteil“ (KGW 4, S. 334). Bereits zu Beginn des Romans wird ein
Idealbild der Neuen Welt entfaltet, das den überspitzten Hoffnungen nicht standhalten kann:

Amerika! Welcher Name hat einen Inhalt gleich diesem Namen! Wer nicht Dinge der ge-
dachten Welt nennt, kann in der wirklichen Welt nichts Höheres nennen. Das Individuum
sagt: mein besseres Ich, der Erdglobus sagt: Amerika. Es ist der Schlußfall und die große
Kadenz im Konzerte der menschlichen Vollkommenheiten. (KGW 4, S. 3)

Die Ironie ergibt sich aus den historischen Kontext, denn die Namensgebung des neuen Konti-
nents fußt auf einem Irrtum: Matthias Ringmann benannte ihn nach dem Italiener Amerigo
Vespucci, für dessen Entdecker er ihn irrtümlich hielt. Name und Inhalt entsprechen sich also
nicht, ein Fehler, den der Protagonist noch gewahr werden wird. Kürnberger verfasste seinen
Amerika-Müden in „ostentativer Gegensätzlichkeit“133 zu Ernst Willkomms 1838 veröffentlich-
ten Roman Die Europamüden und stellte mit seinem Text „eine dichterische Paraphrase der

132
Brief an Frankl vom 25. Juni 1854. Abgedruckt bei Rüdiger Steinlein: Ferdinand Kürnbergers „Der Amerika-
müde“. Ein „amerikanisches Kulturbild“ als Entwurf einer negativen Utopie. In: Amerika in der deutschen Lite-
ratur. Neue Welt – Nordamerika – USA. Hrsg. von Bauschinger, Sigrid/Denkler, Horst/Malsch, Wilfried. Stuttgart
1975. S. 154-177. Hier S. 173.
133
Kürnberger an Frankl im Mai 1854. Zitiert nach Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Über die Gegenwärtigkeit von
Literatur in literarischen Werken. Leben und Werk Lenaus als Modell für Ferdinand Kürnberger, Peter Härtling
und Gernot Wolfgruber. In: Lenau-Forum: Vierteljahresschrift für vergleichende Literaturforschung 16 (1990).
S. 77-84. Hier S. 77.
58 Die Autoren und die Revolution 1848/49

amerikanischen Eindrücke Nikolaus Lenau´s“134 dar. Das anfängliche Amerika-Bild Moorfelds,


der das idealistische Kriterium der griechischen Antike als Maßstab anlegt, wird mit jeder Sta-
tion seiner Reise weiter enttäuscht. Den Vergleich mit Europa bzw. Österreich, dem Moorfeld
schließlich entfliehen wollte, kann das noch im Aufbau begriffene Amerika nicht standhalten.
Selbst die Natur ist hier unterlegen:

Die amerikanische Waldphysiognomie hatte für Moorfeld´s Auge etwas Hohles, Starres,
Gitterhaftes, da fast überall das Unterholz fehlt, also neben dem Gewordenen das Wer-
dende. Dasselbe Bild wiederholte sich hier. Die ganze Vegetation schien ihm fertig wie ein
Drahtgeflecht, die Idee des freien Hineinrankens eisern ausschließend. Dabei mangelte
dem Walde aber doch auch der Ausdruck der ruhigen Größe und Erhabenheit. Die Baum-
asten standen charakterlos in unendlicher Buntheit durcheinander. (KGW 4, S. 361)

Anhand des Waldes, der eines der urbeständigsten Nationalsymbole der Deutschen und der
Österreicher darstellt, greift der Text das Klischee der amerikanischen Freiheit auf, um dessen
Essenz zu negieren. Weil der Kreislauf des Lebens nicht stattfindet, also alles bereits abge-
schlossen ohne Ursprünge existiert, kann keine Individualität und kein freies Werden entste-
hen.135 Der amerikanische Wald bleibt „charakterlos“ und für Moorfeld, bei dem ein „europä-
isch-waldfroh[es]“ (KGW 4, S. 361) Gefühl ausbleibt, fremd. Das Beispiel des Waldes zeigt, dass
die Darstellung Amerikas als Spiegelbild der verlassenen Heimat dient. Demenstrechend urteilt
Ritchie Robertson: „Kürnberger´s imaginary America is ultimately an allegory for the progress
of liberalism in Austria“.136
Benthal, der deutsche Emigrant und ehemalige Revolutionär des Hambacher Festes, ver-
sucht wie Kellers Judith seinen emigrierten Landsleuten beim Start in ihr neues Leben zu helfen.
Sein Rat an die deutschen Ankömmlinge ist nicht Integration, sondern Abgrenzung:

[S]chärfen und schleifen Sie alle Spitzen Ihrer Nationalität wie ein chirurgisches Besteck
und zerfleischen Sie jeden damit, der Ihnen zu nahe tritt. Ihren deutschen Tiefsinn
stemmen Sie entgegen der routinierten Flachheit, Ihr deutsches Gemüt der höflichen Her-
zenskälte, Ihre deutsche Religion dem trocknen Sektenkram, Ihr deutsches Persönlichkeits-
gefühl dem herdemäßigen Parteitreiben, Ihr deutsches Gewissen dem Humbug und Yan-
keetrick, Ihre deutsche Sprache dem Mißlaut und der Gedankenarmut, Ihr deutsches

134
Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München 2006. S. 112. Kürnberger
schreibt an Ludwig August Frankl im Mai 1854: „zu der Person meines Amerika-Müden – des erhöhten Lesein-
teresses wegen – unsern gefeierten unglücklichen Landsmann Lenau ausersehen.“ In: Hirth, Friedrich (Hrsg.):
Ferdinand Kürnberger. Ausgewählte Werke. Wien 1911. Bd. 1, S. XVI.
135
Vgl. Walter Erhart: Fremderfahrung und Ich-Konstitution in Amerika-Bildern der deutschsprachigen Gegen-
wartsliteratur. In: Orbis Litterarum 49/ 2 (1994). S. 99-122.
136
Ritchie Robertson: German Idealist and American Rowdies. F. Kürnbergers Novel „Der Amerika-Müde“. In:
Ritchie Robertson/Edward Timms (Hrsg.): Gender and Politics in Austrian Fiction. Edinburgh: 1996. S. 17-35.
Hier S. 31.
Entfremdung vom Vaterland und Auswanderung nach Amerika 59

Weinglas der Mäßigkeitsheuchelei, Ihre deutsche Sonntagslust dem Sonntagsmuckertum


Amerikas. (KGW 4, S. 147)

Die stereotypische Gegenüberstellung des pejorativ gestalteten Fremdbild der Amerikaner mit
dem sich hybrid ausnehmenden Selbstbild der deutschen Emigranten137 umfasst alle wichtigen
identitätskonstitutiven Elemente der Nationalcharaktere, darunter geistige, emotionale, religi-
öse, weltanschauliche, moralische, sprachliche und kulturelle Aspekte.138 Indem der Text die
nationalen Spezifika als chirurgisches Besteck symbolisiert, verschärft er wortwörtlich die Dis-
tanzierungs- und Abgrenzungsattitüde der Einwanderer.
Die deutschen, österreichischen und schweizerischen Texte, die die Auswanderung nach
Amerika als Thema oder Motiv verwandten, generieren affirmative wie pejorative Fremdbilder,
die im korrelativen Verhältnis zum eigenen nationalen Selbstbild stehen. Die Autoren
präsentieren Heimat und Fremde sowohl aus der Innen- wie aus der Außenperspektive und
übertragen den Konnex von Alter und Neuer Welt auf politische, gesellschaftliche und
individuell-persönliche Konstellationen. Während bei Raabe und Keller in der
Außenperspektive (Erzählerinstanz bleibt in der Heimat) die Erneuerung der politischen und
persönlichen Verhältnisse gelingt (bzw. ihr Gelingen in Aussicht gestellt wird), schlägt sie in
Kürnbergers Roman (Erzählerinstanz befindet sich in der Fremde) fehl.

Das folgende dritte Kapitel zeigt nach einigen einführenden allgemeinen Erörterungen zur Dar-
stellung Deutschlands in den Texten Schweizer Autoren Gottfried Kellers und Conrad Ferdinand
Meyers literarische Auseinandersetzung mit der Dialektik von Heimat und Fremde, individueller
und nationaler Identität. Dabei werden sowohl epische als auch lyrische Texte untersucht wer-
den.

137
„Wir haben freilich gut sagen, das [amerikanische, J. F.] Volk fürchtet instinktiv die deutsche Geistesüberlegen-
heit, von der es schon jetzt in allen Zweigen seines Nationallebens zehrt” (KGW 4, S. 414).
138
Vgl. Clemens Ruthner:„The novel consistently thematises the deceptive, loud-mouthed and uncultivated atti-
tude of its ‚Yankee’ characters as opposed to the German immigrants […] who, in the narrative logic of the text,
in fact outrival them morally and culturally”. In Ruthner: Bhabha, Kürnberger and the Ambivalence of Imago-
logy. In: Dukić, Davor (Hrsg.): Imagologie heute: Ergebnisse, Herausforderungen, Perspektiven. Bonn 2012. S.
137- 160. Hier S. 152.
3. Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Das Defizit einer eigenen Schweizer Literaturgeschichte führte dazu, dass viele Schweizer
Autoren des 19. Jahrhunderts sich stark mit der deutschen Literatur identifizierten und damit
eine „doppelte Loyalität“ (R. Zeller, S. 461) empfanden. Obschon es ab der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts Bemühungen gab, eine eigenständige Schweizer Literatur zu etablieren,139
unterschieden die meisten Autoren zwischen politisch-nationaler und kulturell-literarischer
Zugehörigkeit. So waren für Conrad Ferdinand Meyer die „Träum[e] von einer spezifisch
schweizerischen Literatur […] ein baarer Unsinn“ (BM 2, S. 26) und auch Gottfried Keller wehrte
sich „gegen die Auffassung, als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe“, vielmehr solle
sich jeder, „wenn etwas herauskommen soll, […] an das große Sprachgebiet halten, dem er
angehört“ (KB 2, S. 357). Meyer und Keller nahmen in Abgrenzung zu Frankreich eine
deutschlandfreundliche Haltung ein, die sich auf einen kulturell bedingten Sprachraum bezog.
Besonders Conrad Ferdinand Meyer zeigte eine deutschlandbejahende Haltung, die mit sei-
ner berühmten Abkehr von Frankreich verknüpft war. Aber im Gegensatz zu Keller, der zwi-
schen kultureller und politischer Nationalidentität unterschied und nie einen Hehl aus seiner
skeptischen Einstellung gegenüber der deutschen Nationswerdung unter Bismarck machte,
war Meyer der Ansicht, sich nur durch eine preußenfreundliche Stellungnahme auch literarisch
profilieren zu können. Damit sollte er Recht behalten: Mit dem Gedichtzyklus Huttens letzte
Tage, das rechtzeitig zur Reichsgründung 1871 erschien, gelang Meyer ein großartiger Erfolg
(1890 erschien bereits die 8. Auflage). Die Darstellung von Huttens Lebensende, das er auf der
Insel Ufenau im Zürichsee verbrachte, gab den Deutschen eine aus dem Ausland, noch dazu
aus der neutralen Eidgenossenschaft stammende Legitimation des Deutsch-Französischen Krie-
ges. Das lag neben der Wahl des Titelhelden, der bereits in den Befreiungskriegen als National-
held und deutscher Patriot verehrt wurde (vgl. z. B. Caspar David Friedrichs Gemälde Huttens
Grab aus dem Jahr 1823/24), auch an der historisch reflexiven Darstellungsweise (retrospektive
Erinnerung Huttens). In Kapitel 3.2 wird erörtert, wie durch die vielfachen Anspielungen der
ersten Fassung auf den Deutsch-Französischen Krieg (in den späteren Fassungen von Meyer
getilgt), das Epos zur Siegeshymne der deutschen Reichseinigung wurde. Das darauffolgende
Teilkapitel widmet sich der nationalpolitischen Auseinandersetzung Meyers in seinem Roman
Jürg Jenatsch, in dem der unbedingte Patriotismus des Protagonisten die Souveränität seines

139
Manuela Günter und Günter Butzer setzen das Jahr 1848 als Beginn einer Schweizer Literaturgeschichte an.
Vgl. Dies.: Deutsch-Schweizerische Literaturbeziehungen nach 1848 im Spiegel der Zeitschriften. Ein Beitrag zur
interkulturellen Germanistik. In: JbDSG 42. Jg. Stuttgart 1998. S. 214 ff. Nicole Rosenberger stellt diese Entwick-
lung erst für die 1860er Jahre fest (vgl. Rosenberger, S. 192). Rémy Charbon urteilt: „Das kaum je bestrittene
Zugehörigkeitsgefühl der Deutschschweizer Autoren zum deutschen Kulturraum ändert nichts an der Tatsache,
daß die deutschsprachige Literatur der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine eigen-
ständige, in sich kohärente Entwicklung charakterisiert ist.“ Rémy Charbon: Kein „Rückzug in die Innerlichkeit“.
Demokratische Tendenzen in der deutschsprachigen Literatur nach 1848. In: IASL. 2 (2002). S. 171.

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J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_3
62 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Heimatlandes sichert. Die in den beiden letzten Unterkapiteln untersuchten Gedichte Meyers
zeigen, wie stark sich der Autor auf den deutschen Kulturraum bezog, indem er sich des ent-
sprechenden, identitätsstiftenden Mytheninventars bediente.
Keller sah die verwandtschaftliche Beziehung zwischen der Schweiz und Deutschland eth-
nisch begründet: „unsere Bundesverfassung, das erste brauchbare Originalgewächs seit dem
Untergange der alten Eidgenossenschaft, ist das Erzeugnis unseres germanischen Saftes und
Blutes“.140 Trotz seiner selbst eingestandenen „Germanomanie“ (KB 1, S. 245) distanzierte sich
Keller vom politischen System in Deutschland.141 In seinem Gedicht Nationalität (1846) be-
spricht er mit deutlichem Verweis auf das deutsch-schweizerische Verhältnis diese Diskrepanz:
Zwar sind Volkstum und Sprache das „Mutterhaus“, in dem „die Völker wachsen und gedei-
hen“, doch im „polit´schen Glaube“ „trenne sich der lang vereinte Strom!“ (HKKA 9, S. 114).
Kellers doppelt empfundene Nationalidentität bewegt sich demnach zwischen seiner sprach-
lich-kulturellen Identifikation mit Deutschland und der politisch-weltanschaulichen Identifika-
tion mit der Schweiz, deren Vorzüge als demokratisch-liberal organisierte Republik der Züricher
wiederholt betont: „Nun hat einmal der Schweizer gefunden, daß die Unabhängigkeit des ge-
samten Vaterlandes, die Freiheit des Gedankens und des Wortes, die völlige Gleichheit der
Rechte und Nichtgeltung des Standes und anderer Äußerlichkeiten das Bedürfnis seiner Seele
ist.“142 Der Widerspruch, der sich aus der Tatsache ergibt, dass ein aus einem liberalen und
föderalen Staat stammender Dichter in einem monarchistisch und pluralistisch geprägten Kul-
turraum schreibt, lässt sich in weiten Teilen seines Grünen Heinrich ablesen: Zum einen in der
Konfrontation seines Schweizer Titelhelden mit einem deutschen Ideal, das die Wirklichkeit
nicht zu halten vermag. Des Weiteren in der zeichenhaften Landschaftsbeschreibung, in der die
Schweizer Dorfidylle der Bedrohlichkeit einer deutschen Großstadt klischeehaft und kontrafak-

140
Die Äußerung traf Keller in Abgrenzung zu Frankreich: „Die ‚N. Z. Ztg.' stellte vor einigen Jahren in edler Selbst-
enttäuschung den Satz auf, Bildung und Sitte der deutschen Schweiz seien wesentlich französisch. So viel davon
ist richtig, daß auch wir ein unsterbliches Geschlecht von Gaffern haben, die nach Frankreich gaffen und nicht
eher klug werden, als bis sie eine tüchtige Kelle voll Elend in den offenen Mund bekommen haben. Wem Frank-
reich wirklich was geben kann, der nehme es mit Dank an. Uns kann es nichts geben, sondern nur nehmen, und
unsere Bundesverfassung, das erste brauchbare Originalgewächs seit dem Untergange der alten Eidgenossen-
schaft, ist das Erzeugnis unseres germanischen Saftes und Blutes, so gut wie die alten Briefe der großen Zeit.“
In: Zürcher Korrespondenz vom 18. 10. 1860. HKKA 15, S. 153 f.
141
Die Möglichkeit eines Anschlusses der Schweiz an Deutschland sah Keller nur im Falle der Auflösung des Schwei-
zerischen Bundesstaates und wenn die Deutschen „einmal unter einer Verfassung leben, die auch ungleichar-
tige Bestandteile zu ertragen vermag.“ Vgl. zu Kellers Überlegungen und der öffentlichen Kritik an seinen Äu-
ßerungen Hans Max Kriesi: Gottfried Keller als Politiker. Leipzig 1918. S. 35, 130 f., 204.
142
HKKA 16/1, S. 391. Aus dem Aufsatz Vermischte Gedanken über die Schweiz, den Keller in München als Antwort
auf eine Kontroverse um die Schweizer Nationalität verfasste. Weiter heißt es dort: „Der Nationalcharakter der
Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Lage des Landes, noch sonst in irgend etwas Mate-
riellem; sondern er besteht in ihrer Liebe zur Freiheit, zur Unabhängigkeit, er besteht in ihrer außerordentlichen
Anhänglichkeit an das kleine, aber schöne und teure Vaterland, er besteht in ihren Heimweh, das sie in fremden,
wann auch schönsten Ländern befällt.“
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 63

tisch gegenübergestellt wird. Und schließlich in der Bedeutung der, in Abgrenzung zur Willkür-
herrschaft der Monarchie dargestellten Republik, die die Mitgestaltung jedes Einzelnen an der
Gesellschaft bedeutet und in der Heinrich Lee scheitert (vgl. Kap. 3.1). Während diese dualisti-
sche Struktur Kellers Auseinandersetzung von Selbst- und Fremdbild auf der Textoberfläche
widerspiegelt, thematisiert der Roman auf einer abstrakten Metaebene, nämlich in einem
Traum Heinrichs, in einem großen metaphorischen Bild die Frage nach der nationalen Identität.
Die Analyse dieses allegorischen Traums gibt neue Hinweise auf Kellers Nationenbild (vgl. Kap.
3.1.1). Der Abschnitt schließt mit Ausführungen zu Kellers Schweiz- und Deutschlandbild in sei-
nen Gedichten, in denen der Autor wiederum Selbst- und Fremdbilder beider Räume entfaltet.

3.1. Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum

Wohl mir, daß ich dich endlich fand,


Du stiller Ort am alten Rhein,
Wo ungestört und ungekannt,
Ich Schweizer darf u n d Deutscher sein!

Das Zitat Kellers entstammt der fünften Strophe seines Gedichts Einkehr unterhalb des Rhein-
falls (HKKA 13, S. 136) aus dem Jahr 1845. Während der Titel der ersten Fassung noch den Rhein
als neutrale Zone erfasst, in der die im obigen Zitat erkennbare Ambivalenz der verschiedenen
Identifikationsebenen aufgelöst scheint, zeigen die wiederholten Überarbeitungen Kellers
(1847, 1883 und 1889) seine zunehmende Irritation über seine eigene deutsch-schweizerische
Identität. So drückt der neue Titel Gegenüber (HKKA 9, S. 165 f.) ein diametrales Verhältnis
zwischen Eidgenossenschaft und Deutschland aus. Das Motiv taucht auch im Grünen Heinrich
auf, als Heinrich sein Schweizer Heimatland verlassend den Rhein überquert und, umgeben von
der idyllischen Natur des Grenzufers, mit den deutschen Grenzbeamten konfrontiert wird (vgl.
HKKA 11, S. 42 ff.).
Keller, der mit Unterbrechung insgesamt neun Jahre in Deutschland lebte,143 arbeitete wäh-
rend seiner Aufenthalte an der ersten Fassung des Grünen Heinrich (1846-1855).144 In dem Bil-
dungsroman, der biographische Züge des Autors enthält,145 stehen zwei für diese Arbeit maß-
gebliche Handlungsräume, die Schweiz und Deutschland, im Mittelpunkt: Die schweizerische

143
Zuerst in München sich als Maler versuchend (1840-42), folgten später Aufenthalte in Heidelberg (1848-50)
und Berlin (1850-55).
144
Bei den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf die erste Fassung des Romans. Sofern auf die zweite
Fassung bezogen wird, geschieht dies in vergleichender Absicht und wird explizit erwähnt.
145
Keller dazu in seiner Autobiographie: „Ich gedachte immer noch, nur einen mäßigen Band zu schreiben; wie
aber etwas vorrückte, fiel mir ein, die Jugendgeschichte des Helden oder vielmehr Nichthelden als Autobiogra-
phie einzuschalten mit Anlehnung an Selbsterfahrenes und Empfundenes. […] Jedoch ist die eigentliche Kind-
heit, sogar das Anekdotische darin, so gut wie wahr…“ (HKKA 15, S. 413).
64 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Heimat des Protagonisten Heinrich Lee bildet Anfangs- und Endpunkt seiner Lebensgeschichte,
in ihr ist er (zumindest theoretisch) gesellschaftlich und politisch eingebunden. Während die
analeptische Behandlung Heinrichs Schweizer Zeit die Geschichte seiner Herkunft, Kindheit und
Jugendgeschichte umfasst, handelt sein siebenjähriger Aufenthalt in Deutschland von seinem
Scheitern als Maler. Die beiden Länder werden im Roman kontrastiv gegenübergestellt, indem
ihre unterschiedliche Staatsform – Monarchie bzw. Republik – anhand der Beschreibung einer
linear-antiken Dorfaufteilung (Schweiz) und kontrastiv-bedrohlichen Stadtarchitektonik
(Deutschland) herausgestellt wird. Die Schilderung der Schweizer Umgebung, wie sie dem Hel-
den bei seiner Abfahrt erscheint, evoziert das Idealbild einer Republik:

Gegen Mittag fuhr der Postwagen durch ein großes ansehnliches Dorf, wie sie in der fla-
chern Schweiz häufig sind, wo Fleiß und Betriebsamkeit, im Lichte fröhlicher Aufklärung
und unter oder vielmehr auf den Flügeln der Freiheit, aus dem schönen Lande nur Eine
freie und offene Stadt erbauen. Weiß und glänzend standen die Häuser längs der breiten
saubern Landstraße, dehnten sich aber auch in die Runde, mannigfaltig durch Baumgärten
schimmernd. […] Hier, auf dem sonnigen Vorplatze und auf der breiten steinernen Treppe
[der Schule, J. F.], welche fast tempelartig den ganzen vorderen Sockel bekleidete, mochte
der Ort sein, welchen sonst die alten Dorflinden bezeichnen; denn eine Gruppe älterer und
jüngerer Männer unterhielt sich hier behaglich, sie schienen zu politisiren; aber ihre Unter-
redung war um so ruhiger, bewußter und ernster, als sie vielleicht, dieselbe bethätigend,
noch am gleichen Tage einer wichtigen öffentlichen Pflichterfüllung beizuwohnen hatten.
Die Physiognomien dieser Männer waren durchaus nicht national über Einen Leisten ge-
schlagen, auch war da nichts Pittoreskes, weder in Tracht, noch in Haar- und Bartwuchs zu
bemerken; es herrschte jene Verschiedenheit und Individualität, wie sie durch die unbe-
schränkte persönliche Freiheit erzeugt wird, jene Freiheit, welche bei einer unerschütterli-
chen Strenge der Gesetze Jedem sein Schicksal läßt und ihn zum Schmied seines eigenen
Glückes macht. (HKKA 11, S. 33 ff.)

Der Text stellt hier exemplarisch ein Dorf in der Schweiz vor, das durch Arbeit („Fleiß und Be-
triebsamkeit“) als „freie und offene Stadt“ erbaut wurde. Die freiheitliche Verfasstheit be-
herrscht die Szenerie, indem sie in der Ortsbeschreibung affirmativ aufgenommen und sakrali-
siert („tempelartig“) wird, wobei die Affinität zur griechischen Antike das Idealbild einer
aufgeklärten Gesellschaft unterstreicht. Die gleichzeitige Linearität und Geschlossenheit der
Häuseranordnung und das explizite Inbeziehungsetzen zur (kultivierten) Natur bestimmt den
dörfischen Raum als organischen Kreislauf. Durch die Gruppe der politisch und gesellschaftlich
aktiven Bürger wird die freiheitlichen Implikationen der Ortsbeschreibung vitalisiert und von
einem abstrakten Begriff in die konkrete Alltagswelt transformiert. Die Freiheit bestimmt auch
das Auftreten und Aussehen der Männer, sie macht sie „zum Schmied ihres eigenen Glü-
ckes“.146 Der Raum einer Republik bietet den Menschen offensichtlich persönliche Freiheit und
Selbstbestimmtheit, wie sie in der Monarchie nicht möglich ist. Denn im Kontrast zu dem positiv

146
Vgl. die Erzählung Kellers Der Schmied seines Glückes. HKKA 5, S. 63-96.
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 65

gestalteten Schweizer Landschaftsbild steht die Beschreibung der Stadt München bei der An-
kunft Lees:

Steinbilder ragten in langen Reihen von hohen Zinnen in die Luft, Königsburgen, Paläste,
Theater, Kirchen bildeten große Gruppen zusammen, Gebäude von allen möglichen Bau-
arten, alle gleich neu, sah man hier vereinigt, während dort alte geschwärzte Kuppeln,
Rath- und Bürgerhäuser einen schroffen Gegensatz machten. […] Heinrich hatte sich aus
dem Lärm verloren in eine lange und weite Straße, welche ganz von mächtigen neuen Ge-
bäuden besetzt war. Steinerne Bildsäulen standen vor ernsten byzantinischen Fronten, die
still und hoch in den dunkelnden Himmel hinauf stiegen, bald dunkelroth gefärbt, bald
blendend weiß, Alles wie erst heute und zur Mustersammlung für lernbegierige Schüler
aufgestellt. Da und dort verschmelzten sich die alten Zierarten und Formen zu neuen Er-
findungen, die verschiedensten Gliederungen und Verhältnisse stritten sich und ver-
schwammen in einander und lösten sich wieder auf zu neuen Versuchen; es schien, als ob
die tausendjährige Steinwelt auf ein mächtiges Zauberwort in Fluß gerathen, nach einer
neuen Form gerungen hätte und über dem Ringen in einer seltsamen Mischung wieder
erstarrt wäre. (HKKA 11, S. 58 f.)

Während der Text bei der Darstellung der Schweizer Gesellschaft Dorfarchitektur mit Perso-
nenbeschreibung verbindet und so einen Welt-Lebensbezug in einer dörflichen Idylle herstellt,
fehlt der Beschreibung der monumentalen deutschen Großstadtarchitektur, die politische und
gesellschaftliche Parteien repräsentiert, die Verbindung zum Volk. Hier bilden nicht die Men-
schen, sondern die „Königsburgen, Paläste, Theater, Kirchen“, also staatliche Institutionen eine
Gruppe, die wiederum im Kontrast zu den Bürgerhäusern stehen: „[H]ier“ sind die Ersteren
„alle gleich neu“, während „dort“ die Letzteren „al[t]“ und „geschwärz[t]“ sind – was ein Sei-
tenhieb auf die schlechte Position des deutschen liberalen Bürgertums darstellt. Die von Macht
durchdrungene „tausendjährige Steinwelt“ steht symptomatisch für das monarchische Herr-
schaftssystem. Das „Ringen“ „nach einer neuen Form“ meint das Bestreben der Revolutionäre
von 1848/49 nach einer neuen liberalen Verfassung, die nach dem Scheitern „wieder erstarrt“
sind. Die Monumentalität der Häuser, die den Menschen klein erscheinen lässt und bedrohlich
wirkt („Fronten“), spiegelt das hierarchisch strukturierte Modell des monarchischen Obrigkeits-
staats wider. Auch Heinrich fühlt sich hier fremd und „verloren“. Die Fassaden dienen als „Mus-
tersammlungen“ für die staatliche Erziehung der Untertanen. In der Schweiz dagegen ist die
Schule positiv konnotiert, die vor ihr versammelten Männer sind paritätisch und scheinen selbst
an politischen Entscheidungen mitzuwirken.
In beiden Szenenbeschreibungen verweist die Darstellung der national konnotierten Räume
auf ihre politische Form: Während durch die Beschreibung der Schweizer Dorfidylle auf Grund-
lage kulturhistorischer Voraussetzungen ein politisch und gesellschaftlich liberal-aufgeklärter
Raum entfaltet wird, ist die Darstellung des deutschen städtischen Kosmos stark anthropomor-
phisiert, um so gerade die Entmenschlichung des absolutistischen Systems darzustellen. Die
Ansichten des Protagonisten über die deutsche und die schweizerische Regierungsform ent-
spricht dieser kontrastiven, politisch interpretierten Schilderung beider Länder. So tragen die
66 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Schweizer laut Heinrich die Bedeutung ihres republikanischen Staatswesens in sich selbst:
„[D]er Herzschlag seines politischen Lebens gehört eben sowohl zu den unwillkürlichen Bewe-
gungen, als derjenige seines physischen Körpers“ (HKKA 11, S. 51 f.). In der Monarchie wird
dagegen das System von oben oktroyiert: „[J]eder Stein, jeder Baum scheint hier einen Stempel
zu tragen, noch neben dem der Gottheit und der Natur. Jedes Postschild scheint mir zuzurufen:
Du mußt Dich auch zeichnen lassen, wie ich, hier ist Alles das erste und letzte Eigenthum eines
einzelnen Menschen!“. Die Willkür des Systems, die Abhängigkeit vom monarchischen Ober-
haupt, von dem der Untertan „noch keinen kleinen Finger gesehen hat“, kommt dem Republi-
kaner als „ein unwürdiger Spaß, als ein blauer Dunst vor, den man sich mit ernsthaftem Gesicht
vormacht“. Demgegenüber regiert in der Schweiz das gesamte Volk, also „die öffentliche Mei-
nung oder die Mehrheit“ (S. 52 f.).
Die obrigkeitliche Ordnung des Deutschen Reichs bekommt der junge Schweizer bereits bei
seiner unmittelbaren Ankunft nach der Übersetzung über den Rhein zu spüren: „Wächter des
deutschen Zollvereins“ erwarten „mit gespanntem Hahn“ den ahnungslosen Ankömmling be-
reits. Doch anstatt enttäuscht über die wenig einladende Haltung der Grenzsoldaten zu sein,
empfindet der Held, noch ganz von seinen naiven Erwartungen an ein ideales Deutschland
durchdrungen, eher Bedauern darüber, dass „an der Schwelle seines Vaterlandes ihn gar nie-
mand um sein Weggehen befragt und besichtigt hatte“ (HKKA 11, S. 44) – diese Art der staatli-
chen Fürsorge bleibt in seinem republikanischen Vaterland aus. Wenig später erfolgt die direkte
Konfrontation mit dem deutschen Beamtentum, als er im ersten Wirtshaus auf eine „Gesell-
schaft aus Gerichtsassessoren, Forstleuten, Steuerbeamten und dergleichen“ stößt:

Äußerlich konnte man sie nicht unterscheiden, weil alle gleich rüstig und forstmäßig aus-
sahen, und Heinrich betrachtete sie mit Wohlgefallen und gestand sich, daß diese sporen-
klirrenden Beamten in ihren Jagdtrachten sich keck und malerisch ausnähmen im Gegen-
satz zu den nüchternen und friedlichen Würdeträgern in den Dörfern seines Vaterlandes.
(HKKA 11, S. 49)

Die äußerliche Übereinstimmung der Beamten bedient eine implizite Kritik am deutschen Kon-
formismus. Heinrichs Romantisierung des Deutschen in Abgrenzung zum rationalen Charakter
der Schweizer wird auf der Handlungsebene entkräftet. Denn seine naive Bewunderung wird
jäh gebremst, als ihm einer der Beamten die unbedacht aufgesetzte Mütze vom Kopf schlägt,
um ihm zu zeigen, „was hierzulande Sitte ist“.147 Der Verweis geschieht nach Aussage des Be-
amten „in Rücksicht auf des Königs Majestät, dessen Stellvertreter wir sind“ (HKKA 11, S. 50).
Eine Eskalation der Situation verhindert schließlich ein Heinrich zu Hilfe kommender deutscher
Graf, der sich kraft der Autorität seiner nationalen und sozialen Herkunft für Heinrich erfolg-

147
Die Episode von der heruntergeschlagenen Mütze fehlt in der zweiten Fassung.
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 67

reich einsetzt. Auf der Handlungsebene wird also die Gegensätzlichkeit zwischen den Regie-
rungsvertretern beider Nationen moralisch umgewertet: Die deutschen Beamten benehmen
sich in Kontrast zu ihren schweizerischen Kollegen, nämlich nicht „friedlich“, sondern im Ge-
genteil aggressiv und fremdenfeindlich. Heinrichs fehlgeleitetes Urteil, seine eigene Selbsttäu-
schung, ist bereits in der Beschreibung enthalten: Die deutsche Wirtshausgesellschaft mutet
ihm „malerisch“ an und ist damit nicht real. Später wird Heinrich, kaum dass er in München
angekommen ist, erneut die Mütze vom Kopf geschlagen, diesmal vom König selbst.148 Beide
Szenen sind ein deutlicher Rekurs auf die Hut-Szene in Schillers Wilhelm Tell, in der ebenfalls
das Ziehen bzw. Nicht-Ziehen des Hutes den Konflikt zwischen Herrscher und (unfreiem) Volk
präsentiert.149 Der intertextuelle Verweis auf Schillers Drama impliziert eine Kritik an der Mo-
narchie, deren Autorität nicht durch Wahl legitimiert wurde, sondern erzwungen ist. Der mo-
narchische Staat birgt für Heinrich nicht die erhoffte Sicherheit und wortwörtliche Behütung,
er bleibt in Deutschland „unverbunden und einsam“ (S. 45), es wird ein „Aufenthalt des Elen-
des, der Verbannung“ (S. 326). Während seine Jahre in Deutschland für den Protagonisten zu
einer „interkulturellen Grenzüberschreitung“150 werden, besitzt die Fremdheit, die er gleicher-
maßen in seiner schweizerischen Heimat empfindet, eine binnensoziale Dimension. Denn auch
in der Schweiz scheitert Kellers Heinrich Lee an der Erfüllung der „reizende[n] Aufgabe“ (HKKA
12, S. 460), als Teil des Ganzen zu wirken, sich also in der Gesellschaft zu bewähren und damit
Spiegelbild seines Volkes zu sein. Ihm bleibt sein Platz in der – und das ist wichtig: demokrati-
schen – Gesellschaft versagt. Im monarchischen System würde dieser Platz den Voraussetzun-
gen der Abstammung und Geburt obliegen und wäre damit vorbestimmt.

Das Deutsche Reich stellt für den Schweizer Heinrich die „Mitte“ seines „großen Stammvol-
kes“ dar, wo er dessen „geistig[e] Errungenschaften aneignen und diejenigen allgemeinen

148
„[E]in hoher, magerer Mann kam mit langen Schritten und wunderlichen Bewegungen durch das ersterbende
Zwielicht daher und trat, als Heinrich ihn zerstreut ansah, plötzlich auf denselben zu und schlug ihm die Mütze
vom Kopfe, daß sie auf den Boden fiel. […] Der Fremde rief ihm aber mit lauter Stimme zu ‚Warum gaffen Sie
mich an und grüßen nicht? Was ist das für eine Ungezogenheit?‘ Heinrich sagte ‚Ich kenne Sie ja gar nicht, Herr!‘
– ‚So? Wissen Sie, ich bin der König! Artig sein, Respekt haben, junger Mann!‘ und ohne eine fernere Rede
abzuwarten, schritt er rasch von dannen“ (HKKA 11, S. 60). Gerhard Kaiser deutet die zivile Kleidung des Mo-
narchen als Zugeständnis an das Bürgertum: „Im Zeitalter der Bourgeoisie will der König ein Bürger sein und
wie ein Bürger an seiner individuellen Physiognomie erkannt werden – aber als König.“ Kaiser, Gerhard/Kittler,
Friedrich: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Göttingen 1981. S. 231. Auf
dem Nürnberger Künstlerfest trifft Heinrich im grünen Narrenkleid und mit einem Dornenkranz umhauptet er-
neut auf den König und bietet diesem „[m]utwillig […] sein bestechpalmtes Haupt hin“ (HKKA 12, S. 163).
149
Vgl. zur Bedeutung des Huts als „Ausdruck von Bürgerlichkeit im Sinne eines kulturellen Habitus“ Hermann
Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur. Göttingen 1986. S. 123 ff.
150
Michael Böhler: Schweizer Literatur im Kontext deutscher Kultur unter dem Gesichtspunkt einer „Ästhetik der
Differenz“. In: Ekmann, Bjørn (Hrsg.): Deutsch – eine Sprache? Wieviele Kulturen? Vorträge des Symposions,
abgehalten am 12. und 13. November 1990 an der Universität Kopenhagen. Kopenhagen 1991. S. 73-100. S. 75
68 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Grundlagen und Anschauungen erwerben möchte, welche nur bei großen Sprachgenossen-
schaften zu finden sind, und ohne welche es der Einzelne zu nichts Ganzem und Höherem brin-
gen kann“ (S. 54). Deutschland wird demnach als übergreifender Kulturraum verstanden, der
einen alle „Culturdinge“ (S. 57) umfassenden Wissenspool beinhaltet und der Raum für „ver-
schiedene Bedürfnisse und Fähigkeiten“ (S. 54) bietet. Die Bedeutung der Schweizer Heimat ist
dagegen emotional besetzt:

Und wie die Familie die sicherste, trostreichste Zuflucht ist nach jeder Abschweifung und
Irrfahrt, so ist das Vaterland, wenn seine Gränzen einen natürlichen Zusammenhang ha-
ben, und wenn es zudem noch den sicheren Schooß eines aufgeweckten und vergnüglichen
bürgerlichen Lebens bildet, der erste und letzte Zufluchtsort für alle seine besseren Kinder.
(HKKA 11, S. 54)

Im induktiven Verfahren wendet der Text hier einen Familiarismus im Sinne Feuerbachs an, der
die kleinste Zelle der Gesellschaft, die Familie, als Richtschnur für das Leben in der größten, der
Nation, vorsieht.151 Erst durch die Entfernung des Individuums von seiner Familie und Heimat,
bekommen Vaterhaus und Vaterland ihre Bedeutung als Refugium. Das Vaterland bietet dabei
nur in seiner nationalen Einheit und nationalen Unabhängigkeit Zufluchtsort und Fluchtpunkt
für den Einzelnen. Zufluchtsort Heinrichs eigener odysseischer „Irrfahrt“ ist dagegen weder die
Mutter, die vor seiner Rückkehr in die Schweiz stirbt, noch das Vaterland, in dem er Außenseiter
der Gesellschaft ist. Denn die Heimat ist exklusiv, nur „für alle seine besseren Kinder“ bietet es
Schutz. Die Wechselwirkung zwischen erfolgreichem „bürgerliche[m] Leben“ und Verortung im
nationalen Kontext greift daher bei Heinrich nicht, er stirbt vereinsamt und mit seinem Schick-
sal hadernd.
Bereits der Beginn des Romans entfaltet den Gegensatz der politischen Situationen in
Deutschland und der Schweiz durch Darstellung der Szenerie und verortet ihn in einem später
wiederkehrenden Brückenbild.152 Während die schweizerischen „Vertreter des Volkes […] Be-
sonnenheit, Erfahrung und das glückliche Geschick, mit einfachem Sinn das Rechte zu treffen“
ausstrahlend, auf der Brücke „nach dem dunkeln schweren Rathhause [wandeln], das aus dem
Flusse emporsteigt“, steuert zwischen dem „zahlreichen emsigen Volke“ „der deutsche Ge-
lehrte mit gedankenschwerer Stirne nach seinem Hörsaal; sein Herz ist nicht hier, es weilt im
Norden, wo seine tiefsinnigen Brüder, in zerrissenen Pergamenten lesend, finstere Dämonen
beschwörend, sich ein Vaterland und ein Gesetz zu gründen trachten“. Die Versetzung des ge-
flohenen, heimatlosen Revolutionärs in die intakte und nach demokratisch-liberalen Prinzipien
organisierte Republik verdeutlicht den Gegensatz zwischen den politischen Verhältnissen in der

151
Vgl. Ludwig Feuerbach: Der Eudämonismus. In: Bolin, Wilhelm/Jodl, Friedrich (Hrsg.): Ludwig Feuerbach. Sämt-
liche Werke. Stuttgart 1959. Bd. 10. S. 230-293. Hier v. a. S. 275.
152
Vgl. dazu Eva Graef: Martin Salander. Politik und Poesie in Gottfried Kellers Gründerzeitroman. Würzburg 1992.
S. 35 f.
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 69

Schweiz und in Deutschland. Die Diskrepanz ist augenscheinlich: Der Anblick des „von der Gäh-
rung dieses großen Experiments“ ausgeworfenen Flüchtlings „vermehrt die Mannigfaltigkeit
und Bedeutung dieses Treibens“ (HKKA 11, S. 16) auf der Brücke.153
Das Bild der Brücke, dass das republikanisch-demokratische Leben in nuce darstellt, bedient
der Text in einer konstitutiven Traumsequenz erneut und erweitert es zu einer großen Meta-
pher.

3.1.1. Der Traum von der Nation im Grünen Heinrich

Der konstruktive Charakter von Nation und nationaler Identität, der den Zeitgenossen im 19.
Jahrhundert durchaus bewusst war, erhält bei Keller in seiner phantastischen Aufarbeitung als
Traum eine entsprechende Darstellungsweise. In seinem Bildungsroman dient die Verfrem-
dung im Traum zur Besprechung von Abstrakta gesellschaftspolitischer Dimension, wie der na-
tionalen Identität. Diese ist für den Protagonisten Heinrich Lee gerade im Spannungsfeld seiner
eigenen Identitätssuche evident. Die Jahre in Deutschland, die nach der Jugendzeit am stärks-
ten den Handlungsverlauf dominieren, bedeuten für Heinrich das gänzliche Scheitern als Maler
und somit die Unerreichbarkeit einer bürgerlichen Existenz. Die rettende Heimreise zur Mutter,
in den „sicheren Schooß“ des Lebens, schiebt er immer wieder hinaus. Als er von der Krankheit
und Verzweiflung der Mutter erfährt, wird die Aussichtlosigkeit seines Wunsch- und Endzieles
zur quälerischen Gewissheit. Obgleich Heinrich die „einfache Rückkehr“ in die Heimat als „das
wünschenswertheste und höchste Gut“ erscheint, bleibt sie „ungewiss“ und „unmöglich […]
ohne Grund und Abschluß, ohne das Verdienst eines erreichten Lebens“ (HKKA 12, S. 327). Ini-
tiiert wird schließlich Heinrichs Rückkehr durch die Heimsuchung mehrerer Tag- und Nacht-
träume, in denen sich ihm „die Kraft und Schönheit des Vaterlandes“ (S. 349) zeigt und die alle
von einer erfolgreichen Heimkehr Heinrichs handeln: „Allein das heiße Verlangen nach diesem
so einfachen und natürlichen Gute wirkte so mächtig in ihm, dass in tiefer Nacht, wenn der
Schlaf ihn endlich heimgesucht, eine schöpferische Traumwelt lebendig wurde“ (S. 327). Indem
der Roman die Heimkehr Heinrichs in sein Vaterland durch die innere Einkehr des Traums er-
setzt,154 zeigt er erneut wie der Held sich träumend über die Realität hinwegsetzt und in ihr

153
Im der zweiten Fassung des Romans wird auf die Problematik der deutschen Exilanten Bezug genommen: „Es
war jene Zeit, da Deutschland von seinen dreißig oder vierzig Inhabern so engsinnig und ungeschickt verwaltet
wurde, daß Scharen von Vertriebenen jenseits der Grenzen umherzogen und die Fremden im Schmähen und
Schelten gegen ihr Vaterland förmlich unterrichteten“ (HKKA 2, S. 161).
154
Nach Manfred Gsteiger: Die Schweiz von Westen. Beiträge zum kulturellen Dialog. Bern 2002, S. 71 f. Der Text
stellt bei der Beschreibung Heinrichs endlichen (wirklichen) Rückreise weitere Verbindungen zum Traum her:
„So wurde sein Heimweg gehemmt und aufgehalten, wie nur eine ängstliche Traumreise aufgehalten werden
kann, und es war ihm fast gleich zu Muthe wie in jenen Träumen, in denen er heimreiste, und fühlte sich be-
klommen, so daß er sich losreißen mußte, um nur endlich weiter zu kommen“ (HKKA 12, S. 459).
70 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

scheitert. In der Traumsequenz stellt Keller die Identität der Nation in einer großen Brückenal-
legorie dar, um den abstrakten Begriff in seiner ganzen Problematik darstellen zu können. Mit
der Übertragung der Realität in die Traumebene, die Wilhelm Richard Berger das „Konzept der
Naturwahrheit der Traumdarstellung“155 nennt, wird die Darstellung der nationalen Identität
gleichzeitig konkretisiert (durch das Brückenbild) und verfremdet (durch den Traum). Keller
nutzt den Traum als funktionales Erzählelement (Berger, S. 14), indem er im Medium des
Traums den Konstruktionscharakter von nationaler Identität ergründet.
Die Suche nach dem Haus der Mutter, die die Träume bestimmt, ist gleichzeitig eine Suche
nach dem Vaterland. Weil die reale Heimat für Heinrich ambivalent bleibt, imaginiert er in sei-
nen Träumen eine ästhetische Utopie von Heimat:

Er war jetzt unten bei der Brücke angekommen; das war aber nicht mehr die alte hölzerne
Brücke, sondern ein marmorner Palast, welcher in zwei Stockwerken eine unabsehbare
Säulenhalle bildete und so als eine niegesehene Prachtbrücke über den Fluß führte. […]
Während das Gebäude von außen nur in weißem, rothem und grünem Marmor glänzte,
allerdings in den herrlichsten Verhältnissen und Gliederungen, waren die Wände inwendig
mit zahllosen Malereien bedeckt, welche die ganze fortlaufende Geschichte und alle Thä-
tigkeiten des Landes darstellten. […]
Das lebendige Volk, welches sich auf der Brücke bewegte, war aber ganz das gleiche, wie
das gemalte und mit demselben Eines, wie es unter sich Eines war, ja viele der gemalten
Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten in dem lebendigen Treiben mit, wäh-
rend aus diesem manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden.
Diese glänzten dann in um so helleren Farben, als sie in jeder Faser aus dem Wesen des
Ganzen hervorgegangen und ein bestimmter Zug im Ausdrucke desselben waren. Ueber-
haupt sah man Jeden entstehen und werden und der ganze Verkehr war wie ein Blutumlauf
in durchsichtigen Adern. […] Der Ein- und Ausgang der Brücke aber war offen und unbe-
wacht, und indem der Zug über dieselbe beständig im Gange war, der Austausch zwischen
dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand und Alles sich unmerklich je-
den Augenblick erneuerte und doch das Alte blieb, schien auf dieser wunderbar belebten
Brücke Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur Ein Ding zu sein.
„Nun möcht´ ich wohl wissen,“ sagte Heinrich vor sich hin […], „was dies für eine muntere
und lustige Sache hier ist!“
Das Pferd erwiederte auf der Stelle: „Dies nennt man die Identität der Nation!“ (HKKA 12,
S. 337 ff.)

Der Brückentraum ist die allegorische Darstellung eines funktionierenden kulturellen Lebens in
seiner Geschlossenheit und Absolutheit. Die Menschen auf der Brücke repräsentieren das Volk
bzw. die Nation. Die Brücke selbst stellt den Raum dar, in dem das Volk lebt; sie hat also öffent-
lichen Charakter und ist damit Forum und Medium für die Identität der Nation. Im öffentlichen

155
Wilhelm Richard Berger: Der träumende Held. Untersuchungen zum Traum in der Literatur. Göttingen 2001. S.
105.
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 71

Raum der Brücke kann sich die Gemeinschaft, wie auch das einzelne Individuum, dessen wir-
kender Teil es ist, ihrer nationalen Identität bewusst sein. In dieser Allegorie, die im Traum als
doppelte Fiktionalität besteht, veranschaulicht Keller sein Ideal einer Nation. Während das Trei-
ben auf der staatlich-institutionell konnotierten Brücke („statiöse Volkshalle“, HKKA 12, S. 344)
die Öffentlichkeit widerspiegelt, stehen die beiden Ufer, die sie verbindet, für das Private („be-
sondere Behausung“, S. 343). Der Austausch zwischen einerseits öffentlichen und privaten Be-
reich156 sowie anderseits zwischen realem und fiktionalem Leben stellen einen organischen
Kreislauf dar („wie ein Blutumlauf“, S. 338).157 Die Darstellung des Daseins in seiner Totalität
erfasst eine historische, soziale und weltanschauliche Dimension. Leben und Reflex des Lebens,
der unausgesetzt stattfindende „Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben“ (S.
339) geht spiegelnd ineinander über. Die Kunst, hier in Form der Malerei, agiert als Medium
zwischen Volk und seiner Geschichte, die seine nationale Identität bestimmt. In dem Bild stellt
Keller die Korrelation von Kunst und Nation als „integrativ[e] Einheit“ (Böhler 1996, S. 25) dar.
Die sich im öffentlichen Raum bewegenden Menschen identifizieren sich als Nation im Spie-
gelbild ihrer selbst, im praktischen Dienst an der Gemeinschaft: „Alles, was auf der Brücke geht,
ist und bedeutet nur etwas, insofern es aus dem Gelände hüben und drüben kommt und wieder
dahin geht und dort etwas Rechtes ist, und dort kann man es wiederum nur sein, wenn man als
etwas Rechtes über die Brücke gegangen ist“ (S. 343). In diesem Idealbild einer Nation, wie
Keller es entwirft, ist jeder Einzelne das Spiegelbild seines Volkes. Die Deutung der Brücken-
Allegorie wird im Traum durch Heinrich selbst, im Dialog mit seinem sprechenden, gelehrten
Pferd vorgenommen. Demnach bildet die Brücke die Verbindung zwischen den Individuen, auf
ihr werden die Einzelnen zu einem Gemeinsamen, der Nation. Brücke und Leute darauf, beide
zusammen „nennt man die Identität der Nation“ (HKKA 12, S. 339). Da aber die Leute die Nation
darstellen, ergibt sich das Problem, dass die Nation und ihre Identität nicht voneinander zu
trennen sind. Diesen „scheinbaren Gegensatz“ kann nach Aussage des Pferdes nur der lösen,
der an der Identität selbst mitarbeitet, auch er wäre „hier an die Wand gemalt“ (HKKA 12, S.

156
„Ohne die schönen Ufer wäre die Brücke nichts, und ohne die Brücke wären die Ufer nichts. Alles, was auf der
Brücke geht, ist und bedeutet nur etwas, insofern es aus dem Gelände hüben und drüben kommt und wieder
dahin geht und dort etwas Rechtes ist, und dort kann man es wiederum nur sein, wenn man als etwas Rechtes
über die Brücke gegangen ist. […] So ist sie ein prächtiges Monument und doch nur eine Brücke, nicht mehr als
der geringste Brettersteg; eine bloße Geh- und Fahrbrücke und doch wieder eine statiöse Volkshalle“ (HKKA 12,
S. 343).
157
Das Gleichnis findet sich auch im Bildungskapitel wieder. Es veranschaulicht die Geschlossenheit der Wirklich-
keit und vermittelt Kellers implizite Poetik: „Heinrich faßte indessen alles Wissen, das er erwarb, sogleich in
ausdrucksvolle poetische Vorstellungen, wie sie aus dem Wesen des Gegenstandes hervorgingen und mit dem-
selben eines waren, so daß, wenn er damit hantierte, er die allerschönsten Symbole besaß, die in Wirklichkeit
und ohne Auslegerei die Sache selbst waren und nicht etwa darüber schwammen wie die Fettaugen über einer
Wassersuppe. So waren ihm die beiden Systeme des Blutkreislaufes und der Nerven mit dem Gehirne, jedes in
sich geschlossen und in sich zurückkehrend, wie die runde Welt, und doch jedes das andere bedingend, die
schönsten plastischen Charakterwesen, welche ihm allezeit bewundernswert, geheimnisvoll und anlockend wa-
ren, ohne mystisch zu sein“ (HKKA 12, S. 242).
72 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

340). Die Identität der Nation ist somit kein Zustand, sondern eine Aufgabe, so Laurenz Steinlin,
„die der Begreifende mitwirkend löst“.158 Sie ist nicht ursprünglich gegeben, sondern eine „er-
arbeitete historische Tat“ (Steinlin, S. 393). Indem Heinrichs tierischer Begleiter darauf hin-
weist, dass das Gespräch nur „eine subjektive Ausgeburt und Grübelei deines [Heinrichs, J. F.]
eigenen Gehirnes ist, die du Aberwitziger mit über den Rhein gebracht hast“ (HKKA 12, S. 340),
bekommt die Brückenallegorie eine spezifische, auf die nationale Identität der Deutschschwei-
zer hinweisende Bedeutung.159
Die Traumsequenz ist für die Figur des Heinrich deshalb so wichtig, weil sich in ihr seine
Wünsche einer sozialen Integration, einer Existenzberechtigung durch die aktive Teilhabe an
der Gemeinschaft offenbaren und sich träumerisch verwirklichen. Die erfolgreiche Integration
des Individuums hat den persönlichen, materiellen Erfolg zur Voraussetzung: Die „Identität al-
lerdings zu behaupten und gegen jeglichen Angriff zu vertheidigen“ sei, so erklärt das klug-
sprechende Pferd, „am bequemsten durch allerlei Gemünztes zu erreichen und zu sichern […],
so betrachten sie [die Leute auf der Brücke, J. F.] Jeden, der mit dergleichen wohl versehen, als
einen gerüsteten Vertheidiger und Unterstützer der Identität“ (HKKA 12, S. 344). Die Notwen-
digkeit des Geldes wird im Text existentiell begründet: nur wer die physischen Voraussetzungen
mitbringt, kann die Freiheit nach außen hin verteidigen, und um Essen kaufen zu können,
braucht man eben Geld. Damit wird der integrative und gemeinschaftsfördernde Nationalismus
von dem auf Egoismus und Gewinnstreben ausgerichtete Kapitalismus abgelöst.
Doch für Heinrich birgt der unverhoffte Geldsegen ohnehin nicht die gewünschte integrative
Wirkung, denn die Schätze, die ihm im Traum so wunderbar zufielen, verschwinden genauso
schnell, wie sie auftauchten: „Von seiner vortrefflichen Traumeshabe war nichts mehr zu se-
hen, als einige zertretene Reste auf dem kothigen Pflaster, welche dazu von nichts Besonderem
herzurühren schienen“ (HKKA 12, S. 348). Statt also als erfolgreicher Mann aus der Ferne heim-
zukehren, kommt Heinrich sowohl in seinem eigenen Traum, der sich allmählich zum Alptraum

158
Laurenz Steinlin: Gottfried Kellers materialistische Sinnbildkunst. Bern 1986. S. 393.
159
In der zweiten Fassung des Grünen Heinrich wird das Brückenbild bei Heinrichs Überquerung des Rheins wieder
aufgenommen, wobei der Text durch seine Darstellung einen „kulturelle[n] Initiationsritus“ vollzieht (But-
zer/Günter/Heydebrandt, S. 65): „Etwa fünf Stunden später fuhr ich über eine lange hölzerne Brücke. Als ich
mich aus dem Schlage bog, sah ich einen starken Strom unter mir daher ziehen, dessen an sich klargrünes
Wasser, das junge Buchenlaub, das die Uferhänge bedeckte, sowie die tiefe Bläue des Maihimmels vermischt
widerstrahlend, in einem so wunderbaren Blaugrün heraufleuchtete, daß der Anblick mich wie ein Zauber befiel
und erst, als die Erscheinung rasch wieder verschwand und es hieß: «das war der Rhein!» mir das Herz mit
starken Schlägen pochte. Denn ich befand mich auf deutschem Boden und hatte von jetzt an das Recht und die
Pflicht, die Sprache der Bücher zu reden, aus denen meine Jugend sich herangebildet hatte und meine liebsten
Träume gestiegen waren. Daß es nicht in meinem Erinnern leben konnte, ich sei nur von einem Gau des alten
Alemaniens in den andern hinüber, aus dem alten Schwaben in das alte Schwaben gegangen, dafür hatte der
Lauf der Geschichte gesorgt, und darum war mir das herrliche Funkeln der grünblauen Flamme des Rheinwas-
sers wie der Geistergruß eines geheimnißvollen Zauberreiches gewesen, das ich betreten“ (HKKA 2, S. 134).
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 73

entwickelt, als auch in der fiktiven Wirklichkeit als verarmter, gescheiterter Sohn zur inzwischen
verstorbenen Mutter zurück.160
In der zweiten Fassung des Grünen Heinrich endet der Gründerzeittraum ebenfalls abrupt:
Heinrich, der sich dank eines unerschöpflichen Goldvorrates gewissermaßen zu einer Integra-
tionsfigur des Volkes erträumt, wird von einer Karikatur des Wilhelm Tells (es ist der verkleidete
Wirt vom Tellfest) mit der Armbrust erschossen:

[P]lötzlich [erscholl] eine harte Stimme […], die rief: „Ist denn niemand da, den Landver-
derber aus der Luft herabzuholen?“
„Ich bin schon da!“ antwortete der dicke Wilhelm Tell, der in einer Lindenkrone verborgen
saß, die Armbrust auf mich anlegte und mich mit seinem Pfeile herunterschoß. Ein neuer
Ikarus, stürzte ich samt dem Goldfuchs prasselnd aufs Kirchendach und rutschte von dort
jämmerlich auf die Straße hinab, woran ich erwachte und mich erschüttert fand, wie wenn
ich wirklich gefallen wäre. (HKKA 3, S. 118 f.)

In der Darstellung des Traums der zweiten Fassung wird der Tellschuss in der hohlen Gasse, der
während des Tellfestes (vgl. Jugendgeschichte) ausblieb, nachgeholt. Den korrelativen Zusam-
menhang von Traum und Wirklichkeit – in beiden wird der tiefe Fall des Traumtänzers und „Ika-
rus“ Heinrich dargestellt – macht der Text explizit („wie wenn ich wirklich gefallen wäre“).
Dem Protagonisten gelingt es nicht, sich als „der wiederspiegelnde Theil vom Ganzen“ (HKKA
12, S. 460) in die Gemeinschaft zu integrieren, durch sein Scheitern im privaten und öffentli-
chen Raum ist Heinrich von der Mitarbeit an der nationalen Identität und damit von der Ge-
meinschaft der Nation als solcher ausgeschlossen. Dieser Heimatverlust wird in mehreren Sta-
tionen vollzogen: durch den frühzeitigen Schulabbruch fehlt ihm neben einer Halt bietenden
Vaterfigur auch die staatliche und gesellschaftliche Orientierung und macht ihm damit eine
praktische Aneignung der Welt unmöglich. Die ausbleibende Kultivierung (Bildung) seiner na-
türlichen Voraussetzungen ist bereits im Titel enthalten (Natur: Der grüne Heinrich). Heinrichs
Künstlertum und Spiritualismus sind Zeugnis seiner Realitätsflucht und seiner Isolation. Weil
eine bürgerliche Existenz und Eingebundenheit in das Vaterland unerreichbar bleibt, wird der

160
Heinrich hat nicht nur seine eigene Existenz sondern auch die seiner Mutter gefährdet: „Nachdem sie [die Mut-
ter, J. F.] lange in Kummer und stummer Erwartung auf ihren Sohn oder ein Zeichen von ihm gewartet, wurde
sie […] aus ihrem Hause vertrieben, in welchem sie achtundzwanzig Jahre gewohnt; denn nachdem es ruchbar
geworden, daß sie jenes Kapital für ihren Sohn aufgenommen, von welchem nichts weiter zu hören war, hielt
man sie um dieser Handlung willen für leichtsinnig und unzuverlässig und kündigte ihr die Summe. Da sie trotz
aller Mühen dieselbe nicht auf´s Neue aufbringen konnte, indem Niemand sich in diesen Handel einlassen zu
dürfen glaubte, mußte sie endlich den Verkauf des Hauses erdulden und mit ihrer eingewohnten Habe, von
welcher jedes Stück seit so viel Jahren an selbem Platze unverrückt gestanden, in eine fremde ärmliche Woh-
nung ziehen, über welchem mühseligen und verwirrten Geschäft sie fast den Kopf verlor. […] [Sie] brütete un-
verwandt über dem Zweifel, ob sie Unrecht gethan, Alles an die Ausbildung und gemächliche Selbstbestimmung
ihres Sohnes zu setzen, und dies Brüten wurde einzig unterbrochen von der zehrenden Sehnsucht, das Kind nur
ein einziges Mal noch zu sehen. Sie setzte zuletzt eine bestimmte Hoffnung auf den Frühling, und als dieser
verging und der Sommer anbrach, ohne daß er kam, starb sie“ (HKKA 12, S. 464).
74 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Aufenthalt in Deutschland für den Protagonisten zur „Verbannung“ (HKKA 12, S. 326). Im letz-
ten Heimkehrtraum wird seine gesellschaftliche Außenseiterstellung szenisch entfaltet:

So träumte er eine Nacht, daß er an dem Rande des Vaterlandes auf einem dunklen Berge
säße, während das Land in hellem Scheine vor ihm ausgebreitet lag. Auf den weißen Stra-
ßen, auf den grünen Fluren wallten und zogen viele Scharen von Landleuten und sammel-
ten sich zu heiteren Festen, zu allerhand Handlungen und Lebensübungen, was er alles
aufmerksam beobachtete. Wenn aber solche Züge nahe an ihm vorübergingen und er man-
che Befreundete erkennen konnte, so schalten diese ihn im Vorbeigehen, wie er, teilnahm-
los in seinem Elende verharrend, nicht sehen könne, was um ihn herum vorgehe. (HKKA
12, S. 349 f.)

Hier imaginiert Heinrich eine ganz wortwörtlich gemeinte Volksversammlung, die sich im Fest
vollzieht. Anders als bei den drei Festdarstellungen in der erzählten Wirklichkeit (vgl. Kap. 10.2),
ist Heinrich diesmal nicht aktiver Mitwirkender und Teilnehmer des Festzuges, sondern nur
passiver Beobachter. In einer dual gestalteten Landschaftsbeschreibung, die der Figurencha-
rakteristik dient, wird der positiv-vital konnotierte Festzug („hellem Scheine“, „heiteren Fes-
ten“) der Isolierung Heinrichs kontrastiv gegenübergestellt („an dem Rande des Vaterlandes
auf einem dunklen Berge“, „teilnahmlos in seinem Elende verharrend“ usw.).
Der gesellschaftliche Ausschluss Heinrichs ist mit dem Tod der Mutter endgültig vollzogen
und geht schließlich mit dem Verlust seiner Existenz einher:

So war nun der schöne Spiegel, welcher sein Volk wiederspiegeln wollte, zerschlagen und der
einzelne, welcher an der Mehrheit mitwachsen wollte, gebrochen. Denn da er die unmittel-
bare Lebensquelle, welche ihn mit seinem Volke verband, vernichtet, so hatte er kein Recht
und keine Ehre, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte: Wer die Welt will
verbessern helfen, kehre erst vor seiner Tür. (HKKA 12, S. 465)

Damit hat Heinrich sein in den Heimkehrerträumen reflektiertes Sehnen nach einem Platz in
der Gesellschaft endgültig zerschlagen. Der Schluss des Romans zeigt, wie die Spannung von
Individuum und Allgemeinheit, Heimat und Fremde in der Katastrophe kulminiert.
Wie im Kapitel 10.2 zu sehen sein wird, bietet allein die Teilnahme am Schau- bzw. Festspiel
Raum für Heinrichs (imaginierte) gesellschaftliche Integration. Dank der Kostümierung im Spiel
ist es ihm möglich, sich seiner eigentlichen Identität wenigstens zeitweise zu entledigen und
spielerisch seine Ideale einer glücklichen Existenz nachzuahmen. Dabei wird auf den schweize-
rischen Nationalmythos Tell rekurriert, um das Individuum im geschichtlichen Kontext des na-
tionalen Kollektivs zu verorten.

Eine schweizerische Nationalmetaphorik verwendet Keller auch in seinen patriotischen Gedich-


ten, in denen der alpine Naturraum zum Symbol der eidgenössischen Freiheit stilisiert wird und
damit der nationalen Identifikation dient.
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 75

3.1.2. Gottfried Kellers vaterländische Lyrik

Kellers patriotisches Gedicht An das Vaterland steht am Beginn der Abteilung „Schweizeri-
sches“ des Gedichtbandes von 1846 und stimmt damit quasi leitmotivisch in die patriotische
Haltung der nachfolgenden Gedichte ein. Es ist deshalb Kellers berühmtestes Gedicht, weil es,
von Wilhelm Baumgarten mit einer eingängigen Melodie vertont, 1848 zur Diskussion stand zur
Schweizer Nationalhymne zu werden. Obwohl es dazu nicht kam, war und ist das Lied noch
immer ein wichtiger Teil des kollektiven kulturellen Gedächtnisses in der Eidgenossenschaft
und war lange Zeit „eine Art inoffizielle Nebenhymne“.161 Das Pathos des Gedichts startet un-
mittelbar durch eine innige Ansprache des artikulierten Ichs an sein Vaterland, die einem Lie-
besschwur gleicht:

O mein Heimatland! O mein Vaterland!


Wie so innig, feurig lieb´ ich dich!
Schönste Ros´, ob jede mir verblich,
Duftest noch an meinem öden Strand!

Als ich arm, doch froh, fremdes Land durchstrich,


Königsglanz mit deinen Bergen maß,
Thronenflitter bald ob dir vergaß,
Wie war da der Bettler stolz auf dich!

Als ich fern dir war, o Helvetia!


Faßte manchmal mich ein tiefes Leid;
Doch wie kehrte schnell es sich in Freud´,
Wenn ich einen deiner Söhne sah!

O mein Schweizerland, all´ mein Gut und Hab!


Wann dereinst die letzte Stunde kommt,
Ob ich Schwacher dir auch nichts gefrommt,
Nicht versage mir ein stilles Grab!

Werf´ ich von mir einst dies mein Staubgewand,


Beten will ich dann zu Gott dem Herrn:
„Lasse strahlen deinen schönsten Stern
Nieder auf mein irdisch Vaterland!“ (HKKA 9, S. 199)

161
Manfred Lukas Schewe: „…über das Fremdwerden des Eigenen“ or 100 years of Switzerland, compressed into
a collage of four scenes: Thomas Hürlimann´s „Das Lied der Heimat“. In: Studer, Patrick/Egger, Sabine (Hrsg.):
From the Margins to the Centre: Irish Perspectives on Swiss Culture and literature. Oxford u. a. 2007. S. 93-118.
Hier: S. 118. In dem Schweizerischen Festspiel für die Eidgenössische Bundesfeier in Schwyz (vgl. Kap. 9.2.2),
wird es in die Handlung integriert.
76 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

In fünf Strophen stellt Keller durch emotionalisierte Ausrufe und eine rhythmisierte Sprache
eine dichte Atmosphäre her. Das abwechslungsreiche Reimschema mit einigen unreinen Rei-
men ist eingängig, ohne monoton zu sein. Erste und letzte Strophe bilden durch den Endreim
und die direkte Anrede, die in der ersten Zeile an das Vaterland, in der letzten an Gott gerichtet
ist, formal und semantisch einen Rahmen. Die stete Wiederholung der emotiven „O“s schafft
ebenso Stringenz wie die Inversion der Satzstellung. Die Huldigung der Schweiz wird ex negativo
durch die Heimweh auslösende Abwesenheit vom Vaterland realisiert, wobei das Bild des ge-
strandeten Odysseus das Gefühl der Fremdheit intertextuell verankert. Der Dualismus von
Fremde und Heimatland wird durch die unterschiedlichen politischen Voraussetzungen und vor
allem durch die ideellen Unterschiede gezeigt: Der Prunk der ausländischen Monarchien („Kö-
nigsglanz“, „Thronenflitter“) stehen die Schweizer Berge, Signum der Freiheit und wichtiges
Identifikationssymbol der Eidgenossenschaft, gegenüber. Die Todessemantik unterstreicht und
dramatisiert die Vaterlandsliebe, die über den Tod hinaus besteht. So gilt, und das unterstreicht
die Ernsthaftigkeit des Patrioten im Gedicht, das letzte Gebet dem Vaterland.
Obwohl sich Keller als Autor mit dem deutschen Kulturraum identifizierte, sind seine weni-
gen Gedichte mit Thema Deutschland immer als politische Negativfolie zur Schweiz entworfen.
In dem posthum veröffentlichen Gedicht Mein Lied an das deutsche Volk (HKKA 17/1, S. 301 ff.)
aus dem Jahr 1844 ist der deutsche Kulturraum explizit nicht politisch, sondern kulturell be-
stimmt: Deutschland ist das „Land der Sagen“, das „hohe weite deutsche Dichterhaus“, für dass
das artikulierte Ich deutliche Sympathien trägt: Am Rhein sitzend und „entzückt“ zum Nachbar-
land schauend, bewundert es am „liebe[n], fromme[n] Deutschland“ seine Kunst und Architek-
tur. Doch die Deutschen sind ambivalent gezeichnet, sie sind „kindlich, doch so groß“, gleich-
zeitig „ein Maienhimmel“ und „eine Donnerwolk[e]“ (HKKA 17/1, S. 301). Die in den ersten
Strophen angedeutete Dissonanz wird in der 4. Strophe klar benannt. Während vorher ein po-
sitives, durch seine große Kultur und Geschichte charakterisiertes Bild vom deutschen Nach-
barland entfaltet wurde, sind die sind die Strophen vier und fünf von einer christlichen Todes-
symbolik geprägt.

Der Erde Wünsche reifen all' zur Zeit;


so sah ich mich mit leichtem Wanderstab
bewundern deine milde Herrlichkeit,
ein reich geschmücktes, rosenduftend – Grab!
Und auf dem Grabe standen vierzig Throne,
als vierzig Leichensteine, schwer von Erz!
Auf jeglichem lag eine goldne Krone,
die drückte ihre Zacken in dein Herz! (HKKA 17/1, S. 302)

Die durch den Gedankenstrich gekennzeichnete Zäsur zeigt die Dissonanz an, die das artiku-
lierte Ich bei seinen Gedanken an Deutschland empfindet. Denn seine Größe und „Herrlichkeit“
wird durch die deutsche Geschichte bestimmt, das im Wesentlichen die Geschichte seiner (bis
Keller zwischen deutschem und schweizerischem Kulturraum 77

dato 40) Herrscher ist. Als liberaldemokratischer Schweizer ist für Keller das monarchische Sys-
tem jedoch ein politisches Grab, das gerad in der Zeit des Vormärz, in dem das Gedicht ent-
stand, keine Zukunft hat. Damit werden die politischen Forderungen der Intellektuellen zu einer
„Todtenklag´“:

Das waren deine Sänger, deine Weisen,


o deutsches Volk, die um dich trauerten!
Die klirrend da mit ihrer Ketten Eisen
dein altes, großes Grab umschauerten! (HKKA 17/1, S. 302)

Während in den beiden mittleren Strophen die Erwartungshaltung der vier ersten Strophen
enttäuscht wird, indem sie einen negativ empfundenen Ist-Zustand beschreiben, wecken die
letzten vier Strophen Hoffnung auf seine mögliche Verbesserung. Mit deutlichem Verweis auf
die Barbarossa-Sage fragt das artikulierte Ich nach dem „Ostertag,/ der dieses Grabes Hülle
sprengen kann?/ Der diesen Riesenleichnam wecken mag/ aus seines Todes schwerem Schlaf
und Bann?“ (HKKA 17/1, S. 302). Die Hoffnung auf eine politische Erweckung wird durch den
Verweis auf den „Auferstehungsdrang“ des deutschen Volkes und die Vorbildfunktion der
Schweiz bejaht:

Auch Eure Die deutsche Freiheit haben wir gehegt


die einst von unsern Bergen steigen soll?
Wir greifen todeskühn zu Schild und Degen
wenn unserm Wappen deutsche Knechtschaft droht:
Wie gerne woll'n wir auf den Altar legen
der Einen Freiheit unser Weiß und Roth! (HKKA 17/1, S. 303)

Das Gedicht ruft zur (wenn nötig auch gewaltvollen) Verteidigung der Freiheit auf, wie sie die
Schweiz bereits erfolgreich errungen hat. Die letzte Strophe stellt die enge, sprachlich-kulturell
bedingte Verbindung zwischen der Schweiz und Deutschland her und nimmt selbstreflexiv Be-
zug zum Titel und der ersten Strophe:

Und muß dieß Lied nicht deutschen Klang´s erklingen?


Ist nicht mein innerst´ Denken deutsches Wort?
O Hoffnung, Hoffnung nur vor allen Dingen,
Die Form vergeht, die Zeit, die Zeit eilt fort! (HKKA 17/1, S. 303)

Das Ich reflektiert die eigene Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum, indem es die sprachli-
che Gemeinsamkeit hervorhebt. Mit der Hoffnung auf eine Änderung der politischen Konstitu-
tion (Regierungs-„Form“) in der Zukunft schließt das Gedicht.
Die beiden behandelten Gedichte Kellers setzen sich jeweils mit der eigenen Heimat in Bezug
zu Deutschland in antithetischer Weise auseinander, ähnlich wie im Grünen Heinrich (vgl. Kap.
3.1). Das an die Schweiz adressierte Gedicht An das Vaterland schafft durch die Bezugnahme
78 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

auf schweizerische Nationalsymbolik (Berge) und durch Verfahren der Exklusion (Monarchien)
eine textliche Basis zur nationalen Identifikation mit der Eidgenossenschaft. Mein Lied an das
deutsche Volk artikuliert dagegen Kellers Identifikation mit Deutschland auf kultureller und
sprachlicher Ebene, die er durch Bekämpfung des Ständesystems auf die politische Ebene er-
weitern will.

Conrad Ferdinand Meyer ist neben Gottfried Keller ein weiterer kanonisierter Schweizer Autor
des 19. Jahrhundert. In den folgenden Teilkapiteln wird anhand seines Gedichtzyklus Huttens
letzte Tage, des historischen Romans Jürg Jenatsch und seiner Gedichte gezeigt, wie Meyer auf
die deutsche Reichseinigung reagierte und wie er durch den Rückgriff auf historische Persön-
lichkeiten und Ereignisse aktuelle Zeitfragen behandelte.

3.2. Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung

Ulrich von Hutten war, so urteilt Robert Prutz der „edelste Vorkämpfer“ für die Idee „eines
einigen und mächtigen Deutschland“.162 In seiner Abhandlung über Die deutsche Einheit sonst
und jetzt aus dem Jahr 1854 vollzieht Prutz die Entwicklung des deutschen Einheitsbewusst-
seins anhand einer national geprägten Literaturgeschichte, die er mit Ulrich von Hutten und
dessen deutschsprachigen Volksschriften beginnen lässt. „In die Literatur hatte Hutten jene
Ideen eines einigen und starken Deutschland geflüchtet, für welche die Wirklichkeit ihm keinen
Raum und kein Verständnis mehr bot – und so ist es denn auch die Literatur, in der diese Idee
zuerst wieder nach Jahrhunderte langer Vergessenheit lebendig wird“ (Prutz, S. 124). Als Be-
gründer des Arminius-Kultes – in seiner Schrift Arminius aus dem Jahre 1529 feiert Hutten den
Cheruskerfürsten als ersten „unter den Vaterlandsbefreiern“ 163 – wurde der Humanist im 19.
Jahrhundert selbst zum Kult. Dementsprechend traf Meyers Gedichtzyklus in seinem Erschei-
nungsjahr 1871, kurz nach dem deutschen Sieg über Frankreich, den Nerv der Zeit und die Re-
zensenten urteilten emphatisch: „Du bist nicht nur eine dichterische, sondern auch eine politi-
sche Tat.“164 Meyers nationalpolitisches Werk – in Huttens letzte Tage sind die Anspielungen
auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 reich gesät165 – begründete seinen literari-
schen Erfolg. Für die Deutschen gab der Text eine ideelle Grundlage und Legitimierung für ihren

162
Robert Prutz: Die deutsche Einheit sonst und jetzt. In: Deutsches Museum. 19. Januar 1854. Nr. 4. S. 122.
163
Ulrich von Hutten: Arminius. In: Gespräche von Ulrich von Hutten. Übersetzt und erläutert von David Friedrich
Strauß. Leipzig 1860. S. 408. Zur Bedeutung Huttens als Stifter des Arminiuskultes vgl. Winfried Woesler: Das
Römerbild in deutschen Hermann-Dramen. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Hermanns Schlachten. Zur Li-
teraturgeschichte eines nationalen Mythos. Bielefeld 2008. S. 41-57.
164
Rezension in der NZZ am 16./17. 10. 1871. Abgedruckt in MSW 8, S. 165.
165
Zum Beispiel in V. Consultation, Vers 12, XI Der Ritter ohne Furcht und Tadel, Vers 12. Außerdem in Homo Sum
(XXVI), Vers 8 und 9 (MSW 8, S. 55) und in Der letzte Humpen (XXIX), Vers 25:
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 79

Standpunkt. Er repräsentierte eine humanistisch-aufklärerische, gleichzeitig antifranzösische


Haltung. Mit der Hutten-Dichtung bekannte er sich nicht nur persönlich zu Deutschland, son-
dern schlichtete auch einen öffentlichen Konflikt, der sich in der deutsch- und französischspra-
chigen Schweiz mit dem Krieg 1870 verschärft hatte. Die schweizerischen Proteste bei der Sie-
gesfeier der Deutschen in Zürich im März 1871 waren Ausdruck eines Zwiespalts, den die
Schweizer in ihrer teils deutschen, teils französischen Identität schmerzlich empfanden. Meyers
Gedichtzyklus wurde im Reich als Sühne für diese so genannten Tonhallekrawalle aufgefasst,
für die Deutschschweizer bot der Text als literarisches Identifikationsmedium eine Möglichkeit
der Parteinahme an. In der Person Meyers, der sein Honorar, dass er für den Hutten erhielt,
dem deutschen Invalidenfonds spendete, integrierte sich Schweizer Nationalität mit deutscher
Kultur. Die signifikanteste Zäsur seiner Biographie ist mit dem Deutsch-Französischen Krieg aufs
engste verbunden und äußert sich, nach eigener Aussage, literarisch in seinem großen Gedicht-
zyklus:

1870 war für mich das kritische Jahr. Der große Krieg, der bei uns in der Schweiz die Ge-
müther zwiespältig aufgeregt, entschied auch einen Krieg in meiner Seele. Von einem un-
merklich gereiften Stammesgefühl jetzt mächtig ergriffen, that ich bei diesem weltge-
schichtlichen Anlasse das französische Wesen ab, und innerlich genöthigt, dieser
Sinnesänderung Ausdruck zu geben, dichtete ich „Huttens letzte Tage“. (In: MSW 15, S.
134)166

Meyer stilisiert seine politische Parteinahme zu einer nationalen, emotional motivierten Iden-
tifikation mit Deutschland, die eine Entscheidung gegen Frankreich impliziert.167 Die Wahl des
Stoffes ist signifikant für die nationale Intention: Hutten war einer der wichtigsten Vordenker
und -kämpfer für den Nationalismus im 19. Jahrhundert, der sich– wie die anderen Humanisten
des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, zum Beispiel Luther – auf sprachliche sowie his-
torische Faktoren berief, um die deutsche Nation zu konstituieren. Gerade der nationale Aspekt
seiner Person soll ein Motiv für die Stoffwahl gewesen sein, wie Meyer rückblickend in seinem
Aufsatz Mein Erstling ‚Huttens letzte Tage‘ bestätigt:

Huttens letzte Tage […] ist aus drei Elementen geboren: aus einer jahrzehntelang genähr-
ten, individuellen Lebensstimmung; dem Eindrucke der heimatlichen, mir seelenverwand-
ten Landschaft und der Gewalt großer Zeitereignisse. […] Inzwischen vergrößerten sich die
Zeitereignisse. Zwei Aufgaben des Jahrhunderts, die Einigung Italiens und Deutschlands,

Den ersten Trunk dem heil´gen röm´schen Reich!


Möcht´ es ein weltlich deutsches sein zugleich! (MSW 8, S. 62)
166
In seiner autobiographischen Aufzeichnung von 1876 betont Meyer die Bedeutung des Deutsch-Französischen
Krieges für den Hutten und seinen schriftstellerischen Erfolg: „Das Jahr 1870, unter dessen Inspiration er Hut-
tens letzte Tage schrieb, hat ihn den deutschen Schriftstellern eingereiht“ (MSW 15, S. 130).
167
Daher schreibt er an François Wille am 16. August 1881: „Ein Graf Dürckheim (Enkel der Lilly) übersetzt den
Hutten in franz. Verse, obwohl ich nicht begreifen kann, wie er in Frankreich Freude machen soll.“ BM 1, S. 163.
80 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

schritten ihrer Erfüllung entgegen. Beide verfolgte ich mit persönlichem Interesse. […] Das
glückliche Fortschreiten der italienischen Einigung ließ die baldige Gründung auch einer
deutschen Einheit ahnen, wenn auch in jener Zeit gerade in Zürich Großdeutsche und Klein-
deutsche schärfer als je auseinander traten. Der Sieg von Sadowa168 entschied diese Frage
durch das Schwert…. Dieser wundersame Glaube an das Preußen zustehende Amt blieb für
mich die langen Jahre hindurch ein nicht zu bezweifelnder Satz, den ich übrigens für mich
behielt, bis ich, bei herannahender Entscheidung, in Francois Wille, meinem lieben Freund
und Nachbar in Meilen, einen feurigen Glaubensgenossen fand…
[…] Wieder erfüllen sich große Geschicke in Deutschland, und der ohne Grab und Denkmal
unter diesem Rasen Ruhende hätte seine Lust daran gehabt, denn auch er hatte von der
Einheit und Macht des Reiches geträumt. (MSW 8, S. 192 ff.)

Indem Meyers seine persönliche, emotional aufgeladene Verbindung zum politischen Gesche-
hen sowie zu seiner eigenen Dichtung betont, stellt er sich selbst als Identifikations- und Integ-
rationsfigur zur Verfügung. Seine preußische Parteinahme, die entgegen der allgemeinen eher
deutschlandfeindlichen Stimmung in der Schweiz stand, stilisiert Meyer zur außerordentlichen
Integritätsleistung. Die deutsche (und italienische) Einigung bewertet der Autor hier wiederholt
als signifikante und schicksalhafte Ereignisse seiner Zeit („Aufgaben des Jahrhunderts“, „große
Geschicke“). Als Befürworter eines kleindeutschen Reichs unter der Führung Preußens sieht
der Schweizer seit 1866 seine Hoffnungen auf die „Einheit und Macht des Reiches“ bestätigt
und mit der Reichsgründung 1871 erfüllt. Indem Meyer diese bereits von dem historischen
Hutten verfolgte Utopie literarisch verarbeitet, setzt er dem Humanisten nicht nur ein Denkmal,
sondern verifiziert seine eigene politische Meinungsbildung durch die reformatorische Bewe-
gung. Denn eine propreußische Haltung hatte auch immer eine protestantische, kulturkämpfe-
rische Bedeutung. Die religiös gefärbte Sprache („Glaube an […] Preußen“, „feurigen Glaubens-
genossen“) verdeutlicht Meyers Rolle als „Kulturkampfagitator“.169
In acht Büchern lässt der zum Sterben auf die Insel Ufenau im Zürichsee zurückgezogene
Hutten sein bewegtes Leben als Erinnerungen und Träumen Revue passieren. Durch die Veror-
tung des deutschen Humanisten auf die Ufenau, eine „heimatlich[e], […] seelenverwandt[e]
Landschaft“ (MSW 8, S. 192) für Meyer, verbindet der Autor deutsche Geschichte und schwei-
zerische Landschaft, so dass räumliche und zeitliche Dimension in Korrelation zu seiner politi-
schen wie kulturellen Identität stehen. Der geschichtliche Rekurs hat dabei eine doppelte Funk-
tion: zum einen als Darstellung von Historie, die von der Ankunft Huttens auf der Insel Ufenau
bis zu seinem Tod reicht, zum anderen als Erinnerungen Huttens, die sich auf sein Leben und
wichtige Persönlichkeiten seiner Zeit beziehen. Als signifikante Persönlichkeit im Übergang vom
Mittelalter zur Neuzeit tritt Hutten als fiktiver Zeitzeuge und Zeitgenosse anderer Größen der

168
Besser bekannt als Schlacht von Königgrätz, die am 3. Juli 1866 in der Nähe des Dorfes Sadowa stattfand und in
der Preußen einen kriegsentscheidenden Sieg gegen Österreich errang.
169
Andermatt, Michael: Conrad Ferdinand Meyer und der Kulturkampf. Vexierspiele im Medium historischen Er-
zählens. In: Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Hrsg. von Monika
Ritzer. Tübingen/Basel 2001. S. 167-190. Hier S. 167.
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 81

Zeit wie Luther oder Zwingli auf. Die durch seine Krankheit bedingte Isolation grenzt Hutten
vom Rest der Welt ab: „In dieser Bucht erstirbt der Sturm der Zeit: Vergesset, Hutten, daß Ihr
Hutten seid!“ (MSW 8, S. 20). Die Entsubjektivierung des Ich, der Identitätsverlust des Sterben-
den korrespondiert mit dem Inselmotiv, das der Protagonist mit Odysseus und der Odyssee
vergleicht (das dritte, in die erzählte Gegenwart versetzte Buch ist bezeichnenderweise mit Ein-
samkeit betitelt). Die vom Wirt der Insel empfohlene Distanzierung zum eigenen Ich autorisiert
Hutten als scheinbar objektiven, über den Zeitereignissen stehenden Erzähler.

