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Rainer Lasch

Strategisches
und operatives
Logistikmanagement:
Prozesse
4. Auflage
Strategisches und operatives
Logistikmanagement: Prozesse
Rainer Lasch

Strategisches und operatives


Logistikmanagement:
Prozesse
4., überarbeitete Auflage
Rainer Lasch
Technische Universität Dresden
Dresden, Deutschland

ISBN 978-3-658-40907-4 ISBN 978-3-658-40908-1 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1

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Vorwort zur 4. Auflage

Das vorliegende Lehrbuch hat erfreulicherweise bei Lehrenden und Lernenden eine
sehr gute Aufnahme gefunden. Das vielseitige, sehr positive Feedback und die große
Akzeptanz haben mich veranlasst, die vierte Auflage des Buches „Strategisches und
operatives Logistikmanagement: Prozesse“ in einer erweiterten und überarbeiteten
Form vorzulegen. Dazu wurde Kapitel 2 um die wichtigen Unterkapitel Supply Chain
Governance sowie Sustainability Governance ergänzt. Supply Chain Governance be‐
fasst sich mit den evolutionären Aspekten der Lieferkette und mit der Kontrolle der
Handlungen aller Partner. Innerhalb der Supply Chain Governance werden formelle
und informelle Governance‐Mechanismen zur aktiven Beeinflussung des Verhaltens
der Partner verwendet. Mit der Sustainability Governance wird ein Regelwerk für die
Koordinierung und Gestaltung sowohl der internen als auch externen Unternehmens‐
beziehungen zur Verfügung gestellt, um die ökologischen, ökonomischen und sozia‐
len Nachhaltigkeitsziele umzusetzen. Bei der Erstellung der vierten Auflage wurde
auch die Möglichkeit genutzt, kleinere Fehler zu beseitigen.

Ein herzlicher Dank im Rahmen der Überarbeitung und Erweiterung gilt meinem
Mitarbeiter, Herrn Jakob Keller. Insbesondere bedanke ich mich bei Frau Susanne
Kramer und dem Springer Gabler Verlag für die stets reibungslose und gute Zusam‐
menarbeit.

Dresden, im Januar 2023 Rainer Lasch

V
Vorwort zur 1. Auflage

Das logistische Kosten‐ und Leistungsprofil bestimmt in zunehmendem Maße den


Kundennutzen, sodass heute eine effiziente und effektive Logistik zum Aufbau und
zur Verteidigung strategischer Wettbewerbsvorteile genutzt wird. Exzellente Logistik
bedeutet, den Kunden als Ausgangspunkt und Initiator der Produktgestaltung und
der produktbegleitenden Dienstleistungen zu sehen, das Logistiknetzwerk auf zu‐
künftige Anforderungen vorzubereiten und durch Zeitvorteile in Entwicklung, Be‐
schaffung, Produktion, Vertrieb und Entsorgung einen nachhaltigen Wettbewerbs‐
vorteil für das Unternehmen zu schaffen. Eine umfassende Entfaltung logistischer
Erfolgspotenziale in der Unternehmens‐ und Netzwerkpraxis setzt somit ein exzellen‐
tes normatives, strategisches und operatives Logistikmanagement voraus, das auf
einer modernen Logistikkonzeption basiert.

Das vorliegende Lehrbuch widmet sich dem strategischen und operativen Logistik‐
management als Führungsfunktion, wobei der Fokus auf eine ganzheitliche Betrach‐
tung und Optimierung logistischer Prozesse gelegt wird. Im Vordergrund stehen ins‐
besondere Logistikstrategien, eine moderne Logistikkonzeption, das Management
logistischer Prozessketten, Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer
Prozesse, Strategien und Konzepte für die Instandhaltungs‐ und Ersatzteillogistik
sowie Aspekte der Entsorgungslogistik. Die Ausführungen werden durch zahlreiche
Beispiele, Tabellen und Abbildungen verdeutlicht. Die behandelten Konzepte und
Methoden erheben nicht den Anspruch, die aktuellsten Forschungsergebnisse zu prä‐
sentieren, sondern sollen dem Leser praxistaugliche Konzepte und Methoden zur
Lösung der vorgestellten Probleme im Bereich des strategischen und operativen Lo‐
gistikmanagements aufzeigen.

Dieses Lehrbuch ist entstanden aus meinen Vorlesungen zum Logistikmanagement


und Supply Chain Management, die ich für Studierende der Betriebs‐ und Volkswirt‐
schaftslehre, der Wirtschaftsinformatik und ‐mathematik sowie des Wirtschaftsingeni‐
eurwesens an der Technischen Universität Dresden, aber auch an anderen Universitä‐
ten im Ausland gehalten habe. Somit richtet sich das Lehrbuch primär an Studierende
der genannten Fachrichtungen mit dem Schwerpunkt Logistik an Universitäten, Fach‐
hochschulen und Akademien. Andererseits können Dozenten die Strategien, Konzepte
und Methoden auch im Rahmen von Vorlesungen, Seminaren und Übungen verwen‐
den. Unternehmen werden mit den vorgestellten Logistikstrategien, dem Prozessket‐
tenmanagement sowie den Konzepten und Methoden zur Verbesserung logistischer
Konzepte beim Aufbau einer effizienten und effektiven Logistik wirkungsvoll unter‐
stützt.

VII
Vorwort zur 1. Auflage

Ein herzlicher Dank für die Gestaltung des vorliegenden Buches geht an Frau Tamara
Mittelbach, Frau Dr. Sophia Keil, Herrn Dr. Roy Fritzsche und Frau M.Sc. Marie Derno
sowie dem studentischen Tutor Herrn Philipp Schurig. Danken möchte ich ebenso
Frau Susanne Kramer und dem Verlag Springer Gabler für die wiederum sehr gute
und verständnisvolle Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt meiner Ehefrau
Birgit, die auch dieses Buch mit großem Interesse stets motivierend und verständnis‐
voll unterstützt hat.

Dresden, im Februar 2014 Rainer Lasch

VIII
Inhaltsverzeichnis

Vorwort ..................................................................................................................................... V

Abbildungsverzeichnis .........................................................................................................XV

Tabellenverzeichnis ............................................................................................................. XIX

Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................................... XXI

Symbolverzeichnis .............................................................................................................. XXV

1 Grundlagen der Logistik ................................................................................................ 1

1.1 Definitionsansätze der Logistik ........................................................................... 1

1.2 Entwicklungsphasen der Logistik in der Unternehmenspraxis ...................... 5

1.3 Logistiksysteme .................................................................................................... 11

1.3.1 Abgrenzung von Logistiksystemen ...................................................... 12

1.3.2 Mikrologistische Subsysteme ................................................................. 13

1.4 Megatrends in der Logistik................................................................................. 23

1.5 Literaturhinweise ................................................................................................. 27

2 Logistikkonzeption ....................................................................................................... 29

2.1 Gestaltungsprinzipien der Logistik ................................................................... 29

2.1.1 Ganzheitlichkeit ....................................................................................... 31

2.1.2 Flussorientierung ..................................................................................... 33

2.1.3 Marktorientierung ................................................................................... 34

2.1.4 Zeitorientierung ....................................................................................... 37

2.2 Logistikprozesse und ‐ziele ................................................................................ 38

2.2.1 Prozesse der Logistik .............................................................................. 38

2.2.2 Ziele der Logistik ..................................................................................... 40

2.2.3 Erfolgsfaktor Logistik ............................................................................. 45

2.3 Organisation der Logistik ................................................................................... 50

2.3.1 Integration der Logistik in die Unternehmensorganisation .............. 51

IX
Inhaltsverzeichnis

2.3.2 Innenorganisation der Logistik.............................................................. 55

2.4 Wertschöpfungsnetzwerke ................................................................................. 57

2.4.1 Typologie von Wertschöpfungsnetzwerken ........................................ 60

2.4.2 Supply Chain Management.................................................................... 64

2.4.3 Supply Chain Governance ..................................................................... 76

2.4.4 Sustainability Governance...................................................................... 88

2.5 Der Bullwhip‐Effekt............................................................................................. 92

2.5.1 Ursachen für und Maßnahmen gegen den Bullwhip‐Effekt .............. 94

2.5.2 Quantifizierung des Bullwhip‐Effekts .................................................. 98

2.6 Literaturhinweise ............................................................................................... 101

3 Prozessketten in der Logistik ..................................................................................... 109

3.1 Der Prozessbegriff.............................................................................................. 109

3.1.1 Konstitutive Merkmale eines Prozesses ............................................. 111

3.1.2 Klassifizierende Merkmale eines Prozesses ....................................... 113

3.2 Prozessmodellierung ......................................................................................... 115

3.2.1 Prozessstrukturtransparenz ................................................................. 116

3.2.2 Process Mining ....................................................................................... 125

3.2.3 Prozessleistungstransparenz ................................................................ 134

3.2.4 Prozesskostenrechnung ........................................................................ 138

3.2.5 Target Costing ........................................................................................ 144

3.2.6 Balanced Scorecard................................................................................ 153

3.2.7 Supply‐Chain‐Operations‐Reference‐Modell .................................... 164

3.2.8 Prozesskettenmanagement ................................................................... 178

3.3 Qualitätssicherung logistischer Prozesse ........................................................ 182

3.3.1 Qualität von Logistiksystemen ............................................................ 184

3.3.2 Methoden zur Verbesserung der Abwicklungsqualität ................... 187

3.4 Literaturhinweise ............................................................................................... 205

4 Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse....................... 211

4.1 Das Benchmarking‐Konzept ............................................................................. 211

X
Inhaltsverzeichnis

4.1.1 Entwicklungsgeschichte des Benchmarking ...................................... 212

4.1.2 Inhaltliche Bestimmung ........................................................................ 214

4.1.3 Terminologische Abgrenzung des Benchmarking ........................... 216

4.1.4 Gründe für Benchmarking ................................................................... 220

4.1.5 Ziele des Logistik‐Benchmarking ........................................................ 222

4.1.6 Phasen des Benchmarking‐Zyklus ...................................................... 232

4.1.7 Benchmarking‐Erfolgsfaktoren............................................................ 252

4.2 Das Postponement‐Konzept ............................................................................. 254

4.2.1 Postponement‐Speculation‐Strategie .................................................. 255

4.2.2 Festlegung des Entkopplungspunktes................................................ 258

4.2.3 Auswahl geeigneter Postponement‐Speculation‐Strategien ............ 261

4.2.4 Vorteile und Risiken von Postponement‐Strategien ......................... 262

4.2.5 Veränderungen logistischer Strukturen und Prozesse ..................... 265

4.3 Management der Komplexität in der Logistik ............................................... 271

4.3.1 Determinanten, Ursachen und Auswirkungen von Komplexität ... 272

4.3.2 Komplexitätsstrategien ......................................................................... 277

4.3.3 Abgrenzung von Varianten‐ und Komplexitätsmanagement ......... 279

4.3.4 Einzelansätze des Varianten‐ und Komplexitätsmanagements ...... 280

4.3.5 Ganzheitliche Betrachtung des Komplexitätsmanagements ........... 293

4.4 Strategische Allianzen zwischen Industrie‐ und Handelsunternehmen .... 296

4.4.1 Efficient Consumer Response .............................................................. 297

4.4.2 Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment ................ 306

4.5 Literaturhinweise ............................................................................................... 313

5 Risikomanagement in der Supply Chain ................................................................. 321

5.1 Risiko und Risikomanagement ........................................................................ 321

5.2 Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken ................................................................... 327

5.3 Supply‐Chain‐Resilienz..................................................................................... 331

5.4 Supply‐Chain‐Risikomanagementprozess ..................................................... 339

5.4.1 Festlegung der Risikostrategie ............................................................. 341

XI
Inhaltsverzeichnis

5.4.2 Identifikation von Supply‐Chain‐Risiken .......................................... 344

5.4.3 Bewertung von Supply‐Chain‐Risiken ............................................... 351

5.4.4 Steuerung von Supply‐Chain‐Risiken ................................................ 358

5.4.5 Kontrolle und Dokumentation von Supply‐Chain‐Risiken ............. 363

5.5 Supply Chain Security Management ............................................................... 365

5.5.1 Auswirkungen des Terrorismus auf globale Supply Chains ........... 365

5.5.2 Maßnahmen zur Stärkung der Supply Chain Security .................... 367

5.6 Literaturhinweise ............................................................................................... 376

6 After Sales und Reverse Logistics ............................................................................. 383

6.1 After Sales Management und After Sales Services ........................................ 384

6.2 Logistik im After Sales Management .............................................................. 389

6.2.1 Instandhaltung ....................................................................................... 389

6.2.2 Instandhaltungsstrategien .................................................................... 392

6.2.3 Instandhaltungsplanung ...................................................................... 399

6.3 Instandhaltungslogistik..................................................................................... 409

6.3.1 Ersatzteillogistik .................................................................................... 411

6.3.2 Besonderheiten der Ersatzteillogistik ................................................. 414

6.3.3 Akteure in der Ersatzteilversorgung................................................... 416

6.3.4 Phasen und Verlauf des Ersatzteilbedarfs .......................................... 418

6.3.5 Prognoseverfahren für sporadische Ersatzteilbedarfe...................... 421

6.3.6 Strategien zur Ersatzteilversorgung .................................................... 433

6.3.7 Pooling‐Strategien im Rahmen der Ersatzteildistribution ............... 439

6.4 Integrative Sichtweisen und Kooperationen .................................................. 444

6.4.1 Integration von Instandhaltung und Ersatzteillogistik .................... 445

6.4.2 Hersteller‐Betreiber‐Beziehungen ....................................................... 449

6.4.3 Kooperationen auf dem Drittanbietermarkt ...................................... 454

6.4.4 Hemmnisse funktionierender Kooperationen ................................... 455

6.5 Reverse Logistics ................................................................................................ 458

6.5.1 Motive für Reverse Logistics ................................................................ 463

XII
Inhaltsverzeichnis

6.5.2 Subsysteme der Reverse Logistics und Entsorgungslogistik ........... 465

6.5.3 Entsorgungsnetzwerke ......................................................................... 473

6.6 Literaturhinweise ............................................................................................... 479

Stichwortverzeichnis ............................................................................................................ 485

XIII
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1‐1 Entwicklungsphasen der Logistik .......................................................... 11

Abbildung 1‐2 Unternehmenslogistik .............................................................................. 14

Abbildung 2‐1 Normatives, strategisches und operatives Logistikmanagement ....... 30

Abbildung 2‐2 Strategisches Dreieck ................................................................................ 35

Abbildung 2‐3 Zielkonflikte in der Logistik .................................................................... 45

Abbildung 2‐4 Erfolgstripel der Logistik ......................................................................... 46

Abbildung 2‐5 Einfluss der Logistik auf die finanzielle Unternehmens‐


performance ............................................................................................... 48

Abbildung 2‐6 Einflüsse auf den Marktwert eines Unternehmen ................................ 49

Abbildung 2‐7 Logistik in einer funktionalen Organisation ......................................... 52

Abbildung 2‐8 Logistik in einer objektorientierten Organisation ................................. 54

Abbildung 2‐9 Logistik in einer Matrix‐Organisation .................................................... 55

Abbildung 2‐10 Grundmodelle zur Innenorganisation der Logistik ............................. 56

Abbildung 2‐11 Typologie interorganisationaler Wertschöpfungsnetzwerke .............. 61

Abbildung 2‐12 Modell einer Supply Chain ...................................................................... 65

Abbildung 2‐13 Integrationsphasen des Supply Chain Managements .......................... 68

Abbildung 2‐14 Ebenen des SCM‐Aufgabenmodells ....................................................... 71

Abbildung 2‐15 Bullwhip‐Effekt ......................................................................................... 93

Abbildung 2‐16 Burbidge‐Effekt ......................................................................................... 97

Abbildung 3‐1 Prozesshierarchie .................................................................................... 114

Abbildung 3‐2 Selbstähnliches Prozesskettenelement ................................................. 117

Abbildung 3‐3 Beispiel einer Prozesskette in der Distributionslogistik..................... 119

Abbildung 3‐4 Vergleichende Darstellung zwischen EPK, VKN und VPN .............. 122

Abbildung 3‐5 Gestaltungsoptionen für die Struktur von Prozessketten.................. 124

Abbildung 3‐6 Aufgabengebiete des Process Mining .................................................. 129

XV
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 3‐7 Erfolgsfaktoren in Process‐Mining‐Projekten ..................................... 131

Abbildung 3‐8 Ziele der Prozesskostenrechnung ......................................................... 139

Abbildung 3‐9 Bildung von Haupt‐ und Geschäftsprozessen .................................... 142

Abbildung 3‐10 Zielkostenkontrolldiagramm................................................................. 147

Abbildung 3‐11 Balanced Scorecard ................................................................................. 155

Abbildung 3‐12 Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen .......................................................... 158

Abbildung 3‐13 5‐Phasen‐Modell zur Implementierung einer BSC ............................. 160

Abbildung 3‐14 Das SCOR‐Modell ................................................................................... 166

Abbildung 3‐15 Ebenen des SCOR‐Modells .................................................................... 167

Abbildung 3‐16 SCOR‐Prozessbeschreibung .................................................................. 168

Abbildung 3‐17 Prozesskategorien der SCOR‐Ebene 2 .................................................. 169

Abbildung 3‐18 Prozesselement der SCOR‐Ebene 3 ...................................................... 172

Abbildung 3‐19 Geographische Karte der Supply Chain .............................................. 175

Abbildung 3‐20 Teilprozesse der Supply Chain .............................................................. 176

Abbildung 3‐21 Betrachtungsebenen der Logistikleistung............................................ 184

Abbildung 3‐22 House of Quality ..................................................................................... 188

Abbildung 3‐23 Bearbeitung eines Kundenauftrags ...................................................... 190

Abbildung 3‐24 Vier‐Phasen‐Modell des QFD ................................................................ 191

Abbildung 3‐25 Fehlermöglichkeits‐ und Einflussanalyse ............................................ 194

Abbildung 3‐26 Qualitätsregelkarte mit Warn‐ und Eingriffsgrenzen......................... 202

Abbildung 4‐1 Benchmarking Arten............................................................................... 225

Abbildung 4‐2 Benchmarking‐Zyklus ............................................................................ 232

Abbildung 4‐3 ʺCompetence gapʺ‐Matrix für die Logistik .......................................... 234

Abbildung 4‐4 Wertzuwachskurve ................................................................................. 235

Abbildung 4‐5 Ursache‐Wirkungs‐Diagramm .............................................................. 236

Abbildung 4‐6 Z‐Diagramm für Distributionslogistikkosten / Umsatz ..................... 248

Abbildung 4‐7 Postponement‐Speculation‐Matrix ....................................................... 256

Abbildung 4‐8 Mögliche Entkopplungspunkte (OPP) in der logistischen Kette ...... 259

XVI
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 4‐9 Erhöhung reaktiver Prozessanteile durch Verkürzung der


Durchlaufzeit ........................................................................................... 260

Abbildung 4‐10 Postponement in der Beschaffung ........................................................ 267

Abbildung 4‐11 Postponement in der Produktion .......................................................... 268

Abbildung 4‐12 Postponement in der Distribution ........................................................ 270

Abbildung 4‐13 Klassifikation der Komplexitätskosten ................................................ 274

Abbildung 4‐14 Kosten‐ und Nutzenwirkung steigender Komplexität ...................... 276

Abbildung 4‐15 4‐Phasenmodell nach BLISS .................................................................. 294

Abbildung 4‐16 Efficient Consumer Response ................................................................ 299

Abbildung 4‐17 ECR‐Strategien ........................................................................................ 301

Abbildung 4‐18 Überarbeitetes CPFR‐Prozessmodell .................................................... 310

Abbildung 5‐1 Schäden durch Naturkatastrophen 1970‐2019 .................................... 329

Abbildung 5‐2 Bewältigungsphasen von Supply‐Chain‐Disruptions ........................ 330

Abbildung 5‐3 Erfolgsfaktoren einer resilienten Supply Chain .................................. 332

Abbildung 5‐4 Phasen des Supply‐Chain‐Risikomanagementprozesses .................. 340

Abbildung 5‐5 Frühwarnung, ‐erkennung und ‐aufklärung ....................................... 347

Abbildung 5‐6 Risikoportfolio auf Unternehmensebene ............................................. 352

Abbildung 5‐7 Risikoportfolio auf Supply‐Chain‐Ebene ............................................. 357

Abbildung 5‐8 Risikosteuerungsstrategien .................................................................... 359

Abbildung 5‐9 Einordnung der Lieferantenauswahl und –bewertung in die


Risikosteuerung....................................................................................... 360
Abbildung 5‐10 Säulen und Aspekte zur Stärkung der Supply Chain Security ......... 367

Abbildung 6‐1 Leistungsebenen im After Sales Service ............................................... 387

Abbildung 6‐2 Leistungsangebote im After Sales Service ........................................... 389

Abbildung 6‐3 Kostenverläufe in Abhängigkeit der Instandhaltungsintensität ....... 392

Abbildung 6‐4 Einflussgrößen auf die Instandhaltungsstrategie ............................... 393

Abbildung 6‐5 Mögliche Zielkonflikte zwischen Instandhaltungsstrategien ........... 398

Abbildung 6‐6 Aufgaben der Instandhaltungslogistik ................................................ 409

Abbildung 6‐7 Einordnung der Instandhaltungslogistik............................................. 411

Abbildung 6‐8 Lebenszyklus des Ersatzteilbedarfs ...................................................... 419

XVII
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 6‐9 Durchlaufzeit‐Lücke ............................................................................... 421

Abbildung 6‐10 Einflussfaktoren des zukünftigen Ersatzteilbedarfs ........................... 422

Abbildung 6‐11 Prognoseverfahren in Abhängigkeit des Bedarfsverlaufes ............... 423

Abbildung 6‐12 Bedarfsklassifikation gemäß Regelmäßigkeit und


Unterbrechung ........................................................................................ 424

Abbildung 6‐13 Bedarfsverlauf eines elektronischen Steuergerätes eines


Automobilherstellers .............................................................................. 425

Abbildung 6‐14 Versorgungsstrategien in der Nachserienphase.................................. 435

Abbildung 6‐15 Vertikales Pooling .................................................................................. 441

Abbildung 6‐16 Horizontales Pooling .............................................................................. 442

Abbildung 6‐17 Laterales Pooling ..................................................................................... 443

Abbildung 6‐18 Kooperation und Integration zwischen den Akteuren der


Ersatzteilversorgung ............................................................................... 444
Abbildung 6‐19 Hemmnisbezogene Ursache‐Wirkungsbeziehungen ......................... 455

Abbildung 6‐20 Forward und Reverse Logistics ............................................................. 462

Abbildung 6‐21 Mehrstufige kombinierte Redistributionsstrategien .......................... 467

XVIII
Tabellenverzeichnis

Tabelle 2‐1 Logistische Kernprozesse............................................................................... 39

Tabelle 2‐2 Logistische Unterstützungsprozesse ............................................................ 40

Tabelle 2‐3 Ausgestaltung von Wettbewerbsstrategien ................................................. 47

Tabelle 2‐4 Beispielhafte formelle Governance‐Mechanismen ..................................... 79

Tabelle 2‐5 Beispielhafte informelle Governance‐Mechanismen .................................. 81

Tabelle 3‐1 Auszug eines Ereignislogs eines Kundenauftragsbearbeitungs‐


prozesses ........................................................................................................ 128

Tabelle 3‐2 SCOR‐Kennzahlensystem ............................................................................ 173

Tabelle 3‐3 Unterschiede zwischen Prozesserneuerung und ‐verbesserung ............ 181

Tabelle 4‐1 Benchmarking‐Abgrenzungen .................................................................... 219

Tabelle 4‐2 Vergleich ausgewählter Benchmarking‐Arten .......................................... 230

Tabelle 4‐3 Mögliche Informationsquellen .................................................................... 239

Tabelle 4‐4 CPFR‐Nutzenpotenziale .............................................................................. 313

Tabelle 5‐1 Klassifikation von Risiken ........................................................................... 323

Tabelle 5‐2 Ansätze zum Management von Supply‐Chain‐Risiken ........................... 327

Tabelle 5‐3 Instrumente der Risikoidentifikation ......................................................... 345

Tabelle 5‐4 SWOT‐Analyse .............................................................................................. 346

Tabelle 5‐5 Risikoinventar ............................................................................................... 351

Tabelle 5‐6 Bewertungsmaßstäbe für Risiken ............................................................... 353

Tabelle 5‐7 Methoden der Risikobewertung ................................................................. 356

Tabelle 6‐1 Nutzenpotenziale von After Sales Services ............................................... 386

Tabelle 6‐2 Auswirkungen der Instandhaltungsstrategien auf Erfolgsfaktoren ...... 397

Tabelle 6‐3 Prognose mit dem Verfahren von CROSTON und dessen
Modifikationen .............................................................................................. 431

Tabelle 6‐4 Häufigkeitsverteilung beim Bootstrapping‐Verfahren von


TEUNTER/DUNCAN................................................................................... 432

XIX
Tabellenverzeichnis

Tabelle 6‐5 Anbindung der Ersatzteillogistik an die Unternehmensstruktur ........... 447

Tabelle 6‐6 Eigenschaften der Kundengruppen............................................................ 450

XX
Abkürzungsverzeichnis

AEO Authorized Economic Operator

AL Auslieferungslager

AMS Automated Manifest System

ASS After Sales Services

BGB Bürgerliches Gesetzbuch

BPR Business Process Reengineering

BSC Balanced Scorecard

bzgl. bezüglich

bzw. beziehungsweise

ca. circa

CLSC Closed Loop Supply Chain

CPFR Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment

CR Croston

CRM Customer Relationship Management

CSI Container Security Initiative

CSR Corporate Social Responsibility

C‐TPAT Customs‐Trade Partnership Against Terrorism

d. h. das heißt

DSD Duales System Deutschland GmbH

EAN European Article Number

ECR Efficient Consumer Response

EDI Electronic Data Interchange

EDIFACT Electronic Data Interchange for Administration, Commerce and


Transport

EOP End of Production

EOS End of Service

XXI
Abkürzungsverzeichnis

EPK ereignisgesteuerte Prozesskette

ERP Enterprise Resource Planning

EQA European Quality Award

EVA Economic Value Added

etc. et cetera

evtl. eventuell

FMEA Fehlermöglichkeits‐ und Einflussanalyse

FPY First Pass Yield

ggf. gegebenenfalls

GBN Global Benchmarking Network

GPS Global Positioning System

i. A. im Allgemeinen

IBC International Benchmarking Clearinghouse

i. d. R. in der Regel

IuK Information und Kommunikation

ISPS International Ship and Port Facility Security

IS Informationssysteme

IT Informationstechnologie

i. w. S. im weiteren Sinn

KMU Kleine‐ und mittelständische Unternehmen

KrWG Kreislaufwirtschaftsgesetz

KrW‐/AbfG Kreislaufwirtschafts‐ und Abfallgesetz

LEOS Low‐Earth‐Orbiting‐Satellite‐System

LS Levén/Segerstedt

MES Manufacturing Execution System

MRO Maintenance, Repair and Operating

OEM Original Equipment Manufacturer

OLSC Open Loop Supply Chain

OPP Order Penetration Point

XXII
Abkürzungsverzeichnis

PLM Product Life Cycle Management

PM Process Mining

POS Point of Sale

PPS Produktionsplanung und ‐steuerung

QFD Quality Function Deployment

RFID Radio Frequency Identification

RL Regionallager

RoA Return on Assets

SAFE Framework of Standards to Secure and Facilitate Global Trade

SB Syntetos/Boylan

SC Supply Chain

SCC Supply Chain Council

SCD Supply Chain Disruptions

SCE Supply Chain Execution System

SCEM Supply Chain Event Management

SCM Supply Chain Management

SCOR Supply Chain Operations Reference

SCR Supply‐Chain‐Resilienz

SPC Statistical Process Control

SOP Start of Production

SPIC Strategic Planning Institute Council of Benchmarking

SRM Supply Risk Management

SY Syntetos

TQM Total Quality Management

u. a. unter anderem

u. U. unter Umständen

VICS Voluntary Interindustry Commerce Standards Association

VKN Vorgangsknotennetz

VMI Vendor Managed Inventory

XXIII
Abkürzungsverzeichnis

VPN Vorgangspfeilnetz

WEB World Wide Web

z. B. zum Beispiel

ZE Zeiteinheiten

ZL Zentrallager

XXIV
Symbolverzeichnis

  0,1 Glättungsparameter
E Einheitsmatrix
et  yt  yˆ t Prognosefehler in Periode t
f t  Dichtefunktion
F (t ) Verteilungsfunktion
LD Lebensdauer
IN Menge der natürlichen Zahlen
P  ( pij ) n ,n Übergangsmatrix
pij Zeitunabhängige Übergangswahrscheinlichkeit

p(t )T Zustandverteilung
Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden Perioden mit
pt
positivem Bedarf
Prognostizierte Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden
p̂t
Perioden mit positivem Bedarf
q (t ) Ausfallrate
R(t ) Zuverlässigkeitsfunktion
t Zeitpunkt
yt Beobachteter Bedarf in Periode t
ŷt Prognostizierter Bedarf in Periode t
Prognostizierte Höhe des in Periode t auftretenden positiven
ẑ t
Bedarfs

XXV
1 Grundlagen der Logistik

Die Logistik stellt einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren heutiger Unternehmen dar, da
eine exzellente Logistik neben der Reduzierung der Kosten und der Realisierung von
Zeitvorteilen wesentlich die Kundenzufriedenheit und damit die Erlösseite der Unter‐
nehmen verbessert. Eine umfassende Entfaltung logistischer Erfolgspotenziale in der
Unternehmens‐ und Netzwerkpraxis setzt u. a. eine exzellente Logistik‐ und Manage‐
mentkompetenz in den phasenspezifischen Subsystemen der Logistik voraus. In die‐
sem einführenden Kapitel erfolgen zunächst eine Begriffsbestimmung sowie eine
Darstellung der Entwicklungsphasen der Logistik. Anschließend werden verschiedene
operative und strategische Aufgaben der Subsysteme der Ver‐ und Entsorgungs‐
logistik vorgestellt.

Lernziele:

 Definitionsansätze und Aufgaben der Logistik


 Entwicklungsphasen der Logistik
 Abgrenzung logistischer Systeme
 Aufgaben der mikrologistischen Subsysteme

1.1 Definitionsansätze der Logistik


Historisch gesehen, kann die Logistik auf eine lange Geschichte zurückblicken, die bis
weit in die vorchristliche Vergangenheit zurückreicht. Ursprünglich wurde der Begriff
Logistik im militärischen Bereich verwendet und wesentlich von ihm geprägt1. Der
Logistikbegriff kann von den französischen Wörtern „logis“ (Quartier machen, ver‐
sorgen) und „logistique“ (Nachschub‐, Transport‐, Verpflegungswesen) abgeleitet
werden, sodass die Militärlogistik sowohl die Versorgung, die Unterbringung und den
Transport von Truppen, als auch die Lagerung und Wartung militärischer Güter um‐
fasst. Diese Interpretation deckt sich auch mit derjenigen der alten Römer, da „lo‐
gistas“ für die Truppenverpflegung, Aufrüstung und Marschplanung zuständig war2.

1 Die Ausführungen zu den Definitionsansätzen sind LASCH (1998, S. 5ff) entnommen.


2 Vgl. JÜNEMANN (1989, S. 4).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 1
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_1
Grundlagen der Logistik
1
In den fünfziger Jahren wurden in den USA die aus dem militärischen Bereich gewon‐
nenen logistischen Erkenntnisse auf den wirtschaftlichen Bereich übertragen. Mit dem
Begriff der Unternehmenslogistik („business logistics“) wurden sämtliche Transport‐,
Lager‐ und Umschlagvorgänge von Gütern in und zwischen Unternehmen bezeichnet.
Der entscheidende Impuls für die Übertragung der Militärlogistik auf Industrieunter‐
nehmen wird allgemein in dem von MORGENSTERN veröffentlichten Beitrag in der
Zeitschrift „Naval Research Logistics Quarterly“ gesehen3. Diese Publikation stellt den
ersten fundierten Beitrag zur Formulierung einer Theorie der Logistik dar. Im
deutschsprachigen Raum fand der Begriff Logistik erst Anfang der siebziger Jahre
Eingang in die Betriebswirtschaftslehre. Das erste umfassende, in deutscher Sprache
geschriebene Lehrbuch über die betriebswirtschaftliche Logistik wurde im Jahre 1973
von KIRSCH veröffentlicht4.

Im Verlauf ihrer Entwicklungen hat die Logistik unterschiedliche Ausprägungen und


Interpretationen erfahren5. Ohne eine weitere Konkretisierung der Aufgaben einer
betriebswirtschaftlichen Logistik vorzunehmen, verstehen KIRSCH ET AL. im weitesten
Sinn unter Logistik „... die Gestaltung, Steuerung, Regelung und Durchführung des
gesamten Flusses an Energie, Informationen, Personen, insbesondere jedoch von Stof‐
fen (Materie, Produkte) innerhalb und zwischen Systemen“6. JÜNEMANN geht von
einem wissenschaftlich konzeptionellen Logistikverständnis aus, indem er Logistik als
„... die wissenschaftliche Lehre der Planung, Steuerung und Überwachung7 der Mate‐
rial‐, Personen‐, Energie‐ und Informationsflüsse in Systemen“ definiert8. Ein flussori‐
entierter Definitionsansatz der Logistik geht auf PFOHL zurück, der zur Logistik alle
Tätigkeiten zählt, durch die „... die raum‐zeitliche Gütertransformation und die damit
zusammenhängenden Transformationen hinsichtlich der Gütermengen und ‐sorten,
der Güterhandhabungseigenschaften sowie der logistischen Determiniertheit der
Güter geplant, gesteuert, realisiert oder kontrolliert werden. Durch das Zusammen‐
wirken dieser Tätigkeiten soll ein Güterfluss in Gang gesetzt werden, der einen Lie‐
ferpunkt mit einem Empfangspunkt möglichst effizient verbindet“9. Eine weitere
flussorientierte Definition, die sich jedoch grundlegend nach dem Inhaltsbereich des
Objektflusses von der oben genannten Definition unterscheidet, formuliert KLAUS:
„Logistik ... als eine spezifische Sichtweise, die wirtschaftliche Phänomene und Zu‐
sammenhänge als Flüsse von Objekten durch Ketten und Netze von Aktivitäten und
Prozessen interpretiert (bzw. als „Fließsysteme“), um diese nach Gesichtspunkten der
Kostensenkung und der Wertsteigerung zu optimieren, sowie deren Anpassungsfä‐

3 Vgl. MORGENSTERN (1955, S. 129ff).


4 Vgl. KIRSCH ET AL. (1973).
5 Vgl. Kapitel 1.2.
6 Vgl. KIRSCH ET AL. (1973, S. 69)
7 Überwachung kann hier synonym für Kontrolle stehen. (Die Fußnote ist Bestandteil des Zitats.)
8 Vgl. JÜNEMANN (1989, S. 11).
9 Vgl. PFOHL (2010, S. 12‐14). Des Weiteren unterscheidet er neben der flussorientierten noch eine
lebenszyklusorientierte sowie eine dienstleistungsorientierte Definition der Logistik. Letztere
bilden jedoch Erscheinungsformen des flussorientierten Ansatzes und sind somit darauf zu‐
rückführbar.

2
1.1
Definitionsansätze der Logistik

higkeit an Bedarfs‐ und Umfeldveränderungen zu verbessern ...“10. Im Gegensatz zur


enger gefassten Logistikdefinition von PFOHL reduziert KLAUS nicht auf Transferaktivi‐
täten im Leistungssystem der Unternehmung, sondern betont eine spezifische Sicht‐
weise wirtschaftlicher Phänomene und Zusammenhänge.

Eine sehr pragmatische Charakterisierung der Logistik, die Anforderungen bzw. Ziele
von Integrations‐ und Koordinationsaktivitäten im Wirtschaftsprozess in den Mittel‐
punkt stellt, kann anhand der sieben „r“ vorgenommen werden. Die Logistik hat dafür
Sorge zur tragen, dass die richtigen Objekte, in der richtigen Menge, zur richtigen Zeit,
am richtigen Ort, in der richtigen Qualität, zu den richtigen Kosten und mit den rich‐
ten Informationen verfügbar sind. Diese Aufgabenbeschreibung der Logistik betont
vor allem die operativen Leistungen der Logistik wie Transport, Lagerung und Um‐
schlagvorgänge, aber auch Zusatzleistungen wie Kommissionierung, Verpackung
sowie die logistischen Informationsleistungen.

Die in der Literatur verwendeten Logistikbegriffe deuten auf ein differenziertes Ver‐
ständnis über deren Aufgaben und Inhalte hin. In der Literatur besteht Einigkeit dar‐
über, dass als zentraler Begriffsinhalt der Logistik die zielgerichtete Überbrückung von
räumlichen und zeitlichen Disparitäten anzusehen ist. Diese Abgrenzung ist allerdings
ohne eine weitere Konkretisierung inhaltsleer und deckt auch nicht das gesamte Auf‐
gabenspektrum der Logistik ab.

Aufgrund der Tatsache, dass der Begriff Logistik zunächst in der Unternehmenspraxis
Einzug hielt, basieren die wissenschaftstheoretischen Erklärungen zur Logistik zu‐
meist auf einem Bottom‐up‐Ansatz, d. h. der Ausgangspunkt ist in konkreten Proble‐
men der objektiven Realität zu sehen. Die wissenschaftliche Meinung über das Er‐
kenntnisobjekt Logistik lässt sich in zwei Gruppen trennen, wobei stellvertretend für
die erste Gruppe die oben genannte Logistikdefinition von PFOHL und für die zweite
Gruppe die ebenfalls angesprochene Definition von KLAUS herangezogen werden
können11. Die erste Gruppe vertritt das klassische Logistikverständnis, wonach sich
die logistischen Aktivitäten auf das Transportieren, Umschlagen und Lagern be‐
schränken. Hinsichtlich der logistischen Zielsetzung richtet sich der Fokus dieser
Gruppe auf die effiziente Gestaltung dieser operativen Tätigkeiten, wobei die logisti‐
schen Führungsaufgaben auf die Planung, Durchführung, Steuerung und die Kontrol‐
le der Material‐ und Warenflüsse reduziert werden. Im Gegensatz dazu versteht die
zweite Gruppe unter Logistik eine Managementphilosophie mit „Fließsystemcharak‐
ter“, d. h. gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge werden in operative und strategi‐
sche Führungsentscheidungen integriert. Bezüglich der Gestaltung von flussorientier‐
ten Logistiksystemen werden, zusätzlich zu den Managementfunktionen der ersten
Gruppe, die Personalführung, die Organisationsentwicklung sowie die Informations‐
versorgung berücksichtigt.

10 Vgl. KLAUS (1993, S. 29).


11 Vgl. GÖPFERT (2005, S. 7ff).

3
Grundlagen der Logistik
1
Neben den Bottom‐up‐Ansätzen werden in der Literatur auch Top‐down‐Erklärungs‐
ansätze diskutiert12. Zusammenfassend verstehen die Top‐down‐Ansätze unter Logis‐
tik eine spezielle Führungskonzeption, wobei sich der Gegenstandsbereich auf die
Durchsetzung des Flussprinzips im Ausführungssystem des Unternehmens begrenzt
und die ausführenden Transferaktivitäten ausgeklammert werden.

Anhand dieser kurzen Darstellung der Verwendungsvielfalt des Begriffs Logistik kann
die bestehende Definitionsproblematik folgendermaßen zusammengefasst werden:

a) Als Minimalkonsens aus den gängigen Logistikdefinitionen kann festgestellt wer‐


den, dass sich der Objektbereich der Logistik derzeit auf räumliche und zeitliche
Überbrückungsprozesse von Waren und Material in und zwischen Unternehmen
konzentriert. Hingegen wird die Einbeziehung von Informationen, Energie und
Personen nicht einheitlich akzeptiert.

b) Für die Logistik besteht eine Abgrenzungsproblematik darin, dass logistische


Transferprozesse von nicht‐logistischen entweder intransparent oder willkürlich
vorgenommen werden. Subsumiert man andererseits alle Prozesse zur Überbrü‐
ckung von räumlichen und zeitlichen Disparitäten zur Logistik, dann gibt es kaum
noch Unternehmensbereiche, die nicht zur Logistik gehören. Durch die Verwen‐
dung des Begriffs Logistik wird deshalb noch kein eigentlicher Erkenntnisfort‐
schritt offensichtlich.

c) In einigen Definitionen ist die Begriffsfassung der Logistik durch die Breite der
auszuübenden Koordinationsfunktion sicherlich zu weit gefasst. Der daraus resul‐
tierende Anspruch der Logistik kommt dem der gesamten Unternehmensführung
gleich und widerspricht den Intentionen einer auf Erkenntnisfortschritt ausgerich‐
teten theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem Logistikbegriff.

Im Folgenden wird auf der Basis einer Synthese der Bottom‐up‐ und Top‐down‐
Ansätze, unter Logistik eine spezielle Führungskonzeption zur nachhaltigen Planung,
Steuerung, Koordination, Abwicklung und Kontrolle aller vorwärts‐ und rückwärtsge‐
richteten Material‐, Waren‐ und Informationsflüsse von den Lieferanten (bzw. Kun‐
den) in das Unternehmen, durch das Unternehmen sowie zu den Kunden (bzw. Liefe‐
ranten) verstanden. Mit dieser Definition soll für die Logistik weder eine Eingrenzung
auf Flüsse im Ausführungssystem, noch auf spezielle Führungsebenen vorgenommen
werden.

12 Als typische Vertreter der Top‐down‐Ansätze sieht GÖPFERT (2005, S. 12ff) die Autoren DIE‐
DERICH (1986), IHDE (1987) und WEBER (1994).

4
1.2
Entwicklungsphasen der Logistik in der Unternehmenspraxis

1.2 Entwicklungsphasen der Logistik in der


Unternehmenspraxis
Seit dem Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Logistik in
Deutschland hat sich das vorherrschende Logistikverständnis radikal verändert und
weiterentwickelt. Wichtige Merkmale der Logistik sind ihr beständiger Wandel und
die Flussorientierung. Das Merkmal der Flussorientierung beinhaltet eine Betrachtung
des Material‐, Waren‐ und Informationsflusses in der gesamten Logistikkette zwischen
Lieferant und Kunde und zielt darauf ab, die Wertschöpfungsaktivitäten stärker auf
die unternehmerische Marktleistung auszurichten. Die Logistik muss sich einer konti‐
nuierlichen Neuorientierung unterziehen, um auch bei veränderten Rahmenbedin‐
gungen die effiziente und effektive Erfüllung ihrer Aufgabenstellungen zu gewährleis‐
ten. In den letzten 40 Jahren hat sich die Logistik dabei von einer stark auf die physi‐
schen Abläufe fokussierten Unternehmensfunktion zu einem ganzheitlichen, prozess‐
und kundenorientierten Managementkonzept und Führungsinstrument entwickelt.
Diese Entwicklung der Logistik lässt sich, ausgehend von den unterschiedlichen Auf‐
fassungen zu ihrer Abgrenzung und Definition, bis dato in vier Phasen untergliedern.
Diese bauen aufeinander auf bzw. gehen fließend ineinander über, sodass ein organi‐
satorischer Lernprozess beschrieben wird (vgl. Abbildung 1‐1). Die Logistik entwickelt
sich im Regelfall sukzessiv und in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen ver‐
schiedener Branchen oder Regionen inhomogen. Deshalb befinden sich auf jeder Ent‐
wicklungsstufe Unternehmen mit einem entsprechend ausgeprägten Logistikver‐
ständnis und ‐system13.

Phase 1: Die traditionelle Logistik – Erbringung von material‐ und warenflussbe‐


zogenen Dienstleistungen

In ihrer ersten Entwicklungsphase wird die Logistik durch die Etablierung der Marke‐
tingperspektive beeinflusst, die zu einer Verbreiterung des Produktangebots, einer
Ausdehnung von nationalen und internationalen Märkten sowie einer Zunahme des
Wettbewerbsdrucks führt. Die steigende Anzahl der Basisprodukte und der Varianten
hat eine größere Teilevielfalt an Roh‐, Hilfs‐, Betriebsstoffen, komplexere Produkt‐
programme, kleinere Sendungsvolumina und höhere Lager‐ und Transportkosten zur
Folge14. Als Konsequenzen aus der Zunahme der Produktvielfalt resultieren
Herausforderungen in der Beschaffung, Produktion und Distribution. Lager‐, Trans‐
port‐ und Umschlagfunktionen gewinnen an Bedeutung, sie weisen jedoch aufgrund
der organisatorischen Zersplitterung der material‐ und warenbezogenen Dienst‐
leistungen einen deutlichen Rückstand bezüglich des Ausschöpfens etwaiger Speziali‐
sierungsvorteile auf.

13 Die folgenden Ausführungen sind LASCH (1998, S. 9‐16) entnommen.


14 Vgl. SHAPIRO/HESKETT (1985, S. 10).

5
Grundlagen der Logistik
1
In der ersten Entwicklungsstufe etabliert sich die Logistik als funktionale Speziali‐
sierung von Transport‐, Umschlag‐ und Lagerprozessen. Die Optimierung material‐
und warenflussbezogener Dienstleistungen wurde jeweils innerhalb der einzelnen
Funktionsbereiche, z. B. der Beschaffung, der Produktion oder dem Vertrieb, durchge‐
führt. Die Sichtweise der funktionsbezogenen Spezialisierung wird als Ursprung der
Logistik bezeichnet und ist auch noch heute weit verbreitet15. Damit sollen Speziali‐
sierungsvorteile zum einen durch das Zusammenfassen verschiedener material‐ und
warenflussbezogener Dienstleistungen und zum anderen in der Realisierung von
Erfahrungskurveneffekten innerhalb einzelner Dienstleistungsarten erzielt werden.
Durch die funktionsorientierte Sichtweise der Logistik wird den ineffizienten Schnitt‐
stellen zwischen verschiedenen Funktionsbereichen nur eine geringe Beachtung ge‐
schenkt. Folgen dieser Effizienz mindernden organisatorischen Zersplitterung der
Leistungsbereiche sind zum Teil redundante Arbeitsstrukturen, unwirtschaftliche Teil‐
prozesse, hohe Lagerbestände, verteilte Sicherheitsbestände und lange Auftragsbear‐
beitungszeiten. Diese Schnittstellen führen zu Effizienzverlusten gegenüber der bei
einer Gesamtplanung potenziell erzielbaren Gesamtlösung.

Wesentliche Grundlage für die weitere Verbreitung der Logistik bilden das Verständ‐
nis für ein Gesamtkostendenken sowie die Adaption und die Anwendung der Er‐
kenntnisse aus der allgemeinen Systemtheorie. Das Gesamtkostenkonzept besagt, dass
bei der Beurteilung logistischer Entscheidungen und Systeme die gesamten mit der
betrieblichen Leistungserstellung verbundenen logistischen Kostenkategorien sowie
deren mittelbare und unmittelbare Trade‐offs zu den Kosten anderer Funktions‐
bereiche zu berücksichtigen sind. Als weitere unterstützende Elemente für die Logistik
können aufgrund des Wandels vom Verkäufer‐ zum Käufermarkt die gestiegene
Sensibilität für den Kundenservice und die bewusste Auswahl der Distributionskanäle
angeführt werden. Aus dem Zusammenspiel der genannten Faktoren heraus entsteht
ein Logistikansatz, dessen Schwerpunkt zunächst in der Distribution liegt. Eine
Ausnahme bildet lediglich die Automobilindustrie, in der sich die Anfänge der
Logistik aufgrund der spiegelbildlichen physischen Güterflusskomplexität im Be‐
schaffungsbereich finden.

Hauptaufgabe des reaktiv am Distributionsgedanken ausgerichteten Logistikansatzes


ist es, ein Höchstmaß an Kundenservice zu gewährleisten sowie über eine Reduktion
der von den Unternehmen mittlerweile als substantiell erkannten Logistikkosten einen
Beitrag zur Effizienzsteigerung zu erlangen. Für Unternehmen, die eine Kostenführer‐
strategie verfolgen, versucht die Logistik, neue Kostensenkungspotenziale zu er‐
schließen, wo diese im Bereich traditioneller fertigungswirtschaftlicher Rationalisier‐
ungsansätze ausgeschöpft scheinen.

In der ersten Entwicklungsphase der Logistik in Deutschland Anfang der 70er Jahre
nutzten deutsche Unternehmen die Logistik als einen Ansatz zur Kostenreduzierung
durch Spezialisierung bei der Erbringung von material‐ und warenflussbezogenen

15 Vgl. WEBER (2002, S. 9).

6
1.2
Entwicklungsphasen der Logistik in der Unternehmenspraxis

Dienstleistungen. Spezialisierungsvorteile werden durch die Zusammenfassung und


Automatisierung von Lager‐, Transport und Umschlagtätigkeiten erreicht.

Phase 2: Logistik als Koordinationsfunktion – Koordination der Material‐, Waren‐


und Informationsflüsse zwischen Quelle und Senke

Für die zweite Entwicklungsphase der Logistik sind zunächst weitere bedeutsame
Kontextveränderungen festzustellen. Die gesamtwirtschaftliche Situation ist zu Beginn
der siebziger Jahre durch die Ölkrise und die damit einhergehenden inflationären
Tendenzen bei gleichzeitiger Stagnation (Stagflation) gekennzeichnet, durch welche
die Perspektive von der Absatz‐ auf die Beschaffungsseite der Unternehmen ver‐
schoben wird. Ein wachsendes Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge sowie
die daraus resultierenden strengeren gesetzlichen Vorschriften führen zu Entwick‐
lungen in der Entsorgungslogistik. Neben diesen sozio‐ökonomischen Veränderungen
heben vor allem die technologischen Entwicklungen den Stellenwert der Logistik.
Wesentlich sind die Entwicklungen, die durch die Verbesserung der Computertechnik
und Automatisierung induziert werden. Insbesondere die informationelle Vernetzung
von Beschaffung, Produktion und Absatz sowie der Zugriff auf eine aktuelle, inte‐
grierte Datenbasis eröffnen Optionen, die das Aufgabenspektrum und die Möglich‐
keiten der Logistik vorantreiben16. Das Ziel der Integration von computerunter‐
stützten Technologien und Produktionsplanungs‐ und ‐steuerungssystemen ist eine
flexible Automatisierung der Produktion. Anstelle der „Economies of Scale“, die durch
eine homogene Massenfertigung und starre Automatisierung gekennzeichnet ist,
treten „Economies of Scope“, die den Konflikt zwischen Kosten und Flexibilität
überwinden, indem sie eine wirtschaftliche Automatisierung bei Mehrprodukt‐
Produktion mit kleinen Losgrößen ermöglichen.