Wie? Springt ein deutsches Heer in heißen Kampf,


So atm´ und schlürf´ ich nicht den Pulverdampf? […]

Freund, was du mir verschreibst, ist wundervoll:


Nicht leben soll ich, wenn ich leben soll! (MSW 8, S. 21)

Obgleich der Text den Protagonisten explizit außerhalb der historischen Wirklichkeit verortet,
wird durch die Anspielung auf den Deutsch-Französischen Krieg die Erzählperspektive wieder
subjektiviert. Durch die Erinnerungen und Träume Huttens bekommt die Insel auf doppelte
Weise die Bedeutung eines weltfernen Nicht-Ortes, der Raum für Huttens Imaginationen lässt.
Das zweite Kapitel („Abteilung“), als Buch der Vergangenheit betitelt, enthält die deutlichs-
ten Zeitbezüge. Dabei wird der Text zum „Geschichtenbuch“ (MSW 8, S. 25), das Huttens Taten
und Gedankenwelt sowie die (wichtigsten) Ereignisse seiner Zeit erzählt. Beide Aspekte, indivi-
duelle biographische Stationen sowie allgemeines Weltgeschehen, stehen dabei immer auch in
Bezug zu Meyer und seinem Weltverhältnis. In dem selbstreflektierenden Gedicht Bin ich ein
Dichter? wird die literarische Intention von Meyers Gedichtzyklus offenbart:

Ich bin ein Verseschmied! So nenn´, ich mich!


Am Feuer meines Zornes schmiedet´ ich

Rüstung und Waffen zu des Tags Bedarf


Und wahrlich, meine Schwerter schneiden scharf! (MSW 8, S. 59)

Hier wird Meyers eigenes Selbstverständnis als Dichter, als „Verseschmied“ reflektiert. Im Kon-
text des Schmieds stellt er eine Allegorie des politischen Dichters her, der mit seinen Worten
Waffen gegen seine Feinde zur Verfügung stellt.170 Dieses Bild wird durch die Selbstaussagen
Meyers über die Entstehungsgeschichte seines Hutten bekräftigt: „In jenem Winter von 1870
auf 1871 entstanden die kurzen Stimmungsbilder meiner Dichtung Schlag auf Schlag. Jeder Tag

170
Vgl. Christof Laumont: Jeder Gedanke als sichtbare Gestalt. Formen und Funktionen der Allegorie in der Erzähl-
dichtung Conrad Ferdinand Meyers. Göttingen 1997.
82 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

brachte ein neues [...]. Daneben stoß mancher andere Funke aus dem Ambos. ‚Der deutsche
Schmied‘ wurde gedruckt und gesungen“ (MSW 8, S. 195 f. Mehr zum Schmiede-Gedicht in
Kapitel 3.2.3).
Das deutlichste Bekenntnis zu Deutschland artikuliert das Gedicht Deutsche Libertät (XXXVI),
das einen „unverhüllte[n] Hymnus auf die deutsche Einigung nach 1870/71“ (H. Zeller, MSW 8,
S. 756) darstellt:

Zum Teufel eine deutsche Libertät,


Die prahlerisch in Feindeslager steht!

Geduld! Es kommt der Tag, da wird gespannt


Ein einig Zelt ob allem deutschen Land!

Geduld! Wir stehen einst um ein Panier


Und wer uns scheiden will, den morden wir!

Geduld! Ich kenne meines Volkes Mark!


Was langsam wächst, das wird gedoppelt stark.

Geduld! Was langsam reift, das altert spat!


Wann andre welken, werden wir ein Staat. (MSW 8, S. 73 f.)

Der Text imaginiert hier Huttens Zukunftsvision eines einigen Deutschlands, wie es sich in der
Gegenwart seines Erscheinungskontextes unter Bismarck realisiert hat. Mit der Verbindung von
Hutten, als Verkünder von und Kämpfer für eine nationale Einigung, und Bismarck, der das
Werk und Erbe des Humanisten zum Erfolg führte, begreift der Text die (deutsche) Geschichte
seit der Reformation als Kontinuum, das notwendigerweise in der lang ersehnten Gründung
des deutschen Nationalstaats mündete.

Vier Jahre nach Erscheinen des Hutten stellte Meyer erneut eine historische, nationalpolitisch
bedeutende Persönlichkeit in den Vordergrund seines Textes. Sein historischer Roman Jürg
Jenatsch (1876) handelt von dem graubündnerischen Pfarrer und Militärführer Jörg Jenatsch
(1596-1639), der sich während des Dreißigjährigen Krieges als Freiheitsheld und Identifikati-
onsgestalt für Graubünden profilierte.
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 83

3.2.1. Jürg Jenatsch: Befreier oder Verräter seiner Ideale?

Conrad Ferdinand Meyers Roman Jürg Jenatsch erfasst in seiner Handlungsdimension die Ge-
schichte Graubündens im Dreißigjährigen Krieg,171 wobei er auf die Darstellung von großen
Schlachten verzichtet. Vielmehr rückt der Text, vor dem Hintergrund der zur „Erbfeind-
schaft“172 stilisierten Gegnerschaft zwischen Bourbonen und Habsburgern, den ideellen Kampf
um die beiden Grundprinzipien der Schweizer Identität ins Zentrum: die Behauptung seiner
politischen Unabhängigkeit nach außen und seiner freiheitlich-republikanischen Verfassung im
Innern.173 Graubünden, als Dreh- und Angelpunkt zwischen Frankreich, Österreich und Italien
strategisch günstig gelegen, gerät zwischen die Machtinteressen der europäischen Groß-
mächte. Der drohende Verlust seiner staatlichen Souveränität wird durch einen einzelnen
Mann, Jürg Jenatsch verhindert. Laut Meyer ist damit das „Stück [Graubündische] Geschichte
personifiziert in den wunderlichen Schicksalen des Helden“ (MSW 10, S. 276). Die Befreiung der
Alpenregion gelingt dem berühmt-berüchtigten Graubündner174 jedoch nur durch den Partei-
und Konfessionswechsel, also der Aufgabe seiner religiösen und politischen Prinzipien. Die
große Tat ist mit der Zerstörung Jenatschs eigener Identität, schlussendlich sogar seiner Exis-
tenz verbunden. Der titelgebende Protagonist, der anfangs positiv als Held und Retter der Na-
tion gezeichnet wird, verliert beim Mächtespiel der Nationen erst seine moralische Integrität
und schließlich sein Leben.
In der Konzeption der (historischen) Heldenfigur des Jenatsch als „bündnerische[r] Wallen-
stein“ will Meyer den „dreißigjährige[n] Krieg in einer einzigen großen Gestalt“ verkörpern.175

171
Der Untertitel der Journalausgabe von 1874 lautet: Eine Geschichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
Erschienen in: Die Literatur. Wochenschrift für das nationale Geistesleben der Gegenwart in Wissenschaft, Kunst
und Gesellschaft. Leipzig. 2. Jg. Nr. 31 bis Nr. 52 (31. Juli 1874 bis 25. Dezember 1874). Der Untertitel der Buch-
ausgabe ab 1876 legte dagegen das Gewicht auf die Region: Eine Bündnergeschichte.
172
Der Begriff wurde von den Zeitgenossen gebraucht, vgl. z. B. M. Stangl: Frankreich der Erbfeind von Deutschland:
Historischer Rückblick auf die auf die bisherige Politik von Frankreich gegenüber Deutschland. Passau 1871. Vgl.
zum Begriff „Erbfeind“ Michael Jeismann: „Feind“ und „Vaterland“ in der frühen deutschen Nationalbewegung
1806-1815. In: Herrmann, Ulrich: Volk – Nation – Vaterland. Hamburg 1996. S. 279-290. und Ders.: Das Vater-
land der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich
1792–1918. Stuttgart 1992. Außerdem die Dissertation von Sanne Ziethen: „... im Gegensatz erst fühlt es sich
nothwendig“. Deutsch-französische Feindbilder (1807-1930). Heidelberg 2014.
173
Hier deutet Meyer die historische Wirklichkeit stark um, denn eine bündnerische Rebellion gegen eine adelige
Herrschaft gab es im 17. Jahrhundert nicht.
174
Vgl. Meyer: „Es handelt sich um den berühmten (ich hätte fast gesagt berüchtigten) Oberst Jenatsch.“ An Ha-
essel am 5.9. 1866. BM 2, S. 10.
175
Handschriftliche Notiz Meyers in einem Verlagsprospekt (MSW 10, S. 302). Die Charakterisierung Wallensteins
in Schillers Prolog lässt in der Tat an Jenatsch denken: „Auf diesem finstern Zeitgrund malet sich / Ein Unter-
nehmen kühnen Übermuts / […] Und ein verwegener Charakter ab. Von der Parteien Haß uns Gunst verwirrt, /
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“ Prolog. Gesprochen bei Wiedereröffnung der Schaubühne in
Weimar im Oktober 1798. Achte Strophe. Auch der Vergleich zwischen Wallenstein und Bismarck war zu der
Zeit nicht unüblich, vgl. zum Beispiel schreibt Freytag an Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha in einem
Brief vom 20. Juni 1871: „Im Zuge ritt der Fürst [Bismarck, J. F.] – den seine Gegner den künftigen Reichsfürsten
84 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Die Sehnsucht nach einer, die empfundenen Widersprüche der Wirklichkeit vereinenden Füh-
rungspersönlichkeit wird im Text differenziert gesehen. Denn die machtpolitische Expansion
des Individuums hat die Konfrontation mit der sittlichen Weltordnung und die Störung des „Rä-
derwerk[es] der Welt“ (MSW 10, S. 102) zur Folge. Jenatschs Rechtfertigung seines Handelns –
er sei als „Menschwerdung eines ganzen Volkes“ zu den „notwendigen Taten bevollmächtigt“
(S. 103) – impliziert seine messianische Deutung: Der Bündner wird als „göttliche Erscheinung
in der Macht der Persönlichkeit“ (MSW 10, S. 103) stilisiert, durch den das übergeordnete Ziel
realisiert werden kann. Damit scheint eine Versöhnung von Einzelnem und Allgemeinheit, von
Individualismus und Nationalismus möglich. Auf der Handlungsebene wird dagegen dieser Kon-
flikt nicht beigelegt. Denn Jenatsch steht innerlich wie äußerlich im Widerspruch zu moralisch-
ethischen Prinzipien, seine „übermächtig[e] Vaterlandsliebe“ (S. 251) pervertiert ihn und führt
zu einer Maßlosigkeit, die der Text in körperliche Bilder umsetzt: „[E]s war etwas Maßloses in
seinem Wesen, eine gereizte Gewaltsamkeit in seiner Stimme und Haltung, als hätte eine über-
menschliche Kraftanstrengung ihn aus dem Geleise und über die letzten seiner Natur gesetzten
Marksteine hinausgeworfen“ (S. 227). Jenatsch opfert seinem unbedingten Patriotismus gewis-
senlos seine religiöse Überzeugung (er konvertiert zum Katholizismus) und seine politischen
Freiheitsideale („bündnerische Diktator“, MSW 10, S. 221). Jenatschs Patriotismus, der der
„einzige überall passende Schlüssel zu seinem vielgestaltigen Wesen“ (S. 251) ist, definiert sich
im Lauf des Geschehens immer mehr über seine machstaatlichen Interessen (vgl. Potthast S.
289). Diese Vaterlandsliebe dominiert als übergeordnetes Prinzip in einem solchen Maße das
Sein und Handeln des Protagonisten, dass er beim Kampf für die Unabhängigkeit und Freiheit
seines Vaterlandes seine eigene Selbstbestimmtheit aufgibt. Der Verlust seiner religiösen, kul-
turellen und nationalen Identität gipfelt in Jenatschs Ermordung, die wegen seiner Konfronta-
tion mit der Weltordnung, so Meyer, „gänzlich unbestraft“176 bleiben muss. Jenatschs Ver-
dienst als Befreier und Retter Graubündens wird zwar erkannt, findet aber keine
gesellschaftliche Anerkennung (vgl. MSW 10, S. 262, S. 267). Der Graubündner, der sich nur

von Elsaß und Lothringen nennen –, genau wie Wallenstein trotzig und beifallslustig.“ Abgedruckt in Gustav
Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893. Hrsg. von Eduard Tempeltey. Leipzig 1904.
S. 248. Auch Fontane verglich beide Männer miteinander: „Bismarck hat die größte Ähnlichkeit mit dem Schil-
ler´schen Wallenstein (der historische war anders): Genie, Staatsretter und sentimentaler Hochverräter. Immer
ich, ich und wenn die Geschichte nicht mehr weiter geht, klage über Undank und norddeutsche Sentimentali-
tätsträne [...]. Diese Mischung von Übermensch und Schlauberger, von Staatengründer und Pferdestall-Steuer-
verweigerer [...], von Heros und Heulhuber, der nie ein Wässerchen getrübt hat, erfüllt mich mit gemischten
Gefühlen und läßt eine reine helle Bewunderung in mir nicht aufkommen. Etwas fehlt ihm, und gerade das, was
recht eigentlich die Größe verleiht.“ Am 29. Januar 1894 an seine Tochter. In: Schreinert, Kurt/Jolles, Charlotte
(Hrsg.): Theodor Fontane. Briefe. Berlin 1969. Bd. 2, S. 231.
176
Meyer an Haessel am 5. September 1866. In BM 2, S. 10. In diesem Sinne ist der Schluss des Romans gestaltet:
„Sie verzichteten darauf, die Urheber seines Todes, die ihnen als die Werkzeuge eines notwendigen Schicksals
erschienen, vor Gericht zu ziehen. Keine neue Parteiung und Rache sollte aus seinem Blute entstehen, – er
hätte es selbst nicht gewollt. Aber sie beschlossen, ihn mit ungewöhnlichen, seinen Verdiensten um das Land
angemessenen Ehren zu bestatten“ (MSW 10, S. 268).
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 85

noch agonal über die Vernichtung seines Feindes definieren kann, verliert letztlich den Bezug
zum Volk, dessen Inkarnation er schließlich darstellen wollte (s. o.), so dass ihm das Ende als
Märtyrer versagt bleibt.
In der Darstellung des Dreißigjährigen Krieges im Ausschnitt einer schweizerischen Regional-
geschichte thematisiert der Roman den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und avanciert
somit zu einer „Neuauflage des alten europäischen Grundkonflikts“ (Lützeler S. 83). Der seit
Jahrhunderten existierende Dualismus, den Meyer durch seine deutsche Parteinahme 1870 für
sich persönlich auflöste, wurde nach zeitgenössischer Ansicht durch den Reichskanzler Bis-
marck entschieden. Dessen rücksichtslose, aber erfolgreiche Machtpolitik wird im Text durch
den ambivalenten Charakter des Protagonisten diskutiert:177 Obwohl Jenatsch die Züge eines
„gesetzlosen Kraftmenschen“ (MSW 10, S. 251) trägt, werden seine Verbrechen als „zum Heile
des Vaterlandes notwendige Taten, die von reinen Händen nicht vollbracht werden können“,
legitimiert.
Am Leitmotiv der unbedingten Vaterlandsliebe Jenatschs entzündet sich der Konflikt um
Ethos und Macht an der Frage, ob der Zweck wirklich die Mittel heiligt. Den Widerspruch von
politischen und moralischen Prinzipien zeigte sich für Meyer insbesondere im zweiten deut-
schen Einigungskrieg im Jahr 1866. Am 26. September schreibt der Dichter während seiner
Bündnerreise in Bezug auf seinen Jenatsch: „Es ist überdieß merkwürdig daß jene Zeit (Anfang
des 17 Jahrh.) zur Besprechung derselben Fragen Anlaß gibt, ja nötigt, die jetzt die Welt bewe-
gen: ich meine den Conflikt von Recht u. Macht, Politik und Sittlichkeit“ (BM 2, S. 13). Die Ver-
unsicherung über die wachsende Divergenz von Rechtsstaatlichkeit und Machtinteresse, den
moralischen Idealen des bürgerlichen Liberalismus und der Realpolitik Bismarcks, konzentriert
Meyer in der Darstellung seines ambivalenten Helden.
Der preußisch-österreichische Krieg von 1866 entschied zwar den innerdeutschen Konflikt
militärisch, konnte ihn jedoch hinsichtlich einer deutsch-deutschen Identität schwerlich lösen.
Auch Meyer empfand die Widersprüchlichkeit der Situation, die sich auch auf seine persönliche
Parteinahme ausweitete:

Die neuesten Ereignisse mit ihren Problemen und Widersprüchen, das rasch wechselnde
Gesicht der Dinge, die Fatalität, die gewiß auf jedem lastete, mit keinem der Streitenden
ganz sympathisieren zu können, überall seine Reserven machen zu müssen, und der
unselige Zwiespalt zwischen Verstand und Gewissen, der uns mitten in dem Beifall für das
glückliche Spiel des Siegers mit Ekel gegen die angewendeten Mittel und mit Menschen-
verachtung erfüllt, Alles das war zum Teufelholen.178

177
Vgl. dazu Monika Ritzer: Rätsel des Daseins und verborgene Linien. Zu C. F. Meyers literarischer Philosophie. In:
Dies. (Hrsg.): Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Tübingen/Basel
2001. S. 9-33. Hier S. 26 f.
178
An seinen Vetter Friedrich von Wyß am 27. Juli 1866. In: BM 2, S. 64 f.
86 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Der österreichisch-preußische Dualismus beinhaltet für den Schweizer einen Gewissenskon-


flikt: Einerseits befürwortet er mit seinem „Verstand“ den Sieg Preußens und damit seine poli-
tische Vormachtstellung im Reich, andererseits ist diese Parteinahme eine Entscheidung gegen
sein „Gewissen“, seine moralischen Prinzipien. Für Meyer hatte die europäische Politik nach
1866 „einen Zug des rohesten Positivismus, der einen schneidenden Gegensatz bildet zu den
schönen Theorien von 30 und 48“ (BM 2, S. 11). Der Roman Jürg Jenatsch zeigt nicht nur die
Ablösung der idealen „schönen“ Theorie durch die Realpolitik der Bismarckzeit und den durch
diesen evozierten Zwiespalt zwischen Moral und Macht, sondern thematisiert auch im histori-
schen Rückgriff den durch die Gestalt Bismarck repräsentierten Individualismus und den damit
zusammenhängenden Verlust des Weltverhältnisses.

3.2.2. Deutschnationale Motivik in den Gedichten Conrad Ferdinand Meyers

Die in der Abteilung „Zur Zeitgeschichte“ versammelten Gedichte Conrad Ferdinand Meyers
entstanden fast ausschließlich in der unmittelbaren Zeit nach der Reichsgründung.179 Neben
dem direkten Bezug zum Deutsch-Französischen Krieg (Die Todesengel, Germanias Sieg, Der
deutsche Schmied, Kindliche Sorge) thematisieren sie andere tagesaktuelle Sujets wie zum Bei-
spiel den Kulturkampf (Bergidylle, Der Glocken Reden). Mit Hutten letzte Tage entschied Meyer
seine politische und literarische „Wende“ und erreichte damit einen fulminanten Erfolg in
Deutschland. Der Gedichtzyklus wird zeitlich von einigen ebenfalls deutschnational intendier-
ten Gedichten umrahmt, die geistige Verbundenheit des Schweizers zum Deutschen Reich be-
stätigen. Wie zu sehen sein wird, bedienen Meyers Gedichte wie Germanias Sieg, Der deutsche
Schmied oder Die Raben nationale Identifikationsmuster und thematische Gebiete (zum Bei-
spiel historische Stoffe) wie sie auch Wilhelm Raabe in seiner nationalpolitischen Lyrik verar-
beitete. Meyer stilisiert dichterisch den Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges als vom
„Weltgerichte“ (MSW 7, S. 200) beschlossenen Germanias Sieg.180 In dem gleich lautenden Ge-
dicht von 1870 werden die nationalen Personifikationen Deutschlands und Frankreichs, Ger-
mania und Gallia, antagonistisch gegenübergestellt, was sich bereits im Äußeren der Figuren
widerspiegelt. Der Titel verweist bereits auf die Parteinahme Meyers: Gallia, die „[D]unkle“, die
„düster, voller Hasses“ ist, dient als Negativfolie für die Siegerin Germania, der „Helle[n]“, „mit

179
Das sind die Gedichte Todesengel (Sommer 1870), Germanias Sieg (Dezember 1870), Bergidylle (1872/73), Die
Raben (1873/74), Trost (1889). Laut den Herausgebern der Sämtlichen Werke können thematisch auch fol-
gende fünf Gedichte dazu gerechnet werden: Der deutsche Schmied (Dezember 1870), Kindliche Sorge (Dezem-
ber 1870), Trinklied (1872/73) und Der Glocken Reden (1875).
180
Alfred Meißner schrieb an Mathilde Wesendonck am 12. Januar 1871: „Der Personification zweier im blutigen
Kampfe stehenden Kräfte darf nicht hinterher so viele gute Lehre u docirende Reflexion angehängt werden.
Der Dichter mag reflectiren, aber Germania nicht“ (MSW 7, S. 607).
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 87

der treuen, mit der blauen Augen Kraft“ (MSW 7, S. 199). Meyers „Überwindung“ der „franzö-
sischen Sympathien“ (BM 1, S. 64 f.), die seine politische Wende kennzeichnet, findet in dem
neunstrophigen Gedicht im Ende der napoleonischen Weltherrschaft seine Entsprechung
(Rede der Germania an Gallia):

Rache sinnst du? Laß dir rathen:


Räche dich mit Geistesthaten!
Überwunden ist dein Schwert!181
Reife langsam edle Saaten
Und erwirb dir echten Wert. (MSW 7, S. 201)

Zur Kompensation des deutschen Sieges im letzten Einigungskrieg 1870/71, der das Ende von
Frankreichs politisch-militärischer Dominanz bedeutete, soll die französische Stärke auf den
kulturellen Bereich verlegt werden. Weil Frankreichs Position als Weltmacht durch den deut-
schen Sieg endgültig beendet worden sei, soll es sich künftig auf reine „Geistesthaten“ be-
schränken.182 Das Gedicht endet mit einem Trostwort Germanias, die ihre vormalige Gegen-
spielerin als Schwester anspricht:

Schwester, trau´ dem Sternenliede,


Mir zu Häupten tönt es leis,
Daß geboren einst ein Friede
Wird dem ganzen Erdenkreis,
Wo die Völker, froh verbunden,
Wie zum Tagewerk die Stunden
Schreiten einem Ziele zu;
Schwester mit geheilten Wunden
Wandelst dann im Reigen du! (MSW 7, S. 201)

Die siegreiche Germania verkündet die Utopie eines universalen Weltfriedens, sie tritt als über-
legene Friedensbotin auf, die Frankreichs Gesundung und Wiederaufnahme in die Staatenge-
meinschaft für die Zukunft prophezeit. Die versöhnlichen Worte sollen eine weitere kriegeri-
sche Auseinandersetzung verhindern und der deutsch-französischen Erbfeindschaft ein Ende
setzen.

181
Vgl. Jenatsch: „Bünden bedarf des Schwertes und ich lege die geistliche Waffe zur Seite, um getrost die weltli-
che zu ergreifen“ (MSW 10, 58).
182
In seiner Rezension über Felix Dahns Drama Deutsche Treue rät demzufolge Meyer, man solle „den Sieg des
nationalen Gedankens über alten Groll und angestammtes Vorurtheil mehr noch in die Gemüther als in die
Thatsachen [..] verlegen.“ In: MSW 15, S. 248.
88 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Entgegen dieser Friedensbotschaft bedient Meyer drei Jahre später wieder Kampfmeta-
phern, die die Stärke der deutschen Nation untermauern sollen. In dem siebenstrophigen Ge-
dicht Trinklied aus dem Jahr 1873 dient das deutsche Vaterland183 als Leitmotiv, das appellati-
visch in der letzten Zeile fast jeder Strophe (außer in Strophe vier) wiederholt wird. Dabei
vereint er gleich mehrere national motivierte Argumentationsstränge: In fünf verschiedenen
Variationen wird „das theure“ Vaterland als „das ganze“ und „das ein´ge“ als Unität imaginiert,
seine Finalität definiert („fürs freie Vaterland“) und schließlich seine Nationalität betont („das
deutsche Vaterland“). Die dem Vaterland zugesprochenen Adjektive beziehen sich auf den In-
halt der jeweiligen Strophe und fassen diese zusammen.

Zu Rande füllt die Becher! Schließt den Kreis,


Wer deutsches Wort und Schwert zu führen weiß!
Wer wetterbraun die deutsche Scholle pflügt –
Wer in der Werkstatt hämmert, feilt und fügt –
Chorrock und Werkelkleid und Kriegsgewand –
Das Vaterland, das ganze Vaterland! (MSW 7, S. 23)

In der ersten Strophe wird zum Bilden und Schließen eines Kreises aufgefordert und ausführlich
aufgezählt, wer innerhalb dieses Bundes gehören soll. Die letzte Zeile offenbart, welcher Kreis
gemeint ist: „Das ganze Vaterland!“. Mit der induktiven Bezugnahme von Kreis, also eine
Gruppe von Menschen, die sich um einen Mittelpunkt bilden, zum Bund, also dem 1871 reali-
sierten Nationalstaat, wird die Einheit Deutschlands auf die Einbeziehung aller gesellschaftli-
chen Schichten und Bereiche erweitert. Die Realisierung der sozialen Gleichheit durch das Trin-
ken aus einem Becher und durch die Kreisbildung erinnert an den Vollzug des Abendmahls und
bekommt damit einen rituell-sakralen Charakter. Diese Deutung wird in der zweiten Strophe
noch verstärkt:

Daß dieser Becher heilig sei,


Beschwören unsre Todten wir herbei!
Erwacht, ihr Schlummrer in der Erde Hut!
Steht auf und kostet feurig Rebenblut!
Vernehmt ein Wort, das auch die Geister bannt –
Das Vaterland – das theure Vaterland! (MSW 7, S. 23)

Die Sakralität des Bechers wird durch die Beschwörung der Toten untermauert, wobei in der
dritten Zeile die Sinnebene durch die Anspielung auf die Barbarossa-Sage auf die nationalmy-
thologische Tradition des 19. Jahrhunderts erweitert wird. Mit der Erweckung der Vorväter soll
das Vaterland historisch legitimiert werden. In den nächsten vier folgenden Strophen redet in

183
Vgl. Meyers Äußerung, dass man als Schweizer „wohl seine Heimat (die Schweiz) mit dem Herzen [liebt], sein
Vaterland (Deutschland) mit dem Verstande.“ In: Koegel, S.29.
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 89

direkter Rede eine unbekannte Instanz drei historische Persönlichkeiten an, die in nationalpo-
litischer Sache tätig waren. Die erste Rede ist an Ulrich von Hutten (1488-1523) gerichtet, Pro-
tagonist in Meyers Dichtung Huttens letzte Tage von 1871 und humanistischer Vorreiter des
Nationalismus. Die Strophe vermischt die frühneuzeitliche Vergangenheit mit der Gegenwart
des Autors, indem er intertextuell den polemischen Schreibstil Huttens mit dem von Bismarck
vergleicht:

Vervehmter Hutten, komm! Es ist kein Traum:


Heut hat das Reich für deine Lanze Raum.
Weist ihm des Hohenzollern Brief und fragt
Den Ritter, ob ihm solcher Stil behagt!
Er liest und lacht: Der Stil ist mir bekannt –
Für´s Vaterland – für´s freie Vaterland! (MSW 7, S. 23)

Während für den historischen Hutten eine nationale Einigung des Deutschen Reichs noch ein
„Traum“ war, ist sie in der Gegenwart durch Bismarck Realität geworden. Denn mit der Veröf-
fentlichung des „Hohenzollern Brief“ (d. i. die Emser Depesche vom 30. Juli 1870, J. F.) provo-
zierte Bismarck die Kriegserklärung Frankreichs gegen Preußen. Der Deutsch-Französische
Krieg wird als erfolgreicher Befreiungsschlag von der französischen Suprematie seit den Befrei-
ungskriegen gedeutet („für´s freie Vaterland!“).
Die nächste Strophe ist an Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar (1604-1639) adressiert,
der im Dreißigjährigen Krieg unter französischem Dienst das Elsass und das strategisch äußerst
wichtige Breisach eroberte.

Herr Herzog Bernhard, stürmisch habt gefreit


Um Elsaß Ihr, die sonnenblonde Maid,
In Euerm Lenz erlagt Ihr welscher List –
Da nehmt das Bräutlein, welches Euer ist!
Steckt ihm in Treu´n, es ist uns blutsverwandt,
Ein unzerbrüchlich Ringlein an die Hand. (MSW 7, S. 23)

Meyer verwendet das nicht belegte Gerücht, das der Herzog im Auftrage Richelieus in Neuen-
burg aufgrund von Streitigkeiten um das eroberte Gebiet vergiftet wurde,184 um Bernhards ei-
gentlichen Auftraggeber Frankreich zu diskreditieren. Dies legitimiert wiederum die Annexion
des „Bräutleins“ Elsass durch das Deutsche Reich 1871. Die „Blutsverwandtschaft“ der Elsässer
mit den Deutschen bezieht sich auf die Germanisierung des Gebietes im Zuge der Völkerwan-
derung und seine Zugehörigkeit zu Deutschland bis zum Dreißigjährigen Krieg. Die euphemisti-
sche Darstellung Bernhards territorialer Eroberung als „Brautwerbung“ knüpft semantisch an

184
Vgl. Röse, Bernhard: Herzog Bernhard der Große von Sachsen-Weimar. Weimar 1829. Bd. 2, S. 328.
90 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

die gleiche Metaphorik an, die von den Nationalliberalen im 19. Jahrhundert verwendet wurde,
um die Einheit als „Liebesheirat“ der deutschen Staaten zu stilisieren.
Eine weitere übernommene Metapher ist im Trinklied die des Hausbaus, wie sie in Raabes
Gedicht Ans Werk, ans Werk (vgl. Kap. 1.5) zu finden ist:

Herr Stein, Ihr sannet auf ein neues Haus,


Ihr habt den Grund gelegt, wir bauten´s aus.
Nun steht´s und hält, - nun hält es ohne Wank!
Die Baugesellen bringen Euch den Dank.
Den alten Meister grüßt der Bauverband –
Das Vaterland – das ein´ge Vaterland. (MSW 7, S. 23 f.)

Die Strophe nimmt Bezug auf die innenpolitischen Leistungen von Heinrich Friedrich Karl vom
und zum Stein (1757-1831) für die nationale Einigung Deutschlands. Nach dem Ende der Be-
freiungskriege vertrat Stein immer deutlicher die Idee der deutschen Einheit, wie sein viel, auch
von Raabe, zitiertes nationales Bekenntnis illustriert: „Ich habe nur ein Vaterland und das ist
Deutschland“.185 In der Rezeption des 19. Jahrhunderts, besonders seit der zweiten Hälfte,
wurde Stein stark von der nationalen Einigungsbewegung vereinnahmt.186
Die nächste Strophe macht auf das kulturelle Erbe Deutschlands aufmerksam, indem es sich
auf Goethe und Schiller als wichtige Identifikationsfiguren der nationalen Bewegung bezieht.

Sprengt Wein dem lorbeerreichen Dichterpaar


das unsres Harrens Trost und Leuchte war!
Die Ihr, das Haupt von ew´gem Glanz berührt,
den deutschen Musen hellen Reigen führt,
Ihr Brüdersterne, nun das Reich erstand,
Wacht schützend über Euerm Vaterland. (MSW 7, S. 24)

Die Funktionalisierung Schillers und Goethes zu Schutzpatronen des Reichs zielt auf ein kulturell
fundiertes Verständnis von Nation, das im Begriff der Kulturnation Anwendung findet. Ihre Er-

185
Stein an Ernst von Münster, Petersburg 1.12.1812. In: Karl vom und zum Stein: Ausgewählte politische Briefe
und Denkschriften. Hrsg. von Erich Botzenhart und Gunther Ipsen. Stuttgart 1986. S. 329. Steins nationale Ge-
sinnung wird auch durch seine finanzielle Unterstützung des griechischen Freiheitskampfes belegt. Raabe stellt
den Satz Steins als Motto seinem Roman Hastenbeck (1898) vorweg.
186
Vgl. die Biographie von Ernst Moritz Arndt: Meine Wanderungen und Wandelungen mit Heinrich Karl Friedrich
von Stein. Berlin 1858 oder Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein. 3 Bde. Berlin
1849-1851.
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 91

hebung zu „Schutzgeistern“ findet in Meyers gleichnamigem Gedicht von 1887 für das Goethe-
jahrbuch seine Entsprechung und wird von ihm später auf Keller und sein Verhältnis zur Schweiz
transponiert.187 Die letzte Strophe resümiert noch einmal die Inhalte aller vorigen Strophen:

Um unsre Helden stehen wir geschaart,


Von unsern Genien werden wir bewahrt,
Wir steh´n auf unsern theuern Todten hier,
Das ganze Reich, so stehen wir!
Klingt an die Becher! Lodre heil´ger Brand:
Das Vaterland – das deutsche Vaterland! (MSW 7, S. 24)

Meyers Gedicht zielt auf die durch Kampf, Kultur und Geschichte getragene Konstituierung der
deutschen Nation, die letzte Zeile erfasst die quasi zur Klimax gesteigerten Aussage: „Das Va-
terland – das deutsche Vaterland!“. Wie in Raabes Gedicht Ans Werk, ans Werk wird auch hier
auf die deutsche Geschichte als reichskonstitutives Element verwiesen (vgl. Kapitel 1.5). Wäh-
rend Raabe neben den „Helden“ und „toten Vätern“ (BA 20, S. 361) auch die Opfer der Reichs-
gründung gedenkt (politisch Verfolgte, Gefallene der 1848er Revolution), setzt Meyer den Ak-
zent auf die deutschen Dichter und Denker, deren kulturelles Erbe Grundlage der deutschen
Identifikationsfindung bildete.
Sowohl das Gedicht Germanias Sieg als auch das Trinklied lassen Meyers explizite Partei-
nahme für den deutschen Nationalliberalismus erkennen, wobei sein nationales Selbstver-
ständnis in beiden Gedichten durch Thematik und Position des artikulierten Ichs reflektiert
wird. Inhaltlich wie formal weisen sie große Ähnlichkeit mit der nach 1871 entstandenen, affir-
mativen Siegeslyrik deutscher Autoren auf.

3.2.3. Drei Schmiede-Gedichte Meyers im Vergleich

Auch das Gedicht Der deutsche Schmied (entstanden 1870), das schnell populär wurde und sich
sogar als Volkslied etablierte,188 bringt Meyers deutschnationale Überzeugung zum Ausdruck.
In abgeänderter Form wurde das Gedicht später in Meyers „Erstling“ (BM 2, S. 518) Huttens
letzte Tage aufgenommen. In den ersten beiden Auflagen seines Gedichtzyklus von 1881 und
1882 lautet der Titel des Gedichts Die Schmiede und weist erhebliche Änderungen zur endgül-
tigen Version auf, die unter dem Titel Der Schmied erschienen ist.189 Das Gedicht Der deutsche

187
Zum Tod von Keller am 15. Juli 1890 schreibt Meyer in seinen Erinnerungen an Gottfried Keller: „Am meisten
aber und gewaltig imponiert mir seine Stellung zur Heimat, welche in der Tat der eines Schutzgeistes glich.“
MSW 15, S. 180.
188
Vgl. Bemerkung Meyers: „‚Der deutsche Schmied wurde gedruckt und gesungen. Ich sehe, er ist nun zum deut-
schen Volksliede geworden und hat meinen Namen verloren, wie es auch recht ist“ (MSW 8, S. 520 f.).
189
In den beiden ersten Drucken D¹ und D² von 1872 fehlt das Gedicht.
92 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

Schmied war ursprünglich unabhängig von Huttens letzte Tage entstanden und veröffentlicht
worden (vgl. dazu MSW 7, S. 390 f.). Erst 1881 nimmt es Meyer, wahrscheinlich aufgrund seiner
großen Popularität unter dem Titel Die Schmiede in den Gedichtzyklus auf, nicht ohne die nati-
onalpolitischen Implikationen stark auszubauen. In den Auflagen des Hutten ab 1884 mildert er
die politischen Anspielungen und kürzt das Gedicht um die Hälfte. Die vergleichende Analyse
aller drei Variationen soll die Entwicklung Meyers hinsichtlich seiner nationalpolitischen Posi-
tion dokumentieren.
Das eigenständig erschienene Gedicht Der deutsche Schmied von 1870/71 ist die kürzeste
Version, da es die Situation zu Hutten nicht einleiten muss, also auf Übergänge verzichtet wer-
den kann. Es ist von den drei Schmiede-Gedichten am stärksten antifranzösisch ausgerichtet:

Am Ambos steht der alte Schmied,


Und schwingt den Hammer und singt sein Lied.

Er steht umlodert von Feuers Glut,


die Funken spritzen wie rothes Blut.

Hell klingt der Ambos, kurz der Spruch:


"Drei Schläge thu ich mit Segen und Fluch!

Der erste schmiedet den Teufel fest,


Daß er den Welschen nicht siegen läßt.

Den Erbfeind trifft der zweite Schlag,


Daß er sich nimmer rühren mag.

Der dritte Schlag ertöne rein,


Er soll für die deutsche Krone sein!"

Am Ambos steht der deutsche Schmied


Und schwingt den Hammer und singt sein Lied. (MSW 7, S. 21)

Bereits der Handlungsort im Gedicht, die Schmiede, verweist auf die Kriegsmetaphorik.190 Die
wörtliche Rede, also das vom Schmid gesungene Lied im Gedicht, der liedhaften Rhythmus und
die beinahe wortwörtliche Wiederholung der ersten und letzten Strophe verleihen der darge-
stellten Situation Einprägsamkeit und Authentizität. Durch die Variation in der letzten Strophe
(„deutsche Schmied“) wird, wie im Titel, die nationalpolitische Implikation ausgedrückt. Es ist,
wie Christof Laumont herausstellt, eine demagogische Allegorie auf Bismarck, der bekanntlich
auch Eiserner (!) Kanzler genannt wurde (vgl. Laumont, S. 77).

190
Die Schmiede als nationalpatriotisch aufgeladener Ort („einen Bund schmieden“) spielt auch in Raabes Briefer-
zählung Nach dem großen Kriege eine signifikante Bedeutung.
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 93

Die ersten beiden der drei christlich ritualisierten Schläge des Schmieds richten sich gegen den
„Erbfeind“, den „Welschen“ und den ihn unterstützenden Teufel. Der Schmied, der in der zwei-
ten Strophe selbst satanische Züge trägt, verhindert also durch sein Eingreifen den Sieg Frank-
reichs.191 Das Motiv der Teufelsbannung durch den Schmied stammt aus Ludwig Bechsteins
Märchen Der Schmied von Jütebogk (1845), dem es gelingt den Teufel zu fangen und auf seinen
Ambos zu schlagen.192 Die Sage ist mit der Barbarossa-Legende verbunden: Der Jütebogker
Schmied, der Friedrich Barbarossas Waffenmeister war, findet Zuflucht bei seinem früheren
Dienstherrn, mit dem er zusammen im Kyffhäuser auf die „große Schlacht der Befreiung“ war-
tet.193 Der dritte, antagonistisch gestaltete Schlag des Schmieds („mit Segen und Fluch“) soll
nicht zerstören, sondern aufbauen und ertönt daher auch „rein“. Er ist, nachdem die Feinde im
wahrsten Sinne des Wortes „geschlagen“ wurden, für die deutsche Krone bestimmt. Der Schlag
wird zum patriotischen Akt stilisiert, der auf Meyers dichterisches Selbstverständnis als „Verse-
schmied“ erweitert wird. Diese Intention wird durch die erste Strophe und letzte Strophe un-
terstützt, die auf die Textsorte Lied verweisen.
Die längste Version des Gedichts, Die Schmiede, wurde in den Gesamtzyklus des Hutten auf-
genommen und stammt aus dem Jahr 1881/82. Der Titel ist mehrdeutig: zum einen verlagert
er den Fokus von der Person des Schmieds auf den Ort der Handlung, die Schmiede. Zum an-
deren verweist er auf den Plural, denn im Unterschied zu den anderen beiden Fassungen gibt
es hier zwei Schmiede: Hutten bittet den Schmied, auch einmal den Hammer schlagen und
dabei die Sprüche sagen zu dürfen. Indem Hutten selbst zum Schmied – und zwar der deut-
schen Kaiserkrone – wird, übernimmt er einen aktiven Part an der Gestaltung des Deutschen
Reichs. Der Perspektivwechsel hat außerdem zur Folge, dass Hutten die drei bekannten Sprü-
che des Schmieds um weitere Strophen erweitert:

„[…] Die [Krone, J. F.] unser protestantisch Kaiserhaupt


Dereinst mit Hohenstaufenpracht umlaubt:

Ein Haupt, das mir gezeigt im Träume ward,


Ein treues, tapf´res Haupt mit greisem Bart.

Den Namen kenn´ ich nicht und nicht die Zeit,


Doch wird es wahr! Bei meiner Seligkeit!

Welf, Wittelsbacher, Zoller gilt mir gleich – “


Sang ich zu meinem dritten Hammerstreich;

191
Die Andeutungen auf den Deutsch-Französischen Krieg (Die Schmiede Strophe 18, Deutscher Schmied Strophe
2) gibt es auch in Meyers Gedicht Die Todesengel von 1870, vgl. MSW 8, S. 197.
192
Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch. Hrsg. von Hans-Heino Ewers. Stuttgart 1996. S. 76-78.
193
Grimm: Friedrich Rothbart auf dem Kyfhäuser. In: Deutsche Sagen Bd. 1, S. 29 f. Vgl. außerdem Grimm Der
Birnbaum auf dem Walserfeld. In: Deutsche Sagen Bd. 1, S. 30.
94 Die Darstellung Deutschlands in Texten schweizerischer Autoren

„– Wenn er die Krone nur erstreiten mag!“


Sprach ich zu meinem letzten Hammerschlag.

„Auf rothem Kissen liegt die helle Glut,


Der edle Hort. Das Kissen trieft von Blut…“

So sang ich, von der Zukunft angehaucht,


In einen grellen Feuerschein getaucht,

Und wann, was ich gehämmert, einst geschieht,


Bin ich der deutschen Kaiserkrone Schmied. (S. 530 ff.)

In diesen letzten acht, später gestrichenen Strophen (13-20) sind die deutschnationalen An-
spielungen, speziell auf den preußischen Kaiser Wilhelm I. unverkennbar.194 Als Prophezeiung
vermittelt, wird die Utopie eines deutschen Kaiserreichs – unter Ausschaltung des französi-
schen Erbfeindes – in der Zukunft realisiert. Die Erwähnung der 1870 durch den Krieg wieder-
gewonnenen Kaiserkrone ist durch den Rückbezug zur Stauferzeit geschichtlich verankert und
damit legitimiert. Indem der Text Hutten als Vorbereiter der deutschen Einigung benennt (vgl.
letzte Strophe), stellt Meyer eine Kontinuitätslinie von der Reformation zur Reichseinigung her.
Das ab 1884 in den Hutten aufgenommene Gedicht Der Schmied nimmt eine Mittelstellung
zwischen erster und zweiter Version ein. Wie das selbstständig erschienene Gedicht von
1870/71 legt es im Titel erneut den Fokus auf die Person des Schmieds, wobei die nationale
Bestimmung „deutsch“ gestrichen wurde, um politische Implikationen zu vermeiden. Dafür ist
der Schmied mythischer gestaltet: seine Gestalt ist „riesenhaft“, der Schlag seines Hammers,
dessen Klang „geheimnisvoll“ ist, gleicht Blitz und Donner („Der Hammer […], der niederfuhr
wie blanker Wetterstrahl“). Wie in Die Schmiede richten sich die Schläge eher unbestimmt ge-
gen den „Reichsfeind“ statt wie in Der deutsche Schmied gegen den (französischen) „Erbfeind“.
Der dritte, affirmative Schlag soll in Der Schmied die alte Kaiserkrone erneuern: „Schmiede,
dritter, du die Treu / Und unsre alte Kaiserkrone neu!“ Die Aufforderung für die Restitution der
Monarchie, und zwar auf die Person des Kaisers bezogen, impliziert einen degenerativen Zu-
stand des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das 1806 zusammenbrach.
Der Vergleich der drei Gedichtversionen hat die nationalpolitische Entwicklung Meyers vom
radikalen Frankreichgegner über eine propreußische, realpolitisch angelehnte Haltung bis hin
zum gemäßigten Nationalliberalen gezeigt: Das während des Deutsch-Französischen Krieges
verfasste Gedicht Der deutsche Schmied zielt auf eine antifranzösische, nationalpatriotische
Agitation mit explizit zerstörerischen Charakter. Während der Feind in den anderen beiden Ver-
sionen nur erlahmen soll, geht es dem Schmied in der Version von 1870/71 um dessen Tod. Die

194
Wilhelm I. wurde wegen seines weißen Bartes auch „Barbablanca“ („weißer Bart“) genannt, in Analogie zu dem
großen Stauferkönig Barbarossa.
Conrad Ferdinand Meyers und die deutsche Nationswerdung 95

Bearbeitung in dem Gedicht Die Schmiede tilgt zwar die gegen Frankreich gerichteten Absich-
ten, dafür erweitert und spezifiziert sie die nationalpatriotische Tendenz. Die Endfassung, Der
Schmied, enthält keine aktuellen nationalpolitischen Implikationen mehr, seine mystifizierende
Färbung verweist vielmehr auf einen politischen Rückzug Meyers.

Während die Dialektik von nationalem Selbst- und Fremdbild bei Meyer durch sein Bekenntnis
zu Deutschland während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 weitgehend aufgelöst
war, hatte sich bei Keller dieser spätestens seit 1848 verschärft.
Das vierte Kapitel gibt einen Überblick über Österreich und die österreichische Literatur wäh-
rend der Jahre der deutschen Nationsbildung zwischen 1850 und 1870. Dabei wird insbeson-
dere der Ausschluss des Habsburgerreichs aus dem Deutschen Bund 1866 fokussiert. Am Bei-
spiel Franz Grillparzers, Adalbert Stifters, Anastasius Grüns, Ferdinand Kürnbergers und
Ferdinand von Saars wird die Haltung der österreichischen Autoren zur geschichtlichen Ent-
wicklung extrahiert und ihren Umgang mit dem österreichischen Ausschluss aus dem Deut-
schen Bund 1866 aufgezeigt.
4. Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Seit Mitte des Jahrhunderts nahmen angesichts der nationalen Pluralität im Vielvölkerstaat die
deutschösterreichischen Autoren immer stärker auf den deutschsprachigen Kulturraum Bezug.
Für Karl-Heinz Rossbacher ist das Revolutionsjahr 1848 das entscheidende Jahr, seit dem die
Habsburgermonarchie zwischen dem „Hegemonialanspruch der Deutschen und de[m] zentri-
fugale[n] Nationalismus der nichtdeutschen Völker“ (Rossbacher: Literatur und Liberalismus, S.
452) stand. Bis 1866 gab es in Österreich die Bemühung um literarische Eigenständigkeit und
Unabhängigkeit von der deutschen Literatur. Nach dem Ausscheiden Österreichs aus dem
Deutschen Bund wurde dann – gegenläufig zu den realpolitischen Ereignissen – eine literarisch-
kulturelle Bindung zu Deutschland gesucht, so dass, so Günter Häntzschel „das Streben nach
kultureller Differenzierung während der politischen Integration […] sich nach der politischen
Differenzierung in das Streben nach kultureller Integration“195 verwandelte. Diese Beobach-
tung, die Häntzschel anhand der deutschen und österreichischen Anthologien anstellt, deutet
auf ein intensiviertes Bemühen um die Konstitution eines deutschen Kulturraums ab Mitte der
1860er Jahre hin.196 Auch wenn also die Realität von Königgrätz, die Auflösung des Deutschen
Bundes, auf die Utopie einer literarisch-kulturell bestimmten gesamtdeutschen Identität desil-
lusionierend wirkte, finden sich in der österreichischen Literatur der Zwischenjahre (1849 bis
1866) deutschnational-affirmative Texte, die das Reich in seiner Bedeutung als übernationalen
Kulturraum anerkennen. Generell unterschieden die österreichischen Intellektuellen zwischen
dem kulturell-sprachlich assoziierten Deutschland und dem staatlich-politisch charakterisierten
Preußen, durch das man hauptsächlich die Gefahr eines Ausschlusses Österreichs aus dem
Deutschen Bund verschuldet sah. Der in den Texten häufig gemachte Rückgriff auf eine gemein-
same Herkunft und Geschichte, z. B. auf das Germanentum, war der Versuch, die politische
Trennung literarisch zu verhindern bzw. nach 1866 zu überbrücken. Für die 1880er Jahre stellt
Karl-Heinz Rossbacher „bei den meisten deutschsprachigen Schriftstellern Österreichs“ die
Tendenz fest, dass sich ihr „deutschbewußte[r] Kulturnationalismus zum Deutschnationalis-
mus“ per se konsolidierte (Rossbacher, Literatur und Liberalismus, S. 456). In Österreich diente
wie auch in Deutschland der Rekurs auf die Geschichte der Konstitution von nationaler Identi-
tät, wobei das Mytheninventar teils dem deutschen glich, teils sich unterschied (z. B. wurden

195
Günter Häntzschel: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914: Sozialgeschichte der Lyrik des 19.
Jahrhunderts. Wiesbaden 1997. S. 434
196
Neben dem Streben der österreichischen Autoren sich in den hoch angesehenen deutschen Literaturkanon zu
integrieren, gab es auch die Tendenz sich von ihm zu separieren, um eine Literatur spezifisch österreichischen
Charakters aufzubauen.

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J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_4
98 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

in den österreichischen Texten die deutschen Befreiungskriege ausgespart).197 Beliebte Monar-


chen wurden in den Texten als Landesmütter bzw. Landesväter stilisiert (vgl. Magris, S. 46, 96).
Ihre Funktionszuweisung als Beschützer und Bewahrer des Vaterlandes wurde zu einem der
wichtigsten Mythen in Österreich, dessen charakteristische Element das „patriarchalische und
paternalistische Näheverhältnis Herrscher – Untertan [ist], die in ‚tiefer Liebe’ mit dem Monar-
chen verbunden sind“ (Magris, S. 44). Die Loyalität zum Herrscherhaus findet sich beispiels-
weise bei Adalbert Stifter (Kapitel 4.2) und bei Ferdinand von Saar (Kapitel 4.5).
Die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu konstatierende systemkonforme Grundhal-
tung der österreichischen Schriftsteller war den nachrevolutionären Gegebenheiten nach
1848/49 geschuldet: Während in Deutschland die literarische Tradition (speziell die des histo-
rischen Romans) ein eigenes Staatsbewusstsein schaffen wollte, war es in Österreich bereits
durch das Kontinuum der Habsburgermonarchie vorhanden. Aus diesem Grund war die Zeit
nach der Revolution nicht nur wie in Deutschland von der Zurücknahme der politischen Aktivi-
tät des Bürgertums geprägt, sondern wurde wegen der zuvor herrschenden scharfen metter-
nichschen Zensur als geradezu positiv empfunden und folglich affirmativ gestaltet.

Das folgende Kapitel über die österreichische Literatur behandelt – im Vergleich zu den Kapiteln
zu Raabe, Meyer und Keller – vermehrt funktionale Texte wie Essays, Aufsätze und Epigramme.
Dieser Fokus ist zum einen auf die Vielzahl der Autoren zurückzuführen, zum anderen auf die
erhöhte Auseinandersetzung der Österreicher mit der politischen Situation. Denn die durch
den Ausschluss aus dem Deutschen Bund hervorgerufenen identifikatorischen Unsicherheiten
verlangten eine nicht nur literarisch-fiktionale, sondern auch eine politisch-funktionale Bear-
beitung.

4.1. Franz Grillparzers Kritik am deutschen Nationalismus

Franz Grillparzers Leben (1791-1872) umfasste gleich mehrere literarische und politische Epo-
chen; während er literarisch der romantischen Schule verbunden war, tendierte er politisch
unter Einfluss des Josephinismus zum moderaten Konservatismus. Daher zog er sich nach der
Revolution 1848, bei der er durch seine systemkonforme Haltung (vgl. das Gedicht Feldmar-
schall Radetzky) viel Kritik erhalten hatte, schockiert von den Ereignissen, aus der literarischen

197
Vgl. dazu Holzer, Johann/Neumayr, Elisabeth/Wiesmüller, Wolfgang: Der historische Roman in Österreich 1848-
1890. In: Amann, Klaus/Lengauer, Hubert/Wagner, Karl (Hrsg.): Literarisches Leben in Österreich 1848-1890. S.
455-504, hier v. a. S. 463, 465 f.
Franz Grillparzers Kritik am deutschen Nationalismus 99

Öffentlichkeit zurück.198 Dementsprechend war er gegenüber den liberalen und nationalen


Ideen seines Jahrhunderts skeptisch eingestellt: Bereits für die 30er Jahren verzeichnet er ein
übertriebenes Nationalgefühl der Deutschen, das er auf die Befreiungskriege zurückführte. „Ich
nehme Jedermann zum Zeugen“ so Grillparzer im Jahr 1861, „ob nicht die Deutschen, als nach
den Befreiungskriegen sich ein maßloser politischer Eigendünkel ihrer bemächtigt hatte, zuerst
das Wort Nazionalität in die Welt geschleudert haben“ (FG 2/12, S. 51). Der Nationalismus,
urteilte Grillparzer in seinem Aufsatz Von den Sprachen, sei „wie eine Kinderkrankheit“ „von
den perhorreszierten Deutschen“ (FG 14, S. 165) in Umlauf gebracht worden.199 Während die
deutsche Nationalbewegung die Einheit der Nation zusammen mit der Freiheit des Bürgers zu
erreichen versuchte, war der Liberalismus für Grillparzer keine Option. Ebenso schloss er die
Gründung eines österreichischen Nationalstaats aus: Weder sei Österreich „ein kompakter, von
ein und demselben Volksstamme bewohnter“ Staat, noch seien „diese Volksstämme von dem
Wunsche des Zusammengehörens und Zusammenbleibens beherrscht“ (FG 1/16, S. 38). Auch
die nationalen Bestrebungen in Deutschland lehnte Grillparzer strikt ab. Der Nationalismus
bzw. die „Nazionalität“200 waren für ihn nur „Modeworte“, die nicht „das Zusammengehörige
vereinen, als vielmehr das trennen, was zusammengehört“.201 Die Befürchtung Grillparzers be-
zog sich auf den exklusionistischen Charakter des deutschen Nationalismus, der im Sinne der
kleindeutschen Lösung das Habsburgerreich ausschloss. Daher lehnte er die bekannte Postu-
lierung des Primats der deutschen Sprache und Kultur ab. Die „Sprachen-Abgötterei und über-
triebene Werthschätzung der Geschichte“ (FG 2/12, S. 51) waren für ihn Begleitphänomene
des deutschnationalen Trends. In seinen politisch geprägten Epigrammen kommentierte Grill-
parzer tagesaktuelle Ereignisse, die sich thematisch meistens auf den preußisch-österreichi-
schen Dualismus beziehen und die sich ab 1866 in ihrer Radikalität immer weiter zuspitzen.202
So kritisiert er die gegenseitige Schwächung, die aus dem Kampf um die Vormachtstellung in
Europa resultiert (vgl. das Gedicht Östreich der Schild und Preußen das Schwert!, 1859), die
Instrumentalisierung Piemonts durch die preußische Machtpolitik (Ein geistiges Verwandt-
schaftssiegel, 1859) und allen voran, den Ausschluss Österreich aus der deutschen Politik. Das

198
So verkündet Grillparzer in einem Brief an Adolf Krabbe vom 10. September 1845: „Die bisher ungedruckten
mag ich weder der österreichischen Censur in ihrer gegenwärtigen Verfaßung unterziehen, noch durch Über-
gehung derselben mein mit Macht herannahendes Alter durch Censur-Prozesse und herabwürdigendes Zu-
rechtweisungen beunruhigen. Auch ist meine Meinung, daß der rechtschaffende Mann sich den Gesetzen sei-
nes Vaterlandes fügen soll, wenn sie auch noch so absurd wären“ (FG 3/3, S. 4).
199
Vgl. zu Grillparzers Kritik auch sein Epigramm Ein Mittel wird dem Fortschritt immer bleiben aus dem Jahr 1869
(in FG 1/12, S. 352).
200
Mit Nationalität meint Grillparzer auch immer die abstrahierende Derivation dessen, den Nationalismus.
201
Grillparzer an Joseph Paul Király von Barcsfa, Wien 25. Januar 1861. In: FG 3/4, S. 45.
202
Vgl. dazu Rolf Geißler: Über Grillparzers politische Denkstruktur im Spiegel seiner Deutschland-Epigramme. In:
Bachmaier, Helmut (Hrsg.): Franz Grillparzer. Frankfurt am Main 1991. S. 243-258.
100 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Gedicht Wir haben uns auf den Kaiser Napoleon verlassen aus dem Jahr 1866 das mit der dop-
pelten Bedeutung des Verbs „verlassen“ spielt, drückt seine Enttäuschung über diese Entwick-
lung aus:

Wir haben uns auf den Kaiser Napoleon verlassen,


Wir haben uns auf Preußen verlassen,
Wir haben uns auf den deutschen Bund verlassen,
Wir haben uns auf die eigne Armee verlassen,
Und sind von allen gleichermaßen
Verlassen. (FG 1/12, S. 338)

Indem die empfundene Verlassenheit sich nicht nur auf die Neutralität Frankreichs und den
eigentlichen Kriegsgegner Preußen bezieht, sondern auch auf die eigenen Bündnispartner, ar-
tikuliert Grillparzer die innerparteilichen und innenpolitischen Konflikte, die die Schwächung
des Habsburgerreichs und damit den Sieg Preußens begünstigten. Die Rolle Frankreichs im
Deutschen Krieg thematisiert der Autor ein Jahr später in seinem Epigramm Luxemburg Frage
erneut. In der Luxemburgkrise ging es um geheime Verhandlungen zwischen Napoléon III., der
sich das damalige Großherzogtum einverleiben wollte, und Bismarck, der für seine Zustimmung
Frankreichs Neutralität in Bezug auf den deutschen Einigungsprozess unter Ausschluss Öster-
reichs verlangte. Während der Titel diese politische Kontextualisierung evoziert, bezieht sich
der Inhalt des Vierzeilers nicht nur auf die deutsche Einigung, sondern auch auf den innerdeut-
schen Konflikt zwischen Bismarck und den Liberalen bei der Verfassungsfrage, der die Konsti-
tuierung der deutschen Identität gefährdete:

Flickt euer Deutschland nur wieder zusammen,


Was nützt, von denselben Eltern zu stammen!
Seit eure Bundesverfassung entschlief,
Seid ihr nur ein geographischer Begriff. (FG 1/12, S. 341)

Der Krieg 1866 wurde nicht umsonst deutsch-deutscher Krieg203 oder Bruderkrieg genannt –
dem Ausschluss Österreichs aus der deutschen Politik folgte eine schwere Identitätskrise der
Deutsch-Österreicher, die auch Grillparzer betraf, der sich mal als Deutscher, mal explizit als
Österreicher bezeichnete.204

203
Im Jahre 1867 wurde er sogar noch Preußisch-deutscher Krieg genannt, vgl. den Eintrag in der Allgemeinen
deutschen Real-Encyklopädie Brockhaus von 1867. Bd. 12. S. 88-94.
204
Vgl. beispielsweise den Tagebucheintrag aus dem Jahre 1842: „Ich bin froh ein Deutscher zu seyn. Nicht als ob
ich die Nazion so hoch stellte, eher im Gegentheil. Aber wenn der Mensch Papier ist, auf welchen das Leben
schreibt, so will ich als unbeschriebenes zur Welt gekommen sein. Der Deutsche bringt von allen Völkern die
wenigsten Vorurtheile mit.“ (FG 2/11, S. 3). Dagegen vgl. Grillparzers Aufrufe aus der Revolutionszeit aus dem
Jahr 1848: „Ich war immer stolz ein Österreicher zu sein. Ich habe nie im Auslande drucken lassen, nie stand ein
Wort von mir in den deutschen Journalen. Selbst die Zensurgesetze habe ich geachtet, weil ich glaubte es zieme
Franz Grillparzers Kritik am deutschen Nationalismus 101

Als Deutscher ward ich geboren –


Bin ich noch einer?
Nur, was ich Deutsches geschrieben,
Das nimmt mir keiner. (FG 1/12, S. 341)

Das Epigramm aus dem Jahr 1867 zeigt die Ambivalenz Grillparzers nationale und kultureller
Identität. Indem er die sprachliche Gemeinsamkeit als Kompensation des politischen Ausschlus-
ses Österreichs präsentiert, verortet er seine eigene Identität im deutschsprachigen Kultur-
raum.
Während Grillparzer also 1842 „froh [war], ein Deutscher“ und 1848 „stolz, ein Österreicher
zu sein“ (s. o.), stand mit der Reichseinigung 1870/71 für ihn fest: „[I]ch bin kein Deutscher,
sondern ein Österreicher.“205 Seine Distanzierung hängt vor allem mit der preußischen Vor-
machtstellung zusammen, die er „fast noch mehr als die Frankreichs“ (Foglar, S. 61) fürchtete.
Und doch sehnte er sich nach einer gemeinsamen kulturellen Basis. In seinem Brief an die (spä-
tere) Kaiserin Augusta nennt er Weimar als wahres Vaterland jedes gebildeten Deutschen und
bezeichnet sich selbst als Untertan innerhalb des deutschsprachigen Kulturraums. Die durch
die Veröffentlichung des Briefes ausgelöste Debatte in Österreich über Grillparzers Positionie-
rung gegenüber dem neu gegründeten Reich war Symptom einer auf Emanzipation ausgeleg-
ten Entwicklung der Literatur aus Österreich, um „wenigstens auf kulturellem Gebiet […] die
Legitimation des Deutschen Reichs in Frage zu stellen“.206 Grillparzer indes bezog sich in dem
Brief in seiner kulturellen Identität ausdrücklich auf Deutschland, das als Kulturnation in der
Weimarer Klassik am prominentesten vertreten war.
Drei Tage vor der Versailler Kaiserproklamation wurde am 15. Januar 1871 Grillparzers 80.
Geburtstag im Schriftsteller- und Journalistenverein Concordia gefeiert.207 Heinrich Laube hielt
die Festrede, in der er Grillparzer als spezifisch österreichischen Autor für eigene Literaturge-
schichte vereinnahmt:

dem rechtschaffnen Manne sich den Gesetzten seines Vaterlandes zu fügen, gesetzt auch sie wären absurd“
(FG 1/13, S. 202). Zu Grillparzers Selbst- und Fremdverständnis ist der Aufsatz von Clemens Ruthner hervorzu-
heben: Argonaut und Tourist: Repräsentationen der Fremde(n) bei Franz Grillparzer. In: Henn, Marianne u. a.
(Hrsg.): Aneignungen, Entfremdungen. The Austrian Playwright Franz Grillparzer (1791-1872). New York 2007.
S. 49-68.
205
Am 1. November 1870. In: Adolf Foglar: Grillparzer´s Ansichten über Litteratur, Bühne und Leben. Wien 1872. S.
62.
206
Renate Langer: Grillparzer und die deutsche Reichsgründung. In: Amann, Klaus/Wagner, Karl (Hrsg.): Literatur
und Nation: Die Gründung des deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Wien u. a. 1996. S.
317-341. Hier S. 319.
207
Der Verein, den Nipperdey im Wiener Zentrum „von Kritik und Reformbewegung“ einordnet (Nipperdey S. 342),
hatte sich im Kontext der Schillerfeiern 1859 gegründet und hatte ähnlich wie die Schillerstiftung die finanzielle
Unterstützung mittelloser Schriftsteller und Journalisten zum Ziel.
102 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Unser Dichter, mit Stolz sagen wir unser Dichter, mit Stolz sagen wir, er ist ein Österreicher
vom Wirbel bis zur Zehe. Jeder Hauch aus ihm atmet österreichisches Wesen aus. Der
große Denker, der das Reich Österreich geschaffen, lebt und webt in ihm; der Gedanke,
daß von hier aus, dem Donautale, auf welches die Alpen herniederschauen, deutsches We-
sen, deutsche Kultur, deutsche Macht sich ausbreite in weiter Ferne, alle Freude oder aller
Schmerz, die die Betätigung dieses Gedanken mit sich bringt, trifft sein Herz und macht es
klingen und zittern in Tönen des Jubels, in Klängen des Wehes. […] Deshalb ist die heutige
Feier eine wohlbegründete und hier ist eine deutsche Feier, der edelsten Söhne Öster-
reichs, eines edelsten Dichters Deutschlands.208

In seiner pathetischen Rede gedenkt Laube Grillparzer als Autor, der die habsburgische Ge-
schichte zum Mythos machte und sie zum Kern- und Ausgangspunkt für die deutsche Ge-
schichte und Gegenwart ausbreitete. Der letzte Satz zeigt, dass er die deutschsprachigen Auto-
ren aus Österreich, in diesem Fall Grillparzer, politisch als „Söhne“ der Habsburgermonarchie
rezipierte, literarisch aber Deutschland, also dem deutschen Kulturraum zuordnete. Die beide
Identifikationsebenen bezogen sich auf historisch-politische wie kulturelle Eigenschaften von
Nation.

Der im nächsten Kapitel zu behandelnde Autor gilt als entschiedener Vertreter einer im moder-
nen Sinn verstandenen Demokratie und stand damit politisch im geraden Gegensatz zu Grill-
parzer. Adalbert Stifter (1805-1868) sah im Gegensatz zu Grillparzer die Möglichkeit einer poli-
tischen Konsolidierung des Habsburgerreichs durch den Anschluss an das Deutsche Reich.

4.2. Adalbert Stifter und der österreichische Ausschluss aus der deutschen Politik

Adalbert Stifter versuchte schon 1848 aktiv eine großdeutsche Lösung herbeizuführen, indem
er sich von seinem Wiener Wohnbezirk „als Wahlmann zu den Vorbereitungen für die Frank-
furter Nationalversammlung aufstellen“ ließ.209 Trotzdem war er gegenüber der Revolution
skeptisch eingestellt, sah durch sie „Freiheit und Maß“ gefährdet210 und fand insbesondere die

208
Ehrlich, Sigmund: Journalisten- und Schriftstellerverein „Concordia“. 1859-1909. Eine Festschrift. Wien 1909. S.
85.
209
Urban Roedl: Adalbert Stifter mit Selbstzeugnissen und Bildnissen. Hamburg 1987. S. 94.
210
An Gustav Heckenast am 25. Mai 1848: „Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit – beides ist jezt leider
gefährdet, und viele meinen, die Freiheit erst recht zu gründen, wenn sie nur sehr weit von den früheren
Sisteme abgehen, aber da kommen sie an das andere Ende der Freiheit an.“ SW 17, S. 284.
Adalbert Stifter und der österreichische Ausschluss aus der deutschen Politik 103

Situation in Ungarn bestürzend.211 Der politisch interessierte und belesene Stifter212 sah den
Grund für die Krise Europas im sittlichen Zerfall, der durch die Revolution und das Ungleichge-
wicht der europäischen Ordnung Metternichs bestärkt worden war. In seinen politischen Auf-
sätzen wollte Stifter in klaren Worten und einem logischen Aufbau, der die Natürlichkeit der
gesellschaftspolitischen Ordnung verständlich macht, ein pädagogisches Programm entwi-
ckeln, das die Kultivierung der Revolution ermöglichen sollte. Für die politische Unterweisung
des Volkes glaubte er sich durch seine wissenschaftlichen Studien qualifiziert, denn er war der
Meinung „daß man Politik nicht in Versen und Deklamationen macht, sondern durch wissen-
schaftliche Staatsbildung, die man sich vorher aneignet, und durch zeitbewußte Thaten, die
man nachher sezt, seien sie in Schrift, Wort oder Werk“ (SW 17, S. 138).
In seinem Aufsatz Der Staat, der am 13. (Teil I) und 18. April (Teil II) 1848 in der Constitutio-
nellen Donau-Zeitung erschienen war und damit im unmittelbaren Zusammenhang mit der Re-
volution zu lesen ist, entwirft Stifter im revolutionskritischen Gestus das Idealbild einer moder-
nen Gesellschaft. Im ersten Teil wendet er sich gegen anarchische Tendenzen der Revolution,
indem er die unbedingte Notwendigkeit einer staatlichen Ordnung erklärt, da „nur durch Ord-
nung und Eintheilung das allgemeine Beste der Menschheit“ (SW 16, S. 20) entfaltet werden
könne. Eine Revolution, die Störung der Ordnung bedeutet, brächte „Uebel in einem großen
Umfange herbei, und würde, wenn sie lange dauerte, die Menschheit gänzlich zu Grunde rich-
ten“ (S. 21). Daher dürfe man „dort, wo man die eingeführte Ordnung umändern und verbes-
sern will, nur allmählich verfahren“, denn die plötzliche Störung der bisherigen Ordnung er-
zeuge „im Augenblicke des Umsturzes das Gefühl der Unsicherheit, und manchmal auch noch
lange nachher“ (SW 16, S. 21). Was Stifter unter Ordnung genau verstand, wird im zweiten Teil
des Artikels deutlich, in dem er in einer genealogischen Konstruktion die gesellschaftliche Struk-
tur einer Nation vorstellt:

211
Über den Konflikt mit Ungarn äußert sich Stifter in seinen Briefen mehrfach, so z. B. an Gustav Heckenast am 6.
März 1849: „Das war ein fürchterliches Jahr! […] Österreich war immer in seinem Rechte, nur hatte es im März
etwas Unmögliches an Ungarn gegeben: Einigung und Trennung zugleich. Die die Forderung thaten, wußten
recht wohl, was sie wollten, Trennung; sie gaben aber die Einigung als Maske zu“ (SW 17, S. 319). Und an den-
selben am 4. September 1849: „Wie der Kampf in Ungarn in mein Gemüth schnitt, können Sie nicht glauben;
ein jeder Kanonenschuß ging ja eigentlich in Österreichs Herz selber. […] Ich habe in diesem Jahre Gefühle
kennen gelernt, von denen ich früher keine Ahnung hatte. Alles Schöne Große Menschliche war dahin, das
Gemüth war zerrüttet, die Poesie gewichen.“ SW 18, S. 10.
212
„Ich habe viele Jahre Staatswissenschaften getrieben, lese immerdar politische Journale, und es wäre in der
That seltsam, wenn ein Mensch mit Gefühl (das ich mir zutraue) da ohne Partei zu nehmen bliebe, nur ist er
stark genug, nicht in das, wo er die Schönheit Gottes und der Welt darstellen will, seine Ansichten über den
Zollverein einmischen zu wollen. Vielleicht kann ich einmal mit den bischen Kenntnissen über Staatswesen, die
ich gesammelt, meinem Vaterlande nützen, aber ich gehöre nicht zu denjenigen, die sich stets berufen glauben,
auch nicht zu denen, die der Weltschmerz frißt, und nicht zu denen, die, wo sie sehen, daß ein Kind noch keine
Zähne hat, die Zange nehmen, um denselben hervor zu helfen.“ An Gustav Heckenast. Wien, am 9. Jänner 1845.
SW 17, S. 139 f.
104 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Ordnung [ergibt] sich aus den natürlichen Banden der Verwandtschaft. […] Gewöhnlich
schlossen sich Familien von einer gemeinschaftlichen Abstammung also von gleicher Spra-
che und gleichen Sitten zusammen. Die Oberleitung führte meistens das Haupt der ange-
sehensten oder mächtigsten Familien. Man nennt eine solche Vereinigung von Menschen
gleicher Sprache und gleichen Sitten ein Volk oder eine Nation, und ihre obenangegebene
Einrichtung eine väterliche (patriarchalische) Regierung. Ein solches Volk und eine solche
Regierung zusammen, machen den väterlichen Staat aus. (SW 16, S. 24)

Stifter leitet den Volks- und Nationsbegriff deduktiv von der Familie her ab und betont ihre
Kontinuitätslinie bis in die Gegenwart durch familiale Beschreibungen. Seine Definition von Na-
tion geht von einem auf sprachlichen und kulturellen Übereinstimmungen basierenden Patri-
archat aus, welches auf der Loyalität zum Kaiser beruht. Bei einem Besuch des Kaisers in Linz
im November 1849 „wußten wohl [alle], daß man sich um den Kaiser vereinen müsse, daß wir
mit den vereinten Kräften stark, geordnet und glücklich sein können, da das Auseinanderfallen
in streitende Zwecke und Richtungen alles Glück, allen Wohlstand, alle Ordnung und endlich
alle menschliche Sittlichkeit und Religion zerstöre.“ Der durch die Linzer rituell begangene Tag
sei daher „ein Stein mehr […] in dem Baue der Einheit, des Zusammenhaltens, der Macht und
der Herrlichkeit unseres österreichischen Landes“. 213 In der Rückbindung zur Monarchie sieht
Stifter trotz oder vielmehr gerade wegen der Revolution eine Notwendigkeit, um die politi-
schen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und moralischen Verhältnisse wiederherzustellen
bzw. zu konsolidieren.
Seine kulturelle Zugehörigkeit zu Deutschland ließ bei Stifter den preußisch-österreichischen
Dualismus zur persönlichen Sinnkrise werden. Bereits 1859, als sich durch die Neutralität Preu-
ßens im Zweiten Italienischen Krieg die kleindeutsche Lösung abzeichnete, kündigte sich Stif-
ters Verunsicherung an: „Deutschland, das Land meiner Liebe und meines Stolzes betrübt mich
tief. Es sollte nicht eine Stimme in demselben geben, welche nicht mit Entrüstung gegen Lüge
und Unrecht spricht, es sollte nicht ein Arm sein, der sich nicht dagegen erhebt“ (SB 2, S. 265).
Als 1866 der österreichische Ausschluss aus Deutschland militärisch besiegelte wurde, entwi-
ckelte sich die politische Situation zur persönlichen Misere. Die Briefe an seine Frau Amalia
dokumentieren die Ängste und Hoffnungen, die er im Lauf des Jahres durchlitt. Stifter verur-
teilte „diesen abscheulichen Krieg Deutscher gegen Deutsche“ und für Bismarck, der „aus Ei-
gensucht mit dem Glüke des Welttheiles, des Vaterlandes“ spiele, fand er „nicht genug Worte
der Verdammung“ (SW 21, S. 184). „Peinigend“ sei für ihn dieser Krieg, „ein Scheusal“ und

213
Stifter schildert den Besuch in seiner Schrift Der 25. November in Linz weiter: „Die Bewohner unserer Stadt
thaten alles Mögliche, um ihre Freude erkenne zu geben. Triumphpforten, Fahnen, festlicher Empfang, Aus-
schmückung der Stadt mit Teppichen, Beleuchtung, Theater, Ball, Fackelzug, Abendmusik vom Gesangsverein
und ein fröhliches Zusammenströmen der Menschen war zu erblicken“ (SW 16, S. 214 f.). Zum Tod Kaiser Ma-
ximilians in Mexiko rühmte Stifter diesen als „eine Gestalt, welche die Geschichte verherrlichen wird, eine Ge-
stalt, zu der der Künstler und Dichter emporschaut, sie seinem Volke zu verklären, eine Gestalt, die in den Ge-
sängen der Zeiten blühen wird, wie die alten Helden in den alten Lieder blühen“ (SW 16, S. 282).
Adalbert Stifter und der österreichische Ausschluss aus der deutschen Politik 105

„Aberwitz“ (SW 21, S. 251), weil „Menschen desselben Stammes, Menschen eines herrlichen
Volkes, eines Volkes, dem ich angehöre, das ich liebe, sich bekriegen und sich mordend gegen-
über stehen, das thut mir gar so weh“ (SW 21, S. 261).
Mit seinem Roman Witiko sowie mit der während des Krieges entstandenen Erzählung Der
Kuss von Sentze verfasste Stifter einen „verschlüsselte[n] Appell zur Versöhnung angesichts des
deutschen Bruderkrieges“.214 Die Untersuchung beider Texte soll in den nächsten Kapiteln zei-
gen, wie Stifters literarische Verarbeitung des deutsch-österreichischen Nationalismus aussah.

4.2.1. Die Erzählung Der Kuss von Sentze

Während des Deutschen Krieges entstand die Erzählung Der Kuss von Sentze (1866), die Stif-
ter Ende Januar konzeptionierte und noch vor der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 be-
endete (vgl. SW 21, S. 252). Die zeitliche Handlung ist in die Zeit des Vormärz und der Revolution
1848 verlegt: Sie beginnt mit dem 25. Geburtstag des Protagonisten und Ich-Erzählers Rupert
Sentze am 13. April 1846 und endet am 20. November 1848 mit der Hochzeit von Rupert und
seiner Cousine Hiltiburg.215 Die Verbindung kommt durch einen Friedenskuss zustande, der in
der Familie Sentze, so erfährt der Leser in der Rahmenerzählung, traditionell zwischen den Fa-
milienangehörigen gegeben wird, um Streit zu vermeiden. Wer den Kuss dem andern gibt, ver-
pflichtet sich, Frieden zu halten, „weil sonst noch ein Judaskuß auf der Welt wäre“ (WUB 3/2,
S. 144). Der Familiensaga der Sentzes nach wurde der Friedenskuss als rituelle Handlung der
Versicherung der Gemeinschaft aus der Notwendigkeit geboren, aus Bedarf wiederholt, dann
zur Tradition und schließlich zum Gesetz: „Die Sache wurde in dem Geschlechte der Sentze
forterzählt, da es unter den Nachkommen manche Streitbare gab, sie wurde wiederholt, sie
wurde endlich bräuchlich und zuletzt gar eine Satzung“ (WUB 3/2, S. 144). Die Darstellung der
induktiven und natürlichen Entstehung des Kuss-Gesetzes zeigt zum einen exemplarisch die
Genese von ritueller und identitätsstiftender Erinnerungskultur. Zum anderen hat sie die Funk-
tion, über den Text hinaus zum Vorbild zu werden. Angesichts des deutsch-deutschen Krieges
von 1866 appelliert der Text durch die Geschichte des Friedenskusses zur Versöhnung zwischen
den beiden Staaten. Das Leitmotiv des Friedenskusses ist die affirmative Hauptbotschaft der

214
Wiesmüller, Wolfgang: „… Dann wächst Deutschthum dem Preussenthume über das Haupt“. Adalbert Stifter
und die deutsche Frage. In: Amann, Klaus/Wagner, Karl (Hrsg.): Literatur und Nation: Die Gründung des deut-
schen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Wien u. a. 1996. S. 305-316. Hier S. 314.
215
Die Binnenerzählung beginnt mit dem Satz: „Am dreizehnten Tage des Monates April des Jahres 1846 hatte ich
meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag, den Tag meiner Mündigwerdung“ (WUB 3/2, S. 145). „Am zwölften
Tages des Monates Dezember“ fährt Rubert nach Wien, um Hiltiburg kennenzulernen, die dort bei Verwandten
wohnt (S. 148), dort bleibt er zwei Winter bis zu den „Unruhen im Monate März“ 1848. Im gleichen Jahr nimmt
Rupert am Ersten Italienischen Unabhängigkeitskrieg unter Radetzky teil und verlässt das Heer nach dem
letzte[n] Sieg, der den Frieden brachte“ (S. 156), also der Sieg bei der Schlacht von Novara am 23. März 1849.
106 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Erzählung, die nicht nur zeitlich im Kontext zum deutsch-deutschen „Bruderkrieg“ steht, son-
dern auch thematisch (der Ausgangsstreit in der Familie Sentze ging von zwei Brüdern aus).
Auch die Tiefenstruktur des Textes, z. B. die Zahlen- und Farbensymbolik,216 verweist auf das
aktuelle Kriegsgeschehen. So ergibt die Farbgebung der beiden Häuser der ehemals konkurrie-
renden Brüder, nämlich rot-weiß und schwarz-weiß, die Farben Österreichs und Preußens.
Auch zeitgeschichtliche, politische Implikationen enthält der Text: Rupert entschließt sich 1848,
in der Zeit der „Unruhen, die damals durch halb Europa gingen“ (S. 153), seinem Vaterland im
Ersten Italienischen Krieg zu dienen, was er ausgerechnet mit dem Kampf für die Freiheit be-
gründet:

Die Freiheit als die Macht, unbeirrt von jeder Gewalt, das Höchste der Menschheit zu ent-
wickeln, ist das größte äußere Gut des Menschen. Der rechte Mensch ist frei von den Ge-
lüsten und Lastern seines Herzens und schafft sich Raum für diese Freiheit, oder lebt nicht
mehr. Wer so nicht frei ist, kann es anders nicht sein. Das andere ist die Freiheit des Tieres,
das nach seinen Trieben tut. Ich hoffe, daß bei uns Männer sind, diese Freiheit zu fördern
und ihr einen Weg in das Staatsleben zu bahnen, daß sie in ihrer Schönheit erblühe. […] Bei
uns tut es not, daß das Reich nicht wanke, und wenn es fest steht, dann mögen in ihm die
rechten Männer den Pfad der Freiheit suchen und wir vorerst dazu die rechten Männer
finden. Weil ich aber in den Rat nicht tauge, gehe ich zu dem Feldherrn, der jetzt das Reich
vertritt, und diene ihm. (WUB 3/2, S. 154)

In dieser Rede Ruperts wiederholt Stifter seine Revolutionskritik von 1849,217 in der er das Er-
reichen der sittlichen Freiheit als höchste Stufe der Menschheitsgeschichte deklariert. Weil
nach Ansicht Stifters erst ist die staatliche Ordnung die Freiheit garantieren kann, kritisiert er
der Märzrevolution sowie der italienischen und ungarischen Einheits- und Freiheitsbewegung
vehement. Er lehnt die Freiheitsbestrebungen der Italiener ab, weil sie die Ordnung, die kulti-
vierte Freiheit, zerstören. Das entspricht den gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die Stifter
im Kontext der revolutionären Zustände in Europa vertrat. Das Jahr 1866, das er so schmerzhaft
erlebte, bedeutete wie die Revolution 1848/49 die (Zer-)Störung der staatlichen Ordnung, die
dem „Einzelnen das Gefühl der Sicherheit“ (WUB 8/2, S. 28) geben sollte. Die unter Führung
des Grafen Radetzky zusammengekommenen Soldaten bilden eine Solidaritätsgemeinschaft,
die in Zeiten der Not durch die gemeinsame Sprache vereint werden:

Was auch einer für eine Muttersprache redete, wir fragten nicht danach, Deutsch konnte
ein jeder, und in der deutschen Sprache, gut oder schlecht, selten nach der Schrift, sondern
meist nach der Landessitte des einzelnen, plauderten wir und schlössen den Bund, in Not
und Tod miteinander zu gehen. (WUB 3/2, S. 156)

216
Vgl. dazu Wolfgang Frühwald: „Tu felix Austria…“ Zur Deutung von Adalbert Stifters Erzählung „Der Kuß von
Sentze“. In: VASI 36 (1987). Folge 3/4. Faszination Stifter. Adalbert Stifter und die moderne Literatur. S. 31-41.
217
„Stifter legt ihm [Rupert, J. F.] eigene politische nachrevolutionäre Bekenntnisse als wörtliches Zitat in den
Mund.“ Ursula Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979. S. 72.
Adalbert Stifter und der österreichische Ausschluss aus der deutschen Politik 107

Während also die politischen Verhältnisse das Habsburgerreich spalten, wird Sprache und Kul-
tur zum identitätsstiftendes Faktor. Der Rekurs auf die Sprachnation deuten auf Stifters Hoff-
nungen auf ein großdeutsches Reich hin, das trotz politischer Separation seine Existenzberech-
tigung in der gemeinsamen Sprache und Kultur hat.
In seiner Erzählung entwirft Stifter eine „zeitgeschichtliche Utopie“ (Frühwald, S. 39), ein
Gegenbild zur politischen Realität des zerfallenden Österreichs und der sich abzeichnenden
kleindeutschen Lösung. Ein heimlich und unerkannt gegebener Kuss Hiltiburgs begleitet Ru-
perts Soldatenzeit, die Erinnerung daran bildet die stete Rückbindung zur Heimat218 und initiiert
nach seiner Rückkehr das Verlöbnis der beiden. Nach einem knappen halben Jahrhundert wird
so aus dem Friedenskuss ein Liebeskuss, im Verständnis der Familie also aus dem „Kuß der
zweiten Art“ ein „Kuß der ersten Art oder schlechtweg de[r] erst[e] Kuß“ (WUB 3/2, S. 145).
Damit glückt im Text – anders als in der politischen Realität seines Entstehungskontextes – die
Verbindung beider Häuser, die Sicherung des Friedens wird endlich und wirklich sichergestellt.
Die Zahlensymbolik der Erzählung verweist, wie Wolfgang Frühwald in seinem Aufsatz mi-
nutiös erschließt (Frühwald S. 36 ff.), auf wichtige Daten der österreichischen Identitätskonsti-
tuierung im 19. Jahrhundert. Als 1804 in Stifters Erzählung der Vater Ruperts und dessen Vetter
um die gleiche Braut werben, so dass sich beide zwar den Friedenskuss geben, aber fortan ge-
trennter Wege gehen, spaltet sich das österreichische Kaisertum vom deutschen ab. 1821, im
Geburtsjahr Ruperts befindet sich Metternich auf dem Höhepunkt seiner Karriere und wird zum
Staatskanzler ernannt. An seinem 25. Geburtstag, als Rupert das Alter erreicht, um den Frie-
denskuss geben zu können, schlägt Österreich den polnischen Aufstand nieder und verleibt sich
das Großherzogtum Krakau ein. Ruperts Beteiligung am Ersten Italienischen Unabhängigkeits-
krieg 1848/49 verweist auf die beiden folgenden Unabhängigkeitskriege 1859 und 1866 und
damit auf die Zeit der Entstehung der Erzählung. Indem der erste Kuss der beiden Brüder von
Sentze auf das Jahr 1110 datiert wird, das Jahr, in dem Heinrich V. in seinem ersten Italienzug
die Lombardei unterwarf, schließt sich der Kreis.