Die Bildung der Hauptfunktionen Beschaffung, Produktion und Absatz ermöglicht


eine Aufgabenspezialisierung, die einerseits die Komplexität der Leistungsaufgabe
reduziert, aber andererseits eine Zerschneidung von Interdependenzen und die
Schaffung von Schnittstellen zur Folge hat. Diese Schnittstellen führen zu Effizienz‐
verlusten gegenüber der bei einer Gesamtplanung potenziell erzielbaren Gesamt‐
lösung. Der zweite Evolutionspfad der Logistik wird im Wesentlichen durch die
Koordination der Material‐ und Warenflüsse zwischen den nicht adäquat berücksich‐
tigten Interdependenzen zwischen den Bereichen Beschaffung, Produktion und Absatz
geprägt. Innerhalb dieser Funktionsbereiche ist eine Optimierung der material‐ und
warenflussbezogenen Dienstleistungen weitgehend erfolgt. Die mangelnde prozessbe‐
zogene Abstimmung zwischen diesen Bereichen hat jedoch eine Ausweitung des
Aufgabenbereichs der Logistik um material‐ und warenflussbezogene Koordinations‐
aufgaben zur Folge. Das Ziel ist die Bildung funktions‐bereichsübergreifender Lo‐
gistikketten, um die logistischen Aufgaben der drei Bereiche unter ein umfassendes
Logistikverständnis zusammenzufassen. Durch eine bereichsübergreifende Flussopti‐
mierung gibt die Logistik ihre Beschränkung auf Teile der Wertschöpfungskette auf

16 Vgl. BOWERSOX ET AL. (1986, S. 14).

7
Grundlagen der Logistik
1
und betrachtet sie insgesamt. Einheitliche Materialträger, Verpackungs‐ und Identi‐
fikationssysteme, vernetzte Betriebsdatenerfassungssysteme, Software und Datenba‐
sen für integrierte Materialwirtschafts‐, Produktions‐ und Distributionsplanungen
ermöglichen ein durchgängiges Bestands‐, Kapazitäten‐ und Terminmanagement im
Unternehmen. Der Koordinationsgedanke der Logistik breitet sich auch über die Un‐
ternehmensgrenzen hinweg aus. Im Rahmen eng gekoppelter Just‐in‐time Koopera‐
tionen zwischen industriellen Zuliefer‐ und Montagebetrieben werden physische und
datentechnische Integrationsmaßnahmen auch zwischen einzelnen Unternehmen er‐
möglicht. Ressourcen werden erst dann bereitgestellt, wenn sie benötigt werden, so‐
dass die Logistik eine Beeinflussung des Bedarfs an material‐ und warenflussbezo‐
genen Leistungen vornimmt. In der Wissenschaft und Praxis avanciert die Logistik
endgültig zu einer auch marktübergreifenden Querschnittsfunktion und rückt gleich‐
zeitig in der Unternehmenshierarchie auf. Neben einer angestrebten Kostenführer‐
schaft durch Kostensenkung in der gesamten logistischen Kette wird auch eine
Differenzierung durch erhöhten logistischen Leistungsgrad bei Produkten und
Zusatzleistungen angestrebt. Neben den bisher verwendeten Kostengrößen und deren
Interdependenzen werden Leistungsgrößen spezifiziert, die über die Güte der Logistik
Auskunft geben sollen. Für den Distributionsbereich können insbesondere die Liefer‐
zeit, Lieferzuverlässigkeit, Lieferverfügbarkeit, Lieferbeschaffenheit sowie die Liefer‐
flexibilität als beschreibende Indikatoren für den Lieferservice angeführt werden.

Phase 3: Logistik als Flussorientierung – Management der Prozessorientierung im


Unternehmen

Zunächst steigt in den neunziger Jahren die Wettbewerbsintensität weiter an, die sich
in weltweiten Überkapazitäten, einer schnelleren internationalen Angleichung von
Produktqualitäten, verkürzten Innovationszyklen, einer hohen Markttransparenz und
in einer steigenden Individualisierung der Kundenwünsche äußert17. Des Weiteren
kann durch eine zunehmende Know‐how‐Konzentration eine Verringerung der Ferti‐
gungstiefe sowie eine Konzentration auf strategische Kernkompetenzen festgestellt
werden. Die Verringerung der Fertigungstiefe erhöht jedoch die Logistikkomplexität,
da ein, gemessen an der Gesamtleistung der Unternehmung, wachsender Anteil an
Zukäufen notwendig wird.

Diese Marktveränderungen stellen die Unternehmen vor das Problem, Differenzie‐


rung mit Kostensenkungen verbinden zu müssen. Mit dem traditionellen, durch Funk‐
tionsspezialisierung gekennzeichneten Denk‐ und Handlungsrahmen des Manage‐
ments können diese Anforderungen nicht bewältigt werden. Es kommt zu Struktur‐
brüchen, die mit einer Transformation der bisher funktionsorientierten, hierarchisch
organisierten Unternehmen in fluss‐ und prozessorientierte Systeme einhergehen. Die
Ausrichtung sämtlicher unternehmerischer Aktivitäten auf die Bedürfnisse der Kun‐
den wird durch eine Fluss‐ und Prozessorientierung verfolgt, die das Unternehmen
unter dem Aspekt einer Wertschöpfungskette betrachtet. Die gesamte Abfolge von

17 Vgl. SIMON (1988, S. 462f).

8
1.2
Entwicklungsphasen der Logistik in der Unternehmenspraxis

arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozessen wird als Folge von internen Lieferanten‐


Kunden‐Beziehungen interpretiert, sodass der Gedanke der Kundenorientierung
extern wie intern gleichermaßen von Bedeutung ist. Das Unternehmen wird nicht
mehr als Summe einzelner Teilfunktionen, sondern als ganzheitliches System unter‐
einander vernetzter Prozessketten verstanden und geführt.

Die Durchsetzung des Flussprinzips wird die zentrale Aufgabe für die Logistik und
der Schlüssel für erfolgreiche Unternehmen. Der Fokussierungswandel von einer
Struktur‐ zu einer Prozessorientierung geht mit einer Respezialisierung einher, die
durch das gestiegene material‐ und warenflussbezogene Know‐how ermöglicht wird.
Die Informations‐ und Kommunikationstechnik entwickelt sich zu einem wesentlichen
Treiber der Logistik. Ganzheitliches Denken und Handeln ermöglichen die Reali‐
sierung von teilsystemübergreifenden Optimierungspotenzialen. Die Logistik wird als
querschnittsorientierte Grundhaltung zur zeiteffizienten, kunden‐ und prozessorien‐
tierten Gestaltung von Wertschöpfungsaktivitäten aufgefasst. Dieses Logistikverständ‐
nis impliziert ein logistisches Denken und Handeln in sämtlichen Unternehmensein‐
heiten und Hierarchiestufen. In ihrer dritten Entwicklungsphase wandelt sich die
Logistik von einer Dienstleistungsfunktion zu einer strategischen Führungsfunktion,
die das Ziel verfolgt, das Leistungssystem der Unternehmung flussorientiert auszuge‐
stalten18.

Phase 4: Logistik als Supply Chain Management – Management unternehmensüber‐


greifender Wertschöpfungsketten

Parallel zur Verringerung der Wertschöpfungstiefe kann eine Tendenz zur Globali‐
sierung von Unternehmensaktivitäten festgestellt werden. Neben dem Ausnutzen von
regionalen Kosten‐ und Infrastrukturvorteilen werden durch die zunehmende Globa‐
lisierung eine weltweite Marktversorgung und Wettbewerbspräsenz gewährleistet.
Zur Umsetzung der Globalisierung ist eine leistungsfähige Logistik erforderlich, da
nicht nur die beschaffungsseitigen Versorgungswege länger, sondern auch die Infor‐
mationsflüsse zwischen allen Beteiligten komplexer werden. Der hohe Wettbewerbs‐
druck fordert weitere Effizienz‐ und Effektivitätsgewinne, die eine engere Zusammen‐
arbeit der Unternehmen innerhalb einer Wertschöpfungskette erfordern. In der dritten
Entwicklungsphase der Logistik erfolgte zunächst die Optimierung von Prozessketten
häufig nur für ein einzelnes Unternehmen. Als Folge entstanden Probleme und
Ineffizienzen für andere Akteure in der Wertschöpfungskette, die zu Leistungsein‐
bußen und zusätzlichen Kosten für das gesamte System führten. Die ganzheitliche Be‐
trachtung und Verbesserung dieser suboptimalen Einzellösungen integriert die Funk‐
tionen zu Prozessketten und die Unternehmen zu Wertschöpfungsketten.

Die vierte und derzeit höchste Entwicklungsstufe der Logistik unterscheidet sich von
ihrer Vorstufe durch die unternehmensübergreifende Durchsetzung der Flussorien‐
tierung und wird auch als Supply Chain Management (SCM) bezeichnet. SCM ist die

18 Vgl. WEBER (1996, Sp. 1106).

9
Grundlagen der Logistik
1
Koordination einer strategischen und langfristigen Zusammenarbeit von Partnern im
gesamten Logistiknetzwerk zur Entwicklung und Produktion von Produkten und
Dienstleistungen. Die Zusammenarbeit bezieht sich sowohl auf die Produktion und
Beschaffung, aber auch auf die Produkt‐ und Prozessinnovation, wobei jeder Partner
auf seinen Kernkompetenzen tätig ist19. Führende Unternehmen erweitern ihren Blick
über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus und kooperieren mit ihren
Wertschöpfungspartnern mit dem Ziel, die gesamte Wertschöpfungskette vom Zulie‐
ferer bis zum Endkunden zu optimieren.

Mit dem Konzept des Supply Chain Managements wurden das Prozessdenken und
die konsequente Kundenorientierung zum neuen Paradigma. Das Prozessketten‐
management kommt über die gesamte Wertschöpfungskette zur Anwendung, wobei
der Kunde im Mittelpunkt steht. Durch frühzeitige gegenseitige Informationen in der
unternehmensübergreifenden Wertschöpfungskette wird eine schnelle und durch‐
gängige Reaktion auf Kundenwünsche und eine enge und abgestimmte Planung
ermöglicht, die zu Vorteilen gegenüber unkoordinierten Wettbewerbern führen.
Neben der Informationstransparenz wird auch die Kompatibilität von Steuerungs‐
systemen und ‐strukturen in der Wertschöpfungskette angestrebt.

Das logistische Kosten‐ und Leistungsprofil bestimmt in zunehmendem Maße den


Kundennutzen und wird sowohl vom Kunden als auch vom Wettbewerber verstärkt
wahrgenommen, sodass heute eine effiziente und effektive Logistik zum Aufbau und
zur Verteidigung strategischer Wettbewerbsvorteile genutzt wird. Exzellente Logistik
bedeutet, den Kunden als Ausgangspunkt und Initiator der Produktgestaltung und
der Produkt begleitenden Dienstleistungen zu sehen, das Logistiknetzwerk auf
zukünftige Anforderungen vorzubereiten und durch Zeitvorteile in Entwicklung,
Beschaffung, Produktion, Vertrieb und Entsorgung einen nachhaltigen Wettbewerbs‐
vorteil für das Unternehmen zu schaffen. Der aktuelle Fokus der Logistik geht damit
weit über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus, sodass sich die Logistik heute
verstärkt dem Aufbau und Management globaler Unternehmensnetzwerke widmet.
Die dargestellten Entwicklungsphasen der Logistik resultieren aus spezifischen Kon‐
textfaktorausprägungen in der Unternehmenspraxis und deren Veränderungen. Wäh‐
rend zu Beginn der Auseinandersetzung mit logistischen Phänomenen die Lösung der
operativen Transport‐, Versorgungs‐ und Distributionsprobleme im Zentrum stand,
traten mit zunehmendem Erkenntnisfortschritt strategische Themen in den Vorder‐
grund. Für die Bewältigung von unternehmensspezifischen Entwicklungsprozessen ist
jedoch zu beachten, dass Unternehmen erst dann die nächste Entwicklungsphase
erreichen können, wenn sie die jeweilige konzeptionelle Vorstufe abgeschlossen ha‐
ben. In der folgenden Abbildung 1‐1 werden die Entwicklungsphasen in ihrem
Zeitablauf dargestellt.

19 Vgl. SCHÖNSLEBEN (2011, S. 101).

10
1.3
Logistiksysteme

Abbildung 1‐1 Entwicklungsphasen der Logistik20

1970
Logistik als material‐ und warenflussbezogene Dienstleistung

Phase 1
Transport Transport
Beschaffung Umschlag Produktion Umschlag Distribution
Lagerung Lagerung
Funktionale Spezialisierung
1980
Logistik als Koordinationsfunktion

Kunde

Phase 2
Transport Transport
Beschaffung Umschlag Produktion Umschlag Distribution
Lagerung Lagerung
Funktionsübergreifende Logistikketten
1990
Logistik als Flussorientierung im Unternehmen
Lieferanten

Phase 3
Beschaffung Produktion Distribution

Kunde
Entsorgung
Management der Prozessorientierung im Unternehmen
2000
Logistik als unternehmensübergreifende Flussorientierung
Lieferanten

Logistikdienstleister Logistikdienstleister Logistikdienstleister


Zeitliche Entwicklung

Phase 4
Rohstoff‐, Teile‐, Groß‐, Einzelhandel,
Endproduktehersteller Kunde
Komponentenlieferant Distributionszentrum

Management unternehmensübergreifender Wertschöpfungsketten

Aufbau und Optimierung globaler Netzwerke

1.3 Logistiksysteme
Die Trennung von Güterbereitstellung und Güterverwendung hat vielfältige zeitliche
und räumliche Überbrückungsbedarfe zur Folge. Die Verknüpfung zwischen der
Güterbereitstellung und der ‐verwendung bildet die Güterverteilung, die sich durch
räumliche und zeitliche Transformationsprozesse vollzieht. Unter Logistiksystemen
werden spezielle Leistungssysteme zur raum‐zeitlichen Transformation von Logisti‐
kobjekten (Waren, Materialien, Informationen) verstanden. Im Hinblick auf die Unter‐
schiede in den Aufgaben, Zielen und Problemen, die sich bei der Gestaltung eines
Logistiksystems ergeben, ist eine Differenzierung verschiedener Logistiksysteme not‐
wendig21.

20 In Anlehnung an BAUMGARTEN (2008, S. 14).


21 Die folgenden Ausführungen sind LASCH (1998, S. 16ff) entnommen.

11
Grundlagen der Logistik
1
1.3.1 Abgrenzung von Logistiksystemen
In Abhängigkeit von der jeweiligen Betrachtungsebene lassen sich institutionell mak‐
ro‐, mikro‐ und metalogistische Systeme unterscheiden22.

Als makrologistische Systeme sind die Logistiksysteme einer Gesellschaft23 zu verste‐


hen, die zur Gewährleistung einer leistungsfähigen Infrastruktur, aus geeigneten Ver‐
kehrsnetzen, Logistikzentren, Institutionen und wirksamen Gesetzen besteht. Unab‐
hängig davon, wem die Güter, Quellen und Senken gehören, soll mit diesen gesamt‐
wirtschaftlichen Voraussetzungen das Ziel einer effizienten Waren‐, Material‐ und
Informationsversorgung zwischen den Quellen und Senken verfolgt und damit eine
optimale Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft sichergestellt werden.

Unter mikrologistischen Systemen sind die logistischen Systeme einzelner öffentlicher


oder privater Organisationen zu verstehen. Es stellt auf einer niedrigeren Systemebene
einen Ausschnitt aus dem makrologistischen System dar und ist immer ein intraorga‐
nisatorisches System24. Das Ziel besteht hierbei in der bedarfsgerechten Ver‐ und Ent‐
sorgung der Organisationen mit den benötigten Waren, Gütern und Informationen.
Die Grenzen eines mikrologistischen Systems beziehen sich demnach beispielsweise
auf ein einzelnes Unternehmen oder eine Abteilung. Die Aufgabe besteht darin, die
Transport‐, Umschlag‐, Lager‐ und Informationsprozesse entlang der unternehmeri‐
schen Logistikkette so zu organisieren, dass die vom Kunden geforderten Logistikleis‐
tungen bestmöglich erfüllt werden.

Systeme der Meta‐Logistik werden auf einer Ebene zwischen der Mikro‐ und Makro‐
Logistik betrachtet. Metalogistische Systeme sind interorganisatorische Systeme, d. h.
sie gehen über die rechtlichen Grenzen von Einzelorganisationen hinaus und beinhal‐
ten eine Kooperation mehrerer Organisationen, die sich beispielsweise durch die Kon‐
zentration auf die Kernkompetenzen ergeben. Die Meta‐Logistik bezieht sich im We‐
sentlichen auf die Waren‐, Material‐ und Informationsströme in und zwischen den
Industrieunternehmen, Lieferanten und Kunden sowie zu Handels‐ und Dienstleis‐
tungsunternehmen. Beispiele für metalogistische Systeme sind Kooperationen unter
Unternehmen der verladenden Wirtschaft, Kooperationen zwischen Logistikunter‐
nehmen sowie Kooperationen zwischen Logistikunternehmen und der verladenden
Wirtschaft.

Durch die ganzheitliche Denkweise der Logistik erscheint eine Abgrenzung in Makro‐,
Meta‐ und Mikro‐Logistik fraglich. Gerade bei strategischen Kooperationen in der
Logistik werden die mikrologistischen Systeme der betroffenen Einzelwirtschaften
miteinander verschmolzen. Eine exakte Unterscheidung der einzelnen Mikro‐Logisti‐
ken, aber auch eine Trennung in Mikro‐ und Meta‐Logistik erscheint somit kaum reali‐
sierbar.

22 Vgl. PFOHL (2010, S. 14ff).


23 Grundsätzlich ist es dabei unerheblich, ob es sich bei der betrachteten Gesellschaft zugleich um
ein politisches Gemeinwesen handelt oder ob sie ein multinationales Gebilde beschreibt.
24 Vgl. KIRSCH ET AL. (1973, S. 85).

12
1.3
Logistiksysteme

1.3.2 Mikrologistische Subsysteme


Zum Gegenstandsbereich der Mikro‐Logistik zählen Waren‐, Material‐ Informations‐
flüsse innerhalb und zwischen Einzelwirtschaften, wobei als Einzelwirtschaften be‐
vorzugt Industrie‐ und Handelsunternehmen betrachtet werden. Für die Abgrenzung
mikrologistischer Subsysteme stehen unterschiedliche Kriterien zur Verfügung. In
funktioneller Hinsicht lassen sich beispielsweise Subsysteme nach den verschiedenen
Phasen des Güterflusses in Beschaffungs‐, Produktions‐, Distributions‐, Ersatzteil‐ und
Entsorgungslogistik abgrenzen (vgl. Abbildung 1‐2).

Die Unternehmenslogistik lässt sich in die Teilsysteme Versorgungs‐ und Ent‐


sorgungslogistik unterteilen. Diese beiden Teilsysteme umfassen

 den physischen Güterfluss von den Lieferanten bis zum Unternehmen, innerhalb
des Unternehmens und vom Unternehmen zum Kunden einschließlich der umge‐
kehrt verlaufenden Flüsse zur kreislauforientierten Rückführung von Konsumti‐
onsrückständen sowie den

 komplementären Informationsfluss, der den Güterfluss zeitlich vorauseilend plant


und auslöst, begleitend regelt sowie zeitlich nachgelagert bestätigt und kontrol‐
liert.

Obwohl eine Abgrenzung dieser beiden Teilsysteme dem Gedanken der Querschnitts‐
funktion und funktionsübergreifenden Koordinationsfunktion widerspricht, hilft sie
jedoch bei einer thematischen Zuordnung von einzelnen Problemstellungen und Prob‐
lemlösungsansätzen zu Aufgabenfeldern im Rahmen der Unternehmenslogistik. Im
Rahmen der Aufgabenzuordnung muss berücksichtigt werden, dass es die richtige
Abgrenzung der Logistiksysteme nicht gibt. Aufgrund spezieller Konstellationen
können Zuordnungen, wie sie im Folgenden vorgenommen werden, nicht den Unter‐
nehmenszielen entsprechen.

Bei einer funktionsorientierten Betrachtung lässt sich die Versorgungslogistik, die für
die raum‐zeitliche Gütertransformation vom Beschaffungsmarkt zum Absatzmarkt
zuständig ist, in die logistischen Subsysteme Beschaffungs‐, Produktions‐, Distributi‐
ons‐ und Ersatzteillogistik unterteilen. Durch einen umweltschonenden Umgang mit
den zur Verfügung stehenden Ressourcen wird das Ziel verfolgt, die bei der Beschaf‐
fung, Produktion, Distribution und Ersatzteilversorgung entstehenden Rückstände im
Wirtschaftskreislauf zu berücksichtigen. Aufgabe der Entsorgungslogistik, die sich in
die Subsysteme Redistributions‐, Aufbereitungs‐ und Wiedereinsatzlogistik untertei‐
len lässt, ist die effektive und effiziente Gestaltung des logistischen Rückstandflusses
von den verschiedenen Rückstandsquellen. Falls ein Recycling unter Berücksichtigung
ökonomischer, ökologischer und technischer Faktoren umsetzbar ist, dann bilden die
Versorgungs‐ und Entsorgungslogistik im Idealfall einen geschlossenen Materialkreis‐
lauf25.

25 Vgl. WILDEMANN (2005, S. 57).

13
Grundlagen der Logistik
1
Abbildung 1‐2 Unternehmenslogistik

Unternehmenslogistik

Versorgungslogistik
Beschaffungs‐ Produktions‐ Distributions‐
logistik
Beschaffungslager logistik logistik
Zulieferungslager

Zwischenlager
Fertigwaren‐

Produktions‐
lager

prozesse
Retouren

Absatzmarkt, Händler und


Distributions‐
Markt der Primär‐ und

logistik
Sekundärrohstoffe

Ersatzteillager

Kunden
Ersatzteillogistik

Recycling‐
Auslieferungs‐ prozesse Sammellager
lager Zwischenlager Inspektion

Wiederein‐ Aufberei‐ Redistribu‐


Beseitigung satzlogistik tungslogistik tionslogistik Beseitigung

Entsorgungslogistik

Informationsfluss (auslösend)
Informationsfluss (begleitend)
Güter‐/Materialfluss

1.3.2.1 Beschaffungslogistik
Zur Beschaffungslogistik gehören die Planung, Steuerung, Koordination, Kontrolle
und physische Behandlung des Material‐ und Kaufteileflusses von den Lieferanten bis
zur Bereitstellung für die Produktion einschließlich des dazu erforderlichen Informa‐
tionsflusses zur zielgerechten Versorgung der Produktion. Der Zuständigkeitsbereich
der Beschaffungslogistik erstreckt sich vom Warenausgang der Lieferanten am Be‐
schaffungsmarkt bis zum Eingangslager oder aber auch bis zur Bereitstellung für die
Produktion des abnehmenden Unternehmens, wobei das richtige Material in der rich‐
tigen Qualität zur Aufrechterhaltung der Produktion zur richtigen Zeit, am richtigen
Ort und in der richtigen Menge bereitzustellen ist. Die Beschaffungslogistik bildet
somit die Schnittstelle zwischen den Beschaffungsmärkten und dem Unternehmen
und hat strategische und operative Aufgaben zu erfüllen.

Zum besseren Verständnis soll die Beschaffungslogistik zunächst von den Bereichen
Beschaffung und Einkauf abgegrenzt werden. Zur Beschaffung gehören im betriebs‐
wirtschaftlichen Sprachgebrauch alle Aktivitäten zur Versorgung des Unternehmens
mit Produktionsfaktoren. Die Beschaffung umfasst somit neben der Beschaffungs‐
logistik auch die Beschaffungsmarktforschung, das Beschaffungsmarketing und die
Beschaffungspolitik. Mit dem Begriff Einkauf werden in der Literatur die eher opera‐

14
1.3
Logistiksysteme

tiven Tätigkeiten des betrieblichen Versorgungsvorganges verstanden. Die Bestellung,


Marktabklärung oder die Vereinbarung über Preise und Konditionen sind typische
Beispiele für die Aufgaben des Einkaufs.

In Abhängigkeit von der Teilestruktur, der Leistungsfähigkeit der Lieferanten bezüg‐


lich qualitätsgerechter und zeitpunktgenauer Liefermöglichkeiten sowie den informa‐
tions‐, kommunikations‐ und verkehrstechnischen Anbindungen der Lieferanten wer‐
den geeignete Organisationsformen der Beschaffung und Warenwege gewählt. Nur
durch die kombinierte Anwendung verschiedener Lieferorganisationsformen können
geeignete Lösungen unter Berücksichtigung gegenläufiger Tendenzen wie beispiels‐
weise zwischen kostenminimaler Material‐ und Teilebereitstellung und einer Materi‐
albestandshaltung ermöglicht werden. Die Möglichkeiten der Beschaffung reichen von
der konventionellen Anlieferung durch Lieferanten über Güterverteilzentren bis hin
zu Just‐in‐Time‐Konzepten26. Für die Beschaffungslogistik können im Wesentlichen
die vier Gestaltungsvariablen Beschaffungsträger, Materialfluss, Informationsfluss und
Personal/Organisation unterschieden werden27.