Den Kuß von Sentze verfasste Stifter im Umfeld des Witikos, in beiden Texten wird ein Ge-
genbild zur politischen Gegenwart entworfen, dass sich durch „Idealisierung und moralische

218
WUB 3/2, S. 155 f.: „Da streifte etwas an mich wie ein Frauenkleid, zwei weibliche Arme umschlangen mich,
und plötzlich fühlte ich einen Kuß auf meinen Lippen. Dieser Kuß war so süß und glühend, daß mein ganzes
Leben dadurch erschüttert wurde. Die Gestalt wich in die Finsternis zurück, ich wußte nicht, wie mir war, und
eilte auf dem Gange fort, über die Treppe hinab, durch das geöffnete Pförtchen hinaus, auf dem Wagen zur
Post, auf dem Postwagen in der Richtung nach meinem Reiseziele dahin und konnte den Kuß nicht aus dem
Haupte bringen. Ich bin später bei Wachtfeuern gewesen, auf der Vorwacht in der Finsternis der Nacht, auf
wüsten Lagerplätzen, in Regensturm und Sonnenbrand, in schlechten Hütten und in schönen Schlössern, und
immer erinnerte ich mich des Kusses und dachte, welches der Mädchen mußte das Ungewöhnliche getan ha-
ben. Das erkannte ich, daß der Kuß ein Geheimnis sein sollte, ich forschte nicht und sagte keinem Menschen
ein Wort davon.“
108 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Überhöhung“ (Wiesmüller, S. 315) auszeichnete. Der im 12. Jahrhundert angesiedelte Roman


war Stifters literarische Antwort auf die klein-oder großdeutschen Frage, in dem er wie im Kuß
von Sentze eine auf verwandtschaftliche Beziehungen beruhende Heiratspolitik als politische
Maßnahme der Friedensstiftung entfaltet.219 Indem er im Witiko die staufische Dynastie als
Vorfahren des römisch-deutschen Kaiserreichs fokussiert, verweist er auf die historisch begrün-
dete Notwendigkeit der großdeutschen Lösung.

4.2.2. Stifters Witiko

Die Entstehungsgeschichte des dreibändigen Witiko ist im Kontext des politischen Zeitgesche-
hens zu lesen: zwischen 1865 und 1867 erschienen, wurde der historische Roman von Stifter
bereits 1848, zur Zeit der Revolution konzipiert und von ihr wahrscheinlich auch inspiriert. Ins-
besondere der Prager Pfingstaufstand im Juni 1848, der von tschechischen Revolutionären ge-
gen die österreichische Habsburgermonarchie organisiert und von Graf von Windischgrätz
schnell niedergeschlagen wurde, war Anlass für Stifters Wahl, böhmische Geschichte zu behan-
deln. Daher widmete der Autor das Buch der Stadt Prag220 und positioniert sich mit seiner Stoff-
wahl für eine Aussöhnung zwischen Deutschen und Tschechen. Die Zeitgenossen Stifters konn-
ten mit dem Witiko angesichts der Historischen Romane, die im Zeichen des deutschen
Nationalismus geschrieben waren, nicht viel anfangen: „Diese böhmischen Wladlislavs und
Wratislaws, […] was kümmern sie uns?“ fragt Rudolf Gottschall und zielt damit auf die politisch-
nationale Positionierung des Autors ab. Denn dieser hatte zwar als gebürtiger Deutsch-Böhme
eine Mittel- und Mittlerstellung inne,221 wurde jedoch als Deutsch-Österreicher wahrgenom-
men, rezipiert und trotz aller Kritik vereinnahmt. In Zeiten des habsburgischen Nationalitäten-
konflikts stellte daher der die tschechische Geschichte behandelnde Witiko für die Deutsch-
Österreicher einen nationalen Affront dar. Entgegen des nationalpatriotischen Trends zielte

219
Raabe spielt auf die Heiratspolitik des Habsburger Hauses an, wenn er in seinem Roman Gutmanns Reisen den
Protagonisten seiner Angebeteten erklären lässt: „Der gute Familiensinn in unsere großen deutschen Familie
hat uns den Fremden gegenüber immer wieder obenauf gebracht – statistisch, Fräulein; aber – aber mit dem
Heiraten ist das in großen und kleinen Verhältnissen stets ein eigen Ding. Den Preußen hat eigentlich nie eine
recht gewollt; aber das Haus Österreich, was muss das liebenswürdig gewesen sein durch die Jahrhunderte!
Was hat das zusammengeheiratet im Laufe der Jahrhunderte!“ (BA 18, S. 338).
220
„Seinen Landsleuten/insbesonders/der alten ehrwürdigen Stadt Prag/widmet/diesen Dichtungsversuch/aus
der Geschichte seines Heimatlandes/mit treuer Liebe/Der Verfasser/Linz, im Christmonate 1864“ SW 11, S.7.
221
Bulang spricht in diesem Zusammenhang von Stifters „böhmische[n] Austroslawismus“. Bulang, Tobias: Barba-
rossa im Reich der Poesie: Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem
Kyffhäuser. Frankfurt (Main) u.a. 2003. S. 258.
Adalbert Stifter und der österreichische Ausschluss aus der deutschen Politik 109

Stifter, so Werner Hahl, „auf Verbrüderung der Nationalitäten ohne den damals üblichen deut-
schen Führungsanspruch“. 222
Die Handlung des Witiko kreist um den jungen Deutsch-Tschechen Witiko, der im Kontext
der staufischen Herrschaft Konrads III. (1138–1152) und Friedrichs I. Barbarossa (1152 bis 1190
römisch-deutscher König, 1155 bis 1190 Kaiser) unter seinem Lehnsherrn Wladislaw zu Anse-
hen und Macht kommt, bis er zum Schluss „Zupan von Prachem, Heerführer, Gesandter und
oberster Truchseß des Königreiches Böhmen“ (SW 11, S. 354) ist. Die Versöhnung von Deut-
schen und Tschechen wird in der Figur des Witiko repräsentiert: die Mutter Deutsche, der Vater
Tscheche, wächst der Junge nach dem frühen Tod des Vaters bei der Mutter in Bayern auf. Erst
20jährig kehrt er in die Heimat seines Vaters und seiner Vorfahren zurück, um sein Glück zu
suchen und zu finden (SW 11, S. 30). Die Freundschaft zu Friedrich Barbarossa, an dessen Seite
er im zweiten Italienzug kämpft, spiegelt die Idealvorstellung eines auf Loyalität und Treue ba-
sierenden Verhältnisses zweier Nationen. In der Freundschaft verkörpert sich Werner Hahl zu-
folge „der ideelle Zusammenhang des Romans, die Vereinbarkeit des nationalen und übernati-
onalen Prinzips, also die Reichsidee“ (Hahl, S. 441). Barbarossas Präsentation als Kaiser des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eröffnet eine Kontinuitätslinie, die von den Stau-
fern des Hochmittelalters bis zur Gegenwart der habsburgischen Dynastie reicht. „Deshalb ist
Stifters Barbarossa durchaus auch Österreicher, nicht im Sinne einer nationalen Prädestination,
sondern vielmehr in Sinne einer ontologisch legitimierten Macht, die im Laufe der Geschichte
auf Österreich übertragen wurde“ (Bulang, S. 261).
Trotz Stifters Verfahren der Archaisierung (vgl. Bulang S. 233 ff.) entfaltet er zeitgeschicht-
liche Bezüge und Parallelen. So besitzt die Darstellung der kriegerischen Intervention Barba-
rossas gegen das aufständische Mailand und ihre Beurteilung als die „eigentlichen Bösewich-
tern des Mittealters“ (Hahl, S. 455)223 eine aktuelle Spitze: Während der Niederschrift des
Witikos verlor Österreich mit der Schlacht von Solferino 1859 die Lombardei und mit der
Schlacht von Königgrätz 1866 seinen Sitz im Deutschen Bund. Einen Verweis auf das Tagesge-
schehen stellt Stifter auch durch die Darstellung der Intervention des deutschen Königs Konrads
III. für Herzog Wladislaw her, die nach Ansicht Wiesmüllers die unterlassene Hilfe Preußens im

222
Werner Hahl: Vom Gottesstaat Österreich – Stifters „Witiko“. In: Zemann, Herbert (Hrsg.): Die österreichische
Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert. Graz 1982. S. 439-464. Hier S. 440.
223
Friedrich hebt die Unehrenhaftigkeit und Eigennutz der Mailänder hervor, um möglichst viele seiner Unterta-
nen für den Krieg zu motivieren: „In Italien ist die große und mächtige und reiche Stadt Mailand durch Gewalt,
durch Kühnheit, durch Verrat, durch Frechheit und durch Verhöhnung aller göttlichen und menschlichen Ge-
setze die Beherrscherin des oberen Teiles des Landes geworden. Die Krämer, die Händler, die Handwerker der
Stadt sind tapfer, sie spotten aber jedes Rittertumes, jedes Kriegertumes, und möchten die Herren aller Dinge
sein. Und sie werden nach und nach die Herren der Dinge werden, wenn ihnen nicht Einhalt getan wird, und
sie werden wachsen, und nach uns allen greifen. Es ist daher ein Bund gegen sie entstanden. Friedrich, der
König der Deutschen, der auch in Rom zum römischen Kaiser gekrönt worden ist, der in Pavia die lombardische
Krone empfangen hat, und dessen Untertanin daher die Stadt Mailand ist, dessen Ansehen und Befehlen sich
aber die Stadt widersetzt, ist der Führer des Bundes. Alle deutschen Fürsten gehen mit ihm.“ SW 11, S. 266.
110 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Italienkrieg 1859 konterkariert. Die Aktualität des Witiko ist nicht nur die ereignisgeschichtli-
chen Zusammenhänge, sondern auch durch seinen entfalteten Handlungsraum evident. So
stellt Bulang fest, dass bereits die „historische Topographie […] wichtige Konfliktherde des 19.
Jahrhunderts ein[schließt], welche die politische Stabilität Österreichs innerlich und äußerlich
bedrohen.“ (Bulang, S. 257). Eine Bedrohung stellt für Stifter auch der Nationalismus dar, dem
er im Witiko ein Konzept der Ordnung entgegenstellt (vgl. Bulang, S. 265).
Stifters Darstellung der königlichen Macht im Mittelalter basiert auf einer charismatischen,
moralisch handelnden Kaiserfigur, die zwar von „Gottes Gnaden“ zur Herrschaft berechtigt
wird, aber wie alle anderen auch den Gesetzen untersteht:

„Durch die Gnade Gottes habe ich die Herrschaft erlangt, und durch sie ist mir aufgetragen,
die Guten zu schützen, die Bösen zu zügeln und zu strafen. Ich habe durch den Krieg die
Strafe vollzogen, jetzt muß ich im Frieden durch die Gesetze auch den Schutz vollführen.
Kein Herrscher darf tun, was er nur immer will, er muß herrschen, daß jedem sein Recht
unverkürzt verbleibt, dem Untertane und dem Könige. Das Recht der Untertanen zu den
Untertanen ist durch die Bemühungen der Könige, der Richter, der Lehrer und durch die
Anwendung geordnet, und niemand bestreitet es; die Rechte zwischen dem Könige und
den Untertanen sind oft dunkel, und bedürfen der Erhellung und der Bekräftigung. Nach
der Erhellung haben wir durch Untersuchungen gestrebt, die Bekräftigung werden wir
durch die Verkündigung und durch die Beschwörung erlangen. Dann wird nicht mehr über
die Gesetze allerlei geredet, sondern nach ihnen gehandelt werden.“
Es entstand ein großer Beifall über die Worte des Kaisers. (SW 11, S. 344)

Barbarossas Rede, die er auf dem Reichstag zu Mainz 1184 hält, fasst die Struktur und Ordnung
des Reiches zusammen, die von ihm als Legislativ-Organ ausgeht, von seinem Heer als Exekutive
durchgesetzt und von den Richtern als Judikative geordnet ist. Der Roman endet mit dem Main-
zer Hoffest, das Barbarossa als identitätsstiftendes, das Reich vereinendes Ereignis insze-
niert.224 Die auf familiäre und stammesverwandtschaftliche Beziehungen gestützten Maßnah-
men betreffen neben dem politischen Programm auch andere Ebenen der staatlichen Sphäre.
So dient der Reichstag nicht nur der politischen Beratung, sondern auch der Bestätigung und
Sicherung der parteilichen und familiären Beziehungen:

Witiko kam mit manchen Fürsten und Herren zusammen, und gelangte auch vor das Ange-
sicht des Kaisers. Bertha wurde von der Kaiserin in dem Kranze der Frauen, die um sie wa-
ren, geehrt.
Witiko und Bertha kamen auf dem Reichstage zu ihren Sippen, und ihre Sippen kamen zu
ihnen.

224
„In dem Jahre 1184 beschloß der Kaiser Friedrich einen sehr großen Reichstag abzuhalten. Er wollte ein Fest
feiern, weil der Streit im Reiche, der mit der Kirche, und der in Italien geendet war. Er berief alle, die kommen
wollten, auf Pfingsten nach Mainz. […] Weithin wurde von den außerordentlichen Festen in Mainz erzählt, und
es entstanden Lieder darüber, die in Deutschland gesungen wurden.“ (SW 11, S. 355, S. 358).
Anastasius Grüns Lyrik zwischen Krain, Österreich und Deutschland 111

Der Ritter vom Kürenberge und Heinrich von Oftering und andere kamen zu Witiko, und
saßen in dem Gezelte bei dem Becher, und sagten und sangen von einer noch größern
Vergangenheit, wie die Helden unverzagt in dem brennenden Saale gekämpft hatten.
Witiko ging auch wieder zu ihnen.
Es kamen auch seine andern Freunde aus Böhmen und Mähren, aus dem Lande Österreich
und aus andern deutschen Ländern zu ihm, und er kam zu ihnen. (SW 11, S. 357)

Der Textausschnitt zeigt, wie Stifter durch Parallelismen der Satzstruktur eine historische und
soziale Kontinuität entfaltet, die durch die Wechselseitigkeit der Beziehungen eine De-Hierar-
chisierung mit Tendenz zur Gleichberechtigung ausdrücken soll. So endet Stifters Roman auch
mit dem Verweis auf die Kontinuität des Geschlechts Witikos: „Er [Witiko, J. F.] hatte in späte-
ren Jahren noch eine große Freude, als sein Sohn Witiko auf dem Fels der krummen Au, die nun
zu Witikos Stamme gehörte, eine Burg zu bauen begann.“ (SW 11, S. 358).
Die im Witiko im Zentrum des Interesses stehende tschechische Nation zeugt von Stifters
multiple Identitätsebenen, die den in Böhmen geborenen Österreicher und deutschsprachigen
Autor beschäftigten. Auch Anastasius Grün war durch Herkunft und Sozialisation225 mit gleich
drei Nationalitäten, der slawischen, der österreichischen und der deutschen, konfrontiert. Fol-
gende Ausführungen stellen seine Auseinandersetzung mit dieser dreifachen Identitätsfrage
dar.

4.3. Anastasius Grüns Lyrik zwischen Krain, Österreich und Deutschland

In seinem 1849 verfassten Vorwort zu den Volksliedern aus Krain erfasst Grün die Bedeutung
des Volksliedes: Es werde bei „blut- und sprachverwandten Stämmen, seine individuelle Heimat
verleugnend, schnell Gemeingut […] und [klingt], die politische Grenze wenig achtend, unge-
bunden hinüber und herüber“ (GGW 5, S. VI). Nach Grün ist das seit Herder wiederbelebte
Volkslied bedeutungsvoll für die österreichische Identitätsvergewisserung, zumal der Nationa-
litätenkonflikt im Revolutionsjahr in den Unabhängigkeitsbestrebungen Ungarns, Böhmens und
der Slowakei eskalierte. Das gesteigerte Interesse an eigener wie ausländischer Volkspoesie sei
eng „mit den edelsten Bestrebungen und Kämpfen der Neuzeit“ (ebd.) – gemeint ist die Revo-
lution 1848/49 – verbunden. Grün stellt dabei einen „innigen organischen Zusammenhang des
Volksliedes als Volksstimme mit dem Volksleben und der Volksgeschichte“ fest, so dass sich
Medium und Adressat/Sender gegenseitig „erzeugen, tragen und bedingen“:

225
Die ersten Jahre wuchs er in der Unterkrain auf dem väterlichen Schloss Thurn am Hart auf. In den Jahren 1819
bis 1824 war er Schüler des Klinkowström Instituts, wo unter anderem der slowenische Dichter France Preŝeren
ihn unterrichtete.
112 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Wo sich ein selbständiges Volksleben ausgebildet hat, wird auch ein eigentümliches Volks-
lied klingen. Und wie sich das Volksleben in ein äußeres, öffentliches und in ein inneres,
häusliches teilt und trennt, so zerfällt entsprechenderweise auch das Volkslied in Fest- und
Helden- (historisch-epische) und in häusliche (lyrisch-idyllische) Gesänge. (GGW 5, S. VI)

Grüns Unterscheidung von öffentlichem und privatem Volkslied, dem er thematische und gat-
tungsspezifische Entsprechungen zuweist und die seiner Meinung nach auch für das kirchliche
Volkslied gelte,226 evoziert eine pragmatische Allgemeingültigkeit der Textsorte und seiner
Sammlung. Für Grün haben die Volkssagen und -lieder repräsentative Bedeutung als „Volk-
stimme“ und sind damit „politisch[e] Volkspoesie“ (GGW 5, S. XX), die im Fall Krains den Dua-
lismus zweier Nationen bzw. Kulturen, des Germanismus und des Slawismus offenlegen. Wäh-
rend die deutschen Lieder „die tiefwurzelnden Einflüsse germanischer Culturelemente“
beeinflussen, überwiegen bei den slawischen „die neuerwachten Ideen politisch-nationaler
Staatenbildungen“ (S. XXI). So stellt die Sammlung den Versuch Grüns dar, eine Verbindung
zwischen österreichischer und slawischer Kultur und Geschichte herzustellen.
Neben christlichen Botschaften227 seien die Volkslieder von den vielen militärischen Ausei-
nandersetzungen, insbesondere der Türkenkriege beeinflusst. Weil Krain durch seine geogra-
phische Lage Kampfschauplatz war und den Plünderungszügen der Türken in besonders hohen
Maße ausgesetzt war, ist die literarische Auseinandersetzung mit dieser Zeit wichtiger Bestand-
teil der nationalen Identitätskonstitution der Krainer:

Diese Epoche der ausdauerndsten und erbittertsten Kämpfe ist der Glanzpunkt der Lan-
desgeschichte, ihr gehören alle poetischen Erinnerungen an, ihr die Entwicklung eines ei-
genthümlichen kriegerischen Volkslebens und somit auch eines selbstständigen Volkslie-
des. Dieses nimmt die Helden, die es verherrlichen will, theils aus der Zahl einborener
Kriegsmänner und Abenteurer, größerentheils aber, bei dem Verschmelzen der eigenen
Landesgeschicke mit denen seiner Nachbarvölker, aus der Geschichte und Tradition der-
letztern. (GGW 5, S. IX)

Durch die kriegsbedingte Vermischung des Volkslieds eigener Tradition mit der der Nachbarna-
tionen entsteht eine internationale Volkskultur, die sich in den gemeinsamen Erfahrungen des
Krieges und der Überwindung des gemeinsamen Feindes228 als kollektive Erinnerungskultur

226
Vgl. GGW 5, S. VIf.: „Selbst das religiöse Volkslied, so gerne es überall seine himmlische Abkunft geltend machen
möchte, bequemt sich dieser irdischen Sonderung und tritt entweder als öffentliches (Kirchenlied) oder als
häusliches (einfach geistliches) Lied auf.“
227
Nach Grün versuchten die Geistlichen, weltlichen und heidnischen Einflüssen entgegenzutreten, indem sie „be-
liebten Volksweisen „geistliche Texte unterzuschieben“ versuchten (GGW 5, S. VI).
228
„In solcher Art knüpft das Volk an die Personen seiner Lieblingshelden ohne kritische Sichtung deren eigene
und fremde Eigenschaften, Handlungen und Erlebnisse, wie diese durch die Ueberlieferung zu seiner Kenntniß
gelangt sind. Das belebende Element jener, nach dem Gesagten wohl größtentheils dem 16. und 17. Jahrhun-
derte angehörigen romanzenartigen Lieder ist ein unersättlicher, oft in blutdürstige Grausamkeit ausartender
Anastasius Grüns Lyrik zwischen Krain, Österreich und Deutschland 113

manifestiert. Dabei entstanden die Krainer Volkslieder direkt im Kampfgeschehen und sind da-
her authentisch: Statt wie bei anderen Nationen das Volkslied als „stolzer Triumph- und Sieges-
gesang nach glanzvoll beendigten Kriegen, breit und feierlich dahinrauscht; so klingt […] Krains
Volkslied rasch und abgerissen, als kurze Romanze, als frisches Waffenlied, wie es Nachts am
Vorpostenfeuer von wachenden Kriegern gesungen zu werden pflegt“ (GGW 5, S. XIII). Diese
durch den Einzelnen erlebte Unmittelbarkeit verliert sich nach Grün im 18. Jahrhundert durch
den Aufbau stehender Heere, so dass sich die „Betheiligung des Einzelnen am Kampfe und mit-
hin auch die des Volksliedes“ stark abnahm.
Auch für das 19. Jahrhundert bescheidet Grün der Volkspoesie eine durch „Allgemeinheit
und Unbestimmtheit“ bestimmte Entwicklung, die aus „kümmerlichen Inspirationen ländlicher
Presbyterien, Schul- und Trinkstuben hervorgegangene Liederkunst“ (ebd.) besteht. Ausnahme
hiervon bilden die vierzeiligen Weisen („Vizen“), deren Ursprung in der Alpenregion liegt und
die eine enge Verbindung zur bayrischen und österreichischen Volksliedtradition aufweisen. In
einer Grenzregion entstanden, fehlt ihnen „das scharfe Gepräge nationaler Eigentümlichkeit“
(S. XVI). Von dieser „nicht sehr erhebliche[n]“ Ausnahme abgesehen, stellt Grün also den Nie-
dergang der Krainer Volkspoesie für die Gegenwart fest:

[D]as alte echte volksthümliche Lied hat längst aufgehört Gemeingut zu sein und fristet nur
noch in einzelnen erlesenen Individuen ein fragmentarisches Dasein. Und so möchte denn
beinahe, im Gegensatze zu dem einst in allen Landeskirchen angestimmten Gebete um Ab-
wehr des blutdürstigen Erbfeindes, heutzutage die Muse des krainischen Volksliedes in ih-
ren Tempeln um baldige Wiederkehr des liederweckenden Türken inbrünstig beten. (GGW
5, S. XVI)

Mit seiner Sammlung will Grün dem „allmähliche[n] Verstummen“ (GGW 5, S. XX) Einhalt ge-
bieten, wobei ihm wichtig ist zu betonen, dass er mit seiner Sammlung nicht nur die germani-
sche, sondern auch die slawischen Einflüsse der Gedichte würdigen will. Statt „dem einseitig
starren Festhalten des nationalen Parteipostens“ müssen „die höheren weltbeherrschenden
Losungsrufe der Menschheit“ gehört werden. Denn dass „die großen Fragen, welche die Mensch-
heit bewegen, nicht ohne Mitwirkung der mächtigen Slavenfamilie nachhaltig zu lösen sind, hat
in neuester Zeit das weithin vernehmbare Rauschen der alten und vielästigen Slavenlinde deut-
lich genug angekündigt“ (GGW 5, XXII).
Grüns ausführliches Vorwort lädt seine Sammlung – mehr als die gesammelten Gedichte
selbst – mit einer nationalen Bedeutung auf, mit der er ähnlich wie Stifter mit seinem Witiko
der politischen Suprematie der Deutschen im Habsburgerreich ein Stück slawischer Kultur ent-
gegensetzt.

Türkenhaß“ (GGW 5, S. XII). Dieser ist z. B. in den Gedichten König Marko (GGW 5, S. 93ff.) und Der König
Matjasch (Ebd., S. 110 ff.) besonders anschaulich geschildert.
114 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Die in den nächsten beiden Kapiteln zu untersuchenden Autoren, Ferdinand Kürnberger und
Ferdinand von Saar, haben keinen slawischen Ursprung wie Grün und Stifter, beide wurden in
Wien geboren. Ferdinand Kürnberger, von dem bereits im Kapitel 2.4 im Kontext der Amerika-
Auswanderung die Rede war, ist hauptsächlich für seinen Roman Der Amerika-Müde bekannt,
davon abgesehen liegt sein Erzählwerk im literaturwissenschaftlichen Dunkeln. Auch Fritz Mar-
tini ist der Meinung, dass Kürnbergers eigentliche Bedeutung „weniger in seinem schriftstelle-
rischen als seinem feuilletonistischen und literaturkritischen Schaffen“ liegt (Fritz Martini in
NDB 13, S. 233), weshalb dieses im Folgenden auf seinen nationalpolitischen Gehalt untersucht
werden soll. Denn, so Martini, als Feuilletonist wurde für Kürnberger „die Macht des öffentli-
chen Wortes […] zum politischen Handeln“ (ebd. S. 234).229

4.4. Ferdinand Kürnbergers politische Essayistik

Die acht Jahre, die Kürnberger in Folge der Revolution 1848/49 im deutschen Exil verbrachte,
hatten mit dazu beigetragen, dass er Deutschland näherstand als Österreich. Der österreichi-
sche Staatsapparat erschien ihm im Vergleich zu Deutschland rückständig, den Zusammen-
bruch des Vielvölkerstaats sagte er in seinen Artikeln mehrmals voraus.
So hätte Kürnberger zufolge das bereits angeschlagene Österreich mit der Niederschlagung
der 1848er Revolution und damit der nationalen und liberalen Bestrebungen seine Chance der
politischen Rehabilitierung verpasst:

Preußen ist mächtig und groß durch den Einheitsgedanken, Frankreich durch den selbst in
cäsarischer Entstellung noch erkennbaren demokratischen Gedanken. Beide Gedanken hat
Oesterreich im Jahre 1848 zu Boden geworfen und seitdem – ruhig auf dem Boden liegen
gelassen. Der Reichstag von Kremsier, welcher die Einheit und Freiheit Oesterreichs reprä-
sentierte, wurde gesprengt und – nichts an seiner Stelle gesetzt. […] Mit einem Worte,
damals wären aus den in Oesterreich wohnenden Völkern „Oesterreicher“ geschaffen wor-
den, – damals und nicht wieder! Die Frist ging verloren. (KGW 1, S. 30)

Der „konservativ[e] Stillstan[d]“ Österreichs wurde Kürnbergers Ansicht nach durch die Gegen-
revolution verstärkt, genau wie durch die Ablehnung des für damalige Verhältnisse erstaunlich
modernen Kremsierer Verfassungsentwurfs von 1848, der Volkssouveränität, Gewaltenteilung

229
Vgl. dazu Kürnberger Einschätzung in seinem Vorwort zu seiner Sammlung Siegelringe: „Die Hälfte, ja die grö-
ßere Hälfte dieser Sammlung sind politische Feuilletons. Als solche haben sie sich, wie z.B. unter Belcredi und
Hohenwart, gelegentlich an politischen Kämpfen beteiligt, und diese Kämpfe waren einst – Titanenkriege, sind
aber heute – Froschmäuslerkriege.“ (KGW 1, S. 3)
Ferdinand Kürnbergers politische Essayistik 115

und eine föderalistische Struktur vorsah. Letztere Maßnahme sah als Lösung für das Nationali-
tätenproblem die Einteilung größerer Länder in national homogene Kreise,230 national ge-
schlossene Wahlkreise und ein nationales Schiedsgericht vor.
Für Kürnberger war Deutschland (bzw. Preußen) politisches Vorbild, für das er in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Liberalisierung der konservativen Kräfte konstatierte: Wäh-
rend die Revolution 1848 noch vom Volk bewirkt wurde, ginge Mitte der 1860er „der Aufstand
gegen die alte Ordnung der Dinge […] von den Thronen selbst aus“.231 Daher sei der „Gegensatz
zwischen Garibaldi und Bismarck […] der Hauptsache nach gleich Null geworden. Der Premier-
minister einer alten Gottesgnaden-Dynastie und der republikanische Volksagitator haben ihre
Monarchen gleichmäßig vorwärts getrieben, einen Gedanken der Neuzeit zu vollziehen, den
Einheitsgedanken“ (KGW 1, S. 29).
Dementsprechend wurde er 1871 „von der preußischen Kriegsbegeisterung mitgerissen“.232
Der Deutsche habe „ein großes, ruhmvolles Mutterland, dort draußen, wo ich nicht mehr Vater
bin. Dieses Glück ist seine tragische Schuld“.233 Kürnbergers Einsicht in die Faktizität der Ereig-
nisse verweist auf die Ambivalenz seiner nationalen Identität, die er als Bild der Familie, aus der
er als Österreicher fortan ausgeschlossen ist, darstellt und zwischen (deutscher) Maternität und
(österreichischer) Paternität verortet. Der Verweis auf Deutschlands Schuld bezieht sich auf
den österreichischen Ausschluss aus dem Deutschen Bund 1866, ohne den eine Einigung der
deutschen Staaten nicht möglich gewesen wäre.
Und doch befürwortete Kürnberger, im Gegensatz zu Grillparzer und Stifter, den deutsch-
deutschen Krieg, ja er sah in ihm die Chance für eine Neukonstituierung Österreichs. In dem
Aufsatz Das Lob des Krieges (Juni 1866) äußert er die Hoffnung, dass die „Verfassung von Oes-
terreich und Deutschland, – das 70 Millionenreich zwischen dem Rhein und dem Pruth, […] aus
diesem Kriege oder dieser Kriegsreihe für immer geordnet hervorgehen“ müsse. Denn der
preußisch-österreichische Krieg fiel „mit dem permanenten Kriegszustand der inneren Verfas-
sungswirren dergestalt zusammen […], daß der erstere dem letzteren fast Luft machen zu kön-
nen schien“ (KGW 1, S. 4). Tatsächlich hatten die in Folge des Deutschen Krieges beschlossene
Dezemberverfassung und der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 (nach bereits sechs
Verfassungsänderungen seit 1848) bis zum Ende der Doppelmonarchie 1918 Gültigkeit.

230
Aus der Kremsierer Verfassung, Paragraph drei: „Galizien und Lodomerien sammt Krakau wird in zehn, Böhmen
in neun, Mähren in vier, Oesterreich unter der Enns in drei, Tirol sammt Vorarlberg in drei (Deutschtirol,
Wälschtirol, Vorarlberg), Steiermark in zwei Kreise eingetheilt. Die Abgränzung dieser Kreise wird mit möglichs-
ter Rücksicht auf Nationalität durch ein Reichsgesetz festgestellt. Ein jedes der übrigen Reichsländer bildet
einen Kreis.“
231
Kürnberger: Historische Postationen. 11. Juli 1866. In KGW 1, S. 28.
232
Andreas Wildhagen: Das politische Feuilleton Ferdinand Kürnbergers. Frankfurt (Main) 1995. S. 32.
233
In: Politischer Allerseelentag. KGW 1, S. 192. Weiter schreibt er in Beziehung zu Ungarn: „Hier aber steht mein
getreuer Waffenbruder, hier steht der gute, treue Ungarsmann, der kein anderes Mutterland mehr hat als mich
allein. […] Es ist ein tieferer Sinn, der uns aufeinander aufweist. Das Schicksal will´s. Wir henken einander, wir
entthronen einander, aber wir brauchen einander.“
116 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Kürnberger konnte die „schmerzlich späte“, militärisch entschiedene kleindeutsche Lösung


befürworten, weil er die preußische Suprematie in Deutschland nicht fürchtete: „Preußen i n
Deutschland und Oesterreich m i t Deutschland!“ (KGW 1, S. 95). Der Autor löste für sich den
inneren Konflikt der „doppelten Loyalität“ (R. Zeller, S. 461), indem er Österreich und Deutsch-
land als Partner begriff. Neben der innenpolitischen Konstituierung hatte die nationalstaatliche
Trennung nach Ansicht des Autors auch eine außenpolitische Stärkung zur Folge. In seinem im
Juli 1866 verfassten Aufsatz Das Glück ist rund versucht Kürnberger die Antipathien gegenüber
Preußen auf Frankreich zu lenken, indem er den Vorteil der durch den deutschen „Bürgerkrieg“
(KGW 1, S. 49) gewonnenen Machtstellung Preußens hervorhebt. Denn es müsse für die groß-
deutschen Anhänger tröstlich sein zu sehen, wie

das Bild der Schmerzen beim französischen Erbfeinde sich als ein Bild von Glanz und Größe
objektiviert; […] wenn sie diese Nation, welche uns vor ihrem Congresse wie vor einen Rich-
terstuhl fordert, auch einmal selbst bangen und fürchten sehen, und zwar bangen und
fürchten vor Deutschland; so werden die Deutschen die Wunde des Bürgerkrieges viel-
leicht weniger fühlen und deutsche Mütter und Bräute ihre Thränen williger trocknen.
(KGW 1, S. 48 f.)

Trotz des Ausschlusses Österreichs aus der deutschen Politik entfaltet Kürnberger einen ge-
meinsamen (Sprach-)Raum, „Deutschland“, indem er ihn dem französischen Feindbild exklusi-
onistisch gegenüberstellt, durch das entworfene Fremdbild das nationale Selbstbild konstitu-
iert und durch Familiarismen emotionalisiert. Mit dem Ausgang des Deutsch-Französischen
Krieges 1870/71 ist für Kürnberger der verlorene Krieg von 1859 gegen das mit Italien verbün-
dete Frankreich gerächt: „Daß aber diejenigen, welche Österreich geschlagen, vom deutschen
Schwerte selbst wieder geschlagen, daß unsere Besieger besiegt werden […] – das ist mehr, als
eine Menschenbrust aufnehmen kann.“ Aus diesem Grund ist Bismarck für Kürnberger der
„Messias“ Österreichs, der 1870 durch die deutschen Eroberungen von Elsass und Lothringen
die „Sieger von Magenta und Solferino [d. i. Frankreich, J. F.] auf ihrem eigenen Boden wieder
ihr Magenta und Solferino“234 hat erleben lassen.

4.5. Ferdinand von Saars Gedichte Germania und Austria235

Der für seine Sozialkritik bekannte Ferdinand von Saar (vgl. Kapitel 1.4) verfasste zwei Dutzend
Festdichtungen, Hymnen und patriotische Lobgedichte, meist zu Ehren großer Künstler

234
Am 21. August 1870. Ferdinand Kürnbergers Briefe an eine Freundin. S. 92 f.
235
Entstanden zwischen 1880 und 1890. Nach Bruckmüller sind die beiden Gedichten nicht genau datierbar. Bruck-
müller, S. 302.
Ferdinand von Saars Gedichte Germania und Austria 117

(Grillparzer, Mozart oder Grün)236 oder Herrscherpersönlichkeiten aus dem Haus Habsburg. Die
panegyrischen Gedichte betonen dabei immer die väterliche bzw. mütterliche Figur des
Monarchen, um eine emotional aufgeladene Verbindung zwischen Herrscher und Volk
herzustellen.237
Neben diesen Auftragsarbeiten setzte sich von Saar in seiner Lyrik mit seiner deutsch-kultu-
rellen und österreichisch-nationalen Identität auseinander. Die beiden in unmittelbarer Folge
aufeinander bezogenen Gedichte Germania und Austria (Entstehungsdatum unbekannt) sym-
bolisieren als allegorische Figuren Deutschland und Österreich; eine Antropomorphisierung der
Nation, die weiblich ausgerichtet ist.238 In dem im freien Vers verfassten Gedicht Germania
richtet das artikulierte Ich das Wort an das deutsche Volk, so dass dem „Ich“ einem „Du“, dem
Adressaten, gegenübersteht:

O wie liebt´ ich dich einst, jetzt so gewalt´ges Volk


Als uneinig du noch träumtest von Einigung –
Und von Rotbarts erwachen,
Der da still im Kyffhäuser schlief;

Als du gern noch gelauscht Liedern voll keuscher Glut,


Deinen Eichen verglichst fromm die german´sche Treu´,
Und in leuchtender Reinheit
Deine Frau´n sich den Sinn bewahrt. (SSW 2, S. 181)

Die ersten beiden Strophen rühmen einen vergangenen Zustand Deutschlands vor der Reichsei-
nigung, in dem es – nach Meinung des Ichs – noch moralische Werte besaß, die in der fiktiven

236
Grillparzer. Bei der Enthüllung des Denkmals in Wien am 23. Mai 1889 (SSW 2, S. 220 f.) – Mozart. Zur Enthüllung
seines Standbildes in Wien am 21. April 1896 (SSW 2, S. 223 f.)– An Anastasius Grün. Zum 11. April 1876 (SSW
2, S. 85).
237
Vgl. z. B. im Sängergruß. Festhymne zur ersten Jahresfeier des Wiener Festzuges anläßlich der silbernen Hochzeit
des österreichischen Herrscherpaares. 29. April 1880:
[…]Wo auf goldner Morgenwolke
Schwebte Habsburgs Doppelaar
Und ein jedes Herz im Volke
Jubelnd schlug dem Herrscherpaar.
Von der Hymne, sehr verrauschend
Klang es in den Lüften fort;
Doch die Sänger hörten lauschend
Ihres Kaisers mildes Wort (SSW 3, S. 103)
Vgl. außerdem Maria Theresia. Anläßlich der Enthüllung des Denkmals in Wien am 13. Mai 1888 gesprochen im
k.k. Hofoperntheater von Adolf Sonnenthal (SSW 3, S. 214 f.) und Unserm Kaiser. Zum fünfzigjährigen Regie-
rungsjubiläum, 2. Dezember 1898 (SSW 3, S. 106 f.). Außerdem Erzherzog Albrecht. Aus Anlaß der Enthüllung
des Denkmals in Wien: 21. Mai 1899 (SSW 2, S. 114 ff.).
238
Vgl. dazu Selma Krasa-Florian: Die Allegorie der Austria. Die Entstehung des Gesamtstaatsgedankens in der ös-
terreichisch-ungarischen Monarchie und die bildende Kunst. Wien u. a. 2007. Und: Bettina Brandt: Germania
und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Göttingen u. a. 2010.
118 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Gegenwart des Gedichts nicht mehr vorhanden sind. Von Saar bedient zur Unterstreichung sei-
ner Argumente gleich mehrere Strategien der zeittypischen nationalen Identitätskonstruktion:
die Eiche als das deutsche Nationalsymbol, deutsche Treue und Frömmigkeit, traditionell-typi-
sierte Charaktereigenschaften der Deutschen, sowie die Sage vom schlafenden Kaiser Barba-
rossa im Kyffhäuser, die sich im 19. Jahrhundert zum Nationalmythos entwickelte.239 Während
die mittleren zwei Strophen ebenfalls die Kritik an der Gegenwart durch Gegenüberstellung
einer besseren Vergangenheit artikuliert, versetzen die beiden Letzten den Leser aus der Ver-
gangenheit in die erzählte Gegenwart:

Sieghaft, drohenden Blicks, starrst du von Waffen nun,


Und Europa gehorcht, wenn du auch nicht befiehlst;
Deine grimmigsten Feinde,
Niederhält sie die bleiche Furcht.

Ja, man fürchtet und preist weithin des Reiches Macht,


Doch man beugt sich nicht mehr willig dem deutschen Geist –
Und wer preist noch – du selbst nicht! –
Deutsche Liebe und deutsches Herz? (SSW 2, S. 181)

Die Jetztzeit („nun“) ist geprägt von der Bedrohung durch Deutschland, die durch das dualisti-
sche, vertikale Verhältnis von Herrscher und Beherrschten, Sieger und Besiegten markiert ist.
Die letzte Strophe gestaltet erneut den Nexus von Vergangenheit und Gegenwart oppositiv,
indem sie mit Verweis auf eine weitere typisch deutsche Charaktereigenschaft, das deutsche
Gemüt, emotiv argumentiert.
Während von Saars Gedicht Germania nach Meinung Dietmars Goltschniggs „Bedenken ge-
gen die wirtschaftliche und politische Expansion des Reiches“ artikuliert, stellt das Gedicht Aus-
tria den Versuch dar, „ein eigenständiges österreichisches Nationalbewußtsein auszubilden, in
der schwachen Hoffnung, das lose Staatsgefüge der Doppelmonarchie vor dem drohenden Zer-
fall zu bewahren.“240 Es ist ebenfalls von einer pessimistischen Einstellung geprägt, aber statt
der negativen Vitalität der deutschen Sieger wird diesmal die Passivität der österreichischen
Agonie beklagt:241

239
Im Sinne Dörings war der Barbarossa-Mythos sowohl ein politisch-sozialer Mythos, der als „Autorepräsentation
einer Gemeinschaft“ fungierte als auch ein normativer Mythos, der die „Verbindlichkeit grundlegender Werte
und Normen“ sicherstellte (Döring, S. 75).
240
Dietmar Goltschnigg: Vorindustrieller Realismus und Literatur der Gründerzeit. In: Žmegač, Viktor (Hrsg.): Ge-
schichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 2/1. Frankfurt (Main) 1992. S. 1-
108. Hier S. 52.
241
Griseldis Wagner ordnet die Ode als Widerruf von Saars Gedicht An Ehren und an Siegen reich, das ein „Mus-
terbeispiel für staatstreues Herrscherlob“ darstelle. Austria sei dagegen ein Beispiel der kritischen Reflexion
seiner staatlichen Auftragsdichtungen, die die politische Realität des Habsburgerreichs wiedergibt. Vgl. Wag-
ner: Harmoniezwang und Verstörung: Voyeurismus, Weiblichkeit und Stadt bei Ferdinand von Saar. Tübingen
2005. S. 230, S. 223 ff.
Ferdinand von Saars Gedichte Germania und Austria 119

Trauernd senk ich das Haupt, o du mein Österreich,


Seh´ ich, wie du gemach jetzt zu zerfallen drohst,
Vom unendlichen Reiche
Karls des Fünften der letzte Rest. (SSW 2, S. 182)

Die beschworene Glanzzeit geht auf den letzten römisch-deutschen Kaiser Karls V. zurück, der
als mächtigster Herrscher der Habsburger galt, dessen Politik einer Universalmonarchie jedoch
scheiterte. Das Gedicht begründet die fehlgeschlagene Einigung als Nation mit den unter-
schiedlichen Interessen der Völker innerhalb des Habsburgerreichs und dem Separatismus der
nichtdeutschen Länder:

Freilich, niemals ein Volk war deiner Völker Schar,


Niemals warst du für sie wirklich ein Vaterland:
Österreicher im Herzen
Fühlte stets sich der Deutsche nur. (SSW 2, S. 182)

Hier sieht von Saar die Unzulänglichkeit des Habsburgerreichs, aus einem, verschiedene Spra-
chen, Kulturen und Ethnien fassenden Vielvölkerstaat eine Nation zu bilden. Von Österreich als
Nation könne daher nur für das deutschsprachige Gebiet des Habsburgerreichs gesprochen
werden. Trotzdem stilisiert das Ich die Pluralität des Habsburgerreichs als Besonderheit, da die
verschiedenen Nationalitäten ein Alleinstellungsmerkmal in Europa darstellen: der „farbige
Strauß […] Europas“ formiere, und damit macht von Saar aus der Not eine Tugend, „[i]n der
Vielfalt ein Ganzes“. Doch das negative Urteil überwiegt:

Was du lässig versäumt, was du verschuldet auch:


Edel warst du doch stets, o du mein Österreich –
Und nun willst du vernichten
Mit dir selber im Kampf dich selbst?... (SSW 2, S. 182)

Die Einsicht in die selbstzerstörerische Kraft der innenpolitischen Probleme Österreichs, die sei-
nen Zerfall verursachen, lässt das Ich als Frage im Raum stehen. Eine Antwort gibt es nicht –
oder muss der Leser selbst finden.

Die Betrachtung der österreichischen Autoren hat trotz der Diversität ihrer politischen An-
schauungen gezeigt, dass sie alle sich mit Deutschland als Sprach- und Kulturgemeinschaft mit
einer gemeinsamen, konstruierten oder tatsächlichen Vergangenheit identifizierten. Stifter
verarbeitete den österreichisch-preußischen Dualismus literarisch als Brudermotiv, um die
großdeutsche Utopie auch über die Realität der politischen Ereignisse hinweg zu erhalten. Wie
Stifter empfand auch Grillparzer die politische Trennung Österreichs und Deutschlands als per-
sönliche Krise, die zur Infragestellung seiner doppelten politisch-kulturellen Identität führte.
120 Österreichische Literatur im Spannungsraum der Nationalitäten

Die Verunsicherung seines nationalen Selbstverständnisses reflektierte der Autor vornehmlich


in Aufsätzen und Epigrammen, die sich inhaltlich auf das politische Tagesgeschehen bezogen.
Auch Kürnberger besprach die politischen Ereignisse von 1866 und 1871 zeitnah in seinen Auf-
sätzen, in denen er im Gegensatz zu Stifter und Grillparzer die kleindeutsche Lösung unter Aus-
schluss Österreichs begrüßte. Von Saar stellt in seinen beiden Gedichten lange nach der Reichs-
gründung die entgegengesetzten Entwicklungen Deutschlands und Österreichs (Potenz versus
Agonie) fest, wobei er den Verlust des Deutschen Bundes noch immer bedauert. Indem Grün
durch seine Sammlung Krainer Volkslieder versucht, zwischen deutsch-österreichischer und
slawischer Kultur zu vermitteln, nivelliert er den Dualismus Preußen – Österreich, um ihn durch
den gemeinsamen germanischen Ursprung zu ersetzten.

Der folgende Exkurs behandelt die italienische Einigungsbewegung, die analog zur deutschen
verlief, aus der Sicht der deutschsprachigen Autoren. Das Jahr 1859, in dem der Zweite Italie-
nische Unabhängigkeitskrieg stattfand, hatte dabei besondere Bedeutung für die Zeitgenossen,
die Text- und Autorenauswahl spiegelt inhaltlich diese Zäsur wider.
5. Exkurs: Das Risorgimento in Italien

Für die Entwicklung des italienischen Nationalstaats war wie in Deutschland die „Verwendung
einer etablierten, hochkultivierten Sprache und ihrer Literatur“ dominierend, „[s]ie allein schuf
Deutsche oder Italiener“ (Hobsbawm, S. 122 f.). Die italienische, zwischen 1815 und 1870 agie-
rende Einigungsbewegung, das sogenannte Risorgimento (italienisch: „das Wiederaufleben,
das Wiederaufblühen“), erhielt bereits im Vormärz Bedeutung als agitatorisches und organisa-
torisches Vorbild für die deutsche Nationalbewegung.242 So stand für das 1834 im schweizeri-
schen Exil gegründete Junge Deutschland der von Guiseppe Mazzini243 1831 ins Leben gerufene
Geheimbund Junges Italien Pate, der sich für eine einige und unabhängige Republik Italien ein-
setzte.244 Neben Mazzini war Guiseppe Garibaldi (1807-1882) für die italienische wie auch für
die deutsche Einigungsbewegung eine vorbildhafte Charakterfigur des Kampfes nach Freiheit
und Einheit.245 Im Revolutionsjahr 1848 entwickelten sich die Unruhen in Italien zum ersten
von drei Unabhängigkeitskriegen, der jedoch nach anfänglichen italienischen Erfolgen vom
Habsburgerreich gewonnen wurde. Das Jahr 1859 war auch in Italien eine wichtige Zäsur für
die nationale Einigungsbewegung: der Zweite Italienische Unabhängigkeitskrieg brachte den
Sieg über Österreich und ebnete damit der Gründung des italienischen Nationalstaats den Weg.
Den beiden kriegsentscheidenden Schlachten von Magenta und Solferino am 4. und 24. Juni
1859 folgte am 11. Juli der Vorfriede von Villafranca. Der schlussendliche Frieden von Zürich
wurde auf den 10. November, den hundertsten Geburtstag Friedrich Schillers gelegt. Das Fest-
programm der Zürcher Schillerfeier wurde von den beiden Alt 48ern und deutschen Exilanten
Georg Herwegh und Friedrich Theodor Vischer mitgestaltet.246 Sowohl Herweghs Prolog als
auch Vischers Rede beziehen sich auf das aktuelle Tagesgeschehen, indem sie in naturgewalti-
gen Freiheitsmetaphern die italienische Emanzipation als moralische Erhebung mit historischer

242
Zum Risorgimento vgl. z. B. das Buch von Francesco Traniello und Gianni Sofri: Der lange Weg zur Nation: das
italienische Risorgimento. Stuttgart 2012. Sowie: Birgit Pauls: Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politi-
scher Mythos im Prozeß der Nationenbildung. Berlin 1996. Außerdem den Sammelband von Silvana Patriarca
und Lucy Riall: The Risorgimento Revisited: Nationalism and Culture in Nineteenth-Century Italy. Basingstoke u.
a. 2012.
243
Vgl. zu Mazzinis politisches Programm den Aufsatz von Rosario Romeo: Mazzinis Programm und sein revoluti-
onärer Einfluß in Europa. In: Birke, Adolf M./Heydemann, Günther (Hrsg.): Die Herausforderung des europäi-
schen Staatensystems: nationale Ideologie und staatliches Interesse zwischen Restauration und Imperialismus.
Göttingen/Zürich 1989. S. 15-30.
244
Der Geheimbund Junges Deutschland wandelte sich rasch zu einem Handwerkerverein, so dass bereits 1836
„bis ins Zentralkomitee hinein […] ein fast geschossener Handwerkerverbund mit republikanischen Zielen ge-
worden [war], der sich dann auch entschieden von Mazzini und seinem Jungen Europa trennte.“ Aus: Gerhart
Baron: Der Beginn. Der Anfang der Arbeiterbildungsvereine in Oberösterreich. Linz 1971. S. 15.
245
Vgl. zur Rezeption des Risorgimentos in Deutschland: Ronald Richter: Garibaldis „Zug der Tausend“ in der Dar-
stellung der deutschen Presse: am Beispiel der Preußischen Jahrbücher, der Augsburger Allgemeinen Zeitung
und der Neuen Preußischen Zeitung. Frankfurt (Main) u. a. 2011.
246
Herwegh, der seit 1843 das Bürgerrecht des Kantons Baselland besaß, lebte seit 1851 wieder in Zürich, Vischer
arbeitete seit 1855 als Dozent an der Züricher Universität.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018


J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_5
122 Exkurs: Das Risorgimento in Italien

Notwendigkeit bewerten. Aus der Finsternis, so Herwegh, strebe „ein Volk jetzt aufwärts“ in
die Freiheit, die „die Flut der Weltgeschichte“ sei.247 Vischer erfasst den Freiheitsbegriff eben-
falls durch das analoge semantische Wortfeld. „[W]o Nationen sich befreien“ nehme der „große
Menschen-Ocean, das Völkergewimmel, […] die gewaltige Wucht unendlicher Bedingungen
und Folgen im großen weiten Zusammenhang Alles den ernsten Zug der Nothwendigkeit an
[und stellt sich] heraus aus der Enge des Lebens auf ein höheres Postament.“248 Beide Autoren
verwenden Schillers Drama Wilhelm Tell zur kulturhistorischen Rückbindung und Legitimierung
der Ereignisse. Herwegh spricht dem Tell eine nationalidentifikatorische Funktion für die
Schweizer zu und stilisiert so Schiller zum freiheitsverkündenden „Prophet[en]“ (Herwegh, S.
12). Die nationale Mythisierung überträgt er dabei auf die italienische Einigung: „Tells Dichter
wird ein Volk nicht schuldig sprechen, / Das endlich ‚selber sich befreit‘“ (Herwegh, S. 13). Schil-
ler wird hier – da kanonisierter Autor – als Verteidiger der Freiheit aufgerufen, um die italieni-
sche Emanzipation nicht als anarchisch-radikale Tat, sondern als moralisch gerechtfertigte Ent-
wicklung zu vermitteln. In diesem Sinne verweist auch Vischer auf die nationale Bedeutung des
Tells. In seinem Drama habe Schiller die erste Befreiung einer Nation dargestellt, „[w]o Vater-
land, geschloßne, liebe Heimath und das reine allgemeine Menschengut, die Freiheit, sich zu
Einem verbinden“ (Vischer, S. 16).
Die in beiden Festbeiträgen vorgenommene Bestimmung Schillers als moralische Instanz im
Kontext des Risorgimentos zeigt, wie das Fest durch den Friedensschluss in der Stadt von der
italienischen Einigung geprägt und politisiert war. Das Schillerjubiläum wurde als Abschluss des
Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieg genutzt und verwies auf die spätere Entwicklung,
bei der das Risorgimento (wieder) den Charakter einer Volksbewegung annahm: Die Volksab-
stimmungen in den noch verbliebenden österreichischen Gebieten Italiens im März 1860 und
der von Garibaldi angeführte „Zug der Tausend“ im Mai desselben Jahres zeugen davon.

Wilhelm Raabes politische Aktivität wurde durch seine Bildungsreise 1859 initiiert und war stark
von den Kriegsereignissen des Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieges beeinflusst. Na-

247
Georg Herwegh: Die Schillerfeier in Zürich. Prolog für die Fest-Vorstellung im Theater am 10. November 1859.
Zürich 1859. S. 6. Im Folgenden als „Herwegh“ bezeichnet.
248
Friedrich Theodor Vischer: Rede zur hundertjährigen Feier der Geburt Schillers. Zürich 1859. S. 8. Im Folgenden
als „Vischer“ bezeichnet.
Exkurs: Das Risorgimento in Italien 123

hezu jeder Brief an die Mutter erwähnt Raabes Begegnung mit den militärischen Aufmär-
schen.249 In Wien und Prag erlebte er die militärischen Schwächen der sich zum Zeiten Italieni-
schen Unabhängigkeitskrieg rüstenden österreichischen Armee.250 Die Nachricht von der
Schlacht von Magenta vom 4. Juni 1859, die in seinen Wiener Aufenthalt fiel, war dabei die
eindrücklichste Erfahrung: „[Ich sah] eines Tages, aus dem Esterhazykeller in die heiße Juni-
sonne heraufsteigend, die Stadt in Bestürzung über Magenta […]. Die Straßenbilder von damals
stehen mir noch heute deutlich vor der Seele.“251 In seiner letzten Erzählung Altershausen
(1810) verarbeitet Raabe die Emotionalität der Situation dichterisch:

An einem wolkenlosen Junitag stieg der Studierende der Medizin zu Wien aus der kühlen,
dunkeln Tiefe des Esterhazykellers in den heißen, blendenden Mittag im Haarhof hinauf,
von dem bepelzten Mann am Schanktisch, dem Pfiff Süßen und den Pfiff Herben in diese
glühenden Gassen voll Sonnenlicht, <voll> in Hast aufgerissener Fenster bis zu den höchs-
ten Stockwerken, voll aufgeregter, angstvoller, zorniger Menschengesichter; ‚Magenta!‘
(BA 20, S. 258)

Indem der Text den Zustand in Wien oppositiv vor und nach der Nachricht vom Ende des Krie-
ges darstellt („kühlen, dunkeln Tiefe“ vs. „heißen, blendenden Mittag“ und „glühenden Gassen“

249
18./19. April 1859:„Von meinem neuesten Buch habe ich 6 Druckbogen fertig, trotz Krieg und Kriegsgeschrei“
(BAE 2, S. 32); 15. April: „Keil will mich schrecklich gern als seinen Berichterstatter nach dem Kriegsschauplatz
schicken u jede Woche einen Aufsatz haben. Allzu nah dem Feuer zu gehen, soll aber etwas ungesund sein! Bis
Triest werde ich wohl kommen; grade recht zum Bombardement. […] Heute werden hier 15 000 Östreicher
erwartet, welche nach Mainz gehen; kein Gott kann Heinrich Jeep helfen vom Tornistertragen. Vergeßt nicht,
gleich nach der Kriegserklärung wenigstens etwas baares Geld einzuziehen!“ (S. 34); 5. Mai: „Der Waffenlärm
geht hier immer fort; die letzten Tage kamen unter meinem Fenster vorbei durch das Leipziger Thor die Einbe-
rufenen zu Hunderten gestern u heute marschirte die Infanterie in die Cannonirungen zum sofortigen Aufbruch,
wenn die Zeit da ist“ (S. 36); 15. Mai„…nach Tetschen in die goldne Krone, wo es von italienischen Soldaten des
Regiments Wernhard wimmelte. […] Jetzt bin ich hier in Prag […] Dazu kommt der Kriegslärm, die Geschützzüge,
Pferdezüge etc etc in den engen Straßen – es ist ein seltsames Durcheinander“ (S. 38); 9. Juni: „guter Dinge,
trotz der Schlacht am Ticino! - Ich bin drei Wochen in Wien geblieben […] Prozessionen, Paraden, Durchmärsche
von Freiwilligen etc. etc. alles hab ich durchgemacht“ (S. 39); 19. Juni: „Ich bin ungeheuer wohl u in Folge der
preuß. Mobilmachung auf der Heimreise. […] der Krieg wird uns nichts thun!“ (S. 41).
250
Im Schüdderump (1870) reflektiert Raabe über die militärischen Verhältnisse in Wien: „nämlich trotz allem und
allem ist es meine feste Meinung, daß man Krodebeck und den Lauenhof nicht von Wien aus regieren kann; die
Infanterie versteht kein Deutsch, und es wird zwar deutsch kommandiert, aber geflucht muß italienisch, pola-
ckisch und böhmisch werden“ (BA 8, S. 280). Auch in Prag fiel Raabe die Multikulturalität des Heeres auf, wie
er in sein Tagebuch schreibt: „In Prag liegt ein ungarisches, ein böhmisches und ein italienisches Regiment“ (BA
9/1, S. 444). In der Erzählung Holunderblüte, die auf den Erlebnissen in Prag basiert, heißt es: „Die ungarischen
Grenadiere auf der Wache am Rathause wurden von Italienern abgelöst“ (ebd. S. 100). Wilhelm berichtet:
„Dann erzählte mir Raabe von seinem Prager Aufenthalt während des Nepomukfestes 1859. […] Prag habe
damals schon im Zeichen des Kampfes gestanden. Gott sei Dank gebe es jetzt das Deutsche Reich, und die
gemeindeutsche Gesinnung böte den einzigen Lichtblick in ihrer traurigen Lage“ (in BAE 4, S. 191).
251
Am 13. September 1904. BAE 2, S. 454. Der Tagebucheintrag vom 6. Juni 1859 vermerkt: „Im Esterhazykeller.
Die erste Nachricht von der Schlacht bei Magenta.“ In: Oppermann, Hans: Wilhelm Raabe: mit Selbstzeugnissen
und Bilddokumenten dargestellt. Hamburg 1984. S. 50.
124 Exkurs: Das Risorgimento in Italien

etc.) und sie zusätzlich durch eine repetierende Klimax dramatisiert („heiß“, „blendend“, „glü-
hend“), schafft er eine von Aufregung und Angst gespannte Atmosphäre. Der anthropomorphi-
sierende Vergleich von der Hitze des Tages und der Hitze der Gemüter verweist dabei auf einen
inneren Zusammenhang der Ereignisse. Die Eindrücke der Kriegsnachricht verarbeitet Raabe
später in seinem Roman Gutmanns Reisen, indem er die Figur Alois Pärnreuther, ein österrei-
chischer Alt-48er, in die gleiche Situation versetzt:

Du kennst den Esterhazykeller in Wien nicht; aber ich kenne ihn. Darin hat er [Alois Pärn-
reuther, J. F.], in einen Pelz vermummt, unterirdisch bei trübem Ampelschein seine hei-
matliche Existenz von neuem begründet und Süßen und Herben ohne Unterschied der po-
litischen Richtung verschenkt. Bis sich die Gemüter vollkommen beruhigt hatten und er
wieder mit seinem braven, lachenden Gesicht ins volle helle Tageslicht steigen konnte. (BA
18, S. 279 f.)

Indem Raabe die politische Konsequenz der Schlacht, nämlich den Ausschluss Österreichs aus
dem Deutschen Bund affirmativ als annehmbaren Neubeginn gestaltet und damit marginali-
siert, nimmt er klar die Position des kleindeutschen Befürworters ein.
Der Zweite Italienische Krieg von 1859, in dem Österreich vom Ausland als angreifende
Macht rezipiert wurde, hatte das Habsburgerreich politisch und in der öffentlichen Meinung
isoliert.252 Italiens allmähliche politische Emanzipation von Österreich thematisiert Raabe in sei-
ner Erzählung Keltische Knochen (1864). Darin vergleicht der in Wien lebende Erzähler Öster-
reichs schwindende Vormachtstellung mit der Überflüssigkeit einer alten Gouvernante, deren
Sprösslinge erwachsen geworden sind:

Während das junge, kräftige Kind Italia seine Windeln sprengte und der alten grämlichen
Wartefrau Austria das Saugfläschchen an die Nase warf, studierte Wien, bekanntlich nicht
die sittlichste Stadt der Welt,253 die statistisch-moralischen Tabellen Frankreichs, zog Trost
aus der Auflockerung aller sittlichen Bande in der gallischen Nation und erwartete sein Heil
von der Abnahme der Bevölkerung, welche unausbleiblich die Folge solcher gräulichen Ver-
derbnis war. (BA 9/1, S. 210)

Die ironische Metapher bestätigt Raabes Sympathien für die italienische Nationalbewegung
und deren Ziele der Unabhängigkeit und nationalstaatlichen Einigung. In ihrer anthropologi-

252
Allein in Süd- und Westdeutschland gab es Sympathien für Österreich, da sie durch die 1858 geschlossene Alli-
anz zwischen Napoleon III. und Piemont-Sardinien eine erneute französische Dominanz befürchteten, die sie
als Grenzgebiet zuerst zu spüren bekommen hätte.
253
Franz Dingelstedt allegorisiert in seinem Gedicht Abschied von Wien die Stadt als Hure Europas, die „[a]llnächt-
lich ihre Phallos-Feste feiert“. In: Franz Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters. Leipzig 1923,
S. 133. Vgl. dazu Martin Stern: Literarisches Klischee und politische Wirklichkeit: Zum deutschen und schweize-
rischen Österreich-Bild im Vormärz und Nachmärz. In: Zeman, Herbert (Hrsg.): Die österreichische Literatur. Ihr
Profil im 19. Jahrhundert. Graz 1982. S. 67-90. Hier S. 76 ff.
Exkurs: Das Risorgimento in Italien 125

schen Charakterisierung werden die beiden Nationen gegenübergestellt („jung“ vs. „alt“, „kräf-
tig“ vs. „grämlich“), wobei die österreichische Okkupationszeit in Italien als Erziehungszeit iro-
nisch gestaltet wird. Die moralische Diskreditierung Österreichs und seines Kriegsgegners
Frankreichs diente zur Abwertung des verlustreichen Sardinischen Krieges.

Die Haltung der deutschsprachigen Dichter in Österreich zur italienischen Einigung war ambi-
valent: Zum größten Teil unterstützten sie das Risorgimento als Einheits- und Emanzipations-
bewegung, auch wenn diese Positionierung in Widerspruch zu der Loyalität gegenüber dem
habsburgischen Monarchen stand. Ferdinand Kürnberger konstatierte 1866 im Hinblick auf die
Okkupationszeit Österreichs in Italien seit dem Wiener Kongress 1815: „So wird also der
schwarzgelbe Fahnenstock aus der italienischen Erde herausgerissen! Sechzig Jahre stak er in
ihr und – er hat nicht Wurzel geschlagen! Er ist ein dürrer Pfahl, er ist ein totes Stück Holz
geblieben. Ein großer Gedanke: sechzig Jahre verloren!“ (KGW 1, S. 490). Für den Autor blieb
die habsburgische Fremdherrschaft über Italien hinsichtlich einer nationalen Integration ohne
Wirkung und war damit vergebens.
Anastasius Grün verarbeitet das Dilemma zwischen österreichischem Patriotismus und nati-
onalliberaler Sympathie für das Risorgimento, zwischen nationaler Zugehörigkeit und politi-
scher Meinung in seinem Gedicht Solferino. 1859 (GGW 2, S. 227-230). Indem Grün einen alten
Kriegsveteranen aus dem Kriegsjahr 1849 und seinen im Sardinischen Krieg von 1859 kämpfen-
den Enkel als Personen auftreten lässt, entwirft er eine historische Kontinuität zwischen Ersten
und Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieg. Der „alte Trommler“ resümiert angesichts der
Zeitungsnachrichten von den Niederlagen bei Magenta und Solferino über die großen Verluste
und dabei klingt sein Monolog, so der Text in morbider Metaphorik, wie „traurig Grabgeläute“.
Denn die beiden Kriege belasteten die Monarchie stark, nach dem Hungerwinter 1846/47 hat-
ten die Bauern und Arbeiter am meisten unter den Kriegsfolgen zu leiden:

Verwaist die Werkstatt und der Pflug


Und leergestürzt die Kassen!
Doch jetzt! auch nicht ein kleinster Sieg,
Die Herzen aufzufrischen!
Ein Krieg, der schreit nach neuem Krieg,
Das Brandmal zu verwischen! (GGW 2, S. 227 f.)

Österreich verlor mit den Schlachten von Magenta (4. Juni), Melegnano (8. Juni), San Martino
und Solferino (24. Juni) seine Herrschaft in der Lombardei. Die Schmach des Verlustes wurde
entgegen der Hoffnungen des Alten nicht Genugtuung getan – der Dritte Italienische Unabhän-
gigkeitskrieg von 1866 endete trotz österreichischer Siege mit dem Verlust Venetiens. Seinen
von der Schlacht von Solferino heimkehrenden Enkel tröstet er mit der Aussicht auf neue Hel-
den und „wundersame Retter“, die „[d]as Volk daheim“ befreien (GGW 2, S. 229). Denn die
126 Exkurs: Das Risorgimento in Italien

Befreiung des Volkes kann, so der Alte, nur durch die Entmachtung der Herrscher eintreten:
„Dem Volk erblüht das Segensteil / Aus seiner Herr´n Bedrängnis“ (GGW 2, S. 229).
Bereits 1848 äußerte sich Grün in einem öffentlichen Brief über das italienische Risorgi-
mento, das für ihn die „Wiederkehr desselben Ringens eines großen Volkes nach Einheit und
Selbstständigkeit [war], zu welchem sich Deutschland in dem Freiheitskriege gegen Napoleon
erhob“. Folglich könne er „dort nicht unbedingt verdammen, was mich in der Heimat begeis-
tert.“254 Indem er Österreich mit dem in ganz Europa gefürchteten napoleonischen Frankreich
vergleicht, kritisierte er die habsburgische Herrschaft in Italien. In seinem Gedicht Solferino.
1859 geht er sogar noch weiter: hier begrüßt er die die Habsburgermonarchie schwächenden
Verluste der italienischen Gebiete, da sie für eine innenpolitische Liberalisierung sorgten.

In der Schweiz verfolgte man – schon allein wegen der territorialen Nähe zu Italien – mit gro-
ßem Interesse die Risorgimento-Bewegung im südlichen Nachbarland. Für Gottfried Keller war
die Parteinahme für die italienische Einigungsbewegung jedoch eher ein deutsches Phänomen,
das ihm als Kompensation für die „Verkopfung“ der deutschen Liberalen galt:

Das Schwärmen vieler kosmopolitischer Deutscher für den braven Garibaldi sieht daher
mehr eigener Tatenscheu ähnlich als irgend etwas anderem, sonst würde die Sehnsucht
nach einem solchen Führer sich in das Bewußtsein verwandeln: ‚viele Männer sind auch
ein Mann‘, was uns […] eher germanische Weise dünken würde.255

Durch Ludmilla Assing, die als enge Freundin Garibaldis 1868 dessen Schriften herausgab,256
geriet Keller in den Dunstkreis der Führungspersönlichkeit der italienischen Bewegung.257 Für
Keller war – im Gegensatz zu den „tatenscheuen“ Deutschen – Garibaldi vor allem als Mann der
Tat zu bewundern:

Garibaldi […] wird sich, mag die Sache sich abwickeln, wie sie will, doch einst als der Befreier
Roms gelten; möchte er auch der Vernichter des Papstes einst heissen können. Dass er sich
persönlich dem Unwesen in der romanischen Welt so rücksichtslos gegenüberstellt, ist im-
merhin eine volle Tat.258

254
Antwort auf das offene Sendschreiben des Vereines „Slovenja“ in Wien. In: Hock, S. 21.
255
Aus seinem Aufsatz Die neuen kritischen Gänge von F. Th. Vischer (1861). HKKA 15, S. 206-221. Hier S. 207.
256
Guiseppe Mazzini´s Schriften. Hamburg, Hoffmann und Campe, 1868. Assing lernte in ihrem Exil in Florenz
(1864-1866) verschiedene italienische Politiker kennen und war neben Mazzini auch mit Garibaldi befreundet.
257
An Ludmilla Assing am 12.3.1867: „Diesen Heros [Garibaldi], zählen Sie also jetzt auch zu ihren persönlichen
Freunden, wodurch ich mich, der ich mich wiederum zu den Ihrigen zähle, mit der Weltgeschichte im Zusam-
menhang fühle, wie der Schuhputzer Rothschilds mit der hohen Finanz“. KB 2, S. 115.
258
An Assing am 10.10.1867. Garibaldi hatte 1862 und 1867 erneut versucht, den unter französischen Schutz ste-
henden Kirchenstaat zu befreien. KB 2, S. 119.
Exkurs: Das Risorgimento in Italien 127

Tatsächlich nahm Garibaldi drei Jahre später, im Jahr 1870, den römischen Kirchenstaat ein und
vollendete damit die Einigung Italiens. Nach Kellers Einschätzung war die tatkräftige Führungs-
gestalt Garibaldis maßgeblicher Faktor für die Erfolge der italienischen Nationalbewegung.
Einen Mann der Tat stellt Conrad Ferdinand Meyer in seinem, bereits im Kapitel 3.2.1 be-
sprochenen Roman Jürg Jenatsch vor, der 1866 im Jahr des Dritten Italienischen Unabhängig-
keitskrieges entstand. Sein Protagonist Jenatsch weist große Ähnlichkeit mit Garibaldi als auch
mit dem liberalen Politiker Baron Bettino Ricasoli (1809-1880) auf, der 1861/62 und 1866/67
Ministerpräsident von Italien war und mit dem Meyer bereits 1849 Bekanntschaft gemacht
hatte: „[I]ch lernte einen Mann kennen, dessen starke Seele der eine Gedanke der Freiheit und
Einigung Italiens erfüllte. Dafür war er zu jedem Opfer bereit“ (MSW 8, S. 194). Meyer, der 1858
und 1866 zwei längere Italienreisen unternommen hatte und die italienische Einigung „mit per-
sönlichen Interesse“ verfolgte, traf mehrmals auf den italienischen Politiker (vgl. MBW 2, S. 17).
Der Grundkonflikt von Meyers Romans entspricht dem historischen Kontext seiner Entste-
hungszeit: Der Freiheitsheld Jenatsch rettet „mit französ[ischer] Hülfe sein Vaterland von den
Österreichern u. mit österreichischer von den Franzosen“.259 Nicht nur auf der Handlungseben
gestaltet der Text die italienische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts analog zur graubün-
dischen Emanzipation während des Dreißigjährigen Krieges. In einem Gespräch zwischen dem
Schweizer Waser und dem „sonst so kalt[en], diplomatisch[en]“ (MSW 10, S. 124) Venezianer
Grimani wird über die Beschaffenheit von Nationen diskutiert. Dem italienischen Staatsmann
zufolge besteht das Wesen einer Nation in der geistigen Synthese von gemeinsamer Sprache
und Kultur, ohne dass sie „zerfalle wie ein Körper ohne Seele“ (MSW 10, S. 124). Diese sprach-
lich-kulturelle Auffassung von Nationen, die unabhängig von staatlichen Grenzen existieren,
wendet Grimani auf das territorial zerrissene Italien an:

Heute unter verschiedene, zum Teil fremde Herren geteilt, besitzt sie [die Halbinsel Italien,
J. F.] immer noch das gemeinsame Gut und Erbe einer herrlichen Sprache und einer unzer-
störbaren, in das leuchtende griechisch-römische Altertum hinaufreichenden Kultur.
Glaubt mir, diese unsterbliche Seele wird ihren Leib zu finden wissen. (MSW 10, S. 124)

In deutlicher Anspielung auf das Risorgimento eröffnet der Text eine nationale Kontinuitätsli-
nie, die von der griechisch-römischen Antike über den im Zeithorizont des Romans liegenden
Dreißigjährigen Krieg bis hin zu der politischen Gegenwart des Autors verläuft. Für die „Schweiz
mit ihren drei Stämmen und Sprachen“ wird dagegen das nationale Prinzip von sprachlich-kul-
tureller Konvergenz ausgeschlossen – sie wird „durch andere zähe Bande zusammen“ gehalten
(MSW 10, S. 124). Wegen der durch seinen Schweizer Gesprächspartner Waser „schmerzhaft“
empfundenen Separierung vom „protestantischen Deutschland“ – gemeint ist die im Westfäli-
schen Frieden 1648 erreichte Exemtion der Eidgenossenschaft aus dem Heiligen Römischen

259
Meyer in einem Brief an Haessel am 5.9.1866. BM 2. S. 10.
128 Exkurs: Das Risorgimento in Italien

Reich – sei ihre „von Niccolò Macchiavelli […] vorausgesagte Weltstellung“ aussichtlos; so
bleibe der Schweiz als nationales Synthesepotential nur seine staatliche und wirtschaftliche Un-
abhängigkeit: „[I]hr habt dafür euer eigenes Herdfeuer und eine kleine Musterwirtschaft“
(MSW 10, S. 123). Das Prinzip politischen und materiellen Souveränität, durch die die Schweiz
seine Mehrsprachigkeit kompensiert, konterkariert der Text, indem er die Gefährdung der
schweizerischen und speziell der graubündischen Autonomie darstellt. Der Dialog exemplifi-
ziert die Begriffe der Staats- und der Kulturnation, indem er mit Verweis auf die in der Gegen-
wart des Romans geltende staatstheoretische Autorität Machiavellis ein wissenschaftlich ver-
siertes und historisch bedingtes Nationenkonzept entfaltet.

Bei den deutschen, österreichischen und schweizerischen Autoren ist das italienische Risorgi-
mento sowohl in den privaten Korrespondenzen als auch im literarischen Werk außerordentlich
präsent, was mit daran lag, dass sich viele Parallelen zur deutschen Nationswerdung finden. Die
von Keller für Deutschland festgestellte Stilisierung der italienischen Führungselite (Garibaldi,
Mazzini) zu nationalen Kultfiguren entsprach dem Bedürfnis nach einem Führer und National-
held, der politische und nationale Orientierung versprach. Die gleiche Faszination ist auch bei
Keller selbst und bei Conrad Ferdinand Meyer festzustellen, die beide die Tatkraft und Opfer-
bereitschaft der italienischen Freiheitskämpfer bewunderten. Für Wilhelm Raabe machte die
Nachricht von dem Sieg über Österreich bei Magenta 1859 ebenfalls nachhaltigen Eindruck. Für
ihn ebnete die Niederlage nicht nur den Weg zu italienischen Nationalstaatsgründung, sondern
kündigte auch die Auflösung des Deutschen Bundes und die kleindeutsche Lösung im Kern be-
reits an. Für die Österreicher freilich wurde die italienische Bewegung zur Gewissensfrage. Das
Dilemma zwischen liberaler Haltung, also Befürwortung des Risorgimento und nationaler Loya-
lität konnten weder Kürnberger noch Grün für sich lösen.
6. Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

Die Genese des deutschen Volkes zur Kulturnation war mit der Zentrierung auf eine herausra-
gende Führungspersönlichkeit verbunden, die das durch Säkularisierung und Liberalisierung
entstandene Wertevakuum füllen sollte.260 Die Verehrung von großen Persönlichkeiten als geis-
tige Oberhäupter und Identifikationsfiguren war eine für das deutsche Selbstverständnis einer
Kulturnation wichtige Kompensationsleistung für fehlendes nationales Selbstvertrauen und
geistigen Zusammenhalt, die in der politischen Sphäre zum Beispiel durch die Bismarck-Vereh-
rung ausgelebt wurde. Der Wunsch nach einer Führungsperson erklärt sich durch die der mo-
narchischen Tradition verbundene Weltsicht, die den nationalliberalen Zielen Legitimierung
verschaffte.
Auch die Rezeption der mythischen Figuren, deren historische Verifizierung für die Zeitge-
nossen nur von sekundärer Bedeutung war, spiegelt die Suche nach einer identitätsstiftenden
Leitfigur wider. Die Vätergeneration der 1850er bis 1870er Jahre, die in Deutschland nicht nur
Familien- sondern auch Reichsgründer261 waren, hatten ein ganzes Arsenal an Vorbildern von
Gründergestalten, ob nun Monarchen wie Friedrich Barbarossa, religiöse Charakterfiguren wie
Luther oder Protagonisten aus dem kulturellen Bereich wie Schiller. Sie wurden auch in den
anderen deutschsprachigen Ländern als väterliche Vorbilder rezipiert, wobei in der Schweiz der
Fokus auf eigene Volkshelden wie Tell gelegt wurde. Indem die heroisierten Persönlichkeiten
durch ihr Wirken die politische, religiöse oder kulturelle Geschichte Deutschlands, Österreichs
oder der Schweiz prägten, eigneten sie sich zur Identifikation in der Gegenwart. Die Männer
besaßen väterliche Vorbildfunktion und wurden im Zuge der nationalpatriotischen Stilisierung
als geistige Oberhäupter des Vaterlandes rezipiert. Die Familie, die als „Mikrokosmos der gan-
zen Menschheit“ (Riehl 3, S. 113) galt, stellte damit die Personifizierung der Nation dar.262 Die
Allegorien der Nationen waren geschlechterspezifisch belegt: Während der „Deutsche Michel“
als männliche Figur das deutsche Volk repräsentierte,263 waren die allegorischen Figuren der
Nationen weiblich konnotiert, so die „Germania“, „Austria“ und „Helvetia“.264 Sie wurden in
den nationalen Gedichten und Festspielen meist als heroisch auftretende Figuren dargestellt
(vgl. Kap. 4.5 und 9.2).

260
Vgl. dazu Dirk Wehrle: Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750-1930). Frankfurt (Main) 2014. S. 414 ff.
261
Vgl. Walter Erharts Monographie Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit.
München 2001. S. 123 ff.
262
Renan nennt die Nation auch eine „spirituelle Familie“. In: Jeismann/Ritter, S. 307.
263
Nach Ansicht Kerstin Wilhelms repräsentierte der deutsche Michel „in Gestalt einer Verallgemeinerung die
männliche deutsche Bevölkerung – und oftmals auch nur die unteren Volksschichten.“ K. Wilhelms: Literatur
und Revolution. Schauplätze und Geschlechterdramaturgie in Romanen der 1848er Revolution. Köln u. a. 2000.
S. 214.
264
Vgl. zur geschlechterspezifischen Allegorisierung der Nation Ute Planert: Vater Staat und Mutter Germania: Zur
Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert. In: Diess. (Hrsg.): Nation, Politik und Ge-
schlecht: Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne. Frankfurt (Main) u. a. 2000. S. 15-65.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018


J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_6
130 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

Einige der wichtigsten männlichen Figuren, die in der Literatur zu Gründergestalten oder
nationale Identifikationsfiguren stilisiert wurden, seien im Folgenden behandelt.