Für die Gestaltungsvariable Beschaffungsträger kann als mögliches Entscheidungsfeld


die Lieferantenauswahl genannt werden. Durch die verschärfte Entwicklung der
Wettbewerbssituation sehen sich viele Unternehmen gezwungen, die Fertigungstiefe
zu verringern und die betriebliche Versorgungssituation auf wenige Lieferanten zu
konzentrieren. Mit Hilfe eines unternehmensspezifischen Kriterienkatalogs gilt es,
geeignete Lieferanten auszuwählen. Mögliche Auswahlkriterien bei der Lieferanten‐
auswahl sind die Mengen‐, Qualitäts‐, Entgelt‐, Logistik‐, Innovations‐, Informations‐,
Service‐, Umwelt‐ und Sozialleistung28.

Ein wichtiges Entscheidungsfeld im Bereich Materialfluss ist die Festlegung der be‐
schaffungsseitigen Transport‐ und Lagerkonzepte. Hier werden insbesondere Ent‐
scheidungen bezüglich der Warenwege, der Verkehrsträger und Transporttechno‐
logien, der Lagerstrategie sowie der Eigenerstellung bzw. dem Fremdbezug logisti‐
scher Beschaffungsleistungen getroffen. Die Auswahl der Verkehrsträger und
Transporttechnologien erfolgt beispielsweise anhand der Kriterien Transport‐
geschwindigkeit, Umschlagerfordernisse, Transportmenge pro Zeiteinheit und Trans‐
portpreis. Die Lagerhaltungsstrategie (z. B. fallweise Beschaffung, Vorratsbeschaffung,
produktionssynchrone Beschaffung) und die Bestellstrategie (z. B. Bestellrhythmus‐,
Bestellpunktverfahren) sollte unter anderem in Abhängigkeit der Nachfragestruktur,
der Wiederbeschaffungszeit und unter Berücksichtigung der Lagerhaltungskosten
bestimmt werden29.

Die Gestaltung einer effizienten Beschaffungslogistik, die sich durch niedrige Durch‐
laufzeiten und hohe Flexibilität auszeichnet, erfordert neben der sinnvollen Gestaltung

26 Vgl. LASCH (2020, S. 275ff).


27 Vgl. BONSELS, (1991, S. 72 ff).
28 Vgl. JANKER (2008, S. 96).
29 Vgl. KIRSCH ET AL. (1973, S. 523).

15
Grundlagen der Logistik
1
des Materialflusses auch einen abgestimmten Informationsaustausch. Der Grad der
Synchronisation als Messgrößen der zeitlichen Abstimmung zwischen Information
und Material unterscheidet einen dem Güterfluss vorauseilenden, zeitgleichen oder
nacheilenden Informationsfluss. Informationsflussaktivitäten können grundsätzlich in
operativ‐verwaltende und strategisch‐gestaltende Aufgaben differenziert werden. Zu
den operativ‐verwaltenden Funktionen gehören alle Tätigkeiten, die der Aufrechter‐
haltung des Materialflusses zwischen Lieferant und Abnehmer dienen, z. B. die Auf‐
gaben der Bestellentscheidung und der Bestellüberwachung. Die Variation von Stell‐
größen, die eine strukturelle Veränderung innerhalb der materiellen und informatori‐
schen Verbindung zwischen Lieferant und Abnehmer zur Folge hat, ist Gegenstand
der strategisch gestaltenden Aufgaben.

Bezüglich der Gestaltungsvariablen Personal/Organisation kann beispielsweise die


organisatorische Gliederung der Beschaffungslogistik genannt werden. Die Aufteilung
der Beschaffungslogistik nach der geografischen Lage der Lieferanten oder eine pro‐
duktbezogene Aufteilung können die Aufgabenerfüllung der Beschaffungslogistik
wesentlich beeinflussen.

1.3.2.2 Produktionslogistik
Im Fertigungs‐ bzw. Produktionsbereich werden die von den Beschaffungsmärkten
bezogenen materiellen Produktionsgüter (z. B. Rohstoffe, Halbfertigprodukte, Zukauf‐
teile) durch Herstell‐ und Montageprozesse zu Absatzprodukten umgewandelt. Ent‐
sprechend der Gliederung der Unternehmenslogistik nach den Phasen des Güterflus‐
ses ist die Produktionslogistik zwischen der Beschaffungs‐ und Distributionslogistik
angeordnet. Die Schnittstelle zur Beschaffungslogistik wird durch die Warenannahme
mit oder ohne Eingangslager bzw. durch die Bereitstellung der Einsatzgüter an der
ersten Produktionsstufe unmittelbar durch den Lieferanten gebildet30. Die entspre‐
chende Schnittstelle zur Distributionslogistik ist durch die Übergabe der Fertiger‐
zeugnisse an das Absatzlager bzw. den Versand gegeben. Der Aufgabenbereich der
Produktionslogistik befasst sich mit allen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem
Material‐ und Informationsfluss von Einsatzgütern (z. B. Roh‐, Hilfs‐, Betriebsstoffe)
vom Rohmateriallager zur Produktion sowie von Halbfabrikaten und Zukaufteilen
durch die Stufen des Produktionsprozesses, einschließlich aller Zwischenlagerungen,
über die Montage bis zum Fertigwarenlager31. Somit werden also auch innerhalb der
Produktionslogistik Lager‐, Transport‐ und Umschlagleistungen sowie logistische
Informationsleistungen erbracht.

Diese Beschreibung der Produktionslogistik macht bereits deutlich, dass zur betrieb‐
lichen Grundfunktion Produktion Abgrenzungsbedarf besteht. Zur Produktion gehö‐
ren alle mittelbar oder unmittelbar der Herstellung von Produkten dienenden Vor‐
gänge und Tätigkeiten, wie beispielsweise die Planung und Bestimmung von Ferti‐

30 Vgl. IHDE (1991, S. 215).


31 Vgl. RUPPER (1991, S. 11).

16
1.3
Logistiksysteme

gungstechnologien und ‐verfahren oder die konkrete Durchführung der Produktion


und Produktionssteuerung. Jedoch sind Produktions‐ und Logistikprozesse eng mitei‐
nander verknüpft, zum Teil sind sie untrennbar miteinander verbunden. Zwischen
Produktion und Logistik ergeben sich somit langfristige Koordinationsaufgaben, wie
die Planung des Fertigungslayouts und der Produktionsstrategie sowie im kurzfristi‐
gen Bereich die Planung von Maschinenbelegungen und Losgrößen, um nur einige
Beispiele zu nennen.

Die Aufgabenerfüllung der Produktionslogistik wird durch die Organisationsformen


der Fertigung (z. B. Werkstatt‐, Fließ‐, Zentrenfertigung) und durch das Produktions‐
planungs‐ und ‐steuerungssystem (PPS‐System) maßgeblich beeinflusst32. Unter dem
sukzessiv ablaufenden PPS‐Konzept werden rechnergestützte Systeme zur organisato‐
rischen Planung, Steuerung und Überwachung der betriebswirtschaftlichen Abläufe
von der Absatzplanung bis hin zum Versand unter Mengen‐, Termin‐ und Kapazitäts‐
aspekten verstanden. Hauptaufgaben der PPS sind die Produktionsprogramm‐
erstellung, die Mengen‐, Termin‐ und Kapazitätsplanung sowie die Auftrags‐
veranlassung und ‐überwachung.

Ausgelöst durch Informationsflüsse vom Absatzmarkt wird zunächst im Rahmen der


Grobplanung ein Produktionsprogramm festgelegt, welches die zu produzierenden
Erzeugnisse (Primärbedarf) nach Art, Menge und Termin für einen bestimmten Pla‐
nungszeitraum enthält. Mittelfristig werden anschließend die Aufgaben der Mengen‐,
Termin‐ und Kapazitätsplanung durchgeführt. In der Mengenplanung werden die
Bedarfsmengen der benötigten Materialen an den einzelnen Fertigungsstufen ermit‐
telt, die zur Realisierung des geplanten Produktionsprogramms notwendig sind. Im
Rahmen der Terminplanung werden früheste und späteste Anfangs‐ und Endzeiten
der einzelnen Bearbeitungsvorgänge ohne Einbeziehung von Kapazitätsrestriktionen
geplant. Die Kapazitätsplanung bestimmt den Kapazitätsbedarf, der in den zukünfti‐
gen Perioden auf jede einzelne Kapazitätseinheit trifft und führt einen Belastungsab‐
gleich zwischen dem Kapazitätsangebot und ‐bedarf durch. Im Übergang von der
Planungs‐ zur Realisierungsphase setzt die Produktionssteuerung an, welche die Auf‐
tragsveranlassung (Verfügbarkeitsprüfung, Fertigungsauftragsfreigabe, Maschinenbe‐
legungsplanung) und die Auftragsüberwachung umfasst. Zunächst wird eine Verfüg‐
barkeitsprüfung bzgl. der erforderlichen Materialien und der benötigten maschinellen
und humanitären Ressourcen durchgeführt. Anschließend werden die eingeplanten
Fertigungsaufträge entsprechend des geplanten Startterminfensters freigegeben. Die
sich anschließende Feinplanung umfasst eine detaillierte Festlegung der Abarbei‐
tungsreihenfolge und der Arbeitsplatzbelegung mit den freigegebenen Fertigungsauf‐
trägen. Der Auftragsveranlassung folgt die Auftragsüberwachung durch Soll‐Ist‐
Vergleiche bezüglich Qualität, Menge und Zeit, um eine planmäßige Auftragsfort‐
schritts‐ und Terminkontrolle zu ermöglichen. Durch entsprechende Informations‐
rückflüsse aus der Produktion können etwaige Abweichungen erfasst und notwendige
Gegenmaßnahmen eingeleitet werden.

32 Vgl. IHDE (1991, S. 215).

17
Grundlagen der Logistik
1
1.3.2.3 Distributionslogistik
Die Distributionslogistik gehört zum außenmarktorientierten Bereich der Logistik,
sodass sich ihr Zuständigkeitsbereich in zeitlicher Hinsicht von der Fertigstellung der
Endprodukte bis zur Bereitstellung beim Kunden und räumlich gesehen entsprechend
vom Fertigwarenlager respektive der Produktion bis zum Abnahmeort erstreckt. Das
Ziel der Distributionslogistik ist die marktgerechte Erfüllung der geforderten Lo‐
gistikleistungen. Somit muss die Distributionslogistik Strategien entwickeln, die ein
optimales Verhältnis zwischen Lieferservice und Logistikkosten ermöglichen. Dazu
gehören die Planung, Steuerung, Ausführung und Überwachung des physischen Wa‐
renflusses sowie des damit verbundenen Informationsflusses zwischen Produktions‐
und Handelsunternehmen und den jeweiligen Abnehmern.

Im Bereich der Distributionslogistik stellt sich vor allem die Frage nach der Abgren‐
zung zum Absatz‐ oder Vertriebsbereich eines Unternehmens. Aufgabe des Absatzes
ist es, Kundenkapazitäten zur Verfügung zu stellen, vorhandene Kundenkapazitäten
zu pflegen und zukünftige Kundenkapazitäten zu entwickeln33. Darüber hinaus ge‐
hört es zum Aufgabenbereich des Absatzes, zukünftige Kundenbedürfnisse zu erken‐
nen. Gerade im Hinblick auf neue Produkte ergibt sich für den Absatz eine enge Be‐
ziehung mit dem Forschungs‐ und Entwicklungsbereich. Die Distributionslogistik hat
dagegen die Aufgabe, diese vorhandenen Kundenkapazitäten mit Gütern physisch zu
versorgen.

Zu den strategischen Aufgaben gehören unter anderem die Ausgestaltung des Ver‐
triebsnetzes durch die Festlegung der horizontalen und vertikalen Distributions‐
struktur und geeigneter Lieferstrategien (z. B. Direktlieferung, mehrgliedrige Trans‐
portkette). Damit verbunden sind weitere Entscheidungen über die geographischen
Lagerstandorte der verschiedenen Lagerarten (z. B. Werks,‐ Zentral‐, Regional‐, Aus‐
lieferungslager, bestandslose Umschlagpunkte) sowie die Auswahl entsprechender
Verkehrsträger (wie z. B. Straße, Schiene, Wasser‐ und Luftweg). Zu den operativen
Aufgaben im Bereich der Distributionslogistik sind alle Transport‐, Umschlag‐ und
Lageraktivitäten zu zählen, die zur Warenverteilung und Belieferung der Kunden
notwendig sind. Um die anfallenden Transportkosten zu reduzieren, kommen intelli‐
gente Informations‐ und Kommunikationssysteme zum Einsatz (z. B. Verkehrs‐
telematik), die zur effizienten Transport‐, Rundreise‐ und Tourenplanung optimale
Routen mit kürzesten Wegen der Güter zum Kunden ermitteln.

Die Anforderungen an die Distributionslogistik hängen ganz wesentlich davon ab, ob


eine Auftrags‐ oder eine Lagerfertigung vorliegt. Bei der Auftragsfertigung, die ty‐
pisch für Investitionsgüter ist, ergeben sich für die Distributionslogistik aufgrund der
ausgehandelten bzw. planbaren Daten wenige Probleme. Von hervorgehobener Bedeu‐
tung ist dabei die Zusage und Einhaltung von Lieferzeiten. Wird dagegen bei der
Lagerfertigung für den anonymen Markt gefertigt, dann entsteht für die Distributions‐
logistik ein hohes Maß an Unsicherheit. Durch die unbestimmten Bedarfe hat die Dis‐

33 Vgl. PFOHL (2010, S. 198).

18
1.3
Logistiksysteme

tributionslogistik hier eine Ausgleichsfunktion bezüglich art‐ und mengenmäßiger,


räumlicher und zeitlicher Disparitäten zu erfüllen. Gerade für die Wettbewerbssituati‐
on von Anbietern substituierbarer Güter ist eine hohe Lieferbereitschaft von zentraler
Bedeutung34.

Für die Durchführung der distributionslogistischen Aufgaben lassen sich die Funktio‐
nen Auftragsabwicklung, Lagerhaltung, Transport und Point‐of‐use‐Serviceleistungen
unterscheiden35. Zu den Aufgaben der Auftragsabwicklung gehören die Annahme,
Aufbereitung, Umsetzung, Weitergabe und Dokumentation von Auftragsdaten sowie
die Kommunikation mit Kunden und betriebsinternen Stellen36. Somit werden durch
die Auftragsabwicklung wichtige Informationen für die Distributionslogistik bereitge‐
stellt.

Die Aufgabe der Lagerhaltung besteht vor allem bei der Produktion für unbestimmte
Marktbedarfe in einem Mengen‐, Zeit‐ und Sortimentsausgleich. Im Rahmen der La‐
gerhaltungsfunktion hat das Bestandsmanagement die Verfügbarkeit der Produkte im
Lager sicherzustellen und leistet dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechter‐
haltung eines bestimmten Lieferbereitschaftsgrades. Zusätzlich sollen die beeinfluss‐
baren Kosten, die im Wesentlichen Kapitalbindungskosten darstellen, so niedrig wie
möglich gehalten werden. Zur Lagerhaltung gehört neben der eigentlichen Lagerfunk‐
tion auch eine interne Bewegungsfunktion, wobei die relative Bedeutung dieser beiden
Funktionen von der Lagerart abhängt37.

Aufgabe der Funktion Transport ist die räumliche Transformation der Güter mit Hilfe
von Transportmitteln. Die Zielsetzung bei der Transportdurchführung besteht darin,
die Waren schnell und zuverlässig bei möglichst geringen Kosten zum Abnehmer zu
transportieren. Wesentliche Teilaufgaben stellen in diesem Zusammenhang die Dispo‐
sition und Tourenplanung dar. Aufgabe der Tourenplanung ist die kostenminimale
Erfüllung der Transportaufträge mit den vorhandenen Ressourcen (z. B. Personal,
Fahrzeuge). Dabei zu beachtende Daten umfassen Entfernungen und Fahrzeiten, Auf‐
tragsdaten sowie Fuhrparkdaten. Zur Tourenplanung existiert eine Vielzahl von heu‐
ristischen Verfahren, die in Eröffnungs‐ und Verbesserungsverfahren unterschieden
werden. Für kleinere und einfache Tourenplanungsprobleme werden in jüngster Zeit
auch exakt optimierende Verfahren angeboten38.

Bei Point‐of‐use‐Serviceleistungen handelt es sich um Serviceleistungen wie z. B.


Preisauszeichnungen, Aufbringen von EAN‐Strichcodes, Einräumen von Regalen, aber
auch um die Unterweisung in die Bedienung von Geräten. Werden die Point‐of‐use‐
Serviceleistungen nicht an einen spezialisierten Dienstleister vergeben, dann müssen
qualifiziertes Personal und entsprechende Betriebsmittel zur Verfügung stehen.

34 Vgl. IHDE (1991, S. 225ff).


35 Vgl. FILZ (1993, S. 68).
36 Vgl. PFOHL (2010, S. 70ff).
37 Vgl. PFOHL (2010, S. 87ff).
38 Vgl. LASCH (2020, S. 137ff).

19
Grundlagen der Logistik
1
1.3.2.4 Ersatzteillogistik
Ersatzteile stellen Teile, Bauelemente, Teilsysteme, Funktionseinheiten oder Systeme
zum Ersatz einer entsprechenden Einheit dar, um die ursprünglich geforderte Funkti‐
on der Einheit zu erhalten. Ersatzteile lassen sich in Verschleiß‐ und Reserveteile un‐
tergliedern. Verschleißteile unterliegen einer betriebsbedingten Abnutzung, sodass
deren Ausfall annähernd zeit‐ und mengenmäßig planbar und somit prognostizierbar
ist. Im Gegensatz dazu sind Reserveteile durch einen zufallsbedingten Ausfall ge‐
kennzeichnet und weisen einen sporadischen, schlecht prognostizierbaren Verlauf auf.
Aufgabe der Ersatzteillogistik ist die zeitgerechte Planung, Steuerung, Kontrolle und
effiziente Abwicklung der für die Instandhaltung benötigten Ersatzteile in der erfor‐
derlichen Menge und Art beim entsprechenden Instandhaltungsobjekt. Zu den Aufga‐
ben der Ersatzteillogistik gehören die Auftragsabwicklung, das Bestandsmanagement,
die Ersatzteilbeschaffung und die Ersatzteildistribution39.

Aufgrund der Dringlichkeit eines Ersatzteilbedarfs ist eine schnelle und unverzügliche
Auftragsabwicklung notwendig. Die Auftragsabwicklung umfasst die Teilprozesse
Auftragsübermittlung, Auftragsaufbereitung, Auftragsumsetzung, Auftragszusam‐
menstellung, Versand und Fakturierung40. Das Ziel besteht in der Realisierung eines
durchgängigen und standardisierten Auftragsdurchlaufs. Allerdings behindert oft‐
mals die Notwendigkeit einer fachkundigen Beratung oder Sonderabwicklungen die
schnelle Umsetzung einer Ersatzteilbestellung.

Das Bestandsmanagement hat die Aufgabe der Planung, Steuerung und Kontrolle der
für die Ersatzteilversorgung notwendigen Lagerbestände. Dazu gehören die Prognose
des Nachfrageverlaufs nach Ersatzteilen, die Bestimmung der Bestandshöhe und der
Bestandsergänzungspolitik sowie die Aufteilung der Ersatzteilbestände auf die ver‐
schiedenen Lager in Abhängigkeit der Distributionsstruktur41. Die Nachfrageprognose
nach Ersatzteilen wird durch das Primärprodukt (z. B. Bestand, Planverkauf, Alters‐
struktur und Nutzungsintensität), durch das Ersatzteil selbst (z. B. Verschleiß‐
verhalten, Einsatzbedingungen), durch die Instandhaltung (z. B. Instandhaltungs‐
strategie) und durch externe Faktoren (z. B. gesetzliche Vorgaben, neue Technologien)
beeinflusst42.

Bei der Ersatzteilbeschaffung wird zwischen einer Beschaffung von selbstgefertigten


Eigenteilen und extern bezogenen Fremdteilen unterschieden. Die Bereitstellung von
Eigenteilen erfolgt durch interne Abwicklungen, wobei eine Konkurrenzsituation
zwischen der Herstellung von Primärprodukten und Ersatzteilen auf den gemeinsa‐
men Fertigungskapazitäten zu berücksichtigen ist. Die Beschaffung von Fremdteilen
erfordert langfristige Verträge mit zuverlässigen Lieferanten, um kleine Beschaffungs‐
losgrößen in kurzen Lieferzeiten mit hoher Lieferzuverlässigkeit beziehen zu kön‐

39 Vgl. KOCH (2004, S. 35ff).


40 Vgl. ESTER (1997, S. 152ff).
41 Vgl. PFOHL (2010, S. 215f).
42 Vgl. LOUKMIDIS/LUCZAK (2006, S. 255ff).

20
1.3
Logistiksysteme

nen43. Als Beschaffungsmethode kommt vor allem die Vorratsbeschaffung zur An‐
wendung, bei der eine Lagerauffüllung ohne Zeitdruck erfolgt.

Die Aufgabe der Ersatzteildistribution ist die zeitlich, mengenmäßig und räumlich
abgestimmte Zusammenführung der Ersatzteile mit den instand zuhaltenden Primär‐
produkten. Dazu muss im Rahmen der Standortwahl die horizontale und vertikale
Distributionsstruktur festgelegt werden. Aufgrund des hohen Teilesortiments und der
Heterogenität der Kundenaufträge kommt der Wegeoptimierung im Rahmen der
Kommissionierung eine besondere Bedeutung zu. Außerdem sind spezifische Anfor‐
derungen (z. B. Schutz vor mechanischen und chemisch‐physikalischen Einflüssen,
Informationsfunktion) an die Verpackung zu beachten44. Beim Transport der Ersatztei‐
le wird zwischen einer Regelabwicklung bei geplanten Kundenaufträgen oder La‐
gerergänzungsaufträgen und einer Eillieferung (z. B. durch Express‐ und Kurierdiens‐
te) unterschieden45. Da der Bedarfsverlauf bei Ersatzteilen stark schwankend ist, führt
eine zu hohe Bevorratung zu erheblichen Kapitalbindungskosten. Mit geeigneten
Pooling‐Strategien können hohe Lagerbestände unter Beibehaltung einer gleichblei‐
benden Lieferzeit durch erhöhte Flexibilität und Verfügbarkeit der Ersatzteile redu‐
ziert werden46.

1.3.2.5 Entsorgungslogistik
Die Prozesskette der Entsorgungslogistik schließt sich an die Versorgungslogistik an,
wobei die Flussrichtung der logistischen Objekte denen der Versorgungslogistik genau
entgegengesetzt ist, d. h. vom Kunden über die Redistribution, Wiederaufarbeitung
und den Wiedereinsatz zurück zum Unternehmen. Unter der Entsorgung werden alle
planenden und ausführenden Tätigkeiten der umweltgerechten Verwendung, Verwer‐
tung und geordneten Beseitigung von Rückständen verstanden, sodass entsorgungs‐
logistische Konzepte auf die Effizienz eines durchgängigen Logistikkreislaufs fokus‐
sieren. Das wachsende Umweltbewusstsein der Bevölkerung, gesetzliche Grundlagen
zur Entsorgungspflicht (z. B. das Kreislaufwirtschaftsgesetz), die Verknappung von
Primärrohstoffen sowie steigende Entsorgungskosten haben zur Folge, dass die Ent‐
sorgung und daraus abgeleitet die Entsorgungslogistik an Wichtigkeit zunimmt.

Die Entsorgungslogistik umfasst die auf die Unternehmensziele und ökologischen


Rahmenbedingungen ausgerichtete Planung, Steuerung und Kontrolle der Rückstände
im Verantwortungsbereich des Unternehmens einschließlich der dazu erforderlichen
Informationsflüsse. Ziel ist eine nachhaltige, an Kreisläufen orientierte Wirtschafts‐
weise, d. h. eine an ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten gerecht wer‐
dende Vermeidung bzw. Verwertung von Rückständen und deren Wiedereinsatz als
Sekundärrohstoffe in den Wirtschaftskreislauf. Die ökonomischen Ziele beinhalten die

43 Vgl. BAUMBACH (2004, S. 211).


44 Vgl. PFOHL (2010, S. 216f).
45 Vgl. VAHRENKAMP (2005, S. 165).
46 Für weitere Erklärungen zur Ersatzteillogistik wird auf Kapitel 6.3 verwiesen.

21
Grundlagen der Logistik
1
Minimierung der Kosten der Entsorgungslogistik sowie die Gewährleistung eines
attraktiven Entsorgungslogistikniveaus bzgl. Entsorgungszeit, Termintreue und Flexi‐
bilität. Die ökologischen Ziele resultieren aus den Umweltschutzzielen und beinhalten
auf der Inputseite die Ressourcenschonung und auf der Outputseite die Emissionsre‐
duzierung.