6.1. Protestantismus und Nationalismus: Martin Luther

Die enge Verbindung des Protestantismus mit der nationalen Idee spitzt sich unweigerlich auf
die Person Luther zu. In ihm repräsentierte sich für die Nationalliberalen ein Mann mit mora-
lisch-christlichen Werten, der die herrschende Macht in Frage gestellt und sich ihr erfolgreich
widersetzt hatte. Als „Vorbild eines ‚guten Bürgers‘“ und „Symbolgestalt bürgerlicher Tugen-
den“ gewann das Lutherbild im 19. Jahrhundert moralische sowie gesellschaftspolitische Qua-
lität, indem es das „patriarchalisch-ständisch[e] Staatsmodell“265 propagierte. Durch Luthers
Bibelübersetzung wurde eine Vereinheitlichung der deutschen Sprache gefördert, so dass der
Reformator durch die Vorbereitung der sprachlichen Einheit zum „Vorläufer des Reichsgrün-
ders Bismarck“266 stilisiert wurde.
Die kulturellen und politischen Vereine, die erheblich zur Schaffung eines deutschen Ge-
meinschaftsgefühls beitrugen und die traditionelle christliche Gemeinschaft ersetzten, besa-
ßen noch bis ins 20. Jahrhundert hinein religiösen Charakter (vgl. Kap. 7). Daneben stellte das
öffentliche Festwesen im 19. Jahrhundert die säkularisierte Form der reformatorischen Ge-
denkkultur dar, an die explizit angeknüpft wurde. Daher waren auch die Schillerfeiern stark
protestantisch geprägt (vgl. Kap. 8.1). Das Singen von Luthers Ein feste Burg ist unser Gott ver-
weist zudem auf eine für das 19. Jahrhundert typische Rezeption Luthers als „Nationalheld“.267
Das Lied Luthers hatte seit dem Wartburgfest 1817, welches der erste Kulminationspunkt der
Lutherverehrung war, eine „säkularisiert-religiöse Bedeutung als spezifisch deutsches Kampf-
lied auf dem Wege zur nationalen Einheit erhalten“.268

265
Norbert Mecklenburg: Literarische Lutherbilder der Heine-Zeit. In: Kircher, Hartmut/Kłańska, Maria (Hrsg.): Li-
teratur und Politik in der Heine-Zeit. Die 48er Revolution in Texten zwischen Vormärz und Nachmärz. Köln u. a.
1998. S. 1-15. Hier S. 4 f.
266
Peter Sprengel: Von Luther zu Bismarck. Kulturkampf und nationale Identität bei Theodor Fontane, Conrad Fer-
dinand Meyer und Gerhart Hauptmann. Bielefeld 1999. S. 81 f.
267
Dazu Henrike Holsing: Luther – Gottesmann und Nationalheld. Sein Image in der deutschen Historienmalerei
des 19. Jahrhunderts. Köln 2004. Außerdem Michael Fischer: Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral „Ein feste
Burg ist unser Gott“ zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Münster/New York 2014.
268
Rainer Noltenius: Die Einheit Deutschlands unter einem Schriftsteller als Führer. Raabes Schiller-Gedicht 1859
als politisches Glaubensbekenntnis. In: JRG 32 (1991). S. 60-81. Hier S. 65. In seinem Gedicht Ans Werk, ans
Werk verweist Raabe explizit auf das Luther-Lied: „Was kümmert Euch Hohn, was kümmert Euch Spott? / Ihr
baut ja die feste Burg in Gott!“ (BAE 1, S. 360).
Protestantismus und Nationalismus: Martin Luther 131

In Wilhelm Raabes Unseres Herrgotts Kanzlei wird Reichsgeschichte „als Inbegriff einer fast un-
auslöslichen Spannung zwischen der Vorstellung nationaler Einheit und […] Partikularismus“269
behandelt, so dass sich der Roman nach Ansicht Wilhelm Kühlmanns als „verkapptes Manifest
nationalliberaler Gesinnung“ (Kühlmann, S. 272) präsentiert. Dabei stellt der Text die Reforma-
tion als Werk eines großen Individuums dar:

Martin Luther hatte es getan. Wieder einmal war eine Epoche der Weltgeschichte in die
Spitze des Individuums ausgelaufen, wieder einmal war in einem Menschen der Kampf und
die Arbeit von Jahrhunderten zusammengefasst worden, in einem Brennpunkt, welcher die
Welt entzünden sollte. Im Jahre 1547 stand die Welt in Flammen, das deutsche Volk war,
wie gewöhnlich, von der Vorsehung erkoren, für das Heil der Menschheit ans Kreuz ge-
schlagen zu werden. (BA 4, S. 234)

Die Bildersprache deutet die Reformation als Revolution („Kampf“, „Brennpunkt“, „Flammen“)
mit universaler (“Weltgeschichte“, „Menschheit“) und religiöser („Vorsehung“, „Kreuz“) Di-
mension. Auf der zeitlichen Ebene wird dabei eine historische Kontinuitätslinie eröffnet („wie-
der einmal“, „wie gewöhnlich“), die nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch das
Individuum und die Nation in Beziehung zueinander setzt. Dabei findet eine semantische Ver-
schiebung statt: Während Luthers Auserwähltsein politisch-revolutionär konnotiert ist, deutet
der Text das gottberufene Märtyrertum des deutschen Volkes christlich-messianisch.
In dem 1849 verfassten und 1862 erschienenen Roman wird im deduktiven Verfahren der
gesellschaftliche Prozess der Reformation anhand individuellen Handelns exemplifiziert. Die
Romanhandlung ist in das mittelalterliche Magdeburg versetzt und behandelt den Kampf der
Städter im Zuge des Schmalkaldischen Krieges um die Behauptung ihres protestantischen Glau-
bens gegenüber der katholischen Kaisermacht. Dabei werden zweierlei antagonistisch aufge-
baute Problemfelder entworfen und in der historischen Konstruktion auf die Gegenwart reflek-
tiert: Zum einen gewinnt der Konflikt zwischen Protestantismus und Katholizismus in der
Tatsache greifbare Wirklichkeit, dass Ersterer zum liberalen Paradigma der Emanzipation im
Vor- und Nachmärz stilisiert wurde, während Letzterer traditionell dem alten Ständesystem zu-
geordnet wird. Zum anderen spiegelt Raabe die Opposition zwischen der alten Obrigkeit und
dem politisch sich konstituierenden Bürgertum in der Gegenwart wider, indem er den mittelal-
terlichen Antagonismus zwischen Bürgertum und Adel herausstellt. Daher sind „Glaubensfrei-
heit und Bürgerfreiheit“ (BA 4, S. 291) Ursache und Folge desselben Spannungsfeldes, weil mit
der Religionsfreiheit, die mit der Reformation thematisiert wird, auch ein Aufbrechen der alten

269
Wilhelm Kühlmann: Der Geschichtsroman als politisch-sozialer Roman. Zum Thema der Bürgerfreiheit in Wil-
helm Raabes Unseres Herrgotts Kanzlei. In: Blume, Herbert/Rohse, Eberhard (Hrsg.): Literatur in Braunschweig
zwischen Vormärz und Gründerzeit. Beiträge zum Kolloquium der Literarischen Vereinigung vom 22. bis 24. Mai
1992. Braunschweig 1993. S. 255-275. Hier S. 259.
132 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

sozialen Ordnung verbunden war.270 Raabe erhebt „den Protestantismus zum Paradigma der
Emanzipation“ (Kühlmann, S. 266 f.) sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart.
Die raumzeitliche Verknüpfung realisiert der Text durch Kontinuität des Schauplatzes.271 Indem
der Protestantismus seine Wirkung immer mehr ausweitete, büßten Kaiser und Papst ihre Au-
torität als bisher höchste Ordnungsinstanzen ein. Insofern reflektiert die Romanhandlung die
im 19. Jahrhundert neu aufgetretenen Problemfelder: Traditionelle politische wie moralische
Ordnungssysteme lösten sich auf, die früher Funktionen der Wertorientierung und Sinngebung
innehatten. Der Protestantismus fungierte als Paradigma der Emanzipation, als Vorbild und Ba-
sis des modernen Liberalismus. In der Vorrede des letzten Kapitels wird in Versform an das
nationale Kollektiv appelliert:

Gott schützt das teure Vaterland,


Nehmt sein Geschick in gute Hand,
Segn weit und breit das deutsche Blut,
Bring bald uns unter einen Hut! (BA 4, 466)

Der Text assoziiert religiös-protestantische und nationale Identität. Die Forderung unter „einen
Hut“ gebracht zu werden ist sowohl als Wunsch nach nationaler als auch nach konfessioneller
Einheit deutbar, einheitliche Konfession wie Nation sollen territoriale und soziale Grenzen
überbrücken. Dabei gewinnt die bürgerliche Trägerschicht des nationalen und religiösen Kamp-
fes an politischer Bedeutung: „Wir Kriegsleut müssen doch Respekt haben vor diesen Bürgern
und Handelsleuten, die das Banner teutscher Nation Freiheit allein noch so hoch halten, nach-
dem Ritter und Fürsten niedergeleget sind im Kampf“ (BA 4, S. 242 f.). Nicht nur die soziale
Qualität der Nationalbewegung ist äquivalent zum Entstehungskontext des Romans gestaltet,
auch die politischen Zusammenhänge konvergieren: Der Freiheitskampf wird im Namen der
deutschen Nation geführt, Einheit und Freiheit bedingen einander.

270
Der in der Schlacht aufgekommene Leitspruch „Schlage Ritter und Fürsten tot; laß Bauer und Bürger leben!“
(BA 4, S. 365) erinnert stark an den Schlachtruf der Französischen Revolution: „Friede den Hütten, Krieg den
Palästen!“ In der von Georg Büchner 1834 herausgegeben Flugschrift Der hessische Landbote wurde der Appell
zur Parole im Kampf gegen die sozialen Missstände.
271
Raabe verortet das Gasthaus aus der Erzählung in seine eigene Erfahrungswelt: „Im Jahre 1550 war das Goldene
Weinfaß ein ebenso schmales. langes Gebäude wie heute, sondern befand sich nicht wie heute eine Buchhand-
lung, sondern eine von allerlei Volk besuchte Kneipe darin“ (BA 4, S. 200). Ecke Breiter Weg und Weinfaßgäß-
chen, heute Weinfaßstraße, beherbergte die Creutzsche Buchhandlung (Inhaber Kretschmann), wo Raabe ar-
beitete und wohnte. Er zeichnete die Schankräume entsprechend den Kellerräumen, die die Zerstörung 1631
überdauert hatten.
Protestantismus und Nationalismus: Martin Luther 133

In Conrad Ferdinands Meyers Verserzählung Huttens letzte Tage stellt das Gedicht Luther an-
hand des großen Reformators den „Widerspruch […] von alter und neuer Zeit“, eine „Dialektik
der Befreiung“272 dar:

In seiner Seele kämpft, was wird und war,


Ein keuchend hart verschlungen Ringerpaar.

Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet –


Mich wundert´s nicht, daß er Dämonen sieht! (MSW 8, S. 67)

Die Darstellung Huttens als kämpfender Dichter weitet der Text auf Luther aus. Damit wird „die
Verknüpfung von Feder und Schwert […] zum Zentrum des bedeutendsten allegorischen Kom-
plexes der Dichtung und ihrer poetologischen Dimension“ (Laumont, S. 73). Indem das unmit-
telbar vorangehende Gedicht Die deutsche Bibel Luthers Verdienst als Begründer der neuhoch-
deutschen Sprache würdigt,273 verknüpft Meyer den religiös-konfessionellen Aspekt mit dem
sprachlichen – beides wichtige Elemente der deutschen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert.
Im Gedicht imaginiert Hutten den Moment, als er die Bibel zum ersten Mal liest, als Erinnerung
und schafft so eine weitere fiktionale Metaebene, in der Hutten selbst zum Rezipienten wird.
Damit soll sich der Leser von Meyers Gedichtzyklus, sofern er selbst Luthers Bibelübersetzung
gelesen hat, mit Hutten identifizieren. Diese Unmittelbarkeit wird verstärkt, indem Hutten zum
einen seine subjektive, emotional verortete Meinung äußert und zum anderen den Autor Lu-
ther direkt anspricht:

Ein frommer Tag, da ich, gestreckt ins Gras,


Die „Schrift, verdeutscht durch Martin Luther“ las.

Gern hör´ ich deiner Sprache, Luther, zu,


Wer braucht das Wort gewaltiger als du?

Auf einer grün umwachsnen Burg versteckt,


Hast du die Bibel und das Deutsch entdeckt. (MSW 8, S. 65)

272
Norbert Mecklenburg: Conrad Ferdinand Meyer „Lutherlied“. In: Hinck, Walter (Hrsg.): Geschichte im Gedicht.
Texte und Interpretationen. Protestlied, Bänkelgesang, Ballade, Chronik. Frankfurt 1979. S. 153-161. Hier S. 159.
273
Dies taten auch andere Zeitgenossen Meyers, z. B. Theodor Mundt: „Die Uebersetzung der Bibel in eine ein-
heitliche, allen deutschen Stämmen gemeinsam angehörende Nationalsprache mußte der Ausgangspunct aller
reformatorischen Bewegungen dieses Jahrhunderts bilden, indem sie das eigentliche Zusammenstoßen der
Tradition mit dem frei werdenden, vernünftigen Volksbewußtsein darstellt. […] Die Volkssprache war es, welche
die Tradition zuerst zu einem freien Eigenthum des Volksbewußtseins machte, und dadurch die Offenbarung
den Bewegungen der fortschreitenden Völkergeschichte selbst, als diesen neuen und hellen Strom des Lebens,
zuführte.“ In: Theodor Mundt: Martin Luther´s politische Schriften. Leipzig 1868. Bd.1, S. 26 f.
134 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

Die Innovativität und Eloquenz seiner Übersetzung macht Luther zum Urheber einer ganz
neuen Sprache. Luthers Bedeutung erstreckt sich nicht nur auf seine Rolle als Schöpfer der
deutschen Sprache, sondern auch als Entdecker der Heiligen Schrift. Damit verknüpft Meyer
die kirchliche Erneuerung durch die Reformation mit der sprachlichen Revolution durch Luthers
Bibelübersetzung.
Gesondert vom Hutten entstand 1883 das Lutherlied (MSW 1, S. 359-61), das Meyer zum
Anlass von Luthers Vierhundertjahrfeier am 10. November 1883 verfasste. In dem Gedicht, das
nach Ansicht von Julius Rodenberg das Potenzial hatte, „Gemeingut des deutschen Volkes“274
zu werden, wird Luther als Mann mit typisch deutschen Tugenden (fleißig, redlich, treu) be-
schrieben: „jeder Zoll ein deutscher Mann“ (MSW 1, S. 361). Er ist kein weltfremder Mönch,
sondern einer, der „aus allem Volk hervor[tritt]“ (MSW 1, S. 360). Die Volksnähe Luthers, die
ihn zur Identifikationsfigur eignen lässt, betont der Text auch in Bezug auf die Entstehungssitu-
ation der Bibelübersetzung auf der Wartburg:

„Ein feste Burg“ – im Lande steht,


Drin wacht der Luther früh und spät,
Bis redlich er und Spruch um Spruch
Verdeutscht das liebe Bibelbuch.
Herr Doktor, sprecht! Wo nahmt Ihr her
Das deutsche Wort so voll und schwer?
„Das schöpft ich von des Volkes Mund,
Das schlürft ich aus dem Herzensgrund.“ (MSW 1, S. 361)

Die Strophe fokussiert Luthers Rolle als Übersetzer der Bibel und seine Bedeutung für die Kon-
stituierung und Entwicklung der deutschen Sprache. Daneben authentifiziert die direkte Rede
des Reformators den Inhalt und macht ihn unmittelbar fassbar. Die Reichweite seiner Lehre,
deren Bedeutung durch Metaphern des Kampfes intensiviert wird („ein starker Speer: […] Ein
blankes Schwert im offnen Streit!“), ist universell:

Kein Tal zu fern, kein Dorf zu klein,


Es fällt mit seinen Glocken ein –
„Ein feste Burg“ – singt jung und alt
Der Kaiser mit der Volksgewalt:
„Ein feste Burg ist unser Gott,
Dran wird der Feind zu Schand und Spott!“ (MSW 1, S. 361)

Mit dem Verweis auf das Lied Ein feste Burg ist unser Gott, das um 1529 von Luther verfasst
wurde, stellt Meyer die Verbindung zum damaligen Nationaldiskurs her. Es hatte bereits beim
Wartburgfest 1817 die Funktion eines nationalpolitischen Kampfliedes mit sozial integrierender

274
Langmesser, August: Conrad Ferdinand Meyer und Julius Rodenberg: ein Briefwechsel. Berlin 1918. S. 164.
Protestantismus und Nationalismus: Martin Luther 135

Dimension.275 Die dialogische Frage-Antwort-Struktur realisiert formal das, was Luther mit sei-
ner Bibel erreichen wollte, nämlich in Dialog mit dem Volk zu treten, von dem suggeriert wird,
es spreche selbst. Durch Montierung einer zweiten, von Meyer erfundenen Zeile wird das Lied
zum antifranzösischen Ressentiment, so dass „Konfessionelles und Nationales [miteinander]
verschmelzen“ (Mecklenburg, S. 157). Das gemeinsame Singen des Liedes (horizontale Verbrei-
tung) hat nicht nur eine Annäherung zwischen Regierenden und Regierten (vertikale Verbrei-
tung) zur Folge, sondern stärkt auch den inneren Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft
durch Abgrenzung nach außen (exklusionistische Prinzip).

Auch von österreichischen Schriftstellern wurde Luther im 19. Jahrhundert rezipiert und als
nationale Identifikationsfigur stilisiert. Anastasius Grüns Gedicht Drei Walhalla-Nichtgenosse
(1846) thematisiert einen wichtigen erinnerungskulturellen Raum im 19. Jahrhundert, der Ge-
denkstätte Walhalla bei Regensburg. Drei für die deutsche Geschichte wichtige Denkmäler feh-
len nach Meinung des artikulierten Ichs und zwar die für Martin Luther, Joseph II. und Andreas
Hofer. Die beiden Letzteren sind bis heute nicht vertreten, Luthers Büste wurde 1847 aufge-
stellt. Die Gedenkstätte, die vom bayrischen König Ludwig I. im Kontext der napoleonischen
Siege 1806 errichtet wurde, sollte alle großen Persönlichkeiten „[t]eutscher Zunge“276 ehren
mit dem Ziel, nationales Selbstbewusstsein zu stiften. Der Erbauer wird im Motto von Grüns
Gedicht durch das berühmte Märchen Der Birnbaum auf dem Walserfeld der Gebrüder Grimm
gewürdigt: „Dann wird der Bayerfürst seinen Wappenschild daran [an den Birnenbaum, J. F.]
aufhängen und Niemand wissen, was es zu bedeuten hat.“277 Die Sage über diese „letzt[e]
Schlacht“ (Grimm 1816, S. 30) der Guten über die Bösen hat ihren historischen Ursprung im
Ersten napoleonischen Krieg, der Schlacht am Walserfeld bei Salzburg im Dezember 1800.
Durch den intertextuellen Verweis transponiert Grün die Bedeutung Walhallas als Erinnerungs-
stätte auf die Grimmsche Sage, die selbst bereits erinnerungskulturelle Funktion besitzt und
verbindet beide mit der napoleonischen Besetzungszeit und den Beginn der Nationalbewe-
gung. Trotz der nationalen Kontextualisierung Ludwigs I. im Motto kritisiert das Gedicht, dass
sein „Richtmaß“ zur Selektion der „Walhallagrößen“ (GGW 2, S. 47) voreingenommen sei. Lu-
ther wird als erster der drei Ausgeschlossenen zur Vermessung gebracht, für „zu groß“ befun-
den und abgewiesen. Er wird als breitschultriger, imposanter Mann beschrieben, der sich als
Mönch nur verkleidet hat („Ein Recke, der zum Mummenschanz gekrochen / Ins Klosterkleid“).
Während Meyer in seinem Lutherlied den Reformator vor allem als Übersetzer der Bibel in

275
Das Lied wurde auch 1868 zur Einweihung des Lutherdenkmals in Worms gespielt.
276
In: Walhalla´s Genossen. Geschildert durch Ludwig den Ersten von Bayern, den Gründer Walhlalla´s. München
1842. S. VI. Wegen Ludwigs streng katholischer Haltung fehlte die bereits 1832 von Ernst Rietschel gefertigte
Luther-Büste bei der Eröffnung 1842. Vgl. dazu Simone Steger: Die Bildnisbüsten der Walhalla bei Donaustauf.
Von der Konzeption durch Ludwig I. von Bayern zur Ausführung (1807-1842). [Diss.] München 2011. S. 486 ff.
277
GGW 2, S. 47 ff. Vgl. Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsche Sagen. Berlin 1816.Bd. 1, S. 30.
136 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

Szene setzt, betont Grün in seinem Gedicht vor allem Luthers Bedeutung als reformatorischer
Kämpfer:

Erstarkt zum Waffenspiel schwingt seine Hand


Die Bibel wie ein Schwert, hält sie umfahn
Wie ein Panier, auf dessen Fahnenband
Sein Spruch: „Das Wort sie sollen lassen stahn!“ (GGW 2, S. 47)

Der militärische Vergleich wird durch das Zitat aus Ein feste Burg ist unser Gott (Strophe 4, Zeile
1) intertextuell erweitert. Luther tritt als Befreier des Volkes auf, der ihre „[w]ahnglaubens Ket-
ten […] stolz zerschlagen“ und den als satanisches Gegenbild zur heiligen Dreieinigkeit entwor-
fenen „[d]reiköpf´gen Höllendrachen kühn zertreten“ (GGW 2, S. 47) hat.
Grüns Gedicht Die Vorigen, weniger Einen aus dem Jahr 1849 nimmt auf die inzwischen in
die Walhalla aufgenommene Büste Luthers Bezug. Der Anfang des Gedichts situiert den perso-
nalen Ich-Erzähler in das Revolutionsjahr 1848, das als „Riesenfeuer“ und „Weltenbrand“, aus
dem „sich der Phönix Deutschland schwingen sollte“, begann, aber als „Straßenstaub“ und
„Asche“ endete. Aufgrund seiner Enttäuschung über das Scheitern der Revolution sucht das
artikulierte Ich die Walhalla, den „Dom der Helden, Weisen und Poeten“ (GGW 2, S. 52) auf und
findet dort das inzwischen aufgenommene Bildnis Luthers. Der Reformator, dessen doppelte
Bedeutung als „Mönch und Krieger“ erneut hervorgehoben wird, spricht unmittelbar zum Ich:

Und also ließ vernehmen sich die Stimme:


„Es war zur Zeit, als schon in schwächerm Grimme
Der Winter rang mit ersten Frühlingslüften,
Da hört´ ich donnernd über unsern Grüften
Durch Deutschland hin ein Hochgewitter rollen,
Gesang und Schwertgeklirr, Gejauchz´ und Grollen:
Des Rothbarts Stunde, dacht´ ich, sei gekommen;
Von Heimatdrang fühlt´ ich mein Herz entglommen.
Da schritt ich zu Walhalla´s Heiligthume,
Am Bild von deutscher Größe, deutschem Ruhme
Die bange Seele wieder aufzurichten.
Mein stolzes Hoffen ließ sich schwer vernichten,
Denn ich ersah im Heimatland der Eichen
Schon hier und dort erblühn manch tröstlich Zeichen“ (GGW 2, S. 53)

Der inkarnierte Luther bzw. das anthropomorphisierte Bild Luthers bezieht sich auf die Zeit un-
mittelbar vor Ausbruch der Märzunruhen (seine Büste wurde im Herbst 1847 aufgestellt), die
im Bild des Gewitters veranschaulicht werden. Indem der Sprecher die Revolution als „Roth-
barts Stunde“ mythologisch auflädt, interpretiert er diese als nationale Erweckung und Erneu-
erung Deutschlands. Durch den Wechsel der Erzählerstimme vom artikulierten Ich auf die anth-
ropomorphisierte Walhalla-Büste wird eine Kontinuität von der Reformation zur Revolution
Wilhelm Tell und der schweizerische Nationalmythos bei Keller und Raabe 137

1848 eröffnet, um so die Wechselwirkung zwischen Protestantismus/Luther und der Einheits-


und Freiheitsbewegung im 19. Jahrhundert zu unterstreichen.

Die Textbeispiele Raabes, Meyers und Grüns haben gezeigt, wie die Literatur im 19. Jahrhun-
derts Luther zur Legitimierung ihrer nationalliberalen Ideen vereinnahmt haben. Die Reforma-
tion symbolisierte einen Befreiungsakt, der im 19. Jahrhundert von der kirchlichen in die politi-
sche Sphäre transponiert wurde. Die Vermengung von protestantischer und nationaler
Metaphorik in den vorgestellten Texten, sowie der ständige Rückgriff von Geschichte auf die
Gegenwart bestätigen den religiösen Charakter des Nationskonstrukts, die Zentrierung auf Lu-
ther demonstriert den auf Führerschaft gezielten Personenkult der Zeit.

6.2. Wilhelm Tell und der schweizerische Nationalmythos bei Keller und Raabe

Die Autoren in Deutschland und der Schweiz278 rezipierten im 19. Jahrhundert Schiller als Frei-
heitsdichter und interpretierten seinen Wilhelm Tell als das nationale Drama schlechthin. Die
national geprägte Wirkungsgeschichte des Dramas begann bereits mit der Französischen Revo-
lution, in der Tell „eine, wenn nicht gar die mythische Identifikationsfigur“279 repräsentierte und
setzte sich in den Befreiungskriegen fort, wo das Rezitieren aus der textlichen Vorlage zur „Frei-
heitsparole“280 schlechthin wurde. Nach Adolf Muschg hatte Schillers Drama „der Schweiz des
19. Jahrhunderts einen beschränkten, doch symbolstarken Täter zur Verfügung gestellt, dessen
Grenzen sich als nationaler Charakter lesen und für das politische Projekt einer schweizerischen
Nation verwenden ließen“.281 Auch Eszter Pabis ist der Meinung, dass der nationale Identifika-
tionsraum für die Schweizer die „Berufung auf Wilhelm Tell, die Gründungslegende und die
Kontinuität mit dem mittelalterlichen Bund der Eidgenossen“ darstellte.282 Damit ist Schillers
Tell ein im Sinne Aleida Assmanns „kultureller Text“ (Assmann, S. 238).
Gottfried Keller hob in seinem Aufsatz Am Mythenstein,283 den er anlässlich der Enthüllungs-
feier des Schillersteins am Vierwaldstätter See 1859 verfasste, die Bedeutung Wilhelm Tells für

278
Das Fehlen der österreichischen Tellrezeption lässt sich aus der historischen Tatsache erklären, dass es in der
Tell-Sage die Habsburger selbst waren, die die Eidgenossenschaft okkupiert hatten. Daher konnte sich der My-
thos für eine nationale Identifikationsfigur für Österreich nicht eignen.
279
Karl Siegfried Guthke: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 2005. S. 280.
280
Vgl. Alfred Berchthold: Wilhelm Tell im 19. und 20. Jahrhundert. In: Tell: Werden und Wandern eines Mythos.
Bearbeitet von Lilly Stunzi. Bern/Stuttgart 1973.
281
Adolf Muschg: Schillers Schweiz. In: Bürger, Jan (Hrsg.): Friedrich Schiller: Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild.
Göttingen 2007. S. 76-94. Hier S. 77.
282
Eszter Pabis: Die Schweiz als Erzählung: nationale und narrative Identitätskonstruktionen in Max Frischs Stiller,
Wilhelm Tell für die Schule und Dienstbüchlein. Frankfurt (Main) u. a. 2010. S. 43.
283
In: HKKA 15, S. 177-203. Der Aufsatz wird im Kapitel 9.2 intensiv behandelt.
138 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

die Schweizer Nation hervor: Schillers Tell sei die bis dato entbehrte „verklärende Nationaldich-
tung“ der Schweiz, „die seine Entstehung vor aller Welt bestrahlt und typisch macht“ (HKKA 15,
S. 177). Die traditionellen eidgenössischen Tellspiele dienten nach Keller der „Erhöhung“ des
Volkes und hatten improvisatorischen Charakter: „Lange schon hat da und dort das Schweizer
Volk […] Schillers ‚Tell‘ in fröhlichem Versuch auf offenen Dorfgassen, auf Matten und lustigen
Höhen in die braune Hand genommen und keck aufgespielt“ (HKKA 15, S. 177). Die von Schiller
ästhetisch inszenierte Tell-Sage verortet Keller in die Idylle des Schweizer Alpenraums, um sie
volksnah und für alle zugänglich zu gestalten. Damit wird die Rezeption des Tell spielerisch und
ganz selbstverständlich für alle Gesellschaftsschichten ermöglicht.
Auch im Grünen Heinrich charakterisiert der Autor die Schweiz als organisch gewachsene
Republik, die sich über den Nationalmythos Tell identifiziert: „Um einen uralten Kern hat sich
nach und nach eine mannigfaltige Genossenschaft angesetzt, welche die Ueberlieferungen des-
selben, so weit sie in ihrer Bedeutung noch lebendig sind, mit aufnahm und sich bestrebt, sie
fortwährend in gangbare Münze umzusetzen“ (HKKA 11, S. 55).284 Die Entwicklung der Schweiz
zur republikanischen Eidgenossenschaft seien als „gemeinsam durchkämpftes Schicksal“ in der
kollektiven Erinnerung durch die Nationalmythen wie der Tell-Sage oder dem Rütlischwur ver-
ankert.285 Die tatsächliche Umsetzung des im Tell enthaltenen Freiheitsgedankens wird als kon-
tinuierliche Aufgabe der Schweizerischen Nation formuliert. Sie wird konträr zu den identitäts-
konstituierenden Geschichtskonstruktionen des monarchischen Auslands begriffen:

Und je mehr wir uns in diesem Zustande geborgen glauben vor der Verwirrung, die uns
überall umgibt, je mehr wir die träumerische Ohnmacht der altersgrauen großen National-
erinnerungen, welche sich auf Sprache und Farbe der Haare stützen, rings um uns zu er-
kennen glauben, desto hartnäckiger halten wir an unserem schweizerischen Sinne fest. So
kann man wohl sagen, nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in
diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigenthümliche Nationalität zu ihrer Ver-
körperung geschaffen. (HKKA 11, S. 55)

Die nationale Identität der Schweizer konstituiert sich nach Ansicht des Protagonisten durch
die Idee der Freiheit, die sich in der republikanischen Verfassung äußert. Der Text entlarvt die
in Deutschland bemühte Nationalisierung der Geschichte zu identifikatorischen und system-
konsolidierenden Zwecken als ein auf gemeinsame Sprache und Habitus basierenden Kon-
strukt. Trotzdem mangele es der Schweiz, die sich als Willensnation auszeichnet, an einer blü-
henden „Geistescultur“:

284
Vgl. dazu die im Brückentraum entfaltete Metapher von der Nation, deren Identität „durch allerlei Gemünztes
zu erreichen und zu sichern“ ist (HKKA 12, S. 344). Siehe auch Kapitel 3.1.1 dieser Arbeit.
285
„[J]e ungleicher diese [die Menschen, J. F.] sich an Stamm und Sprache manchmal sind, desto fester ziehen sie
sich, nach gewissen Gesetzen, gegenseitig an, freundlich zusammengehalten durch ein gemeinsam durchge-
kämpftes Schicksal und durch die erworbene Einsicht, daß sie zusammen so, wie und wo sie nun sich eingerich-
tet haben, am glücklichsten sind. Eine solche Lage ist die unsrige.“ HKKA 11, S. 54 f.
Wilhelm Tell und der schweizerische Nationalmythos bei Keller und Raabe 139

Das Alpenglühen und die Alpenrosenpoesie sind aber bald erschöpft, einige gute Schlach-
ten bald besungen, und zu unserer Beschämung müssen wir alle Trinksprüche, Mottos und
Inschriften bei öffentlichen Festen aus Schillers Tell nehmen, welcher immer noch das
Beste für dieses Bedürfniß liefert. (HKKA 11, S. 56)

Schillers Tell dient, so der Text, zur Kompensation fehlender eigener nationalstiftender Litera-
tur, er entspricht dem „Bedürfnis“ der Schweizer Nation, sich in der geschichtlichen Erinnerung
sowie im kulturellen öffentlichen Festakt seiner selbst zu versichern. Nach Keller spezifiziert
sich für die Schweiz die Bedeutung der deutschen Literatur am stärksten im Tell, der als Schwei-
zer Ursprungsmythos mit erinnerungskultureller Funktion eine literarisch akzentuierte Wech-
selbeziehung zwischen beiden Ländern herstellt. Dies zeigt der Text durch die dialektische Be-
ziehung von Heinrichs individueller Vaterlandsliebe und seiner intellektuellen Verbundenheit
mit dem deutschsprachigen Kulturraum:

Er [Heinrich, J. F.] liebte sein helvetisches Vaterland; aber über diesen Strom waren dessen
heiligste Sagen, in unsterblichen Liedern verherrlicht, erst wieder zurückgewandert; fast
an jedem Herde und bei jedem Feste, wo der rüstige Schatten mit Armbrust und Pfeil her-
aufbeschworen wurde, trug er d a s Gewand und sprach d ie Worte, welche ihm der deut-
sche Sänger gegeben hat. (HKKA 11, S. 42 f.)

Tells integrative Kraft für die nationale Gemeinschaft verstärkt der Text durch die sakralen Im-
plikationen („heiligste Sagen“). Weder die historische Vorlage noch eine andere literarische Be-
arbeitung, sondern das Drama Schillers wurde zum Schweizerischen Nationalmythos, da es pri-
vat und öffentlich als solcher rezipiert wurde. Es prägte damit auch das nationale Selbst- wie
Fremdbild der Eidgenossenschaft. Weil der „Staatsgründungsmythos des einen [Landes, J. F.]
im anderen seine repräsentative Kunstform gefunden hat“ (Jeziorkowski, S. 78) sieht Heinrich
Lee in Schillers Drama Wilhelm Tell die stärkste Verbindung zwischen der Schweiz und Deutsch-
land.

Auch für die deutsche Nationsbildung war Tell eine wichtige Identifikationsfigur. Wilhelm Raabe
wollte mit dem berühmten Gründungsmythos der Schweiz den Einheits- und Freiheitsgedan-
ken seiner Texte hervorheben. Das Leitmotiv seines Romans Gutmanns Reisen wird frei nach
Attinghausens berühmten letzte Worten formuliert: „Vor allen Dingen seid einig, einig, einig!!!“
(BA 18, S. 320).286 Auf der Handlungsebene des Werks verweist Klothilde mit Tell auf ihren Ver-
lobten und bestimmt ihn dadurch zu ihrem persönlichen Befreier: „Sag es selber, Onkel, hat

286
Auf der realen Coburger Tagung zitiert der Radikaldemokrat Metz tatsächlich den berühmten tellschen Appell,
der quasi zum Leitspruch der Nationalbewegung wurde. Das Zitat aus Schillers Drama war im 19. Jahrhundert
sehr beliebt, z. B. sieht man ihn auch auf einer Radierung zur Schillerfeier 1859 des Historienmalers Carl Jäger,
in dessen Mittelpunkt Schiller und die allegorische Germania stehen. Auf dem Bildnis zitiert Schiller gestisch die
140 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

sich wer nach mir umgesehen, außer hier meinem – meinem nun einzigen, ewigen, einzigen
Willi?“ (BA 18, S. 365). Die Namensvetterschaft unterstreicht die Anspielung auf den Tell, wobei
diese durch den Diminutiv und durch das verfremdete Zitat ironisch gebrochen wird. Die hier
von Klothilde angesprochene Fürsorge Wilhelms führt schließlich zur Verlobung der beiden, die
die der Text symbolisch als deutsche Einigung entfaltet. 287 Neben der Einheit wird auch die
Freiheit mit Schillers Worten thematisiert, die hoch über der Stadt, auf der Veste Coburg ver-
ortet wird: „‚Auf den Bergen ist die Freiheit!‘ zitierte selbstverständlich der Kameralsupernu-
merar seinen Schiller. ‚Dann also auf die Feste Koburg?‘ meinte der Onkel Laurian“ (BA 18, S.
267).288
In seinem Gedicht Zum Schillerfest aus dem Jahr 1859 zitiert Raabe ebenfalls aus Schillers
Drama und ergänzt damit die Forderung nach einer deutschen Einheit intertextuell: „Ein einig
einzig Volk, ein einzig Volk von Brüdern“ (BA 20, S. 351).289 Während die Aufforderung nach
nationaler Einheit noch den patriotischen Pathos der Schillerfeiern zum Ausdruck bringt, bricht
Raabe in seinem Roman Der Dräumling von 1871 den intertextuellen Verweis ironisch, indem
das für das Festtransparent gewünschte Zitat Schillers ausbleibt: „[Die] Umschrift: Seid einig,
einig, einig! Oder dergleichen, wäre uns lieber als deine jetzigen farbigen Lettern“ (KA, S. 51).
Die fehlende Hauptbotschaft der im Roman beschriebenen Schillerfeier von 1859 veranschau-
licht die Schwierigkeiten der deutschen Nationswerdung.
Die Rezeption von Schillers Wilhelm Tell in den vorgestellten Texten zeigt: Der schweizeri-
sche Autor Keller rezipierte Wilhelm Tell als nationale Identifikationsfigur, wobei das Drama
Schillers die Bedeutung eines nationalen Grünungsmythos gewann. Der deutsche Schriftsteller
Raabe legte bei seiner Rezeption seinen Fokus auf Tell als Befreier und Einiger seines Landes,
die er auf die deutsche Nationswerdung projiziert. Somit wird die Befreiung der Schweiz durch
Tell, dem historischen und dem poetischen, mit einer möglichen Befreiung Deutschlands durch
Schiller parallel konstruiert.

Während sich beim Beispiel der Tell-Rezeption die Textauswahl auf schweizerische und deut-
sche Texte beschränkte, behandelt das folgende Teilkapitel den literarischen Umgang mit dem
Arminius-Kult anhand von Texten von Wilhelm Raabe und Friedrich Halm. In Deutschland wie

Triumphpose des auferstandenen Christus auf Dürers Kupferstichpassion, über ihm steht der tellsche Aus-
spruch „Seit einig! Einig! einig“. Vgl. dazu Barbara Drucker: Ein deutscher Messias. Das kulturelle Schema der
Schillerrezeption bei den Feiern von 1859. In: JbDSG 2004. S. 167-184. Hier S. 167.
287
Der Tell dient außerdem Wilhelm Gutmanns Argumentation, um Klothilde den preußisch-österreichischen Kon-
flikt zu erklären: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, / Wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“
(BA 18, S. 337). Vgl. Tell, IV, 3.
288
Das Zitat stammt aus Schillers Braut von Messina, IV/8.
289
In der Sammelhandschrift von 1910 lautet die letzte Zeile: „Ein einig ewig Volk, ein einzig Volk von Brüdern“
(vgl. dazu Rainer Noltenius 1991, S. 63).
Arminius-Bezüge bei Wilhelm Raabe und Friedrich Halm 141

in Österreich wurde im 19. Jahrhundert Arminius bzw. Hermann290 als Urahne der Germanen
mystifiziert und als Befreier seiner Nation zur Identifikationsfigur stilisiert.

6.3. Arminius-Bezüge bei Wilhelm Raabe und Friedrich Halm

Arminius, der Cheruskerführer, der die Römer in der Varusschlacht im Teutoburger Wald be-
siegte, bekam in der Rezeption des 19. Jahrhunderts die Bedeutung als deutscher Nationalheld
und patriotische Symbolfigur. Berühmteste Beispiele dafür sind die beiden Vormärz-Dramen
über die Hermannschlacht von Heinrich Kleist und Christian Friedrich Grabbe.291 Die nationale
Vereinnahmung interpretierte Arminius als ersten Deutschen und die Germanen als unmittel-
bare Vorfahren der Deutschen. Folgerichtig entwickelte sich die Überlieferung von Arminius
und der Varusschlacht im 19. Jahrhundert zum Gründungsmythos einer germanisch-deutschen
Nation, dessen freiheitliche Repräsentativität von den Nationalliberalen seit dem Vormärz um
die Forderungen einer nationalen Einheit erweitert wurde.292 Im Rahmen dieser politisch-nati-
onalen Deutung des germanischen Helden entstand das Hermannsdenkmal bei Detmold, das
bereits während seiner Baugeschichte von der Grundsteinlegung 1838 bis zur Einweihung 1875
heterogen rezipiert wurde: Anfangs war es noch im Sinne der großdeutschen Lösung ausge-
richtet, indem die Bedeutung Hermanns als Einiger der germanischen Stämme hervorgehoben
wurde. Weil Arminius als historischer Vorläufer des Kampfes gegen die romanisch-französische
Übermacht galt, wurde das Denkmal bei seiner Fertigstellung im Kontext des Deutsch-Franzö-
sischen Krieges zum antifranzösischen Siegesdenkmal der Deutschen umgedeutet.293

290
Die Variation des Namens für den Cheruskerführer stammt von Luther. Dieser übersetzte „dux belli“ mit „Heer
man“, das zu „Hermann“ wurde. Vgl. dazu den Aufsatz von Dieter Mertens: Die Instrumentalisierung der Ger-
mania des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Beck, Heinrich (u. a.): Zur Geschichte der Gleichung
„germanisch – deutsch“: Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Berlin 2004. S. 37-102.
291
Es ist reichlich Literatur über das Thema vorhanden, eine Auswahl sei hier erwähnt, z. B. die Sammelbände von
Martina Wagner-Egelhaaf: Hermanns Schlachten: zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos (Bielefeld
2008), Gesa von Essen: Hermannsschlachten: Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahr-
hunderts (Göttingen 1998) oder von Rainer Wiegels: Arminius und die Varusschlacht. Paderborn u. a. 1995.
Außerdem: Köster, Udo: Hermannsschlachten als Kulturkampf: literarische Legitimationsdiskurse zu einem na-
tionalen Mythos. In: Razbojnikova-Frateva, Maja (Hrsg.): Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschspra-
chigen Literatur. Dresden 2006. S. 51-76. – Werber, Niels: Die geopolitische Erfindung von Volk und Reich: Hein-
rich von Kleists „Hermannsschlacht“ als Gründungsmythos. In: Galli, Matteo/Preußer, Heinz-Peter (Hrsg.):
Deutsche Gründungsmythen. Heidelberg 2008. S. 91-104. – Woesler, Winfried: Kleists und Grabbes Literarisie-
rung der Hermannsschlacht. In: Heilbronner Kleist-Blätter. 14 (2003). S. 33-44.
292
Vgl. dazu Puschner, Uwe: „Hermann, der erste Deutsche“ oder Germanenfürst mit politischem Auftrag. Der
Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert. In: Baltrusch, Ernst (Hrsg.): 2000 Jahre Varusschlacht: Geschichte
– Archäologie – Legenden. Berlin/Boston 2012. S. 257-286.
293
Vgl. Volker Plagemann: Hermannsdenkmäler und Bismarckdenkmäler. Reichseinigung ohne die Monarchen. In:
Tietenberg, Annette (Hrsg.): Das Kunstwerk als Geschichtsdokument. Festschrift für Hans-Ernst Mittig. München
1999. S. 81-99. Hier S. 89. Außerdem Puschner S. 265.
142 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

Das Kapitel 2.4 befasste sich mit der sozialpolitischen Kritik in Raabes Chronik der Sperlings-
gasse, die in der Darstellung der Amerika-Auswanderung einen ideellen Kontrapunkt bildet.
Kurz nachdem der Ich-Erzähler das Auswanderer-Schiff erblickt, das durch seinen Namen „Her-
mann“ bereits eine nationalpolitische Bedeutung impliziert, wendet er sich erst der national
konnotierten Umgebung zu, um diese dann in den Kontext einem kulturhistorisch entfalteten
Abriss germanischer Geschichte zu setzen.

– Ich verließ meinen Ruheplatz und ging durch den Buchenwald den nächsten Berg hinauf
bis zu einer freien Stelle, von wo aus der Blick weit hinausschweifen konnte ins schöne Land
des Sachsengaus. Welch eine Scholle deutscher Erde! Dort jene blauen Höhenzüge – der
Teutoburger Wald! Dort jene schlanken Türme – die große germanische Kulturstätte, das
Kloster Corvey! Dort jene Berggruppe – der Ith, cui Idistaviso nomen, sagt Tacitus. Ich be-
völkerte die Gegend mit den Gestalten der Vorzeit. Ich sah die achtzehnte, neunzehnte und
zwanzigste Legion unter dem Prokonsul Varus gegen die Weser ziehen und lauschte ihrem
fern verhallenden Todesschrei. Ich sah den Germanicus denselben Weg kommen und
lauschte dem Schlachtlärm am Idistavisus, bis der große Arminius, der „turbator Germa-
niae“, durch die Legionen und den Urwald sein weißes Roß spornte, das Gesicht unkennt-
lich durch das eigene herabrieselnde Blut, geschlagen, todmüde. Ich sah, wie er die Che-
ruska von neuem aufrief zum neuen Kampf gegen die „urbs“, wie das Volk zu den Waffen
griff: Pugnam volunt, arma rapiunt plebes, primores, juventus, senes! (BA 1, S. 148)

Die durch den Gedankenstrich gekennzeichnete Wende von der als „unglücklich“ und „traurig“
empfundenen Gegenwart zur heroischen, von der Landschaft widergespiegelten Vergangen-
heit, entspricht dem kompensierenden Rückgriff der damaligen Zeit auf die eigene Geschichte,
die in einem Konglomerat an historischen Verweisen kaleidoskopartig präsentiert wird. Indem
der Text Arminius und die Varusschlacht ins Zentrum des imaginierten Geschichtsbildes des
Ich-Erzählers stellt, das durch dessen visuelles und akustisches Erleben in der Rezeption durch
Tacitus Annalen an Wirkkraft gewinnt, bezieht er sich doppelt auf die nationale Symbolik des
19. Jahrhunderts. Durch den intertextuellen Verweis auf die wichtigste Quelle der Varus-
schlacht nimmt Raabe auf eine national ausgerichtete Codierung der Zeit Bezug. Denn Tacitus´
Annalen erhielt im 19. Jahrhundert Bedeutung nationalpolitischen Ausmaßes: In ihr hebt Taci-
tus die Rolle Arminius´ als „Befreier Germaniens“ (Tacitus Annalen 2, 88) und seine nationali-
dentifikatorische Funktion hervor. Mit der Konstruktion zum deutschen Gründungsmythos im
19. Jahrhundert wird der Text zu einer Art Gründungsurkunde, die „Alter und Würde der deut-
schen Nation“294 belegen soll. Dabei ist das „Germanische von vornherein vom geschichtlichen

294
Michael Titzmann: Die Konzeption der Germanen in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Link, Jür-
gen/Wülfing, Wulf (Hrsg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart
1991. S. 120-145. Hier S. 120.
Arminius-Bezüge bei Wilhelm Raabe und Friedrich Halm 143

Endzustand gedacht und räumlich wie sprachlich als Verlängerung des Deutschen in die Vorzeit
zurück konzipiert“ (Titzmann, S. 125).
Raabes Roman bricht die geschichtliche Imagination und kehrt wieder zur erzählten Wirk-
lichkeit des Ich-Erzählers und der historisch-national aufgeladenen Umgebung zurück.

Aber wo ist denn die Puppe? kam mir damit plötzlich in den Sinn. Ich schleuderte den Ta-
citus ins Gras, stellte mich auf die Zehen, reckte den Hals aus, so lang als möglich, und
schaute hinüber nach dem Teutoburger Walde. Da eine vorliegende ‚Bergdruffel‘ […] mir
einen Teil der fernen, blauen Höhen verbarg, gab ich mir sogar die Mühe, in eine hohe
Buche hinaufzusteigen, wo ich auch das Fernglas zu Hülfe nahm. Vergeblich – nirgends eine
Spur vom Hermannsbild! Alles, was ich zu sehen bekam, war der große Christoffel bei Kas-
sel, und mit einem leisen Fluch kletterte ich wieder herunter von meinem luftigen Auslug.
Hatte ich aber eben einen leisen Segenswunsch von mir gegeben, so ließ ich jetzt einen um
so lautern los. Ich sah schön aus! „Das hat man davon“, brummte ich, während ich mir das
Blut aus dem aufgeritzten Daumen sog, „das hat man davon, wenn man sich nach deut-
scher Größe umguckt: einen Dorn stößt man sich in den Finger, die Hosen zerreißt man,
und zu sehen kriegt man nichts als – den großen Christoffel.“ Ärgerlich schob ich mein
Fernglas zusammen, steckte den Tacitus zurück in die Tasche und ging hinkend den Berg
hinunter wieder der Weser zu. (BA 1, S. 148 f.)

Die Position des Ich-Erzählers wird im gründerzeitlichen Spannungsfeld zwischen Ideal und
Wirklichkeit verortet. Er sieht, weil er auf der Suche nach dem deutschen Ideal ist, die Realität
nicht. Die Metonymie den Tacitus betreffend bestärkt den Konnex von Imagination und Wirk-
lichkeit gestisch („Ich schleuderte den Tacitus ins Gras“, „ich […] steckte den Tacitus zurück in
die Tasche“). Der Christoffel, gemeint ist die im 18. Jahrhundert unter Landgraf Karl erbaute
Herkulesstatue bei Kassel,295 sollte Sinnbild des erfolgreichen und tugendhaften Herrschers
sein, war im 19. Jahrhundert aber „das Wahrzeichen absolutistischen Herrentums“.296 Das Mo-
nument steht demnach in völligem Widerspruch zur eigentlich gesuchten Hermannsstatue im
südlichen Teutoburger Wald, die zwischen 1838 und 1875 als Zeichen für Einheit und Gleichheit
gebaut wurde – und die sich damit zur Erscheinung der Chronik noch im Bau befand. Die „Er-
nüchterung des Pathos […] durch ironische Brechung“ (RLL 3, S. 39) nutzt Raabe, um den Ger-
manenkult seiner Zeit kritisch zu besprechen. Dabei bedient er die gängigen nationalen Meta-
phern und Symbole so selbstverständlich, dass sich der Text trotz der ironischen Einschübe zur
Aneignung und Identifikation eignete und damit die Funktion eines „kulturellen Textes“ (Ass-
mann, S. 238) mit nationaler Dimension besaß.

295
Die Herkulesstatue wurde Christoffel nach der von Peter Paul Rubens 1611 gemalten heiligen Christopherus
genannt, weil diese ihm sehr ähnlich war (beide waren groß, wild gestaltet und mit einer Keule ausgestattet).
Raabe erwähnt die Statue auch in seinem Roman Gutmanns Reisen (BA 18, S. 230). Vgl. dazu die Ausführungen
in Kap. 1.5. und 7.1.2 in dieser Arbeit.
296
Hartmann, Fritz: Gutmanns Reisen. Raabes politischer Roman. In: MGFG 21/3,4 (1931). S. 156-171. Hier S. 157.
Siehe dazu auch der von Christiane Lukatis herausgegebene Ausstellungskatalog Herkules. Tugendheld und
Herrscherideal. Kassel 1997.
144 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

Die Legitimierung der Gegenwart durch den Rückgriff auf die Vergangenheit war auch auf
österreichischer Seite wesentlicher Faktor bei der nationalen Identitätssuche. Auch nach den
Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund 1866 standen viele Literaten weiterhin
zwischen deutscher Kulturnation und österreichischem Patriotismus. Um beide
Identifikationsebenen miteinander zu vereinbaren, wurde mit der Rezeption germanischer
Heldensagen wie die über Arminius auf einen gemeinsamen Ursprung verwiesen.
So auch bei Friedrich Halm (1806-1871), der wie Anastasius Grün unter einem Pseudonym
seine Werke veröffentlichte (eigentlich hieß er Eligius Franz Joseph Freiherr von Münch-
Bellinghausen) und mit der Namensänderung seinen Adelstitel ablegte, um als bürgerlicher
Autor wahrgenommen zu werden. In seinem Drama Der Fechter von Ravenna, das am 18.
Oktober 1854 im Burgtheater in Wien uraufgeführt wurde, erzählt Halm die Geschichte des
wenig bekannten Thumelicus, den Sohn des Cheruskerführers Arminius und Thusneldas.
Tacitus deutete lediglich an, dass Thumelicus in Ravenna aufwuchs: „Arminius Gemahlin gab
einem Sohne das Leben; der Knabe ward in Ravenna erzogen und zu welchem Hohne des
Schicksals er bald nachher aufgespart worden, werde ich zu seiner Zeit berichten.“297 Halm
bezog sich in seinen Quellenstudien auf einen Aufsatz des Jenaer Philologen Karl Wilhelm
Göttling,298 der aus den Andeutungen Tacitus schlussfolgerte, dass Thumelicus in Ravenna zum
Gladiator, zu einem sog. Fechter erzogen worden wäre, um zur Belustigung des römischen
Publikums in Schaukämpfen vorgeführt zu werden. Dieser Interpretation folgend entwickelt
Halm die Geschichte in seinem Drama weiter: Der als Säugling von der Mutter entrissene
Thumelicus, der Sohn des „Ur-Germanen“ und Bekämpfer der Römer, wird durch seine
römische Erziehung selbst zum Römer. Seine germanische Herkunft, deren Brauchtum und
Sprache, sogar die eigene Mutter bleiben ihm fremd. Als Thumelicus zur Belustigung des
römischen Kaisers Caligula in der Arena den Germanen spielen soll, weigert er sich.

Was deutsch, was römisch!


Ich bin ein Fechter, Kampf ist mein Gewerbe;
Und wenn du etwa deines Deutschlands wegen
Dich meines Standes schämst, so wisse nur.
Ich schäm´ nicht minder mich des deutschen Namens,
Ich schäm´ mich, wisse, ein Barbar zu seyn,
Und hier für alle Zeiten schwör´ ich ab
Des deutschen Stammes Namen und Gemeinschaft!
Zu Rom ward ich geboren, Rom erzog mich […]

297
Tacitus, Annalen 1, 58.
298
In einem Artikel im Abendblatt der Wiener Zeitung erklärt Halm, der mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert wurde,
minutiös sein Vorgehen. In: Abendblatt der Wiener Zeitung 71 (27.03. 1856). S. 281 f. Die Erklärung Halms wurde
in allen wichtigen Zeitungen abgedruckt. Vgl. auch Halm, Friedrich: Zur Fechterfrage. In: Bayrisches Volksblatt
78 (1. 4. 1856). S. 309-310.
Arminius-Bezüge bei Wilhelm Raabe und Friedrich Halm 145

Ich bin ein Römer, will ein Römer seyn! (HW 6, S. 277 f.)

Der Konflikt um Thumelicus´ Entfremdung von seiner deutschen Herkunft wird durch die Taten
und Stellung seines Vaters als Befreier der Germanen und Besieger der Römer aufs Äußerste
verschärft. Zwar entscheidet sich Thumelicus, vor die Wahl gestellt, für eine römische Zugehö-
rigkeit, eine Integration kommt aber nicht zustande; er bleibt ein Fremder und Außenseiter.299
Halm zeigt, wie die römische Rezeption des Germanenbildes vom Gegensatz zum eigenen
Selbstbild einer hohen Kultur geprägt war, indem sie diese als wild sowie unzivilisiert attribuiert.
Dass Lycisca Thumelicus nach seiner Herkunft fragt und ihn einen deutschen Fürsten nennt,
fasst er als Beleidigung auf:

Wie? Willst du mich auch verhöhnen, wie die Andern?


Mich wilden Mann und Bärenhäuter schelten? Du wagst es, Dirne? (HW 6, S. 259)

Um dem römischen Bild des wilden, archaischen Germanen zu entsprechen, soll Thumelicus
bei seinem Auftritt einen „Helm mit Geierflügeln“ und „[e]in Thierfell um die Schultern“ (HW 6,
S. 261) tragen. Um die Germanen zu demütigen, soll auch Thusnelda in germanischer Verklei-
dung auftreten, um ihren Sohn sterben zu sehen. Als Verkörperung der Germania soll sie
„Deutschlands Kranz“ (HW 6, S. 125) aus Eichenlaub tragen, den Thusnelda in Anspielung auf
die unter Arminius gewonnene Varusschlacht als „Teutoburgerwald um meine Schläfe“ (HW 6,
S. 126) bezeichnet.
Während Thumelicus´ seine nationale Identität durch seine Sozialisation bestimmt sieht, ar-
gumentiert seine Mutter Thusnelda dagegen auf Basis von Herkunft und Vererbung:

Nein, er ist ein Deutscher,


In jedem Herzschlag, jedem Tropfen Bluts
Ein Deutscher! — Deutsche Treue ist´s, mit der
Sein Herz an Rom hängt, weil es ihn erzogen;
Deutsch ist der Muth, der ihn zum Kampfe drängt;
Deutsch selbst der Wahn, der Alles lieber will,
Als eben deutsch sehn! — Ja, er ist ein Deutscher (HW 6, S. 281)

Das „Nein“ am Anfang der Sentenz und das „Ja“ am Ende akzentuieren die Ambivalenz zwischen
Thumelicus´ nationaler Identität und seiner nationalen Integration. Die Behauptung, dass die
Verleugnung der eigenen nationalen Identität ein typisch deutscher Charakterzug sei, verweist
auf die Auseinandersetzung mit der deutschen Nationalidentität im 19. Jahrhundert. Anhand
der Figur des Thumelicus diskutiert Halm den Nationalismus unter Einbeziehung der Frage nach

299
Von seinen Gefährten wird er aufgrund seiner germanischen Herkunft verspottet und verhöhnt, vgl. HW 6, S.
255 f., S. 259.
146 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

dem Verhältnis von Abstammung und Sozialisation für die soziale sowie nationale Disposition
eines Menschen im Spannungsfeld zwischen Heimat und Fremdheit.
Entsprechend Tacitus Bericht erfährt der Leser über Arminius, deutsch Armin, dass diesem
zu seinen Lebzeiten nicht die gebührende Anerkennung zuteilwurde.300 Erst nach seinem Tod
sei der Germanenführer als „Held der Teutoburgerschlacht“, als der „Retter“ und „Befreier“
(HW 6, S. 212) gefeiert worden. Als „Deutschlands bester Mann“ (S. 201) wird die Erinnerung
an ihn sogar sakralisiert: „er ist ein „gottgesandte[r] Mann“ (S. 212). Die Ziele Armins, die „Ver-
einigung der Kräfte“ und Beendigung der „Herrschaft Roms“ (S. 213), wird auf die neue Ein-
heitsbewegung in Germanien projiziert:

Zum Kampfe rüstet sich, was waffenfähig;


„Ein einig Deutschland!“ schallt es durch die Thäler,
„Ein Reich und einen Führer!“ jauchzt das Volk;
„Doch wer soll´s seyn; wer soll das Banner tragen?“
Da mahnt´ ich sie, Thusnelda lebe noch,
Und habe einen Sohn Armin geboren!
„Ja, rief es: „Der soll´s seyn! Der soll uns führen,
Der Sohn Armin´s!“ (HW 6, S. 213)

Thumelicus soll dem Wunsch des germanischen Volkes entsprechend die Rolle des verstorbe-
nen Vaters ausfüllen, zum neuen Volkshelden und Befreier werden, wobei seine Stellvertretung
auf bloße Staffage reduziert wird.301 Das Erbe seines Vaters, den er nie kennengelernt hat, be-
zieht sich auf die Lenkung eines Volkes, bei dem er nie gelebt hat. In der Darstellung der Dis-
krepanz von konstruierten und tatsächlichen Herrscherbild reflektiert Halm die Beliebigkeit ei-
ner solchen Führerschaft und die Irrationalität und Willkür der nationalen Emphase seiner
eigenen Zeit.
Ein Verrat an Arminius aus den eigenen Reihen, der die Befreiung Thusneldas und ihres Soh-
nes vereitelt und damit das Fortleben seines Stammes beendet, entwirft das Szenario eines
uneinigen Deutschland, in dem die „deutschen Völker“ (HW 6, S. 210) in Konkurrenz zueinan-
derstehen. Durch die Anspielungen auf den aktuellen preußisch-österreichischen Dualismus ar-
tikuliert der Autor seine Hoffnungen auf eine großdeutsche Lösung. Die Hintanstellung der Par-
tikularinteressen zum Wohle des deutschen Kollektivs wird exklusionistisch, durch ein
gemeineinsames Feindbild („Im Angesicht des allgemeinen Feindes“, ebd.) motiviert und durch
die Aussicht auf einen universalen Machtgewinn attraktiv gestaltet: „Wo sie vereint, ein Wille,

300
Vgl. Tacitus: Annalen 2,88: „Die griechische Geschichtsschreibung kennt ihn nicht, und bei den Römern spielte
er nicht die ihm gebührende Rolle, da wir die alte Geschichte rühmend hervorheben und der neuen gleichgültig
gegenüberstehen.“
301
Die Fürsten, wie die Völker harren dein!
Tritt unter sie! — Nur deines Winkes braucht´s,
Nur deines Anblicks, und sie sind in Waffen! (HW 6, S. 287 f.)
Arminius-Bezüge bei Wilhelm Raabe und Friedrich Halm 147

eine Kraft, / Groß, unbezwingbar, Weltgebieter wären!“ (HW 6, S. 211). Das Verfehlen dieser
Vision wird im Text unter anderem dadurch begründet, dass in Deutschland Personen, die zu
Lebzeiten verkannt wurden (wie Arminius), erst posthum gewürdigt werden: „Was ist, gilt
nichts, nur was da war, ist heilig; / Des Deutschen Größe wächst nur aus dem Grab!“ (HW 6, S.
213). Indem die Installierung des Anti-Helden Thumelicus als neuer Germanenführer und -be-
freier scheitert, kritisiert Halm den Geschichtskult, der den Prozess der nationalen Identitäts-
suche begleitete und der im 19. Jahrhundert in der viel rezipierten Arminius-Sage kulminierte.
Halm erinnert an die Ermordung des Germanenführers aus den eigenen Reihen und der nach
seinem Tod stattgefundenen Heldenverehrung:

Erst sprach man unbestimmt von bessern Tagen,


Dann nannte man den Mann, der sie gebracht,
Und jetzt — jetzt fliegt weit über Berg und Thal
Ein Schmerzensschrei der Sehnsucht nach Armin,
Jetzt spricht´s, so weit die deutsche Erde reicht,
Aus jedem Mund, jetzt tönt´s aus Lied und Sagen,
Daß keinen Größern jemals sie getragen! (HW 6, S. 212 f.)

Durch den intertextuellen Verweis auf Arndts Des Deutschen Vaterland bezieht sich Halms
Drama auf aktuelle Texte der nationalen Selbstvergewisserung. Die historisch-kulturelle Identi-
tätsbindung wird durch mündliche Überlieferung („Lied und Sage“) vermittelt, deren Universa-
lität nochmal betont wird („aus jedem Mund“).
Halm greift das beliebte Germanen-Sujet auf und erneuert es mit Hilfe neuester Erkennt-
nisse der aufblühenden Geschichtswissenschaft. Sein Historiendrama konstruiert dabei eine
Vergangenheit, die die deutsche und deutschösterreichische Identitätssuche reflektiert, indem
es die Spannung von germanischer Provenienz und römischer Sozialisation des Protagonisten
darstellt. Diese Spannung mag der von österreichischen Autoren empfundenen Ambivalenz von
politischer und kultureller Identität entsprochen haben.
In einer Rezension beschreibt Adalbert Stifter Halms Fechter von Ravenna als „nationales“
Kunstwerk, bei dem „uns Deutschen […] lebenswarm [wird] […], da unser Vaterland mit seiner
Größe und Schönheit wie mit seinen Fehlern die es uns menschlich näher bringen, heißgeliebt
bewundert und getadelt in die tiefste Seele sinkt“ (WUB 8/1, S. 72). Die von Stifter bemerkte
Authentizität von Halms Darstellung des Arminius-Sujets wird gerade durch die Ambivalenz von
dem in der Vergangenheit platzierten Pathos und der kritischen Reflexion der nationalen Em-
phase getragen. Diese kritische Distanz erreicht Raabe durch Ironie, indem er die Suche des
Protagonisten nach der deutschen Identität, die sich für ihn in der nationalliberalen Bedeutung
des Hermann-/Arminius-Denkmals manifestiert, nicht nur ins Leere laufen, sondern in das Ge-
genteil des Erwarteten enden lässt. Eine weitere Distanz wird durch den zeitlichen Abstand und
die Metaebene – der Text thematisiert die im Monument manifestiert und erinnerungskulturell
gewertete Geschichte, nicht die Geschichte selbst – erreicht. Sowohl bei Raabe als auch bei
148 Große Persönlichkeiten und Vater(lands)figuren: Luther, Tell, Arminius

Halm wird explizit auf Tacitus Annalen als Quelle für die Arminius-Sage verwiesen. Während
Halm sein Drama auf die Quelle aufbaut, indem er den Text als Ausgangspunkt für seine fiktive
Geschichte verwendet, werden bei Raabe die Annalen vergegenständlicht und als Lesetext in
die Hände des Protagonisten gelegt.
7. Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Die Erfahrungen der gescheiterten Revolution von 1848/49 und der reglementierenden Reak-
tionszeit machten die Notwendigkeit neuer Handlungsformen sichtbar, so dass die Nationalli-
beralen sich auf außerparlamentarischer Ebene, im Rahmen von Vereinen reorganisierten. Die
zunehmende Demokratisierung der Gesellschaftsstrukturen seit den 1860er Jahren potenzierte
die Bedeutung des Vereinswesens. Weil diese Kooperationen überregional und schichtenüber-
greifend wirkten und eine Teilhabe am öffentlichen Leben und seiner Gestaltung förderten,
wurden sie zum wichtigsten Medium des Nationalismus.302 Die in Regeln und Statuten formu-
lierten Ziele und Interessen sowie die gemeinsam zelebrierten, rituellen Abläufe gaben neuen
Halt und Orientierung und riefen ein gruppenspezifisches, später überregionales Zusammen-
gehörigkeitsgefühl hervor. Weil es nach der gescheiterten Revolution 1848/49 in Deutschland
und Österreich starke Einschnitte der Versammlungsfreiheit gab, dienten vordergründig unpo-
litische, kulturell ausgerichtete Vereine (Gesangsvereine, Turnvereine etc.) als bürgerlich-libe-
rale Artikulationsforen. Sie boten Ersatz für das Engagement in politischen Parteien, gaben
Raum für nationale Bestrebungen und befriedigten das Bedürfnis nach Geselligkeit und (halb-
)öffentlicher Aktivität. Indem es prinzipiell jedem Mann und jeder Frau gleich welcher Herkunft
freistand, einem oder mehreren Vereinen beizutreten, wurde eine immerhin offizielle soziale
Gleichheit erreicht, die innerhalb der meisten Gemeinschaften sogar implizites Statut war. Die
soziale und rechtliche Offenheit der Vereine sowie die prinzipielle Gleichheit aller Mitglieder
war einer der Gründe für den Erfolg des Assoziationswesens im 19. Jahrhundert.
Seine Anfänge nahm dieser „organisierte gesellschaftliche Nationalismus“ (vgl. Düding) nach
den Befreiungskriegen mit der Studentenbewegung und der Gründung der Burschenschaften.
Das Wartburgfest 1817 war das erste öffentliche Fest mit nationalpolitischen Kontext. Nach der
gescheiterten Revolution 1848/49 wurde die politische Funktionalisierung der Vereine als Iden-
tität und Solidarität stiftender Faktor umso wichtiger, weil sie einen außerstaatlichen Rückzugs-
raum boten.303 Daher sind Wilhelm Raabes vielfache Mitgliedschaften in Vereinen Signum sei-
ner Zeit, in der aufgrund der territorialen Zersplitterung ein nationales Gemeinschaftsgefühl
nur schwer entstehen konnte.
Während es in der Schweiz bereits im 17. Jahrhundert Vereine gab, die eine politische Öf-
fentlichkeit repräsentierten, bekamen sie in Deutschland und Österreich erst Anfang des 19.
Jahrhunderts eine sozialpolitische Bedeutung. Einer der ersten deutschen Vereine, der sein Bil-
dungsziel mit politischen Ambitionen verband, war der 1853 gegründete Literarisch-Politische

302
Vgl. Dieter Düding: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847). Bedeutung und
Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München 1984.
303
Vgl. zu den verschiedenen Phasen des Vereinswesens Stephan-Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie.
Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Bereich 1750-1914. Göttingen 2003. S. 12 f.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018


J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_7
150 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Verein. Die von Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha304 ins Leben gerufene Assoziation wollte
hauptsächlich im Presse- und Verlagswesen politisch tätig sein und wurde zur „Sammlungsbe-
wegung für die gemäßigt liberalen Achtundvierziger“.305 Als persönlicher Berater und Freund
stand dem liberalen Herzog der Herausgeber der Grenzboten, Gustav Freytag zur Seite.306 Des-
sen Vorstellung eines kleindeutschen Reichs unter preußischer Führung deckte sich mit den
Absichten des liberal-konservativen Bürgertums des Nachmärzes:

Oder endlich kann Ew. Hoheit zur Politik Ihres eigenen Lebens machen: der Feldherr des
protestantischen Deutschlands, das heißt, Preußens werden, der Vertraute und intime Hel-
fer der künftigen Monarchen von Preußen, welcher die große politische Idee, für die Ew.
Hoheit jahrelang gekämpft und verhandelt: Deutschland ein Bundesstaat, Preußen sein
Führer, den preußischen Führer gegenüber vertritt.307

Im Sinne der deutschen Nationalbewegung setzte sich Ernst II. für eine Einigung der deutschen
Staaten ein. So hatte er in seinen beiden Herzogtümern große Teile der Frankfurter Verfassung
von 1848 eingeführt, zum Beispiel die volle Vereins- und Versammlungsfreiheit und das allge-
meine, gleiche, aber indirekte Wahlrecht aller männlichen Staatsbürger über 25 Jahren. Wegen
der liberalen Haltung des Herzogs fanden größere Vereinsveranstaltungen in den Herzogtü-
mern Sachsen-Coburg und Gotha statt, zum Beispiel die Erste Generalversammlungen des
Deutschen Nationalvereins 1860, das erste deutsche Turnfest 1860 oder die Gründungsfeier
des Deutschen Schützenbundes 1861. Das Wirken Ernst II. für die deutsche Reichseinigung wür-
digte König Wilhelm I. öffentlich bei der Kaiserproklamation in Versailles 1871: „Ich vergesse
nicht, daß ich die Hauptsache des heutigen Tages Deinen Bestrebungen mit zu danken habe.“308

304
Siehe Ernst II. Sachsen-Coburg und Gotha: Aus meinem Leben und meiner Zeit. S. 305-334.
305
Hambrecht, Rainer: Herzog Ernst II. und der literarisch-politische Verein. In: Bachmann, Harald u. a. (Hrsg.):
Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha 1818-1893 und seine Zeit. Coburg/Gotha 1993. S. 81.
306
Vgl. zum Verhältnis der Grenzboten zur deutschen Reichsgründung den Aufsatz von Michael Thormann: Für die
„nationale Hälfte des Bewußtseins“: der Beitrag der Grenzboten zur kleindeutschen Nationalstaatsgründung
1871. In: Amann, Klaus/Wagner, Karl (Hrsg.): Literatur und Nation: Die Gründung des deutschen Reiches 1871
in der deutschsprachigen Literatur. Wien u. a. 1996. S. 79-92.
307
Brief an Ernst II. vom Juni 1865. In: Fenske, Hans (Hrsg.): Der Weg zur deutschen Reichsgründung 1850-1870.
In: Baumgart, Winfried/Buchner, Rudolf (Hrsg.): Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20.
Jahrhundert: Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Darmstadt 1977. Bd. 5, S. 124. Zu der Rolle des Herzogs in
der Nationalbewegung siehe Brütting, Rolf: „Lassen Sie uns für Deutschland, für den Fortschritt und die Aufklä-
rung fechten!“ Die Stellung Herzog Ernsts II. und des „Coburger Kreises“ in der deutschen Nationalbewegung.
In: Bachmann/Helmut (wie Anm. 306). S. 33 ff.
308
In: Ernst II. Sachsen-Coburg und Gotha: Aus meinem Leben und meiner Zeit. S. 13. Auf Anton von Werners be-
kanntem Gemälde Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches (18. Januar 1871) ist Ernst II. auf dem Podest
stehend abgebildet, auf dem sich der neu proklamierte Kaiser von den deutschen Fürsten bejubeln lässt. Wie
Bismarck sticht der durch seine weiße Uniform hervor.
Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein 151

Der Deutsche Nationalverein bot ein wichtiges Artikulationsforum für das liberale Bürgertum
nach der Reaktionszeit und war Wegbereiter der nationalen Einigung Deutschlands. Raabe war
nicht nur Mitglied, sondern setzte ihm in seinem Roman Gutmanns Reisen ein literarisches
Denkmal. Das im Gründungsjahr des Deutschen Nationalvereins gefeierte Schillerjubiläum
brachte weitere Vereinsgründungen hervor, unter anderem den Schriftsteller- und Journalis-
tenverein Concordia und die bis heute bestehende Schillerstiftung. Die Turner-, Gesangs- und
Schützenvereine, die in den Teilkapiteln 7.2 bis 7.4 behandelt werden, waren die massenwirk-
samsten Vereinstypen. Ihre Agitation äußerte sich in den Vereinsfesten, bei denen sich das Kol-
lektiv der Vereinsmitglieder um das Kollektiv der öffentlich Feiernden erweiterte (Zuschauer,
Mitglieder anderer Vereine). Zu der nationalstiftenden Bedeutung der Vereine und ihrer Feste
im Spiegel der Literatur nehmen die folgenden Kapitel Stellung.

7.1. Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein

Der Deutsche Nationalverein, dessen unmittelbarer Vorgänger der Literarisch-Politische Verein


war, wurde im Schillerjahr 1859 gegründet und war das erste politische Organ der demokrati-
schen und liberalen Kräfte nach der Revolution.309 Die primäre Forderung der größtenteils aus
dem Besitz- und Bildungsbürgertum stammenden Mitglieder war die nationale Einheit
Deutschlands, durch die gleichzeitig eine Liberalisierung erreicht werden sollte.
Vor allem die italienische Nationalbewegung, das Risorgimento, wirkte vorbildhaft auf die
liberalen Kräfte in Deutschland, sie rief „geradezu nach einer entsprechenden Initiative in der
deutschen Angelegenheit“.310 In Italien agierte man bereits im Vormärz in Vereinen, vor allem
in Geheimbünden, die großen Einfluss auf Gesamteuropa hatten; das durch Mazzini gegrün-
dete „Junge Italien“ war beispielsweise Vorbild für das „Junge Deutschland“ und das „Das junge
Griechenland“. Hinsichtlich seiner politischen Inhalte orientierte sich der Deutsche National-
verein an seinem italienischen Pendant, der Società Nazionale.311 Motive der Gründung waren
in Italien wie in Deutschland die Organisation und Sammlung der liberalen und demokratischen

309
Die Gründer verwendeten sowohl die Bezeichnung „Verein“ als auch „Partei“. Tatsächlich glich der National-
verein in seiner politischen Organisation und Intention einer politischen Partei, weshalb Shlomo Na´aman ihn
teilweise auch Parteiverein nennt (Na´aman, Shlomo: Der Deutsche Nationalverein: die politische Konstituierung
des deutschen Bürgertums 1859 – 1867. Düsseldorf 1987. S. 62). Da aber seit 1832 politische Parteien verboten
waren, mussten „zur Benennung politischer Organisationen im Lande, wie sie nach dem März 1848 möglich
wurden“ (Boldt, S. 1) die Bezeichnung „Verein“ dienen, um Repressalien oder ein Verbot zu vermeiden.
310
Offermann, Toni: Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850-1863. Bonn 1979, S. 172. In
Raabes Gutmanns Reisen wird das folgendermaßen kommentiert „Nun guck einer diese Italiener! Sind sie uns
schon wieder diesen Schritt in der Weltgeschichte voraus“ (Ausspruch Vater Gutmanns. In: BA 18, S. 288).
311
Siehe dazu Mark Gellert: Die „Societa Nazionale Italiana“ und der „Deutsche Nationalverein“: ein Vergleich der
Organisationen und ihrer Rolle in nationaler Bewegung und Einigung. Aachen 1999.
152 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Kräfte, die für den Nationalstaat eintraten. Die Kriegsereignisse in Italien initiierten in Deutsch-
land die erste politische Agitation des Bürgertums nach Scheitern der Märzrevolution. In Form
von Petitionen forderten hochrangige liberale und demokratische Politiker, wie der Raabe-
Freund Hermann Baumgarten, die diplomatische und militärische Führung Gesamtdeutsch-
lands durch Preußen: „Machen wir keine solche Diktatur Preußens, so könnte es sein, dass wir
die Diktatur Bonapartes ertragen müssten“.312 In der Politik der Neuen Ära sah man einen „aus
freiem Antriebe eingeführten Systemwechsel“ (LeMang, S. 14) Preußens und hoffte daher
beide gesetzten Ziele – Abwehr des Feindes und gleichzeitige Stärkung der eigenen nationalli-
beralen Positionen – zu erreichen. Am 14. August 1859 waren bereits fünf deutsche Staaten an
der außerparlamentarischen Initiative beteiligt, am 15. und 16. September wurde schließlich in
Frankfurt der Deutsche Nationalverein gegründet.313 Die 144 Teilnehmer der Gründungsver-
sammlung,314 einigten sich auf ein Statut, das als Ziel des Vereins die nationalstaatliche Einigung
Deutschlands durch „alle ihm zu Gebote stehenden gesetzlichen Mittel“ (LeMang, S. 25) dekla-
rierte. Ein engerer Ausschuss315 übernahm die geschäftlichen Aufgaben. Man organisierte den
Verein zentralistisch, da per Bundesbeschluss Zweigvereine verboten waren.316 Die Mitglieder
des Nationalvereins kamen hauptsächlich aus den mittel- und norddeutschen Staaten und ge-
hörten dem liberalen Bürgertum an, daneben gab es aber auch einen kleineren, gemäßigt de-
mokratischen Flügel.317 Obwohl der Verein einen überwiegend liberalen Charakter besaß und
„jegliche demokratische Massenaktionen strikt ablehnte“,318 war er in Deutschland und Öster-
reich schon nach kürzester Zeit verboten und wurde aus Frankfurt verwiesen. Einzig Herzog

312
Aus der Nassauer Erklärung, abgedruckt bei LeMang, Richard: Der deutsche Nationalverein. Berlin 1909. S. 9.
Die Sorge entstand im Laufe des Sardinischen Kriegs, in dem Frankreich erfolgreich auf Seiten Italiens gegen
Österreich kämpfte.
313
Die Erinnerung an die Parlamentsstadt von 1848/49 sollte die Sympathie Süddeutschlands hervorrufen.
314
Ende August beliefen sich die Zahl der Beitrittserklärungen schon auf über Tausend, 1860 zählte der National-
verein über 5000 Mitglieder mit 200 Agenten, zwei Jahre später hatte sich die Zahl verfünffacht. Zur Entwick-
lung der Mitgliedszahl und ihrer Verteilung in den einzelnen Ländern vgl. Gerd Fesser: Deutscher Nationalver-
ein. In: Fricke, Dieter (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien
und Verbände in Deutschland (1789-1945). Deutsche Liga für Völkerbund – Gesamtverband der christlichen Ge-
werkschaften Deutschlands. Leipzig 1984. Bd. 2, S. 201-215. Hier S. 106 und 201.
315
Neben Rudolf von Bennigsen und August Metz gehörte auch Hugo Fries, Andreas Reuß, August von Rochau,
Hans Viktor von Unruh und Fedor Streit diesem Ausschuss an.
316
In Verhandlungen der ersten Generalversammlung am 3., 4. u. 5. September 1860. Herausgegeben vom Verlag
der Expedition der Wochenschrift des Nationalvereins. Coburg 1860. S. 7. Im Folgenden als „Verhandlungen“
bezeichnet.
317
Ihm gehörte der Geschäftsführer des Nationalvereins Streit an, der „als entschiedener Demokrat eine interes-
sante Kontrastfigur zu den anderen liberalen Vorstandsmitgliedern“ (Offermann, S. 173) abgab.
318
Fesser, S. 201. Wegen der unterschiedlichen politischen Herkünfte wurde immer wieder festgehalten, dass die
nationale Unabhängigkeit und Einheit höher zu stellen sei, als die Forderungen der Partei. Rita Aldenhoff be-
tont, dass damit das „Zusammengehen von Vertretern des Fortschrittsliberalismus (zum Beispiel Bennigsen,
Unruh, Forckenbeck) einerseits mit Vertretern des Linksliberalismus, oftmals ehemaligen 48er Demokraten wie
Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein 153

Ernst II. von Coburg-Gotha bot dem Verein in seinem Herzogtum Exil an. Auf seiner ersten Ge-
neralversammlung in Coburg vom 3. bis 5. September 1860 konkretisierten sich die politischen
Forderungen des Nationalvereins. Die 446 Teilnehmer, darunter auch Wilhelm Raabe, be-
schlossen die Annahme der Reichsverfassung von 1848 als rechtlichen Ausdruck für den „An-
spruch auf bundesstaatliche Einheit“ (Verhandlungen, S. 15). Eine Zusammengehörigkeit der
deutschen Länder mit Österreich wurde zwar angestrebt, sein vorläufig vorgesehener Aus-
schluss jedoch für eine Einigung Deutschlands akzeptiert.319 Auf der Generalversammlung im-
ponierten Raabe hauptsächlich zwei Redebeiträge, der Vortrag des linksliberalen Hermann
Schulze-Delitzsch und die Rede des Verlegers und Mitgründers des Nationalvereins Franz
Duncker.320 Beide zitiert Raabe in seinem Roman Gutmanns Reisen wörtlich (vgl. BA 18, S. 299).
Sowohl Schulze-Delitzsch als auch Duncker befürworteten die preußische Führungsposition in
Deutschland und lehnten eine österreichische Beteiligung an der Neuordnung des Deutschen
Reichs ab. In diesem Sinne gestaltet Raabe seinen Roman, indem er den Ausschluss Österreichs
aus dem Deutschen Reich und die kleindeutsche Lösung durch die Figurenkonstellation symbo-
lisch darstellt.
Raabe beteiligte sich auch in den Folgejahren an der Arbeit im Nationalverein: Er war Mit-
verfasser einer am 21. November 1860 entworfenen Adresse des Braunschweiger Vereins an
den Landtag, besuchte als Vertreter der Wolfenbütteler Gruppe die zweite Generalversamm-
lung in Heidelberg und trug durch Redebeiträge zu den Versammlungen bei.321 Während in
Braunschweig immer noch eine „multiple Identität“322 der einzelnen Staaten spürbar war, über-
wog bei der zweiten Generalversammlung des Vereins 1861 in Heidelberg nach Bericht Raabes
die deutschnationale Euphorie: „Die Stimmung war eine sehr gute und Heidelberg in Schwarz-
rothgold war ein ganz ander Ding als Braunschweig in Blau und Roth und Weiß etc.“323 Die

Waldeck, den Vertretern der gemäßigten Demokratie (Jacoby, Temme, Streckfuß) und der revolutionären De-
mokratie (Fedor Streit) andererseits“ gemeint seien. Aldenhoff, Rita: Schulze-Delitzsch. Ein Beitrag zur Ge-
schichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung. Baden-Baden 1984. S. 119.
319
„Der Verein wird aber auch, falls die Macht der Verhältnisse und unbesiegbare Hindernisse die deutschen Theile
Österreichs vom gleichzeitigen Anschluß an den deutschen Bundesstaat abhalten, sich hiedurch nicht hindern
lassen, die Einigung des übrigen Deutschlands anzustreben“ (Verhandlungen, S. 15).
320
In seinem Tagebuch vermerkt Raabe am 03.09.1860: „Vortreffliche Rede von Schulze-Delitzsch“ und am
05.09.1860: „Franz Dunker, glänzende Rede“ (beides in: Henrich, Friedhelm: Wilhelm Raabe und die deutsche
Einheit. München 1998. S. 17 f.). Siehe Aldenhoff zu Schulze-Delitzschs politischer Positionierung S. 199 f.
321
Aus dem Tagebuch: „Ab 7½ zur Versammlung des Wolfenbütteler Nationalvereins [am 18. August 1860] nach
dem Forsthaus. Die Verhandlungen. 2mal geredet. – Um den Wall mit Köpp und Dr. Ehrenberg bis 10¾“ (Hen-
rich 1998, S. 16). Nach Hartmann verrät das Gedicht An´s Werk, an´s Werk den Gestus beider Redebeiträge von
Raabe (Hartmann, S. 159 f.).
322
Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus. Geschichte – Formen – Folgen. München 2004. S. 65.
323
Am 25. August 1861 an seine Verlobte Berta Leiste. In BAE 2, S. 71. Ob der Besuch in Heidelberg und der positive
Eindruck, der er bei Raabe hinterließ, den Umzug nach Stuttgart 1862 mit motivierten, also politisch begründet
war, lässt sich nur vermuten.
154 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Bundesfarben der Fahnen in Heidelberg waren Ausdruck des neuen Einheitsbewusstseins, wäh-
rend die Farben des Herzogtums und der Stadt Braunschweig den partikularistischen Einzel-
staat indizierten.324 Die Bundesfahne war „Kennzeichen des Nationalstaats“325 und förderte als
Symbol der Einheit die nationale Identifikation. Von der Bedeutung der neuen, von den Unifor-
men des Lützower Heeres inspirierten Farben für Raabe und seine Zeitgenossen berichtete Mo-
ritz Hartmann nach einem Besuch bei dem Dichter:

er [Raabe, J. F.] holte auch die Akte Koburg hervor, die er sich nach Goethescher Art von
dieser Reise angelegt hatte. Da fanden sich die Protokolle der Generalversammlung, und
in der Ecke stak sogar noch das schwarzrotgoldene Knopflochbändchen. Er wies es mir
einst vor und zitierte wehmütig die Verse aus der Ballade von der Piratenflagge unseres
beiderseitigen Kleidersellerfreundes Wilhelm Brandes: ‚Ihr wißt nicht, welch ein Zauber
lag/In der Farbe schwarzrotgold.’ Sie haben ja für den Nationalverein, für Raabe, Brandes
und uns alle nichts anderes bedeutet, als die alte Burschenschaftsforderung des Wartburg-
festes: Freiheit, Ehre und ein einiges deutsches Vaterland.326

Die deutschen Farben waren wichtiges Erkennungsmerkmal der deutschen Nationalbewegung


und dienten als Sinnbild der Einheit seit ihren Ursprüngen während der Befreiungskriege über
die Revolution 1848/49 bis hin zur Reichsgründung 1871. Schwarz-Rot-Gold bedeutete die
Identifikation sowohl mit einer politischen Haltung, nämlich dem deutschen Liberalismus, als
auch mit einem politischen Ziel, nämlich der deutschen Reichseinigung. Die „Akte Koburg“, die
Raabe über die Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins angelegt hatte, verarbei-
tete er in seinem Roman Gutmanns Reisen, dessen Handlung auf den Ereignissen der Coburger
Versammlung basiert.327

324
Vgl. auch die verschiedenen Schreibweisen: während „Schwarzrothgold“ auf eine einheitlichen Nation mit einer
Bundesfahne verweist, stehen die Farben „Blau und Roth und Weiß“ für das partikularistische System.
325
Elisabeth Fehrenbach: Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat: In: Historische Zeitschrift
213 (1971). S. 296-357. Hier S. 315.
326
Hartmann S. 163 f. Schwarzrotgold hatte als Kriegsflagge des Deutschen Bundes von 1848 bis 1866 offizielle
Geltung). Die ehrlichen Kleiderseller zu Braunschweig wurden 1859 ursprünglich gegründet, um erhaltenswerte
Gegenstände der Kultur- und Heimatgeschichte aus Stadt und Land Braunschweig zu sammeln. Der Verein ent-
wickelte sich nach Gründung des städtischen Heimatmuseums 1861 allmählich zu einer geselligen Stammtisch-
runde.
327
Der Roman hält sich beispielsweise pedantisch an den zeitlichen Rahmen: Datum und Uhrzeit der Ankunft, der
Ablauf der Verhandlung, namentlich der Reden, die zeitliche Reihenfolge seiner privaten Unternehmungen
übernimmt Raabe in dem fiktionalen Pendant. Der Text endet allerdings schon am 04. September, der dritte
und letzte Tag findet keine Darstellung mehr (vgl. BA 18, S. 399). Auch das Figureninventar entstammt zum
größten Teil Raabes Bekanntschaften von der Reise.
Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein 155

7.1.1. Wilhelm Raabes Gutmanns Reisen: Vereinsleben und politische Agitation

Gutmanns Reisen wurde 1890, in dem Jahr von Bismarcks Entlassung und exakt 30 Jahre nach
der ersten Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins in Coburg, verfasst.328 Der Au-
tor versteht sich als „Geschichtenberichter und Geschichteberichtiger“ (BA 18, S. 214) und
macht, so eine zeitgenössische Rezension „obenein protokollarisch, mit so Manchem wieder
bekannt, was inzwischen angesichts der in den Etappen von 1864, 1866 und 1870 auf etwas
andere Weise bewirkten Einigung fast vergessen“329 worden sei. Die so genannten Einigungs-
kriege – gegen Dänemark, Österreich und Frankreich – waren die drei „Etappen“, mit denen
Bismarck militärisch die Reichseinigung herbeiführte und die die bürgerliche Bewegung eben
„auf etwas andere Weise“, nämlich durch die Gründung des deutschen Nationalvereins vorbe-
reitete. Mit einem Blick auf die weiteren Etappen der deutschen Nationalstaatsgründung endet
Gutmanns Reisen – und weist damit explizit auf die Wichtigkeit der Jahre 1859/60 als innerpar-
teiliche Artikulation des Bürgertums hin, die die Jahre 1866 und 1870 vorbereitete.330
Die Handlung wird teils durch einen auktorialen Ich-Erzähler, teils durch die eingeschränkte
Sicht des Protagonisten Wilhelm Gutmann wiedergegeben. Durch die Perspektivierung werden
die Reden der Generalversammlung selektiert und auf zwei Themengebiete konzentriert: Ers-
tens auf die Diskussion um die Annahme der Verfassung von 1848 als Vorbild für die neu zu
konstituierende Verfassung und zweitens auf die Entscheidung im österreichisch-preußischen
Konflikt, also die Befürwortung einer klein- oder großdeutschen Lösung. Weil der Roman zum
Abschluss der Regierungszeit Bismarcks entstand, ist der Text als Ehrung des deutschen Reichs-
kanzlers und Befürwortung seiner Einigungspolitik lesbar. Er macht zudem Raabes politische
Haltung nach der Reichsgründung deutlich und ist eine retrospektive Reflexion seines eigenen
politischen Engagements sowie das seiner Zeitgenossen. Obwohl der Text den Namen des

328
Ein Brief an Edmund Sträter vom 18. Februar 1892 zeugt davon, dass der Roman bewusst von Raabe zu dieser
Zeit und mit dieser Verspätung verfasst wurde: „Die Herren in den Zeitungsredaktionen scheinen freilich Gut-
manns Reisen ein wenig verblüfft und zweifelnd hin u her zu wenden. Das ist mir aber grade ein Zeichen, daß
das Buch ganz in die richtige Zeit gefallen ist“ (BAE 2, S. 323).
329
Norddeutsche Zeitung 09. 02. 1890, abgedruckt in BA 18, S. 476.
330
Der Erzähler fasst die Vorausschau in einem Vergleich von deutscher Geschichte und den persönlichen Ereig-
nissen der Romanfiguren zusammen: „Wir brauchen keinem […] genauer auseinandersetzen, weshalb am Mor-
gen nach dem dritten Juli achtzehnhundertsechsundsechzig die Mutter und Großmutter Blume in Wunsiedel
zu ihrem Major sagte: ‚Da hat nun dieser Basilisk zugeschnappt, den ihr damals in Koburg ausgebrütet habt!
[…]‘ – Noch weniger brauchen wir aber (…) auseinanderzusetzen, weshalb die Mutter und Großmutter Gutmann
am Abend des achtzehnten Januars achtzehnhunderteinundsiebenzig zu einem gewissen weißhaarigen Sünder
sagte: ‚Na, meinetwegen darfst du mir heute abend mal wieder über die Zeit ausbleiben, wie damals in Koburg.
[…] Da ist es nur ein wahres Glück, daß ich heute mich auch nicht noch um den Jungen wie damals abzusorgen
habe. Das ist jetzt Klothildchens Sache, und die mag es vor ihrem Mädchen und ihren drei Jungen verantworten,
ob der Neue Deutsche Kaiser und Bismarck ein genügender Grund sind, unserm Herrn Sohn den Hausschlüssel
mitzugeben‘“ (BA 18, S. 414 f.).
156 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Reichskanzlers nur am Rande erwähnt,331 ist er, und das betont der Autor auch selbst, gerade
durch seine retrospektivische Situierung als Dedikation für Bismarck lesbar:

Das Werk ist eine so nützlichere Schöpfung und dazu eine der besseren Bismarckiaden!
Wie viele geistreiche, treffliche, treue, eifrige Männer wußten in jenen Septembertagen
1860 was geschehen müsse, aber nur leider nicht wie. Der theure Name des Erlösers wird
nur zweimal in dem Buche genannt; aber ich freue mich doch meiner – Bismarckias! – Und
ich freue mich auch, daß ich damals mit in Koburg gewesen bin und nun im 61sten Lebens-
jahre noch Forsche genug hatte, Gutmanns Reisen zu vollenden!332

Mit dem „idyllisch-politischen Epos“ (BA 18, S. 214) will Raabe also, indem er die Ziele des Na-
tionalvereins darstellt (das „was“), Bismarck und seine große nationalpolitische Tat der Einigung
des Deutschen Reichs würdigen (das „wie“). Die religiös-messianische Aufladung Bismarcks
(„Erlöser“) ist dabei eng mit der Sakralisierung Schillers seit 1859 verknüpft, wie sie in Raabes
Gedicht Zum Schillerfest zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. 8.2). Wurde Schillers Position als fikti-
ves, geistiges Oberhaupt der deutschen Nation stilisiert, erfüllte Bismarck in der Realität die
Rolle dieser Führerphantasie.
Durch Raabes eigene Erinnerungen und Eindrücke wird der Roman zum Zeitzeugenbericht
und die Coburger Tagung zu einem lebendigen Gesamtbild verdichtet. Der Historiker Hermann
Oncken verwendete Gutmanns Reisen sogar als Quelle für seiner Biographie über Rudolf von
Bennigsen333, um die „Stimmungen bei der Generalversammlung von 1860“ festzuhalten: „Das
Buch konnte nur von einem geschrieben werden, der ‚damals’ selber mit dabei war, und zwar
eifrigst.“334 Gutmanns Reisen ist wohl Raabes sachlichster Text,335 in ihm finden sich weite Teile
der Reden der Coburger Versammlung wortgetreu wieder.336 Raabes Brief an Edmund Sträter
vom 27. April 1892 dokumentiert seine Vorgehensweise: „Die Reden der Herren von 1860 so

331
Vgl. BA 18, S. 323 und S. 414.
332
Raabe an Edmund Sträter am 4. Januar 1892. BAE 2, S. 319. Auch anderen Bemerkungen Raabes zeugen von
dieser Intention, so heißt es zum Beispiel in einem Brief an Siegmund Schott vom 23. Februar 1892: [I]in den
heutigen fahrigen Zeiten ist es mir zu einem wahren Bedürfnis geworden, dem Alten in Sachsenwalde auch
einmal eine Ehre anzuthun!“ BAE 2, S. 324. Siehe auch die Widmungen Raabes in den Werkexemplaren für
Wilhelm Brandes: „Dem Meister der Ballade Diese Bismarckiade“, und für Hans von Wolzogen: „In die Ehren
des Alten im Sachsenwalde“ BA 18, S. 470.
333
Oncken, Hermann: Rudolf von Bennigsen. Stuttgart/Leipzig 1910.
334
Raabe an Siegmund Schott am 23. Februar 1892. BAE 2, S. 323. Siehe dazu auch die Anmerkungen in BA 18,
477. „Ich wußte kein besseres Bild davon zu geben, als dadurch, daß ich mich auf ihren Roman Gutmanns Reisen
berief“ schrieb Oncken an Raabe im Oktober 1908.
335
Heldt führt aus, dass Gutmanns Reisen als strukturelles Gegenstück zu dem unmittelbar vorher beendeten Werk
Stopfkuchen, der Geschichte „subjektiviert“, zu betrachten sei. Vgl. Uwe Heldt: Isolation und Identität: die Be-
deutung des Idyllischen in der Epik Wilhelm Raabes. Frankfurt (Main) 1980. S. 220.
336
Dafür hat Raabe neben seinen eigenen Tagebuchaufzeichnungen auch historische Quellen verwendet, nämlich
die Berichte der Wochenschrift vom 8. und 14. September und die unmittelbar nach der Tagung herausgege-
bene Broschüre Verhandlungen der ersten Generalversammlung am 3., 4. u. 5. September 1860 (vgl. BA 18, S.
468).
Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein 157

auszuwählen und ohne ein Wort zu verändern, zum dichterischen Zweck zu verwenden, erfor-
derte eine gewisse Geschicklichkeit in der Kunst Geschichten aus der Geschichte zu erzählen“
(BAE 2, 327 f.). Dieses Vorgehen erforderte, so Raabe, die Priorisierung historisch-politischer
Faktoren gegenüber ästhetischen Kriterien: „Ich habe mal nützlich sein wollen. Darf unsereiner
das nicht auch einmal? Die ‚Fülle der Individualität und die Anmuth’ geht dabei freilich in die
Brüche.“337 Neben der Quellen-Montierung verwendet Raabe Handlung und Figurenkonstella-
tion zur Darstellung der historischen Ereignisse: Die kleindeutsche Reichseinigung ohne Öster-
reich wird durch die Vermählung des norddeutschen (preußischen) Wilhelm Gutmann mit der
süddeutschen Klothilde Blume symbolisiert. Der Ausschluss Österreichs parallelisiert der Text
durch die Abweisung des österreichischen Nebenbuhlers Alois Pärnreuther. Die poetische
Funktionalisierung wird textimmanent reflektiert: So führt der auktoriale Ich-Erzähler in einer
Vorrede an, dass er durch seine Heldin „nicht nur Rührung, sondern auch Nutzen im Publikum
hervorzubringen“ wünscht, indem er sie „heiraten und sie dadurch das deutsche Volk neu grün-
den und das neue Deutsche Reich stiften“ lässt (BA 18, S. 211 f.). Damit wird das induktive
Konzept des Romans, nämlich die Illustration überindividueller, gesamtgesellschaftlicher Zu-
sammenhänge mittels der symbolischen Darstellung einzelner Schicksale, bereits in der Einlei-
tung vorweggenommen. Laut Raabe war es „ein sehr gewagtes Experiment […] eine Partheibi-
ldung als Heldin in den Mittelpunkt einer humoristischen Dichtung zu stellen.“338 Dieser
Hinweis ordnet den Text nicht nur selbstreflexiv in die Textsorte Satire ein, sondern personifi-
ziert daneben metasprachlich die Parteibildung, die im Roman wiederum durch eine kontras-
tive Figurenkonstellation symbolisiert wird. Die Verlobung Klothildes und Wilhelms symbolisiert
die Gründung des Deutschen Nationalstaats per se: „Wir haben unsererseits das neue Deutsche
Reich gegründet – den wirklichen Deutschen Nationalverein“ (BA 18, S. 347).

7.1.2. Privatheit und Öffentlichkeit in Gutmanns Reisen

Schopenhauer, der von Raabe vor allem im Spätwerk rezipiert wurde, definiert den Philister als
Mensch ohne geistige Bedürfnisse.339 Raabes Vorliebe für das „Philiströse“, für die Innerlichkeit
und Behaglichkeit des deutschen Bürgertums nach 1849, findet sich in seinem gesamten
Oeuvre. Die Raabschen Stammtischdarstellungen können als Signatur der sozialen und natio-
nalen Zersplitterung eines Zeitalters, in dem kein Gefühl einer Volksgemeinschaft entstehen
konnte, gelesen werden. Die familiäre Häuslichkeit diente als Schutzraum nicht nur gegen die

337
An Edmund Sträter am 1. Dezember 1891 (BAE 2, S. 316). Das Zitat beruft sich wahrscheinlich auf Schiller.
Luginbühl meint Gutmanns Reisen sei ein „dichterisch recht belanglose[s] Werk“ (Luginbühl, Emil: Wilhelm
Raabe und die deutsche Geschichte. St. Gallen 1952. S. 39).
338
An Edmund Sträter am 4. Januar 1892, BAE 2, S. 319.
339
In: Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. Bd. 1. Berlin 1851. S. 326.
158 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

infolge der gescheiterten Revolution verstärkten Repressalien des Obrigkeitsstaats, sondern


auch gegen die neue Mobilität und Schnelligkeit des modernen technisierten Zeitalters. In den
Bereich des Halböffentlichen fallen die Vereine, in denen eine „den Mangel an öffentlicher Ge-
sellschaft kompensierende Geselligkeit“340 stattfand. Die Darstellung des Privaten wird bei
Raabe durch seine Versetzung in die Halböffentlichkeit des Wirtshauses ironisch gebrochen.
Konsequenz des Rückzugs ins Private, Merkmal der gescheiterten Revolutionäre von 1848/49,
ist die als typisch deutsch gekennzeichnete Gemütlichkeit341 und Lethargie.
In Gutmanns Reisen fallen das Privat-Familiäre und das Öffentlich-Politische grundsätzlich
auseinander. Das Private wird im Roman durch die intime Häuslichkeit der bürgerlichen Fami-
lienidylle charakterisiert und dabei mittels spitzer Übertreibung und spöttischer Verweise auf
die bürgerliche Scheinmoralität karikiert. Denn das Private wird stets durch das Öffentliche in
Gestalt des Stammtischs, der Vereine und politischer Organisationen gestört, sogar gefährdet:
„Na, meinetwegen darfst du mir heute abend mal wieder über die Zeit ausbleiben, wie damals
in Koburg. […] Das [die Sorge um den Sohn, J. F.] ist jetzt Klothildchens Sache, und die mag es
[…] verantworten, ob der Neue Deutsche Kaiser und Bismarck ein genügender Grund sind, un-
serm Herrn Sohn den Hausschlüssel mitzugeben.“342 Der allabendliche Ausbruch der Familien-
väter aus der intimen Häuslichkeit ins Wirtshaus und damit in die Halböffentlichkeit intendiert
zwar den Versuch der politischen Artikulation und Organisation des Bürgertums, wird jedoch
im Text als Farce demaskiert. Die erste Hauptversammlung am 03. September 1860 versetzt er
in die fröhliche Stimmung eines Volksfestes: „Mäßigkeit! Bisher hat Deutschland nur schwim-
mend durch jedwedes provinzielle landesübliche Getränk den festen Boden seiner hehren Zu-
kunft zu erreichen erstrebt. Auch das muß anders werden! Von jetzt an mit nüchternstem Ernst
ganz zur Sache!“343 Trotz der Mahnung endet jeder der Versammlungstage im betrunkenen

340
Arendt, Dieter: Wilhelm Raabe und der „romantische Schlachtruf: Krieg den Philistern!“ In: JRG 22 (1981). S.
55-83, hier S. 64.
341
Vgl. dazu Schmidt-Lauber, Brigitta: Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Frankfurt (Main)
2003. S. 9.
342
Line Gutmann zu ihrem Mann (BA 18, S. 414 f.). Die Kegelbahn und die zugehörige Kneipe ist für den Hausvater
der Rückzugsort aus dem von der Frau dominierten Gebiet des Privaten: Vater Gutmann geht am Abend vor
seiner Abreise „auf ein Stündchen zum Kegeln“ (BA 18, S. 219). Auch im Dräumling versackt Gustav Fischarth
zusammen mit seinem Freund Haeseler in der Kneipe: „Deiner Agnes wird es bei einem so vollgerüttelten und
-geschüttelten Maß der Liederlichkeit auf einen Tropfen mehr oder weniger nicht ankommen. Wir trinken noch
eine Flasche – deinem wohlverdienten häuslichen Kanossa wirst du doch nicht entgehen; ach, – ihr Ehemänner
habt es gut, euere [sic!] Behaglichkeit wartet immer auf euch!“ (KA, S. 78 ff.).
343
BA 18, S. 258. Die Ambivalenz zwischen Privatem und Öffentlichem, Wirthaus und Reithaus, wird auch in ge-
genseitigen Vorwürfen der Figuren ausgedrückt. Ermahnt einerseits der Vater Gutmann seinen Sohn: „Bist du
in Koburg, das neue deutsche Reich zu gründen, dann gründe es auch mit! Privatkneipereien werden heute mal
nicht statuiert! Allotria werden nicht auf eigene Faust getrieben!“ (BA 18, S. 353), macht dieser aus Eifersucht
seinem einstigen Kindheitshelden Alois Pärnreuther Vorwürfe: „Unseres Privatvergnügens wegen sind wir aber
heute nicht in Koburg zusammen, sondern endlich einmal wirklich des deutschen allgemeinen Besten wegen“
(BA 18, S. 355).
Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein 159

Taumel: „[N]icht nur vergnügt, sondern auch fest davon überzeugt, daß sie unter den gegen-
wärtigen, unbehaglichen, politischen Umständen gar nichts Behaglicheres tun könnten“ (BA 18,
S. 301), trinkt man schließlich Brüderschaft und überwindet damit oberflächlich die unter-
schiedlichen politischen Ansichten. Es ist ein „gemütliche[s] Hin- und Herpendeln zwischen der
hohen Politik und dem Koburger Bier, zwischen dem Reithause und dem Wirtshause“ (BA 18,
S. 299). Nach Ansicht Fritz Hartmanns ist der Wechsel „zwischen Männerrede und Männertrunk
[…] überhaupt der bedächtige Pendelschlag des ganzen Romans“ (Hartmann, S. 167).
Bei Raabe, so führt Uwe Heldt aus, zeichnet sich die Idylle „durch Abstinenz vom Handeln
nach ‚draußen’ aus“ (Heldt, S. 222). Der Rückzug des liberalen Bürgertums aus der Öffentlich-
keit während der Reaktionszeit und seine Flucht ins Private wird im Roman durch Vater Gut-
manns fünfundzwanzigjährige Reiseabstinenz veranschaulicht. Er hatte in dieser Zeit unter der
häuslichen Herrschaft seiner Frau seine „Seligkeit und Gemütlichkeit in Schlafrock und Pantof-
feln“ (BA 18, S. 221) gefunden und hatte verstanden „den deutschen Weltbürgerverstand und
Weltbürgerhumor behaglich auf ein großes Privatziel zu konzentrieren. Er hatte es zu einem
Vermögen gebracht und hatte seinen Sohn in die Welt gesetzt“ (S. 231). Seine Selbstcharakte-
risierung pointiert seinen Zustand als „wärmflaschenwehmütig, kamillenteeduftig […] so zuhau-
sebehaglich, so pfeifenstopfgemütlich“ (S. 217).344 Aus gutem Grund ist sein Sohn daher be-
sorgt, dass man „in Koburg diese Flamme, wenn sie ins Vaterland schlagen will, […] ganz
auspusten“ (BA 18, S. 228) wird. Wie bereits im Kapitel 1.4. ausgeführt, wird Vater Gutmann
beim Anblick der Herkules-Statue auf der Wilhelmshöhe schließlich aus seinem „Stupor“ (S.
230) aufgeweckt. Aber der Roman macht deutlich, dass trotz der „Erweckung“ des Alt-48ers die
Folgen der Reaktionszeit auch noch im Jahr 1860 signifikant sind. Die politische Tatkraft und
Begeisterung der Alt-48er hat stark gelitten, da „die meisten, ja eigentlich alle diese Patrioten
und Staatsmänner […] ebenso gebändigt-friedlich, so zutunlich-nachgiebig aussahen wie die
patriarchalischsten Landesväter, die auch eine Frau hatten und auch wußten, was das bedeu-
tete“ (S. 290). Der ironische Verweis auf die private Bändigung der einstigen Revolutionäre
durch die Ehefrauen, der die öffentliche Verfolgung durch den reaktionären Polizeistaat vo-
rausging, soll die immer noch lebendige Gefahr der staatlichen Verfolgung verdeutlichen.345
Am Beispiel der Figur des jungen Kameralsupernumerars Wilhelm Gutmann, für den Raabes
Freund Albert Baumgarten Vorbild war,346 illustriert der Text die obrigkeitliche Verfolgung.

344
Dabei stellt aber seine Frau Line fest, dass nicht ihrer häuslichen „Liebenswürdigkeit“ wegen ihr Mann 30 Jahre
lang zu Hause geblieben war, sondern weil er sich bei seiner Arbeit als Handlungsreisender „bloß ab- und mü-
degelaufen und -gefahren“ hatte (BA 18, S. 221).
345
Tatsächlich hatten die Mitglieder des Nationalvereins Repressalien zu befürchten: in Mecklenburg und Kurhes-
sen wurde ihnen der Hochprozess gemacht, in Sachsen enthob man sie ihrer öffentlichen Ämter. Die 750 Un-
terzeichner der hannoverschen Erklärung kamen aber auf eine schwarze Liste, ins sog. „Grüne Buch“, so dass
sie weder angestellt noch befördert wurden, sie keine Gehaltszulagen, Orden oder Titel, Geschäftsmänner
keine Staatsaufträge mehr bekamen (vgl. Hartmann S. 157 ff.).
346
Baumgarten wurde nach seiner Rückkehr von der Coburger Versammlung unter Fortfall des richterlichen Vo-
tums nach Wolfenbüttel strafversetzt. Siehe dazu Hartmann, S, 169 f. und Henrich 1998, S. 71.
160 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Denn „seit Achtundvierzig“ weiß man, „wo nach oben hin die Gemütlichkeit aufhört und nach
unten zu wir unsere Dummheiten auszubaden haben“ (S. 216). Die nach 1848/49 gemachten
Erfahrungen von Zensur und polizeilicher Verfolgung zeigen, „wie leicht man durch ein Wort
zuviel in des Teufels Küche kommen kann!“ (S. 272). Karriere konnte man als Mitglied des Na-
tionalvereins jedenfalls nicht mehr machen:

[W]er von noch beförderungsfähigen und -süchtigen jungen, im Staatsdienst stehenden


Germanen nach Koburg zu der erste Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins
ging, der tat das wahrlich nicht ohne Gefahr für sein bürgerliches Wohlsein und sein spä-
teres Stellungnehmen in der Beamtenrangliste seines ihn besonders angehenden Staates.
(BA 18, S. 262)

Im omnipräsenten Polizeistaat standen seit der Revolution insbesondere die Beamten unter
Beobachtung. Auch für die „trotz Schwarzenbergischen Verbots und Windischgrätzischen
Standrechts“ (Hartmann, S. 165) anwesenden Österreicher konnte der Aufenthalt in Coburg
gefährlich werden. Der Verweis auf Alois Pärnreuther, der vor der Gegenrevolution flüchten
musste, und sich in Coburg nur anonym aufhalten kann, verdeutlicht die Gegenwärtigkeit des
Polizeistaats: „Er ist inkognito hier, das heißt er hat sich nicht in die Präsenzliste eintragen las-
sen; denn kriegen sie es zu Hause bei ihm gedruckt zu lesen, daß er hier gewesen ist, so hängen
sie ihn diesmal nicht, aber sie prügeln ihn zu Tode, und sein Geschäft ist auch futsch!“ (BA 18,
S. 278). Historisch lassen sich derlei Befürchtungen durchaus belegen, erstreckte sich die Arbeit
des deutschen Polizeivereins schließlich auch auf die Verfolgung von österreichischen Opposi-
tionellen.347 Pärnreuters Vorsichtmaßnahmen stellen sich als begründet heraus: Wilhelm Gut-
mann, dessen Name auf den Präsenzlisten steht, erlebt nach seiner Ankunft eine böse Überra-
schung: „so ist auch gestern ein dicker blauer Brief an ihn angekommen mit dem großen
Amtssiegel. Gott schütze uns vor Schaden, wenn sie zuviel Unsinn in Koburg gemacht haben!“
(BA 18, S. 404). Mutter Gutmann weiß um den Ernst der Situation: „[D]em teilt hier schon sein
angeborener Landesfürst und -vater mit, was er über ihn und seine Fahrt nach Koburg denkt“
(S. 409). Der auf der Generalsversammlung in Coburg erlassene Antrag für Erlass einer Amnes-
tie für politische Verbrecher ist deshalb auch für Wilhelm von Bedeutung:

Nach der Abstimmung wurde auch noch ein Antrag wegen Erteilung einer Amnestie für
vergangene politische Verbrechen einstimmig angenommen von den gegenwärtigen in
dem herzoglich koburgischen Reithause versammelten Sündern, die selber die Verzeihung
ihrer vielfachen beziehungsweisen Landesväter so sehr, so hoch nötig brauchten. Willi Gut-
mann schloß sich davon nicht aus, aber bei dem Wort ‚Amnestie’ hatte dieser Verbrecher
doch bedeutend mehr seinen möglichen Schwiegervater als seinen ganz gewissen, im bit-
tern Ernst schon vorhandenen Landesvater im Auge. (BA 18, S. 376 f.)

347
Siehe dazu Wolfram Siemann: „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung“: die Anfänge der politischen Polizei
1806-1866. Tübingen 1985. S. 305 ff.
Raabes Engagement im Deutschen Nationalverein 161

Die Amnestie, die sich Wilhelm von seinem zukünftigen Schwiegervater Blume erhofft, ergänzt
die Allegorie von der Verbindung zwischen Nord und Süddeutschland als Hochzeit. Die erhoffte
Amnestie durch den Landesherrn, der Wilhelms berufliche Stellung konkret gefährdet, ist
gleichzeitig die soziale Voraussetzung für sein privates Glück, der Heirat mit Klothilde.
Die verschiedenen Verweise im Text auf die Zensur und die staatliche Verfolgung politisch
aktiver Liberaler speisen sich aus Raabes eigenen Erfahrungen: Als 1866 Österreichs innen- wie
außenpolitische Schwächung mit der Auflösung des Deutschen Bundes eskalierte, trat Raabe
der in Stuttgart neu gegründeten Deutschen Partei bei, die sich für den Anschluss der süddeut-
schen Staaten an den Norddeutschen Bund aussprach.348 „Wir haben eine Parthei gründen
müssen, um es nur wagen zu können, öffentlich aus zusprechen, daß wir keine Trennung
Deutschlands wollen“ (BAE 2, S. 115). Mit der Beteiligung an ihrer Gründung positionierte sich
Raabe für eine Einigung Deutschlands ohne Österreich und unter Führung Preußens, was in der
noch immer österreichfreundlichen, partikularistisch ausgerichteten Regierung Württembergs
nicht ohne Konsequenzen für Raabe blieb. 349 Zwar waren, so Raabe, „die norddeutschen Sym-
pathien – besonders seit der Schlacht bei Königgrätz – auch hier [in Stuttgart, J. F.] sehr im
Steigen, und es wagt schon Mancher seine Herzensmeinung zu sagen“ (BAE 2, S. 113 f.), doch
bekamen die Mitglieder der Deutschen Partei weiterhin die Repression der österreichtreuen
Regierung in Württemberg zu spüren. In seinem Tagebuch notiert Raabe, wie er davon erfahren
habe, dass er „auf der Polizei als ‚Spötter über Schwaben’, Verräther an Heer u Vaterland de-
nunziert und zur Ausweisung empfohlen sei“ (In: Jochen Meyer, S. 45). In einem Brief aus Stutt-
gart an seine Mutter vom 11.09.1866 äußert er die gleiche Vermutung: „Letzteres [von der
Polizei ausgewiesen zu werden, J. F.] hätte sehr wohl der Fall sein können; denn ich glaube
ziemlich sicher zu wissen, daß ich der hiesigen Sicherheitsbehörde anonym als ein der schwä-
bischen Wohlfahrt sehr gefährliches Individuum denunzirt bin“ (BAE 2, S. 116). Die Parallelen
zwischen diesen Schilderungen und den dargestellten Ereignissen in Gutmanns Reisen sind
nicht zufällig; die im Roman dargestellte „Partheibildung“ (BAE 2, S. 319) zwischen Preußen und
Süddeutschland erlebte Raabe durch die Arbeit des Nationalvereins in Coburg und Heidelberg
und die Gründung der Deutschen Partei in Stuttgart hautnah mit. Raabe hat in der überzeich-

348
„Wir haben hier jetzt eine Partei gegründet, welche gegen die Mainlinie gerichtet ist, und von der Regierung so
wie der particularistischen Democratie mit allen Waffen angegriffen u bekämpft wird.“ Brief an seine Mutter
vom 24. August 1866 (BAE 2, S. 114). Am 07.08.1866 schreibt Raabe in sein Tagebuch: „Um 8 Uhr im König v.
Württemberg: Versammlung: Gründung der ‚deutschen Parthei’“. In: Meyer, Jochen: Hie Welf! Hie Waiblingen!
Wilhelm Raabe in Stuttgart 1862-1870. Marbach 1981. S. 45. Auch wenn es in seinen Äußerungen so klingt, als
sei Raabe Mitgründer der Partei gewesen, wird er in der Gründungsurkunde nicht genannt.
349
Vgl. den Brief an Karl Leiste vom 9. September 1866: „Wenn wo das Deutschthum, die Zusammengehörigkeit
der Stämme, der Interessen etc etc eine Phrase gewesen ist, so ist das diesseits des Mains und vor allem in
diesem jämmerlichen Würtemberg, wo […] allem frühen constitutionellen Leben zum Trotz, der politische Welt-
verstand selbst bei den bekanntesten Führern auf Null steht“ (BAE 2, S. 115).
162 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

neten Darstellung der Coburger Versammlung des Deutschen Nationalvereins die von ihm tat-
sächlich erlebte Geschichte fiktionalisiert und damit einen kulturellen Text geschaffen, der
durch seine Authentizität die Möglichkeit zur nationalidentifikatorischen Aneignung eröffnet.
Die posthume literarische Würdigung des Nationalvereins ist, wenn auch häufig ironisch gebro-
chen, Zeugnis von Raabes nationalliberalen Überzeugungen, die angesichts der Reichseinigung
„von oben“ realisiert wurden.

7.2. Der Gesangsverein bei Raabe und Keller

Die Gesangsvereine erhielten seit Anfang des 19. Jahrhunderts durch soziale Vernetzung im-
mens Auftrieb. Da sie im Gegensatz zu den Turner- und Schützenvereinen nicht durch die Karls-
bader Beschlüsse von 1819 verboten wurden, ist ihre Bedeutung für die deutsche Nationswer-
dung besonders hervorzuheben.350 Das Singen von patriotischen Liedern wurden zum
wichtigsten Inhalt der Chöre, die das durch zunehmende Säkularisierung entstandene soziale
Vakuum zu füllen versuchten: So ersetzte der Gesangsverein im 19. Jahrhundert die singende
Kirchengemeinde, das Gesangsfest ersetzte den Gottesdienst. Wie die Kirchenmusik hatten
ebenso die Lieder der Gesangsvereine eine emotionale Wirkung und gemeinschaftsstiftende
Funktion, so dass Dietmar Klenke konstatiert:

Im gemeinschaftsstiftenden Ritus des Chorgesangs blieb das deutsche Vaterland keine abs-
trakte Größe, sondern wurde gefühlswirksam erlebt. Über den erhaben wirkenden mehr-
stimmigen Gesang eroberte die Nationalidee einen lebensweltlichen Erfahrungsraum, in
dem die Freude an der Musik, das Bedürfnis nach Geselligkeit und Alkoholgenuß, die re-
gelmäßigen Proben und all die Feste und Sängerfahrten elementare Gemeinschaftsbedürf-
nisse befriedigten.351

Die sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Gesangsvereine förderten die Verbreitung der tra-
ditionellen Volkslieder, mit deren Wiederbelebung deutsche Kultur und Geschichte kollektiv
und unmittelbar angewendet wurde. Daneben waren die politisch-militärischen Lieder der Be-
freiungskriege beliebtes Repertoire, wofür Ernst Moritz Arndts Des Deutschen Vaterland be-
rühmtestes Beispiel ist.352 In Raabes Roman Der Dräumling wird ironisch auf das berühmte Lied
rekurriert: „[S]o weit die deutsche Zunge klang, fuhr die deutsche Nation mit dem festen Ent-
schlusse in die Kleider, ihren […] politischen Gefühlen nun ganz bestimmt nach der ästhetisch-

350
Zur Literatur siehe Dietmar Klenke: Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nationalbe-
wußtsein von Napoleon bis Hitler. Münster 1998.
351
Dietmar Klenke: Der Gesangverein. In: Francois, Etienne/Schulze, Hagen: Deutsche Erinnerungsorte. München
2009. Bd. 3, S. 392.
352
Vgl. dazu Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812-1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willens-
bildung durch Literatur. Stuttgart 1991. S. 108 ff.
Der Gesangsverein bei Raabe und Keller 163

literarhistorischen Seite hin Luft zu machen“ (BA 10, S. 94). Von den „braven Spießbürgern“ (S.
18) des Örtchens Paddenau wird indes das Singen wegen seiner nationalpolitischen Implikatio-
nen erst noch abgelehnt: Nach Meinung der fortschrittsfeindlichen Dorfältesten ist „eine von
den ärgerlichsten [Neuerungen], dieses Singen an den öffentlichen Orten“ (S. 17). Der örtliche
Gesangsverein, der Paddenauer Liederkranz,353 erhält trotz dieser Einwände einen öffentlich-
keitswirksamen Auftritt bei der Schillerfeier, den der Roman stark ironisiert:

Der Paddenauer Liederkranz begann und zwar mit dem reizenden Lindpaintnerschen
Maigesang: „Es regt der Lenz die jungen Glieder –“, was doch einfach gelogen war. Der
Lenz regte gar nichts, sondern es war ein recht kalter, dunkler und feuchter November-
abend, und das Lied bezog sich auch sonst mehr auf den Todestag als auf den Geburtstag
des verherrlichten Dichters; […] der Paddenauer Sängerbund [...] sang im ganzen acht Lie-
der, und von diesen acht Liedern sang er die Hälfte auf allgemeines Verlangen noch einmal.
Nachdem er also zum zwölften Male zu Ende gekommen war, vernahm man in der Gast-
stube sein Abtrappeln unter dröhnendem Beifallrufen. […] Paddenau [stürzte], durstiger
denn zuvor, und der Liederkranz voran, die Treppe herunter an den Schenktisch. Der Lie-
derkranz schien sich zu einer Wüste Sahara gesungen zu haben. Zwei frische Fässer mußten
herangerollt werden, diese ausgedörrte Wüste anzufeuchten. (BA 10, S. 164 f.)

Lindpaintner, der seit 1824 Ehrenmitglied des Männergesangsvereins Stuttgarter Liederkranz


war, komponierte das Lied Regst du o Lenz die jungen Glieder zu Schillers Todestag, so dass im
Roman der Paddenauer Chor das Thema gleich in zweifacher Hinsicht verfehlt: Weder passt der
eigentliche Aufführungszweck des Liedes zum Anlass der Feier, noch entspricht sein Inhalt der
fiktionalen Wirklichkeit. Indem der Text den Auftritt ungeachtet dessen einen Erfolg werden
lässt, erinnert Raabe an die emphatische und unreflektierte Feierlaune von 1859. Das anschlie-
ßende Alkoholgelage der männlichen Paddenauer354 karikiert das Fest zusätzlich.
Bei einigen der Festumzüge der Schützen-, Sänger- und Turnervereine war es üblich, den
Frauen eine repräsentative Rolle zu überlassen, wie als den Umzug begleitende „Jungfrauen“,
als solche durch ihre weißen Kleider erkenntlich.355 So begleiteten beim Coburger Sängerfest
im Jahr 1860 „weißgekleidet[e] Jungfrauen“ den Umzug.356 Ganz ähnlich beschreibt in Raabes

353
Der im Roman auch als „ätherisches Kränzchen“ (BA 10, S. 16) bezeichnete Gesangsverein hatte sein Vorbild im
Stuttgarter Liederkranz und dem literarischen Verein Sonntagskränzchen, dem neben Raabe auch Albert Dulk,
Johann Georg Fischer, Ferdinand Freiligrath, Friedrich Wilhelm Hackländer und Friedrich Notter angehörten.
Gäste waren u. a. Auerbach, Ludwig Pfau und Friedrich Theodor Vischer. Vgl. zu Raabes Vereinstätigkeiten Rolf
Parr: „Ätherisches Kränzchen, oder wie es heißt“. Wilhelm Raabe in „Bergwerk“, „Sonntagskränzchen“, „Klei-
derseller“ und „Werdandi-Bund“. In: Blume, Herbert/Rohse, Eberhard (Hrsg.): Literatur in Braunschweig zwi-
schen Vormärz und Gründerzeit. Beiträge zum Kolloquium der Literarischen Vereinigung vom 22. bis 24. Mai
1992. Braunschweig 1993. S. 299-321.
354
Vgl. BA 10, S. 163: „Paddenau hatte Durst, und […] [es kam], um diesen Durst zu löschen. Nur das männliche
Paddenau kam; das weibliche blieb im Saal und aß Obst und Zuckerwerk aus dem Strickbeutel und aus der
Tasche […].“
355
Zur Rolle der Frauen und dem Geschlechterverhältnis während der Sängerfeste vgl. Klenke 1998, 134 ff.
356
So die Schilderung der Grazer Tagespost Nr. 175 (1. August 1860). S. 6.
164 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Roman Gutmanns Reisen Mutter Gutmann die Gothaer Fest-Szenerie, bei der sie ihren Mann
kennenlernte:

[A]ls deutsche Jungfrau in weißem Tarlatan habe ich als Mädchen schon in den dreißiger
Jahren mitgewirkt fürs Vaterland, euer allgemeines nämlich, nämlich bei dem ersten hiesi-
gen Sängerfest, wo sogar ein halb Dutzend Hamburger kamen und darunter ein gewisser
junger naseweiser.357

Die Analogisierung von Öffentlichkeit und Privatem drückt die Bedeutung der öffentlichen
Feste bzw. des Vereinswesens als Forum bürgerlicher Kommunikation aus. Die kleine Episode
deutet auf textinterner Ebene eine historische Kontinuität an: Sowohl der Vater als auch der
Sohn haben als Norddeutsche eine Frau aus Süddeutschland geheiratet – die Verbindung von
Nord und Süd wird also bereits eine Generation früher eingegangen. Textextern wird damit die
gemeinschafts- und einheitsstiftende Funktion der öffentlichen Feste herausgestellt, wobei die
Mitwirkung am Festakt „fürs Vaterland“ eine nationale Dimension gewinnt, die durch die über-
regionale Teilnahme bestätigt wird.

In seinem Gedicht Es wecken ihre großen Toten aus dem Jahr 1865 bezieht sich Raabe ebenfalls
auf die Bedeutung der Gesangsvereine für die nationale Identitätsbildung. In den ersten Stro-
phen werden in Anlehnung an das Barbarossa-Motiv an die vergangenen Helden durch Gesang
erinnert und so in die Gegenwart transponiert:

Es wecken ihre großen Toten


Der Erde Völker mit Gesang
Und führen sie ins Licht des Tages
Auf stolzer Lieder schönem Klang.

An dunkle Geisterpforte pochet


Der Sänger Hand: „Erwacht, erwacht,
Ihr alte Weisen. Alte Helden;
Wir rufen euch zu neuer Schlacht![…]

Da regt es sich in tiefsten Grüften,


Jahrtausende sind neu belebt,
Und durch das bunte Heut und Morgen
Der mächt´ge Zug der Geister schwebt. (BA 20, S. 404)

357
BA 18, S. 223. In der Darstellung des Schützenfestes in Kellers Grünen Heinrich findet sich ebenfalls die Teil-
nahme einer Schar von weißgekleideter Jungfrauen (hier eher Mädchen): „Darauf zog eine lange Reihe feiner
Mädchen aus dem Thore an uns vorbei auf einen geebneten Rasenplatz und lud uns mit Gesang zu Spiel und
Tänzen ein. Sie waren alle weiß und roth gekleidet und entfalteten sich in der lieblichsten Blüthe vom kindlichen
Lockenkopfe bis zur angehenden Jungfrau“. HKKA 2, S. 182.
Der Gesangsverein bei Raabe und Keller 165

Die Erweckung der „alte[n] Weisen“ und „alte[n] Helden“ intendiert auf der Textoberfläche die
Bedeutung einer militärischen Intervention, wobei das Adjektiv „neu“ eine andere Art von
„Schlacht“ ankündigt. Durch den Verweis auf die Literatur („Lieder“, „Sänger“) und die Doppel-
deutigkeit der „Weisen“, die auch im Sinne von „Liedern“ zu verstehen sind, eröffnet der Text
eine weitere Bedeutungsebene von Schlacht, nämlich eine mit Worten und Liedern geführte.
Der Sender des Schlachtrufs ist international („der Erde Völker“) und gleichzeitig konkretisiert
und verdichtet zu einem „Wir“, dem ein „Ihr“, die verstorbenen Ahnen, gegenübersteht. Die
zur Identifikation stilisierten „alten Helden“ werden von dem Kollektiv von Sängern, in das sich
der Rezipient integrieren kann, in Form von Liedern in Erinnerung gerufen. Die chronologische
Abfolge von Gegenwart („Heut“), Zukunft („Morgen“) und Vergangenheit („Geister“) wird
durch das Medium Lied miteinander verbunden, das in den nächsten Strophen gattungsästhe-
tisch – als Sage, Volkslied, Revolutionslied – präzisiert wird.

Was die Historie vergessen,


vergaß der Hirt der Fischer nicht;
Zum Wohllaut wird die Tat des Helden,
Das Wort des Weisen zum Gedicht.

Es spricht die Welt in hundert Zungen,


Von einer nur weiß der Gesang;
Vom Aufgang bis zum Niedergange
Für Haß und Lieb derselbe Klang!

Von Land zu Land, von Volk zu Volke


Schwingt sich die Freiheit mit dem Lied,
Und in der Menschheit Rosenkette
Wird jedes Herz zu einem Glied. (BA 20, S. 404 f.)

Das Lied wird zum wesentlichen Medium der Öffentlichkeit stilisiert, es dient der historischen
Erinnerung, politischen Agitation sowie der Formulierung von Emotionen. Die vierte Strophe
hebt die Bedeutung der Volkssagen und -lieder hervor, die jenseits der Historiographie tradiert
werden. Durch die Transponierung des gesprochenen Wortes zur Melodie, der mündlich über-
lieferten Sage zum schriftlich erfassten Gedicht findet eine Literarisierung der Alltagswelt statt.
Metrik, Rhythmik und Bildlichkeit realisieren formal die inhaltliche Selbstreferenzialität des Ge-
dichts. Der appellativische Gestus richtet sich an ein zu bildendes Kollektiv, das durch das Me-
dium Lied konstituiert werden soll und dessen einigende Gemeinsamkeit die Freiheit ist.

Bei Keller stehen Lyrik, Fest- und Vereinskultur in einem engen Zusammenhang. So dokumen-
tieren seine Festgedichte, die neben kulturellen und politischen Ereignissen meist die Schwei-
zer Vereinskultur betreffen und vor allem in den Jahren zwischen 1850 und 1860 entstanden
166 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

sind,358 sein nationalpolitisches bzw. nationalkulturelles Engagement. Die Mehrzahl der zu ei-
nem spezifischen Festanlass verfassten Vereinsgedichte ist den Gesangsvereinen gewidmet.
In einem Brief vom 25. Oktober 1858 an den Stadtsängerverein Zürich, von dem er zum
Ehrenmitglied ernannt wurde, fasst Keller seine Ansichten über Zustand und Zukunft der nati-
onalpatriotischen Lyrik zusammen. Ihm bietet die Einbettung in einen vereinskulturellen Kon-
text Abhilfe für die Vagheit und inhaltliche Substanzlosigkeit, die er der zeitgenössischen nati-
onalpolitischen Lyrik bescheidet:

Die patriotische oder nationale Lyrik leidet gegenwärtig fast allerorten an einer gewissen
Verschwommenheit und Gedankenarmut. Und zwar je mehr eine massenhafte Produktion
erzwungen werden will, desto wässriger fällt die Sache aus.
Dadurch aber, daß die Sängern den Dichtern die Gelegenheit geben, sich in dem wirklich
zu singenden Liede zu üben, werden diese bei einigen Nachdenken wohl darauf kommen,
größere Bestimmtheit sowohl als auch Mannigfaltigkeit der Motive anzustreben.
Hauptsächlich gilt es, statt der ewigen Verwendung des „donnernden Lawinenfalles“ u. dgl.
eine Reihe von sittlichen Ideen und historischen Charakterzügen, welche speziell unser va-
terländisches Leben bedingen, in plastische Gestalt zu bringen, so daß der Sänger, indem
er singt, von einer lebendigen Überzeugung durchdrungen und sein Gesang etwas Selbst-
erlebtes wird, ein Stück seines eigenen gegenwärtigsten Lebens darstellt. (KB 4, S. 353)

Indem die Lyrik durch den Sänger unmittelbare Anwendung findet, wird Kellers Argumentation
zufolge die inhaltliche Prägnanz und das motivische Spektrum der Gedichte gefördert, das wie-
derum die Identifikation des Sängers mit dem Stoff verstärkt. Die wechselwirkende Dynamik
zwischen Dichter und Sänger, die durch die Rezeption des jeweilig Anderen voneinander lernen
können, führt zu einer größtmöglichen Authentizität des Inhalts bis hin zur Darstellung des wirk-
lichen Lebens aus sich heraus. Damit wird das nationalpatriotische Gedicht zum Spiegel der
Nation. Statt sinnentleerte Klischees zu wiederholen, erhält es Kellers Meinung nach seine
Glaubwürdigkeit und Wirkkraft durch die Figuration moralischer Grundsätze und nationaler Ge-
schichte mit volksnaher Relevanz. Auf diese Weise könne die Fest- und Vereinslyrik eine iden-
titätsstiftende, emotionalisierende Funktion erfüllen.
Der Ernennung Kellers zum Ehrenmitglied des Zürcher Sängervereins ging seine Teilnahme
am eidgenössischen Sängerfest vom 17. bis 19. Juli 1858 in Zürich als Ehrengast voran. Zu des-
sen Anlass verfasste er das Gedicht Eröffnungslied am eidgenössischen Sängerfest 1858, das
Wilhelm Baumgarten vertonte.359 In fünf achtzeiligen Strophen spricht eine unbenannte
Gruppe von Gastgebern („wir“) zu den Schweizer Sängern:

358
Von den insgesamt 22 Gedichten der Abteilung „Festlider und Gelegentliches“ verfasste Keller 11 zwischen
1852 und 1859.
359
Ebenfalls zu diesem Anlass verfasste Raabe das Gedicht Das neue glückhafte Schiff, das im Untertitel die Um-
stände spezifiziert: Erinnerung an die Lustfahrt, welche am Schlusse des eidgenössischen Gesangfestes 1858 zu
Ehren der elsässischen Sänger auf dem Zürichsee stattfand. Auf dem Schiffe glänzte vor allem das von Straßburg
den Zürchern gebrachte Geschenk eines schönen Trinkhornes, das jetzt die Stadtbibliothek bewahrt. Das Gedicht
Der Gesangsverein bei Raabe und Keller 167

Wir haben hoch im Bergrevier


Den Tannenwald gehauen,
D´raus euch in rot und weißer Zier
Das Wanderzelt zu bauen.
Herein, was nun die Halle faßt,
O Schweizerkind! Du deutscher Gast!
Und wie´s im Bergwald kühn erklang,
Laßt rauschen hier den Männersang! (HKKA 9, S. 207)

Indem die Strophe den kollektiven Gesang in eine repräsentative schweizerische Natur ver-
setzt, ja diese als Bühne und Übungsraum fungiert, wird das Sängerfest national aufgeladen.
Das Gedicht ist ein typisches Beispiel für einen patriotischen Lobgesang auf die eigene Nation,
die sich im Vereinsfest, das es zum Inhalt hat, selbst bestätigt. Daher hebt der Text identitäts-
steigernde Attribute der Schweiz hervor, in erster Linie die Freiheit: „der Freiheit Silberschild
[ist] gar hell und rein erklungen!“ (HKKA 9, S. 207), „Und singt: das Land ist eben recht, […] um
drin ein freier Mann zu sein!“ (S. 208). Die Freiheit wird räumlich zum Gebirge in Beziehung
gesetzt und zum monarchischen Gesellschaftssystem kontrastiert:

Ein Mehrer seines Reichs zu sein,


Dünkt sich der Fürst im roten Schein;
Wir mehrten nur im Heimatland
Den Menschenwert mit reiner Hand! (HKKA 9, S. 208)

Der Alleinherrschaftsanspruch in einem monarchischen System ist hier als Negativbild zum hu-
manistischen, moralphilosophischen Gesellschaftsbild, wie es die Schweiz repräsentiert, darge-
stellt. Sprachlich wird der politische Gegensatz durch die Gegenüberstellung eines Einzelnen
gegenüber einer Mehrheit („wir“) realisiert.
Ein weiteres Beispiel für die Vereinslyrik ist Kellers Becherlied auf das eidgenössische Sän-
gerfest in Chur 1862. Die Bezeichnung als „Becherlied“ stellt selbstreferentiell den Zusammen-
hang zum Lied als Medium der Überlieferung und Erinnerung her. Inhaltlich verweist der Titel
zum einen auf den zeitlichen, räumlichen und sozialen Aufführungskontext, zum anderen auf
das Motiv des Bechers als symbolträchtigen, urchristlichen Gegenstand und dem kollektiven
Trinken aus diesem. Der korrelative Zusammenhang von Lied und Becher manifestiert sich in
ihrer kollektivierenden Bedeutung:

Wie Glück und Glas so leicht zerbricht,


Nur etwas später, bricht das Erz,

stellt allegorisch die Freundschaft dar, die „antihierarchisch und adelskritisch begriffen“ (Sautermeister, S. 101)
wird.
168 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Die Schale schmilzt – die Seele nicht,


Sie glüht, bewegend Herz um Herz.
Die höchsten Tempel stürzen ein,
Des Werkmanns reiche Hand verdorrt,
Verwildert stirbt am Berg der Wein –
Doch alles lebt im Liede fort.

Und wo sein ferner goldner Ton


Aus Trümmern neue Völker hebt,
Blüht auch die neue Rebe schon
Und ihre Ranke spinnt und webt;
In Wäldern trinkt am Felsenquell
Das Hirtenkind aus hohler Hand
Bis wieder bringt aus Bechern hell
Der Mann sein Hoch dem Vaterland! (HKKA 9, S. 216 f.)

Zur Bekämpfung eines unbestimmten Notzustandes dient das gemeinsame Singen, das Vergan-
genheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet: Denn „alles lebt im Liede fort“. Dabei
ist die Gesangssituation in einem alpinen Naturidyll verortet, um den Naturmythos der Schweiz
zu akzentuieren. Die Versetzung der Gesangssituation in die, vom Menschen handhabbar ge-
machte, kultivierte Natur lässt das „Hoch dem Vaterland“ gleich dem schillerschen Rütlischwur
als ritualisierten Naturkultus erscheinen. Das gemeinsame Trinken aus dem Becher ist eine kol-
lektive Handlung sakralen Ursprungs, die durch den impliziten Verweis auf die Tell-Sage Teil der
kollektiven Erinnerung der Schweizer Rezipienten ist.
Kellers Gelegenheitsgedichte schaffen durch akustische (Trommeln, Gesang) und visuelle
(Fahnen, Festkleidung, Becher) Bildsprache eine lebendige Atmosphäre ritueller Festhandlun-
gen. Die Exemplifizierung an Einzel- und Alltagspersonen trägt dabei ebenfalls zur Veranschau-
lichung bei. Begriffe und Metaphern wie Freiheit, Freundschaft und Heimat durchziehen die
Gedichte leitmotivisch und sollen den nationalpatriotischen Aspekt der Festlieder hervorhe-
ben. Die Freiheit ist das wichtigste Identitätsmotiv der Schweiz, das Keller außerdem allegorisch
verwendet (vgl. Auf das eidgenössische Schützenfest 1872).

7.3. Die Turnervereine und ihre Darstellung in Kellers Grünem Heinrich

Von Turnvater Jahn 1806 ins Leben gerufen, wurde das Turnen ab 1811 für die Vorbereitung
auf die Befreiungskriege genutzt und stand bald in enger Verbindung mit den Burschenschaften
(vgl. Düding, S. 120 ff.). Jahns Konzept zielte auf eine überindividuelle physische sowie politisch-
moralische Erziehung ab, bei der durch Kollektivübungen die geistige und körperliche Förde-
Die Turnervereine und ihre Darstellung in Kellers Grünem Heinrich 169

rung der gesamten Gesellschaft angestrebt wurde. Mit der Verbindung von Sportgeist und Pat-
riotismus – die Turner verstanden sich als „Körper der Nation“ 360 – fand eine außerstaatliche
Militarisierung des sozialen Lebens auf breiter Basis der Bevölkerung statt, die durch die Schüt-
zenvereine ergänzt wurde.361 Die Turnervereine waren durch ihre relative soziale Offenheit
eine der ersten Gesellschaften mit massenhaften Mitgliedern. Daneben wurde durch konforme
Kleidung und durch das Duzen gesellschaftliche Gleichheit vermittelt. Neben den kollektiven
Ausführungen der Turnübungen sollten Fahnen, Lieder und Leitsprüche ein nationales Zusam-
mengehörigkeitsgefühl wecken. Auch bei den Turnern war das Festwesen konstitutives Ele-
ment der Vereinskultur und Forum nationalpolitischer Agitation. 1860, ein Jahr nach dem Schil-
lerfest und der Gründung des Deutschen Nationalvereins, fand Mitte Juni in Coburg das erste
deutsche Turnfest statt. Theodor Georgii, Mitorganisator und Redner der im September des
gleichen Jahres stattgefundenen ersten Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins,
berichtet von dem nationalen Charakter des Coburger Turnfestes: „[D]ie Stadt hatte ihr Fest-
gewand vollends angezogen, sie prangte […] in einem bunten Gemisch von Flaggen und Fahnen
in Stadt- und Landes-, vor allem in den deutschen Farben schwarz-rot-golden.“362
Als Jahns Turninitiative 1820 als Konsequenz auf die Karlsbader Beschlüsse verboten wurde
(sog. „Turnsperre“), verlagerte sich die Bewegung in die Schweiz, in der sie sich insbesondere
ab 1830 freier als im Deutschen Bund entfalten konnte. 1833 gründete sich der Eidgenössische
Turnverein, mit dem Ziel „die Turner und Turnvereine durch Freundschaftsbande und patrioti-
sche Gefühle zu vereinen, die nationale körperliche und geistige Erziehung der Schweizer Ju-
gend zu fördern, Turnübungen zu entwickeln und zu pflegen und diese in der Bevölkerung zu
verbreiten.“363 Ihre von 1832 bis 1874 jährlich veranstalteten Turnfeste „waren eigentliche Na-
tionalfeste“ (HLS 12, S. 557).
Gottfried Keller sieht in seinem Aufsatz Am Mythenstein beim „Freiturnen“ der Knaben ein
wichtiges Moment zur Stiftung bürgerlichen Gemeinsinns: „[D]ie Ahnung einer künftigen allge-
meinen Kultur körperlich-rhythmischer Bewegung ist bei diesem Anblicke durchaus nicht abzu-

360
Goltermann, Svenja: Der Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860-1890. Göttin-
gen 1998. Die nationale und liberale Wirkungskraft der Turnerbewegung wurde auch seitens der Regierung
erkannt: 1819 wurde Jahn festgenommen und verbrachte bis 1825 im Gefängnis.
361
Nicht selten kam es, wie beim Gothaer Schützenfest von 1861 vor, dass Schützen und Turner gemeinsame
Festumzüge gestalteten: „Am ersten Festtag setzte sich unter Kanonendonner und Glockengeläute der bunte
Festzug durch die Stadt Gotha in Bewegung. Den Schützen mit ihren Waffen und den mannigfachsten Trachten
und Uniformen, […] den unzähligen bunten Fahnen und Bannern sowie den 200 weißgekleideten Ehrenjung-
frauen schlossen sich die Turner in ihren Leinenanzügen, den Hut mit Eichenlaub geschmückt, an. Feierlich und
in musterhafter Ordnung führte der Zug durch die Stadt hinaus zum Schützenplatz […]“ (In: Tallau, Hermann:
Ein Kaleidoskop zum Schützenwesen. Duderstadt 2008, S. 22 f.).
362
Theodor Georgii (Hrsg.): Das erste deutsche Turn- und Jugendfest zu Coburg den 16.-19. Juni 1860: ein Erinne-
rungsblatt für Deutschlands Turner. Leipzig 1860. S. 8.
363
HLS 12, S. 557. Marco Marcacci: Artikel „Turnbewegung“. S. 557-559.
170 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

weisen, um so weniger, als auch in der Soldatenwelt, also auf der breitesten Grundlage, der-
gleichen eingeführt werden soll“ (HKKA 15, S. 201). In Kellers Zukunftsvision zielt die Kultivie-
rung der Bewegung auf eine Demokratisierung und Unitarisierung der Bevölkerung ab, wobei
er den militärischen Sport als Übungsplattform für die zivile Welt begreift. Der rhythmisierte
Sport schafft eine Positionierung des Individuums in der Gemeinschaft, in der es ähnlich wie
beim Militär Halt, Orientierung und Ordnung erfährt. In diesem Sinne gestaltet Keller im Grünen
Heinrich das Schulturnen, das damals üblicherweise mit Waffenübungen verbunden war,364 als
erste Übung des Lebens für seinen Protagonisten Heinrich Lee, an der er jedoch scheitert:

Mit den kriegerischen Übungen war das Turnen verwandt, zu welchem wir ebenfalls ange-
halten wurden, so daß einen Abend exerziert und den andern gesprungen, geklettert und
geschwommen wurde. Ich war bisher aufgewachsen wie ein Gras, mich biegend und
schmiegend, wie jedes Lüftchen der Lebensregungen und der Laune es wollte; niemand
hatte mir gesagt, mich grad zu halten, kein Mann mich an See und Fluß geführt und da
hineingeworfen, wo es am tiefsten war, nur in der Aufregung hatte ich ein und andern
Sprung getan, den ich mit Vorsatz nicht zu wiederholen vermochte. Mein Temperament
aber hatte mich nicht dazu getrieben, wie etwa die Söhne anderer Witwen, da ich keinen
Wert darauf legte und viel zu beschaulich war. Meine jetzigen Schulgenossen hingegen bis
auf den kleinsten herab schwammen alle wie die Fische im See herum, sprangen und klet-
terten wie Katzen, und es war hauptsächlich ihr Spott, welcher mich zwang, mir einige Hal-
tung und Gewandtheit zu erwerben, da sonst wohl mein Eifer bald erkaltet wäre. (HKKA
11, S. 174 f.)

Im Gegensatz zum Protagonisten, dessen Entwicklung in dem Bildungsroman zur Negativfolie


für ein richtiges Handeln dient, sind seine Schulkameraden bereits seit frühester Kindheit mili-
tärisch-sportlich sozialisiert. Die Tiervergleiche („wie die Fische“, „wie Katzen“) akzentuieren
die Natürlichkeit der Übungen. Die mit der soldatischen Disziplin und (männlichen) Ehrgeiz in
Kontrast stehende Beschaulichkeit Heinrichs ist Ergebnis seiner defekten Sozialisation. Die Des-
integration des Protagonisten in gesellschaftliche, gemeinschaftsstiftende Strukturen bewirkt
seinen Ausschluss aus dem sozialen und nationalen Kontext.
Für die Entwicklung Heinrichs ist der konsekutive Zusammenhang von Schützen- und Turn-
wesen signifikant: Man unternimmt „größer[e] Turnfahrten und militairisch[e] Ausflüg[e] mit
klingendem Spiel“ (HKKA 11, S. 175), bei denen die Kinder in Gastfamilien unterkommen.

Wir sahen uns nun vereinzelt in die Mitte häuslicher Wirthlichkeit versetzt als Gegenstand
des festlichsten Wohlwollens und belohnten diese Gastfreundschaft dadurch, daß wir, als
ob wir in Feindesland wären, beim Schlafengehen unsere Flintchen mitnahmen und neben

364
Vgl. HKKA 11, S. 174: „Seit alter Zeit war die Jugend der Städte in den Waffen geübt worden, vom zehnten Jahre
an bis beinahe zum wirklichen Militairdienste des Jünglingsalters, nur war es mehr eine Sache der Lust und des
freien Willens gewesen […]. Nun aber wurden die Waffenübungen für die sämmtliche schulpflichtige Jugend
gesetzlich geboten, daß jede Cantonsschule zugleich ein soldatisches Corps bildete.“
Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün 171

die großen Gastbetten stellten, welche zu ersteigen wir alle unsere Turnerkünste aufbieten
mußten. (HKKA 11, S. 181 f.)

Durch die ambivalente, aus der naiven Kinderperspektive gestaltete Vermischung von Bewir-
tung und Befeindung, von Häuslichkeit und Fremdheit thematisiert der Text die weit ins Private
hineinreichenden Vereinstätigkeiten. Anders als in Raabes Texten, in denen Privatheit und Öf-
fentlichkeit als Gegensatz eröffnet werden und durch politische Implikationen auf den Rückzug
des liberalen Bürgertums nach der gescheiterten Revolution verweisen, werden sie bei Keller
miteinander in Verbindung gesetzt und sind Ausdruck einer gelungenen Integration des Einzel-
nen in die Gemeinschaft. Der im Grünen Heinrich geschilderte „jugendlich[e] Feldzug“ wird wie
ein wirklicher militärischer Auszug mit „gemeinschaftliche[r] Paraden und Uebungen“ (HKKA
11, S. 177) inszeniert, so dass nicht nur die Klassengemeinschaft gestärkt wird, sondern sogar
den Außenseiter Heinrich in diese einbindet. Er ordnet sich ganz wortwörtlich in die Schar sei-
ner Mitschüler ein, durch die Autorität der Befehlsgewalt dazu ermächtigt.
Kellers Darstellung der Turner spiegelt ihre identitätsstiftende Bedeutung im 19. Jahrhun-
dert wider und zeigt ihre kollektivierende Kraft. Der Text spielt sowohl das Scheitern als auch
das Gelingen der nationalen und sozialen Integration anhand des Protagonisten durch. In seiner
Novelle Das Fähnlein der sieben Aufrechten thematisiert Keller anhand der Darstellung eines
patriotischen Vereins und seiner Teilnahme an einem eidgenössischen Schützenfest die Vo-
raussetzungen und Bedingungen zur Konsolidierung Schweizerischer Identität.365

7.4. Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün

Wie die Turnerschaften gründeten sich auch die deutschen Schützenvereine im Zuge der Na-
poleonischen Kriege. Ebenfalls nach demokratischen Prinzipien organisiert, bildete sich aus
ihnen eine bewaffnete Bürgermiliz, die sich dem Ziel der deutschen Einheit verpflichtete. 1861
wurde nach schweizerischem Vorbild die erste Deutsche Schützengesellschaft in Gotha gegrün-
det.366 Das von den Schützen formulierte Programm betont die nationale, gemeinschaftsstif-
tende Ausrichtung der Veranstaltung, nämlich „ein enges Aneinanderschließen der Deutschen
nach jeder Richtung hin“, um die Einigung „durch allgemeine Preis- und Wettschießen, durch
den persönlichen Verkehr der Schützen aller Stämme“ zu fördern (Tallau, S. 22). Der Auszug
aus dem Gothaer Programm zeigt, dass der Deutsche Schützenbund (neben dem Deutschen

365
Keller war auch privat in Vereinen aktiv: Beim Ausbruch des polnischen Januaraufstandes rief er das Schweize-
rische Central-Comité für Polen ins Leben, eine politisch-humanistische Hilfsorganisation, in der er zwischen
1863 und 1865 als Sekretär tätig war.
366
Bereits 1859 war ein überregionales Schützenfest geplant gewesen, das durch den Ausbruch des Italienischen
Krieges jedoch verhindert wurde. Vgl. Tallau, S. 22.
172 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Nationalverein) als „neubegründet[e] politisch[e] Institutio[n]“ Träger der „emanzipatori-


schen Volks- und Nationalbewegung“ war.367
In der Schweiz waren die Schützenvereine bereits seit 1824 (Gründung des Eidgenössischen
Schützenvereins) integrativer Bestandteil der bürgerlichen Fest- und Vereinskultur. Darüber
hinaus besaßen sie nationalpolitische und paramilitärische Funktion: Im Vormärz nahmen die
Schützenvereine an den Freischarenzügen 1844/45 teil, nach Einführung der allgemeinen
Wehrpflicht 1848 und der Militärorganisation 1874 wurden sie zur Schnittstelle von privatem
und militärischem Bereich.368 Einheitsstiftend wirkten sie auch in der Schweiz: Das 20. eidge-
nössische Schützenfest in Stans 1861 war Teil einer „nationalen Versöhnungspolitik“ zwischen
liberalen und konservativen Kräften in der Schweiz.369

In Gottfried Kellers 1860 veröffentlichten Novelle Das Fähnlein der sieben Aufrechten370 bildet
das Eidgenössische Schützenfest in Aarau 1848, „das erste nach der Einführung der neuen Bun-
desverfassung“ (HKKA 6, S. 271), die ereignisgeschichtliche Grundlage der Handlung. Zur Teil-
nahme an diesem Vaterlandsfest entschließt sich der Verein der so genannten sieben Aufrech-
ten, der sich aus sieben alten, in Freundschaft verbundenen „Handwerksmeister[n],
Vaterlandsfreunde[n], Erzpolitiker[n] und strenge[n] Haustyrannen“ (HKKA 6, S. 268) zusam-
mensetzt. Wortführer der Gruppe sind der verarmte Schneidermeister Hediger und der wohl-
habende Zimmermeister Frymann, die trotz der sozialen Kluft zum einen die politische Sache
und zum anderen die Gegnerschaft gegen die Beziehung ihrer beiden Kinder miteinander ver-
bindet. Der Besuch des Schützenfestes, dem die Gemeinschaft der sieben Aufrechten durch

367
Hans-Thorald Michaelis: Unter schwarz-rot-goldenem Banner und dem Signum des Doppeladlers: gescheiterte
Volksbewaffnung und Vereinigungsbestrebungen in der deutschen Nationalbewegung und im Deutschen Schüt-
zenbund 1859-1869 – Elemente einer deutschen Tragödie. Frankfurt (Main) 1993. S. 1. Für die Augsburger Post-
zeitung war das Gothaer Schützenfest eine „große Schießübung des Nationalvereins“, bei dem Georgii eine
politische Versammlung improvisiert habe. Vgl. den Artikel vom 15. Juli 1861. 165 (1861), S. 1003. Manfred
Hettling ist entgegen Michaelis der Meinung, dass es in Deutschland „kaum Versuche und Bemühungen [gab],
die Schützenvereine in die bürgerliche und liberale Bewegung nachhaltig zu integrieren.“ Hettling, Manfred:
Politische Bürgerlichkeit: der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der
Schweiz von 1860 bis 1918. Göttingen 1999. S. 262.
368
Die Vereine waren beispielsweise für die Durchführung der außerdienstlichen Schießpflicht verantwortlich. Vgl.
dazu den Artikel „Schützenwesen“ in HLS 11, S. 245-247.
369
Die Nidwaldner Kantonsregierung und der lokale Klerus leisteten weiterhin Widerstand gegen diese Annähe-
rung. Der in den 1840er Jahren kulminierte Konflikt zwischen radikalliberalen und konservativen Kräften er-
reichte auch die Schützenfeste: Sie wurden in den katholisch-konservativen Kantonen zunächst boykottiert und
erst später in diesen etabliert (HLS 11, S. 246 f.).
370
Der Briefwechsel mit Adolf Exner bezeugt die politischere Ausrichtung der ersten Fassung von 1860 gegenüber
der Buchfassung von 1876. Exner schlug dem Autor in einem Brief vom 16. 3. 1875 vor, beim „das Fähnlein der
7 […] die patriotisch-politischen Reden ect. im zweiten Theil ein Bischen zu kürzen, da für sie nicht überall Ver-
ständniß zu erwarten steht u sie jedenfalls die Rundung der Composition beeinträchtigen“ (KB 2, S. 237). Keller
antwortete am 27. 8. 1875 in Bezug dessen „Wunsch nach Beseitigung der politischen | Rethorik oder Kanne-
gießerei in der Geschichte von den 7 Aufrechten. Diesen Rath werde ich bald zu erwägen haben, da die Ausgabe
dieses Jahr noch zu Stande kommen wird unter dem Titel Züricher Novellen“ (KB 2, S. 243).
Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün 173

Bechergabe, eigene Fahne und eine Rede huldigen will, ist Höhepunkt und eigentlicher Hand-
lungskern der Erzählung. Hier eröffnet sich für Karl Hediger Junior die Gelegenheit, seinen zu-
künftigen Schwiegervater von seinen Qualitäten als würdiges Mitglied der Gesellschaft zu über-
zeugen, indem er eine patriotische Rede auf den väterlichen Verein hält:

[E]s ist sozusagen die Freundschaft in Person, welche wir zum Feste führen, die Freund-
schaft von Vaterlands wegen, die Freundschaft aus Freiheitsliebe! […] Es ist ein Verein, der
keinen Namen hat, keinen Präsidenten und keine Statuten; seine Mitglieder haben weder
Titel noch Ämter, es ist ungezeichnetes Stammholz aus dem Waldesdickicht der Nation,
das jetzt für einen Augenblick vor den Wald heraustritt an die Sonne des Vaterlandstages,
um gleich wieder zurückzutreten und mitzurauschen und -zubrausen mit den tausend an-
deren Kronen in der heimeligen Waldnacht des Volkes, wo nur wenige sich kennen und
nennen können und doch alle vertraut und bekannt sind.371

In seiner Rede präsentiert Karl den Club der Sieben Aufrechten wegen seines demokratischen
Wesens als vorbildhaft für die Schweizerische Nation. Als „ungezeichnete[r]“ Teil eines Ganzen
steht er induktiv für ein offenes und soziales Nationalkollektiv, das sich im öffentlichen Fest
realisiert. Die Waldmetapher situiert zum einen den patriotischen Verein in eine mythisch ver-
klärte Natur, die Gleichheit, Stärke und Bodenständigkeit der Mitglieder impliziert. Zum ande-
ren wird die Nation als behütender Wald aufgefasst, der aus einem Kollektiv von „Stämmen“
besteht. Erst die Einzelnen (die Stämme/Völker) machen das Ganze (den Wald/die Nation) aus,
so dass ihre gesicherte Existenz erst durch ihren Zusammenschluss möglich ist.
Gottfried Kellers Aufsatz Die Schützenfeste hebt die Bedeutung der Festrede bei den Schüt-
zenfesten hervor, und zwar sowohl „in rhetorischer wie in poetischer Form“. Als Vorbild nennt
er Georg Herweghs Gedicht Zum eidgenössischen Schützenfest in Zürich von 1859, dessen po-
sitive Aufnahme bewiesen hätte, dass „dergleichen fliegende poetische Blätter, wenn sie nur
gerecht ‚gemacht’ und empfunden sind, als ein natürlicher und bleibender Festschmuck gel-
ten“ und „als der beste Maßstab für seinen wirklichen Patriotismus angesehen werden“ können
(HKKA 15, S. 230 f.). In den Sieben Aufrechten wird Karls Festrede, in der er seinen Patriotismus

371
HKKA 6, S. 315 f. Adolf Exner riet Keller in einem Brief vom 16. 3. 1875 die politischen Implikationen der Reden
zu reduzieren: „Schreiben Sie doch ja Ihre ‚Zürchergeschichten‘ fertig, das wird trefflich einschlagen, zumal das
Fähnlein der 7 so gut wie unbekannt ist. Bei diesem | aber würde ich in aller Bescheidenheit dazu rathen, die
patriotisch-politischen Reden ect. im zweiten Theil ein Bischen zu kürzen, da für sie nicht überall Verständniß
zu erwarten steht u sie jedenfalls die Rundung der Composition beeinträchtigen“ (KB 2, S. 238). Am 27. 8. ant-
wortete Keller: „Ihren letzten Brief habe ich gerade nicht zur Hand. Zu beantworten fällt mir einzig ein Ihr
Wunsch nach Beseitigung der politischen Rethorik oder Kannegießerei in der Geschichte von den 7 Aufrechten.
Diesen Rath werde ich bald zu erwägen haben, da die Ausgabe dieses Jahr noch zu Stande kommen wird unter
dem Titel Züricher Novellen. Die neuen Geschichtchen kommen zuerst in die deutsche Rundschau von Roden-
berg u heißen: Herr Jacques, Hadlaub, der Narr auf Manegg u der Landvogt von Greifensee. Hier wird überall
nicht politisirt sondern nur fabulirt u Comödirt. Wenn ich nochmals damit über den Graben komme, ohne un-
terzuplumpsen, so kann ich nachher noch Manches machen, da Alles neu geschrieben ist u nirgends von alten
Conzeptionen u Fragmenten gezehrt wird.“ KB 2, S. 244.
174 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

rednerisch unter Beweis stellen kann, ein voller Erfolg. Als Karl schließlich die rhetorisch berei-
teten Erwartungen beim Schießen und körperlichen Kräftemessen auch in der Tat erfüllt, ist er
endgültig als viriles Mitglied der Gesellschaft und zukünftiger Ehemann akzeptiert. Seine uner-
wartete Muskelkraft käme, erklärt Karl den Umstehenden, „vom Turnen, […] das Übung, Kraft
und Vorteil zu dergleichen Dingen“ verleihe.

„Es ist so!“ sagte Hediger, der Vater, nach einigem Nachdenken, und fuhr begeistert fort:
„Darum preisen wir ewig und ewig die neue Zeit, die den Menschen wieder zu erziehen
beginnt, daß er auch ein Mensch wird, und die nicht nur dem Junker und dem Berghirt,
nein, auch dem Schneiderskind befiehlt, seine Glieder zu üben und den Leib zu veredeln,
daß es sich rühren kann!“
„Es ist so!“ sagte Frymann, der ebenfalls aus einem Nachdenken erwacht war, „und auch
wir haben alle mitgerungen, diese neue Zeit herbeizuführen. Und heute feiern wir, was
unsere alten Köpfe betrifft, mit unserem Fähnlein den Abschluß, das, ‚Ende Feuer!‘ und
überlassen den Rest den Jungen.“ (HKKA 6, S. 331 f.)

Indem der Text das Geistige der alten Generation („Nachdenken“, „alten Köpfe“) dem Körper-
lichen der jungen Generation („Glieder zu üben“, „Leib zu veredeln“) gegenüberstellt, weist er
auf die zukünftige Bedeutung der Vereine hin, in der sich ihre Mitglieder nicht mehr nur durch
Worte, sondern auch durch Taten zu beweisen haben. Die Festrede und Taten Karls initiieren
die geistige Erweckung der beiden Alten, versöhnen sie untereinander in Hinblick auf ihre kont-
rären sozialen Schichten und befrieden ihre revolutionäre Vergangenheit mit der gemäßigt li-
beralen Gegenwart. Zeugnis dieser doppelten Versöhnung ist die private Allianz zwischen Karl
und Hermine. Die Verlobung des armen Schneidersohns mit der reichen Zimmerertochter, die
für eine soziale Annäherung und den nationalen Zusammenschluss unter Brüdern steht, ist erst
durch Karls bestandene Prüfung auf dem Schützenfest durchsetzbar. Im Sinne dieser sozialen
Angleichung wird das den Festreden anschließende gemeinsam eingenommene Mittagsessen
geschildert:

Landleute und Städter, Männer und Weiber, Alte und Junge, Gelehrte und Ungelehrte, alle
saßen fröhlich durcheinander und harrten auf die Suppe, indem sie die Flaschen entkork-
ten und das Brot anschnitten. Nirgends blickte ein hämisches Gesicht, nirgends ließ sich ein
Aufschrei oder ein kreischendes Gelächter hören, sondern nur gleichmäßig verbreitete das
hundertfach verstärkte Gesumme einer frohen Hochzeit, der gemäßigte Wellenschlag ei-
ner in sich vergnügten See. […] Doch diese sitzenden Heerscharen bildeten nur die Hälfte
der Versammlung; ein ununterbrochener Menschenzug, ebenso zahlreich, strömte als Zu-
schauer durch die Gänge und Zwischenräume und umkränzte, ewig wandelnd, die Essen-
den. Es waren, Gott sei Preis und Dank, die Vorsichtigen und Sparsamen, die sich die Sache
berechnet und anderswo für noch weniger Geld gesättigt hatten, die Nationalhälfte, wel-
che alles billiger und enthaltsamer bewerkstelligt, während die andere so schrecklich über
die Schnur haut; ferner die Allzuvornehmen, die der Küche nicht trauten und denen die
Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün 175

Gabeln zu schlecht waren, und endlich die Armen und die Kinder, welche unfreiwillig zu-
schauten. Aber jene machten keine schlechten Bemerkungen, und diese zeigten weder
zerrissene Kleider noch böse Blicke […]. (HKKA 6, S. 322)

Die deduktive Erweiterung der sozialen Gleichheit auf die große Masse, die Keller in seiner No-
velle erzählerisch wie auch handlungsimmanent einbringt, hat gesellschaftsutopischen Charak-
ter. Die Unterteilung zwischen statischer „Versammlung“ und dynamischem „Menschenzug“
zeigt gleichwohl eine soziale Differenzierung, bei der die einen Zug Bildenden (Reiche und Arme
gleichermaßen) einen Kontrast zur essenden Mittelschicht bilden. Der Text spricht diese offen-
sichtliche Diversität an, bringt die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten aber letztendlich
durch die „umkränzende“ Choreographie immerhin für kurze Zeit im Kontext von Fest und Ver-
ein zusammen.

Das nächste Kapitel befasst sich mit Adalbert Stifters Darstellung des Schützenwesens, zum ei-
nen als literarische Bearbeitung in seiner Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters aus dem
Jahr 1841 sowie als Bericht zweier selbst erlebter Fahnenweihen in den Jahren 1848 und 1849.

7.4.1. Schützenfestdarstellung in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters

Die deutschen und österreichischen Schützengesellschaften bestanden bereits seit dem Hoch-
mittelalter, wobei bereits in ihren Anfängen sowohl die militärische Ausbildung des Bürgertums
als Bürgerwehr als auch die monarchische Loyalitätsbekundung in Form des Königsschießens
Ziel der Vereine war. Bis 1879, also lange nach Auflösung des Deutschen Bundes, waren die
österreichischen Schützenvereine im Verbund des Deutschen Schützenbunds eingegliedert (so
fand das dritte Bundesschießen von 1868 nach Frankfurt und Bremen in Wien statt). Aufgrund
ihrer bürgerlichen Zusammensetzung besaßen sie große politische Bedeutung372 und hatten
nationale Ambitionen: „Üb Aug´ und Hand fürs Vaterland!“373.
In Adalbert Stifters Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters, derer vier, zwischen 1841
und 1867 entstandene Fassungen existieren, widmet sich das Kapitel „Das Scheibenschießen in
Pirling“374 der Darstellung eines ländlichen Schützenfestes. Der Veranstaltungsort ist ein großer

372
Vgl. Julius von Traun: Oberösterreich. Ein Skizzenbuch. Leipzig 1848, S. 278: „Die österreichische Regierung hat
immer eine tiefe Abneigung gegen die Bewaffnung des Volkes verrathen.“
373
Ein viel zitiertes Motto der Schützenvereine, das gerne als Inschrift auf Medaillen oder Becher geprägt wurde.
So beschreibt ein Bericht des Wiener Schützenfestes: „Die Becher sind sehr zierlich gearbeitet und enthalten
die Inschrift: ‚Ueb Aug und Hand fürs Vaterland‘ ferner die Jahreszahl ‚1868. III. deutsches Bundesschießen in
Wien.‘ In: Constitutionelle Bozner Zeitung Nr. 173 (30. 7.1868). S. 1.
374
WUB 6/1, S. 330 ff. Das Kapitel erschien im März 1842. Vgl. WUB 1/9, S. 262. Im Folgenden verwende ich, wenn
nicht anders bezeichnet, die Journalfassung von 1841.
176 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Fels, der „Steinbühel“, der der Mittelpunkt der Umgebung und Treffpunkt der umliegenden
Dörfer ist und auf dem man eine Hütte für gemeinsame Versammlungen gebaut hat.

Man hat eine sehr schöne und geräumige hölzerne Hütte auf ihm erbaut, die eigentlich wie
ein kleiner Saal ist und viele Menschen um ihren Tisch versammeln kann. […] Aus der Ur-
sache, weil er so wunderlich war, und weil man die Anlagen auf ihm gemacht hatte, ist der
Fels der Platz der Pirlinger Volksfeste geworden. Im Sommer sind alle Sonntage Leute drau-
ßen. Meistens hört man auch da das Knallen der Büchsen, wie auf die Scheiben geschossen
wird, und manchmal tönen darunter Waldhörner oder andere Musik. Auf dem Gipfel flat-
tern die bunten Windfahnen der Schützen […]. Zuweilen sind größere Schützenfeste; dann
kommen Leute aus den benachbarten Ortschaften herzu, und mancher reist noch aus wei-
teren Entfernungen nach Pirling, um in dem Schützenkampfe ein Teilnehmer zu sein. (WUB
1/5, S. 204, Fassung von 1841)

Der Ort der Veranstaltung ist ein öffentlich zugänglicher, der von der Mehrheit als Festplatz
ausgewählt wurde. Indem der Steinbühel ähnlich wie die Kirche eines Dorfes als Mittelpunkt
der Pirlinger entfaltet wird, der „alle Sonntage“ zur Wallfahrt genutzt wird, erhalten die auf
dem Platz gehaltenen Volkfeste religiösen Charakter. Indem alle Dorfbewohner am Fest teil-
nehmen, wirkt es integrativ und gemeinschaftsstiftend. Auch die Fahne, die Symbol des Festes
ist und es schon von weitem ankündigt, ist Gemeinschaftsarbeit: „Alle Nadeln und Finger der
Pirlinger Mädchen hatten daran gearbeitet und hatten breite feurige Bänder dazu gegeben“
(WUB 1/5, S. 212). Neben der „schwere[n], große[n] Schützenfahne“, die „auf dem Gipfel des
Gebäudes hing“ (S. 211 f.), weht „hoch über den Wipfeln seiner Bäume das Schützenfähnlein
[…], eine lange, wallende Zunge, rot und weiß, welche Farben sich sanft von der tiefen Bläue
des Himmels abhoben“ (S. 210). Die Szenerie ist national konnotiert: Die Farben des Fähnleins
rot und weiss waren die Landesfarben von Böhmen, bei dem fiktiven Ort Pirling dachte Stifter
an Friedberg an der Moldau (tschech. Frymburk) im heutigen Tschechien (vgl. WUB 1/9, S. 241).
Die von dem Ich-Erzähler der Binnengeschichte Augustinus beschriebenen Vorbereitungen
zum Schützenfest sind bereits selbst Teil eines kollektivierenden und wertschöpfenden Han-
delns, das eine eigene Tradition hat. Das ganze Dorf ist mitwirkender Teil des bevorstehenden
Festes, das „alles vereiniget“ (WUB 1/5, S. 210), so dass das Individuum in der sich selbst fei-
ernden Gemeinschaft aufgehoben ist. Die Bewährung Augustinus´ äußert sich im Kontext des
Festes: Er ist als gemachter Mann in seinen Heimatort zurückgekehrt und nun aktiver Teil der
Gemeinschaft. In ständigen Rückgriff auf seine Kindheit verortet der Tagebuchschreiber das
Fest als Teil seiner Erinnerungen, so dass erzählte Vergangenheit und Gegenwart Anfangs- und
Endpunkt der Geschichte bilden:

[W]ie ein Traum war es mir auch, daß das die nämlichen Felder und Gründe sind, wo ich so
oft als Knabe gewesen bin und mich sehr gefreut hatte, wenn ein so großes Scheibenschie-
ßen bevor stand, zu dem ich mit dem Vater und oft auch im Geleite der Schwestern hinab
gehen durfte. Nun fahre ich hier, ein tätiger, geehrter Mann mit dem Zurückdenken an jene
ferne liegende Zeit. (WUB 1/5, S. 208)
Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün 177

Diesem Rahmen wird auf der Handlungsebene entsprochen. Denn Augustinus begegnet auf
dem Schützenfest seiner Jugendliebe Margareta wieder, die er nun als gereiftes, zum allgemei-
nen Ansehen erlangtes Mitglied der Gesellschaft zurückerobern kann. Augustinus´ detaillierte
Schilderungen von den Vorbereitungen des Festes sowie von den festlichen Vorgängen selbst
handeln von Traditionen und Bräuchen, die nicht nur die Integration des Individuums in das
Kollektiv repräsentativ darstellen und Bezüge zu wertorientierenden Normen herstellen, son-
dern auch ein Wiedererkennen beim Leser induzieren, das auf Identifikation angelegt ist.