Die Aufgaben der Redistributionslogistik sind die Erfassung, Sammlung, Trennung,


der Transport und ggf. die Lagerung von Produktions‐ und Konsumtionsrückständen
und deren Zuführung zur Aufbereitung, Verwertung oder Beseitigung. In den Ver‐
antwortungsbereich der Aufbereitungslogistik fallen die Demontage von Altgeräten,
die Trennung von Rückständen in Abfälle und Wertstoffe und die zeit‐ und mengen‐
gerechte Zuführung zu Verwertungsdienstleistern. Die Wiedereinsatzlogistik ist für
die Transfer‐, Umschlag‐ und Lagerprozesse von der Aufbereitung bis zur Quelle der
Versorgungslogistik zuständig47. Die Kernleistungen setzen sich aus Lager‐, Trans‐
port‐ und Umschlagleistungen zusammen. Bei den Motiven für die Lagerhaltung geht
es primär nicht um den Ausgleich unterschiedlicher Produktionskapazitäten oder
Unsicherheiten in der Nachfrage, sondern vielmehr um die Schaffung wirtschaftlicher
Transporteinheiten beim Sammeln oder Umladen von Rückständen. Da es sich bei den
eingelagerten Rückständen häufig um Gefahrgüter handelt, ergeben sich bei der Lage‐
rung und beim Transport hohe Anforderungen48.

Entsorgungslogistische Zusatzleistungen umfassen die Sammlung, Sortierung und


Verpackung. Zwischen Sammeln und Sortieren von Rückständen bestehen Inter‐
dependenzen. Durch das Sammeln von Rückständen sollen Degressionseffekte infolge
hoher Kernleistungen erreicht werden. Je früher jedoch eine stoffliche Sortierung zu
kleinen, sortenreinen Transportmengen erfolgt, desto höher fallen die Logistikkosten
für den nachfolgenden Sammelaufwand aus49. Verpackungen können Rückstände
aufnehmen, andererseits können sie auch Rückstände darstellen, sodass sich für die
Zusatzleistung Verpackung zwei verschiedene Sichtweisen ergeben. Die spezifischen
Anforderungen an die Verpackungsgestaltung werden durch die Merkmale der Rück‐
stände und die Gestaltung der übrigen entsorgungslogistischen Aufgabenfelder be‐
stimmt50.

Neben diesen eher operativ ausgeprägten Aufgabenbereichen sollte die Entsorgungs‐


logistik auch Kostengesichtspunkte berücksichtigen. Bereits bei der Produktent‐
wicklung können verschiedene Produktalternativen im Hinblick auf den späteren
Entsorgungsaufwand bewertet und ausgewählt werden. Dabei muss eine entsor‐
gungsgerechte Materialauswahl und Konstruktion unter Gesamtkostenaspekten erfol‐
gen51. Weitere strategische Aufgaben der Entsorgungslogistik umfassen die Schaffung

47 Vgl. WILDEMANN (2005, S. 54).


48 Vgl. SCHULTE (2005, S, 511ff).
49 Vgl. SCHULTE (2005, S, 516ff).
50 Vgl. STÖLZLE (1993, S. 244ff).
51 Vgl. IHDE (1991, S. 251).

22
1.4
Megatrends in der Logistik

strategischer Wettbewerbsvorteile durch geeignete Entsorgungskonzepte und die Ge‐


staltung von Entsorgungsnetzwerken.

Die Auftragsabwicklung als Informationsleistung hat wie in anderen logistischen


Subsystemen hauptsächlich die Aufgabe, den Informationsfluss zwischen den einzel‐
nen entsorgungslogistischen Prozessen zu sichern. Hierzu dient die Übermittlung,
Aufbereitung und Umsetzung von Aufträgen, wobei vor allem umweltschutzrelevante
Informationen bereitgestellt und verarbeitet werden müssen52.

1.4 Megatrends in der Logistik


Megatrends als Entwicklungskonstanten der globalen Gesellschaft markieren tiefgrei‐
fende und nachhaltige gesellschaftliche, ökonomische, politische und technologische
Veränderungen, die eine Gesellschaft schon lange prägen und auch noch lange prägen
werden. Als Megatrends in der Logistik werden technologische Innovationen und
gesellschaftliche Veränderungen bezeichnet, von denen langfristige und nachhaltige
Auswirkungen auf die gesamte Logistikbranche zu erwarten sind. Im Folgenden wer‐
den wichtige Megatrends in der Logistik vorgestellt53, die regelmäßig überprüft und
nicht isoliert, sondern mit ihren Interdependenzen betrachtet werden müssen.

a) Globalisierung und Arbeitsteilung

Globalisierung bedeutet, dass internationale Verflechtungen in vielen Bereichen


zunehmen, und zwar zwischen Individuen, Gesellschaften, Institutionen und
Staaten. Die steigende Globalisierung, die Volatilität der Märkte, die immer weiter
reduzierte Fertigungstiefe und damit der Trend zu Outsourcing sowie die Zer‐
splitterung der Wertschöpfung führen zunehmend zu weltweiten und komplexen
Logistiknetzwerken mit einer Vielzahl von Partnern und Schnittstellen. Die damit
verbundene höhere Arbeitsteilung resultiert in zunehmende Transportdistanzen,
neue Kommunikations‐ und Integrationsbedarfe sowie in einer gesteigerten Wett‐
bewerbsintensität. Neben der zunehmenden Komplexität internationaler Wert‐
schöpfungsketten führen Risiken wie Naturkatastrophen, Streiks, terroristische
Anschläge, aber auch die Insolvenz von Partnern in der Wertschöpfungskette zu
neuen Herausforderungen bei der effektiven und effizienten Gestaltung globaler
Wertschöpfungsnetze. Länder, die bisher Empfänger von Gütern und Dienstleis‐
tungen waren, wollen heute selbst aktiv an der Wertschöpfung teilnehmen. Dar‐
aus folgt, dass immer mehr Produkte heute lokal gefertigt werden und damit eine
stärkere Arbeitsteilung verbunden mit zusätzlichen Güterströmen resultiert.

52 Für weitere Erklärungen zur Entsorgungslogistik wird auf Kapitel 6.4 verwiesen.
53 Vgl. PFLAUM (2016).

23
Grundlagen der Logistik
1
b) Digitalisierung

Seit Anfang des 21. Jahrhunderts stehen disruptive Technologien und innovative
Geschäftsmodelle sowie Autonomisierung, Flexibilisierung und Individuali‐
sierung in der Digitalisierung im Vordergrund und münden in die vierte industri‐
elle Revolution. Die digitale Transformation eröffnet dabei große Chancen für re‐
volutionäre Geschäftsmodelle und effizienteres Wirtschaften. Der digitale Wandel
sorgt nicht nur für neue digitalisierte Produkte und datengetriebene Dienstleis‐
tungen, sondern auch für einen Umbruch tradierter Marktlogiken. Im Rahmen
der Digitalisierung können die Daten von Kunden, Distributoren, Produzenten
und Lieferanten in Echtzeit integriert werden, um somit die Effizienz von Produk‐
ten und Prozessen zu verbessern. Während die vertikale Digitalisierung sämtliche
Abteilungen, vom Vertrieb bis zur Logistik, miteinander verknüpft zielt die hori‐
zontale Digitalisierung auf die Anbindung der Partner in der Wertschöpfungsket‐
te ab. Die Digitalisierung wird auch das prognosebasierte Push‐Prinzip mehr und
mehr durch das Pull‐Prinzip ersetzen, sodass Güter künftig vermehrt nur auf
Nachfrage produziert und ausgeliefert werden. Das fordert von der Logistik eine
ungleich höhere Flexibilität, die nur mittels weiterer Digitalisierungsschritte er‐
reicht werden kann. Die Digitalisierung wird auch die Globalisierung vorantrei‐
ben und die Kommunikationswege weiter verkürzen. Durch den Zuwachs digita‐
ler Datenmengen, die aus unterschiedlichen Quellen in unterschiedlichen Daten‐
strukturen von einer stetig ansteigenden Anzahl von Nutzern, Sensoren,
Prozessen und weiteren Quellen erzeugt werden, spielen auch die Methoden aus
Big Data Analytics eine entscheidende Rolle, um einen Mehrwert zu generieren.

c) Additive Fertigungsverfahren

Bereits Mitte der 1980er‐Jahre begann die Entwicklung von additiven Fertigungs‐
technologien. Während die ersten Verfahren ausschließlich für den Prototypbau
konzipiert und entwickelt wurden, können heute bereits Produkte in Serienpro‐
duktion mit additiven Fertigungsverfahren (3D‐Druck) produziert werden. Addi‐
tive Fertigungsverfahren bieten gegenüber traditionellen Fertigungsverfahren ei‐
ne höhere Gestaltungfreiheit und Flexibilität, sodass individuelle Produkte auch
mit einer Losgröße eins wirtschaftlich gefertigt werden können. Zudem braucht
ein 3D‐Drucker keine unterschiedlichen Werkzeuge für verschiedene Produkte,
sodass verschiedene Produkte unmittelbar hintereinander oder sogar zeitgleich
gefertigt werden können. Neben der Reduktion von Rüstzeiten und ‐kosten durch
den Wegfall von Werkzeugen, wird mit additiven Fertigungsverfahren auch eine
deutlich höhere Materialeffizienz gegenüber herkömmlichen Verfahren erreicht.
Ein hohes Innovationspotenzial wird zukünftig Produkte, Prozesse und Ge‐
schäftsmodelle nachhaltig verändern.

24
1.4
Megatrends in der Logistik

d) E‐Commerce

Die Effizienz des Internets hat die Vorgänge in der Logistik deutlich beschleunigt
und effizienter gestaltet. Die E‐Commerce‐Logistik umfasst sämtliche Waren‐, In‐
formations‐, Beleg‐, und Geldströme für die Zustellung, Zahlungsabwicklung und
das Retouren‐Management. Die Umsätze im Onlinehandel sind in den letzten Jah‐
ren stets zweistellig gewachsen. Dies hat zu einer Verdoppelung der Warenströme
geführt, insbesondere auch verursacht durch die Tatsache, dass ca. 60% der be‐
stellten Güter auch wieder zurückgeschickt werden. Einen großen Anteil am On‐
linehandel hat das mobile Shopping, das es den Händlern ermöglicht die Kunden
überall zu erreichen. Damit werden die Bereiche Lagerhaltung, Kommissionie‐
rung und Transportplanung weiterhin an Bedeutung zunehmen. Der Trend zur
Lieferfähigkeit von Onlineshops innerhalb von 24 Stunden führt zu einer Be‐
schleunigung der Logistikprozesse. Auch werden in Zukunft Roboter im Lager
oder Drohnen und autonome Transportsysteme den Warenaustausch zwischen
Hersteller und Verbraucher gestalten. Wenn zukünftig Roboter immer stärker in
den Warenumschlag eingebunden werden, dann hat das auch enorme Auswir‐
kungen auf die bisher eingesetzten Hilfskräfte.

e) Individualisierung und Personalisierung der Produkte und Dienstleistungen

Die Zukunft wird durch individualisierte Produkte und Dienstleistungen für be‐
stimmte Märkte geprägt. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz werden Händler Kun‐
denbedürfnisse vorhersagen können. Die Grundlage dafür bilden die Daten in ei‐
nem CRM‐System, das eine gezielte und personalisierte Kundenpflege ermög‐
licht. Diese Daten werden in Verbindung mit Social Media zu einer neuen Form
der Kundenansprache führen. Diese Individualisierungen führen zu einer Erhö‐
hung der Produktvielfalt. Mit ausgeweiteten Produktprogrammen werden jedoch
auch die logistischen Aufgaben komplexer, da damit steigende Herausforderun‐
gen an die Auftragsabwicklung, die Kommissionierung und Verpackung sowie
den Transport verbunden sind. Verbunden mit einer zunehmenden Variantenviel‐
falt sind tendenziell sinkende Umschlagshäufigkeiten, häufiger notwendige Wert‐
berichtigungen auf Bestände, steigende Kommissionierungskosten und eine sin‐
kende Auslastung von Transportgefäßen.

f) Nachhaltigkeit

Unternehmen sollten im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung die Ziele der öko‐
nomischen, ökologischen und sozialen Dimension ausbalancieren. Logistische Ak‐
tivitäten müssen sich im Schnittpunkt der ökonomischen, ökologischen und sozia‐
len Dimension der Nachhaltigkeit nicht nur positiv auf die Umwelt und die Ge‐
sellschaft auswirken, sondern auch langfristige ökonomische Gewinne und
Wettbewerbsvorteile nach sich ziehen. Kunden fragen zunehmend nachhaltige
Produkte und Dienstleistungen nach, sodass auch die Logistik neue Nachhaltig‐
keitsstrategien entwickeln muss. Alle logistischen Aufgaben, begonnen bei der

25
Grundlagen der Logistik
1
Fertigung über die Kommissionierung bis zum Transport müssen auch unter Be‐
zug auf deren Nachhaltigkeit betrachtet werden. Somit müssen z. B. im internati‐
onalen Handel die einzelnen Verkehrsträger auf ihre Umweltverträglichkeit ge‐
prüft werden.

g) Servitization

Der Wandel von einer Industrie‐ zu einer Servicegesellschaft hat zur Folge, dass
dem Kunden neben dem Produkt verstärkt auch die mit dem Produkt verbunde‐
nen Dienstleistungen verkauft werden, um die Kundenbindung zu erhöhen. Ser‐
vitization bedeutet somit den Wandel eines Unternehmens von einem reinen Pro‐
dukthersteller hin zu einer Kombination aus Produkthersteller und Dienstleister.
Beispielsweise kann dem Kunden zusätzlich zur reinen Produktbereitstellung
auch ein Ersatzteilservice angeboten werden. Eine andere Realisierung kann darin
bestehen, dass dem Kunden nicht mehr das Produkt, sondern die Leistung, die
mit diesem Produkt erbracht werden soll, verkauft wird. So kann dem Kunden
beispielsweise über einen längeren Zeitraum eine vereinbarte und garantierte
Transport‐ oder Hebeleistung verkauft werden. Servitization ist mit großen und
weitreichenden Änderungen verbunden, denn es müssen individuelle Kunden‐
bedarfe erkannt und in neue Geschäftsmodelle und Vertriebskonzepte transferiert
werden. Somit müssen Logistikunternehmen zukünftig die Potenziale und Her‐
ausforderungen einer serviceorientierten Logistik erkennen und in nachhaltige
Wettbewerbsvorteile umsetzen.

h) Demografischer Wandel

Eine Überalterung der Industrienationen führt zu einer Verlagerung der produ‐


zierenden und konsumierenden Märkte von den Industrieländern hin zu aufstre‐
benden Schwellenländern, wie z. B. China, Indien, Russland und Brasilien. Somit
werden die die Transportströme sich verändern und logistische Dienstleister müs‐
sen frühzeitig in diesen Ländern präsent sein. Ein weiterer Aspekt des demografi‐
schen Wandels ist im Fachkräftemangel in der Logistik zu sehen. Bei vielen
Transport‐ und Logistikunternehmen können freie Stellen für LKW‐Fahrer, für
Mitarbeiter in Lager und Verwaltung, aber auch für Führungskräfte in der mittle‐
ren Ebene nicht besetzen. Ein weiterer Einfluss des demografischen Wandels zeigt
sich in veränderten Logistikanforderungen einer alternden Gesellschaft. Die Ver‐
änderungen in der Alterspyramide führen zu neuen Bedürfnissen seitens der Be‐
völkerung, da auch ältere Menschen verstärkt zu Hause beliefert werden wollen.

26
1.5
Literaturhinweise

1.5 Literaturhinweise
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Grundlagen der Logistik
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 Wildemann, H. (2005): Logistik Prozessmanagement, 3. neubearbeitete Auflage,


TCW Transfer‐Centrum‐Verlag.

28
2 Logistikkonzeption

Das normative Logistikmanagement baut auf einer Logistikkonzeption auf, die den
Rahmen für das strategische und operative Logistikmanagement vorgibt. Diese Lo‐
gistikkonzeption kann als spezifischer systemischer Ansatz verstanden werden, der
sich auf die Wechselwirkungen zwischen den Elementen und dem Gesamtsystem der
Logistik konzentriert. Das daraus resultierende Logistikdenken ist mit einem Paradig‐
menwechsel von einer funktional ausgerichteten Logistik hin zu einer flussorien‐
tierten, integrativen und systemübergreifenden Führungsfunktion verbunden.

Lernziele:

 Gestaltungsprinzipien der Logistik


 Prozesse, Leistungsebenen, Kosten und Organisation der Logistik
 Systematisierung von Wertschöpfungsnetzwerken
 Aufgaben, Ziele, Integrationsphasen und Umsetzungsprobleme des Supply Chain
Managements

 Governance‐Modi und Anwendung von Governance‐Mechanismen


 Ursachen für und Maßnahmen gegen den Bullwhip‐Effekt

2.1 Gestaltungsprinzipien der Logistik


Gegenstand des Logistikmanagements ist die Führung, Gestaltung und Optimierung
logistischer Strukturen, Systeme und Prozesse, die der unternehmensinternen und
‐übergreifenden Leistungserstellung dienen. Somit plant, implementiert, steuert und
kontrolliert das Logistikmanagement den effizienten und effektiven vorwärts‐ und
rückwärtsgerichteten Fluss von Waren, Gütern und Informationen zwischen Quellen
und Senken, sodass die Anforderungen der Kunden erfüllt werden. Als Handlung‐
sebenen können das normative, strategische und operative Logistikmanagement un‐
terschieden werden, die auch einen Indikator für die Entwicklung des Logistik‐
managements im Unternehmen darstellen (vgl. Abbildung 2‐1). Nur durch eine ganz‐
heitliche Betrachtung aller drei logistischer Handlungsebenen im Unternehmen kann

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 29
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_2
Logistikkonzeption
2
die höchste Stufe der Entwicklungsphasen des Logistikmanagements erreicht wer‐
den54.

Abbildung 2‐1 Normatives, strategisches und operatives Logistikmanagement

Normatives
Logistik‐
management
Visionen, Normen, Werte,
Prinzipien
Logistikkonzeption
Ganzheitlichkeit, Flussorientierung,
Marktorientierung, Zeitorientierung

Strategisches Logistikmanagement
Ziele, Strategien, Strukturen, Ressourcen, Konzepte

Identifikation strategischer logistischer Wettbewerbspotenziale;


Strukturen und Ressourcen zur Realisierung logistischer Wettbe‐
werbsvorteile; Konzepte zur Gestaltung der Material‐, Waren‐ und
Informationsflüsse

Operatives Logistikmanagement
Maßnahmen, Methoden, Umsetzung

Operative Planung, Steuerung, Kontrolle und Koordination der Material‐, Waren‐ und Infor‐
mationsflüsse

Beschaffungs‐ Produktions‐ Distributions‐ Ersatzteil‐


logistik logistik logistik logistik

Wiederein‐ Aufberei‐ Redistribu‐


satzlogistik tungslogistik tionslogistik

Das normative Logistikmanagement beinhaltet den Beitrag der Logistik zur Beantwor‐
tung der Wertfragen des unternehmerischen Handelns, den Normen, Visionen, Leitli‐
nien, Prinzipien, Verhaltensregeln und die Stellung in Beziehung zu den anderen
betrieblichen Funktionsbereichen. Weiterhin sind die Interessen der Stakeholder zu
beachten. Unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit werden soziale, ökologische und
ökonomische Werte, die durch die Logistik beeinflusst werden, für die Stakeholder
festgelegt. Insbesondere bei der Unternehmensgrenzen überschreitenden Betrachtung
des Logistikmanagements trifft man auf unterschiedliche Wertvorstellungen, sodass
ein gemeinsames, partnerübergreifendes Normensystem entwickelt werden muss, das
in eine gemeinsame Logistikkonzeption mündet. Die Logistikkonzeption bzw. das
Logistikdenken ist mit einem Paradigmenwechsel verbunden, der tiefgreifende Struk‐
tur‐ und Verhaltensänderungen impliziert und zu neuen Lösungs‐ und Methodenan‐
sätzen sowohl im strategischen Management von unternehmensübergreifenden Wert‐
schöpfungsketten als auch in der operativen Planung und Gestaltung der Waren‐,
Material‐ und Informationsflüsse führt. Dieser Paradigmenwechsel basiert auf den
vier Gestaltungsprinzipien „Ganzheitlichkeit“, „Flussorientierung“, „Marktorientie‐

54 Vgl. PFOHL (2004, S. 23ff).

30
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik

rung“ und „Zeitorientierung“, die ihre gesamte Wirkungskraft erst durch Bündelung
in einem logistischen Denken und Handeln entfalten.

Die strategische Handlungsebene des Logistikmanagements ist für eine ganzheitliche,


bereichs‐ und unternehmensübergreifende sowie integrative Logistik verantwortlich.
Aufgaben des strategischen Logistikmanagements sind – unter Berücksichtigung der
Festlegungen des normativen Logistikmanagements – die Ableitung lang‐ bis mittel‐
fristiger Ziele sowie die Festlegung von Strategien, mit denen diese Ziele erreicht wer‐
den können. Dazu gehören die Identifikation strategischer logistischer Wettbewerbs‐
potenziale, die Bestimmung von Strukturen und Ressourcen zur Realisierung logisti‐
scher Wettbewerbsvorteile sowie die Festlegung der Konzepte zur Gestaltung der
Material‐, Waren‐ und Informationsflüsse.

Das operative Logistikmanagement versucht den vom strategischen Logistikmanage‐


ment vorgegebenen Rahmen bestmöglich auszuschöpfen. Mit den Methoden der ope‐
rativen Logistik wird die kurzfristige Abwicklung der konkreten Waren‐, Material‐
und Informationsflüsse geplant, umgesetzt, gesteuert, koordiniert und kontrolliert.
Dabei sind kurzfristige Produktivitätspotenziale zu identifizieren und zu nutzen.

Im Folgenden werden die vier Gestaltungsprinzipien der Logistikkonzeption vorge‐


stellt und auf deren Umsetzung eingegangen55.

2.1.1 Ganzheitlichkeit
Dem Prinzip der Ganzheitlichkeit in der Logistik liegt das Systemdenken zugrunde.
Das Systemdenken geht davon aus, dass Elemente eines Logistiksystems nicht ohne
Auswirkung auf andere Elemente verändert werden können, und dass nur durch
ihren Verbund Synergieeffekte zu erzielen sind. Der wissenschaftliche Bezugsrahmen
des Systemdenkens wird in der Systemtheorie56 behandelt.

Zentrales Erkenntnisziel der Systemtheorie ist die Auseinandersetzung mit komplexen


Phänomenen. Unter einem System wird ein dynamisches Ganzes verstanden, das als
solches bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen besitzt. Ein System besteht aus
Teilen57, die so miteinander verknüpft sind, dass kein Teil unabhängig ist von anderen
Teilen und das Verhalten des Ganzen wird vom Zusammenwirken aller Teile beein‐
flusst58. Elemente stellen die kleinsten Einheiten einer Systembetrachtung dar, wobei
davon ausgegangen wird, dass eine weitere Zerlegung entweder nicht sinnvoll oder
nicht möglich ist59. Zwischen den Elementen eines Systems bestehen Abhängigkeiten,
die als Beziehungen bezeichnet werden. Diese Beziehungen verbinden die Elemente

55 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen LASCH (1998, S. 27‐37) entnommen.


56 Vgl. VON BERTALANFFY (1949).
57 In der Literatur findet man als Synonyme auch Elemente oder Komponenten.
58 Vgl. ULRICH/PROBST (1990, S. 30).
59 Nicht sinnvoll bzw. nicht möglich ist eine Zerlegung dann, wenn die inneren Vorgänge für die
Analyse unbedeutend bzw. die tiefer liegenden Strukturen unbekannt sind.

31
Logistikkonzeption
2
durch den Austausch von materiellen und/oder immateriellen Objekten, wie bei‐
spielsweise Energie, Materie und Information. Die Menge der Beziehungen, welche
die Elemente miteinander verbinden, bildet die Struktur des Systems. Der Beziehungs‐
reichtum eines Systems repräsentiert dessen Komplexität60.

Dynamische Systeme nehmen Energie, Materie und/oder Informationen von Elemen‐


ten auf, transformieren sie und geben sie an andere Elemente oder bei offenen Syste‐
men an die Umwelt ab. Störungen in offenen Systemen können als mit dem jeweiligen
Systemzustand unvereinbare Flüsse von Materie, Energie und/oder Informationen
aufgefasst werden. Solche Störungen können das Fließgleichgewicht zwischen dem
System und der Umwelt beeinflussen und durch Steuerung, Regelung oder Anpas‐
sung des Systems neutralisiert werden. Während die Steuerung versucht, einen vorge‐
gebenen Wert einer Größe durch Elimination oder Kompensation der Störung beizu‐
behalten, kommt es bei der Regelung zu einem kontinuierlichen Vergleich des Soll‐
und Ist‐Wertes einer Größe. Abweichungen werden mit Hilfe eines Reglers solange
korrigiert, bis der Ist‐Wert dem vorgegebenen Soll‐Wert wieder entspricht. Reichen
Steuerungs‐ und Regelungsmechanismen nicht mehr aus um das Systemgleichgewicht
aufrechtzuerhalten, dann muss mit Hilfe einer Anpassung eine Änderung der Struktur
des Systems vorgenommen werden.

In der Systemtheorie wird von der These ausgegangen, dass ein linear‐analytischer
Theorieansatz, der eine einseitig atomistische Erkenntnisperspektive einnimmt und
Komplexität durch ceterus‐paribus‐Modelle zu reduzieren versucht, einer ständig
zunehmenden Umweltdynamik mit der Tendenz zu wachsender Unvorhersehbarkeit
und Vernetztheit der Problemstrukturen nicht mehr gerecht wird61. Notwendig wird
ein umfassendes systemisches Denken, das ein gedankliches Wechselspiel zwischen
Teil und Ganzheit, das Einordnen von Teilerkenntnissen in Gesamtkonzepte sowie ein
wechselseitiges Denken auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen erlaubt. Es wird in
zirkulären Verknüpfungen ohne Anfang und Ende gedacht, und statt nach ewig
gleichbleibenden, materiellen Strukturen der Dinge zu suchen, richtet man den Blick
auf die Dynamik des Geschehens und sucht nach dem Ordnungsmuster solcher Pro‐
zesse62. Kennzeichnend für das Systemdenken sind also eine ganzheitliche Betrach‐
tungsweise sowie die Erkenntnis, dass für die Erklärung der Ganzheit die Erklärung
ihrer Elemente nicht ausreicht. Zur theoretischen Fundierung der Logistikkonzeption
können dem Systemansatz die folgenden Funktionen zugeschrieben werden:

 Terminologische Funktion
Die Systemtheorie liefert eine allgemeingültige, einheitliche Terminologie, die ei‐
ne Beschreibung, Erklärung und Analyse verschiedener Logistiksysteme ermög‐
licht.

60 Vgl. zur Abgrenzung der Begriffe komplex und kompliziert auch Gomez/Probst (1995, S. 19ff).
61 Vgl. ULRICH/PROBST (1990, S. 11ff).
62 Vgl. ULRICH/PROBST (1990, S. 18).

32
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik

 Integrierende Funktion
Die Systemtheorie stellt die Sicht auf Ganzheiten in den Vordergrund, d. h. es
wird der Mehrdimensionalität der Unternehmenslogistik Rechnung getragen.
Suboptimale Lösungen sollen durch Berücksichtigung von Ressourcen‐ und Pro‐
zessinterdependenzen vermieden und optimale Gesamtlösungen angestrebt wer‐
den.

 Pragmatische Funktion
Die Systemtheorie bedient sich der modellistischen Abstraktion, um komplexe
Ganzheitssysteme zu präzisieren. Systemvorstellungen werden dabei als Modelle
entworfen, die in Abhängigkeit von systeminternen und systemexternen Kontext‐
konstellationen gestaltet, analysiert und beurteilt werden können.

Die Anwendung der systemtheoretischen Betrachtungsweise auf die Logistik bringt


zum Ausdruck, dass eine funktions‐ und unternehmensübergreifende Koordination
von Waren‐, Material‐ und Informationsflüssen, sowie eine organisatorische Eingliede‐
rung der Unternehmenslogistik mit Hilfe einer einseitig traditionellen Wissenschafts‐
logik weder angemessen abgebildet noch vollständig analysiert werden kann. Bei der
Beschreibung von Logistiksystemen wird man durch das Systemdenken gezwungen,
die komplexen logistischen Systemzusammenhänge zu erfassen, d. h. es wird auf‐
grund der Querschnittsfunktion der Logistik das Erkennen von Ursache‐Wirkungs‐
Beziehungen zwischen den einzelnen Systemelementen in den Vordergrund gerückt.
Zur ganzheitlichen Ausrichtung der Logistik müssen daher alle Bereiche der Innovati‐
ons‐ und Wertschöpfungskette unter Einbeziehung der Lieferanten und Kunden in ein
ganzheitliches logistisches Unternehmenskonzept einbezogen werden. Maßnahmen
zur ganzheitlichen Ausrichtung sind die Integration von Material‐, Waren‐ und Infor‐
mationsflüssen, eine entlang des gesamten Logistiksystems definierte Auftrags‐ und
Lieferverantwortung und das Vermeiden von Verantwortungs‐, Kompetenz‐ und
Entscheidungslücken.

Das Systemdenken findet seinen konkreten Niederschlag in dem Gesamtkosten‐


denken als kostenspezifischer und dem Logistikleistungsdenken als leistungs‐
spezifischer Ausprägung. Unter Zugrundelegung des Gesamtkostendenkens können
z. B. höhere Transportkosten wirtschaftlich sinnvoll sein, wenn diese durch deutlich
niedrigere Lagerkosten überkompensiert werden können.

2.1.2 Flussorientierung
Das Prinzip der Flussorientierung beinhaltet die Betrachtung des Material‐, Waren‐
und Informationsflusses in der gesamten Logistikkette zwischen Lieferant und Kunde
und zielt darauf ab, die Wertschöpfungsaktivitäten stärker auf die unternehmerische
Marktleistung auszurichten. Es soll ein möglichst nicht unterbrochener Güterfluss
zwischen Anfang und Ende der Logistikkette angestrebt werden, wobei deren Ab‐
schnitte informatorisch miteinander verknüpft werden. In vom Flussdenken geprägten

33
Logistikkonzeption
2
Logistikkonzepten werden Bestände als unerwünschte Unterbrechung des Material‐
flusses angesehen, die zu einer Verlängerung der Durchlaufzeiten führen. Bestände
verdecken störanfällige Prozesse, unabgestimmte Kapazitäten, mangelnde Flexibilität
und Liefertreue und sollten nur noch dort geplant werden, wo es für die gesamte
Logistikkette am kostengünstigsten ist.

Voraussetzung für eine konsequente Anwendung des Fließgedankens ist eine Berück‐
sichtigung des Gesamtsystems und die in ihm bestehenden Interdependenzen. Die
flussgerechte Gestaltung des Geschäftssystems versetzt ein Unternehmen in die Lage,
die hohe Komplexität des Absatz‐, Produktions‐ und Beschaffungsprogramms ebenso
zu bewältigen wie die gestiegenen Anforderungen hinsichtlich Bedienungs‐ und Reak‐
tionszeiten. Die Ausrichtung auf die unternehmerische Gesamtleistung bedeutet eine
Abkehr von der übermäßigen Betonung der Funktionsorientierung vertikaler Organi‐
sationskonzepte.

Die Funktionsoptimierung betont die Ressourcenperspektive der betrieblichen Leis‐


tungserstellung und erlaubt eine Nutzung von Spezialisierungs‐ und Größen‐
degressionsvorteilen. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass es funktional ausgerichteten
Organisationen, die durch eine hohe Schnittstellendichte, eine Vielzahl von Hierar‐
chiestufen, einen hohen Spezialisierungsgrad der Funktionsträger sowie einer ausge‐
prägten Trennung von Kompetenz und Verantwortung gekennzeichnet sind, immer
weniger gelingt, die steigende externe und interne Komplexität zu bewältigen. Aus‐
druck dieses Organisationsversagens sind oftmals eine zu große Sortiments‐, Varian‐
ten‐ und Teilevielfalt, Reibungsverluste in Form von Doppel‐ und Nacharbeiten sowie
steigende Durchlaufzeiten durch kumulierte Liege‐, Lager‐, Transport‐ und Wartezei‐
ten. Die Funktionsoptimierung fördert Bereichsdenken und Ressortegoismen und
verhindert somit das Entstehen von durchgängigen Auftragsverantwortlichkeiten, da
nicht die Erfüllung eines Kundenauftrags, sondern die Ausübung einer Funktion im
Vordergrund steht.
Als Konsequenz aus den genannten Schwächen der Funktionsoptimierung wird dem
vertikalen Organisationskonzept durch die Anwendung der Flussorientierung eine
horizontale, bereichsübergreifende Konzeption gegenübergestellt. Das Prinzip der
Flussorientierung führt zu einer prozessorientierten Sichtweise sowohl einzelner
Wertschöpfungsaktivitäten als auch der gesamten Wertschöpfungskette. Das Ziel einer
flussorientierten Optimierung räumlicher, zeitlicher und organisatorischer Schnittstel‐
len ist die redundanzfreie Gestaltung der Material‐, Waren‐ und Informationsflüsse
über Funktions‐ und Unternehmensgrenzen hinweg.

2.1.3 Marktorientierung
Das Prinzip der Marktorientierung bedeutet ein Denken in Kundenvorteilen, d. h alle
logistischen Aufgaben werden an den Kundenanforderungen ausgerichtet. Der Ver‐
antwortungsträger entlang der logistischen Kette orientiert sich bei jeder seiner Ent‐

34
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik

scheidungen an der Beurteilung der Marktwirkung. Das strategische Dreieck von


OHMAE63 bietet sich als Bezugsrahmen für eine kunden‐ und wettbewerbsorientierte
Analyse der Logistikleistung an, da es auf der Dreiecksbeziehung zwischen dem Un‐
ternehmen, den Kunden und den Wettbewerbern basiert (vgl. Abbildung 2‐2).

Abbildung 2‐2 Strategisches Dreieck

Kunde

Preis/Nutzen Preis/Nutzen

Wettbewerbsvorteil
Unternehmen Wettbewerb

Um im Wettbewerb langfristig und profitabel zu überleben, muss ein Unternehmen


zumindest eine im Vergleich zum Wettbewerb überlegene Leistung erbringen, die
folgende Kriterien erfüllen muss:

 Sie muss einen für den Kunden bedeutsamen Leistungsparameter betreffen.

 Der Vorteil muss vom Kunden tatsächlich wahrgenommen werden.

 Der Vorteil muss eine gewisse Dauerhaftigkeit aufweisen.

Nur wenn diese drei Anforderungen gleichzeitig erfüllt werden, liegt ein strategischer
Wettbewerbsvorteil vor. Als dauerhaft kann ein Wettbewerbsvorteil nur dann bezeich‐
net werden, wenn es den Konkurrenten nicht gelingt, diese überlegene Leistung in‐
nerhalb kurzer Zeit zu imitieren. Bezüglich der Kunden ist zu beachten, dass diese
Leistungskomponente auch längerfristig von entscheidender Bedeutung für deren
Nutzenwahrnehmung ist. Wettbewerbsvorteile aus Logistikstrategien sind in der Re‐
gel nachhaltig verteidigbar, da sie nicht über partielle Anpassungen des Geschäftssys‐
tems nachahmbar sind. Die drei Dimensionen der Marktorientierung sind die Kun‐
den‐ und die Wettbewerbsorientierung sowie die Dissemination der Kunden‐ und
Wettbewerbsorientierung im Unternehmen.

Die Kundenorientierung fokussiert die Beziehungen zwischen Unternehmen und


Kunde. Um den Kunden einen Nettonutzen bieten zu können, sind die Logistikpro‐
zesse in bestmöglicher Weise an den Bedürfnissen der Kunden auszurichten. Diese
beziehen sich jedoch nicht nur auf die Produktmerkmale, die einer immer stärkeren
und schnelleren Anpassung unterliegen, sondern auch die Qualität der Leistungen

63 Vgl. OHMAE (1986, S. 71).

35
Logistikkonzeption
2
vor, während und nach dem Herstellungsprozess hat Einfluss auf den Kundennutzen.
Zur Kundenorientierung gehört neben der Erfassung der gegenwärtigen Kundenwün‐
sche auch die Antizipation der Bedarfswandlungen der Kunden. In immer mehr
Marktsegmenten treten ausschließlich preisorientierte Nutzenkriterien in den Hinter‐
grund, sodass der Kundennutzen vielmehr durch die Bereitstellung kundenindividu‐
eller Problemlösungen determiniert wird. Bei diesen Marktanforderungen kommt der
Logistikleistung, d. h. der Fähigkeit des Unternehmens, die Kunden schnell, präzise,
zuverlässig, fehlerfrei und flexibel zu bedienen, eine wachsende Bedeutung zu. Über‐
durchschnittliche Logistikleistungen und wettbewerbsgerechte Logistikkosten bieten
die Möglichkeit zu einer individuellen Befriedigung der Nachfrage und binden die
Kunden stärker an das Unternehmen. Die Kundenorientierung darf sich jedoch nicht
nur auf externe Kunden beziehen, sondern darüber hinaus auch auf die internen Kun‐
den‐Lieferantenbeziehungen zwischen den Unternehmensprozessen. Jeder Organisa‐
tionsbereich in der Logistikkette muss so handeln, als wäre er Kunde der vorgelager‐
ten Stelle und Lieferant der nachfolgenden Stelle. Durch dieses Selbstverständnis wird
ein besonderes Verantwortungsbewusstsein unter den Mitarbeitern gefördert, das
sukzessiv zu einer Umsetzung des Prozessmanagements führt. Eine der wichtigsten
Aufgaben des Prozessmanagements besteht in der Übersetzung der externen Kunden‐
anforderungen in Outputspezifikationen der einzelnen Logistikprozesse. Die internen
Kunden‐Lieferanten‐Beziehungen wiederum dienen der Realisierung dieses Ziels.

Die Wettbewerbsorientierung zielt auf die Beziehungen zwischen Unternehmen und


Wettbewerb aus dem Blickwinkel der Logistik ab. Für ein Unternehmen genügt es
nicht, dem Kunden einen Nutzen bieten zu können, sondern es ist darüber entschei‐
dend, das logistische Leistungspotenzial so zu gestalten, dass es bei den erfolgskriti‐
schen Parametern gezielt besser ist als die Leistungsgrößen der besten Wettbewerber.
Um sich einen Überblick über das Leistungsprofil und das ‐niveau der Wettbewerber
zu verschaffen, ist eine kontinuierliche Analyse der Produkte, Dienstleistungen, Un‐
ternehmensprozesse, Ressourcen und Strategien der Wettbewerber erforderlich. Ne‐
ben den etablierten Konkurrenten sollten auch potenzielle neue Wettbewerber, die
auch ohne physische Präsenz in den Markt eintreten könnten, in die Beobachtung mit
einbezogen werden. Neben der Analyse der etablierten und potenziellen Konkurren‐
ten gehören zur Wettbewerbsanalyse auch die Sicherung und der Ausbau von erkann‐
ten Wettbewerbsvorteilen.

Die Dissemination der Marktorientierung hat die Durchdringung der Kunden‐ und
Wettbewerbsorientierung im Unternehmen zum Ziel. Die Kundenanforderungen und
die Wettbewerbsposition sind bei sämtlichen logistischen Handlungen explizit zu
berücksichtigen. Da effiziente und effektive Logistiksysteme einen hohen Imitations‐
schutz gewähren, können sie zur nachhaltigen Differenzierung gegenüber dem Wett‐
bewerb genutzt werden.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass das Prinzip der Marktorientierung auf die
strategischen Dimensionen logistischen Denkens und Handelns abzielt. Logistisches
Denken beinhaltet, dass die Unternehmung als ganzheitliches, komplexes System zu

36
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik

verstehen ist, das Absatz‐ und Beschaffungsmärkte miteinander verbindet. Logisti‐


sches Handeln bedeutet, dass alle logistischen Aktivitäten unter Berücksichtigung der
Minimierung der Liefer‐, Durchlauf‐ und Reaktionszeiten auszuführen sind, um somit
die Logistikeffizienz wettbewerbswirksam zu erhöhen.

2.1.4 Zeitorientierung
Der Faktor Zeit mit seinen Ausprägungen Geschwindigkeit, Pünktlichkeit und Reakti‐
onsschnelligkeit wird neben den Kosten und der Qualität als gleich gewichteter strate‐
gischer Erfolgsfaktor betrachtet, da er für die Gewinnung von Marktanteilen, die Kapi‐
talbindung in der logistischen Kette, die Geschwindigkeit und Flexibilität bei der Um‐
setzung von Kundenwünschen in marktfähige Produkte, die Kundenbelieferung
sowie für die Wirtschaftlichkeit und Rentabilität einer Unternehmung verantwortlich
ist. Die Bestrebungen zur Zeitrationalisierung konzentrierten sich in der Vergangen‐
heit auf die Verkürzung der direkten Fertigungszeit, sodass die Zeit‐ und Kostensche‐
re zwischen direkten und indirekten Wertschöpfungsaktivitäten deutlich auseinan‐
dergegangen ist. Betrachtet man die Durchlaufzeit, die sich aus Bearbeitungs‐ und
Liegezeit zusammensetzt, dann beträgt die reine Bearbeitungszeit häufig lediglich 10%
der Gesamtdurchlaufzeit, während der überwiegende Anteil der Durchlaufzeit durch
Warte‐ und Liegezeiten entsteht64.

Logistische Aktivitäten beeinflussen mit den Durchlauf‐, Wiederbeschaffungs‐ und


Lieferzeiten die kritischen Zeitstrecken entlang der Wertschöpfungskette einer Unter‐
nehmung und sind auf die organisatorische Gestaltung und Optimierung von Zeitdis‐
paritäten in vernetzten Systemen ausgerichtet. Die Reaktionsschnelligkeit stellt die
Fähigkeit von Unternehmen dar, Marktänderungen auf verschiedenen Hierarchieebe‐
nen im Unternehmen wahrnehmen und in angemessener Zeit, d. h. in Abhängigkeit
von den Kundenerwartungen oder vom Verhalten der Konkurrenten, reagieren zu
können. Die Schnelligkeit eines Systems – operationalisiert durch die Zeitspanne, mit
der bestimmte Aktivitäten ausgeführt werden – ist zunächst ausschließlich auf das
Leistungsvermögen der bestehenden Struktur ausgerichtet und kann durch Erhöhung
der Leistungserstellungs‐ als auch der Pufferkapazität gesteigert werden. Im arbeits‐
teiligen Zusammenwirken gilt es jedoch, die Koordination der Arbeitsabläufe vor Ort
sicherzustellen und nicht einzelne oder alle Arbeitsabläufe simultan zu beschleuni‐
gen65. Diese Interdependenzen versucht der Begriff der Reaktionsschnelligkeit mit der
Komponente der Rechtzeitigkeit zu berücksichtigen. Durch die Rechtzeitigkeit soll die
Koordination der einzelnen Wertschöpfungsaktivitäten untereinander gefördert wer‐
den.

Lange Warte‐ und Liegezeiten behindern die Reaktionsschnelligkeit eines Logistik‐


systems erheblich. Durch die Verbesserung der Zeiteffizienz wird eine stärkere Kun‐

64 Vgl. WILDEMANN (2009, S. 367); SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 283).


65 Vgl. KORTSCHAK (1992, S. 67).

37
Logistikkonzeption
2
denorientierung ermöglicht, da kurze Durchlaufzeiten die Distanz der Unternehmung
zum Kunden verringern. Zur Durchlaufzeitverkürzung werden die Material‐, Waren‐
und Informationsflüsse synchronisiert sowie die Schnittstellen nach dem Fließprinzip
organisiert. Die vom Kunden gewünschten Lieferzeiten stellen dabei das anzustreben‐
de Zeitlimit für die Abwicklung der notwendigen Waren‐, Material‐ und Informations‐
flussdurchlaufzeiten dar.

Die Logistikphilosophie basiert auf Prinzipien, die gegensätzlich zum Denken in funk‐
tionalen Organisationseinheiten stehen. Gerade die Logistik ist aufgrund ihres Quer‐
schnittscharakters prozessorientiert auszurichten. Der prozessorientierte Grundansatz
der Logistik lässt sich sowohl aus dem Ganzheitlichkeitsprinzip als auch aus dem
Prinzip der Flussorientierung ableiten. Eine prozessorientierte Sichtweise des Wert‐
schöpfungssystems industrieller Unternehmen betrachtet die betriebliche Leistungser‐
stellung als strukturiertes Netzwerk dynamischer Prozesse und nicht als Konglomerat
statischer Funktionen.

2.2 Logistikprozesse und -ziele

2.2.1 Prozesse der Logistik


Als Logistikobjekte werden Materialien, Waren, d. h. Handelswaren, Zuliefer‐ und Er‐
satzteile, Halb‐ und Fertigerzeugnisse, Roh‐, Hilfs‐ und Betriebsstoffe, Reststoffe sowie
Informationen aber auch Personen betrachtet. Im Folgenden wird bei den Logistikob‐
jekten der Fokus auf die Waren, Materialen und Informationen gelegt. Da Informatio‐
nen den Waren‐ und Materialfluss vorauseilend planen und auslösen, begleitend re‐
geln und zeitlich nachgelagert bestätigen, gehören zu den Logistikprozessen sowohl
waren‐, materialfluss‐ als auch informationsflussbezogene Prozesse. Die Material‐,
Waren‐ und Informationsflüsse der vorwärts‐ als auch die der rückwärtsgerichteten
Logistik lassen sich als Kombination grundlegender logistischer Prozesse darstellen,
welche diese Logistikobjekte hinsichtlich ihrer zeitlichen, räumlichen oder art‐ und
mengenmäßigen Merkmale transformieren.

Bei den Logistikprozessen industrieller Unternehmen kann eine Unterteilung in Kern‐


und Unterstützungsprozesse vorgenommen werden, die sich wiederum in weitere
Teilprozesse und Aktivitäten gliedern (vgl. Tabelle 2‐1)66.

66 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen LASCH (1998, S. 45‐47) entnommen.

38
2.2
Logistikprozesse und -ziele

Tabelle 2‐1 Logistische Kernprozesse

Waren‐/Materialflussprozesse Informationsflussprozesse
Wareneingang Planung
 Warenannahme und Prüfung  Materialbedarf, Bestandsvolumen
 Entladen und Auspacken  Produktions‐, Absatz‐, Lieferpro‐
 Umpacken in Lager‐ und Transport‐ gramm
einheiten  Kapazitätsplanung für Fertigung
Lagerung und Logistik
 Lagerverwaltung Disposition
 Lagerflächen bereitstellen  Liefer‐, Fertigungs‐, Bestellmengen
 Lagern  Mindestbestände, Bestandsreichwei‐
 Kommissionieren ten
Transport  Bestell‐, Fertigungsaufträge
 Transporteinrichtungen bereitstellen Steuerung
 Transportaufträge bearbeiten  Fertigungsaufträge einplanen
 Transportieren  Material, Erzeugnisse abrufen
Versand  Terminverfolgung
 Lieferunterlagen erstellen  Kapazitätsauslastung steuern
 Verpacken  Auftragsüberwachung
 Beladen Kundenauftragsbearbeitung
Entsorgung  Aufträge
 Reststoffe trennen, sammeln, lagern o annehmen, bestätigen, einplanen
 Verpacken, bereitstellen zum Recyc‐ o an Auslieferung, Disposition,
ling / zur Entsorgung Fertigungssteuerung übergeben
 Liefertermine überwachen, koordi‐
nieren

Die logistischen Kernprozesse verbinden zeitlich und räumlich entkoppelte Prozesse


der Beschaffung, Produktion, Distribution und Entsorgung und setzen sich aus den
Prozessketten des inner‐ und zwischenbetrieblichen Material‐ und Warenflusses sowie
des dazu komplementär verlaufenden Informationsflusses zusammen. Material‐ und
Warenflussprozesse bewirken im Rahmen eines Transformationsprozesses eine Ver‐
änderung der zeitlichen, räumlichen, mengenmäßigen und qualitativen Merkmale der
Logistikobjekte. Aufgrund ihrer engen Verzahnung mit dem Produktionsprozess fin‐
den logistische Aktivitäten häufig gemeinsam mit Produktionstätigkeiten statt. Zu den
auf den Material‐ und Warenfluss gerichteten Dienstleistungen zählen Transporte und
Lagerungen, die verschiedensten Formen von Umschlag‐, Handhabungs‐ und Entsor‐
gungsvorgängen sowie deren Verknüpfung mit Fertigungsprozessen, Lieferanten,
Dienstleistern und Kunden.

Zu jedem Material‐ und Warenfluss gehören Informationen, die diesen vorauseilend


auslösen, erläuternd begleiten und nachfolgend bestätigen und überprüfen. Der In‐
formationsfluss als logistischer Prozess verändert im Rahmen eines Informations‐
prozesses den Zustand von Informationen und kann vom Waren‐ und Materialfluss
entkoppelt oder mit ihm verbunden sein. Die logistische Betrachtungsweise führt
dazu, dass die Informationsverarbeitung gemäß dem Fließprinzip über alle beteiligten

39
Logistikkonzeption
2
Stellen gestaltet wird. Zu den Teilprozessen des logistischen Informationsflusses gehö‐
ren alle Informations‐, Kommunikations‐ und Koordinationsprozesse, die zur Pla‐
nung, Disposition und Steuerung von Gütern sowie zur Auftragsabwicklung notwen‐
dig sind (vgl. Tabelle 2‐1).

Die Durchführung der oben genannten logistischen Kernprozesse muss grundsätzlich


von allen Produktionsunternehmen vorgenommen werden. Die Ausprägung der logis‐
tischen Unterstützungsprozesse (vgl. Tabelle 2‐2) wird dagegen sehr stark von der
Entwicklung und der Sichtweise der Logistik im Unternehmen beeinflusst, wobei ihr
Einfluss mit zunehmendem Integrationsgrad der Wertschöpfungskette zunimmt.
Gegenstand dieser unterstützenden Prozesse sind das Logistikmanagement, das Lo‐
gistik‐Controlling, logistische Forschungs‐ und Entwicklungsaufgaben sowie funkti‐
onsübergreifende Koordinationsprozesse. Zu den Teilaktivitäten dieser Prozesse zäh‐
len beispielsweise die Mitwirkung bei der Logistikplanung und ‐kontrolle, die Ent‐
wicklung von Logistikstrategien und die Erarbeitung von Make‐or‐Buy‐Studien sowie
Layoutkonzepten.