Im Kontext der Revolution 1848/49 verfasste Stifter zum Anlass von militärischen Fahnenwei-
hen zwei Gelegenheitsschriften, Die Fahnenweihe der Linzer Nationalgarde (19. Juni 1848) und
Die Fahnenweihe des Regiments Wohlgemuth (9. Oktober 1849).375 Beide Aufsätze zeichnen
das Bild zweier patriotisch angelegter Feste, bei denen sich Religiosität, Volkstum und Herr-
scherverehrung miteinander verbinden. Die Linzer Weihung der Fahne, die als „positiv besetz-
ter […] Signifikant für die Nation“376 gilt, war deutsch ausgerichtet: „von den meisten Häusern
wehte die deutsche Fahne“ und „von einer [der Fahnen, J. F.] glänzten die deutschen Farben
hernieder“. Nach Stifter hatte die Feier über den sakralen Akt der Fahnenweihe hinaus etwas
stark „religiös erhebendes und feierliches“.377 Stifters Schilderung der Fahnenweihe des Regi-
ments Wohlgemuth, das 1849 in Italien und Ungarn gekämpft hatte, besaß dagegen spezifisch
österreichischen Charakter. Bei dem Fest, das „einen freundlichen Eindruck auf das Herz eines
jeden Vaterlandsfreundes machen mußte“, wurde nur die kaiserliche Fahne gehisst, außerdem
ausschließlich österreichische Persönlichkeiten und Herrscher gewürdigt (darunter Kaiser und
Kaiserin, Radetzky). Für den Berichterstatter Stifter ist der „ergreifendste Augenblick […], als in
der Eidesformel die Bestandtheile Oesterreichs aufgezählt wurden, und wir mit erschütterter,
aber befriedigter Seele uns innerlich sagen konnten: ‚Es fehlt kein Theil!‘ Der Eid lautete auf das
Vaterland und auf die Verfassung.“ Der Akt der Versicherung über die einzelnen Länder des
Habsburgerreiches, die sich zur Nation formieren, ist in Form des Festes der Fahnenweihe ge-
glückt: Die Fahne, das Zeichen für die militärische Stärke Österreichs, ist geweiht. Von ihr hofft
der Autor, dass sie „immer nur auf dem Felde der Ehre, der Treue, und des Ruhmes zu sehen

375
Im Kontext des früheren Aufsatzes schrieb Stifter an Gustav Kolb, dem Herausgeber der Allgemeinen Augsbur-
ger Zeitung, in der er erschien: „Wenn die Zeit kommen wird (u sie wird kommen) wo ich mit den wenigen
Kenntnißen, die ich mir in Staatsdingen erworben habe, meinem deutschen Vaterlande u meinem Geburtslande
Österreich nutzen kann, bitte ich, mir Ihr Blat offen zu halten“ (WUB 8/3, S. 51).
376
Philipp Sarasin: Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft. In: Reiner Keller u. a. (Hrsg.): Handbuch sozialwis-
senschaftliche Diskursanalyse: Theorien und Methoden. Wiesbaden 2006. Bd. 1. S. 55-81. Hier S. 71.
377
Ähnlich geht es dem Erzähler in der Mappe meiner Urgroßvaters: „Ich habe dieses alles darum eingetragen,
weil es mir zu Herzen gegangen ist. Es ist mir lieb und treu gewesen seit meiner Kindheit her. Hätten sie mit
fürstlichem Aufwande ein Schießen gerüstet, es hätte vor meinen Augen nicht eine Binse schwer gewogen.“
WUB 1/5, S. 207.
178 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

sein wird“, ja am besten wallen „die Fahnen unseres Heeres nur in festlichen Aufzügen“.378 Mit
der Transponierung der eigentlich militärischen Funktion der Fahne auf den halböffentlichen
Bereich der Feste, stellt Stifter eine Verbindung zwischen staatlicher und bürgerlicher Sphäre
her.

In beiden Texten entfaltet Stifter Festsituationen, die sowohl national wie auch religiös konno-
tiert sind. Die von der Alltagswelt unterschiedenen Feste dienen der Erhebung ihrer Teilnehmer
und wirken identitätsstiftend. Während in der Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters der
Erzähler Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, wird in Stifters Fahnenweihe-Aufsätzen
die räumliche Integrationskraft der Feste betont.

7.4.2. Anastasius Grüns Schützenfestgedichte

Anastasius Grüns Gedicht Festgruß zum Schützentag in Wien aus dem Jahr 1868 bezieht sich
auf das dritte Deutsche Bundesschießen in Wien, das vom 26. Juli bis zum 6. August 1868 statt-
fand.379 Wie in den meisten okkasionellen Festgedichten, ist auch in Grüns Festgruß Anlass und
Gegenstand ein und dasselbe. Indem Wien als Handlungsort des Festes personifiziert wird und
als Handelnde selbst auftritt, werden die (innere) Handlungsebene und die (äußere) Gedichtsi-
tuation eng miteinander verknüpft:

Sie hat den Festschmuck angethan, die Kränze grüner Reiser,


Verjüngt vom Lenzhauch neuer Zeit, die alte Stadt der Kaiser;
Von ihrer Mauerkrone wehn die Blumen und die Bänder,
Den Leib umfließt in Faltenpracht das reichste der Gewänder.

Sie schwingt das alte Banner hoch in makelloser Reinheit,


Das alte Schwarz-roth-gold ist´s noch, der Hort der Volkeseinheit,
Das rauscht ein froh Willkommen zu den Gästen, die da kommen,
Vieltausendstimmig ruft es nach in Sang und Klang: Willkommen! (GGW 2, S. 82)

Die erste Strophe verbindet die Zukunft, die liberal-progressiv konnotiert ist („Lenzhauch neuer
Zeit“), mit der monarchisch geprägten Vergangenheit („alte Stadt der Kaiser“) in der Gegenwart
der Festsituation. Dieses zeitliche Kontinuum wird räumlich verschränkt, indem es die gesamte
deutsche Nation einschließlich der Deutsch-Österreicher einbezieht. Trotz der politischen Rea-

378
Die Fahnenweihe des Regiments Wohlgemuth. WUB 8/2, S. 202 f.
379
Vgl. dazu den Aufsatz von Hans-Thorald Michaelis von 1996, der ausführlich den politischen Kontext des Festes
erläutert (wie Anm. 51).
Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün 179

lität von 1866 konstruiert der Text einen explizit großdeutschen Raum, der Deutsche und Ös-
terreicher als Bürger einer Nation umfasst. Diese Integrationsleistung wird durch das Schützen-
fest hervorgerufen:

Willkommen, Schützenbrüder all aus Süden und aus Norden,


Die Ihr am Rhein, am Neckar wohnt, die an des Ostmeers Borden,
Die Ihr das Tiefland habt durchwallt, die Alpen überklommen,
Ihr Söhne deutscher Gauen all, willkommen, gottwillkommen! (GGW 2, S. 82)

Die Gemeinschaft der Schützen bildet in der Situation des Festes ein nationales Kollektiv, des-
sen räumliches Ausmaß das heutige Deutschland und Österreich umfasst. Das wiederholte
„Willkommen“ weist auf eine auffordernde Botschaft des Sprechers hin, das Fest als Ausgangs-
punkt für die Konstituierung eines Kollektivs zu begreifen. Der Sprecher versucht die Unter-
schiede zwischen Einladenden und Eingeladenen durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zu
nivellieren und Gemeinsamkeiten herzustellen:

Zieht durch den Markt, Ihr fühlt Euch noch in Eures Volkes Mitte,
Betretet nur ein Haus, Euch grüßt der eignen Heimat Sitte;
Das Wort, dem unsre Jugend lauscht, ist Eurer Weisen Lehre,
Das Lied, das unser Herz berauscht, ist deutschen Stammes Ehre.

Gemeinsame Traditionen und Kultur, die zeitliche Kontinuität sichern, sind nach Aussage des
Gedichts identitätsstiftende Faktoren für die konstruierte Gemeinschaft von Deutschen und
Österreichern. Die nächsten Strophen erweitern die Integrationsleistung auf eine gemeinsame
Geschichte, die durch eine verklärende Erinnerungskultur belebt wird.

Wenn Heimatklänge traut ans Ohr in Gruß und Sang Euch gleiten,
Ihr fühlt´s, wie deutsch dieß Land und Volk, kerndeutsch seit Urweltzeiten,
Deutsch ist sein Blut, deutsch ist sein Herz, und deutsch sein Sinn und Treiben,
Deutsch sind wir noch und wollen deutsch trotz dem und dem auch bleiben!
(GGW 2, S. 83 f.)

Neben den historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten wird der emotionale Charakter der
nationalen Identitätsstiftung hervorgehoben („fühlen“, „Herz“). Die mehrmalige Versicherung
des Deutsch-Seins wird geschichtlich begründet und durch den Verweis auf eine überzeitliche
Kontinuität auf Gegenwart und Zukunft erweitert („Deutsch sind wir noch und wollen deutsch
trotz dem und dem auch bleiben!“). Damit imaginiert der Text trotz der historischen Realität
von Königgrätz ein großdeutsches Reich, das es in der Zukunft zu erreichen gilt. In der letzten
Strophe löst sich der Sprecher aus dem Kollektiv und geriert sich als „Ich“:

„Wir waren Eins, wir bleiben Eins!“ Aus Euren Feuerröhren


Dieß Wort mein´ ich im Donnerspruch als Festchoral zu hören;
180 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

O laßt sein weckend Echo nach von Herz zu Herzen zittern,


Wie im Gebirg von Berg zu Berg ein läuterndes Gewittern. (GGW 2, S. 85)

Indem das artikulierte Ich, das sich von einem „Ihr“ abgrenzt, die Schüsse der Festschützen als
Festlied interpretiert und in den alpinen Raum versetzt, verbindet es das deutschnationale Me-
dium des Liedes mit dem spezifisch österreichischen Identitätsraum der Berge sowie der Schüt-
zen- und Sängertradition.
Sieben Jahre später, die Reichsgründung ist längst politische Realität, entwirft Grün ein kor-
respondierendes Gedicht, das die Festsituation aus der Rückschau betrachtet: Nach dem Schüt-
zenfeste (1875) bezieht sich durch den Festort, die Festsymbolik und -metaphorik sowie das
Motto – beiden ist ein Zitat aus dem Nibelungenlied präponiert – auf sein Vorgängergedicht.
Während sich der Leser im Festgruß zum Schützentag in Wien in der Gegenwart der Festhand-
lung befindet, hat das Fest in Grüns späteren Gedicht bereits geendet, so dass eine zeitliche
Diskrepanz zwischen Vorher und Nachher entsteht. Dementsprechend ist auch der Inhalt kont-
rär zum Vorgängergedicht gestaltet. Statt des geschäftigen, durch visuelle und akustische Reize
illustrierten Treibens, bietet sich in Nach dem Schützenfest ein avitales, trostloses Bild:

Verödet ist der Festplatz längst; kein Fähnlein flaggt im Winde,


Von Ehrenpfort´ und Säule sank die grüne Reisigbinde;
Er gleicht der erst so schmucken Maid am Morgen nach dem Tanze,
Mit welcken Locken, schlaffem Kleid, mit Staub auf Band und Kranze. (GGW 2, S. 86)

Während im Festgruß die Stadt Wien und der Schützenplatz Zentrum der Festhandlung sind,
zu welchem aus allen Himmelsrichtungen die Festteilnehmer strömen, wird in Nach dem Schüt-
zenfeste eine entgegengesetzte, dezentrale Bewegung beschrieben.

Ihr wucht´ger Tritt liegt aufgeprägt zerstampften Rasenfluren;


Wer das Gewirr der Stapfen löst, zu folgen ihren Spuren,
Der sieht im Strahlenkreis sie ziehn in alle deutschen Lande,
Zum Bodensee, zum Alpenjoch, zum Belt, zum Märkersande. (GGW 2, S. 86)

Die Spuren, die von dem Festplatz wegführen und die eine zerstörte Landschaft hinterlassen,
markieren das räumliche Ausmaß der Herkunft der Festteilnehmer, die sich von Süden nach
Norden ausdehnt. Die Darstellung des verlassenen Schützenplatzes gleicht der eines Kriegs-
schauplatzes, so dass das Gedicht – gerade in Hinblick auf sein Vorgängergedicht – auf den
Deutsch-Französischen Krieg verweist. Doch das vergangene Fest zeigt noch seine Wirkung:

Wie hat noch jüngst der Redner Spruch geflammt hier und gezündet,
Der Kugelflug das rechte Ziel, die grade Bahn verkündet!
Wie hat das Männerlied im Kampf des Einklangs Preis erbeutet,
Der Becherklang mit Glockenton den Morgen eingeläutet!
Der Schützenverein bei Keller, Stifter und Grün 181

Und Keiner jüngst von dannen zog, dem nicht ins Herz gesunken,
Was in der Seele haften will, ein Klang, ein Kern, ein Funken;
Er trägt es heim und pflegt noch sein an lieber Heimatstätte,
Im Sennerhaus, im Haidekrug, im Dorf, im Lärm der Städte. (GGW 2, S. 87)

Das Gedicht zeigt, wie im Fest die verschiedenen Formen der politischen Agitation (Rede, Lied,
militärische Präsentation) auf Vergemeinschaftung und Kollektivierung zielen. Das Fest ist dabei
keinesfalls ein singuläres Erlebnis, das nur innerhalb der tatsächlichen Feier Bedeutung hat.
Vielmehr erstreckt sich seine Wirkung zum einen räumlich auf die Realität des Alltags der Fest-
teilnehmer, zum anderen zeitlich auf die Zukunft:

Er senkt das Kernlein in den Grund; es keime, daß sich´s mehre


Und einst mit kräft´gem deutschen Brod ihm Kind und Enkel nähre;
Er facht den Funken an zum Licht; sein heller Strahl vereine
Im stillsten Winterstübchen traut die deutsche Hausgemeine. (GGW 2, S. 87)

Der biblische Charakter der sprachlichen Bilder – der Samen, der sprießt und der Funke, der
leuchtet – bekräftigt das Fest religiös als gemeinschaftsstiftendes Ereignis. Die Metaphorik
macht außerdem die rein geistige, erinnerungsmäßige Bedeutung des Festes physisch greifbar
(und sogar essbar). Seine Verortung in die private Häuslichkeit steht stellvertretend für eine
politisch-öffentliche Integration; stattdessen soll durch eine aktive Erinnerungskultur die deut-
sche Gemeinschaft gefestigt werden.
Die achte Strophe nimmt explizit auf das erste Gedicht Festgruß Bezug, indem sie den Aus-
spruch „Wir waren Eins, wir bleiben Eins!“ aus dessen letzter Strophe wiederholt:

Er gibt dem Klang das rechte Wort, dran Ohr und Herz sich labe,
Auf Liedesschwingen wächst und reift zum deutschen Mann der Knabe;
„Wir waren Eins, wir bleiben Eins!“ Erst singt es Einer leise,
Von Mund zu Mund dann schwillt und braust durchs Volk die stolze Weise. (GGW 2, S. 87)

Die Wiederaufnahme des Zitats soll erneut seine über das Fest hinausreichende Wirkkraft in
den Alltag hinein belegen. Wieder wird das Lied als zentrales Medium des Schützenfestes ge-
nannt. In Nach dem Schützenfest prophezeit der Sprecher in revolutionär akzentuierter Natur-
metaphorik die Vereinigung Deutschlands und Österreichs – „Einst kommt der Tag“, so heißt
es, da „die zerstreuten Funken all´ in Eine Flamme fließen“ (GGW 2, S. 87) – und schließt mit
einer Sakralisierung, die weit über den eigentlichen Festanlass hinausgeht:

So kommt der deutsche Christtag einst, die große Weihestunde,


Da klingt ein heilig Weihnachtlied aus aller Deutschen Munde:
Heil diesem Tag, da alles Korn in Garben aufgeschossen
Und alle Funken in ein Licht, in eine Glorie flossen! (GGW 2, S. 88)
182 Vereinskultur nach 1850 als kleinste nationale Einheit

Die Parallelisierung von der Geburt Christi und der Geburt der deutschen Nation findet im Me-
dium Lied seinen Ausdruck und wird als Prophezeiung für die Zukunft angekündigt. Die Wieder-
holung der biblischen Kornmetaphorik verweist auf die nationale Bedeutung des Schützenfes-
tes als Ausgangspunkt für die Zusammenführung der Deutschen und Österreicher zu einem
Kollektiv, das zum Zeitpunkt der Entstehung des Gedichts 1875 kaum mehr zu realisieren war.
In beiden Gedichten thematisiert Grün das Schützenfest als integrativ wirkendes, kollektives
Ereignis, das auch die Alltagswelt erfasst. Indem das Fest sakral und rituell konnotiert ist und
sich auf bekannte deutsche Traditionen und Bräuche bezieht, bringt es Deutsche und Österrei-
cher immerhin für kurze Zeit zusammen, so dass dadurch selbst wieder eine historische Konti-
nuität entsteht.

Die Darstellung der Vereine in den Texten zeigte, wie selbstverständlich diese die Realität der
Handelnden durchdringen, sich dabei aber gleichzeitig durch ihre Versammlungen und Feste
vom Alltag abheben. In den Erzähltexten dient das Engagement der Figuren in den Vereinen
ihrer Bewährung als Teil des Kollektivs: als Ehemann und Familienvater, als politischer Agitator,
als Vorbild der Gesellschaft. In den Gedichten Kellers und Grüns werden die Vereinsfeste als
Teil von „etwas Selbsterlebte[n]“ (Keller, KB 4, S. 353) entfaltet.
8. Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Das Fest ist ein unabdingbarer Teil kollektiven Zusammenlebens, eine „anthropologische
Grundgegebenheit“.380 Schon Ludwig Jahn konstatierte: „Festlichkeiten, Feierlichkeiten und
Gebräuche sind als unzertrennliche Gefährten des gesellschaftlichen Seins auf der Erde ver-
breitet, so weit Menschen verkehren.“381 Das Fest, das im Gegensatz zum Alltag definiert ist
und zur Erhöhung und Erholung382 dient, stärkt die Eingebundenheit des Einzelnen in die Ge-
meinschaft und bestätigt damit die Identität des Individuums sowie die der Gruppe. Als kultu-
relle Inszenierungsform übernimmt es im 19. Jahrhundert für den Prozess der Nationsbildung
signifikante Funktionen: Es beglaubigt und konsolidiert die Identität des nationalen Kollektiv, es
erinnert an Vergangenes in idealisierter Darstellung und verweist durch Bezugnahme zur Ge-
genwart auf Zukünftiges.383 Indem das Fest den Einzelnen am zeremoniellen Prozess der Ver-
gemeinschaftung unmittelbar partizipieren lässt – denn jeder Bürger ist dazu aufgerufen, an
dessen Organisation und Gestaltung mitzuwirken – verbindet es Privatheit und Öffentlichkeit,
Individuum und Gesellschaft. Damit entwickelt sich das Feiern, wie Michael Maurer feststellt,
zum „Mechanismus der Inklusion und Exklusion“.384
Im 19. Jahrhundert bildete sich eine ganze Festkultur aus, deren gemeinsames Ziel sich in
der Artikulation und Demonstration nationalpolitischen Willens äußerte. Waren im Vormärz
diese Feiern385 noch eindeutig von politischer Natur (Deutsches Nationalfest 1814 zum Jahres-
tag der Völkerschlacht, Wartburgfest 1817, Hambacher Fest 1832), änderte sich nach der Re-
volution von 1848/49 der thematische Rahmen: Nunmehr dominierten öffentliche Feste mit
kulturellem (Kölner Dombaufeste, Gutenbergfeste, Freiligrath-Feiern) bzw. religiös-protestan-
tischem Anlass (Reformations- und Lutherfeiern). Das vordergründige Motiv der Feiern schien

380
Lars Deile: Feste – eine Definition. In: Maurer, Michael (Hrsg.): Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Syste-
matik. S. 1-17. Hier S. 4. Vgl. auch Aleida Assmanns Artikel „Fest“ im RLL S. 579 f.
381
Ludwig Jahn: Das deutsche Volksthum. Lübeck 1810. Bd. 3, S. 318. Vgl. dazu auch due Dissertation von Klaus
Zieschang: Vom Schützenfest zum Turnfest: Die Entstehung des Deutschen Turnfestes unter besonderer Berück-
sichtigung der Einflüsse von F. L. Jahn. Würzburg 1973.
382
Deile spricht auch von einer therapeutischen Funktion des Festes. Deile, S. 7.
383
Vgl. dazu Georg Mosse: Die Nationalisierung der Massen: politische Symbolik und Massenbewegungen von den
Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich. Frankfurt (Main) 1993. S. 91 ff.
384
Michael Maurer: Einleitung. Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. In: Ders.
(Hrsg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Köln 2001. S. 9-12. Hier S. 9.
385
Im Gegensatz zu Deile unterscheide ich nicht zwischen Fest und Feier, weil ich davon ausgehe, dass im Sprach-
gebrauch des 19. Jahrhundert beide Begriffe synonym gebraucht wurden. Die Lexika der Zeit – Pierers Univer-
sal-Lexicon von 1857 oder Meyers Konversations-Lexikon 1857 erfassen erst gar nicht den Begriff „Feier“, son-
dern nur „Fest“. Vgl. Deile S. 13 ff.

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J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_8
184 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

zunächst durch die Huldigung einer großen, für Kultur und Religion bedeutsamen Persönlich-
keit unpolitisch zu sein.386 Indem sie jedoch meist den äußeren Vorwand387 zur nationalen und
politischen Mobilisierung nutzten, erwiesen sich die Inszenierungen der Feste und die textsor-
tenspezifische Bearbeitungen des Themas in der Literatur (Festrede, Festspiel, Festgedicht u. s.
w.) als dominierende Medien der nationalen Identitätssuche.
Das kulturelle Fest der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll Gegenstand nachfolgender
Betrachtung sein. Der Aufbau der Feste ähnelten einander stark: Bestandteil der Zeremonien
waren immer der Festumzug und die Festrede, meist auch das kollektive Singen sujetspezifi-
scher oder patriotischer Lieder. Nach 1870 etablierte sich dann das Festspiel als dramatische
Textsorte, das für den festlichen Anlass verfasst wurde und das die gemeinschaftliche Mitge-
staltung am Fest weiter förderte. Denn oft erforderte die Aufführung eine große Anzahl an
Komparsen und Laienschauspielern, deren massenhaftes Mitwirken eine Annäherung von
Bühne und Publikumsbereich induzierte. Denkmalserrichtungen und -einweihungen wurden
ebenfalls als Huldigungsfeste zelebriert, die der Erfahrung von Kontinuität dienten. In Deutsch-
land und Österreich waren die im 19. Jahrhundert zelebrierten Feste ähnlich wie das Vereins-
wesen Ausdruck der nationalen Identitätssuche. In der Schweiz bewirkte eine stark ausgeprägte
und seit dem Mittelalter bestehende Festtradition die Konsolidierung der politischen Ordnung
und der Steigerung des nationalen Selbstbewusstseins. Eine (monarchische) Führungsgestalt
entbehrend war in der Schweiz der Volksheld Tell Subjekt eines kollektiven Verehrungskultes,
der durch seinen partizipatorischen Charakter – begründet durch seine Rechtschaffenheit,
seine Volksnähe, seinen Freiheitswillen – auf ideale Weise die republikanisch-demokratische
Verfasstheit der Schweiz demonstrierte.
Das europaübergreifende, das Jahrhundert dominierende Fest war der hundertste Geburts-
tag Friedrich Schillers, das den Auftakt der heranbrechenden bürgerlichen Festkultur bildete.
Das Schillerfest von 1859 war das in seiner Beteiligung größte und massenwirksamste Fest in
Deutschland. Das große Jubiläum, an dem Besitz- und Bildungsbürgertum sowie Arbeiterschaft
gleichermaßen teilnahmen,388 waren die „gewaltigsten politischen Demonstrationen, die in
Deutschland jemals geduldet wurden“.389 Mindestens 440 deutsche und 50 ausländische
Städte feierten den Dichter der Freiheit durch Festessen, Theatervorstellungen, Rezitationen,

386
Vgl. dazu Matthias Schwengelbeck: Die Politik des Zeremoniells: Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert.
Frankfurt (Main) 2007. Sowie Jan Andres: „Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet“: Huldigungsritu-
ale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert. Frankfurt (Main)/ New York 2005.
387
Rainer Noltenius spricht gar von „Tarnung“. Noltenius 1991, S. 60 und 71.
388
Ute Gerhard betont die primäre Funktion der Schillerfeiern 1859, nämlich die „Integration der verschiedenen
stratifikatorisch differenzierten sozialen Schichten und Klassenfraktionen“ zu bewerkstelligen (Gerhard, S. 238).
Vgl. zur sozialen Zusammensetzung der Schillerfeiern Rainer Noltenius: Dichterfeiern in Deutschland. Rezepti-
onsgeschichte als Sozialgeschichte am Beispiel der Schiller- und Freiligrath-Feiern. München 1984. S. 78 f.
389
Oellers, Norbert: Schiller – Zeitgenossen aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutsch-
land. Frankfurt (Main) 1970. Bd. 1, S. 51. Vgl. zu den in- und ausländischen Schillerfeiern Thorsten Logge: Zur
medialen Konstruktion des Nationalen: Die Schillerfeiern 1859 in Europa und Nordamerika. Göttingen 2014.
Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859 185

Festreden, Einweihungen oder Bekränzungen von Schillerbüsten und -denkmälern sowie Fest-
umzügen. Allein in Berlin versammelten sich zur feierlichen Grundsteinlegung für das geplante
Schillerdenkmal auf dem Gendarmenmarkt ungefähr 50.000 Menschen.
Schon in den 1820er und 1830er Jahren hatten die Schillerfeiern einen politisch-nationalen
Charakter erhalten, der mit der Revolution 1848/49 konkretisiert wurde.390 Das Schillerjubi-
läum wurde dann nach zehnjähriger Reaktionszeit zu einem der ersten Artikulationsforen des
liberalen Bürgertums und trug erheblich zur nationalen Identitätsstiftung der Deutschen bei.
Die Zeitungsartikel, Festreden und -gedichte vom 6. bis 11. November 1859 zeigen zweierlei:
Erstens hatte die Jubiläumsliteratur inhaltlich einen eindeutigen politischen wie nationalen Be-
zug, indem sie die Hoffnungen auf die Freiheit und Einheit Deutschlands kommunizierte. Zum
Zweiten wurde dieser Bezug teils durch die Interpretation Schillers Werke, teils durch Schiller
als Individuum begründet. Dabei dienten Werk wie Person zur Legitimierung nationalpolitischer
Intentionen und wurden dementsprechend interpretiert. Damit wurden Schillers Schriften als
„kulturelle Texte“ (Assmann, S. 238) zu einer „fortgesetzten Quelle der Selbstdeutung und Le-
bensorientierung“ (Drucker, S. 173). Gerade der Rekurs auf den Gründungsmythos der Schwei-
zer Eidgenossenschaft durch Wilhelm Tell konnte als Vorbild für die Konstruktion eines deut-
schen Gründungsmythos, den Schillerfeiern, dienen.
Das Schillerfest war die Gelegenheit, den nationalen Wünschen und Phantasien in einer Syn-
these von Erinnerung und Verheißung Ausdruck zu verleihen. Mit der Forderung nach national-
staatlicher Einigung in der Gegenwart, der Hoffnung ihrer Realisierung in der Zukunft und ihre
Legitimierung durch den Rückgriff auf die Vergangenheit wurden drei Zeitebenen miteinander
verwoben. Schiller diente dabei, weil er bereits 50 Jahre tot war, als unbelastete Projektionsfi-
gur für die nationalen Wünsche der Teilnehmer, so dass er nicht nur mehr als Freiheitsdichter,
sondern auch als Dichter der Einheit rezipiert wurde.391 Inszenierung und Symbolisierung, zent-
rale Eigenschaften des öffentlichen Festwesens, kulminieren in den Texten zur Schillerfeier in

390
Die erste Schillerfeier fand am 09. Mai 1825 statt, dem 20. Todestag Schillers. Julius Schott sprach auf seiner
Festrede von der Unmöglichkeit, „Schillers Andenken zu feiern, ohne daß wir uns seine politische Gesinnung
zurückrufen.“ Siehe auch Julius Campes Schillers politisches Vermächtnis. Ein Seitenstück zu Börnes Briefe aus
Paris (1932). Oellers setzt den Beginn einer politischen Motivierung der Schillerverehrung „gegen Ende der 20er
Jahre“ an (Oellers, Norbert: Friedrich Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu seinem Tod 1805-1832. Bonn
1967. S. 295 ff.). Nach Noltenius ist der Charakter der Veranstaltung in den 20er Jahren noch nicht politisch,
sondern ganz durch den „spätromantisch-religiösen Geniekult des Bildungsbürgertums geprägt“ (Noltenius
1984, S. 71). 1840 hatte Robert Blum, der spätere Führer der radikalen Demokraten 1848/49, den Leipziger
Schillerverein gegründet und ihn ganz bewusst politisiert. Vgl. dazu Noltenius 1984, S. 73 f. Die Schillerfeiern
spielten nach Hans Mayer „bei der Vorbereitung der Erhebung von 1848 eine ähnliche Rolle wie die Studenten-
organisationen und Turnerschaften zwischen 1815 und 1820 im Kampf gegen Restauration und Heilige Allianz“
(Mayer, S. 170 f.).
391
Der zugleich religiös konnotierte und national ausgerichtete Charakter der Schillerfeiern ist beispielsweise in
der Radierung Erinnerung an die Schillerfeier 1859 des Historienmalers Carl Jäger zu sehen, in deren Mittelpunkt
Schiller, als Messias dargestellt, und die allegorisierte Germania stehen (vgl. Drucker S. 167 f.).
186 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

der Stilisierung Schillers zu einer weltlichen und mythischen Führungs- und Identifizierungsfigur
der neu zu begründenden Nation.
Das Ziel der nationalen Einigung gewann in dem Maße an Zustimmung in der Bevölkerung,
wie die Festveranstalter das nationalpolitische Programm in den kulturellen Anlass einzubinden
und damit zu aktualisieren wussten. Die Popularisierung des Festes ging mit seiner Kommerzi-
alisierung einher: angeboten wurde der Kauf von Schillerseifen, Schillerzigarren und Schillerge-
bäck. Für die Erreichung der Masse wurde in den präsentierten Texten neben einer starken
Selektierung von Schillers Werk (beliebt waren Verweise auf die Glocke und den Tell) auch die
kommunikativen Akte des schillerschen Zentenariums in mehrfacher Hinsicht religiös, politisch
und historisch codiert. Die während der Schillerfeiern verwendete Begrifflichkeit knüpfte an die
kommunikationsästhetische Tradition der öffentlichen Feste an, die seit der Französischen Re-
volution als Forum des Bürgertums für politische Handlungen dienten. Die spezifische Festkom-
munikation zeichnete sich durch eben jene Codierung aus, die auf christliche und feudale Be-
griffe, Symbole und Akte verwies und damit die Möglichkeit einer kollektiven Identifizierung
bot. Ein ähnlicher Effekt der Wiedererkennung wurde mit der Rezeption von altbekannten
Schillerzitaten erreicht, die bereits eine Tradition seit den Befreiungskriegen 1813 hatten. Die
Stilisierung Schillers verband bürgerliche Ideale mit religiösem Ritualismus, denn die Geniever-
ehrung ersetzte im säkularisierten Zeitalter quasi die frühere Heiligenverehrung.
Die religiöse Aufladung des Festes wurde mit antiken Traditionen wie der Schmückung der
Dichterbüsten und -statuen mit dem Lorbeerkranz verwoben, die der Künstlerverehrung an
den europäischen Höfen in der Renaissance entsprach. Während der Schillerfeiern im 19. Jahr-
hundert übernahm nun nicht mehr der Fürst, sondern das Volk selbst die symbolträchtige Krö-
nung von Schillers Büste. „Im klassizistischen Rahmen repräsentierte sich das Selbstbewusst-
sein des Bürgertums, legitimer Vertreter der Nation zu sein.“392

Wilhelm Raabes Tagebuchaufzeichnungen dokumentieren skizzenhaft den Ablauf des Schiller-


festes in Wolfenbüttel:393

392
Lucie Prinz: Schillerbilder. Die Schillerverehrung am Beispiel der Festreden des Stuttgarter Liederkranzes. Mar-
burg 1994. S. 29.
393
Raabe beteiligte sich „auf Anregung seines Bekannten Reinhard Otto“ (Fuld, Werner: Wilhelm Raabe. Eine Bio-
graphie. München 1993. S. 143) an den Vorbereitungen der Schillerfeier, indem er „Declarationen“ über das
Ereignis verfasste (Siehe Denkler, Horst: Wilhelm Raabe. Legende – Leben – Literatur. Tübingen 1989. S. 135).
Die Schillerstiftung, von der Raabe ab 1886 regelmäßig als Stipendiat eine jährliche Zahlung von 1000 Taler
erhalten hatte, ehrte den Autor 1909: „Am 150. Geburtstage Schillers wurde Wilhelm Raabe von der Stiftung
zum Ehrenmitglied ernannt. Diese Ernennung musste den Dichter um so mehr freuen, als er sich 1859 mit
großem Einsatz um eine würdige Ehrung Schillers bemüht hatte. Es sei erinnert an seine beiden Gedichte ‚Zum
Schillerfest‘ und an seinen späteren Roman ‚Der Dräumling‘, der aus der Sicht von 1871 die Schillerfeiern des
Jahres 1859 gestaltet“ (Abgedruckt bei Richter 1963, S. 19). Das Dank- und Antwortschreiben Raabes vom No-
vember 1909 nimmt auf sein damaliges Engagement Bezug: „Das Zeugniß, daß ich vor fünfzig Jahren schon,
werkthätig, mit Herz und mit Hand mich mitbestrebt habe, dem theuren Sänger des deutschen Volkes zu sei-
nem Recht zu verhelfen, darf ich mir ausstellen“ (ebd. S. 21).
Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859 187

Feiersonnenschein. Bei Steinweg. Aufstellung der Büste auf dem Markt. Beim Probst Apfel.
Um 2 Uhr auf dem Holzmarkt. Bei Steinweg. Der Zug. Der Stadtmarkt. Cantate von F. Mül-
ler. Steinwegs Rede. Ein feste Burg ist unser Gott. Der Gesangsverein. Zug zurück nach dem
Holzmarkt. Dr. Ehrenbergs schwarzrotgoldne Fahne. Gewehr im Arm! Gesang und Musik.
– Zu Haus. – Um 6½ nach dem Löwen. Ouvertüre. Prolog von R. Otto. Die Damen. Höppner.
Mein Gedicht. Was ist des Deutschen Vaterland? – Die Tafel. Der Tanz. Die Thalia. Im Hand-
werkerverein bei Bierendempel. Um 12 Uhr zuhause. (In: Henrich 1998, S. 104 f.)

Wie in vielen anderen Städten wurde ein öffentlichkeitswirksamer Festumzug in Wolfenbüttel


unter Führung der gesamten Honoratioren der Stadt veranstaltet. Mit einer Rede des hiesigen
Veranstalters, des Klavierfabrikanten und Kleiderseller-Mitglieds Theodor Steinwegs, wurde die
auf dem Markt aufgestellte Schillerbüste eingeweiht. Das Singen des Liedes Ein feste Burg ist
unser Gott deutet auf den protestantisch-religiösen Charakter der Schillerfeiern hin und ver-
weist auf eine für das 19. Jahrhundert typische Rezeption Luthers als „Nationalheld“ (Holsing,
S. 7), die für einen bürgerlich-liberalen Wertekanon stand. Arndts Lied Des Deutschen Vaterland
und das Schwingen der schwarz-rot-goldenen Fahne394 markieren die nationalpatriotische Im-
plikation der Feier, wobei das „Gewehr im Arm“ einen militärischen Aufmarsch imitiert.395 Die
intertextuellen Verweise bedienen in ihrer Zeichenhaftigkeit eine Tradition, die sich von den
Befreiungskriegen über die burschenschaftliche Oppositionsbewegung bis zur Revolution
1848/49 zieht.396 Der Festtag, und auch hier ist die Wolfenbütteler Schillerfeier keine Aus-
nahme, endete mit einem Festbankett am Abend, auf dem neben Raabes Schillergedicht noch
zwei weitere Beiträge, von Reinhard Otto und August Höppner, vorgetragen wurden.397 Die
Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer berichtete:

Ein kurzer, aber einer jugendlich-kräftigen Dichterseele entströmender Vortrag Wilhelm


Raabe´s (bekannt unter dem Dichternamen Jacob Corvinus) versetzte die Versammlung in

394
Die Schwarz-rot-goldene Fahne galt als Symbol für eine bürgerlich-konstitutionellen Monarchie. Vgl. dazu die
Ausführungen von Noltenius: Schiller als Führer und Heiland: Das Schillerfest 1859 als nationaler Traum von der
Geburt des zweiten deutschen Kaiserreichs. Hamburg 1988. S. 248.
395
BA 10, S. 456. Auch Rainer Noltenius interpretiert die Bedeutung des Gewehres als Demonstration von Gewalt-
bereitschaft gegen äußere Feinde (Noltenius 1991, S. 65).
396
Siehe Noltenius 1991, S. 66. Das Lied Luthers Ein feste Burg ist unser Gott hatte seit dem Wartburgfest von 1817
eine „säkularisiert-religiöse Bedeutung als spezifisch deutsches Kampflied auf dem Wege zur nationalen Einheit
erhalten“ (Noltenius 1991, S. 65). Dies betrifft auch das Lied Ernst Moritz Arndts Des Deutschen Vaterland, das
Arndt 1813 unter dem Eindruck der Befreiungskriege gedichtet hatte. Durch die von Johannes Cotta 1815 und
von Gustav Reichhardt 1825 komponierten Melodien gewann es große Popularität und wurde zur inoffiziellen
Hymne der deutschen Nationalbewegung.
397
Prolog Worte der Weihe, verfasst vom Chefredakteur der in Braunschweig erscheinenden Deutschen Reichszei-
tung Reinhard Otto (Abgedruckt in Anneliese Klingenberg: Wilhelm Raabe: Der Dräumling. Mit Dokumenten zur
Schillerfeier. Berlin/Weimar 1984S. 186 ff.).
188 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

eine patriotisch-begeisterte Stimmung, welche sich schließlich durch allgemeines Anstim-


men des Arndt´schen Liedes: Was ist des Deutschen Vaterland? am schönsten kund gab.398

Schenkt man dem Artikel Glauben, entsprach Raabes Gedicht den Erwartungen des Wolfenbüt-
teler Festpublikums in dem Maße, dass das erzeugte Gemeinschaftsgefühl zur gemeinsamen
Reminiszenz an die oben angesprochene Traditionslinie der Befreiungskriege genutzt wurde.
Daneben verweist der Artikel auf die agitatorische Bedeutung der lyrischen Gattung, deren
Prägnanz und inhaltliche Dichte besonders gut dazu geeignet waren, integrativ zu wirken.
Das Wolfenbütteler Schillerfest war wie in anderen Städten trotz der artikulierten Einbezie-
hung aller Stände dem Bildungs- und Besitzbürgertum vorbehalten.399 Dass Raabe am selben
Abend die separat stattfindenden Feierlichkeiten der Handwerker besuchte, zeigt die soziale
Offenheit des Festes.400 Die staatliche und kirchliche Obrigkeit polemisierte gegen das Schiller-
fest und versuchte es durch Verbote vornehmlich der öffentlichen und massenwirksamen Fest-
umzüge (beispielsweise in Berlin) zu verhindern. Polizei- und Geheimdienstberichte hatten die
Befürchtung einer Politisierung der Schillerfeiern und damit der Gefahr eines erneuten politi-
schen wie gesellschaftlichen Umsturzversuches verstärkt. Neben staatlichen Reglementierun-
gen versuchten die Gegner des Schillerfestes erfolglos durch öffentliche Diskreditierung einer
größeren Mobilisierung der Bevölkerung entgegenzuwirken.401

Der Ablauf der in der Schweiz stattfindenden Schillerfeiern unterschied sich kaum von denen
im deutschen Nachbarland: Festreden, Deklamationen, Auftritt des örtlichen Gesangsvereins,
manchmal auch eine Aufführung eines Dramas aus Schillers Werk (vorzugsweise des Tells) oder

398
Zeitung für Städte, Flecken und Dörfer, besonders für den Deutschen Landmann 33 (15.11.1859). S. 2. Abge-
druckt in: Noltenius 1991, S. 64.
399
Ob die Schillerfeiern tatsächlich für alle Schichten offen waren, unterschied sich regional: Während in Berlin
eine öffentliche Beteiligung der 16 Berliner Innungen vom großbürgerlichen Zentralkomitee abgelehnt wurde,
weil man eine Entfesselung der Volksmassen befürchtete, war ihre Teilnahme in Wolfenbüttel erlaubt. Die Zei-
tung für Städte, Flecken und Dörfer berichtet davon: „An dem Festzuge betheiligten sich nicht nur ein Theil der
hiesigen Geistlichkeit, der Landes- und städtischen Behörden, sondern auch, außer der Schützengesellschaft
und den Gesangvereinen, sämtliche Innungen und Corporationen“ (Abgedruckt in: Noltenius 1991, S. 64). Die
Abendveranstaltung fand hingegen auch in Wolfenbüttel getrennt voneinander statt.
400
Die unteren Volksschichten, die „Masse“, schloss Raabe aber aus, ihnen stand er distanziert gegenüber. Bis ins
späte 18. Jahrhundert meinte der Begriff „Volk“ die Unterschichten (siehe dazu Borggräfe, Henning/Jansen,
Christian: Nation – Nationalität – Nationalismus. Frankfurt (Main) 2007. S. 38 f.). Zu Raabe und seinem Verhält-
nis zum Volk siehe den Aufsatz von Arendt: Wilhelm Raabe und der „romantische Schlachtruf: Krieg den Philis-
tern!“ In: JRG 22 (1981). S. 55-83.
401
Die Kreuzzeitung, als das Presseorgan der Konservativen, argumentierte mit drei Momenten: indem sie die
Schillerfeiern als „Volksfest“ und „Straßenfeier“ titulierte, setzte sie es zu einer Veranstaltung des „Pöbels“
herab. Auch versuchte sie den Veranstaltern durch Widerlegung einer liberal-oppositionellen Position Schillers,
eine politisch begründete Argumentation zu nehmen und durch Hervorhebung dier Teilnahme von Juden das
religiös-protestantische Moment der Feiern zu untergraben. Vgl. die Kreuzzeitung von 1859. In: Oellers 1970,
S. 468.
Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859 189

eine Darstellung von lebenden Bildern, sog. Tableaus,402 waren Teil der meisten Schweizer Fest-
lichkeiten. Während in Deutschland das Schillerfest der Initiierung nationaler Identität diente,
wurde in der Schweiz der 1848 gegründete Bundesstaat durch den Rückgriff auf den eigenen
Nationalmythos bestätigt und konsolidiert. Daher wurde, wie bei der Einweihung des Schiller-
gedenksteins am Vierwaldstättersee 1859, Schillers Bedeutung als Telldichter, als Erzähler des
wichtigsten Schweizer Gründungsmythos betont. Gottfried Keller berichtete von dem Enthül-
lungsfest „an der Wiege Tells“: „[Es] bildeten den Inhalt lediglich die Freude über Schillers Divi-
nation [d. i. der Tell, J. F.], welche der Brüderschaft, Freiheitsliebe und das Gottvertrauen der
drei Länder [Uri, Unterwalden und Schwyz, J. F.] so treu gezeichnet habe.“403
Auch in Bern wurde das Schillerjubiläum als Gründungsakt der Schweiz interpretiert, wes-
halb man den Tag als kombinierte Schiller- und Rütlifeier zelebrierte. Über ihren Ablauf berich-
tet das zu diesem Anlass herausgegebene Festalbum:

Vereine waren vertreten in Einzelmitgliedern, wenn sie auch nicht in dieser Eigenschaft
gekommen waren: die gemeinnützige Gesellschaft,404 der Piusverein,405 Grütliverein,406
schweizerische Studentenverein, der Sängerverein Schwyz, Sängerverein Altdorf etc. Das
Rütlilied, das Nationallied „rufst du mein Vaterland“, und überdies ein Taschenbüchlein mit
Kernstellen aus Schillers Wilhelm Tell hatte die Buchdruckerei A. Eberle in Schwyz […] in
Menge unter alle Festtheilnehmer, nunmehr etwa dreihundert auf heiliger Stätte versam-
melt, gratis vertheilen lassen. […] Nach der im obigen Sinne gehaltenen, mit lebhaften Bei-
fall aufgenommenen Rede, die mit einem Hoch auf Freiheit und Vaterland schloß, Verle-
sung der Szene des Rütlischwurs aus Schillers Tell durch Herrn Staatsanwalt Krieg mit
lauter, klangvoller Stimme; dann das schweizerische Nationallied: „Ruffst Du mein Vater-
land.“407

402
Die Tableaus waren im Schauspiel wirkungsvoll gruppierte Bilder, die als „monumentale Posen“ inszeniert wur-
den. Vgl. Peter Sprengel: Die inszenierte Nation. Deutsche Festspiele 1813-1913. Tübingen 1991. S. 17. Und
Norbert Miller: Mutmaßungen über lebende Bilder. Attitüde und „tableau vivant“ als Anschauungsform des 19.
Jahrhunderts. In: Bernauer, Markus/Horstmann, Gesa (Hrsg.): Von Nachtstücken und anderen erzählten Bildern.
München 2001. S. 201-220.
403
Keller in seinem (ersten) Aufsatz Das Schillerfest auf dem Mythenstein, veröffentlicht am 29. 10. 1860 in der
Allgemeinen Zeitung Nr. 303. Abgedruckt in: HKKA 15, S. 158-160. Vgl. dazu auch Guido Hunziker Die Schweiz
und das Nationalitätenprinzip im 19. Jahrhundert. Der zweite, wesentlich längere Aufsatz, betitelt Am Mythen-
stein wurde am 2. und 9. April 1861 im Morgenblatt für gebildete Leser (Nr. 14/15) publiziert. In: HKKA 15, S.
177-203. Er wird im Folgenden als Mythensteinaufsatz betitelt.
404
Die „Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft“ (SGG), 1810 als Verein mit aufklärerischen und liberalen Zie-
len gegründet, war im 19. Jahrhundert bedeutend für die Entwicklung der Erziehungs- und Besserungsanstalten
in der Schweiz. 1859 kaufte sie die Rütliwiese und schenkte sie der Eidgenossenschaft.
405
Der Piusverein war erst zwei Jahre zuvor gegründet worden, zur Organisation zur „Bewahrung des Glaubens,
für christl. Liebeswerke und die Pflege kath. Wissenschaft und Kultur“ (HLS 9, S. 756). In seinem Zusammenhang
entstand 1859, passend zum Schillerjahr, als Spezialorganisation der „Bücherverein“.
406
1838 in Genf als Diskussionsverein gegründet, entwickelte sich der patriotische Grütliverein zu einem der be-
deutetsten Handwerks- und Arbeitervereine in der Schweiz.
407
Schweizerische Rütli- und Schillerfeier am 10. November 1859: Fest-Album und patriotisches Neujahrsblatt.
Aarau 1860. S. 16.
190 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Die Bedeutung der unterschiedlichen Vereine bei der Gestaltung der Feier zeigt die soziale
Diversität der Teilnehmer, deren Gemeinsamkeit die nationalpatriotische Handlung war: die
Erinnerung an die Gründung der Eidgenossenschaft, das erneute kollektive Sich-Versichern des
nationalen Bundes durch das Verlesen des Rütlischwurs und dem Singen der damaligen Natio-
nalhymne. Indem allen Festteilnehmern sowohl das Schillerdrama als auch das von Johann Ru-
dolf Wyss verfasste Lied in Textform zur Verfügung gestellt wurde, war nicht nur die unmittel-
bare Rezeption gesichert, sondern auch ihre Fortsetzung außerhalb des eigentlichen Festes.
Der religiösen Aufladung des öffentlich zugänglichen Naturraums („heilige Stätte“) entspricht
der sakral-ritualisierten Handlung (Predigt, Choral), wobei das gemeinsame Singen ein ur-reli-
giöses Instrument der Vergemeinschaftung darstellt. Die Schlussworte der erwähnten Rede be-
dienen beliebte Schlagwörter der Zeit („Freiheit und Vaterland“), die auf nationale Identifika-
tion zielen.
Die eidgenössische Schillerfeier war nicht die erste ihrer Art: Bereits seit den 40er Jahren
gab es in der Schweiz eine ausgeprägte national ausgerichtete Festkultur. Als sich 1848 die Eid-
genossenschaft vom Staatenbund zum modernen Bundesstaat einte, dienten Schützen- und
Sängerfeste, nationale Feiertage und historische Festspiele der Selbstvergewisserung der eige-
nen nationalen Identität.408 Diese nationale Inszenierung der Schweiz erfolgte aufgrund der
fehlenden gemeinsamen Schrift- oder Nationalsprache verstärkt über „mündliche, erlebnis-
hafte Vergegenwärtigung“ (Pabis, S. 41) der eigenen Nationalgeschichte. Das Schillerfest kam
in dieser Reihe nationalidentifikatorischer Festivitäten eine besondere Bedeutung zu, weil es
denjenigen Dichter huldigte, der den Schweizern die poetische Form ihres Nationalmythos ge-
geben hatte.

Während die Schweiz mit dem Schillerjubiläum die Literarisierung ihres Nationalmythos feierte,
waren die österreichischen Schillerfeiern als frühe Manifestationen eines neuen Deutschnatio-
nalismus politisch-oppositionell konnotiert. Wie in Deutschland waren sie auch im Habsburger-
reich die erste politische Artikulation nach der Reaktionsära, die in Österreich unter der Regie-
rung Bach eine äußerst rückwärtsgewandte, neoabsolutistische Prägung hatte. Vordergründig
war das österreichische Schillerfest traditionell-monarchistisch ausgerichtet – der Kaiser unter-
stützte selbst aktiv das Unternehmen409 – in seiner Zusammensetzung und seiner politischen
Ausrichtung war es dagegen ein erstaunlich fortschrittliches Ereignis, zumal in Wien ein stu-
dentischer Festumzug geduldet wurde.410 Die liberale Öffnung hatte sich bereits im Juni durch

408
Auch Keller verfolgte diese öffentlichen Feste mit Interesse: „Ich habe mit Vergnügen von dem Basler Fest ge-
lesen; nur finde ich, daß diese Gesangs- und Musikfeste der Schweiz nachgerade zur Bloßen Folie werden für
die Witze des Herrn Schnyder von Wartensee, wenigstens für die Presse“ (Juli 1852). An Wilhelm Baumgartner
(KB 1, S. 306).
409
Kaiser Franz Joseph übernahm das Protektorat der Veranstaltung in Wien – wie auch der Schillerstiftung – und
wurde daher auf den Schillerfeier in Österreich bejubelt.
410
Vgl. dazu die Ausführungen von Thorsten Logge, S. 84-112.
Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859 191

Österreichs Niederlage im Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieg (Schlacht von Solferino


am 29. Juni 1859) und dem nachfolgenden Rücktritt der Regierung angekündigt. Während in
Deutschland mit den Schillerfeiern die Vereinigung des deutschen Sprachraums zu einer politi-
schen Nation imaginiert wurde, begegnete man in Österreich der sich abzeichnenden Distan-
zierung von Deutschland, indem man den Charakter der Schillerfeiern großdeutsch akzentu-
ierte. Als Ausdruck der deutschsprachigen Kulturnation sollten sie zudem die Position des
deutschsprachigen Bürgertums in der Habsburgermonarchie stärken.411 Gerade in Wien galt es
den Führungsanspruch des deutschsprachigen Bürgertums zu verkünden, weshalb man in den
Festbeiträgen und Berichterstattungen auf das deutsche Mutterland und den deutschen Kul-
turraum Bezug nahm. Von der integrativen Bedeutung des Schillerfestes für die Deutschöster-
reicher zeugt auch der Leitartikel vom 10. November in der Wiener Zeitung Die Presse:

In dieser Woche des Festes und der Freude, überall in ganz Deutschland, unter allen Him-
melstrichen, wo der wanderlustige Deutsche lebt, auf beiden Hemisphären wird diese er-
habene Feier begangen. Politisch getrennt, in Parteien zersplittert, von den Leidenschaften
des Tages erfüllt, sich gegenseitig zerfleischend, sind alle Deutschen einig im Geiste Schil-
lers […]. Für uns Oesterreicher sollte die Feier zu Ehren Schillers eine ganz eigene Bedeu-
tung haben. Sie fiel nicht blos mit einem ersten freieren Aufathmen unseres öffentlichen
Lebens zusammen, sondern sie bot uns zugleich die Gelegenheit zu zeigen, daß wir uns als
ein starkes, von Deutschland unabtrennbares Glied betrachten, und daß wir uns trotz alle-
dem und alledem ein warmes Herz erhalten haben, fähig der Begeisterung für ideale Zwe-
cke.412

Nach der Berichterstattung der Presse zu urteilen, besaß die Schillerfeier nicht nur die Bedeu-
tung eines politisches Forums, sondern wurde auch genutzt, um die großdeutschen Hoffnun-
gen in Österreich zu artikulieren. Die Vereinnahmung Schillers beruhte dabei auf der Intention,
diesen als verbindendes Element zu konstituieren und der Realität des preußisch-österreichi-
schen Dualismus wenigstens durch „ideale Zwecke“ entgegenzutreten. Das Versäumnis von of-
fizieller Seite, eine nationale Identitätssuche der Deutschösterreicher im immer stärker wer-
denden Nationalitätenkonflikt zu unterstützen, wurde damit privat, durch die bürgerlichen
Schillerfeiern in Österreich kompensiert. Auch hier wurde ein sozial, national und politisch
übergreifender, gesamtdeutscher Raum konstruiert, dessen Referenzpunkt Schiller bildete. Auf
diesen Kulturraum berufen sich auch die finalen Schlussverse von Friedrich Halms Festspiel Vor
hundert Jahren, das am 9. November im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde (vgl. Kapitel
9.3):

411
Im nichtdeutschen Teil des Vielvölkerstaats wurde eine harmonische Einheit des multinationalen Habsburger-
reichs imaginiert, die im Gegensatz zur Realität des Nationalitätenkonflikts stand. So galt die rein deutsche
Schillerfeier im zweisprachigen Prag als Provokation und gefährdete einen Ausbruch des Konflikts.
412
In: Die Presse 12/290 (10.11.1859). S. 1.
192 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Da trenne nichts mehr, einer Liebe Hauch


Schwell´ jede Brust, werf´ alle Schranken nieder!
Da hall´ nur Eins in allen Herzen wieder:
Er war ein Deutscher und wir sind es auch!
Er war ein Deutscher und zu Deutschlands Ehre
Wie Er gebrauche jeder seine Kraft,
Und da Gemeinsinn nur das Große schafft,
So wirkt in Eintracht stets zu Deutschlands Ehre! (HW 8, S. 142)

Das in Halms Festspiel entworfene Idealbild einer großdeutschen Identität basiert auf emotio-
nale Kategorien und zielt auf die gemeinsame Rezeption Schillers als Einiger der Nation.
Die Konzeption einer großdeutschen Nation fand auch im öffentlichen Raum durch erinne-
rungskulturelle Monumente ihren Ausdruck: Das 1860 eingeweihte Reiterstandbild für Erzher-
zog Karl war einerseits Zeugnis von österreichischem Patriotismus (Inschrift auf der Nordseite:
„Heldenmütiger Führer von Österreichs Heeren“), andererseits bezog es sich auch auf ein (ge-
samt-)deutsches Reichsverständnis (Inschrift auf der Südseite: „beharrlicher Kämpfer für
Deutschlands Ehre“). Genau diese politische, deutschnationale Implikation der österreichi-
schen Schillerfeiern kritisierte Franz Grillparzer, der sich „allen zu pragmatischen Funktionsbe-
schreibungen von Literatur“413 verweigerte. In einem Brief an die Schillerstiftung mahnte er
1859, Schiller als Dichter zu feiern und nicht „bloß zum Vorwand [zu] nehmen, für weiß Gott!
was für politische und staatliche Ideen“. Er habe den Eindruck, „man wolle dabei noch etwas
anderes feiern als Schiller, den ausgezeichneten Dichter und Schriftsteller: etwa das deutsche
Bewusstsein, die deutsche Einheit, die Kraft und Machtstellung Deutschlands“ (Oellers 1970, S.
428). Grillparzer fühlte sich hier in doppelter Weise angegriffen: Einerseits verletzte die politi-
sche, „unidealistische“ Vereinnahmung Schillers sein eigenes Autorenverständnis. Andererseits
irritierte die Stilisierung Schillers zum Vorkämpfer eines neuen Deutschen Reichs Grillparzers
nationales Selbstverständnis als Österreicher, als Staatsdiener der Donaumonarchie.
Obwohl das religiös-protestantische Moment der österreichischen Schillerfeiern nicht sehr
ausgeprägt war, beanstandete die konservativ-katholische Partei in Österreich die quasi-religi-
öse Ausrichtung des Schillerkults und erklärte ihn zur Blasphemie.414 Andere Gegner des Schil-
lerfestes waren wie Grillparzer „habsburgisch[e] Patrioten, die das Hochspielen des ‚nationalen
Princips’ grundsätzlich für unheilvoll hielten“ (Mikoletzky, S. 170). Dagegen war die Regierung
dem Spektakel durchaus wohlgesonnen, konnte sie doch in dem Krisenjahr durch ihre Teil-
nahme am Schillerfest die Euphorie im Volk auch auf sich selbst projizieren. Die kritischen

413
Monika Ritzer: Von Weimar nach Habsburg. Zur Entwicklung eines österreichischen Nationalbewußtseins bei
Franz Grillparzer. In: Jahrbuch für internationale Germanistik. In Verbindung mit der Internationalen Vereinigung
für Germanistik 29/1 (1997). S. 105-131. Hier S. 113.
414
Juliane Mikoletzky: Bürgerliche Rezeption im Wandel. Österreichische Schillerfeiern 1859-1905. In: Haas,
Hanns/Stekl, Hannes (Hrsg.): Bürgerliche Selbstdarstellung. Städtebau, Architektur, Denkmäler. Bürgertum in
der Habsburgmonarchie. Wien u. a. 1995. S. 165-183. Hier S. 170.
Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859 193

Worte Franz Grillparzers blieben in Literaturkreisen eine Einzelstimme, die dem Gros der das
Schillerfest bejahenden Intellektuellen und Kulturschaffenden entgegenstand. Den ersten Auf-
ruf zur Schillerfeier vom 14. Oktober hatte Grillparzer – noch nichts von der nationalen Verein-
nahmung Schillers ahnend – unterschrieben, gleichsam wie Frankl, Laube und Halm.415
Die gleichen Autoren saßen auch im Komitee der bereits im Frühling 1859 in Wien gegrün-
deten ersten Schillerstiftung Österreichs, die sich zum Ziel gesetzt hatte, in Not geratene Auto-
ren und Künstler finanziell zu unterstützen.416 Als Adalbert Stifter davon erfuhr,417 initiierte er
prompt die Gründung einer Linzer Filiale der Schillerstiftung, für die er am 30. Oktober zum
Vorsitzenden gewählt wurde. Innerhalb einer Woche stellte Stifter das Festprogramm für die
Linzer Schillerfeierlichkeiten zusammen und führte ihre Organisation quasi im Alleingang durch.
Die Feier des Schillerjubiläums und die Gründung der Schillerstiftung standen dabei im engen
Zusammenhang.418 Das Schillerfest wurde von Stifter vor allem als Forum genutzt, um die Er-
richtung der Schillerstiftung, die er „für eine der größten und schönsten Thaten des deutschen
Volkes“419 hielt, voranzutreiben.
In einer Rede vor dem Ausschuss der Schillerstiftung, zu deren Stipendiaten er ab 1865
selbst gehörte,420 unterstreicht Stifter die deutschnationale Bedeutung Schillers, wie sie sich
mit dem Schillerjubiläum entfalten würde:

Ich glaube daher, daß unsere Stadt, die Hauptstadt eines Kronlandes, welches nebst Salz-
burg das einzige durchaus deutsche des Kaiserreiches ist, nur sich selber ehret, wenn es
dem Gedächtniße des hundertjährigen Geburtstages Schillers ein feierliches Zeichen gibt,
und ich glaube, daß diese Ehre desto größer ist, je ernster und würdiger dieses Zeichen
gestaltet wird, und je freier es von Selbstsucht ist, und den Schein meidet, daß die, welche
einen Todten feiern, hiebei sich selbst vergnügen. (WUB 8/1, S. 87)

Das Schillerjubiläum 1859 ist für Stifter ein „feierliches Zeichen“ der nationalen Selbstvergewis-
serung und Selbstzelebrierung. Der Autor hebt in seiner Rede die Zugehörigkeit Linz´ zu
Deutschland hervor, um dem nationalpolitischen Charakter der Feier zu entsprechen. Um

415
Der Aufruf wurde unter anderem in der Wiener Zeitung vom 15.10.1859 veröffentlicht. S. 4349.
416
Literatur vgl. Susanne Schwabach-Albrecht: Im Namen Friedrich Schillers – 150 Jahre Deutsche Schillerstiftung
– Schillerfeiern. Katalog zu den gleichnamigen Ausstellungen 2005. Düsseldorf 2005.
417
Die Stiftung rief am 18. Oktober 1859 in der Linzer Zeitung zum Bau eines „Denkmal[s] für den großen Todten“
auf. Abgedruckt in WUB, Bd. 8/1, S. 276-279.
418
Gegenüber dem Notar Carl Emil Reichsritter von Kißling spricht er im Rückblick davon: „Es war bei der Schiller-
feier mein Lieblingsgedanke, daß in Linz ein Zweigverein entstehe.“ Am 29. Mai 1867. In: WUB 9/1, S. 289.
419
Brief an Gustav Heckenast vom 29. November 1859. WUB 8/1, S. 287. Vgl. dazu auch den Kommentar S. 296.
420
Vgl. dazu den Aufsatz von Joachim Müller: Adalbert Stifter und die deutsche Schillerstiftung. In: VASI 9 (1960).
Folge 1/2. S. 21-24.
194 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

gleichzeitig die Loyalität zum Kaiser zu versichern, der die Schirmherrschaft der Wiener Schil-
lerstiftung übernommen hatte, bindet er das Jubiläum in das monarchische System ein.421 Ob-
gleich sich Stifter in seiner Schlussansprache „bewusst vom nationalen Pathos und den Defini-
tionsversuchen des ‚deutschen Wesens‘“ distanzieren wollte, hielt er die Funktionalisierung
Schillers zur Stärkung der Identifikation mit Deutschland für legitim: „Endlich ist auch unserer
Stadt das Selbstgefühl nicht zu verübeln, mit andern deutschen Städten in edler Feier des all-
gemein geliebten Dichters in würdigem Bunde zu stehen, und genannt sein zu wollen.“422 Das
Schillerfest wurde von Stifter vor allem als Forum genutzt, um die Errichtung der Schillerstif-
tung, die er „für eine der größten und schönsten Thaten des deutschen Volkes“423 hielt, voran-
zutreiben.

Die Gedichte, die im Kontext der Schillerfeiern verfasst wurden, sollen im folgenden Kapitel
exemplarisch für die Fest- und Gelegenheitslyrik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts un-
tersucht werden. Sie wurden meist zum Zweck des Vortragens oder Vorsingens verfasst und
dienten der Aneignung und Identifikation. Dementsprechend wurden in den Festgedichten all-
gemein bekannte Motive und Metaphern und einprägsame Rhythmen verwendet.

8.1. Fest- und Gelegenheitslyrik am Beispiel der Schillerfestgedichte

In der Mitte des Jahrhunderts bekam die vormalige politische Lyrik der Befreiungskriege und
des Vormärz einen dezidiert nationalpatriotischen Charakter.424 Nichtsdestotrotz war sie wei-
terhin in die bildungsbürgerliche Tradition der Themen, Motive und Formen eingebettet, die
bis ins 18. Jahrhundert reichten und Teil des kollektiven Gedächtnisses waren. Die nationale

421
An anderer Stelle betont er daher, dass die Wiener Filiale der Schillerstiftung von „Sr. k. k. apostolischen Ma-
jestät genehmigt wurde, wie ja auch seine Majestät schon vor längerer Zeit der Schillerstiftung einen namhaften
Beitrag hatte zukommen lassen“ (WUB 8/1, S. 88) und in der Schlussansprache bei der zweiten und öffentlichen
Schillerfeier mit vorangegangenem Fackelzug in Linz lautet Stifters letzter Satz: „Zum Schlusse lade ich Alle ein,
unserm gnädigsten Kaiser und Herrn ein dreifaches Hoch zu bringen!“ (WUB 8/1, S. 91).
422
WUB 8/1, S. 89. Vortrag vor dem Ausschuss zur Feier des Hundertjährigen Geburtstages Friedrich Schillers (Steg-
reif-Rede Stifters, später aus seiner Erinnerung niedergeschrieben).
423
Brief an Gustav Heckenast vom 29. November 1859. WUB 8/1, S. 287. Vgl. dazu auch den Kommentar S. 296.
424
Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Geschichte, Opposition, Subversion. Studien zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Köln
u. a. 1993. S. 194. Außerdem: Heinz Hillmann: Nationale Lyrik im 19. Jahrhundert. In: Ders./Hühn, Peter (Hrsg.):
Europäische Lyrik seit der Antike. 14 Vorlesungen. Hamburg 2005. S. 197-233. Und Dirk Niefanger: Lyrik und
Geschichtsdiskurs im 19. Jahrhundert. In: Martus, Steffen/Scherer, Stefan/Stockinger, Claudia (Hrsg.): Lyrik im
19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern 2005. S. 165-181.
Fest- und Gelegenheitslyrik am Beispiel der Schillerfestgedichte 195

Lyrik übernahm affirmative und/oder appellativische Funktion und vergegenwärtigte histori-


sche Ereignisse als unmittelbar wahrnehmbares kollektives Handeln. Damit wurden drei Zeit-
ebenen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, miteinander verknüpft.
Die politische Lyrik entwickelte sich nach dem Scheitern der Revolution zur nationalen Lyrik:
Statt offen Kritik am System zu üben nahm die Lyrik nun eine spezifische patriotische Haltung
ein, bei der die nationale Rhetorik, Metaphorik und Symbolik in besonderem Maße verdichtet
wurde. Die Ablehnung der bestehenden Verhältnisse verlor seit Mitte des Jahrhunderts zuguns-
ten einer antirevolutionären, moderaten Haltung an Schärfe. Man wollte die Verhältnisse im
Staat nicht mehr umwälzen, sondern fand sich mit ihnen ab, um die nationale Einigung zu er-
möglichen. Agitatorisches Ziel der pragmatischen Lyrik nach der Jahrhunderthälfte war also die
gesellschaftliche Konformität und nationale Integration. Um die Massen zu mobilisieren musste
sie parteipolitische Differenzen mit nationalen Einheitsphantasien überdecken und durch affir-
mativ-appellative Schlagwörter eine emotionale Bindung schaffen.
Zur Konstruktion nationaler Identität war die intertextuelle Rezeption an traditionelle Sujets
gebunden. Dazu gehörten vor allem Motive aus der römischen und germanischen Mythologie
sowie der mittelalterlichen Sagen- und Legendenwelt. Andere national konnotierte Themen
waren dem protestantischen Charakter der Nationalbewegung entsprechende Gegenstände
wie die Reformation (Luther, Hutten, Münzer etc. bildeten dabei die evangelische Linie der Op-
position zum katholischen Frankreich) sowie geschichtliche Ereignisse aus der Frühen Neuzeit
und der näheren Vergangenheit, speziell der Befreiungskriege. Der sich im 19. Jahrhundert ent-
wickelnde Historismus wurde auch in formaler Hinsicht in der nationalen Lyrik des Nachmärz
reflektiert: Die in den Gedichten verwendete Metaphorik, Symbolik und Formensprache (So-
nette, Epilog, Stanze) sowie die Rückgriffe auf frühneuzeitliche Sprachtraditionen und populäre
Sprachmuster besaßen einen hohen Wiedererkennungseffekt und ermöglichten die Vermitt-
lung der nationalpolitischen Inhalte. Durch die Vertonung der Gedichte, die dann als Lieder z.
B. von den Gesangsvereinen präsentiert wurden, prägten sie sich als geteilte emotionale Erfah-
rungen in das kollektive Gedächtnis ein.
Der Aufschwung des Vereinswesens schuf neue Veröffentlichungs-, Rezeptions- und The-
menmöglichkeiten für die politisch-pragmatische Lyrik, so dass ein ganz neues Genre, die Ver-
einslyrik, entstand.425 Ihre Reichweite wurde auf die von den Vereinen organisierten Feiern er-
weitert und wurden damit ebenfalls Teil einer öffentlichen Identitätsleistung nationaler
Dimension. Damit waren die Übergänge von Vereins- und Festlyrik fließend, zumal sich in bei-
den die Ästhetisierung der Politik mit der Funktionalisierung der Literatur verbanden. Die neue,
Öffentliches und Privates, Politik und Kunst zusammenbringende Gattung war formal am Idea-

425
Vgl. dazu Gerhard Lauer: Lyrik im Verein. Zur Mediengeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts als Massenkunst.
In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus, Stefan
Scherer und Claudia Stockinger. Bern 2005. S. 183-203.
196 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

lismus angelehnt. Inhaltlich reflektierten die meist affirmativ ausgerichteten Fest- und Gele-
genheitsgedichte ein bestimmtes gesellschaftliches Ereignis metasprachlich und konservierten
es im kulturellen Gedächtnis einer größeren Gemeinschaft. Die nationalen Gedichte waren
überwiegend systemkonform und propagandistisch, wollten lieber legitimieren als revolutio-
nieren und hatten mehr identitätsstiftende sowie gemeinschaftsbildende als parteipolitische
Absichten. Das lag auch daran, dass sich, unter anderem aufgrund der Popularisierung der Ver-
eine und der Manifestation einer deutschnational ausgerichteten Festkultur, der Rezeptions-
kontext geändert hatte.

8.2. Raabes Gedicht Zum Schillerfest

Die panegyrische Lyrik und speziell die Schillerfeiergedichte waren Teil einer auf das nationale
Kollektiv ausgerichteten, patriotischen Dichtung, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts im Gebiet der Kultur etablierte. Wilhelm Raabe unterstützte die Schillerfestivitäten in
seiner Heimatstadt Wolfenbüttel durch das Gedicht Zum Schillerfest, das sowohl mit seinen
nationalpatriotischen Gedichten der 60er Jahre als auch mit dem Roman Der Dräumling von
1871 in unmittelbarem Zusammenhang steht.426

Das Gedicht ist zweigeteilt, wobei jede der fünf Strophen des ersten Teils formal und seman-
tisch parallel zur jeweiligen Strophen des zweiten Teils aufgebaut ist (die fünfte Strophe des
ersten sowie des zweiten Teils wiederholen sich nahezu wortwörtlich). Die elfte Strophe, die
als einzige statt vier sechs Zeilen umfasst, resümiert den Inhalt des Vorangegangenen, indem
sie direkt auf das Schillerfest und seine nationale Bedeutung Bezug nimmt. Der Sprecher, der
unbenannt bleibt, definiert sich als integraler, unauflöslicher Bestandteil eines „Wirs“, des na-
tionalen Kollektivs. Durch die Verschmelzung von Autor-Ich und Adressaten wird es dem Leser
ermöglicht, Teil des konstruierten Wirs und im geistigen Sinne sogar Mitautor zu sein.
Im ersten Teil des Gedichts wird eine eschatologische Stimmung entfaltet, die durch bibli-
sche Zitate aus der Genesis religiös verdichtet sind:

Die Zeit ist schwer! Dumpf grollt des Volkes Klagen:


Will nie der Morgen ob den Wassern tagen?
Die Zeit ist schwer! Wann kommt der Strahl der Sonnen?
Wann haben wir den neuen Tag gewonnen?

Die Zeit ist schwer! In Millionen Herzen


Bewegt sich neu das alte Wort der Schmerzen:

426
So ironisiert Raabe sein Schillerfestgedicht durch die Darstellung der pathetisch-kitschigen Verse des Lehrers
Fischarth im Dräumling.
Raabes Gedicht Zum Schillerfest 197

O Vaterland – so klingt es fort beständig –,


Nicht tot bist du und bist doch nicht lebendig! (BA 20, S. 350)

Innerhalb der ersten beiden Strophen eröffnet der Sprecher einen Dualismus, der sich auf exis-
tentielle Kategorien bezieht (alt – neu, tot – lebendig, Tag – Nacht). Die kollektive „Klage“ über
die Agonie und Handlungsunfähigkeit des personifizierten Vaterlandes betrifft nicht nur die ter-
ritoriale und mentale Zerrissenheit Deutschlands, sondern bezieht sich auch auf die zehnjährige
Reaktionszeit nach der gescheiterten Revolution 1848/49. In vier negativen Interrogativsätzen
fragt der Sprecher nach der Ankunft eines Erlösers:

Wird nie ein Retter kommen diesem Lande?


Wird kein Befreier lösen unsre Bande?
Wird der Messias nie erscheinen in der Welt?
Wird nie der Baum blühn auf dem Walserfeld? (BA 20, S. 350)

Indem die erste Zeile intertextuell auf Schillers Drama Wilhelm Tell427 verweist, die letzte auf
die Sage Der Birnbaum auf dem Walserfeld der Brüder Grimm (vgl. Grimm 1816, S. 30), bezieht
sich Raabe auf wichtige erinnerungskulturelle Texte der deutschen Nationswerdung. Der im
zweiten Teil des Gedichts angekündigte Neubeginn wird auf mythologischer Ebene durch den
Verweis auf die grimmsche Sage ergänzt: Das Erblühen des Baumes – das stellvertretend für
die erstarkenden Liberalen nach der Reaktionsära steht – kündigt eine apokalyptische Schlacht
an, deren Ausgang eine bessere Zeit verspricht.428 Auf der religiösen Symbolebene steht das
Göttliche für diesen Wechsel: „Nicht stets gehört die Zeit den Neidern und den Hassern, / Denn
Gottes Geist, der schwebt ja auf den Wassern!“ (BA 20, S. 350). Die endzeitliche Stimmung
(„Schmerzen“, „Grauen“, „Nacht“) schwenkt nach Eintreffen des Retters schlagartig um
(„Licht“, „Sonne“, „Morgen“), wobei mit der Bezeichnung Schillers als „Messias“ seine Heils-
und Erlöserfunktion benannt wird. Durch den intertextuellen Verweis auf das erste Buch Mose
interpretiert das Gedicht die Schillerfeiern als Auftakt für einen neuen Zeitabschnitt.429
Das Gedicht stilisiert den Dichter Schiller zum Retter der Nation, indem es ihn als neuen
„Führer“ und „Deutschen König“ ausruft. Damit referiert der Text auf das monarchistische Prin-
zip, demokratisiert es aber gleichzeitig („gewählet in der Mitte“). In der Tat war das erklärte

427
Vgl. Akt I, Szene 1: „Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“
428
Auch in Raabes während der Befreiungskriege angesiedelten Erzählung Nach dem großen Kriege von 1860 fin-
det die Sage der Brüder Grimm Erwähnung: „‚Wann kommt der morgen, der blutige Morgen der Rache?‘ Trös-
tet Euch, ihr deutschen Männer, der Morgen kommt schon und mit ihm die große Schlacht. Jetzt die Schlacht
bei Talavera de la Reyna, später die Leipziger Schlacht und einst, einst – die Schlacht auf dem Walserfelde, wo
der eine ungeteilte Heerschild am blühenden Birnbaum hängt und ein Purpurmantel feil ist um einen Zwillich-
kittel und ein gutes Schwert“ (BA 4, S. 38).
429
Siehe Mose 1, 2 f.: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde und die Erde war wüst und leer, und es war finster
auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward
Licht.“
198 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Ziel der Schillerfeier, neben der politischen auch eine soziale Einigung Deutschlands herbeizu-
führen. Raabes Festbeitrag für die Schillerfeier in Wolfenbüttel drückt die Hoffnung auf eine
nationale, politische und geistige Erneuerung Deutschlands aus. Durch seine Rolle als säkularer
sowie klerikaler Lenker umfassen seine Aufgaben praktisch-politische wie moralisch-ethische
Aspekte: Der Dichter soll das Deutsche Reich zu Freiheit und Einheit führen („Der Freiheit Sän-
ger“, „Die Schranken fallen ein“), die geistigen Voraussetzungen dafür festigen („Des Geistes
Reich aufs neue fest gegründet“) und eine Vorbildsfunktion erfüllen („Und zeigte so in ihm dem
Volk des Volkes Bild“). Mit Hilfe Schillers kann also die geistige Mobilisierung des deutschen
Volkes erfolgen:

Das Deutsche Reich, so ist´s noch nicht verloren,


Der Deutschen König ist aufs neue so erkoren,
Des Geistes Reich aufs neue fest gegründet,
Des Geistes Volk zu Kampf und Sieg verbündet! (BA 20, S. 351)

Durch die Verwendung von Motiven und Begriffen des Kampfes bedient Raabe ein exklusionis-
tisches Verständnis von Nation, das aber nicht den Krieg gegen eine äußere Gefahr intendiert,
sondern auf eine geistige Erneuerung zielt. Das semantische Konsekutiv der Wortfelder
Schlacht-Sieg und Nacht-Licht, das in den um 1859 verfassten Texten Raabes gehäuft auftritt,430
verweist auf die Bedeutung der Schillerfeier als entscheidende Zäsur für die Erfüllung seiner
nationalpolitischen Hoffnungen.
Die letzte Strophe nimmt zum ersten Mal konkret zum Schillerfest Bezug, indem sie eine
feierliche Atmosphäre mit bekannten Elementen bürgerlicher Festkultur kreiert:

Die Glocken hallen und die Banner wehen


Dem großen Feste, das wir heut begehen!
Die Herzen schlagen und die Augen glänzen
Dem stolzen Bilde, das wir heut bekränzen
Am Krönungstag des Geists, in Tat, in Wort, in Liedern –
Ein einig einzig Volk, ein einzig Volk von Brüdern! (BA 20, S. 351)

Durch das Glockengeläut, die Fahnen und die Bekränzung der Büste Schillers wird ein Festsze-
nario entworfen, das dem Anlass des Gedichts auch in realiter entsprach. Der als „Krönungstag“

430
Die Natur-Kriegs-Verbindung verwendet Raabe in dem ebenfalls im Kontext der Schillerfeiern verfasstem Ge-
dicht Vorüber war der große Sturm gezogen. Hier wird der Sturm in der Natur mit dem Sturm des Krieges pa-
rallelisiert: „Die Rüstung nehmt! – Es wird ein blutig Tagen, / Bald wird die Schlacht, die große Schlacht geschla-
gen!“ (BA 20, S. 367). Im „Schillerfest-Roman“ Der Dräumling benutzt der Maler Rudolf Haeseler eine ähnliche
Kriegsmetaphorik: „Die Fratzen und Nebel des Sumpfes weichen – die ewige Sonne der Schönheit behält doch
ihr Recht. O Liebe, diejenigen, welche mit heiterm Lächeln den uralten, bittern Kampf führen, können in der
rechten Stunde des Sieges ernst genug sein“ (BA 10, S. 187).
Zwei Schillerfestgedichte von Gottfried Keller 199

verstandene Festakt431 feiert Schiller als Überwinder der Krise und Einiger der deutschen Volks-
stämme, so wie Wilhelm Tell es für die Schweiz symbolisierte. Indem die letzte Zeile erneut auf
Schillers Drama Bezug nimmt,432 überträgt das Gedicht die Gründung der Schweizer Eidgenos-
senschaft durch (den historischen wie den poetischen) Tell auf die Gründung des Deutschen
Reichs durch Schiller. Damit wird der eidgenössische Gründungsmythos zum Vorbild für einen
deutschen Gründungsmythos, der durch das Schillerfest präsentiert wird (vgl. dazu auch Nol-
tenius 1991, S. 67).
Indem Raabe in seinem Gedicht auf biblische, literarische, mythologische und historische
Vorbilder Bezug nimmt, die Teil der kollektiven Erinnerungskultur sind, will er die postulierte
Führerschaft Schillers legitimieren und Wiedererkennung und Aneignung durch den Rezipien-
ten evozieren.

8.3. Zwei Schillerfestgedichte von Gottfried Keller

Keller verfasste anlässlich des Schillerjubiläums gleich zwei Festgedichte, den Prolog zur Schil-
lerfeier in Bern 1859 und das Gedicht Das große Schillerfest 1859. Der Titel des Ersteren deutet
durch den Hinweis auf den konkreten Aufführungsort und die Bezeichnung als „Prolog“, die
Keller auch für andere ausgewählte lyrische Festbeiträge wählte, auf den unmittelbaren Zu-
sammenhang von Fest und Festspiel hin. Damit sah Keller sein Gedicht als Teil des durch Reden
und symbolischen Handlungen geordneten Berner Festaktes.
In seinem Mythensteinaufsatz von 1861, in dem Keller die Errichtung einer Fest- und Fest-
spielkultur in der Schweiz konzeptioniert, umreißt er das Themenspektrum der Festgedichte:
Es soll gesungen werden „[w]as […] die deutsche Lyrik seit Goethe und dem Wiederfinden der
alten Volkslieder, dann durch das Erwachen der Vaterlandsliebe und freiheitlicher, männlich
nationaler Regungen an klaren und tiefen Tönen erreicht hat“ (HKKA 15, S. 197). Indem Keller
die lyrischen Festdarbietungen dem Klassizismus und der Romantik entlehnt und durch den
Nationalismus des 19. Jahrhundert emotionalisiert und politisiert sieht, legitimiert er die patri-
otischen Sujets gattungsästhetisch. Er konstruiert damit eine Traditionslinie, die zunächst lite-
rarisch, dann politisch akzentuiert ist. Dementsprechend bezieht sich sein Prolog zur Schiller-
feier in Bern 1859 (HKKA 9, S. 222-229) formal auf klassische Vorbilder, inhaltlich auf den

431
Einen Bezug zur mittelalterlichen Tradition der Königerhebung stellt Raabe auch in Strophe 6 her:
Es galt in unserm Volk einst diese Sitte:
Ward in Gefahr ein Fürst gewählet in der Mitte
Der Besten, hob man ihn laut jauchzend auf den Schild
Und zeigte so in ihm dem Volk des Volkes Bild. (BA 20, S. 351)
432
Vgl. Wilhelm Tell Akt IV, Szene 2: „Seid einig, einig, einig!“
200 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Geniekult des Idealismus. Der Prolog exponiert in 15 reimlosen Strophen einen, für die Schiller-
festgedichte typischen, panegyrischen Nekrolog auf Schiller. Die erste Strophe bezieht sich auf
den historisierenden Charakter des Schillerjubiläums, so dass es die Bedeutung einer Gedenk-
feier, einem kollektiven Akt des Erinnerns erhält. Der Text verbindet die idealisiert dargestellte
Vergangenheit mit der Gegenwart, indem er Schillers Geist wiederbeleben lässt:

Nachdem wir nun begraben, was das letzte


Jahrhundert, das wir lebten, groß gemacht
Und reich, an Schicksal wie an Taten,
An hochgespanntem Denken und Empfinden,
Daß hier in einer Nacht die Haare bleichten
Und dort ein Tag ein Leben in sich trug
Erhöhten Seins, voll Geisterseligkeit –
So übrigt uns, gleich armen Ährenlesern,
Die Gräber überspringend, rückzugreifen
Und den erwählten Tagen nachzugehn,
Die all dies Leben uns ans Licht geboren.
Denn nach dem einzeln messen wir die Menschheit,
Bis uns das Maß der matten Hand entsinkt
Und wir dahingehn, ungewiß, ob einst
Das Ganze größer als der Teil wird werden. (1/1-15)

Die werkimmanente Intertextualisierung der problematisierten Grundkonstellationen zwi-


schen Individuum und Gesellschaft, Einzelnem und Nation, die Keller auch in seinem Grünen
Heinrich thematisiert (vgl. Kap. 3.1), erweitert der Autor in seinem Prolog über den konkreten
Anlass hinaus zum Diskussionsforum seiner weltanschaulichen Positionen. Die Gegenüberstel-
lung von negativ entfalteter Gegenwart und besserer Vergangenheit ist durch entsprechende
Bilder visualisiert und erinnert stark an das Grundschema von Raabes Schillerfestgedicht: In
einer negativ stilisierten, als „Brachfeld einer Zwischenzeit“ (3/7) empfundenen Gegenwart,
wird die Lichtgestalt Schiller („lichten Mann“, 3/3) als Retter und sakraler Erlöser imaginiert. In
Kellers Prolog wird das Wunschbild weder aus „Verzweiflung“ (6/2) noch aus „müßige[r] Ver-
ehrung“ (6/11) heraufbeschworen – die Schweizer sind wirtschaftlich erfolgreich und politisch
solidiert – sondern um im Rückblick auf die Vergangenheit eine ebenso strahlende Zukunft zu
erreichen: „Daß hell das Ende, das uns einst beschieden,/ Sich in des Anfangs fernem Glanze
spiegle“ (9/8,9). Die Hoffnung erhält seine fiktionale Konkretisierung durch die direkte Rede
des Jubilars, der, als Beschützer für Gegenwart und Zukunft auftretend, unmittelbar aus der
Vergangenheit zum adressierten Publikum spricht:

Er aber ruft aus seinem ew´gen Morgen:


„Ich steh euch fest und steh euch unbezwinglich!
Und hilft´s euch nicht, so steh ich euern Kindern,
Und auch den Kindern steh ich eurer Kinder,
Bis sie gelernt, mit reiner, starker Hand
Zwei Schillerfestgedichte von Gottfried Keller 201

Das alte Sehnen frei sich zu erfüllen


Und meisterlich zu leben, wie sie denken!“ (4/7-13)

Mit der Unmittelbarkeit des Aufrufs erhält Schiller buchstäblich eine eigene Stimme und be-
zeugt – im Rahmen der fiktiven Situation – die in dem Prolog getroffenen Aussagen. Schiller
weist sich selbst als patronisierende Leitfigur aus, der den Schweizern in der Gegenwart und in
der Zukunft die Freiheit als ihre wichtigste politische und moralische Konstante zu realisieren
lehren soll. Die bereits erlangte Freiheit soll durch Konstituierung einer neuen, nach Schillers
Idealen ausgerichteten ästhetischen Schule etabliert werden, denn: „Zur höchsten Freiheit
führt allein die Schönheit;/Die echte Schönheit nur erhält die Freiheit“ (10/1,2).433 So induziert
der Tell-Mythos eine moralische Lehre, die Grundpfeiler des verfassungsrechtlichen Formats
der Schweiz ist: die Freiheit, die dem Volk durch Schiller vermittelt wird und die identitätskon-
stituierend für die Schweizer ist. Schiller soll Leitfigur der neuen Kunstrichtung werden, die auf
der Ästhetik des Wilhelm Tell aufbaut:

Ist uns ein Stern und Führer nun vonnöten,


Des Schönen Schule stattlich aufzubaun:
Er ist der Mann! Ihn führen wir herein
In unsre Berge, deren reine Luft
Im Geist in vollen Zügen er geatmet
Und sterbend in ein Lied hat ausgeströmt,
Das uns allein schon eine hohe Schule
Der wahren Schönheit ist, wie wir sie brauchen!
Die das Gewordene als edles Spiel verklärt,
Das seelenstärkend neuem Werden ruft,
Daß Dichtung sich und kräft´ge Wirklichkeit
In reger Gegenspieglung so durchdringen,
Wie sich, wo eine wärmre Sonne scheint,
Am selben Baume Frucht und Blüten mengen,
Bis einst die Völker selbst die Meister sind,
Die dichtrisch handelnd ihr Geschick vollbringen. (13, 1-16)

Schiller, dem ein sowohl den Sprecher als auch den Rezipienten erfassendes „Wir“ gegenüber-
steht, wird als Mann des (Berg-)Volkes idealisiert, indem er in eine Schweizer Alpenidylle ver-
setzt wird. Dem Jubilar wird eine pädagogische Wirkung zugesprochen: Im Drama Tell, das die

433
Den Begriff der Schönheit definiert das Gedicht im Sinne Schillers, verortet ihn jedoch in die Schweiz, indem er
alpine Naturmetaphern gebraucht. Vgl. Strophe 12 des Gedichts:
Die Schönheit ist´s, die Friedrich Schiller lehrt
Und die mit eig´nen Tagen er gelebt,
Die jugendlich, ein schäumender Alpenstrom,
Die erste Kraft in jähem Felssprung übt (12/28-31)
202 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

fiktionale Realisierung des schweizerischen Nationalmythos darstellt, gehen Kunst und Wirk-
lichkeit, Fiktion und Geschichte korrelativ ineinander auf, so dass es zum Vorbild für politische
Teilhabe wird.434 Für die prophezeite Selbstverwirklichung des Schweizer Volkes ist die eini-
gende und freiheitsstrebende Tat von Tell vorbildhaft.