Tabelle 2‐2 Logistische Unterstützungsprozesse

Unterstützungsprozesse
Logistikmanagement Logistikforschung und ‐entwicklung
 Logistikstrategie festlegen  Waren‐, Material‐ und Informations‐
 Leistungs‐, Kostenziele vorgeben flusskonzepte entwickeln
 Effektivität, Effizienz sichern  Logistiktechnologien entwickeln
 Mitarbeiterführung und ‐beurteilung  Logistikaus‐ und ‐weiterbildung
Logistik‐Controlling Übergreifende Koordination
 Logistikleistungen, ‐kosten planen  Mitwirkung bei
und kontrollieren o Neuprodukteinführung
 Wirtschaftlichkeitsrechnungen o Produktions‐, Informationstech‐
 Budgets und Berichte erstellen nologien
o Qualitätsmanagement

2.2.2 Ziele der Logistik


Die Gestaltung des logistischen Systems und die Steuerung seiner Prozesse erfordern
die Ableitung und Vorgabe von Zielen67. Ziele sind Ausgangspunkt sowohl für die
Bildung als auch für die Beurteilung von alternativen Systemzuständen und ‐pro‐
zessen und gelten als Wertprämissen für logistische Entscheidungen. Logistikziele und
die daraus abgeleiteten Strategien müssen eng in die Unternehmensplanung einge‐
bunden werden. Zunächst ist der Beitrag der Logistik zum Geschäftserfolg zu ermit‐
teln, da dieser die Basis für die Ableitung und Vorgabe der Logistikziele darstellt.

67 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen LASCH (1998, S. 37‐42) entnommen.

40
2.2
Logistikprozesse und -ziele

Logistikziele dürfen somit nicht isoliert betrachtet werden, sie müssen vielmehr aus
der Gesamtzielkonzeption abgeleitet werden, um zur Erreichung der übergeordneten
Unternehmensziele beizutragen. Dabei ist zu beachten, dass bei betriebswirtschaft‐
lichen Entscheidungen zwischen indifferenten, komplementären und konkurrierenden
Zielen unterschieden wird. Die Erreichung logistischer Ziele erfordert das Erbringen
einer marktgerechten Logistikleistung (Effektivität) bei minimalen Logistikkosten
(Effizienz)68.

2.2.2.1 Logistikleistung
Aufgrund der Querschnittsfunktion der Logistik werden logistische Leistungen über
das gesamte Unternehmen hinweg erbracht. Die Logistikleistung ist ein immaterielles
Ergebnis logistischer Transformationsprozesse und wird deshalb auch als Dienstleis‐
tung bezeichnet. Aufgrund ihres immateriellen Dienstleistungscharakters sind Lo‐
gistikleistungen gegenüber Sachleistungen schwerer zu operationalisieren und quanti‐
fizieren. In der Literatur herrscht aufgrund von Abgrenzungsproblemen Uneinigkeit
darüber, inwieweit operative, dispositive und administrative Leistungen der Logistik
zugerechnet werden können. Logistische Tätigkeiten werden oft in Verbindung mit
anderen Tätigkeiten unter Mitnutzung gemeinsamer Potenzialfaktoren vollzogen, so‐
dass Abgrenzungsprobleme aufgrund von unauflöslichen Verkettungen oder Über‐
schneidungen der Logistik mit anderen Leistungsarten resultieren. Derartige Abgren‐
zungsprobleme der Logistikleistung gegenüber Beschaffungs‐, Produktions‐ und Ab‐
satzleistungen lassen sich nicht „richtig“ im Sinne von theoretisch eindeutig lösen,
sondern es müssen jeweils unternehmensindividuelle Lösungen gefunden werden.

Aufgrund der erwähnten Abgrenzungsproblematik findet man in der Literatur ver‐


schiedene Vorschläge zur Systematisierung logistischer Leistungen. Die Mehrzahl
dieser Ansätze sehen das logistische Leistungsspektrum unter dem Servicedenken, das
vom Lieferservice bis zum Versorgungsservice reicht. Logistische Leistungen können
klassifiziert werden, wenn sie als zielorientiertes Ergebnis logistischer Tätigkeiten
aufgefasst werden. Auf der Basis verschiedener Bedarfskategorien der Nachfrager
nach logistischen Aktivitäten lässt sich eine wirkungs‐, faktor‐, prozess‐ und ergebnis‐
bezogene Leistungsebene unterscheiden69:

 Sicherstellung der Verfügbarkeit logistischer Ressourcen und Objekte


Diese wirkungsbezogene Leistungsebene umfasst auf der Objektebene die Ziel‐
größen Lieferbereitschaft der geforderten Produkte und Materialien sowie die In‐
formationsbereitschaft. Die Informationsbereitschaft gewinnt dabei zunehmend
an Bedeutung und ist die Fähigkeit, in allen Stadien der Geschäftsabwicklung

68 Die Effektivität bezeichnet die grundsätzliche Eignung einer Maßnahme im Hinblick auf ein
angestrebtes Ziel und kann als „die richtigen Dinge tun“ interpretiert werden. Die Effizienz
kann mit der Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit gleichgesetzt werden und bedeutet „die
Dinge richtig tun“.
69 Vgl. Weber (2002, S. 118ff).

41
Logistikkonzeption
2
Auskunft über den Auftragsstand zu erteilen, bzw. bei mangelnder, bereits erfolg‐
ter Lieferung sofort einen Nachbesserungstermin nennen zu können. Die Verfüg‐
barkeit der Ressourcen ergibt sich aus deren qualitativer und quantitativer Eig‐
nung sowie aus der Technologie‐ und Personalauslastung. Durch die wirkungs‐
bezogene Leistungsebene wird die Verantwortung der Logistik für die zeit‐ und
mengengerechte Versorgung des Unternehmens mit den notwendigen Inputfak‐
toren betont.
 Sicherstellung logistischer Leistungsbereitschaft
Diese faktorbezogene Leistungsebene bezieht sich auf das Leistungsvermögen des
Logistiksystems, das sich in den Leistungselementen Zeit und Flexibilität wider‐
spiegelt. Die Lieferzeit ist die Zeitspanne von der Erteilung eines Auftrags durch
den Kunden bis zum Zeitpunkt der Verfügbarkeit der Ware beim Kunden. Bei la‐
germäßig vorhandenen Waren setzt sie sich aus den Komponenten Auftragsbear‐
beitungszeit, Auslagerungs‐ und Kommissionierzeit sowie der Verpackungs‐, Ver‐
lade‐ und Versandzeit zusammen. Müssen die bestellten Waren erst noch produ‐
ziert werden, sind zu diesen Zeiten noch die Produktionsdurchlauf‐ und
gegebenenfalls die Wiederbeschaffungszeit der Einsatzmittel hinzuzurechnen. Die
Lieferzeit zeigt auf, mit welcher Geschwindigkeit das logistische System Kunden‐
aufträge in marktfähigen Output umsetzt. Die Lieferflexibilität ist die Fähigkeit,
auf Kundenwunschänderungen hinsichtlich Spezifikation, Menge und Termin
einzugehen. Sie kann als Markterfolgsfaktor insbesondere dort eingesetzt werden,
wo auf Kundenseite aufgrund einer dynamischen Umwelt mit häufigen Kunden‐
wunschänderungen zu rechnen ist.

 Sicherstellung der Durchführung logistischer Prozesse


Auf der prozessbezogenen Leistungsebene umfasst die Logistikleistung die Erfül‐
lung des Bedarfs an einer bestimmten logistischen Produktionsprozessart, wobei
der Bedarf durch den Leistungsempfänger präzisiert wird. Ein hohes logistisches
Leistungsvermögen setzt ein entsprechendes Qualitätsniveau der logistischen
Prozesse voraus, wobei als Zielgrößen die Lieferqualität und die Lieferzuverläs‐
sigkeit herangezogen werden können. Die Lieferqualität beschreibt die Liefer‐
genauigkeit nach Art und Menge sowie den Zustand der Lieferung. Eine mangel‐
hafte Lieferqualität führt zu Kundenreklamationen, die erneute Bearbeitungskos‐
ten, negatives Image und Umsatzeinbußen zur Folge hat. Die Ursachen für einen
qualitativen Mangel sind vorwiegend bei einer schlechten Qualitätsprüfung, einer
ungeeigneten Verpackung oder unsachgemäßen Behandlung zu suchen. Falsche
Versandanschriften, fehlende Identität der Verpackung oder nicht abgestimmte
Kundenbelieferung sind die Hauptgründe für einen quantitativen Mangel. Mit
der Lieferzuverlässigkeit (Liefer‐, Termintreue) wird die Wahrscheinlichkeit er‐
fasst, mit der die Lieferzeit eingehalten wird, sodass sie von der Lieferbereitschaft
und der Zuverlässigkeit des Arbeitsablaufs beeinflusst wird.

42
2.2
Logistikprozesse und -ziele

 Vollzogene Raum‐ und/oder Zeitveränderung


Die ergebnisbezogene Leistungsebene stellt auf das Ergebnis der Aktivitäten ein‐
zelner logistischer Teilbereiche ab. Zu beachten ist hierbei, dass neben den logisti‐
schen Kernmerkmalen der Objekte (aktueller Aufenthaltsort und Termin) weitere
Restriktionen im Anforderungsprofil des Nachfragers zur Heterogenität der Lo‐
gistikleistung beitragen, sodass eine so definierte Leistung kein objektives Kon‐
strukt ist.

Insgesamt verdeutlichen die auf den verschiedenen Ebenen dargestellten Ziele der
Logistikleistung dessen hohe Marketingbedeutung. Bei der Auswahl und Festlegung
dieser Leistungsziele sind neben den Anforderungen der unterschiedlichen Kunden‐
gruppen, Marktsegmente sowie Versorgungskanäle die Wechselbeziehungen zwi‐
schen den einzelnen Leistungsgrößen und vor allem die Kostenreagibilität unter‐
schiedlich hoher Leistungsziele zu beachten.

2.2.2.2 Logistikkosten
Durch die Erbringung logistischer Leistungen entstehen Kosten, die als Logistikkosten
bezeichnet werden. Ein zunehmendes Interesse an logistischen Kosten ist in der Ver‐
schiebung der Kostenstrukturen industrieller Unternehmen70 und der Höhe der Logis‐
tikkosten begründet. Aufgrund der Abgrenzungsprobleme bei logistischen Leistungen
bestehen auch über die Zusammensetzung der Logistikkosten unterschiedliche Auf‐
fassungen. Die Verkettung und Überlagerung verschiedener Leistungsarten macht es
unmöglich, sämtliche Logistikkosten zu separieren und auf einzelne Leistungsarten zu
verrechnen. Eine Erfassung und Verrechnung von Logistikkosten ist immer dann
gerechtfertigt, wenn zur Gestaltung und Steuerung logistischer Prozesse noch Frei‐
heitsgrade existieren und die entscheidungsrelevanten Kosten entsprechende Rationa‐
lisierungspotenziale erkennen lassen. Betroffen sind davon nicht nur der operative
Bereich, sondern wegen der Querschnittsfunktion der Logistik auch die dispositiven
Abstimmungsprozesse zwischen den Leistungsbereichen eines Unternehmens.

Logistische Kosten lassen sich unter dem Aspekt ihrer Zurechenbarkeit zur Logistik in
folgende fünf Kostenkategorien unterteilen:

 Kosten des physischen Materialflusses


Diese Kostenkategorie umfasst die Kosten des Verpackens, des Handlings und
des Kommissionierens, Entsorgungskosten sowie interne und externe Transport‐
und Lagerkosten.

70 In vielen Unternehmen kann man einen steigenden Anteil von Gemeinkosten in sogenannten
„indirekten“ Leistungsbereichen feststellen, d. h vorbereitende, planende, steuernde, überwa‐
chende und koordinierende Tätigkeiten gewinnen insbesondere auch in der Logistik immer
mehr an Gewicht.

43
Logistikkonzeption
2
 Kosten des Informationsflusses
Unter dieser Kategorie werden die Kosten der Planung, Gestaltung und Kontrolle
logistischer Objekte und Ressourcen sowie die Kosten der Disposition und Auf‐
tragsabwicklung subsumiert.

 Managementkosten
Zu dieser Kostenkategorie zählen die Kosten für die Logistikleistung, der logisti‐
schen Forschung und Entwicklung, des Logistik‐Controllings sowie der Aus‐ und
Weiterbildung.

 Bevorratungskosten
Hierunter fallen die Kapitalbindungskosten sämtlicher in der Logistikkette ge‐
bundenen Vorräte und die Kosten für Bestandsrisiken.

 Kosten mangelnder Prozesssicherheit


Zu dieser Kategorie sind alle Kosten zu zählen, die sich aufgrund einer mangeln‐
den Qualität der Logistikprozesse ergeben können, wie beispielsweise Kosten für
Nacharbeiten, Stillstandszeiten und Konventionalstrafen.

Die Berücksichtigung von Zielkonflikten bei logistischen Entscheidungen, die als Kos‐
ten‐Kosten‐ oder als Kosten‐Leistungs‐Konflikt auftreten können, lässt sich aus dem
die Logistikkonzeption kennzeichnenden Systemdenken ableiten. Um dem Gesamt‐
kostenansatz der Logistik gerecht zu werden, muss man beachten, dass Kosten‐Trade‐
offs nicht nur zwischen unmittelbar aufeinanderfolgenden oder benachbarten Prozes‐
sen bestehen – etwa Lagerhaltung und Transport – oder auf vorgegebene Verantwor‐
tungsbereiche beschränkt sind. Insofern stehen bei der Festlegung logistischer Kosten‐
ziele nicht einzelne Kostenkategorien des Logistiksystems im Vordergrund, sondern
vielmehr die Optimierung der Kosten‐Trade‐offs innerhalb der Innovations‐ und
Wertschöpfungskette.

Bezogen auf Erfolgsfaktoren Kosten, Qualität, Flexibilität und Zeit sind in der Abbil‐
dung 2‐3 mögliche Zielkonflikte dargestellt:

 Die Forderung nach kurzen Lieferzeiten bzw. nach einer hohen Lieferbereitschaft
setzt entweder hohe Lagerbestände oder kurze Durchlaufzeiten voraus. Hohe La‐
gerbestände sind jedoch konfliktär zur Senkung der Kapitalbindungskosten und
bergen zudem das Risiko des Werteverlustes der Lagerware bei rückläufiger
Nachfrage. Kurze Durchlaufzeiten können auch zu Qualitätseinbußen sowie zur
Einschränkung der Flexibilität bezogen auf eine zu geringe Variantenvielfalt füh‐
ren.

 Zur Senkung der Kosten werden Aufträge mit großen Losgrößen auf den Maschi‐
nen eingelastet. Daraus resultieren einerseits eine hohe Kapazitätsauslastung aber
andererseits auch längere Durchlauf‐ und Lieferzeiten, die wiederum Beschrän‐
kungen bei der Qualität und Flexibilität im Angebot zur Folge haben.

 Eine hohe Flexibilität kann z. B. durch eine Anpassungsfähigkeit von Prozessen


oder durch das Angebot einer hohen Variantenvielfalt erreicht werden. Beides

44
2.2
Logistikprozesse und -ziele

führt zu einer Beschränkung bei der erwartungsgemäßen Lieferung oder zu höhe‐


ren Kapitalbindungs‐ und Prozesskosten.

 Eine hohe Produktqualität erfordert z. B. eine intensive Stichprobenprüfung, die


zu einer längeren Durchlaufzeit verbunden mit höheren Kosten führt. Qualitativ
stabile Prozesse können eine mangelnde Anpassbarkeit zur Folge haben.

Abbildung 2‐3 Zielkonflikte in der Logistik71

Hohe Qualität

Mögliche
Zielprofile

Niedrige Erwartungsgemäße
Kosten Lieferung

Hohe
Flexibilität

Zur Auflösung des Zielkonfliktes zwischen den Logistikleistungen und den ‐kosten
wird vorgeschlagen, die anzustrebenden Zielgrößen für die Logistikleistungen festzu‐
legen. Diese Zielgrößen müssen sich in der Lieferservicepolitik sowie in der Lo‐
gistikstrategie widerspiegeln. Daran ausgerichtet sind die zur Zielerreichung für die
Logistikleistungen notwendigen Logistikkosten zu minimieren.

2.2.3 Erfolgsfaktor Logistik


Die Wettbewerbsfähigkeit wird nicht mehr ausschließlich durch Qualität und Kosten,
sondern zunehmend durch die Flexibilität und Zeitorientierung bestimmt. Für den

71 In Anlehnung an SCHÖNSLEBEN (2011, S. 40).

45
Logistikkonzeption
2
Aufbau postfordistischer Unternehmensstrukturen, die durch hohe Flexibilitäts‐ und
Innovationsfähigkeit gekennzeichnet sind, stellt die Logistik als Bindeglied zwischen
Lieferanten, Kunden und Fertigungsstätten eine unabdingbare Voraussetzung dar. Mit
zunehmender Konzentration auf die Kernkompetenzen und einer Reduzierung der
Fertigungstiefen steigen die Anforderungen an die zeitliche Abstimmung der Aktivitä‐
ten des Wertschöpfungsprozesses, sodass eine effektive und effiziente Logistik immer
wichtiger wird. Das Ziel jeder logistischen Aktivität ist es daher, die angestrebte Wett‐
bewerbsposition der Unternehmung zu unterstützen und als Markterfolgsfaktor zu
wirken.

Abbildung 2‐4 Erfolgstripel der Logistik

Zukunfts‐
sicherung

Wettbewerbs‐
vorteile

Logistik‐
leistung
Effizienz/ Kundennutzen‐
Wirtschaft‐ Effektivität potenziale Kunden‐
lichkeit zufriedenheit

Auf der Grundlage der Wirkzusammenhänge im strategischen Dreieck72 lässt sich ein
Erfolgstripel der Logistik, bestehend aus Wirtschaftlichkeit, Kundenzufriedenheit und
Zukunftssicherung ableiten, das durch die Logistikleistung beeinflusst wird (vgl. Ab‐
bildung 2‐4)73. Ein wichtiges Oberziel ist die Zukunfts‐ bzw. nachhaltige Existenzsi‐
cherung. Dieses Ziel wird ausgehend von der Logistikleistung über die Erlangung von
Wettbewerbsvorteilen angestrebt. Dabei können Unternehmen verschiedene Erfolgs‐
strategien verfolgen, um Wettbewerbsvorteile durch die Logistik zu erlangen. Gemäß
PORTER können Unternehmen Wettbewerbsvorteile durch eine Kostenführerschafts‐
strategie, durch ein einzigartiges Leistungsangebot, welches sie von der Konkurrenz
abhebt (Differenzierung) oder durch die Konzentration auf einen Teilmarkt (Ni‐
schenstrategie) erreichen74.

72 Vgl. Abbildung 2‐2.


73 Vgl. KLÖPPER (1991, S. 111).
74 Vgl. PORTER (1999, S. 70ff).

46
2.2
Logistikprozesse und -ziele

Tabelle 2‐3 Ausgestaltung von Wettbewerbsstrategien75

Werttreiber Strategieempfehlungen
Kostenführerschaft Differenzierung
Umsatzwachstum  Sicherung konkurrenzfä‐  Marktorientierte Preisge‐
higer Preise staltung
 Ausnutzung von Skalener‐  Hoher Service
trägen zum Erhalt von
Marktanteilen
Gewinnmarge  Ausnutzung von Skalener‐  Kosteneffiziente Differen‐
trägen zierungsstrategien
 Standardisierung
 Senkung der Overhead‐
Kosten
Investitionen  Minimierung von Lagerbe‐  Minimierung des Kassen‐
ständen, bestands
Kassenbestand, Debitoren  Optimierung der Lagerbe‐
 Erhöhung des Nutzungs‐ stände, Debitoren und An‐
grades der Aktiva lagebestände unter Beach‐
tung der Notwendigkeit der
Differenzierungsstrategie
Kapitalkosten  Optimale Gestaltung der  Optimale Gestaltung der
Kapitalstruktur Kapitalstruktur
 Minimierung der Eigen‐  Minimierung der Eigen‐
und Fremdkapitalkosten und Fremdkapitalkosten
 Reduktion der Geschäftsri‐  Differenzierung zur Risiko‐
siken reduktion

Die Kostenführerschafts‐ und die Differenzierungsstrategie werden vielfach für die


Nutzung der Logistik als Wettbewerbsinstrument herangezogen. In der Tabelle 2‐3
sind beispielhaft Empfehlungen zur Ausgestaltung der Grundstrategien angegeben,
wobei die Maßnahmen mit Bezug zum Logistikmanagement stärker hervorgehoben
sind. In Branchen, in denen Logistikleistungen einen großen Teil der Gesamtkosten
verursachen (z. B. im Handel) bzw. in denen eine hohe Wettbewerbsintensität herrscht
(z. B. in der Konsumgüterindustrie), können niedrige Logistikkosten einen wesent‐
lichen Beitrag zur Kostenführerschaft leisten. Für Unternehmen, die eine Differen‐
zierungsstrategie verfolgen, eignet sich besonders die Schwerpunktlegung auf einen
exzellenten Logistikservice. Die von PORTER vorgeschlagene einseitige Festlegung
entweder auf die Kostenführerschafts‐ oder die Differenzierungsstrategie ist heute
nicht mehr zeitgemäß. Um einen nachhaltigen Vorsprung gegenüber Wettbewerbern
zu erzielen, erfordern veränderte, dynamischere Wettbewerbsbedingungen eine Ver‐

75 Vgl. SCHIERENBECK/LISTER (1998, S. 51).

47
Logistikkonzeption
2
knüpfung zwischen diesen beiden Wettbewerbsstrategien. Insbesondere kann eine
effektive und effiziente Logistik zur Unterstützung einer Kostenführerschafts‐ o‐
der/und einer Differenzierungsstrategie für die Erzielung von Wettbewerbsvorteilen
eingesetzt werden.

Abbildung 2‐5 Einfluss der Logistik auf die finanzielle Unternehmensperformance

Betriebliche Lieferservice
Erträge
Operativer Cash Flow Transportkosten
vor Zinsen nach Steuern ‐
(NOPAT)
IT‐Kosten
Betriebliche
Aufwendungen
Fehlerkosten

Handlingkosten
EVA ‐

Bestände Umschlag
Umlauf‐
vermögen
Offene Forderungen
Kapitalver‐
Kapital‐ x
kosten
= zinsung + Fuhrpark
(WACC)
Anlage‐
Lagerinfrastruktur
vermögen

Auslastungsgrad
NOPAT = Net Operating Profit After Taxes

WAAC = Weighted Average Cost of Capital


= Rechnerische Verbindung im Rahmen des EVA‐Models
= Wirkungszusammenhang

Stakeholderspezifische Wertbeiträge eines Unternehmens können z. B. durch die Grö‐


ße Economic Value Added (EVA®)76 ausgewiesen werden. Der Economic Value Added
wurde 1991 durch die Unternehmensberatung Stern, Stewart & Co. entwickelt. Als
finanzwirtschaftlicher Ansatz berechnet sich der EVA als Differenz aus dem operati‐
ven Betriebsergebnis nach Steuern und den Kapitalkosten. Eine Wertsteigerung ist
dann gegeben, wenn die Rendite des Unternehmens über den Kosten des eingesetzten
Kapitals liegt. Logistische Leistungen und Kosten haben sowohl auf der Kosten‐ als
auch auf der Umsatzseite erheblichen Einfluss auf das Erreichen der Unternehmens‐
ziele bzw. auf die Erhöhung des Unternehmenswertes. In der Abbildung 2‐5 wird
exemplarisch der Einfluss der Logistik auf den Unternehmenserfolg anhand der Größe
EVA veranschaulicht. So kann ein verbesserter Lieferservice für die Kunden positiv auf
den EVA wirken, wenn dadurch über höhere Preise ein höherer Umsatz realisiert
wird. Die betrieblichen Aufwendungen können durch eine Reduktion der Logistikkos‐
ten verringert werden. Großen Einfluss hat das Logistikmanagement auch auf das

76 Der Economic Value Added (EVA) ist ein eingetragenes Warenzeichen der Unternehmens‐
beratung Stern, Stewart & Co.

48
2.2
Logistikprozesse und -ziele

Anlage‐ und Umlaufvermögen. Ein Abbau der Lagerbestände reduziert das Umlauf‐
vermögen sowie die Kapitalbindung und führt zu einem höheren Kapitalumschlag
und damit zu einer Verbesserung der Kapitalrentabilität. Durch eine Reduzierung des
Fuhrparks und der Lagerinfrastruktur sowie durch eine Erhöhung des Auslastungs‐
grades können das Anlagevermögen reduziert werden.