Ein einig, durchgebildet Volk von Männern,


Das redlich selbst sich prüft und kennt und dennoch
In ungetrübter Frische lebt und wirkt,
Daß seine Arbeit festlich schön gelingt
Und ihm das Fest zur schönsten Arbeit wird! (9/14-18)

Im intertextuellen Verweis auf Schillers Tell entwirft der Text ein Bild von der Schweiz, dass sich
aus dem Zusammenspiel zweier konträrer Bereiche konstituiert: Arbeit und Fest. Der Chiasmus
in den letzten beiden Strophen verbindet beide Dimensionen durch eine dritte, ästhetische Ka-
tegorie („schön“), die selbstreferenziell auf den Anlass des Gedichts, das Schillerfest, Bezug
nimmt. Indem das Fest, das eigentlich durch die Absenz von Arbeit charakterisiert ist, über sich
selbst hinaus auf die Alltags- und Arbeitswelt verweist, verbindet sich in ihm Öffentlichkeit und
Privates.
Mit seinem zweiten Gedicht Das große Schillerfest 1859, das um 1860 entstanden ist, wollte
Keller das Konzept seines Berner Prologs in die Tat umsetzen. Während der Prolog eine an-
spruchsvolle Darstellung allgemeiner, literarischer und weltanschaulicher Werte ist, beschreibt
das Schillerfest-Gedicht eine Handlung. Es ähnelt durch seine szenische Aufbereitung, dialogi-
sche Struktur und Anschaulichkeit der Bilder tatsächlich einem Schauspiel. Der Inhalt des Ge-
dichts ist kein Nekrolog auf Schiller, sein Name wird nicht einmal genannt, auch wenn der Leser
erfährt, dass das Werk am Rande der Schillerfeier aufgeführt wird. In einer intimen „Feier des
Alltags“ (Utz, S. 105) wird die Dialektik von Gewissen und Kraft, dargestellt mittels zweier alle-
gorischer Frauenfiguren,435 miteinander versöhnt. Das 32strophige Gedicht stimmt den Auftritt
der Figur des Gewissens durch einen endzeitlich gestimmten, winterlichen Naturraum mit anth-
ropomorphisierenden Eigenschaften ein. Die Szene wird, wie in einer Regieanweisung eines
dramatischen Textes, mittels eines namenlosen Sprechers in metaphorischen Bildern beschrie-
ben.

Schnee und Regen floß hernieder


Auf novemberbraunen Bergen,
Trostlos rangen alle Wipfel
Mit den schweren grauen Wolken.

434
Auch dieses Motiv wird im Grünen Heinrich verarbeit, vgl. dazu Kap. 3.1.1 vorliegender Arbeit.
435
Die Identität der beiden Frauen wird erst in der letzten Zeile des Gedichts eindeutig aufgedeckt, vorher jedoch
schon attributiv angedeutet.
Zwei Schillerfestgedichte von Gottfried Keller 203

[…]
Aus den dunklen Forsten wankte
Irren Schritts ein Weib hervor,
Zart gebaut, in dünnem Kleide,
Aber fruchtbeschwerten Leibes. (HKKA 10, S. 153)

Die Düsternis der dargestellten Natur korrespondiert mit der Figurencharakteristik. Die
Schwangerschaft der Frau ist eine Belastung, die – wie der Leser später erfährt – durch ihre
Witwenschaft, ihre zahlreichen Kinder und ihre Armut verstärkt wird. Das trostlose Bild der
ärmlichen Schwangeren, das an sich bereits eine Ambivalenz aufweist (Avitalität versus Vitali-
tät),436 verschärft sich durch den konträren Auftritt der zweiten Figur, der Kraft, noch zusätzlich:

Kam ein zweites Weib gegangen,


Groß und stark und guter Hoffnung;
Schwere Hölzer auf dem Haupte,
Schritt sie aufrecht her und trotzig. (HKKA 10, S. 153)

Die auch als „frech“ charakterisierte Kraft ist in der Erwartung ihres Kindes im wahrsten Sinne
des Wortes in „guter Hoffnung“ (HKKA 10, S. 153). Während die Schwangerschaft die das Ge-
wissen repräsentierende Frau beschwert und wanken lässt, ist die Kraft trotz ihrer Gravidität
kraftvoll und standfest. Indem sie ihre „Wölbung / in das weite Reich“ (HKKA 10, S. 154) hin-
ausbauen will, sichert sie die Zukunft der Nation. Ihre Kinder besitzen wie sie eine gewissenlose
Kraft und aggressive Vitalität, die sich sogar gegen die eigenen Mutter richten kann:

Fäuste geb ich meinen Kindern


Und gesunde weiße Zähne!
Sieh, das jüngste hat mir neulich
Hier den Ohrlapp durchgebissen! (HKKA 10, S. 155)

In diesem Kampf ums Dasein unterliegt das Gewissen, die ohne Hoffnung und Gottesglauben
ist. Alle menschlichen Eigenschaften sind ihr abhandengekommen, der einzige Sinn des Lebens
ist die Fortpflanzung:

Wie ein Tier auf wilder Heide


Schein ich mir, das ohne Gott,
Ohne Gott und ohne Sterne

436
Die Bedeutung des Wortes „Gewissen“, das die Schwangere personifiziert, ist dementsprechend ambivalent.
Vgl. dazu DWB 6, Sp. 6219 bis 6301. Feuerbach, den Keller bekanntlich rezipiert hat, sieht das Gewissen als von
außen beeinflusste Eigenschaft, indem er sie definiert als „Furcht etwas zu tun, worauf Strafe steht, bestehe
diese Strafe auch nur in dem mißbilligenden Urteil der andern“ (Feuerbach. Gesammelte Werke Bd. 7, S. 139).
Vgl. auch den Artikel „Gewissen“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Darm-
stadt 1974. Bd. 3, S. 574-592.
204 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Hungernd irrt und sich vermehrt. (HKKA 10, S. 154)

Durch die drastische Darstellung der entmenschlichten und orientierungslosen allegorischen


Figur verbindet Keller seine Kritik an den moralischen und sozialen Zuständen mit der religions-
philosophischen Haltung Feuerbachs (vgl. Kap. 2.2). Aber auch die Kraft ist keine Sympathieträ-
gerin, ihre aggressive Vitalität bezieht sich auf machtpolitische, expansionistische und egoisti-
sche Attribute der Gegenwart. Die starke Kontrastierung der beiden wird durch die
Trostlosigkeit der Umgebung szenisch verstärkt.
Die Begegnung wird durch die Darstellung eines apokalyptisch gestalteten Naturraums un-
terbrochen: Ein Sturm zieht „mächtig rauschend über die Berge“ auf, der mehr beruhigend als
bedrohlich wirkt. Er klärt die Luft vom Nebel und trocknet die „Tränen der Bedrängten“. Die
Entfesselung der vorher trostlosen und „klagend[en]“ (HKKA 10, S. 153), avitalen Natur weist
auf eine Zäsur, auf einen Richtungswechsel hin. Dieser wird durch den Wechsel zum Endreim
sowie mehreren Signalwörtern („doch“, „da“) sprachlich realisiert:

Doch ein prächtiges Festgeläute


Überklang das mächt´ge Rauschen,
Und im Glanze der blitzenden Sonne
Lag im Tal eine strahlende Stadt.

Lang hinwallende Bürgerzüge


Sah man schimmernd sich drin bewegen,
Ihnen wehte die fliegende Seide
Reich gebildeter Banner voran.

Herrlich wogte der Wind aus Norden,


Und die Glocken erschollen mit Macht;
Da ertönten auch starke Posaunen,
Helle Trompeten mit schwellender Pracht.

Und die singende Menschenstimme


Deutlich man dazwischen vernahm,
Seltsam, neu und herzerschütternd
Wie der seliggewordene Gram.

„Freude, schöner Götterfunken!“


Hallte herüber der klingende Sturm;
War kein Kirchenlied und kein Kriegslied,
Doch die Glocken schallten vom Turm. (HKKA 10, S. 156)

Die Beschreibung des Schillerfestes ist durch die bekannten visuellen und akustischen Identifi-
kationsmuster – Festzug, Glockengeläute, Fahne, Orchester, Chor, Rezitation aus Schillers Werk
– gekennzeichnet. Die Schilderung aus der, im wortwörtlichen Sinn, erhöhten Außenperspek-
tive durch die beiden die Feier beobachtenden Frauenfiguren ist stark stilisiert. In Kontrast zu
Anastasius Grüns Schillergedichte im Vor- und Nachmärz 205

der vorher beschriebenen Situation gestaltet sich der positive Eindruck des Schillerfestes noch
wirkungsvoller; kongruent hierzu ist wiederum die Naturbeschreibung, die topographisch auf
Deutschland verweist („Herrlich wogte der Wind aus Norden“). Der visuelle Akzent wird in den
letzten Strophen auf die Akustik verlegt, was die Unmittelbarkeit des weit entfernten Gesche-
hens bewirkt. Die erste Zeile aus Schillers Gedicht An die Freude verweist auf eine dritte allego-
rische Figur, die Freude. Wegen seiner gemeinschaftsstiftenden Intention wurde das 1785 ent-
standene Gedicht bei vielen Schillerfeiern 1859 reklamiert oder in den Festreden beschworen
(vgl. Klingenberg, S. 185 ff.)
Das Schillerfest, das bis zu den Bergen tönt, verändert die Haltung der beiden Frauen zuei-
nander: Die zuvor konträr zueinanderstehenden Figuren schließen sich zu einem Bund zusam-
men und feiern „beim frohen Mütterschmause“ (HKKA 10, S. 157) das ihnen unbekannte Fest.
Mit der Feier kündigt sich eine „schönere“, „größere, ja die bessere Zeit“ an, die auch die beiden
Figuren erfasst. Durch die atmosphärisch verdichteten Äußerungen von Kollektivität sowie die
ideelle Ausrichtung des zitierten Schillergedichts Ode an die Freude entfaltet sich die moralische
Wirkung des Schillerfestes.
Auch wenn Keller seine beiden Schillerfestgedichte disparat konzeptionierte – den Prolog
narrativ, Das große Schillerfest dramatisiert gestaltend – entfalten beide einen Dualismus, in
dem einer extrem negativ konnotierten Situation, die zeitlich vor dem November 1859 verortet
ist, ein positiver, durch das Schillerjubiläum initiierter Zustand gegenüberstellt wird. Die Erneu-
erung motiviert Keller in beiden Gedichten doppelt, zum einen moralisch-geistig, zum anderen
konkret-handelnd.

Auch Anastasius Grün verfasste zwei Schillergedichte, die beide jedoch nicht zum eigentlichen
Anlass des Jubiläums von 1859 geschrieben wurden, sondern zum einen im Vormärz (Schiller´s
Standbild, 1836) und einmal zehn Jahre später (Prolog zu der für den Schiller-Denkmal-Fond in
Wien veranstalteten Akademie, 1869) entstanden.

8.4. Anastasius Grüns Schillergedichte im Vor- und Nachmärz

Der Aufforderung des Schiller-Komitees zur Abfassung eines lyrischen Beitrags zum großen Ju-
biläum 1859 kam Anastasius Grün aus Zeitgründen nicht nach.437 Trotzdem existieren zwei
Schillerfestgedichte, die der Dichter bereits vorher bzw. nachträglich, in einem Abstand von 33

437
„Daß ich mich in gewissenhafter Weise nicht anheischig machen darf, innerhalb des kurzen noch offenen Ter-
mins von kaum einer Woche ein Product zu schaffen, welches – wenn ich das überhaupt zu leisten vermöchte
– des großen Namens Schiller, der solemnen Feierlichkeit und des dieselbe veranstaltenden edlen Vereines
würdig sein sollte.“ Am 2. November 1859. In: BGF, S. 104.
206 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Jahren verfasste. Bereits 1836 entwarf Grün das Gedicht Schiller´s Standbild, das ein in der Zu-
kunft noch zu bauendes Schiller-Denkmal thematisiert. Realisiert wurde dieses Projekt drei
Jahre später in Stuttgart, wo 1839 das erste, von Thorwaldsen entworfene Schillerdenkmal ein-
geweiht wurde.438 Das 6strophige Gedicht drückt Grüns Bekenntnis für ein großdeutsches Reich
aus, das er griechisch-mythologisch verklärt:

Lodert, ihr deutschen


Herzen in Flammen!
Schlaget zu Einem
Brande zusammen!

Daß sich das Erze


Formend belebe!
Daß sich des Dichters
Bild draus erhebe!

Riesig und glänzend


Tönend soll´s ragen,
Memnon Germania´s,
Da es will tagen!

Doch auch zu tönen


Soll es bedacht sein,
Bräch´ einst in Deutschlands
Herzen die Nacht ein!

Dann in der Zwietracht


Düsteren Tagen
Weit soll es dröhnen,
Laut soll es sagen:

Lodert, ihr deutschen


Herzen in Flammen!
Schlaget zu Einem
Brande zusammen! (GGW 1, S. 204 f.)

Das Bild der Flamme, das in vielen Texten der Einigungsbewegung auftaucht, erweitert Grün
durch ein produktives Element: Das vereinende Feuer bringt eine machtkonnotierte Statue
Schillers hervor, die durch akustische Eigenschaften vitalisiert ist. Die damit implizierte prophe-
zeiende Wirkung von Schillers Werken wird durch eine religiös-apokalyptische Bedeutungs-

438
Bereits Jahre zuvor gab es Pläne für ein Schillerdenkmal, z. B. von Johann Friedrich Dannecker. Vgl. dazu Rose
Unterberger: Friedrich Schiller, Orte und Bildnisse. Ein biographisches Bilderbuch. Stuttgart 2008. S. 224 ff.
Anastasius Grüns Schillergedichte im Vor- und Nachmärz 207

ebene erweitert. Der Vergleich mit Memnon, dem Retter Trojas, deutet Schiller als klassizisti-
schen, also den Freiheitsidealen des alten Griechenlands verbundenen Dichter und Kämpfer.
Das Gedicht schreibt dem zu bauenden Standbild Schillers eine nationale, einigende Bedeutung
zu, damit es einen gesamtdeutschen Wirkungskreis erlangt und auch in „dunklen Tagen“ Ori-
entierung und Halt geben kann. Das apokalyptisch entworfene Negativ-Bild Deutschlands
(„Zwietracht“, „Nacht“) ist im Kontext der Restauration zu lesen (im Jahr vor der Entstehung
des Gedichts wurde das Junge Deutschland verboten, drei Jahre zuvor hatte sich beim Hamba-
cher Fest Widerstand gegen den restaurativen Deutschen Bund geregt).
Indem sich erste und letzte Strophe wiederholen und einen Rahmen bilden, wird das Lied-
hafte des Gedichts akzentuiert und die Kernaussage, die Aufforderung zur nationalen Einigung,
betont. Die stakkatoartige Rhythmik der knappen fünfsilbrigen Zeilen erzielen eine große Dy-
namik und Aufforderungskraft, die durch die großzügige Verwendung von Ausrufezeichen un-
terstützt wird und die dem Inhalt entsprechen (vgl. Strophe 2).
Im Gegensatz dazu ist Grüns Prolog zu der für den Schiller-Denkmal-Fond in Wien veranstal-
teten Akademie von 1869 quantitativ durch die doppelte Silbenzahl sowie qualitativ durch den
freien Vers ohne Endreim mehr narrativ gestaltet. Gleich die erste Strophe beginnt mit einer
Kritik am Schillerkult:

Gehoben fühlt, erfrischt sich uns´re Brust,


Wenn wir den vollen Kreis der Hörer sehn
Versammelt, mitzubauen an dem Mal,
Das nicht nur Denkmal, auch ein Dankmal sei
Dem großen Geist, dem Deutschland, dem die Welt
So viel des Ruhms, doch mehr der Liebe zollt.
Und doch, und doch – ein leiser Zweifel frägt
Wohl da und dort, ob nicht in solchem Ziel
Auch eine Krankheit schleiche dieser Zeit,
Im Größencultus kleiner Bilderdienst? (GGW 2, S. 89)

Der Sprecher, der selbst Teil der Feiernden ist, erweitert die erinnerungskulturelle Funktion des
Denkmals auf die emotive eines „Dankmals“. Seine Zweifel an den Motiven der Schillervereh-
rung im speziellen und an der unreflektierten Ikonodulie des 19. Jahrhundert im Allgemeinen
bezieht sich auf die Gleichsetzung von Verehrten und Bild des Verehrten. Doch die Zweifel wer-
den zerstreut und in den folgenden Strophen stimmt der Sprecher in die Schiller-Panegyrik ein:
das Bild von Schiller, der als „Herold“ und „Prophet“ tituliert wird, dient wie in Raabes Schiller-
festgedicht auch in Grüns Prolog der Generierung eines idealisierten Selbstbildes der Nation:

Und wenn sie [die Kunst, J. F.] dieses Mannes ragend Bild
Einst mitten in das Volksgewoge stellt,
Sie weiß: dann geht ein still geheimer Zug
Von ihm zum Volkesherzen und zurück,
Und was im Volk an edlen Keimen lebt,
208 Nationale Festkultur im 19. Jahrhundert: Das Schillerfest 1859

Was rein und gut, gesund und schön, das rankt


Und wächst an ihm empor in Füll´ und Kraft,
Zur Zierde ihm, zur höhern Zier sich selbst:
Denn hohen Sinnes gibt, was er empfing,
Veredelt und verschönt er nur zurück.
Was er gedichtet und was er gelebt,
Was ihn so groß, unsterblich ihn gemacht,
Ein fruchtbar Eigen sei es dieses Volks:
Der strenge Sinn für Sitte, Wahrheit, Recht,
Der klare Blick für das, was schön und gut,
Der Hochgedanke: Freiheit, Vaterland,
Der Glaube an ein edles Menschenthum,
Des Geistes ewig frische Jugendkraft,
Und Eins zumeist: das ganze deutsche Herz. (GGW 2, S. 90)

Durch die Rezitation Schillers in der Kunst entsteht nach Aussage des Sprechers eine Wechsel-
wirkung zwischen dem Bild des Dichters und dem Rezipienten. Nicht nur wird das Volk durch
Schiller erhöht, sondern Schiller auch durch das Volk. Diesen Verweis auf den Konstruktions-
charakter des Mythos Schiller bewertet der Text nun positiv: Neben den bürgerlichen Wertvor-
stellungen, die mit der Person Schillers implizit rezipiert werden, sind Freiheit und Patriotismus
Merkmale der Schilleremphase. Die letzte Zeile eröffnet einen nationalen Raum, der groß-
deutsch ausgerichtet, emotional begründet und kulturell durch Schiller repräsentiert ist.
In der zeitlichen Gegenüberstellung von vergangener und gegenwärtiger Schillerrezeption
wird der bereits seit 50 Jahren tote Schiller als Projektionsfigur vitalisiert:

Doch jetzt! Schon bahnen wir mit Ton und Wort


Den Pfad, daß auf des Wohllauts klarer Fluth
Zu uns einzieh´ des Sangeshelden Bild; –
Im Fahnenschmuck, umjubelt und bekränzt,
Ins volle, frische Leben sei´s gestellt,
Vor alles Volk und vor das ganze Land!
Und aus dem Tandbild ströme Leben auch,
Des großen Geistes lebenswarmer Hauch!
Dann ziemt auch uns das schöne, stolze Wort:
So ward und bleibt er unser fort und fort! (GGW 2, S. 92)

Neben der literarischen und musikalischen Verarbeitung von Schillers Werk ist das Fest das
volks- und lebensnahe Medium, in dem Schiller bzw. die Vereinnahmung Schillers in der Ge-
genwart („Doch jetzt!“) Realität wird. Grün nimmt die Kritik der ersten Strophe wieder auf: das
Schillerdenkmal ist nur ein toter Gegenstand, „Tand“, der erst in der Rezeption durch das Volk
belebt wird. Das in der vorherigen Strophe angesprochene großdeutsch intendierte Kollektiv
wird hier durch die Österreicher konkretisiert („auch uns“).
Anastasius Grüns Schillergedichte im Vor- und Nachmärz 209

Die beiden im Vormärz und im Nachmärz entstandenen Gedichte Grüns sind in ihrem jeweili-
gen Entstehungskontext zu lesen. Während das Gedicht Schillers Standbild die revolutionäre
Stimmung der 30er Jahre formal wie inhaltlich aufgreift, indem es pointiert auf die zu einigende
Nation zielt, reflektiert der Prolog von 1869 die Schillerverehrung metasprachlich und thema-
tisiert drei Jahre später die Trennung Österreichs vom Deutschen Bund.

Der Hype der nationalen Feste im 19. Jahrhundert erfasste auch das Theater, indem es eine
ganz eigene Gattung, das Festspiel hervorbrachte. Seine theoretische Ausführung sowie litera-
rische Bearbeitung soll im folgenden Kapitel thematisiert werden.
9. Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Zur Zeit der großen Revolutionsfeiern entwarf Jean Jaques Rousseau ein republikanisches
Gegenkonzept zum höfischen (und seiner Meinung nach unmoralischen) Theater, das
öffentlich in der Natur und im freien Spiel der Anwesenden stattfinden sollte.439 Rousseaus
Festspielidee, die sich auf die bereits in der Antike angewandte Korrelation von Tragödie und
Fest bezog, fiel in der Schweiz auf fruchtbaren Boden. Denn hier bildete sich ein für ganz Europa
vorbildhaftes republikanisches Festwesen aus, das durch den Einfluss der französischen
Revolutionsfeste und der bereits vorhandene Traditionen (wie der Fastnachtskultur) rasch an
Massenwirksamkeit gewann. Die seit dem Mittelalter veranstalteten Fastnachtsumzüge, die
sich im Lauf der Zeit vom ursprünglich heidnischen Kult zur historisch-allegorischen, politisch
begründeten Selbstdarstellung der Republik wandelten, wurden im 19. Jahrhundert mit den
unter freiem Himmel und von Laien aufgeführten Tellspielen kombiniert.440 Für den hier
beschriebenen Zeitraum bilden sich vor allem zwei, für den Nationalismus konstitutive
Bestandteile des Festes heraus: Zum einen die Festumzüge, deren Bewegungscharakter eine
Historizität und Kontinuität bereits inhärent war, zum anderen das Volks- bzw. Laienschauspiel,
dessen Selbstreferenzialität die nationale Identitätssuche reflektiert. So stellt Francois Capitani
für die Schweiz fest, dass die „republikanische Selbstinszenierung im Festritual“, prägendes
Moment des Nationalverständnisses war.441 Für beide Veranstaltungstypen gilt, dass sie die
Grenze zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit, zwischen Aufführenden und Publikum bewusst
sprengten, um eine gemeinschaftsstiftende Wirkung zu erlangen.

Auf die Schweizer Feste und Volksspiele berufen sich sowohl Wagner als auch Keller in ihren
Konzepten eines nationalen Festspiels. Die poetologische Auseinandersetzung mit dem Fest-
spiel blieb in Österreich aus – ihre liberale Ausrichtung war in der habsburgischen Monarchie
nicht realisierbar. Aber auch in Deutschland fehlten die politischen Voraussetzungen: Wagners
im Zürcher Exil442 verfasster Aufsatz Ein Theater in Zürich war, das wird durch den Entstehungs-
kontext und die räumliche Konkretisierung im Titel ersichtlich, eng mit der Schweiz verbunden.

439
Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Lettre à d´Alembert. Hrsg. von Marc Buffat. Paris 2003. S. 182.
440
Vgl. dazu Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock: vom Späthumanismus zur Frühaufklärung
1570-1740. München 2009. S. 480 f.
441
Francois de Capitani: Wagner und das Schweizer Festspiel. In: Lütteken, Laurenz (Hrsg.): Kunstwerk der Zukunft.
Richard Wagner und Zürich (1849-1858). Zürich 2008. S. 79-97. Hier S. 80. Als Beispiel nennt de Capitani die
Fête des Vignerons in Vevey am Genfer See, das im 17. und 18. Jahrhundert noch als einfacher Umzug der
ansässigen Winzer gefeiert wurde, das sich dann Ende des 18. Jahrhunderts zum öffentlichen Fest ausweitete
und im Lauf des 19. Jahrhunderts allmählich zu einer patriotischen Großveranstaltung mit Umzug, Fest und
Schauspiel wurde, an dem Tausende von Schauspielern und Statisten teilnahmen. Vgl. S. 83 f.
442
Wagner war aufgrund seiner Beteiligung am Maiaufstand 1848 von Deutschland in die Schweiz geflohen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018


J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_9
212 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

9.1. Festspielkonzepte Richard Wagners: Ein Theater in Zürich (1851)

„[I]m Kunstwerk werden wir Eins sein“443

Der Aufsatz Ein Theater in Zürich444 ist Teil von Wagners Gesamtkonzeptes einer neuen Thea-
terlandschaft, der mit zwei weiteren seiner Schriften im unmittelbaren Zusammenhang steht.
Zum einen bildet es das theoretische Fundament, das sich schließlich in seinem „großen Büh-
nenfestspiels“445 Der Ring des Nibelungen dramatisch realisiert. Zum anderen ist der Aufsatz
eine Ergänzung und Weiterentwicklung seiner 1849 verfassten Schrift Das Kunstwerk der Zu-
kunft, in der er im Kontext der Revolution erste Überlegungen zum Festspiel anstellt. In dem
Ludwig Feuerbach gewidmeten Aufsatz formuliert Wagner seine Intention, ein Kunstwerk für
das Volk schaffen zu wollen. Für ihn war das Volk ursprünglich „der Inbegriff aller der Einzelnen,
welche ein Gemeinsames ausmachten. Es war vom Anfange die Familie und die Geschlechter;
dann die durch Sprachgleichheit vereinigten Geschlechter als Nation“ (Das Kunstwerk der Zu-
kunft, S. 10). Heute dagegen ist der Begriff auf die unteren Schichten reduziert als „der Inbegriff
aller derjenigen, welche eine gemeinschaftliche Not empfinden“.446 Nach dem Vorbild der grie-
chischen Tragödie, die das Volk „wie in einem Brennpunkt vereinig[t]“447 habe, will Wagner die
Trennung der sozialen Schichten durch die Neukonzeption des Theaters in Form des Festspiels
aufheben. Indem das neue Schauspiel in einen Festkontext mit größeren Aufführungsabstän-
den gebracht wird, soll der Theaterbesuch eine nichtalltägliche Besonderheit für den Zuschauer
werden. Das so geschaffene Kunsterlebnis wird zur Kollektiverfahrung, bei dem das Publikum
ganz im Gesehenen, im Erlebten aufgeht: „So versetzt er [der Zuschauer, J. F.] durch Schauen
und Hören sich gänzlich auf die Bühne; der Darsteller ist Künstler nur durch volles Aufgehen in
das Publikum“ (Kunstwerk der Zukunft, S. 188 f.). Die Wechselwirkung zwischen Kunst und Le-
ben, Künstler und Zuschauer zielt auf die Unmittelbarkeit des Dargestellten und die Erhöhung
des Volkes zur Nation.
Die Pläne Wagners werden in seinem Aufsatz Ein Theater in Zürich konkretisiert: Um die
provisorisch empfundene Situation des Theaters in Zürich zu verbessern, entwirft er eine Schrift

443
Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig 1850. S. 14.
444
Richard Wagner: Ein Theater in Zürich (1851). Nachdruck Zürich 1999.
445
Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig 1903. Einleitung zum 5. und 6. Bd. S. 1.
446
Wagner begründet die Wandlung des Volksbegriffs historisch: „Praktisch durch die römische Weltherrschaft,
welche die Nationen verschlang, und theoretisch durch das Christenthum, welches nur noch den Menschen, d.
h. den christlichen, nicht nationalen Menschen zuließ, hat sich der Begriff des Volkes dermaßen erweitert oder
auch verflüchtigt, daß wir in ihm entweder den Menschen überhaupt oder nach willkürlicher politischer An-
nahme einen gewissen gewöhnlich dem nichtbesitzenden Theil der Staatsbürgerschaft begreifen können.“ (Das
Kunstwerk der Zukunft, S. 10).
447
Wagner: Die Kunst und die Revolution. Leipzig 1849. S. 7.
Festspielkonzepte Richard Wagners: Ein Theater in Zürich (1851) 213

zur völligen Erneuerung der Theaterkultur, die sich im Festspiel konstituieren soll. Die anzustre-
bende Demokratisierung und „Vermenschlichung“ (Ein Theater in Zürich, S. 34) der Kunst, die
im Rückkehrschluss eine Ästhetisierung der Gesellschaft bedeutet, ist Wagner zufolge bereits
in den Turner- und Gesangsvereinen angelegt und kommt in den Festumzügen und Volksschau-
spielen mit ihrem spontanen und improvisatorischen Charakter zu einer ersten Anwendung:

Bereits ist diese Richtung [die Verbürgerlichung der Kunst, J. F.] in einer Neigung des öf-
fentlichen Lebens vorhanden; bei heitern wie ernsteren Anlässen zu einer öffentlichen
Feier greift man ganz von selbst, und zwar fast in erster Linie, zur Anordnung von Festzügen
in charakteristischen Trachten: Darstellungen aus dem Volksleben oder aus der Ge-
schichte, mit großer Treue und entsprechender Natürlichkeit ausgeführt, bilden den
Hauptbestandteil dieser Aufzüge. Noch entschiedener tritt die Richtung auf das Dramati-
sche in der öffentlichen Volksbildung da hervor, wo in ländlichen Gemeinden von der Ju-
gend sowohl wie vom gereifteren Alter geradenweges Schauspiele aufgeführt werden. (Ein
Theater in Zürich, S. 34)

Als Bestandteile der Festumzüge dienen Tableaus der Präsentation der eigenen Lebenswirk-
lichkeit, von Geschichte und Traditionen, die umso greifbarer und authentischer für das Volk
sind, da sie von intergenerativen Laienschauspielern dargestellt werden. Damit werden die Tab-
leaus und auch die Festspiele, in deren Rahmen sie oft auftreten, zur „öffentlichen Volksbil-
dung“, indem sich das Publikum seiner inneren Zusammengehörigkeit bewusst wird.448 Die aus
der unmittelbaren Wirklichkeit stammenden, aus den Festen hervorgegangenen Festspiele, die
Wagner als Vorbild seiner eigenen Musikdramen sieht, sind Teil der deutschen Erinnerungskul-
tur im 19. Jahrhundert und stärkten neben der kulturellen auch die regionale und nationale
Identität. Wagners Theaterkonzept schließlich verband sich Dahlhaus zufolge „mit gesellschaft-
licher Repräsentanz nationalen Ausmaßes“ (Dahlhaus, S. 596). Eine übergeordnete, vereinsmä-
ßig strukturierte Organisation sollte nach Vorstellung Wagners die neuen Ideen durchsetzen,
indem eine gewählte Kommission die finanzielle und ästhetische Unabhängigkeit der neu zu
bildenden Theateranstalt organisieren und kontrollieren sollte.
Wagners Vorstellungen von der Demokratisierung oder Verbürgerlichung des Theaters
hatte auch Auswirkungen auf die Auswahl des Künstlerpersonals. Der Stand des Schauspielers,
der nach Meinung Wagners durch seine Professionalität nur einseitig und nicht mehr authen-
tisch sei, sollte für eine Neubelebung des Theaters ganz abgeschafft werden. Stattdessen
müsse das Schauspielern zur natürlichen, nebenberuflichen, also in seiner Freizeit ausgeübten
Tätigkeit des Bürgers werden, bis „endlich das ganze aktive Künstlerpersonale nur noch aus der
Blüthe einer heimisch-bürgerlichen Künstlerschaft“ (Ein Theater in Zürich, S. 37) bestehe. Durch
die Besetzung mit solchen Laienschauspielern fand ein Austausch zwischen Fest und Alltag,

448
Vgl. Carl Dahlhaus: Richard Wagners „Bühnenfestspiel“. Revolutionsfest und Kunstreligion. In: Haug, Walter/
Warning, Rainer (Hrsg.): Das Fest. München 1989. S. 593-609. Hier S. 597.
214 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Kunst und Volk statt, durch den das nationale und selbstreferentielle Sujet unmittelbarer ver-
mittelt werden konnte.
Wagner politisiert seine Festspielidee, indem er sie in den Kontext der Revolution stellt. Das
nationale Theater solle eine Art „Gemeinschaft öffentlicher Interessen“449, und das hieß zu der
Zeit revolutionärer Interessen, herstellen:

An eine Aufführung kann ich erst nach der Revolution denken. Erst die Revolution kann mir
die künstler und die Zuhörer zuführen. Die nächste Revolution muß notwendig unserer
ganzen theaterwirtschaft das Ende bringen […]. Am Rheine schlage ich dann ein Theater
auf, und lade zu einem großen dramatischen feste ein: nach einem jahre vorbereitung
führe ich dann im laufe von vier tagen mein ganzes werk auf: mit ihm gebe ich den men-
schen der Revolution dann die bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten sinne, zu
erkennen.450

Die Konzeption eines „dramatischen Feste[s]“, in dem eine nachrevolutionäre Gemeinschaft ihr
eigenes Dasein feiert, ist eine Utopie, die den Ausbruch einer weiteren Revolution voraussetzte.
Indem Wagner es räumlich am Rhein verortet sehen will, nimmt er auf einen für Deutschland
national konstitutiven Ort Bezug. Durch die Einmaligkeit der Aufführung, die Wagners Festspiel
vom üblichen Programmtheater unterscheidet, erscheint sie als Ereignis und als Fest, durch das
eine Gesellschaft ihr eigenes Dasein und die Triebkräfte, von denen sie bewegt wird, feiert (vgl.
Dahlhaus, S. 593).
Unter Einfluss der Philosophie Schopenhauers klang ab 1854 Wagners revolutionäre Em-
phase ab. Seine Idee, die Partitur seiner Werke nach der Aufführung zu verbrennen,451 zeugt
von Wagners Willen, das Festspiel und das Fest zum unikalen, außergewöhnlichen, also nicht
alltäglichen Kunstwerk zu machen. „Die Aufführung erscheint als Ereignis, das wegen der Ein-
maligkeit, durch die es sich vom Repertoirebetrieb der Oper unterscheidet, ein Fest darstellt“
(Dahlhaus, S. 594). Dieses radikale, dem Revolutionsgedanken entsprechende Vorgehen ent-
kräftete Wagner Anfang der 60er Jahre zugunsten einer wohl bedachten Periodizität von „je
nach Umständen“ ein- bis dreijährigen Wiederholungen, mit dem Zweck, die Wirkung des Fest-
spiel zu „kräftigen und vor allmählichem gänzlichem Verlöschen zu behüten“.452 Wagners Fest-
spiel, das er im Gegensatz zu Keller noch zu Lebzeiten realisierte, hat sich tatsächlich bis heute
gehalten – obgleich seine Absicht, das gesamte Volk zu einem nationalen Kollektiv zusammen-
zubringen, keine Gültigkeit mehr hat.

449
Stewart Spencer: Bayreuth und die Festspiel-Idee In: Millington, Barry (Hrsg.): Das Wagner-Kompendium: sein
Leben – seine Musik. München 1996. S. 177 f.
450
Brief an Uhlig vom 12. November 1851. WSB 4, S. 176.
451
Vgl. den Brief an Uhlig vom 20. September 1850. WSB 3, S. 426.
452
In: Vorwort zur zweiten Auflage des Ring der Nibelungen, 1862. S. XVIII.
Gottfried Kellers Festpoetik: Am Mythenstein (1861) 215

9.2. Gottfried Kellers Festpoetik: Am Mythenstein (1861)

Keller verfasste den Aufsatz Am Mythenstein als unmittelbare Reaktion auf die Einweihung des
Schillerdenkmals am Vierwaldstädtersee am 21. Oktober 1860, an dem er selbst teilnahm.453
Er wurde von Richard Wagners vorangegangener Schrift Ein Theater in Zürich beeinflusst.454
Sein utopischer Entwurf eines national-freiheitlichen Volksschauspiels ist die theoretische Aus-
arbeitung seiner Darstellung des Festes und des Festspiels im Grünen Heinrich und bezieht sich
dem Anlass entsprechend auf die Tell-Sage als Schweizerischen Nationalmythos. Was Keller
also bereits in seinem Roman in der Darstellung des Tellfestes und des Nürnberger Künstlerfes-
tes poetisch darstellte, führt er anlässlich eines realen Festes, der Einweihung des Schillerdenk-
mals, als poetisierte „Nationalästhetik“455 in seinem Aufsatz theoretisch aus. Für ihn sind die
bereits vorhandenen von Laien dargestellten Tellschauspiele mit ihrer in die Natur versetzten
Bühne sowie ihrer Geschichts- und Traditionsbewusstheit Ausdruck einer bewussten „Selbstin-
szenierung“ der Schweizer Nation. Vorbilder für die patriotischen Schauspiele, die das „Eigen[e]
und Ursprünglich[e]“ der Schweizer hervorbringen sollen, sind Keller zufolge die „große[n] und
ächte[n] Nationalfeste, an welchen Hunderttausende sich beteiligen mit dem ausschließlichen
Gedanken des Vaterlandes“ (HKKA 15, S. 193). Patriotismus ist also die Leitidee von Kellers
Festpoetik. Es gebe ein „Bedürfnis nach Schauhandlung“, „nach einem erhöhten Spiegelbild der

453
„Das einfach liebliche Fest, dem ich beigewohnt, war eine Dankesfeier gewesen des ‚Bundes der oberdeutschen
Lande‘ für ein mustergültiges Schauspiel, welches die Gründung ihrer alten Republik verherrlicht“ (HKKA 15, S.
191). Der Beschluss für die Errichtung des Schiller-Denkmals erfolgte anlässlich des Schillerjubiläums 1859.
454
Davon zeugen die direkten Verweise auf Wagner: „Richard Wagner hat den Versuch gemacht, eine Poesie zu
seinen Zwecken selbst zu schaffen, allein ohne aus der Schrulle der zerhackten Verschen herauszukommen,
und seine Sprache, so poetisch und großartig sein Griff in die deutsche Vorwelt und seine Intentionen sind, ist
in ihrem archaistischen Getändel nicht geeignet, das Bewusstsein der Gegenwart oder gar der Zukunft zu um-
kleiden, sondern sie gehört der Vergangenheit an“ (HKKA 15, S. 200). Vgl. auch Kellers Korrespondenz mit Wil-
helm Baumgarten im September 1851: „Richard Wagner habe ich schon in Heidelberg in seinen ersten Schriften
kennen gelernt und alles seither mit großem Interesse verfolgt, was ich von ihm erfuhr, z. B. den Aufsatz von
Liszt über ihn. Sein Schriftchen über „Ein Theater in Zürich“ habe ich mir kommen lassen und mit Freuden ge-
lesen, und obgleich es leider zunächst nicht viel Folgen haben wird, so hat es doch meine früher gefaßte Hoff-
nung bestärkt, daß ich, nachdem ich mir in Deutschland vielleicht einigen Erfolg und Erfahrungen erworben
haben werde, zu Hause nicht ganz abgeschnitten sei, sondern ein Feld zur Wirksamkeit in vaterländischer Luft
finden dürfte. Ich bin mit dem Schriftchen ganz einverstanden, nicht so mit den letzten Konsequenzen von
Wagners Ideen über die Kunst der Zukunft. Es versteht sich allerdings, daß alle Künste, dereinst noch in größerer
Harmonie als jetzt, im Drama aufgehen werden und gewiß auch die Masse, das Volk selbst, sich beteiligen und
selbst verklären wird durch die Kunst“ (KB 1, S. 294).
455
Den Begriff der „Nationalästhetik“ gebraucht Keller im Sinne eines Kunstwerks, das „mit dem Volksgeiste einig
[gehen] und aus demselben heraus dichteten“, „und nicht etwa in der lächerlichen Meinung, daß jedes Länd-
chen seinen eignen Vischer haben müsse“ (HKKA 15, S. 196). Damit geht Keller von einem kanongerichteten,
autorenspezifischen Begriff der Nationalliteratur weg zu einem Begriffsverständnis, das von einer aus der Na-
tion hervorgehende, selbstreflexive Gattung ausgeht.
216 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Existenz“,456 das sich „wie ein roter Faden durch alle Lebensäußerung der Völker“ ziehe und
das nur durch ein „fertige[s], reine[s] nationale[s] Spie[l]“ gestillt werden könne. Die Selbstref-
lexivität der nationalen Festspiele ist Ausdruck einer kollektiven Selbstvergewisserung auf kul-
tureller Ebene. In ihnen verschränken sich öffentlicher und privater, politischer und bürgerli-
cher Bereich. Mit seiner Poetik artikuliert Keller in nuce die Allianz von Kultur und Nation, die
für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts so prägend war. Das öffentliche, „volksmäßig[e] Spie-
len“, das nach Keller „die entscheidenden Momente“ (HKKA 15, S. 192) politisch gelungener
Taten fixiere, hatte für die Schweiz im Sujet des Tell das Potential einer nationalen Identitätssi-
cherung:

Lange schon hat da und dort das Schweizer Volk, zur Erhöhung seiner Frühlingslust, Schil-
lers „Tell“ in fröhlichem Versuch auf offenen Dorfgassen, auf Matten und lustigen Höhen
in die braune Hand genommen und keck aufgespielt; aber durch die vorjährige Schillerfeier
auf dem Rütli und die neuliche Weihe des Mythensteins zu einem Denkmal des Telldichters
haben die drei Länder der Urschweiz den Unsterblichen förmlich zu ihrem Landsmann ge-
macht. (HKKA 15, S. 177)

Kellers Schilderung der naturnahen Tell-Aufführungen in der Schweiz leiten zu seinem Konzept
eines nationalen Festspiels über, bei dem der dramatische Stoff als Selbstinszenierung der Na-
tion dargeboten wird. Bewusst verortet Keller die Tellfeste in eine ländliche Szenerie, die zum
einen dem Volk, das ja primärer Adressat und Produzent der Darstellungen ist, eine unmittel-
bare Teilnahme erlaubt und die zum anderen ein natürliches und authentisches Bühnenbild
darstellt. Die bereits lang bestehende Tradition der selbstinszenierten Tellspiele bekamen nach
Ansicht Kellers durch den nationalpolitischen Kontext des Schillerjubiläums in der Schweiz eine
neue Eben der Vereinnahmung von Schiller: nicht nur, dass das Telldrama Schweizer Natio-
nalmythos ist, Schiller ist (als Deutscher) nunmehr auch Schweizer Nationaldichter.
Für Keller sind explizit „die aufblühenden Feste, wie die Schweiz sie hat und wie sie in
Deutschland seit der großen Schillerfeier und den Coburger Festtagen457 sich auftun […] der
geeignete Boden“ (HKKA 15, S. 194) für seine Nationalästhetik. Auf dem Erbe von Schillers
Drama soll eine neue Öffentlichkeit begründet werden, in der Darsteller und Zuschauer, Subjekt
und Objekt der Handlung in Beziehung zueinander treten. Das öffentliche Fest wird zur Selbst-
inszenierung, zum Volksschauspiel, bei dem das Volk sich selbst und seine Geschichte darstellt.
Um diese Intention zu unterstreichen, beschreibt Keller die Landschaft um den Mythenstein
am Vierwaldstättersee durch ein Theater-Gleichnis: „Da ich nichts als Fest, Tell und Schiller im

456
Vgl. die Spiegelmetaphorik im Grünen Heinrich, die das Beziehungsgefüge zwischen Einzelnem und Gesellschaft
ausdrückt. Als Heinrich scheitert, ist der „schöne Spiegel, welcher sein Volk wiederspiegeln wollte, zerschlagen
und der einzelne, welcher an der Mehrheit mitwachsen wollte, gebrochen“ (HKKA 12, S. 465).
457
Gemeint ist das Coburger Sängerfest, das im Juli 1860 stattfand und das wie das Schillerfest ebenfalls eine hohe
Teilnehmerbeteiligung aufwies.
Gottfried Kellers Festpoetik: Am Mythenstein (1861) 217

Kopfe trug, so war es mir wirklich wie in einem Theater zumut, so erwartungsvoll, aber auch so
absichtlich.“ Die Natur wird zum Bühnendekor: Nachdem die erste Morgenröte die Berge
„gleich einem Theatervorhang“ enthüllt, vergisst der Betrachter „die mitgebrachte Theaterkul-
tur und verfiel der malerischen“ (HKKA 15, S. 180). Kurz: „Diese Feier war selbst wieder ein
kleines Drama geworden“ (S. 191). Mit der Einweihung des Schillerdenkmals auf dem Mythen-
stein wird „die Landschaft […] zum Stiftungsort des nationalen Mythos“ (Urs Schweizer, S. 4).
Die Denkmalsetzung als kollektiver Erinnerungsakt dient der Vergewisserung über die nationale
Funktion des Dichters Schiller und seines Werks. Bewusst wird der deutsche Dichter auf das
Schweizer Sujet reduziert: „Schillers Schatten saß mit am Tisch, aber lediglich als Sänger des
Tell“ (HKKA 15, S. 188).
In der Gattung der „Lyrik, d[em] eigentlichen Lied“458 fänden Keller zufolge „[g]roße ge-
schichtliche Erinnerungen, die Summe sittlicher Erfahrung oder die gemeinsame Lebenshoff-
nung eines Volkes“ ihren Ausdruck. Daher wäre es „die Aufgabe des Dichters durch die Zucht
der Musik wieder eine rein und rhythmisch klingende Sprache zu finden“, die geeignet sein
müsse, die Geschichte in „das Bewusstsein der Gegenwart oder gar der Zukunft zu umkleiden“
(ebd. S. 199 f.). Sein Festspielkonzept realisiert Keller im Grünen Heinrich durch die Darstellung
eines Tellfestes, bei dem der Nationalmythos vom Volk für das Volk spielerisch nachvollzogen
wird, so dass sich das Fest zum Festspiel erweitert (vgl. Kap. 9.2).
Die im Roman dargestellte Wechselwirkung von künstlerischer Darstellung und Wirklichkeit
will Keller in seinem Konzept einer Nationalästhetik nutzen, um Öffentlichkeit und Privates mit-
einander zu vereinigen. Helvetia, „dem personifizierten Vaterland“ soll bei den Festspielen als
allegorische Mutterfigur auftreten, die von 22, die Kantone darstellenden Kindern umringt
wird. Ihre Vermischung mit dem Publikum gäbe dabei „der Versammlung eine heiter milde, ja
häusliche Stimmung, einen reizenden Kontrast zu der Öffentlichkeit und großen Zahl“ (HKKA
15, S. 194 f.). Die Einbeziehung der Kinder impliziert nicht nur eine zukunftsorientierte und ge-
nerationsübergreifende Botschaft, sondern schafft trotz des großen Publikums Intimität und
ermöglicht damit die Zusammenführung von Privatem und Öffentlichem. Diese Versöhnung
schildert Keller im Grünen Heinrich in der Darstellung des Tellfestes: Weil nach dem Schauspiel
sich Schauspieler und Zuschauer gemeinsam zum Festessen versammeln, „gewann das Städt-
chen doch wieder das Ansehen einer einzigen Familie“ (HKKA 11, S. 424). Die für das Volks-
schauspiel charakteristische Vermengung von Spiel und Realität, die Keller auch für das Fest-
spiel fordert und im Grünen Heinrich entfaltet, wird bei der Berner Bundesfeier 1853 einem
zeitgenössischen Bericht zufolge tatsächlich erreicht: „Wir vergaßen, dass wir bloße Zuschauer

458
HKKA 15, S. 196. Indem Keller hier auf die die Ursprungsform der Lyrik, das Lied verweist, stellt er eine enge
Verbindung zwischen Lyrik und Musik her, die für seine Festspielpoetik konstitutiv ist.
218 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

seien, wir handelten mit; wir vergaßen auch, daß es bloße Nachahmung der alten Zeit sei: das
mächtige Bern schien in Wahrheit wieder erstanden.“459
Um einen möglichst großen Wirkungskreis zu erzielen, sollen nach der Vorstellung Kellers
neben den Gesangsvereinen auch andere bürgerliche Vereinigungen, wie zum Beispiel die Tur-
nervereine, Gastgeber der Feste sein (vgl. HKKA 11, S. 174 f.): Damit „wäre der Kreis der neuen
Möglichkeiten geschlossen, das ganze Leben beisammen, und das gemeinsame Element der
Bildung umfaßte die Blüte der Nation vom anständigen Arbeiter und Bauernsohn bis zum
Staatsmann und Kaufherren“ (HKKA 15, S. 200). Die Zusammenführung der Schichten zur Na-
tion wird also durch ihre Bildung und Erhöhung erreicht. Für Keller bot die öffentliche Festkultur
in der Schweiz wie in Deutschland das Forum für eine beide Länder umfassende erdachte und
erlebte Kultur und Geschichte. Dementsprechend haben seine Festgedichte nach eigener Aus-
sage „eine kulturhistorische oder allgemein menschliche Pointe germanischen Charakters“.460
Kellers Prolog zu einer Theatereröffnung in Zürich 1864 steht in unmittelbaren Zusammen-
hang zu seinem Aufsatz Am Mythenstein und soll daher an dieser Stelle kurz erwähnt werden.
Das Öffnen des Vorhangs, mit dem das Gedicht beginnt, enthüllt dem Zuschauer eine trostlose
Perspektive auf die Theaterbühne. An der Aufgabe „dieser kleinen Gemalten Welt“ „ein Spiegel
eurer großen“ Welt zu sein, scheitert das Theater: Die Kunst ist weder Reflexionsmedium der
Gesellschaft noch hat sie erinnerungskulturelle Funktion, sondern ist nur „Zerrbild des Lebens“
(HKKA 15, S. 192). Entsprechend negativ fällt im letzten Teil des Gedichts das Urteil über den
Zustand des Theaters in der Gegenwart aus:

Denn dieses Haus, auf alten Mauern ruhend,


Es bietet dennoch keinen festen Stab,
An dem ein Kunstgesetz mag dauernd ranken
Wurzel fassen in des Volkes Leben,
In seiner Sitte und der reichen Sage
Des Landes, drin der Tell einhergeschritten.
Ja, dieses Volk, in reg´ empfund´nem Triebe,
Eilt aller Kunst voran und übt sich frei,
Gesetzlos spielend, auf den freien Fluren;
Da sieht man oft auf kaum ergrünter Wiese
Ein leicht Gerüst, drauf unter Frühlingswolke
In bunter Tracht, voll Eifer, es tragieren,
Von seiner eig´nen Menge ernst umringt.
Und schließt die Handlung, so begeh´n die Spieler,
Vereint in einem Zuge mit den Hörern,
Des Orts Gemarkung feierlichen Schritts;
So freut das Volk der trauten Heimat sich. (HKKA 9, S. 230)

459
Zeitgenössischer Bericht von Gottfried Ludwig: Das Bundesfest in Bern. In: Lauterburg, Ludwig (Hrsg.): Berner
Taschenbuch auf das Jahr 1854. Bern 1854. S. 230-282. Hier S. 262. Zitat aus de Capitani, S. 82.
460
Keller in einem Brief an seinen Verleger Wilhelm Hensen vom 15. Juni 1877 (KB 4, S. 181).
Das Festspiel als nationalpolitische Textsorte 219

Die Wirklichkeitsferne des Theaters umfasst drei Bereiche des Publikums: Alltag, Geschichte
und Brauchtum. Die affirmative Zäsur („Ja“) kündigt das neue, vom Volk gemachte Theater an,
das als natürliches Vorbild der klassischen Kunst fungieren soll: Alltagsweltliche und zugleich
nationalgeschichtliche Stoffe (Tell) sind Ausdruck dessen, was das Volk als sein Bedürfnis re-
flektiert („in reg´ empfund´nem Triebe“). Indem es seine Traditionen und Mythen im freien
Spiel selbst inszeniert, versichert es sich seiner nationalen Identität („So freut das Volk der trau-
ten Heimat sich“). Die Natürlichkeit der so entstehenden Volkskunst unterstreicht der Text ei-
nerseits durch die naturhafte Bildsprache („ranken“, „Wurzel fassen“), andererseits durch die
Versetzung des Schauspiels in eine national konnotierte Natur, womit er auf Schweizer Natio-
nalspezifika (Alpenidylle) rekurriert. Weil die Gesetze der Kunst nicht den Bedürfnissen des Vol-
kes entsprechen, soll das neue Theater „gesetzlos“ und „frei“ konzipiert sein; sein spielerischer,
improvisierender Charakter steht im Gegensatz zur starren Regelhaftigkeit des traditionellen
Theaters. Indem Schauspieler und Publikum nach Ende des Schauspiels gemeinsam nach Hause
gehen, bilden sie zusammen einen Zug, der das nationale Volksschauspiel zum Festumzug er-
weitert. Der Fest und Spiel vereinende Festzug verbindet nicht nur Natur- und Dorfszenerie,
sondern weitet das Fest auf die gesamte Öffentlichkeit des Dorfes aus. Damit tritt das Schau-
spiel, das sich zum Festumzug ausbildet, auf die Alltagswelt über, die Realität der Zuschauenden
vermischt sich mit der Fiktion der Spielenden. Indem das Volk als Zuschauer (Seher) und Spieler
(Gesehenes) teilnimmt, spielt und spiegelt es sich selbst.461 Damit erhält das nationale Festspiel
die Aufgabe, Spiegelbild der Nation und ritualisierter Erinnerungsakt zu sein, indem es die na-
tional mythisierte Geschichte für das Volk in der Gegenwart zugänglich macht.

9.3. Das Festspiel als nationalpolitische Textsorte

Die Bedeutung der öffentlichen Festkultur für die Konsolidierung eines nationalen Kollektivs
wurde bereits im Zusammenhang mit den Schillerfeiern besprochen und dabei festgestellt: Das
Fest ist notwendiger und wesentlicher Bestandteil von Kultur, weil es die Identität eines (nati-
onalen) Kollektivs zu bestätigen hilft. Im 19. Jahrhundert spielte das Fest daher eine wichtige
Rolle für die Entstehung der Nation. Das ist einer der Gründe, weshalb das Festspiel in der Zeit
der nationalen Identitätssuche einen solch exorbitanten Erfolg erlebte. Um der Historizität der
Textsorte gerecht zu werden, unterscheide ich zwischen dem religiösen, dem nationalpatrioti-
schen und dem künstlerischen Festspiel. Letzteres Genre entspricht den in der Tradition
Richard Wagners stehenden Bayreuther Festspielen, für ersteres sind die Oberammergauer
Passionsspiele ein noch heute berühmtes Beispiel. Nationale Festspiele, die nach Roy Cowen

461
Vgl. die Spiegelmetaphorik im Grünen Heinrich (HKKA 12, S. 460 und 465).
220 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

„extreme[r] Ausdruck einer ‚Politisierung‘ im Namen des Traditionellen, Idealistischen und Na-
tionalen“462 waren, gehören dagegen der Vergangenheit an. Sie sind ab ca. 1850 meist kulturell
vermittelt und erlebten ihre Blütezeit nach der deutschen Reichsgründung463 und zur Jahrhun-
dertwende, während des Nationalsozialismus wurden sie zur ideologischen Propaganda. Als
dramatische Gattung lässt sich das nationale Festspiel im Komplex der „littérature engagée“
einordnen, wobei der Anlass immer ein historisches Ereignis ist. Durch Rekonstruktion und Ak-
tualisierung der eigenen, stilisiert und selektiv dargestellten Geschichte will das nationale Fest-
spiel kollektive Identität, geschichtliches Bewusstsein und einen gemeinsamen Handlungswil-
len in der Gegenwart erzeugen. Gegenüber dem vaterländischen oder historischen Drama, wird
im Festspiel Geschichte als Abfolge heroischer Tableaus visualisiert. Nach der Definition Peter
von Matts ist das Festspiel „die szenisch arrangierte Selbstreflexion großer sozialer Gruppen“,
das als Rollenspiel soziales Verhalten einüben und Gemeinschaft schaffen soll.464 Das Festspiel,
das auch Volksspiel genannt wurde, wollte das Volk in das Zentrum des Geschehens rücken und
es unmittelbar-sinnlich an der erlebten und gelebten Geschichte teilhaben lassen. Damit sich
der Zuschauer als Teil dieser Inszenierung der Nation fühlte, wurde die Grenze zwischen Bühne
und Publikum, zwischen Spiel und Realität möglichst fließend gestaltet. Dies wurde zum Beispiel
durch den Auftritt von Laienschauspielern oder durch die Wahl eines Aufführungsortes unter
freiem Himmel erreicht, der öffentlich zugänglich war und für möglichst alle Beteiligte Bedeu-
tung besaß (z. B. der Dorfplatz oder die Allmende). Das Festspiel hat seinen formalen Ursprung
in der griechischen Tragödie – der würdevoll-weihevolle Charakter und der öffentliche Auffüh-
rungsort sind direkte Parallelen.465 Andere Vorbilder sind das mittelalterliche Passionsspiel und
die Fastnachtsumzüge in der Schweiz. Angelehnt ist das Festspiel des 19. Jahrhundert an den
protestantischen Erinnerungsfesten seit der Reformation (sog. Lutherspiele). Der religiöse Kon-
nex gewann im 19. Jahrhundert zur Legitimierung und Unterstützung der nationalen Idee an
Bedeutung. So wie das Kirchen- und Prozessionsspiel zur Erhebung der religiösen Gemeinschaft
genutzt wurde, erhöhte und bestätigte das Festspiel die Wertewelt des Alltags gerade dadurch,
dass es den Alltag außer Kraft setzte.466 Seit den 1860er Jahren entwickelte sich das Festspiel
zum neuen Volkstheater, das vom und für das Volk verwirklicht wurde und damit eine glaub-
hafte Alternative zum überholt und altmodisch empfundenen klassischen Theater darstellte.

462
Roy C. Cowen: Das deutsche Drama im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1988. S. 146. Nach Ansicht Cowens macht
seine starke Politisierung das Drama zu einem Festspiel (vgl. Cowen, S. 148).
463
Vgl. z. B. Martin Greif: Das erste Blatt zum Heldenkranz! Dramatische Scene als Festspiel zum 80jährigen Ge-
burtstag des Fürsten Bismarck. Wittenberg 1895 oder Paul Warncke: Festspiel zur Feier des 25. Jahrestages der
Gründung des Deutschen Reiches. Berlin 1896.
464
Peter von Matt: Die ästhetische Identität des Festspiels. In: Engler, Balz/Kreis, Georg (Hrsg.): Das Festspiel: For-
men, Funktionen, Perspektiven. Willisau 1988. S. 12-28. Hier S. 13.
465
Siehe Georg Finslers zeitgenössische Studie: Das Berner Festspiel und die Attische Tragödie. In: Neujahrs-Blatt
der Litterarischen Gesellschaft Bern. Bern 1891.
466
Vgl. Alida Assmann im Reallexikon der Literaturwissenschaft, Artikel „Feste“ S. 579.
Das Festspiel als nationalpolitische Textsorte 221

Karl Gutzkow sah die Möglichkeit, dass klassische Theater durch den nationalen Impuls des
Festspiels zu modernisieren:

Da würden sich große Stoffe in das Herz der Völker schreiben, nationale Gefühle würden
die Brust anschwellen, und großartige Entschlüsse auf der Ferse nachfolgen. Unser Leben
erhielte einen genialen Impuls. Nehmt drei, vier solcher Vereinigungen, im Frühling oder
Herbste, nach allen Himmelsgegenden, nur immer fern von den räucherigen, von Lampen-
qualm rußigen Theatern, wo euch so viel Lüge und Thorheit gespendet wird.467

Der durch die Unmittelbarkeit seines Aufführungskontextes erreichte Realitätsbezug des Fest-
spiels führe, so Gutzkow, nicht nur zur nationalen Erhöhung und patriotischen Erziehung des
Publikums, sondern auch zur politischen Aktion. Wie Keller schlägt auch er eine gemäßigte Pe-
riodizität vor, die sich entsprechend der Natur-Bühne auf jahreszeitliche also meteorologische
Eignung abstimmen soll.
In Deutschland waren neben den Festen zu Ehren großer Persönlichkeiten wie Schiller oder
Luther die Erinnerungsfeste an die Völkerschlacht von 1813 bedeutsam für die deutsche Nati-
onsbildung. Bei der Halbjahrhundertfeier 1863 wurde die Schlacht als integratives Element ze-
lebriert, bei dem die „Gesammtheit deutscher Nation“ unter Zurücknahme der „Besonderheit
der Stämme und der Stände“468 zusammen kämpfte und für seine Befreiung eintrat. Das einige
der deutschen Staaten auf Napoleons Seite kämpften wurde dabei geflissentlich ausgelassen.
Vielmehr wurden die Feiern dazu genutzt, um an den Sieg über Napoleon zu erinnern, das Be-
wusstsein für die Kraft der geeinten Nation zu fördern und damit mental die Reichseinigung
vorzubereiten. Ab 1870 wurden der Sieg über Frankreich und die Reichseinigung beliebtes Sujet
der deutschen Festspiele, die Textsorte erreichte einen ersten Höhepunkt. Allein für die Se-
danfeiern wurden mehr als 70 Festspiele verfasst.469 Das Festspiel von Paul Heyse behandelt
beispielsweise den Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges in Bezug auf die nationale Iden-
titätsfindung der neu angegliederten Länder (Kapitel 9.4).
In der Schweiz war und ist das wichtigste nationale Festspiel das Tellspiel, das im Rahmen
der seit dem Mittelalter bestehenden Fastnachtsumzüge aufgeführt wurde und das durch die
Erinnerung an die Gründung der Eidgenossenschaft eine national integrierende und Identität
stiftende Wirkung besaß. Die Tellspiele 1828 in Küsnacht am Rigi beispielsweise fanden unter
freiem Himmel und an historischem Ort statt, in der Nähe von der in Schillers Drama beschrie-

467
Karl Gutzkow: Theater. In: Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur. Stuttgart 1836. Bd. 1, S. 212.
468
Siegfried Hänle: Festworte gesprochen bei der Ansbacher Gedächtniß-Feier der Leipziger Völkerschlacht am 18.
October 1863. S. 4.
469
Vgl. Dietz-Rüdiger Moser: Patriotische und historische Festspiele im deutschsprachigen Raum. In: Engler,
Balz/Kreis, Georg (Hrsg.): Das Festspiel: Formen, Funktionen, Perspektiven. Willisau 1988. S. 50-72. Hier S. 59.
222 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

benen Hohlen Gasse, in der Tell Gessler mit seiner Armbrust erschoss. Bühnen- und Zuschau-
erraum bildeten durch die topographischen Gegebenheiten also eine Einheit, die die Vermen-
gung von Spiel und Realität erlaubte.
In Österreich orientierte sich der Gegenstand der Festspiele meist an dem monarchischen
System: Es wurden entweder Jubiläen von Herrscherpersönlichkeiten gefeiert, wie beispiels-
weise das Regierungsjubiläum Kaiser Franz I., oder militärische, systemaffirmative Ereignisse,
wie die Zweihundertjahrfeier der Türkenbefreiung 1883 oder die Radetzkyfeiern, zelebriert.
Friedrich Halms Festspiel Vor hundert Jahren aus dem Jahr 1859 setzt sich im Kontext der Schil-
lerfeiern mit dem österreichisch-preußischen Konflikt auseinander, indem es Schiller zur ein-
heitsstiftenden Kulturinstanz stilisiert (Kapitel 9.6).

In den folgenden Teilkapiteln wird gezeigt, wie insbesondere im Nebentext, den ausführlichen
Regieanweisungen und -kommentaren, der national induzierte Raum entfaltet wird.

9.4. Paul Heyses Der Friede (1871)

Sein Festspiel Der Friede470 verfasste Paul Heyse im Jahr 1871 für das Münchener Hof- und
Nationaltheater. Der zeitliche Kontext lässt eine Hymne auf den deutschen Sieg vermuten, doch
geht es Heyse eher um die Verlierer des Krieges, die Witwen und Waisen: „Der Reinertrag ist
den Hinterbliebenen der im Felde gefallenen Krieger bestimmt“ ist auf dem Titelblatt vermerkt.
Daher kreist die Handlung um die Opfer der preußischen Expansionspolitik, namentlich um El-
sass und Lothringen, die beiden erkämpften linksrheinischen Gebiete, die in dem Festspiel als
allegorische Figuren auftreten. An der Grenze werden sie von einer Gruppe Deutscher jeglichen
Alters und Berufs empfangen,471 die dort auf die erste Verkündung des Friedens wartet. Heyse
entwirft einen nationalen Raum spezifisch deutschen Charakters: Das Bühnenbild zeigt eine
„Bergschlucht, gegen den Hintergrund sanft ansteigend, die Höhen von Eichen bekrönt“. Der
Text zeichnet bereits zu Beginn eine negative Szenerie, die durch den an seine Großmutter ge-
richteten Bericht eines Knaben explizit beschrieben wird:

Der Mond geht unter,


Großmutter. Er bescheint ein stilles Land,
So schaurig todtenstill. Die Ströme dort

470
Paul Heyse: Der Friede. Ein Festspiel, für das Münchener Hof- und National-Theater gedichtet. Musik von Baron
von Verfall. München 1871. Im Folgenden als PH abgekürzt.
471
„Auf den Felsen im Hintergrund lagern Gruppen Schlafender, Männer und Frauen, darunter der Geistliche, der
Greis, der Bauer, der Handwerker, der Gelehrte, der Kaufmann, der Künstler, die barmherzige Schwester. Ganz
vorn zur Linken (vom Zuschauer aus) ruht eine Matrone, die junge Frau neben ihr, schlafend, der Knabe steht
und sieht nach links die Anhöhe hinauf“ (PH, S. 4).
Paul Heyses Der Friede (1871) 223

Gehen hoch mit Eis und wälzen dunkle Massen,


Zerbrochne Waffen, wüstes Trümmerwerk,
Vorbei an öden Dörfern, deren Giebel,
Vom Rauch geschwärzt, ein Rabenschwarm umkrächzt.
Kein Mensch, kein Hirte, der im Morgengrau´n
Die Heerden austreibt, kaum ein Hahnenschrei.
O es sieht aus, als wär´ die Sündflut dort
Hereingebrochen, hätte die Lebend´gen
Erstickt, die hohen Häuser abgedeckt
Und nacktes Elend nur zurückgelassen. (PH, S. 5)

Als Teichoskopie vermittelt, beschreibt der Text eine von der Apokalypse heimgesuchte Welt,
in der die zerstörte Kultur mit der Bedrohlichkeit der Natur korrespondiert. Dabei scheinen die
Übergänge zwischen beiden Bereichen fließend, das „Wälzen“ und „Hereinbrechen“ der
„Ströme“ changiert doppeldeutig zwischen seiner Bedeutung als Fluss (Rhein) und Flüchtlings-
menge. Durch den Vergleich mit einer hereingebrochenen Sintflut interpretiert der Text die
Verluste des Krieges im biblischen Sinne als Bestrafung der sündigen Menschen. Heyses
Schreibweise „Sündflut“, das auf dieses sog. Sündengericht hinweist, entspricht einer bereits
im 15. Jahrhundert begonnenen religiösen Umdeutung des Begriffs (vgl. DWB 20, Sp. 1169,
1173). Hier wirken jedoch die Fluten auf die zerstörte Landschaft nicht reinigend, im Gegenteil,
der Rhein, für die Deutschen nicht erst seit dem 19. Jahrhundert nationales Identifikationsob-
jekt, bringt in „dunkle[n] Massen“ die Trümmer des Krieges hervor. Das Bild spiegelt damit die
Zerstörung des Rheins als bis dahin natürliche Grenze zu Elsass und Lothringen.
Den Auftritt der beiden allegorischen Figuren Metz und Straßburg472 wird, so die Regiean-
weisung, durch näherkommende „kriegerische Musik, die […] in die Melodie der Wacht am
Rhein übergeht“ (PH, S. 14), angekündigt. Das Lied, das 1840 im Kontext der sog. Rheinkrise
von Max von Schneckenburger gedichtet und 1870 zu einer Art Nationalhymne wurde, eröffnet
einen antifranzösischen Bedeutungshorizont. Der darauffolgende Dialog zwischen den beiden
Frauengestalten und der Gruppe offenbart das ambivalente Verhältnis der rheinischen Grenz-
länder am Rhein untereinander und die Problematik ihrer nationalen Identifikation auf. Wäh-
rend die allegorisierte lothringische Stadt Metz eine Verbindung mit Deutschland gänzlich ab-
lehnt, äußert sich bei der Figur Straßburg die nationale Identität als „doppelte Loyalität“ (R.
Zeller, S. 461):

Mir ist das Herz noch mit sich selbst entzweit.


Aus meiner Jugend klingen deutsche Lieder
Im Ohr mir nach, die mir die Amme sang.

472
Dass Heyse nicht Elsass und Lothringen, sondern die beiden Städte allegorisierte mag daran gelegen haben,
dass nicht das ganze Gebiet an das Deutsche Reich ging. So verblieben die Départements Meuse und Vosges
(mit Ausnahme der Kantone Schirmeck und Saales), außerdem Teile des Départements Moselle sowie die Ar-
rondissements Briey und Belfort bei Frankreich.
224 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Der hehre Münster, der so traurig jetzt


Auf Schutt und Trümmer blickt, ein deutscher Meister,
Mein herrlicher Erwin hat ihn erbaut;
Und der vor hundert Jahren ihn erstieg,
Der deutsche Dichter-Heros, seines Namens
Unsterblichkeit eingrabend in den Stein,
Sollt´ ich nicht stolz mich ihm verwandt bekennen?
Und so will mich´s bedünken – zürne nicht:
Wir waren in der Fremde, liebe Schwester,
Wir sind nun heimgekehrt! (PH, S. 16)

Durch die Berufung auf kulturelle Identifikationsmerkmale wie Sprache, Architektur und Litera-
tur wird im Text nicht nur der Krieg verteidigt, sondern sich auch für die Zugehörigkeit Straß-
burgs zu Deutschland ausgesprochen. Das Straßburger Münster, dessen Bau unter der Leitung
des Architekten Erwin von Steinbach stand, vereint sowohl deutsche wie französische Einflüsse
und ist durch seine enorme Höhe auch vom deutschen Rheinufer aus sichtbar. Steinbach wurde
auch von Goethe verehrt, der bei seinem Besuch 1770 seinen Namen am südöstlichen Eck-
türmchen des Nordturms einritzte und der ihm die Schrift Von Deutscher Baukunst (1773) wid-
mete. Die Verwandtschaft zu Goethe, die die Figur Straßburg hier stolz benennt, begründet sie
mit den sprachlichen Einflüsse der Zeit als Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Na-
tion (925 bis 1648).
Höhepunkt des Stücks bildet die vierte und letzte Szene, die durch die Ankunft der Friedens-
göttin eingeleitet wird. Der Willkommensgruß des Geistlichen der Truppe verbindet die mytho-
logische und die christlich-religiöse Bedeutungsebene:

Der Geistliche
„[…] Frieden ist´s auf Erden und den Menschen
Ein Wohlgefall´n. Nun danket alle Gott!

(Er entblößt das Haupt. Einige im Vordergrunde knieen nieder. Die Morgenröthe, die schon
während der letzten Reden des Knaben immer glühender geworden, geht in hellen Tages-
glanz über. Auf der Höhe des Wegs erscheint der Zug, Kinder und bekränzte junge Paare
voran, dann von Landleuten, Bürgern und Kriegern getragen, auf einer bekränzten Bahre,
die Friedensgöttin. Vier Herolde in den Farben und mit den Fahnen des norddeutschen
Bundes, Bayerns, Württembergs und Badens folgen ihr. Eine bunte Menge schließt sich an.
Alle im Vordergrunde haben sich wieder erhoben und drängen sich um den Zug, der in der
Mitte der Bühne hält. Die Musik verstummt.) (PH, S. 19)

Der effektvoll inszenierte Auftritt der Friedensgöttin bekommt durch die biblische Ankündigung
des Geistlichen eine messianische Bedeutung, wobei die dargestellte Natur mit der Emphase
der Rede und der Dramatik der Situation korrespondiert. Das explizit genannte Gefolge des
norddeutschen Bundes sowie der süddeutschen Staaten verweisen auf eine Annäherung von
Paul Heyses Der Friede (1871) 225

Süd- und Norddeutschland, die die Gründung des Deutschen Bundes ankündigt und die Voraus-
setzung für die deutsche Einigung war. Die aufsteigende Sonne deutet an, dass die Natur kon-
gruent zu der Handlung gestaltet wird. In einem „melodramatisch[en]“ Akt bereinigt sie die
Kriegsschäden, wie einen Zauberstab bewegt sie „beschwörend“ (PH, S. 24) ihren Kranz. Die
weitere Regieanweisung beschreibt den Bühnenraum als symbolisch aufgeladenes Bild einer
Naturidylle:

(Das Thal verwandelt sich in einen reichen Garten, über den hinaus man in eine weite
Rheinlandschaft sieht. Der Straßburger Münster erhebt sich am Horizont, mit der deut-
schen Reichsfahne geschmückt. Ein Regenbogen über der Landschaft. Zur Rechten hat sich
ein hoher mit einer luftigen Palmenlaube überdachter Sitz erhoben, zu dem Felsenstufen
hinauffüren. Davor erhebt sich ein goldner Baum mit Blüthen und Früchten reich behan-
gen, der Stamm ist die Lanze, die der Friede eingepflanzt hat. Von allen Seiten füllt sich die
Bühne mit festlichen Gestalten. Kinder bestreuen die Stufen des hohen Sitzes mit Blumen.
Der Friede steigt hinauf, überblickt oben stehend das Gewühl.)

Chor.
Seht wie golden die Sonne sich hebt,
Aller Herzen mit Wonne belebt!
Glorreich wallet ins Land hinein
Der deutsche Rhein. (PH, S. 24)

Die national konnotierte Umgebung korrespondiert mit der Darstellung der Natur: Das sich am
Horizont erhebende Münster hat in dem reichen Garten und dem erhabenen Sitz seine Ent-
sprechung, die Reichsfahne schmückt wie der Regenbogen den Himmel. Der die Lanze des Frie-
dens darstellende Baumstamm ist die offensichtlichste Übereinstimmung der dargestellten Na-
tur- und Kulturbeziehung. Durch die magische Wiederherstellung des durch den Krieg
verwüsteten Landes in eine Art Paradies, imaginiert der Text die Tilgung der deutschen Kriegs-
schuld und entproblematisiert diese damit letztendlich. Indem sich vor dem Hintergrund einer
national konnotierten Landschaft die Schauspieler zu einer Festgemeinde versammeln, ver-
weist das Stück selbstreferentiell auf seinen Aufführungskontext. Die eingangs entfalteten
kriegskritischen Implikationen weichen zum Ende des Stücks der für die Festspiele dieser Zeit
typischen Glorifizierung des Krieges, womit Heyse der Rezeptionserwartung des Publikums ent-
spricht.
Der Schlusschor feiert in emphatischen Worten den Sieg über Frankreich und die damit er-
langte Gründung des deutschen Nationalstaates:

Nun brause, Sturm des Jubels, durch die Lande,


Nun Völkerlenz, ersehnter, brich herein!
Gefestet sind der Eintracht heil´ge Bande,
Und Freiheit soll des Bundes Sieges sein.
Eines Bluts
226 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Eines Muths.
Sieg- und ehrenreich,
Fest und treu,
Stark und frei
Hüten wir das Reich! (PH, S. 27)

Die Metaphorik der Schlussverse ist an eine revolutionäre Rhetorik angelehnt (Sturm, Völker-
lenz), die die staatlich beschlossene, also von Bismarck durchgeführte Einigung kompensato-
risch zu einer Tat des Volkes umwertet. Dementsprechend liegt der Tenor auch auf der, nach
der erreichten Einheit noch zu erlangenden Freiheit, die Teil der Forderungen der liberalen Na-
tionalbewegung war und die durch die sog. Einigung von oben nicht realisiert wurde.

9.5. Das Festspiel für die Eidgenössische Bundesfeier in Schwyz (1891)

Das 1891 aufgeführte Festspiel für die Eidgenössische Bundesfeier in Schwyz ist ein Beispiel für
die massenhafte Involvierung von Schauspielern auf der Bühne: In dem Schweizer Festspiel be-
läuft sich ihre Zahl auf 156 Personen, dazu kommt eine nicht benannte Anzahl an Statisten (Volk
und Soldaten) und die Darsteller der lebenden Bilder.
Das von einem Autorenkollektiv verfasste Festspiel,473 das keinen konkreten Titel nennt (da-
für dient der primäre Aufführungszweck), stellt eine Chronik der Schweiz dar. Es beginnt mit
seiner Besiedelung und erstreckt sich über fünf wichtige Ereignisse der eidgenössischen Ge-
schichte: die Gründung der Eidgenossenschaft 1291, die Siege über die Habsburger (Schlacht
von Morgarten 1315, Schlacht bei Sempach 1386), den Sieg über Burgund (Schlacht bei Murten
1476), den Eintritt der Kantone Freiburg und Solothurn in die Alte Eidgenossenschaft (Stanser
Verträge 1481) und die napoleonische Herrschaft (Schreckenstage von Nidwalden 1798). Die
historischen Stationen enden in der Gegenwart mit der Bundesfeier 1891, zu dessen Zweck der
Text verfasst wurde. Damit wird ein Zeichen der Kontinuität gesetzt, das die Gegenwart unmit-
telbar mit der Vergangenheit in Beziehung setzt und sie aus dieser begründet. Das Vorspiel, das
die Siedlungsgeschichte der drei Schweizer Stämme behandelt, deutet den Ursprung der
Schweiz mythologisch: 200 v. Chr. am Ufer des Vierwaldstättersees angekommen, treffen die
drei Gründungskantone von Uri, Schwyz und Unterwalden – entsprechend als Familien von Jä-
gern, Hirten und Fischern auftretend und damit durch ihren jeweiligen Beruf für ihre Region

473
Das Festspiel wird im Folgenden mit „EB“ abgekürzt. Auch wenn das Festspiel nicht auf die deutsche Nations-
gründung Bezug nimmt, ist es doch ein Beispiel dafür, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine
eigene Nationalliteratur in der Schweiz ausgebildet hat.
Die Verfasser waren Dominik Bommer, Johann Baptist Kälin, Alois Gyr und Johann Baptist Marlyn. Vgl. Merkis:
Und wieder lodern die Höhenfeuer: die schweizerische Bundesfeier als Hoch-zeit der nationalen Ideologie: 1.-
August-Artikel in der Parteipresse 1891-1935. Zürich 1995. S. 201.
Das Festspiel für die Eidgenössische Bundesfeier in Schwyz (1891) 227

prädestiniert – auf die Figur der Freiheit. Die durch „Posaunenklänge, Schläge auf Metall-
schilde“ angekündigte Göttin wird von vier allegorischen Figuren, Ordnung, Recht, Arbeit und
Genuss, begleitet. Sie übergibt ihre „Lieblingsstätte“ (EB, S. 4) als Ort der Freiheit und des Asyls
für alle Verfolgten den Siedlern, die zusätzlich von ihrem Priester die Beglaubigung für ihre
göttliche Auserwähltheit und die Legitimität für die Landbesiedlung erhalten: „[D]u kleines ar-
mes Völklein, / Du hast die schönste Heimat und Bestimmung, / Ein Götterliebling bist du!“ (EB,
S. 5). Beschlossen wird die Szene durch das Lied Die Schweiz mit ihren Reizen, das von Johann
Jakob Leuthy geschrieben und von Alberik Zwyssig, dem Komponisten der Schweizer National-
hymne, vertont wurde.474
Am Ende der dargestellten über zweitausendjährigen Geschichte der Schweiz steht als krö-
nender Abschluss die Schwyzer Bundesfeier 1891, die als Spiel im Spiel gefeiert wird. An dem
fiktionalisierten, zum Vorbild dienenden Festspiel nehmen neben den bisher aufgetretenen
Personen eine Vielzahl von allegorischen Figuren teil – unter anderem Mutter Helvetia, die
Berge, die Kantone und Städte der Schweiz. Der in der Gegenwart stattfindende Festakt wird
im Stück durch Kellers Gedicht An mein Vaterland mit der Musik von Wilhelm Baumgartner
eröffnet, an das sich ein Prolog anschließt. Damit wird eine Kontinuität von der dargestellten
Geschichte der Eidgenossenschaft bis hin zur Gegenwart und darüber hinaus auf die Zukunft
verweisend entfaltet:

Wohlauf, ein Jubelfest beginne!


Die Mutter kommt, Helvetia.
Was ihrem Mutterschooß entsprossen,
Vereine sich zu Segenswünschen:
Ihr Geister uns´rer großen Ahnen,
Du lebendes Geschlecht der Schweiz,
Ihr lieben Kinder, uns´re Zukunft,
heran zu froher Huldigung![…]

(Der Vorhang geht auf. Im Hintergrund der Bühne erscheint Mutter Helvetia, umgeben von
allegorischen Figuren, welche schweizerische Landestheile, Städte, Ströme, Zustände dar-
stellen. Sämmtliche Personen aus den bisherigen Theilen des Festspiels, – die hinge-
schwundenen Geschlechter des Schweizervolkes, – vereinigen sich um Helvetia zu einer
Massengruppe. Unter rauschender Musik zieht das Schweizervolk der Neuzeit – die 22 Kan-
tone – grüßend und huldigend im Festzug vor Helvetia und gruppiert sich um dieselbe. Ihm
folgt die schweizerische Jugend, den Festzug fortsetzend. Sie stellt in Gruppen die Zweige
des Nähr-, Lehr- und Wehrstandes dar: – Landwirthschaft, Gewerbe, Handel, Wissenschaft,
Kunst Wehrstand –, wird von allegorischen Figuren geführt und legt Kränze und Symbole
vor Helvetia nieder.) (EB, S. 57)

474
Gemeint ist der Schweizer Psalm mit der Anfangszeile „Trittst im Morgenrot daher“, dessen Text von Leonhard
Widmer stammt und 1841 erstmals aufgeführt wurde. Seit 1961 ist er Schweizer Nationalhymne.
228 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Indem die abschließende Szene schweizerische Geschichte, Gegenwart und Zukunft kon-
zentriert in einem gigantischen, bewegten Bühnenbild zeigt, hebt sie Kohärenz und Kontinuität
des Dargestellten hervor. Die Huldigung der allegorischen Figur Helvetia durch die sie umrin-
genden Gruppen verweist metaphorisch auf bereits bestehende und auch in Zukunft zu pfle-
gende patriotische Handlungen. Die Geste der Kranzniederlegung ist also sowohl kollektive Er-
innerungsleistung als auch Aufforderung zur Fortsetzung Schweizer Tradition. Das Bild wird
durch den Auftritt der wichtigsten Schweizer Naturdenkmäler komplettiert: „Die Repräsentan-
ten der Schweizerberge: – Mönch und Jungfrau; pilatus und Rigi; die beiden Mythen, – ziehen
von Gnomen umringt, in feierlichem Aufzug heran“ (EB, S. 59). Nach dem Schlusswort der Hel-
vetia, das das „ganze Volk“ refrainartig wiederholt („Mein heißgeliebtes Schweizerland!“, EB, S.
61), schließt das Festspiel mit der damaligen Nationalhymne Rufst du, mein Vaterland (1., 2.
und 6. Strophe), das 1811 von Johann Rudolf Wyß verfasst und zur Melodie der britischen Na-
tionalhymne gesungen wurde (EB, S. 61 f.).475 Hat die Popularität der vorherigen Lieder zum
Mitsingen des Publikums, also zu seiner direkten Teilnahme angeregt, ist spätestens die
Schweizer Nationalhymne am Schluss des Festspiels eine Aufforderung zum Einstimmen in den
Gesang. Er ermöglicht die unmittelbare Partizipation am Festspiel und seiner patriotischen
Handlung, so dass die Grenze zwischen Mitwirkenden und Zuschauenden verwischt wird.

9.6. Friedrich Halms Festspiel Vor hundert Jahren (1859)

Halms Festspieltext Vor hundert Jahren wurde am 9. und 10. November 1859 im Rahmen der
Schillerfeiern an den Hofbühnen und Theatern diverser deutscher und österreichischer Städte
inszeniert.476 Der Aufführungskontext deutet auf eine großdeutsche Ausrichtung hin; immerhin
schien sich das Festspiel nicht nur für ein österreichisches, sondern auch für ein deutsches Pub-
likum zu eignen. Der großdeutsche Impetus wird durch den Inhalt des Stückes bestätigt: Die
Handlung ist, das zeigt der Titel an, in das Geburtsjahr Schillers rückversetzt und nimmt dabei
Bezug auf den militärischen Konflikt zwischen Preußen und Österreich im Siebenjährigen Krieg.
Das Geschehen wird vorwiegend durch die beiden allegorischen Figuren der Germania und der
Poesie vermittelt. Im ersten Teil des Festspiels wird die Verzweiflung Germanias über den Krieg
zwischen ihren „Söhne[n], Brüder[n]“ ausgeführt, während die Poesie versucht, diese durch die
Prophezeiung eines Erlösers, nämlich Friedrich Schiller, zu trösten. Die Befriedung und Einigung
der Nation wird damit kulturell begründet. Im zweiten Teil geht der Text, vermittelt als zu-

475
1745 erstmals gesungen, bürgerte sich das Lied mit der Melodie Careys God save the King zuerst in Dänemark
und später dann auch in der Schweiz als Landeshymne.
476
Zur Einbettung in das Schillerfest vgl. Logge, S. 94.
Friedrich Halms Festspiel Vor hundert Jahren (1859) 229

kunftsweisende Prophezeiung der Poesie, auf die Lebensstationen Schillers und seine wichtigs-
ten Werke ein. Die biographischen Ausführungen, die von drei visuellen Präsentationen durch
Tableaus begleitet werden, sind dem Aufführungskontext entsprechend national interpretiert.
Die dem Dialog der beiden allegorischen Frauengestalten vorangestellte Szenenbeschrei-
bung entwirft musikalisch wie visuell einen spezifisch nationalen Raum, der der nationalen Sym-
bolhaftigkeit anderer Festspielen dieser Zeit entsprechend gestaltet ist. Die akustische Beglei-
tung durch Orchester oder Blaskapelle erhöht die Dramaturgie und Emotionalität der Handlung
und wird zur Einführung einer Person, für Schlüsselszenen oder als kontextspezifische Beglei-
tung für die Tableaus genutzt. Im Fall von Halms Festspiel eröffnet eine, „den siebenjährigen
Krieg andeutende, also in kriegerischen Motiven, insbesondere jenen des bekannten Dessauer-
Marsches sich ergehende“ (HW 8, S. 115) Ouvertüre das Stück. Die musikalische Einführung in
die Bedrohlichkeit eines bevorstehenden Krieges spezifiziert sich mit der Melodie des Des-
sauer-Marsches, der Anfang des 18. Jahrhunderts aus einem alten Volkslied entstand und
schnell Erfolg hatte. Sie offenbart dem kundigen Rezipienten den historischen Kontext des Sie-
benjährigen Krieges. Aber nicht nur akustisch bezieht sich der Text auf bekannte Muster der
kollektiven Nationalkultur, auch visuell funktionalisieren die das Bühnenbild betreffenden Re-
gieanweisungen die Natur zur nationalen Metapher: Die Bühne „zeigt eine im Hintergrunde
von hohen Felsenwänden abgeschlossene, auf den Seiten von uralten Eichen beschattete
Thalschlucht“. Während die Eichen spezifisch deutsch konnotiert sind, wird durch die Berge als
nationales Identifikationsmerkmal Österreichs und der Schweiz das Bild auf den gesamten
deutschsprachigen Raum erweitert. Zusammen symbolisiert die national charakterisierte Land-
schaft Kontinuität, Stärke und Stabilität. Indem das Bühnenbild am Anfang und am Schluss des
Stücks zum Handlungsobjekt wird, bildet es einen Rahmen: Als dramatischen Höhepunkt insze-
niert, brechen in der letzten Szene des Festspiels die „Felsen im Hintergrunde der Bühne […]
zusammen, jedoch so, daß sie Stufen zum Stuttgarter Standbilde des Dichters bilden, das von
einer idealen Landschaft umgeben, und von magischer Beleuchtung verklärt zwischen ihnen
sich erhebt“ (HW 8, S. 140). Der Zusammenbruch der Natur gibt der Kultur Raum zur Entfaltung.
Mit der Glorifizierung und Ehrung Schillers endet das Stück: Symbolisch bekränzen Germania
und Poesie sein Denkmal mit Eichenkranz und Lorbeerkranz. Die Poesie schließt, begleitet von
Arndts Lied Des Deutschen Vaterland, die Szene mit einem Appell an das deutsche Volk:

(Musik in der bekannten Melodie: „Wo ist des Deutschen Vaterland" leise anschwellend
und nach dem Fallen des Vorhanges rauschend fortgesetzt.)
Ermanne dich, du kommendes Geschlecht,
Und mach´ zur That, was mir der Geist verkündet;
Steh´ fest im Kampf für Deutschlands gutes Recht,
Bewahre, was sein Lied in dir entzündet,
Und wo´s ertönt, da flattre hin wie Rauch
Der Wahn, der sondernd Herz vom Herzen bannte,
Der jeden nach der Heimat Kirchthurm nannte!
Da trenne nichts mehr, einer Liebe Hauch
230 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Schwell´ jede Brust, werf´ alle Schranken nieder!


Da hall´ nur Eins in allen Herzen wieder:
Er war ein Deutscher und wir sind es auch!
Er war ein Deutscher und zu Deutschlands Ehre
Wie Er gebrauche jeder seine Kraft,
Und da Gemeinsinn nur das Große schafft,
So wirkt in Eintracht stets zu Deutschlands Ehre!
(Während das Orchester rauschend einfällt, sinkt der Vorhang.) (HW 8, S. 142)

Während der Beginn des Festspiels akustisch die Handlung in die fiktionale Gegenwart des Sie-
benjährigen Krieges einordnet, eröffnet das finale Lied von Arndt eine weitere nationale Be-
deutungsebene, die den Kontext zu den Befreiungskriegen herstellt. Mit der expliziten Anwei-
sung, das Lied über das Stück und damit seine fiktionalen Grenzen hinaus zu spielen, will Halm
die Botschaft seines Festspiels und die von Arndts Lied, die Einigung Deutschlands, möglichst
lange in den Köpfen des Publikums, auch außerhalb des Theater-Kontextes, bewahren. Das
Festspiel soll von der fiktionalen in die reale, alltägliche Welt übergehen, was seinen politischen
Gehalt und seine appellierende Intention verstärkt. Der Appell der Poesie bezieht daher die
aktuelle politische Situation mit ein: Der Verkopfung und Tatenlosigkeit der Nationalliberalen
während und nach 1848 soll Tatkraft, ja „Kampf“ weichen, der durch die kulturellen Vorausset-
zungen in Deutschland, allem voran durch Schiller, legitimiert ist. Erst die Überwindung des
Pluralismus durch Schaffung eines „Gemeinsinns“, also Identifikation mit der eigenen Nation,
stärkt – und das ist politisches Kalkül – die Position des Reichs im Ausland.
Der Dialog zwischen Germania und Poesie wird im zweiten Teil durch den Auftritt dreier
thematischer, von den beiden Frauen kommentierter Tableaus gegliedert: Das erste Tableau
zeigt den jungen Schiller, wie er trotz der drohenden Gefahr der polizeilichen Überwachung
den Karlsschülern heimlich aus seinem Drama Die Räuber vorliest. Die Rezeptionssituierung von
Schillers dramatischen, im Kontext des Sturm und Drang entstandenen Erstlingswerks sowie
der Hinweis auf die Zensur eröffnet eine biographische Bedeutungsebene politischen Charak-
ters. Damit interpretiert der Text Schiller als systemkritischen, quasi-revolutionären Dichter,
der durch sein Werk agitatorisch wirkt.
Das zweite Tableau, „rauschend mit den Motiven des Liedes: Frisch auf, Kameraden, auf´s
Pferd, auf´s Pferd“ (HW 8, S. 133) eingeleitet, stellt eine Szene aus Schillers Wallenstein dar. Das
kriegerische Motiv wird durch die Entfaltung der akustischen Dimension emotional transpor-
tiert:

Horch, hörst du, wie es brausend wogt und wallt!


Die Trommel wirbelt, die Trompete schallt:
Rings blinken Helme, blitzen Partisanen;
Ein tapferes Heer, gescharrt um Oestreichs Fahnen,
Und um des Feldherrn mächtige Gestalt,
Jauchzt, jubelt, das; der Himmel wiederhallt! (HW 8, S. 133)
Friedrich Halms Festspiel Vor hundert Jahren (1859) 231

Wallenstein empfängt, so zeigt es das Bild, „auf einer Erhöhung stehend, auf der die kaiserliche
Fahne ausgepflanzt ist, die stürmische Huldigung der jubelnd zudrängenden Menge“ (HW 8, S.
133). Der Ausschnitt ist Schillers Wallensteins Lager entlehnt, der die Volksnähe des großen
Feldherrn und seine Beliebtheit unter den Soldaten beschreibt. Durch seine Darstellung des
österreichisch-böhmischen Feldherrn erhob Schiller nach Aussage des Textes „neuen Tones
mächt´ge Lieder“ (HW 8, S. 132), so dass das historische Sujet einen Bezug zur Gegenwart er-
hält.
Eine Szene aus Wilhelm Tell, das Karl Duthke selbst als Festspiel bezeichnet,477 ist im dritten
Tableau dargestellt und wird wiederum musikalisch-akustisch durch „Musik, von Schweizer Me-
lodien ausgehend und mit Kuhhörnern und Herdenglocken begleitet“ (HW 8, S. 137). Das be-
zeichnete Motiv rekurriert auf eine Schlüsselszene im Tell (4. Aufzug, 2. Szene), in der Werner
von Attinghausen im Sterben liegend und von seinen Mitstreitern umgeben, die Einigung der
Kantone und die Unabhängigkeit der Schweiz in dem berühmten Satz postuliert: „Seid einig –
einig – einig!“. Die Gestik Attinghausens ist laut Regieanweisung noch im Sterben heroisch und
kündigt, mit Verweis auf die kommende Generation, eine neue Zeit an: Er „sitzt in einem Arm-
stuhl, die eine Hand auf dem Haupte des Knaben Tell´s, die andere warnend erhoben. Durch
die hohen Bogenfenster sehen die Alpen in vollem Abendglühen herein“ (HW 8, S. 137). Diese
Lesart bestätigt auch die die Szene kommentierenden Worte der allegorischen Figur der Poesie.
Mit der klischeehaften Versetzung in die Schweizer Alpenidylle und der Szenenauswahl, die die
nationale Einheit der Schweiz betrifft, zielt der Text auf ein harmonisches Ende:

Da fühlt er [Attinghausen, J. F.], eine neue Zeit sei da!


Und scheidend von des Tages goldnem Strahle
Mahnt er die Seinen, was da komme auch,
Ein Mann für Alle, nach der Väter Brauch,
Ein Wille, eine Kraft und ein Gedanken
Am Vaterland zu halten ohne Wanken!
Seid einig — einig! warnt sein letzter Hauch; (HW 8, S. 137)

Der effektvoll inszenierte Tod Attinghausens markiert gleichzeitig einen Neubeginn, dem durch
den Appell des Sterbenden erhöhte Bedeutung verliehen werden soll. Die Partizipation des Ein-
zelnen in und an der Gesellschaft, sein tatenmäßiges und geistiges Aufgehen in ihr benennt der
Text als historische Tradition und verbindet so die drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft miteinander. Die soziale und territoriale Einigung, die im letzten Tableau darge-
stellt wird, ist zentrale Aussage des Festspiels und verweist durch seinen Aufführungskontext
auf die deutsche Einigungsbewegung.

477
Karl Duthke: Schillers Dramen: Idealismus und Skepsis. Tübingen/Basel 1994. S. 279.
232 Festspiel und Festspielpoetik im 19. Jahrhundert

Das Festspielkonzept Kellers und seine fiktionale Realisierung im Grünen Heinrich (Tellfest) zeigt
zeigen eindrücklich, wie die nationale Festkultur als Akt der Vergemeinschaftung den Einzelnen
in die Gesellschaft einbindet, indem sie gemeinsame geschichtliche Erinnerungen imaginiert
und in die Gegenwart transponiert. Die Gemeinschaft tut dies im öffentlich zugänglichen Raum,
wobei die Landschaft national konnotiert ist.
Dementsprechend visualisieren die Bühnenanweisungen und Tableaus der von mir unter-
suchten Festspiele das nationale Sujet, indem sie die Natur zur nationalen Metapher funktio-
nalisieren, allegorische Figuren mit identitätsstiftender Bedeutung auftreten lassen oder be-
kannte Motive aus der Literatur und Musik zur Wiedererkennung und Identifizierung
inszenieren.
10.Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

Während die in den vorhergehenden Kapiteln besprochenen Texte Teil der eigentlichen Feste,
also unmittelbar in ihren Ablauf integriert waren oder werden sollten, behandeln die nachfol-
genden Unterkapitel Erzähltexte, die das Fest als Thema oder Motiv im Nachhinein und ohne
die spezifische Zweckgebundenheit behandeln. Im Roman und in der Erzählung dient das Fest
als nichtalltägliche Ausnahmesituation der Darstellung gesellschaftlichen Zusammenlebens,
politischen Engagements oder der Entfaltung einer Figur. Während die Erzählerinstanz in den
Gedichten und den Festspielen meist in das imaginierte Festkollektiv aufgeht und so eine un-
mittelbare Anschaulichkeit schafft, wird im Roman durch die zeitliche Entfernung, die zwischen
dem Festereignis und dem Zeitpunkt der Verfassung des Textes liegt, eine Distanz zum Gegen-
stand aufgebaut. Dieser zeitliche Abstand führt zu einer zweifachen Bedeutungskonstitution,
so wie in Wilhelm Raabes Roman Der Dräumling über das Schillerjubiläum 1859, der im Kontext
der deutschen Reichsgründung 1870/71 entstand: Indem im Dräumling im Lauf des Festes die
Abgründe einer kleinstädtischen Gemeinschaft offenbart werden, so dass das eigentliche Ziel
der Erhöhung sowie der Vergemeinschaftung verfehlt wird, verarbeitet der Autor seine Kritik
an den Verhältnissen nach 1870. Während bei Raabe die Festdarstellung problematisch gestal-
tet wird, da es die Kleinstädter statt zusammenzuführen spaltet, scheint bei Keller die Integra-
tionskraft des Festes im Grünen Heinrich noch zu funktionieren, indem es als spielerische Probe
für den Alltag an Bedeutung gewinnt. Obgleich der Protagonist in der fiktionalen Wirklichkeit
scheitert, gelingt ihm in der Ausnahmesituation des Festes die Integration in die Festgemein-
schaft. Indem das Fest über die Alltagswelt hinaus eine eigene Fiktionalität herstellt, hat es, so
Miriam Haller, „utopische[s] und auch revolutionäre[s] Potenzial“,478 das in Grillparzers Der
arme Spielmann entfaltet wird. In der im Vormärz entstandenen Erzählung wird der Fokus auf
die Rahmenerzählung gelegt, in der ein im Kontext der Julirevolution von 1830 dargestelltes
Volksfest soziale Gleichheit der Teilnehmer ermöglichen soll, was die Binnenhandlung jedoch
am Schicksal des Spielmanns konterkariert.
Die hier untersuchten Festdarstellungen in Erzähltexten drücken weder eine von der Litera-
tur angewandte „Problembewältigungsstrategie“ aus, wie es Matthias Löwe für Prosatexte des
späten 18. Jahrhunderts feststellt,479 noch spiegeln sie den „Lebens- und Schönheitspathos“
der von Ursula Kirchhoff untersuchten Romane um 1900 wider.480 Sie reflektieren vielmehr das

478
Miriam Haller: Das Fest der Zeichen: Schreibweisen des Festes im modernen Drama. Köln u. a. 2002. S. 8.
479
Matthias Löwe: Das erzählte Fest als literarische Problembewältigungsstrategie. Wieland, Heinse und Novalis
im Vergleich. In: Maurer, Michael (Hrsg.): Festkulturen im Vergleich: Inszenierungen des Religiösen und Politi-
schen. Köln u. a. 2010. S. 107-118. Hier S. 107 ff.
480
Ursula Kirchhoff: Die Darstellung des Festes im Roman um 1900: Ihre thematische und funktionale Bedeutung.
Münster 1969. S. 119.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018


J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_10
234 Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

Fest als nationalpolitische Inszenierung und erste massenwirksame Erscheinung der Gegen-
wart, indem es das feiernde Individuum im Kollektiv aufgehen bzw. daran scheitern lässt.

10.1. Der Roman zum Schillerfest: Raabes Dräumling

Wilhelm Raabes Roman Der Dräumling von 1870 handelt von einem fiktiven, aber an einen im
Ablauf zeittypischen Schillerfest des Jahres 1859, das in Paddenau, eine an einem Sumpf na-
mens Dräumling gelegene Kleinstadt, verortet ist. Im Zentrum der Handlung stehen zwei kont-
räre Parteien liberaler und konservativer Couleur, die um das Stattfinden bzw. das Verhindern
des Schillerfestes kämpfen. Trotz ihrer Gegner im philiströsen Kleinbürgertum setzt die schmale
Schicht der Paddenauer Intelligenzia, repräsentiert durch den Lehrer und Familienvater Fisch-
arth und dessen alten Studienfreund und Maler Haeseler, das Fest durch. Der politische Erfolg
ist mit der privaten Liebesgeschichte zwischen Rudolph Haeseler und der Dorfschönheit Wulf-
hilde Mühlenhoff verknüpft: Wulfhilde, Tochter des Geheimrats Mühlenhoff, der als pensio-
nierter Prinzenerzieher die konservative Obrigkeit repräsentiert und folgerichtig das Fest ab-
lehnt, entzieht sich durch ihre Teilnahme am Schillerfest dessen despotischem Regime. Statt
der vorgesehenen Verbindung mit Georg Knackstert, der den Typus eines gründerzeitlichen In-
dustriellen verkörpert, verlobt sie sich mit dem Maler Haeseler. Damit realisieren sich im
Dräumling die geistig-politischen Ideale der Nationalbewegung auf der Handlungsebene. Wul-
fhildes Selbstbefreiung ist Ausdruck von Schillers Freiheitsideals und steht symptomatisch für
den politischen Wechsel, der 1859 mit dem Beginn der Neuen Ära in realiter vollzogen wurde.
Am 15. Juni 1870, einem Monat nach Beginn der Arbeiten am Dräumling und mitten in der
Aufrüstung zum Deutsch-Französischen Krieg, unternahm Raabe zusammen mit seiner Frau
und Johann Georg Fischer, dem langjährigen Redner der Stuttgarter Schillerfeiern, eine Fahrt
über Ludwigsburg nach Marbach, um dort die Schillergedenkstätten zu besichtigen und für sei-
nen Roman zu recherchieren. Neben seiner Teilnahme an der Schillerfeier 1859 in Wolfenbüttel
diente außerdem ein Besuch der Stuttgarter Feier zum 62. Todestag Schillers im Mai 1867 als
persönliches Quellenstudium. Der im Tagebuch notierte Festverlauf der Wolfenbütteler Schil-
lerfeier nahm Raabe als unmittelbare Vorlage für seinen Roman, daneben lassen Figurencha-
raktere an reale Teilnehmer denken.481 Nach Fertigstellung des Dräumlings im Mai 1871, also
kurz nach der Reichseinigung, resümiert er:

Ich beendige ein neues Buch in einem Bande. Es führt den Titel: Der Dräumling – und der
Stoff ist dem Schillerfeier-Enthusiasmus des Jahres 1859 entnommen. Was die Leute dazu

481
Siehe die Ähnlichkeit sowohl Theodor Steinwegs, dem Organisator der Wolfenbütteler Schillerfeier, als auch
Johann Georg Fischers mit dem Rektor Fischarth (vgl. dazu die Ausführungen von Hans-Jürgen Meinerts in BA
10, S. 456 f.).
Der Roman zum Schillerfest: Raabes Dräumling 235

sagen werden, kann ich nicht sagen; denn das Werk ist im graden Gegensatz zu der jetzt
oft so widerlich hervortretenden Selbstverherrlichung des deutschen Philisterthums ge-
schrieben.482

Während Raabe die Stimmung bei den Schillerfeiern 1859 als „enthusiastisch“ beschreibt, kri-
tisiert er – im Gegensatz dazu – die Siegesstimmung nach dem Krieg 1871 als „Selbstverherrli-
chung“. Statt in diese einzustimmen, will er diese aufdecken, weshalb er den Roman als Humo-
reske, als „harmlose Posse aus der Kinderstube des Lebens“ (BA 10, S. 155) konzipiert: „Der
Dräumling wird ein schönes Buch; aber die schlechte Welt wird es wie gewöhnlich nicht glau-
ben wollen. Ich habe den Krieg benutzt, um einmal, wenigstens auf dem Papier, so lustig als
möglich zu sein.“483 Die Erzählung schwebt dabei zwischen wirklicher Sympathie für die natio-
nale Bewegung und Sarkasmus gegenüber der Vereinsmeierei und gerät somit in ein „Wert-
zwielicht“.484 Während das Schillerfestgedicht noch Raabes aufrichtigen Pathos für die natio-
nale Idee widerspiegelt, reflektiert er im 1870 verfassten Dräumling die nationale Emphase von
1859 ironisch. Raabe glossiert, so Peter Utz, „eine Bürgerlichkeit, die mit dem Blick zu ihrem
‚erhabenen‘ Schiller und mit dem Zitat seiner gehobenen Sprache nur Selbstbespiegelung be-
treibt“.485 Obgleich der Text nach Meinung Gerhard Plumpes eine „Persiflage kleinbürgerlichen
Schillerkultes“486 darstellt, trägt er jedoch im Kern das politische Bekenntnis eines liberalen Na-
tionalisten. An Wilhelm Jensen schreibt Raabe 1884:

Was Du lieber Freund über den gegenwärtigen übeln Geruch im deutschen Volke sagst,
muß Dir freilich aus mißmuthig-betrübter Seele kommen. Ich für mein Theil habe Dich
schon Anno 1870 gewarnt, unsere Nation nicht zu sehr zu loben. Wenn mir etwas in mei-
nem Autorleben eine Genugthuung gewähren könnte, so wäre es dieses, daß ich damals
über all´ dem Augenblickspathos gelassen den Dräumling habe schreiben können. Wir sind
am Feiertag wahrlich nicht besser als andere Völker und am Werktag wahrhaftig auch
nicht.487

Der auf den Sieg über Frankreich und die Reichseinigung 1870/71 folgende „Augenblickpathos“
reflektiert der Dräumling in der Darstellung gründerzeitlichen Materialismus und einer ganz

482
Brief an seinen Bruder vom 20. April 1871. In BWR, S. 109.
483
An Wilhelm und Marie Jensen am 1. Februar 1871. BAE 3, S. 130.
484
Pongs, Hermann: Wilhelm Raabe. Leben und Werk. Heidelberg 1958. S. 319.
485
Peter Utz: Die ausgehöhlte Gasse. Stationen der Wirkungsgeschichte von Schillers „Wilhelm Tell“. Königsstein
1984. S. 5.
486
Plumpe, Gerhard: An der Grenze des Realismus. Eine Anmerkung zu Adalberts Stifters „Nachkommenschaften“
und Wilhelm Raabes „Der Dräumling“. In: JRG 35 (1994). S. 70-84. Hier S. 70.
487
Silvester 1884 an Wilhelm Jensen. BAE 3, S. 374 f.
236 Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

ungeistigen Stammtischstimmung.488 Ohne in die nach Raabes Meinung falsche Festtagsstim-


mung der damaligen Zeit abzuflachen, bekennt er sich zu den Zielen und Idealen der nationalen
Bewegung.
Der Beginn des Romans verortet die Szenerie in heidnisch-mythische Zusammenhänge und
deutet damit die Schillereuphorie als Kulthandlung, als Verehrung eines Ersatzgottes. Der Titel
ist metaphorisch zu lesen: Der Dräumling ist ein Sumpf, in dem die Figuren wortwörtlich „sehr
tief darin“ sitzen.489 Die etymologische Bedeutung von „Sumpf“ als „schwammig, porös“ cha-
rakterisiert Raabes Auffassung über die durchlässige politische Lage in Deutschland. Die Erwei-
terung der Begriffsbedeutung auf menschliche Charaktereigenschaften, nämlich eines „philis-
tern, stumpfsinnigen Menschen“ (DWB 20, Sp. 1085), erfasst Raabes Intention die „oft so
widerlich hervortretend[e] Selbstverherrlichung des deutschen Philisterthums“ darstellen zu
wollen.490 Indem er den Handlungsort, das Städtchen Paddenau, buchstäblich in den Sumpf
setzt, äußert er unmissverständlich seine Meinung über den schlechten Zustand der deutschen
Nation. „So zeigt Raabe den Sumpf des Philisteriums, in dem alle stecken, als die beherrschende
Realität, in der sich das Leben vollzieht“ (Oppermann, S. 94).
Trotz anfänglicher Widerstände seitens des kleinstädtischen Bürgertums wird die Schiller-
feier in Paddenau – auch dank des hohen Alkoholkonsums – zu einem vollen Erfolg: Die Schil-
lerfeier sei, so heißt es im Roman ironisch, eine „grassierend[e] Epidemie“ (BA 10, S. 111) und
ein „Taumel“, der einer „verständigen, auf den politischen Anstand haltenden Nation“ (S. 110)
kaum würdig sei. Er lasse die eigenen Gefühle „in der Masse epidemisch werden und uns also
in der Masse untergehen lassen“ (S. 111): „Einer will doch auch dabeisein, wenn die meisten
dabei sind“ (S. 66), denn „[w]enn einer schreit, pflegen sehr viele mitzuschreien“ (S. 119). Damit
beschreibt der Text das Schillerjubiläum als Massenphänomen, der einen rauschhaften Enthu-
siasmus auslöst, der im extremen Gegensatz zum philiströsen Sumpf steht.

488
Auch im Vorwort zur zweiten Auflage des Pechlin beklagt Raabe das falsche Pathos der Gründerzeit, für die er
feststellt: „Die Wunden der Helden waren noch nicht verharscht, die Tränen der Kinder, der Mütter, der Gat-
tinnen, der Bräute und Schwestern noch nicht getrocknet, die Gräber der Gefallenen noch nicht übergrünt:
aber in Deutschland ging´s schon – so früh nach dem furchtbaren Kriege und schweren Siege – recht wunderlich
her. Wie während oder nach einer großen Feuersbrunst in der Gasse ein Sirupsfaß platzt, und der Pöbel und
die Buben anfangen zu lecken; so war im deutschen Volke der Geldsack aufgegangen, und die Taler rollten auch
in den Gossen, und nur zu viele Hände griffen auch dort danach. Es hatte fast den Anschein, als sollte dieses
der größte Gewinn sein, den das geeinigte Vaterland aus seinem großen Erfolge in der Weltgeschichte hervor-
holen könnte!“ (BA 10, S. 205).
489
BA, S. 101. Siehe auch Raabes Gedicht Nun stecke ich fest in dem Sumpfe hier (1860). In: BA 20, S. 345. Im
Kontext des Deutsch-Dänischen Krieg schreibt Raabe an seinen Schwager: „Die Menschheit ist doch im Grunde
nur ein großer Sumpf und wo man hinein schlägt, da merckt man [wie] der Dreck aufspritzt.“ Am 19.12.1863.
In: Webster, William (Hrsg.) Wilhelm Raabe. Briefe 1842-1870. Berlin 2004. S. 216.
490
BWR, S. 109. Vgl. auch Raabes Bemerkung in einem Brief an Paul Heyse vom 2. März 1875: „Ich habe den alten
romantischen Schlachtruf: ‚Krieg den Philistern!’ sehr ernst genommen“ (BAE 2, S. 183). Vgl. dazu den Aufsatz
von Arendt.
Der Roman zum Schillerfest: Raabes Dräumling 237

Im national-religiösen Pathos resümiert der naive Schulmeister und Organisator der Schil-
lerfeier Fischarth über das massenwirksame Jubiläum:

[W]ir feiern heute ein Fest, wie keine Nation der Erde es in gleicher Weise zu feiern im-
stande wäre. Tausende, Hunderttausende, ja Millionen unserer Mitbürger strecken ju-
belnd ihre Hände dar […]. Ein ganzes Volk stürzt sich heute in die lichte Woge der Schön-
heit, ein ganzes, großes, edles Volk besinnt sich heute auf das, was es ist! Es sieht sich mit
glanzvollen Auge um im Erdensaal, und da es seinen Stuhl im Rate von andern besetzt fin-
det, da es seinen Platz am Tische vergeblich sucht, da hebt es langsam die Hand und legt
sie auf die Stirn – es besinnt sich und dann lächelt es. – Ein Erstaunen, welches zum Schre-
cken wird, geht durch den Saal: […] Die Nationen am Tische der Menschheit rücken verle-
gen flüsternd zusammen – es wird Platz und wir werden Platz nehmen […]! Ich sage Ihnen,
wir werden uns setzen, und wir haben einen gewaltigen Hunger nach dem Fasten von so
manchem Jahrhundert. (BA 10, S. 133 f.)

Die Szene greift die symbolische Handlungsebene des Romans auf: Mit dem Schillerfest reali-
siert das deutsche Volk die Konstituierung zur Nation, indem es sich seiner eigenen nationalen
Identität bewusst wird. Mit der Metapher entwirft der Text ein häuslich-familiäres Bild, das zum
einen inklusionistisch ein Gruppengefühl hervorruft, zum anderen einen exklusionistischen Na-
tionenbegriff induziert. Das Schillerfest erhebt die deutsche Nation vor alle anderen: „ein so
einzig ideales Fest feiern [wir heute], daß alle Völker des Erdballs mit Staunen von fern auf uns
schauen“ (BA 10, S. 174). Durch die Abgrenzung zum Fremden will Raabe also nationale Einheit
herstellen. Daher rät er dem Herausgeber einer regionalen Zeitung, Eduard Hallberger, sein
Blatt zu einem „wircklichen nationalen Familienblatt für ganz Deutschland“ zu machen. Hall-
berger solle Raabe zufolge, um „das ganze Deutschland zu gewinnen und zu vertreten […], [sich]
nach einem für das ganze Deutschland gültigen Gegensatz [umsehen], und das kann nur das
Ausland sein.“ In Anbetracht der Auflösung des Deutschen Bundes 1866 würde daher Raabe

die Begriffe preußisch und östreichisch, wo es irgend möglich, ganz in den Hintergrund tre-
ten lassen, dagegen aber überall in Parallelen und Antithesen das Nationalgefühl gegen das
Ausland so scharf als möglich hervortreten lassen; freilich nicht in der Art der früheren
Franzosenfresserei, sondern in einer würdigen Hervorhebung unseres eigenen Werthes
auf jedem Felde.491
Bei Aussagen wie diese ist es nicht verwunderlich, das Raabe von den Nationalsozialisten ver-
einnahmt wurde. Seine exklusionistische Position ist aber nicht nationalistisch, sondern natio-
nal und muss wie ähnliche Aussagen anderer Autoren der Zeit im Kontext betrachtet werden –
alles andere wäre Anachronismus. Überdies will Raabe die Abgrenzung nach außen weniger
negativ durch Ablehnung, sondern vielmehr positiv durch nationales Selbstvertrauen gefördert

491
An Eduard Hallberger für seine Zeitschrift Über Land und Meer im April 1867. BAE 2, S. 120 f.
238 Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

wissen. Dafür muss er, so kurz nach Auflösung des Deutschen Bundes, den innerdeutschen Du-
alismus zugunsten exklusionistischer Argumente überspielen.

In der Schweiz war Schiller als Verfasser des Tells, des eidgenössischen Nationalmythos, schon
zu Lebzeiten eine nationale Integrationsfigur. In der ersten Fassung seines Grünen Heinrich von
1855/56 behandelt Keller infolgedessen das öffentliche Fest, an dem Schillers Wilhelm Tell auf-
geführt wird, als Volksfest mit gemeinschaftsstiftender Dimension.

10.2. Fest und Nation im Grünen Heinrich

Gottfried Keller entfaltet im Grünen Heinrich drei öffentliche Festsituationen, die das literari-
sche Äquivalent zu seiner Festpoetik im Mythensteinaufsatz darstellen. Während das Nürnber-
ger Künstlerfest als Umzug in Deutschland konzipiert und damit deutschnational konnotiert ist,
reflektieren das in Heinrichs Jugendzeit stattfindende Tellfest und das Schützenfest, das er auf
seiner Heimreise besucht, einen spezifisch schweizerischen Nationalpatriotismus.492 Das Tell-
fest, das als Festspiel inszeniert wird, soll als erstes Beispiel für Kellers Konzept von Fest und
Nation untersucht werden.
Der Text entfaltet durch die Darstellung des im gesamten Raum des Dorfes stattfindenden
Schauspiels eine Idylle schweizerischer Prägung. Der Roman reflektiert die Rezeption Schillers
als Freiheitsdichter und die politischen Implikationen des Tells, die dem nationalen Selbstver-
ständnis der Schweiz als demokratische Republik entsprachen: Weil in Schillers Drama „auf eine
wunderbar richtige Weise die schweizerische Gesinnung“ ausgedrückt wird und es daher „den
Leuten sehr geläufig“ (HKKA 11, S. 410) ist, sei es als Vorlage für ein schweizerisches Volksfest,
einer „vaterländischen Aufführun[g]“ (HKKA 11, S. 409) prädestiniert. Indem der Text zwischen
dem Tell-Drama und der Mentalität seines Heimatlandes einen kausalen Zusammenhang her-
stellt, etabliert Keller Schweizer Herkunft und Identität, die im Fest unter aktiver Teilnahme des
Volkes szenisch ausgelebt werden soll (vgl. Utz, S. 82). Die Tellrezeption ist somit eine „bürger-
liche Vorübung für´s bürgerliche Leben“ (Utz, S. 80), der Heinrichs Vater und seine Freunde

492
In der zweiten Fassung des Grünen Heinrich bringt Keller Tellfest und Künstlerfest durch die Titelgebung explizit
miteinander in Verbindung und verweist gleichzeitig auf die historischen Vorgänger des Festspiels („Das Fast-
nachtsspiel“; „Wiederum Fasnacht“). In der ersten Fassung kommt diese Verbindung ebenfalls zur Sprache:
„Heinrich […] versank in tiefes Sinnen. Die vergangene Zeit kam über ihn, und indem er an die bemalte Decke
des Saales emporsah, erinnerte er sich jener Fastnacht, wo er unter dem freien Himmel der Heimat, auf luftigen
Bergen, unter Vermummten sich umgetrieben oder neben der toten Anna durch den Wald geritten“ (HKKA 12,
S. 168).
Fest und Nation im Grünen Heinrich 239

nachkommen, indem sie vor allem die geschichtlichen Werke Schillers „ganz praktisch nach-
fühlten“ (HKKA 11, S. 77) und selbst auf die Bühne brachten.493 Der Grüne Heinrich präsentiert
Schiller als kulturelle Kontinuität und Modell für eine literarische Tradition im deutschsprachi-
gen Raum (vgl. auch Kellers Schillerprolog).
Die im Roman inszenierte, dörflich verortete Tellfeier dient, nach dem Vorbild der von Keller
im Mythensteinaufsatz beschriebenen Enthüllungszeremonie des Schillerdenkmals, der Verge-
wisserung und Verherrlichung der eigenen Historie. Dementsprechend soll „nur vorgeführt
werden, was wirklich geschichtlich ist“ (HKKA 11, S. 410). In der Darstellung des Tellfestes kor-
relieren zwei konträre Bereiche: Wie auf der Brücke der nationalen Identität in Heinrichs Traum
(vgl. Kap. 3.1.1.) vermengen sich die Fiktion des Festspiels und die Wirklichkeit des Alltags mit-
einander:

Denn dies war das Schönste bei dem Feste, daß man sich nicht an die theatralische Ein-
schränkung hielt […], sondern sich frei herum bewegte und wie aus der Wirklichkeit heraus
und wie von selbst an den Orten zusammentraf, wo die Handlung vor sich ging. Hundert
kleine Schauspiele entstanden dazwischen und überall gab es was zu sehen und zu lachen,
während doch bei den wichtigen Vorgängen die ganze Menge andächtig und gesammelt
zusammentraf. (HKKA 11, S. 417)

Das Festspiel gerät zum Kumulationspunkt von Wirklichkeit und Fiktion,494 so dass es ganz na-
türlich in die alltägliche Lebenswelt integriert wird. Der Wechsel vom Alltag zur fiktionalisierten
Festivität scheint mühelos: „Die Leute hatten nur ihre altherkömmliche Sonntagstracht anzu-
ziehen gebraucht, mit Ausschluß aller eingedrungenen Neuheiten und Hinzufügung einiger
Prachtstücke ihrer Aeltern oder Großältern, um ganz festlich und malerisch auszusehen“ (HKKA
11, S. 414 f.). Indem der Nationalmythos vom Volk spielerisch nachvollzogen wird, also nach

493
„Wenn sie auch Schiller auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten
sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch
seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstle-
rische Rechenschaft, die der große Schriftsteller sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie hatten die
größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches aufzufinden, das sie so befriedigt hätte. Seine
gleichmäßige Glut und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes, be-
scheidenes Treiben als für das Wesen mancher Schillerverehrer der vornehmen heutigen Welt. Aber einfach
und durchaus praktisch, wie sie waren, fanden sie nicht volles Genügen an oder dramatischen Lektüre im Schlaf-
rock; sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen, und weil von
einem stehenden Theater in den damaligen Schweizerstädten nicht die Rede war, so entschlossen sie sich,
wiederum angefeuert von Lee, kurz und spielten selbst Komödie, so gut sie konnten. […] Wie sie älter wurden,
ließen sie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber sie behielten den Sinn für das Erbauliche in jeder Beziehung
getreulich bei“ (HKKA 11, S. 77).
494
Nicht nur in dem im Roman dargestellten Festspiel, auch im klassischen Schauspiel werden Fiktionalität und
Faktizität miteinander vermengt. Auch hier findet ein Austausch „zwischen den vier wirklichen und den gemal-
ten Wänden“ (also dem Bühnenbild) statt, der aus der Sicht des Kindes Heinrich nicht mehr zu unterscheiden
ist: „Die Schauspieler […] führten ein doppeltes Leben, wovon das eine ein Traum sein mochte; aber ich wurde
nicht klug daraus, welches davon der Traum, und welches für sie die Wirklichkeit war“ (HKKA 11, S. 157).
240 Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

Hartmut Laubhütte wie selbstverständlich „gespielt[e] und gelebt[e] Realität“495 ineinander-


greifen, wird die mythisch verklärte Vergangenheit in die Gegenwart transponiert – das Fest
wird zum „Kontinuitätserlebnis“ (Laufhütte, S. 156). Im „festliche[n] Hin- und Herwogen der
kostümirten Menge und der Zuschauermasse“ (HKKA 11, S. 411) gehen Wirklichkeit und Spiel
ineinander über, Vergangenheit und Gegenwart werden spielerisch miteinander versöhnt. Das
Volk ist – seiner Rolle in der politischen Realität der Republik entsprechend – gleichzeitig Zu-
schauer und Schauspieler, Agens und Patiens. Auch Heinrich gelingt es zumindest im Spiel,
seine ihm zugewiesene Rolle auszufüllen und integrativer Teil des Ganzen zu werden. Nur in
der Fiktionalität des Festes ist er „zu einem Erlebnis der Kontinuität von Geschichte und Gegen-
wart, Einzelnem und Gemeinschaft imstande, die in genauem Gegensatz steht zu seinen bishe-
rigen Auffassungen und Seinsweisen“ (Laufhütte, S. 154).
Die Vermischung von (Schau-)Spiel und Wirklichkeit manifestiert sich am deutlichsten in der
Figur des den Tell darstellenden Wirtes, der sich in seiner Rolle selbst vergisst und „wirklich“ als
Tell handelt: „Die Bauern ermahnte er, sich zeitig wieder einzufinden, um seinen Thaten zuzu-
sehen, uns Rittersleute aber grüßte er kalt und stolz und er schien uns auf unseren Pferden für
wirkliches Tyrannengesindel anzusehen, so sehr war er in seine Würde vertieft“ (HKKA 11, S.
419). Die identifikatorische Wirkung des Tell wird durch die Vermischung von Fiktion und Rea-
lität hervorgerufen. Aber ausgerechnet der Wirt, der am Anfang des Spiels heldenhaft den zoll-
freien Durchgang zum Ort des Geschehens ermöglicht, wird in einen Streit mit einem „reichen
Holzhändler“ gründerzeitliche Profils verwickelt. Die Auseinandersetzung, in der wegen des
Baus einer Straße unterschiedliche ökonomische Einzelinteressen aufeinanderprallen, droht
Heinrichs Festidyll zu gefährden:

Die Unterredung hatte einen peinlichen Eindruck auf mich gemacht; besonders am Wirth
hatte mich dies unverholene Verfechten des eigenen Vortheiles, an diesem Tage und in
solchem Gewande gekränkt; diese Privatansprüche an ein öffentliches Werk, von vorleuch-
tenden Männern mit Heftigkeit unter sich behauptet, das Hervorkehren des persönlichen
Verdienstes und Ansehens widersprachen durchaus dem Bilde, welches von dem unpartei-
ischen und unberührten Wesen des Staates in mir war und das ich mir auch von den be-
rühmten Volksmännern gemacht hatte. (HKKA 11, S. 435)

Die Szene zeigt, wie Heinrich Prämissen des Festes auf die Alltagswelt ausweitet und damit
scheitert. Während in der Festhandlung wirklichkeitsweltliche Momente harmonisch aufgehen
(s. o.), zeigt sich am Rande der Veranstaltung wie Fest und Alltag, Öffentliches und Privates
miteinander kollidieren.496 Dies ist vor allem der Erzählperspektive geschuldet: Heinrich ver-
wechselt Spiel und Wirklichkeit miteinander und projiziert den Heroismus der Tell-Rolle auf den

495
Hartmut Laufhütte: Wirklichkeit und Kunst in Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“. Bonn 1969. S. 156.
496
Kellers Seitenhieb auf den gründerzeitlichen Kapitalismus, der diametral zum idealisierten Festwesen erscheint,
ist auch in er in einem Brief an Ludmilla Assing zu finden: „Die Kehrseite von alledem [den Aufschwung des
Fest und Nation im Grünen Heinrich 241

Wirt selbst. Deshalb nimmt er die vom Wirt gestellten „Privatansprüche an ein öffentliches
Werk“ auch persönlich. Der durchaus ironisch gemeinte Bruch der Festillusion wird allein und
ausgerechnet von Heinrich empfunden – schließlich sucht er durch das Tellspiel seinen eigenen
Vorteil zu verschaffen, nämlich seine Jugendliebe Anna zu verführen. Eine andere Perspektive
nimmt der Text in Gestalt des Statthalters ein, der in dem Streit als Schlichter auftritt. Der Statt-
halter trennt individuelles und öffentliches Interesse nicht voneinander, sondern benennt das
eine voraussetzend für das andere: „Sodann merkt euch für eure künftige Tage, wer seinen
Vortheil nicht mit unverholener Hand zu erringen und zu wahren versteht, der wird auch nie
im Stande sein, seinem Nächsten aus freier That einen Vortheil zu verschaffen!“ (HKKA 11, S.
436). Der Statthalter selbst hat indes seine Eigeninteressen zugunsten seines Amtes und zum
Dienste des Gemeinwohles aufgegeben. Das Streitgespräch eröffnet eine implizite Kritik Kellers
am Egoismus der modernen bürgerlichen Gesellschaft und verweist auf den Konstruktionscha-
rakter des Festes, das in der realen Welt keinen Bestand hat. In diesem Sinne kommt Heinrich
im Anschluss an das Streitgespräch zu der Erkenntnis, dass „für alles dies rüstige Volk die Frei-
heit erst ein Gut war, wenn es sich seines Brotes versichert hatte, und ich fühlte vor den langen,
nun leeren Tischreihen, daß selbst dieses Fest bei hungrigem Magen und leerem Beutel ein
sehr trübseliges gewesen wäre“ (HKKA 11, S. 441). Die im Fest realisierte Selbstinszenierung
des Volkes ist demnach exklusiv; wer als Spiegel des Ganzen wirken will, muss sich erst selbst
als vollwertiges, erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft bewiesen haben.
Doch Heinrichs Teilnahme am Tellfest schlägt als Probe für die Konsolidierung eines bürger-
lichen Lebens fehl, seine nur im Spiel erreichte Annäherung an Anna missglückt außerhalb der
Festsituation. Am Ende des Grünen Heinrichs bietet sich dem Antihelden für die „bürgerliche
Vorübung für´s bürgerliche Leben“ (Utz, S. 80) eine letzte Möglichkeit. Bei seiner Rückkehr in
die Schweiz, „gleich beim Eintritt in´s Land“, stößt er auf das „große eidgenössische Schützen-
fest“ (HKKA 12, S. 453). Es fällt zeitlich mit dem 400-jährigen Jubiläum der Freiheitsschlacht bei
St. Jakob an der Birs zusammen497 und vereinigt daher in besonderem Maße Gegenwart und
Geschichte im patriotischen Fest: „[M]it dem Mittage räumte die geschichtliche Feier der Ver-
gangenheit der treibenden Gegenwart den Platz ein“. Die beiden ineinander übergehenden
Feste werden zeitlich „mitten in dem Kampfe“ verortet, welcher „mit dem Umwandlungspro-
cesse eines Jahrhunderte alten Staatenbundes in einen Bundesstaat abschloß und ein durchaus
denkwürdiger, in sich selbst bedingter organischer Proceß war“ (HKKA 12, S. 454 f.). Damit wird

öffentlichen Festwesens, J. F.] ist, daß die Schweizer mehr als je, und so gut wie überall, nach Geld und Gewinn
jagen; es ist, als ob sie alle Beschaulichkeit in jenen öffentlichen Festtagen konzentriert hätten, um nachher
desto prosaisch ungestörter dem Gewerb und Gewinn und Trödel nachzuhängen“ (KB 2, S. 44).
497
In der Tat wurden beide Feste im Sommer 1844 in Basel gefeiert. So berichten die Blätter für literarische Un-
terhaltung: „Bekanntlich traf das Freischießen, das im Monat Juli dieses Jahres in Basel stattfand und jedes
frühere an Größe und Reichthum überstieg, mit der vierhundertjährigen Feier der Schlacht bei St.-Jakob an der
Birs zusammen“. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 255 (11.08.1844). S. 1019.
242 Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

das Schützenfest zum „politische[n] Rendez-vous des Volkslebens […] in einer gährenden Um-
wandlungszeit“ (S. 453). Die Politisierung der Feier bezieht sich auf die Auseinandersetzung
zwischen Liberalen und ultrakonservativen Jesuiten, die

einen kräftigen und höchst produktiven Haß und Groll [erregten], welcher auf dem Fest zu
Basel dermaßen gewaltig rauschte, daß davon die Rede war, in corpore aufzubrechen und
in den Festkleidern, den Festwein im Blute hinzuziehen, um den Jesuiten das Loch zu ver-
stopfen und ihre verrückte Theokratie zu zerstören. Dies blieb zwar nur eine Rede, doch
wurde der Keim gelegt zu jener seltsamen Erscheinung der Freischaarenzüge, wo seßhafte
wohlgestellte Leute […] sich zusammenthaten, […] und gutbewaffnet auszogen, um in eine
benachbarte Souveränetät einzubrechen und die dortige gleichgesinnte Minderheit mit
Gewalt zur Mehrheit zu machen. (HKKA 12, S. 459)

Die kausale Verbindung, die der Text zwischen Schützenfest und den Freischarenzügen 1844
und 1845 herstellt, lässt den Festakt zur politischen Versammlung und zum Ausgangspunkt ge-
samtschweizerischer Entwicklungen werden, die für die spätere politische Konstitution der
Schweiz essentiell waren. Der wirkungsvolle Beitrag des Bürgertums an diesen Veränderungen
wird im Text bereits für das Schützenfest belegt: „Dies war kein blindes Knattern wie von einem
Regiment Soldaten, sondern zu jedem Schusse gehörte ein wohlzielender Mann mit hellen Au-
gen, der in einem guten Rocke steckte, seiner Glieder mächtig war und wußte was er wollte.“
(HKKA 12, S. 453). Die beiden kollektivierenden Feste, die im Jahr 1844 in Basel am Dreiländer-
eck gefeiert wurden, haben nicht nur nationale Integrationswirkung, sondern auch grenzüber-
schreitende Reichweite: Sie werden nicht nur von „hunderttausend“ (S. 453) Schweizer Zu-
schauern, sondern auch von Deutschen und Franzosen besucht.498
Für Heinrich wird das Schützenfest zum persönlichen Initiationserlebnis: Sich in den drei
Festtagen zum passablen Schützen ausbildend, will er nun endlich, „das edle Wild der Mensch-
heit erjagen […] helfen“ und sich „als der wiederspiegelnde Theil vom Ganzen zu diesem
Kampfe“ (S. 460) rüsten. Damit scheinen, so Kai Kauffmann, „seine Träume von der eigenen
Aufnahme in die geschichtliche Gemeinschaft des Volkes wahrzuwerden.“499
Während das Schweizer Schützenfest also Schauplatz politischer Handlung ist, bezieht sich
das Nürnberger Künstlerfest, das im dritten Jahr von Heinrichs Deutschland-Aufenthalt statt-
findet, auf die kulturelle, geschichtlich begründete deutsche Identität. Man will „in einem gro-

498
Es findet auch ein Austausch zwischen schweizerischen und elsässischen Schützen statt: „[D]ie Schweizerschüt-
zen [seien die] […], deren Vorfahren vor Jahrhunderten die Straßburger besucht, wenn diese schossen. Auch
jetzt rollten ganze Bahnzüge voll Schweizer nach Straßburg hinunter; aber es gab dort keine freien reichsstäd-
tischen Straßburger mehr, sondern nur französische Elsässer und französisches Militair.“ (HKKA 12, S. 452)
499
Kai Kauffmann: Phantastische Austauschprozesse. Zu Goethes Märchen und den Heimatsträumen in Kellers
Grünem Heinrich. In: Mein, Georg/Schößler, Franziska: Tauschprozesse: kulturwissenschaftliche Verhandlungen
des Ökonomischen. Bielefeld 2005. S. 203-226. S. 221.
Fest und Nation im Grünen Heinrich 243

ßen Schau- und Festzuge für die kommende Faschingszeit ein Bild untergegangener Reichsherr-
lichkeit […] schaffen“, indem man „das alte Nürnberg wiederauferweckt […] wie es zu der Zeit
war, als der letzte Ritter, Kaiser Maximilian I., in ihm Festtage feierte und seinen besten Sohn,
Albrecht Dürer, mit Ehren und Wappen bekleidete“ (HKKA 12, S. 126). Die Teilnahme der drei
Künstlerfreunde Lee, Lys und Erikson, die alle drei als Fremde „vom äußersten Saume deut-
schen Volkstumes herbeigekommen“ (S. 107) sind, soll sie mit Deutschland versöhnen, indem
man „sich wenigstens an dem heraufbeschworenen Glanze früherer deutscher Herrlichkeit“ (S.
126) erheitern will. 500 Die Teilnehmer des Festumzuges wollen die deutsche Vergangenheit
verherrlichen, um so eine integrative wie identifikatorische Wirkung zu erzielen. Der dritte und
letzte Teil des Festumzuges stellt selbst einen Festumzug, nämlich eine mittelalterliche Maske-
rade dar, in der bezeichnenderweise Heinrich und seine beiden Freunde mitwirken:

In diesem letzten Teile, welcher recht eigentlich ein Traum im Traume genannt werden
konnte, in welchem die in historische Vergangenheit sich Zurückträumenden mit den Sin-
nen dieser Vergangenheit das Märchen und die Sage schauten, hatten die drei Freunde
ihren Raum gewählt, um als verdoppelte Phantasiegebilde dem Phantasiebilde der gestor-
benen Reichsherrlichkeit vorzutanzen. (HKKA 12, S. 127)

Durch die Inszenierung des Festes im Fest vermengen sich nicht nur Vergangenheit und Gegen-
wart miteinander, es entsteht auch eine doppelte Fiktionalität, die eine mentale Nähe zur his-
torischen Situation schaffen soll. Das Ziel gelingt, die Fiktion geht vollständig in die Wirklichkeit
über:

[E]s war ein wirkliches Schaffen, nicht mittelst Leinwand, Pinsel, Stein und Hammer, son-
dern wo man die eigene Person als Stoff ein setzte und in vielhundertfältigem Zusammen-
tun jeder ein lebendiger Teil des Ganzen war und das Leben des Ganzen in jedem einzelnen
pulsierte, von Auge zu Auge strahlte und eine kurze Nacht sich selber zur Wirklichkeit
träumte. (HKKA 12, S. 126)

Das Fest, bei dem Einzelner und Gemeinschaft in Wechselwirkung zueinander treten, wird zur
integrativen Handlung. Es vereint harmonisch die Pluralität der Mitwirkenden und erfasst die
gesamte Alltagswelt, so dass nicht mehr zwischen Schauspieler und dargestellter Persönlichkeit

500
Als Schweizer, Holländer und Däne stammen aller drei „aus einer Heimath, wo germanisches Wesen noch in
ausgeprägter und alter Feste lebte in Sitte, Sprachgebrauch und persönlichem Unabhängigkeitssinne“; umso
enttäuschter sind sie, als sie „zu dem großen Kern des beweglichen deutschen Lebens“ stoßen: „Schon die
Sprache, welche der große Haufen in Deutschland führt, war ihnen unverständlich und beklemmend“, die „in-
ner[e] Grobheit und Taktlosigkeit“ der Deutschen erschreckt sie und „die allgemeine deutsche Autoritätssucht,
welche so wunderlich mit der unendlichen Nachgiebigkeit und Unterwürfigkeit contrastirte, machte einen pein-
lichen Eindruck auf die Deutschen vom Gränzsaume des großen Volkes […]. Recht eigentlich weh aber that den
Freunden die gegenseitige Verachtung, welche sich die Süd- und Norddeutschen bei jeder Gelegenheit ange-
deihen ließen, und welche ihnen ebenso auf ganz grundlosen Vorurtheilen zu beruhen als schädlich schien“
(HKKA 12, S. 123 f.).
244 Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

unterschieden wird. Daher führt beim anschließenden Tanz die „traumhafte Selbsttäuschung“
(HKKA 12, S. 163) dazu, dass „die prächtigen Damen sich weigerten, mit den Schustergesellen
und wilden Fußknechten zu tanzen. Denn die Schönen hatten sich schon so tief in ihre Gewän-
der hineingelebt, daß sie vergaßen, wie mancher der Verschmähten von gleichem Range mit
ihnen war“ (HKKA 12, S. 164). Indem die schauspielernden Bürger die Realität ihrer eigenen
Person vergessen, verliert ihre tatsächliche soziale Stellung im Spiel an Bedeutung, so dass zu-
mindest zeitweise gesellschaftliche Regeln und Normen außer Kraft gesetzt werden.
Das Fest, das sich zwischen Spiel und Realität bewegt, dient als Probe für die die Vergangen-
heit spiegelnde Wirklichkeit:

Da nun aber jeder einzelne Mann nicht etwa ein schöngewachsenes Schema,501 ein bloßer
Statist, sondern eine bedeutende Persönlichkeit, ein rechter Schmied seines Glückes war,
der aus diesem, der aus jenem Winkel deutschen Volkstumes hervorgekommen, so mußte
man beim Anblick so vieler unwillkürlich die Hoffnung fassen, daß ein solches Volk doch
noch zu was anderm fähig sei als zur Darstellung der Vergangenheit und daß diese körper-
liche Wohlgestalt, welche so ähnliche Bilder toter Helden und Kaiser zeigte, unausbleiblich
einst die wahren Kaiser, die rechten Schmiede und Herrscher des eigenen Geschickes, die
selbständigen Männer der Zukunft hervorbringen werde. (HKKA 12, S. 158)

Die Wirkung der Vergangenheitsemphase geht auf Gegenwart und Zukunft über, das wenigs-
tens ist die Hoffnung. Das Spiel wirkt so echt, seine Vermischung mit der Wirklichkeit scheint
so gelungen, dass es das Potenzial besitzt, zur politischen und sozialen Realität zu werden. Die
Prämisse für die Realisierung der Rolle im wirklichen Leben bezieht sich zunächst auf das Äu-
ßere: Die ästhetische und vitale Physis des Einzelnen und des Kollektivs („körperliche Wohlge-
stalt“), soll sich – so die Hoffnung – zwangsläufig auf Charakter und Handlungsweise der Dar-
steller übertragen, so dass aus der „Darstellung der Vergangenheit“ eine Handlungsanweisung
für die Zukunft wird.
Bei Keller stellen das öffentliche Fest und das in ihm integrierte Festspiel Akte der kollektiven
Erinnerung und der nationalen Identitätssicherung dar. Die Vermischung von Alltag und Feier-
lichkeit, von Gegenwart und Vergangenheit enthält eine Spannung, die sich im Text in der Syn-
these von Spiel und Wirklichkeit nur temporär auflösen lässt. Während beim Tellfest und beim
Künstlerfest die Darstellung von identitätskonstituierender Geschichte und Kultur im Zentrum
stehen, ist das Vereinsfest der Schützen mit den politischen Gegebenheiten der Gegenwart
verwoben.

501
Wenig später verwendet Ferdinand den gleichen Begriff, um Heinrich sein Scheitern vorzuhalten, sich als wir-
kender und solider Teil der Gesellschaft zu etablieren: „Du aber schäme Dich ebenfalls, als solch ein zierlich
entworfenes, aber noch leeres Schema in der Welt umherzulaufen, wie ein Schatten ohne Körper! Suche, daß
Du endlich einen Inhalt, eine solide Füllung bekommst, anstatt Anderen mit Deinem Wortgeklingel beschwer-
lich zu fallen!“ (HKKA 12, S. 200).
Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann 245

10.3. Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann

Die Erzählung vom armen Spielmann begann Grillparzer 1831 unter dem Eindruck der Julirevo-
lution zu verfassen und beendete sie 1842/44 „unter gewandelten politischen und sozialen Vo-
raussetzungen“.502 Sie ist durch eine ausführliche Rahmenerzählung eines unbenannten Ich-
Erzählers und der von der Titelfigur, dem Spielmann Jakob, wiedergegebenen Binnenge-
schichte strukturiert. Der Beginn des Textes, der die Handlung in das Wiener Kirchweihfest vom
19. Juli 1829 situiert,503 eröffnet einen wichtigen sozialhistorischen Aspekt im 19. Jahrhundert:
die den öffentlichen Festcharakter implizierende Gleichmachung ihrer Teilnehmer:

In Wien ist der Sonntag nach dem Vollmonde im Monat Juli jedes Jahres samt dem darauf
folgenden Tage ein eigentliches Volksfest, wenn je ein Fest diesen Namen verdient hat. Das
Volk besucht es und gibt es selbst, und wenn Vornehmere dabei erscheinen, so können sie
es nur in ihrer Eigenschaft als Glieder des Volks. Da ist keine Möglichkeit der Absonderung;
wenigstens vor einigen Jahren noch war keine.
An diesem Tage feiert die mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbro-
chener Lustreihe zusammenhängende Brigittenau ihre Kirchweihe. Von Brigittenkirchtag
zu Brigittenkirchtag zählt seine guten Tage das arbeitende Volk. Lange erwartet, erscheint
endlich das saturnalische Fest. Da entsteht Aufruhr in der gutmütig ruhigen Stadt. Eine wo-
gende Menge erfüllt die Straßen. […] Der Unterschied der Stände ist verschwunden, Bürger
und Soldat teilt die Bewegung. (FG 1/13, S. 37)

Sukzessiv entfaltet der Erzähler mit der Beschreibung des Wiener Volksfestes ein „politisch-
soziale[s] Sinngefüge“ (Baltensweiler, S. 299): Während der erste Abschnitt allein die sozial in-
tegrierenden, ständeaufhebenden Eigenschaften des Festes hervorhebt, benennt der zweite
den Anlass, der eigentlich religiöser Natur ist, aber angesichts der Adressatenschaft – das Volk
(„Das Volks gibt es selbst“) – und dem Vergnügungscharakter („ununterbrochener Lustreihe“)
eher sekundär erscheint. Dem Ich-Erzähler, der sich der Festmenge erst „angeschlossen“, dann
„hingegeben“ hat und der sich selbst als „leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen, vorzüg-
lich des Volkes“ bekennt, ist „jedes Volksfest ein eigentliches Seelenfest, eine Wallfahrt, eine
Andacht“ (FG 1/13, S.39). Indem das vormals Kirchen- nun Volksfest vom Ich-Erzähler erneut
sakralisiert wird, verweist der Text auf die kompensatorische Funktion des öffentlichen Fest-
wesens als gemeinschaftsstiftendes und erhebendes Prinzip in einer säkularisierten Welt.
Die kirchliche Prägung des Festes wird dabei nicht säkularisiert, sondern religiös umgedeu-
tet: Statt des römisch-katholischen Festtags wird apotheotisch „das Göttliche“ des Vorgangs

502
Thomas Baltensweiler: Zu den politisch-sozialen Verweisen des Rahmens von Grillparzers „Der arme Spiel-
mann“. In: Colloquia Germanica 32/4 (1999). S. 297-307. Hier S. 298. Die Erzählung wurde 1847 veröffentlicht.
503
Das Ende beschreibt den Eisgang und die damit zusammenhängenden Überschwemmungen im Januar und
Februar 1830. Da der Erzähler die davor ereigneten Erlebnisse auf das Jahr zuvor datiert, ist die Handlung in
das Jahr 1829 versetzt.
246 Nationale Festdarstellung in der Prosa des 19. Jahrhunderts

verehrt, wenn die Menschen „in Massen für einige Zeit der einzelnen Zwecke vergessen und
sich als Teile des Ganzen fühlen“ (FG 1/13, S. 39). Die Festgemeinschaft wird durch die Enthie-
rarchisierung der Festteilnehmer und die Integration des Einzelnen mythisch aufgewertet, un-
ter Vernachlässigung des eigentlichen Festanlasses. Das „saturnalische Fest“ (FG 1/13, S. 37),
das im alten Rom ein Fest zu Ehren des Gottes Saturn war und das der Aufhebung der Standes-
unterschiede diente, steht damit im Gegensatz zu der sozialen Hierarchie zwischen dem Ich-
Erzähler der Rahmenerzählung und der Erzählerfigur des Spielmanns der Binnenerzählung.504
Der intertextuelle Verweis auf Goethes Schilderung des römischen Karnevals in seiner Italieni-
schen Reise, die Grillparzer für seine Festbeschreibung zum Vorbild nahm, verstärkt die Zent-
rierung des Volkes als „Verkörperung der Ganzheit des nationalen Lebens.“505
Der Augenblick des Festes ist dem Alltag enthoben, die Sorgen und das Leiden in der Realität
sind in der paradiesischen Feier, „einem eigentlichen Schlaraffenlande“ (FG 1/13, S. 39) aufge-
hoben. Dieser „breite Hafen der Lust“ (FG 1/13, S. 38), dieses „Eldorado“ (FG 1/13, S. 39), in
dem „[a]lle Leiden […] vergessen“ sind, dauert nach Aussage des Ich-Erzählers zwei Tage, das
„dann aber verschwindet, wie der Traum einer Sommernacht, und nur in der Erinnerung zu-
rückbleibt und allenfalls in der Hoffnung“ (FG 1/13, S. 38 f.). Die Singularität des Festes, das aus
dem Alltag einen Festtag macht, kehrt eigentliche Antagonismen um: Statt Leiden entsteht
Lust, statt Unterscheidung gibt es Vermischung und statt Realität Traum. Das Fest hat einen
fiktionalen Charakter, es entfaltet eine Gesellschaftsutopie der sozialen Gleichheit, die auch
außerhalb des Festes wenigstens die Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse aufrecht-
erhält. Das Fest inszeniert Grillparzer als eine Art Vorspiel zur Revolution, eine Generalprobe,
das die demokratischen Forderungen über eine Vision hinaus immerhin für zwei Tage erlebbar
macht.
Die weitere Beschreibung des Festes wird dichter, das Volk, in das der Einzelne sich einfügt,
wird zur „Menge“ (FG 1/13, S. 37) und „Menschenmasse“ (FG 1/13, S. 38), die in Aufruhr gera-
tend die Straßen überfüllt. Die religiöse Bedeutung des Festes wird durch die politische erwei-
tert. Die Revolutionsmetaphorik506, die durch den Entstehungskontext an realhistorischer Präg-
nanz gewinnt, verstärkt die Gewalt der mitreißenden Menschenflut:

504
Vgl. dazu Nölle, Volker: Hierarchie der Erzählweisen und ihre politische Dimension in Grillparzers Erzählung „Der
arme Spielmann“. In: Sprachkunst 26/1 (1995). S. 21-51 Hier S. 22.
505
Nikolaj T. Rymar´: Die Poetik des Ekstatischen und der Realismus des 19. Jahrhunderts. Nikolaj Gogol´s „Der
Mantel“ und Franz Grillparzers „Der arme Spielmann“. In: Kemper, Dirk u. a. (Hrsg.): Eigen- und fremdkulturelle
Literaturwissenschaft. München 2011. S. 199-219. Hier S. 211. Vgl. zu den intertextuellen Verweisen den Kom-
mentar von Peter Höfle: Franz Grillparzer. Der arme Spielmann. Text und Kommentar. Berlin 2013. S. 116 ff.
506
Die Revolutionsmetaphorik der Passage wurde in der Forschung vielfach konstatiert, unter anderem von Hel-
mut Brandt: Grillparzers Erzählung „Der arme Spielmann“. Eine europäische Ortung der Kunst auf österreichi-
schem Boden. In: Zemann, Herbert (Hrsg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert. Graz 1982.
S. 439-464.
Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann 247

An den Toren der Stadt wächst der Drang. Genommen, verloren und wiedergenommen,
ist endlich der Ausgang erkämpft. Aber die Donaubrücke bietet neue Schwierigkeiten. Auch
hier siegreich, ziehen endlich zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des
Volks, sich kreuzend quer unter- und übereinander, die Donau ihrem alten Flußbette nach,
der Strom des Volkes, der Eindämmung der Brücke entnommen, ein weiter, tosender See,
sich ergießend in alles deckender Überschwemmung. (FG 1/13, S. 37)

Beide Ströme, sowohl der die Monarchie präsentierende Fluss als auch die die Revolution re-
präsentierende Menschenmasse gestaltet der Text als Naturgewalten, wobei die letztere der
ersteren an Durchschlagkraft überlegen ist. Denn das Ende der Erzählung versetzt die Handlung
sechs Monate in die Vergangenheit, in der das Tauen des „furchtbaren Eisganges“ (FG 1/13, S.
78) tatsächlich eine Überschwemmung verursacht. Auch der Strom des Volkes erfasst „alles“,
plötzlich geht es nicht mehr um das Aufgehen des Einzelnen in der Masse, sondern um das
Überleben in ihr: „Hier ist nun noch ein, wenn gleich der letzte Kampf zu bestehen“ (FG 1/13,
S. 39). Die existentialistische naturhafte Bildsprache bewertet den Menschenauflauf auf dem
Volksfest als unkontrollierte, gewalttätige Naturkatastrophe, deren Verlauf unvorhersehbar ist.
Grillparzers Revolutionsmetaphorik ist also ganz und gar nicht positiv wie Thomas Baltensweiler
behauptet (vgl. Baltensweiler, S. 299), sondern deutet seine Kritik an der Revolution an.

Die verschiedenen Festdarstellungen in den ausgesuchten Erzähltexten bringen den im Gegen-


stand inhärenten Ausnahme-Charakter zum Ausdruck. Der Situation des Alltags entzogen, bil-
den die Festteilnehmer ein Kollektiv, wobei sie selbst zugleich Sender und Empfänger, sowohl
Publikum als auch Darsteller sind. Dadurch wird das Fest unmittelbar erlebbar und die Intention
der Veranstaltung authentisch vermittelt.
11.Schlussbetrachtung

Mit der Reichsgründung 1871 war – zumindest politisch – das Deutsche Reich geeint und die
Frage Arndts, was des Deutschen Vaterlands sei, endlich beantwortet. Die Genese, Vermittlung
und Reflexion des nationalen Konzepts vor, während und auch noch nach diesem Nationswer-
dungsprozess war nicht nur Teil der deutschen, sondern der deutschsprachigen Literatur. Denn
die Textanalysen haben gezeigt, dass die untersuchten deutschen, österreichischen und
schweizerischen Autoren sich auf einen gemeinsamen deutschsprachigen, kulturell dominier-
ten Identifikationsraum bezogen. Die kulturelle Sprachgemeinschaft, die abseits von politi-
schen Konstellationen bestand, hatte integrative Funktion und bestand trotz oder gerade we-
gen politischen Differenzen. Sie speiste sich aus gemeinsamen kulturellen Elementen:
historischem und literarischem Wissen, nationalen Metaphern, Kollektivsymbolen, Ritualen
und Mythen.
Unter den literarischen Strategien, nationale Identität zu reflektieren und zu generieren, ist
der historische Zu- bzw. Rückgriff der prominenteste. Der Rekurs auf die Geschichte diente der
Konstruktion einer Kontinuitätslinie, die die deutsche Nation begründen und legitimieren sollte.
Durch Formen der Ritualisierung, z. B. in der Festkultur, wurde die Vergangenheit vergegen-
wärtig und Traditionszusammenhänge jeweils neu aktualisiert. In den Texten mit Thema oder
Motiv Nation wurde zum einen auf bestimmte geschichtsträchtige, d. h. identitätsstiftende Er-
eignisse wie auf die Befreiungskriege und deren national intendierte literarische Tradition in
Gestalt Arndts Lied Des Deutschen Vaterland Bezug genommen. Zum anderen wurden große
Persönlichkeiten wie Friedrich Barbarossa oder Wilhelm Tell mythologisch verklärt und die um
ihre Personen entstandenen mythischen Erzählungen zur nationalen Funktionalisierung inter-
textuell eingesetzt. Da traditionelle klerikale oder weltliche Führer im 19. Jahrhundert zuneh-
mend an Legitimation verloren, wurde in den Texten stattdessen auf historische Personen Be-
zug genommen, die gemeinschaftskonstituierende Qualitäten besaßen und sich zur
Identifikation eigneten. Ihre Stilisierung zu geistigen Führern oder Urhebern des konstruierten
nationalen Kollektivs hatte kompensatorische wie integrative Funktion, wobei fiktionale und
reale, literarische und historische Aspekte interferierend ineinandergriffen. Martin Luther bei-
spielsweise wurde bei den deutschen, schweizerischen und österreichischen Autoren weniger
als kirchlicher denn als sprachlicher Gründungsvater interpretiert. Diese Fokussierung äußerte
sich medial und intertextuell mit der Popularisierung des Liedes Ein feste Burg ist unser Gott,
dessen außerordentlich hohe Präsenz in den Gedichten, Erzähltexten und Festspielen seine
Funktion als nationales Symbol bezeugt und auf die Rolle des Nationalismus als politische Reli-
gion verweist, bei der nationales, historisches und religiöses Moment ineinandergriffen.
Die Überhöhung Arminius´, des Cheruskerführers, zum Befreier Germaniens und Begründer
Deutschlands wurde im 19. Jahrhundert mit der nationalen Rezeption des Altertums intensi-
viert und bildet die älteste Kontinuitätslinie deutscher Nationalgeschichte. Die Bezugnahme der
vorwiegend deutschen und österreichischen Texte auf die Germanen als originäres Urvolk der

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J. Fiedler, Konstruktion und Fiktion der Nation,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-19734-6_11
250 Schlussbetrachtung

Deutschen stellt den Versuch dar, einen eigenen (groß-)deutschen Gründungsmythos zu kon-
struieren.
Konsequent und evident war es, dass die Autoren eine nationale Integrationsfigur aus den
eigenen Reihen rekrutierten. Die Stilisierung Friedrich Schillers 1859 zur nationalen Ikone besaß
in Deutschland, Österreich und der Schweiz einheitsstiftende, integrative Funktion für den
deutschsprachigen Kulturraum. Bei seiner Heroisierung und Mythisierung spielten biographi-
sche Fakten weniger eine Rolle, vielmehr wurde zum nationalen Zweck stark aus seinem Leben
und Werk selektiert. So entwickelte sich Wilhelm Tell aus seinem gleichnamigen Drama zur
maßgeblichen Referenzfigur für die Generierung eines (eigenen) nationalen Ursprungsmythos.
Dabei beschränkte sich die Rezeption Tells als Nationalheld und Freiheitskämpfer nicht nur auf
die Schweiz, sondern diente auch in Deutschland und Österreich als nationales Vorbild und In-
tegrationsfigur liberalen Charakters.
Schillers Rezeption als Freiheitsdichter indes bezog sich auf eine zweifache Bedeutung des
Begriffs Freiheit: Zum einen sprach man damit die Freiheit innerhalb der Nation an, die not-
wendige Voraussetzung für die Stärkung des nationalen Selbstverständnisses war. Trotzdem
äußerte sich die literarische Auseinandersetzung mit dem Aufbrechen der Ständegesellschaft
nach der Revolution 1848/49 ohne generelle Infragestellung oder Ablehnung der herrschenden
Elite. Statt Bekämpfung der Obrigkeit wurde nun vielmehr auf Lockerung der sozialen Struktu-
ren gesetzt. So hatten immer mehr Konzepte Erfolg, die eine Annäherung der Schichten und
eine Öffnung der sozialen Grenzen ermöglichte. Die prosperierenden Vereine waren die popu-
lärste Plattform, bei der die Teilhabe des gesamten Volkes am öffentlichen Leben und ihre In-
tegration in das imaginierte nationale Kollektiv durch Gemeinschaftsrituale verwirklicht werden
konnte. Die bekanntesten und massenwirksamsten waren die Gesangsvereine, die durch das
Medium Lied nationalpolitische Inhalte verbreiteten, sowie die Turn- und Schützenvereine, die
paramilitärische Funktionen übernahmen. Die Vereinslyrik reflektiert damit nicht nur Elemente
der gemeinschaftsstiftenden Vereinskultur, sondern sie trug auch aktiv zu ihren Inhalten und
ihrer Wirkkraft bei. Die periodisch stattfindenden Feste waren wichtige kollektivierende Veran-
staltungen, bei der Ritualisierung, Präsentation und Kollektivierung nach außen getragen
wurde.
Zum anderen hatte Freiheit auch eine außenpolitische Bedeutung. Indem sich die Texte auf
eine exklusionistische Vorstellung von Nation bezogen, bei der durch das Fremdbild des Ande-
ren ein Selbstbild des Eigenen konstruiert werden konnte. Im 19. Jahrhundert war das napole-
onische Frankreich der erklärte ‚Reichsfeind‘ und somit Ziel der literarischen Polemik, die sich
während der französischen Besatzungszeit ausbildete und im Deutsch-Französischen Krieg von
1870 ihren Höhepunkt erreichte. In den untersuchten Texten wurde der Rückgriff auf die Be-
freiungskriege zur Selbstbefreiung des Volkes bzw. der Bürger gegen die französische Unter-
drückung stilisiert und damit ihre Partizipation am nationalen Kollektiv betont. Das ständige
Zitieren von Arndts Lied Des Deutschen Vaterland, das 1813 im Zuge der Befreiungskriege ent-
stand, verweist auf die Verbindung von Exklusionshabitus und nationaler Identitätsfindung. Die
Schlussbetrachtung 251

Auswanderungsliteratur ist ein Beispiel dafür, wie sich Fremdbilder sowohl ex negativo, wie in
Kürnbergers Roman Der Amerikamüde, als auch ex positivo (so in Raabes Chronik der Sperlings-
gasse und in Kellers Der Grüne Heinrich) äußern konnten und damit zur Konstituierung des na-
tionalen Selbstbildes beitrugen.
Die Fiktionalisierung von nationaler Kollektivität hatte aber nicht nur eine zeitliche, sondern
auch eine räumliche Dimension: So entfalteten die untersuchten Texte allenthalben Räume mit
nationalen Charakteristika wie die schweizerischen Berge oder der deutsche Wald, denen Be-
deutung als nationale Symbole zukam. Wilhelm Raabes Gedicht Ans Werk, ans Werk verortet
den abstrakten Begriff Nation räumlich in der Metapher des Hauses und spielt dabei mit den
Wortfeldern Vaterhaus und Vaterland, zu deren Aus- und Aufbau er mit appellativischen Impe-
tus aufruft. Mit der Entwicklung der Eisenbahn wurde scheinbar die Überwindung des Raums
ermöglicht und damit eine tatsächliche Annäherung der deutschen Staaten bewirkt. Viele Au-
toren, darunter auch Raabe, sahen in dem neuen Medium, das die Entfernungen schrumpfen
ließ, den entscheidenden Faktor für die Reichseinigung.
Die Strategien der nationalen Identitätsstiftung in der Literatur, die für die ausgewählten
Texte deutscher, schweizerischer und österreichischer Autoren herausgearbeitet werden
konnten, waren keine isolierten Einzelphänomene, sondern traten größtenteils im Zusammen-
spiel miteinander auf und bilden daher ein Muster nationaler Codes. Die zwischen 1850 und
1870 verfassten Texte mit nationalem Motiv oder Thema waren dabei fast immer affirmativ,
also auf die Konstruktion einer gemeinsamen Nation hin ausgerichtet.

Die Konstruktion einer Gemeinschaft besitzt nicht nur eine politische, sondern auch eine emo-
tionale und intentionale Dimension und gestaltet sich heute noch genauso spannend wie da-
mals. Mit Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist eine neue Vision eines Kollektivs auf
den Weg gebracht worden: Europa. Die Konstituierung einer europäischen Identität scheint
aufgrund der Sprachenvielfalt und der unterschiedlichen historischen und politischen Voraus-
setzungen nicht ohne weiteres realisierbar – ein Gründungsmythos, eine „große identitätsstif-
tende Erzählung“, so urteilte der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck im Feb-
ruar 2013 in einer Rede zu den „Perspektiven der europäischen Idee“, existiert genauso wenig
wie es eine europäische Nation gibt. Als alternative identitätsstiftende Quelle nennt Gauck ei-
nen, die europäische Gemeinschaft miteinander verbindenden „zeitlosen Wertekanon“.507 Das
klingt geradezu altmodisch in einer Zeit, für die Karl Schlögel konstatiert, dass statt der „imagi-
ned communities“ des 19. Jahrhunderts sich in neuerer Zeit virtuelle Gemeinschaften, sog. „di-
gital nations“ ausgebildet haben (Schlögel, S. 73 f.). Das neue Medium Internet löst nicht nur
Entfernungen zwischen den nationalen Räumen noch weiter auf, sondern es fördert auch eine

507
Joachim Gauck: Rede zu Perspektiven der europäischen Idee. Gehalten am 22. Februar 2013. Abrufbar unter
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/02/130222-
Europa.html (letzter Zugang am 22.08.2014).
252 Schlussbetrachtung

kulturelle sowie sprachliche Verständigung. Durch seinen Interaktionscharakter könnte es sich


nach Ansicht Roberto Simanowskis „als Quelle der Demontage des nationalen Bewußtseins,
aber auch der Idee einer homogenen Identität generell erweisen“.508
Vielleicht sollte man nicht wie Gauck nur von einem maßgeblichen Text Europas ausgehen
– schließlich gibt und gab es auch nicht den einen identitätsstiftenden Text für Deutschland.
Vielmehr muss die gesamte Literatur der Gegenwart als „Ferment, das Europäische Identität
und Werte verbindet“509 in Betracht gezogen werden. Die Akzentuierung auf die europäischen
Literaturen, die den Gegensatz von Vielheit und Einheit zu vermitteln vermögen, könnte ein
Weg sein, die Vielstimmigkeit und Heterogenität Europas neu zu erfahren.510
Wenn man davon ausgeht, dass Literatur auch immer implizit politischen Charakter hat und
sich mit gesellschaftlichen Prozessen auseinandersetzt, so hat auch die Gegenwartsliteratur die
Aufgabe, sich mit der Konstruktion einer europäischen Identität auseinanderzusetzen.511 Doch
wie geht sie dabei vor? Können die gleichen Strategien, die die deutschsprachige Literatur im
19. Jahrhunderts für die nationale Identitätsstiftung angewendet haben, auch heute noch eine
Berechtigung haben? Die kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte, die
auch immer an der nationalen Perspektive ausgerichtet ist, stellt einen wichtigen Teil der heu-
tigen, auch in der Literatur stattfindenden Erinnerungskultur dar. Die bereits angesprochene
räumliche Annäherung durch das Internet ermöglicht die Verbreitung literarischer Inhalte, wo-
bei die sprachliche Diversität angesichts der Etablierung des Englischen als Weltsprache und
einer reich entwickelten Übersetzungskultur immer mehr an Bedeutung verliert. Auch die Par-
tizipation des Einzelnen am europäischen Kollektiv wird lebhaft diskutiert und ist Teil der euro-
päischen Vergemeinschaftung. Aber welche historische oder kulturelle Figur wäre für eine eu-
ropäische Identitätsstiftung geeignet? Welcher europäische Mythos würde kollektivierend

508
Roberto Simanowski: Einleitung: Zum Problem kultureller Grenzziehung. In: Turk, Horst/Schultze, Brigitte/Sima-
nowski, Roberto (Hrsg.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literatur. Nationalismus, Regionalismus, Fun-
damentalismus. Göttingen 1998. S. 8-60. Hier S. 39.
509
Braun, Michael/Lermen, Brigit/Schmidt Lars Peter/Weigelt, Klaus: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Europa im Wandel.
Literatur, Werte und Europäische Identität. Sankt Augustin 2005. S. 11-15. Hier S. 13.
510
Nach Ansicht Birgit Lermens zielen europäische Literaturen „als ‚Gedächtnis der Völker‘ […] nicht auf Funktion,
sondern sie verlangen nach Reflexion. Ziel dieser Reflexion ist es, die unterschiedlichen literarischen Stimmen
Europas füreinander hörbar zu machen und den gemeinsamen Grundton in ihnen aufzuspüren.“ Vgl. Einfüh-
rung in den wissenschaftlichen Teil. In: Braun, Michael/Lermen, Birgit/Schmidt Lars Peter/Weigelt, Klaus (Hrsg.):
Europa im Wandel. Literatur, Werte und Europäische Identität. Sankt Augustin 2005. S. 37-44. Hier S. 43. Vgl.
zur literarischen Konzeptualisierung Europas als Vermittlungsmodell Wulf Segebrecht: Vorwort. In: Ders.
(Hrsg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart. Frankfurt (Main) u. a. 2003. S. 13-17. Hier S. 17.
Segebrecht führt außerdem schlüssig auf, welche Themen, Strategien und Konzepte europäische Literatur in
der Gegenwart beschäftigt.
511
Vgl. dazu den Sammelband Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Span-
nungsfeld von Integration und Differenz. Hrsg. von Michael Böhler und Hans Otto Horch. Tübingen 2002. Hier
insbesondere das Vorwort der Herausgeber, S. 1-8 und der Artikel von Michael Böhler: Vom Umgang der Lite-
raturwissenschaft mit kulturtopographischen Aspekten der deutschsprachigen Literatur. S. 15-52.
Schlussbetrachtung 253

wirken? Und entspricht die Abgrenzung vom Anderen zur Konstituierung des Eigenen über-
haupt der Political Correctness? Man sieht, der Schritt von der Nation zur Nationengemein-
schaft ist problematisch und stellt durch seine Konstellationen und spezifischen Voraussetzun-
gen eine besondere Herausforderung dar. Aber weil er nicht nur ein politischer oder
wirtschaftlicher Prozess ist, sondern eine Willensleistung darstellt, die auf der gemeinschaftli-
chen Vorstellung eines europäischen Kollektivs beruht, ist es Aufgabe der Literatur neue Denk-
ansätze und anwendbare Strategien für die Konstituierung europäischer Identität zu finden.
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