Abbildung 2‐6 Einflüsse auf den Marktwert eines Unternehmens77

Marktwert

Finanz‐ Intellektuelles
kapital Kapital

 Finanzanlagen
 Materielle
Vermögensgegenstände

Partner‐/
Humankapital Kundenkapital Strukturkapital Prozesskapital
Allianzkapital

 Mitarbeiter‐  Kundenbasis  Partnerbasis  Infrastruktur  Logistikkonzeption


basis  Kunden‐  Partner‐ (z.B. Netzwerke)  Physisches
 Mitarbeiter‐ beziehungen beziehungen  Innovationskapital Prozesskapital
beziehungen  Kunden‐  Partner‐  Unternehmenskultur  Informatorisches
 Mitarbeiter‐ potenzial potenzial & Management Prozesskapital
potenzial  Imagekapital  Flexibilität

Der Marktwert eines Unternehmens wird durch die Komponenten Finanzkapital und
intellektuelles Kapital bestimmt, denen verschiedene materielle und immaterielle
Vermögensgegenstände zugeordnet werden können. Deshalb ist eine ausschließliche
Berücksichtigung monetärer Aspekte für eine Wertorientierung des Logistikmanage‐
ments nicht ausreichend. Immaterielle Werttreiber wie das intellektuelle Kapital
(„Intangibles“) sind für eine nachhaltige Steigerung des Unternehmenswerts von gro‐
ßer Bedeutung, da monetäre Erlöse das Ergebnis der Nutzung des intellektuellen
Kapitals wie z. B. des Prozess‐, Struktur‐, Beziehungs‐ oder Humankapitals sind. So‐
mit stellt die Entwicklung dieses intellektuellen Kapitals eine wesentliche Voraus‐
setzung für zukünftige monetäre Erlöse dar. Wichtiger als die konkrete Messung die‐
ses Wertes ist das Verständnis der Zusammenhänge zwischen dem intellektuellen
Kapital und dem Unternehmenswert, sodass die Aufmerksamkeit auf die Beein‐
flussungsmöglichkeiten des intellektuellen Kapitals durch das Logistikmanagement
gerichtet sein sollte. Die Abbildung 2‐6 zeigt mögliche Einflüsse des Logistik‐
managements auf das intellektuelle Kapital. Dabei lassen sich sowohl die Auswirkun‐
gen der logistischen Gestaltungsprinzipien Ganzheitlichkeit, Markt‐, Zeit‐ und Fluss‐

77 In Anlehnung an STOI (2003, S. 176).

49
Logistikkonzeption
2
orientierung finden, als auch die Logistikkonzeption selbst als ein wesentlicher Be‐
standteil des intellektuellen Kapitals erkennen.

Logistische Erfolgsfaktoren sind Werttreiber für die meisten in der Abbildung 2‐6
dargestellten Felder des intellektuellen Kapitals. Durch die Analyse der Erfolgs‐
faktoren, das Aufdecken ihrer Zusammenhänge und ihrer Beeinflussungsmöglich‐
keiten werden auch Ansätze zur Gestaltung und Entwicklung des intellektuellen Kapi‐
tals deutlich.

2.3 Organisation der Logistik


Für eine erfolgreiche Umsetzung der Logistikkonzeption ist eine zweckmäßige Veran‐
kerung der Logistik in die Unternehmensorganisation notwendig. Aufgrund der
Querschnittsfunktion der Logistik und der damit verbundenen Koordinationsfunktion
müssen logistische Aufgaben und Kompetenzen einer oder mehreren Organisations‐
einheiten zugeordnet sowie die Beziehungen zu anderen Organisationseinheiten defi‐
niert werden. Des Weiteren muss auch die innere Organisation des Bereichs Logistik
festgelegt werden. Durch eine organisatorische Einbindung logistischer Kern‐ und
Unterstützungsprozesse können wechselseitige Abhängigkeiten zwischen verschiede‐
nen Unternehmensaktivitäten besser berücksichtigt, Informationsasymmetrien zwi‐
schen verschiedenen Organisationseinheiten vermieden, Synergieeffekte genutzt so‐
wie das Logistik‐Know‐how gebündelt werden78. Das Ziel einer organisatorischen
Eingliederung der Logistik sollte eine nachhaltige, zuverlässige und flexible Erfüllung
der logistischen Aufgaben sein. Somit sollte die Logistikorganisation so gewählt wer‐
den, dass sie die verfolgte Logistikstrategie am besten unterstützt. Zu beachten ist
jedoch, dass logistische Organisationssysteme lediglich Teilmodelle der gesamten
Unternehmensorganisation darstellen und deshalb nicht unabhängig von den struktu‐
rellen Gegebenheiten und den prozessimmanenten Interdependenzen zu anderen
Funktionsbereichen gestaltet werden können.

Die Organisation umfasst die zielgerichtete Gestaltung von Beziehungen zwischen


Personen, Objekten und Arbeitsmitteln im Unternehmen sowie zur Umwelt und wird
in eine Aufbau‐ und Ablauforganisation unterteilt. Mit der Aufbauorganisation wird
die Struktur eines Unternehmens basierend auf einer Aufgabenanalyse und der Auf‐
gabensynthese bestimmt, sodass mit ihr Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten
für logistische Aufgaben nach Maßgabe ihrer Kompetenzen voneinander abgegrenzt
und durch Handlungsbeziehungen miteinander verknüpft werden. Während mit der
Aufgabenanalyse die logistische Gesamtaufgabe des Unternehmens systematisch in
elementare Aufgaben zerlegt wird, fasst die Aufgabensynthese die analytisch in der
Aufgabenanalyse identifizierten logistischen Einzelaufgaben so zu Aufgabenkomple‐

78 Vgl. WILDEMANN (2009, S. 414).

50
2.3
Organisation der Logistik

xen zusammen, dass sie sinnvoll organisatorischen Einheiten (z. B. Abteilungen, Stel‐
len etc.) zugeordnet werden können.

Die Ablauforganisation der Logistik umfasst die räumliche, zeitliche sowie sachliche
Strukturierung von lückenlos aufeinander abgestimmten Arbeitsgängen und Arbeits‐
folgen in und zwischen den Organisationseinheiten, die im Rahmen der Aufbauorga‐
nisation festgelegt wurden. Für die Logistik ergeben sich als Zielstellung beispielswei‐
se kurze Auftragsdurchlaufzeiten, eine hohe Lieferbereitschaft, kurze Lieferzeiten,
eine hohe Liefertreue und ‐flexibilität und geringe Logistikkosten.

Eine Einbindung der Logistik in die Gesamtorganisation sowie die Innenstruktur der
Logistik können funktional, divisional oder mit einer Matrix‐Organisation umgesetzt
werden79. Im Folgenden werden verschiedene Grundmodelle dieser Organisations‐
möglichkeiten vorgestellt.

2.3.1 Integration der Logistik in die Unternehmens-


organisation
Mit der hierarchischen Einordnung der Logistik in die Gesamtorganisation wird ins‐
besondere festgelegt, welche Stellung die Logistik im Unternehmen einnimmt. Die
höchste Bedeutung wird der Logistik dann zugesprochen, wenn sie auf der Vor‐
standsebene eingeordnet wird. Entsprechend nimmt der Stellenwert der Logistik bei
einer Einordnung auf der darunterliegenden Bereichs‐, Hauptabteilungs‐ oder Abtei‐
lungsebene ab. Neben der hierarchischen Einordnung spielen auch der Zentralisie‐
rungsgrad und die organisatorische Kontrolle eine wesentliche Rolle. Ist ein Unter‐
nehmen nach verschiedenen Produkten, Produktgruppen oder Regionen unterglie‐
dert, oder erfolgt eine Produktion in unterschiedlichen Werken, dann muss eine
Entscheidung über die Zentralisierung der Logistik getroffen werden. Die Zusammen‐
fassung logistischer Aufgaben in einem Zentralbereich entspricht dem Systemdenken
der Logistikkonzeption und hat zur Folge, dass dieser Zentralbereich durch eine hohe
organisatorische Integration gekennzeichnet ist, um alle erforderlichen Prozesse und
Interdependenzen als Ganzheit zu betrachten. Bei einer Dezentralisierung werden
logistische Aufgaben in verschiedenen Organisationseinheiten durchgeführt, sodass
sich Redundanzen ergeben80.

2.3.1.1 Integration der Logistik in eine funktionale Organisation


Bei einer funktionalen Aufbauorganisation wird die Hierarchieebene unterhalb der
Unternehmensleitung nach den durchzuführenden Aktivitäten in gleichartige Funkti‐
onen wie z. B. Einkauf, Produktion und Absatz untergliedert. Eine funktionale Auf‐

79 Vgl. HADAMITZKY (1995, S. 75ff).


80 Vgl. WILDEMANN (2009, S. 422).

51
Logistikkonzeption
2
bauorganisation findet man häufig in Einproduktunternehmen oder in Unternehmen
mit einer homogenen Produktstruktur. Für die Einbindung der Logistik in eine funkti‐
onale Gesamtorganisation können die folgenden drei Grundmodelle verwendet wer‐
den (vgl. Abbildung 2‐7).

Abbildung 2‐7 Logistik in einer funktionalen Organisation81

Unternehmensleitung (Modell 1) Unternehmensleitung (Modell 2)

Einkauf Produktion Absatz Einkauf Produktion Absatz

Beschaffungs‐ Produktions‐ Distributions‐


logistik
Logistik
logistik logistik Koordination

Unternehmensleitung (Modell 3)

Einkauf Produktion Absatz Logistik

Im Modell 1 werden den entsprechenden betrieblichen Funktionen die logistischen


Subsysteme Beschaffungs‐, Produktions‐ und Distributionslogistik zugeordnet, sodass
sich Spezialisierungsvorteile durch die Konzentration auf bestimmte Teilaufgaben
ergeben. Als problematisch erweist sich allerdings die Aufsplitterung der Logistik‐
aufgaben auf die einzelnen betrieblichen Funktionen, da dadurch eine Optimierung
des Waren‐ und Informationsflusses über das gesamte Unternehmen nicht möglich ist.
Die Logistik wird nicht übergreifend koordiniert, sodass sich Redundanzen durch
Doppelarbeiten ergeben, die zu erhöhtem Kosten‐ und Zeitaufwand führen. Diese
Form der Organisation findet sich oftmals in Unternehmen, die der Logistik einen
geringen Stellenwert beimessen.

Im Gegensatz zu Modell 1 wird die Logistik im Modell 2 durch einen übergeordneten


Funktionsbereich koordiniert, z. B. durch den Absatz. Somit können Synergieeffekte
durch eine Zusammenlegung bestimmter logistischer Aufgaben innerhalb eines funk‐
tionalen Bereichs realisiert werden und die im Modell 1 auftretenden Redundanzen
lassen sich vermeiden. Die sich jedoch ergebende mögliche Verantwortungsüber‐
schneidung zwischen den einzelnen Funktionsbereichen muss vermieden werden,

81 In Anlehnung an HADAMITZKY (1995, S. 74).

52
2.3
Organisation der Logistik

indem die logistischen Kompetenzen der verschiedenen Funktionsbereiche explizit


geregelt werden. In diesem Modell 2 kann der Spezialisierungsvorteil nicht im glei‐
chen Maße wie bei Modell 1 genutzt werden.

Durch die Bildung eines zu den anderen funktionalen Bereichen gleichwertigen Zen‐
tralbereichs für die Logistik im Modell 3 werden die logistischen Aufgaben nicht mehr
dezentral von den einzelnen Funktionsbereichen koordiniert. Durch die nun mögliche
zentrale Steuerung sämtlicher logistischer Prozesse gelingt eine ganzheitliche Koordi‐
nation und Steuerung sämtlicher logistischer Aufgaben. Dadurch lassen sich Redun‐
danzen vermeiden, aber andererseits wird auch auf gewisse Spezialisierungsvorteile
verzichtet. Mit diesem Modell eines gesonderten Funktionsbereichs wird der besonde‐
re Stellenwert der Logistik im Unternehmen verdeutlicht. Um eine effektive und effi‐
ziente Logistikleistung für die anderen funktionalen Bereiche erbringen zu können, ist
jedoch eine eindeutige Aufgaben‐ und Kompetenzabgrenzung notwendig. Nur somit
kann sichergestellt werden, dass die Logistik über die Bedürfnisse der anderen Funk‐
tionsbereiche informiert wird.

2.3.1.2 Integration der Logistik in eine objektorientierte Organisation


Im Gegensatz zu einer funktionalen Aufbauorganisation ist bei einem objektorien‐
tierten Organisationsaufbau die zweite Hierarchieebene nicht nach Funktions‐
bereichen, sondern nach Objekten gegliedert (vgl. Abbildung 2‐8). Diese Objekte kön‐
nen beispielsweise Divisionen, Sparten, Produkte, Märkte oder Absatzregionen sein.
Die jeweiligen funktionalen Bereiche (z. B. Einkauf, Produktion, Absatz) finden sich
erst auf der darunter liegenden Ebene. Gerade bei einem stark diversifizierten Pro‐
duktprogramm resultieren aus einer objektorientierten Aufbauorganisation ein gerin‐
gerer Koordinationsaufwand, eine Entlastung der Unternehmensführung sowie eine
höhere Flexibilität.
Im Modell 4 werden die logistischen Aufgaben jeweils den einzelnen Sparten zuge‐
ordnet, sodass einerseits eine sehr spartenspezifische Ausgestaltung der Logistik und
andererseits eine direkte Zurechnung der Logistikkosten zur jeweiligen Sparte ermög‐
licht werden. Als Nachteil erweisen sich jedoch die entstehenden Redundanzen durch
das Fehlen einer zentralen Koordinationsstelle, wodurch ein optimierter Material‐ und
Informationsfluss durch das gesamte Unternehmen kaum realisiert werden kann.

Im Modell 5 erfolgt die federführende Koordination sämtlicher logistischer Aufgaben


für alle Sparten durch eine Division. Somit lassen sich Redundanzen vermeiden, es
können aber auch nicht alle Spezialisierungsvorteile aus dem Modell 4 umgesetzt wer‐
den. Analog zu Modell 2 müssen mögliche Verantwortungsüberschneidungen ver‐
mieden werden.

53
Logistikkonzeption
2
Abbildung 2‐8 Logistik in einer objektorientierten Organisation82

Unternehmensleitung (Modell 4) Unternehmensleitung (Modell 5)

Division 1 Division 2 Division 3 Division 1 Division 2 Division 3

Logistik
Logistik
Logistik Logistik Koordination

Unternehmensleitung (Modell 6)

Division 1 Division 2 Division 3 Logistik

Werden sämtliche Logistikaktivitäten in einem Bereich zentralisiert (Modell 6), erfolgt


eine Bündelung und kontinuierliche Auslastung der in der Logistik eingesetzten Res‐
sourcen, sodass ein Gesamtoptimum für das Unternehmen möglich ist. Als nachteilig
zeigt sich jedoch, dass die spartenspezifischen Anforderungen oft nicht genügend
berücksichtigt werden. Des Weiteren ist diese Organisationsform bei stark getrennten
Sparten, wie beispielsweise bei sehr unterschiedlichen Produkten, kaum realisierbar.
Zur Umsetzung dieser Organisationsform sind Sparten notwendig, die nicht als reine
Profit‐Center arbeiten, da eine exakte Zurechnung der Logistikkosten zu den Sparten
kaum möglich ist.

2.3.1.3 Integration der Logistik in eine Matrix-Organisation


Bei der zweidimensionalen Matrix‐Organisation handelt es sich um eine Kombination
von funktions‐ und objektorientierter Aufbauorganisation, um die Vorteile beider
Organisationsformen zu nutzen. Die Logistik wird als eigenständiger Funktions‐
bereich integriert und ist für alle logistischen Aufgaben der Objekte verantwortlich
(Abbildung 2‐9). Die Querschnittsfunktion, Ganzheitlichkeit und die Flussorientierung
der Logistik lassen sich mit einer Matrix‐Organisation am besten umsetzen. Werden
die beiden Dimensionen jedoch gleichberechtigt konfiguriert, dann können die Kom‐
petenzen in der Praxis oftmals nicht konfliktfrei abgegrenzt werden. Die Funktionsbe‐
reiche sollten über disziplinarische Weisungsrechte verfügen und die Sparten sollten
mit sachlichen Weisungsrechten ausgestattet werden.

82 In Anlehnung an HADAMITZKY (1995, S. 74).

54
2.3
Organisation der Logistik

Abbildung 2‐9 Logistik in einer Matrix-Organisation83

Unternehmensleitung Funktionale Strukturierung


(Modell 7)
Objektorientierte Strukturierung

Einkauf Produktion Absatz Logistik

Division 1

Division 2

Division 3

Die Vorteile der Matrix‐Organisation sind in der großen Flexibilität bei der Anpassung
an sich verändernde Umweltbedingungen zu sehen. Probleme ergeben sich jedoch aus
der Unübersichtlichkeit der resultierenden Komplexität der zweidimensionalen Struk‐
tur. Aufgrund der Überschneidung von objekt‐ und funktionsbezogenen Kompeten‐
zen können Konflikte zwischen Produkt‐ und Funktionsmanagern entstehen. Somit
werden deshalb hohe Ansprüche an die Kompromissfähigkeit der Verantwortlichen
gestellt.

Eine Matrix‐Organisation eignet sich umso besser, je größer ein Unternehmen und je
heterogener seine Produktstruktur ist. Somit kommt diese Organisationsform bevor‐
zugt in Großunternehmen zur Anwendung.

2.3.2 Innenorganisation der Logistik


Mit der Innenstruktur der Logistik wird die Arbeitsteilung innerhalb der logistischen
Organisationssysteme bzgl. der Tiefe der hierarchischen Gliederung und der Breite
der Leistungsspannen festgelegt. Analog zu den Modellen der Integration der Logistik
in die Unternehmensorganisation kann auch die Innenstruktur der Logistik funktio‐
nal, objektorientiert oder in einer Matrixform organisiert werden (vgl. Abbildung
2‐10).

83 In Anlehnung an HADAMITZKY (1995, S. 74).

55
Logistikkonzeption
2
Abbildung 2‐10 Grundmodelle zur Innenorganisation der Logistik84

Funktionale Organisation Objektorientierte Organisation Matrix‐Organisation

Leitung Logistik Leitung Logistik Funktionale Dimension


Leitung
Logistik

F1K F2K … FnK F 1U … F n U O1 O2 O3 O4 O5 F1 F2 Fn

Objektdimension
O1
Kernprozesse (K) Unterstützungs‐ Objekte (O)
‐ Transport prozesse (U) ‐ Produkte/Produktgruppen
‐ Lagerung ‐ Logistik‐ ‐ Kunden/Kundengruppen O2
‐ Versand controlling ‐ Werke
‐ Entsorgung ‐ Logistik F & E ‐ Märkte/Marktsegmente
‐ Planung ‐ Personalent‐
‐ Disposition wicklung On
‐ Steuerung
‐ Auftragsabwicklung

‐ Verrichtungsorientierte Gliederung der ‐ Objektorientierte Gliederung der Logistik ‐ Kombination aus objektorientierter und
Logistik ‐ Organisation wird durch Objekteigenschaf‐ funktionaler Organisation
‐ Organisation wird von Art und Ablauf der ten bestimmt ‐ Ausgleich zwischen Funktions‐ und Objekt‐
Funktionen bestimmt ‐ Organisatorische Einheiten sind spezialisiert interessen durch duales Kompetenzsystem
‐ Organisatorische Einheiten sind spezialisiert auf das jeweilige Bezugsobjekt; sie nehmen
auf ihre Teilfunktionen; sie betreuen sämt‐ alle erforderlichen Logistikfunktionen wahr
liche Objekte ‐ Ausgleich zwischen Funktionsinteressen
‐ Ausgleich zwischen Funktionsinteressen findet innerhalb Objektbereich statt
durch Logistikleitung

Bei der funktionalen Logistikorganisation erfolgt die Arbeitsteilung nach dem Verrich‐
tungsprinzip, wobei eine Trennung in Kern‐ und Unterstützungsprozesse erfolgt85.
Die funktionale Logistikorganisation zielt auf verrichtungsgebundene Spezialisie‐
rungsvorteile ab, erfordert einen hohen Koordinationsaufwand und entspricht nur
bedingt den Gestaltungsprinzipien Ganzheitlichkeit, Kunden‐ und Flussorientierung.
Aufgabe der Logistikleitung ist es, die Interessenskonflikte zwischen den funktionalen
Teileinheiten zu lösen. Insbesondere die vielen Schnittstellen zwischen den verschie‐
denen funktionalen Einheiten erschweren eine Umsetzung der Prozessorientierung.

Die objektorientierte Logistikorganisation fasst sämtliche logistische Prozesse für die


jeweilige Objektkomponente in autonome Organisationseinheiten zusammen. Objekte
werden durch Produkte bzw. Produktgruppen, Kunden bzw. Kundengruppen, Pro‐
duktionswerke oder durch Märkte bzw. Marktsegmente gebildet, wobei die Logistik
auf eine vollständige Bearbeitung des jeweiligen Objekts spezialisiert ist. Funktionsin‐
teressen werden innerhalb eines Objektbereichs ausgeglichen. Im Gegensatz zur funk‐
tionalen Organisation lassen sich Schnittstellen oder prozessverzögernde Abstim‐
mungsprozesse vermeiden, wenn keine Leistungen zwischen den autonomen Organi‐

84 In Anlehnung an HADAMITZKY (1995, S. 77).


85 Vgl. Kapitel 2.2.1.

56
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

sationseinheiten ausgetauscht werden. Allerdings lassen sich keine Verbundeffekte


ausnutzen, sodass Ressourcen eventuell unausgelastet bleiben.

Mit der zweidimensionalen Matrix‐Organisation werden Objekte und Funktionen


verknüpft und Sachprobleme unter ganzheitlichen Gesichtspunkten gelöst. Somit
entspricht diese Organisationsform der Prozessorientierung der Logistik am besten.
Allerdings resultiert aus dieser Organisationsform ein hohes Maß an organisatorischer
Komplexität, sodass sich Konflikte und Instabilitäten ergeben können. Die Matrixor‐
ganisation ist auch nur dann umsetzbar, wenn sich die Gesamtheit der Tätigkeiten des
betrachteten Unternehmens nach verschiedenen Objekten unterteilen lässt.

2.4 Wertschöpfungsnetzwerke
Durch die Konzentration auf die Kernkompetenzen und die damit einhergehende
Reduktion der Fertigungstiefe erfolgt die Wertschöpfung in einem Netzwerk von
Organisationen, die in Richtung der Lieferanten sowie in Richtung der Kunden in den
verschiedenen Prozessen involviert sind, um für den Kunden einen Wert in Form von
Produkten und Dienstleistungen zu generieren. Somit wird die unternehmensinterne
Wertkette auf die unternehmensexterne Lieferanten‐ und Kundenkette bis hin zum
Endkunden oder sogar zur Entsorgungskette ausgeweitet. Wertschöpfungsnetzwerke
sind dadurch gekennzeichnet, dass formal unabhängige Unternehmen deutlich koope‐
rativer zusammenarbeiten, als es für rein marktlich koordinierte Austausch‐
beziehungen charakteristisch ist86. Für die Einbindung von Unternehmen in Wert‐
schöpfungsnetzwerke können die folgenden Ursachen bezogen auf die strategischen
Erfolgsfaktoren Qualität, Kosten, Zeit und Flexibilität angeführt werden87:

 Die vom Kunden geforderte Qualität für Prozesse oder Technologien liegt im
Unternehmen nicht ausreichend vor, sodass es zu Effektivitätsproblemen kommt.

 Im Unternehmen bestehen Effizienzprobleme, sodass aufgrund mangelnder wirt‐


schaftlicher Umsetzung von Prozessen oder Technologien die resultierenden Kos‐
ten zu hoch sind.

 Aus einer unzureichenden Berücksichtigung des Zeitfaktors mit seinen Ausprä‐


gungen Geschwindigkeit und Pünktlichkeit resultiert, dass bestimmte Prozesse
nicht ausreichend schnell umgesetzt werden können.

 Die Kapazitäten oder die Kompetenzen im Unternehmen können nicht rechtzeitig


auf Marktänderungen angepasst werden, sodass eine mangelnde Flexibilität in
Form einer mangelnden Reagibilität und Agilität vorliegt.

86 Vgl. SIEBERT (2010, S. 8).


87 Vgl. SCHÖNSLEBEN (2011, S. 12).

57
Logistikkonzeption
2
Darüber hinaus stellen Wertschöpfungsnetzwerke bei hohem Innovationsdruck und
Risikopotenzial eine geeignete Organisationsform dar. Auch die Zunahme der Arbeits‐
teilung, der Übergang zur Systembeschaffung, die Reduzierung von Kontroll‐ und
Koordinationskosten sowie die Bündelung von Ressourcen sind Rahmenfaktoren,
welche die Entstehung von Wertschöpfungsnetzwerken vorantreiben.
Bezogen auf die Kooperationsformen können die dyadische Ebene, die Supply‐Chain‐
Ebene und die Netzwerkebene unterschieden werden. Die dyadische Ebene, die auch
als zwischenbetriebliche Kooperation bezeichnet wird, umfasst nur die Beziehung von
zwei Partnerunternehmen, z. B. die Beziehung zwischen Lieferant und Hersteller oder
zwischen Hersteller und Händler. Somit können die beiden Partnerunternehmen fest‐
legen, wie in einer spezifischen Zulieferer‐Abnehmer‐Beziehung miteinander zusam‐
mengearbeitet wird und auf das Verhalten des Partners kann direkt reagiert werden.

Eine Supply Chain berücksichtigt mehrere bilaterale Beziehungen zwischen den Part‐
nerunternehmen. Während zu einer Basic Supply Chain drei Partner gehören, beste‐
hend aus dem Unternehmen, dem direkten Lieferanten sowie dem direkten Kunden,
umfasst die eigentliche Supply Chain alle Beteiligten vom Rohstofflieferanten bis zum
Konsumenten. Somit werden sämtliche Schritte von der Rohstoffgewinnung über die
Produktion bis hin zu den nachgelagerten After‐Sales‐Aktivitäten einbezogen.

Auf der Netzwerkebene werden mehrere Supply Chains, oder Bestandteile dieser,
durch eine vertikale, horizontale oder diagonale (bzw. laterale) Kooperation verbun‐
den. Bei horizontalen Kooperationen erfolgt die Zusammenarbeit von Unternehmen
aus unterschiedlichen Lieferketten auf gleicher Wertschöpfungsstufe. Beispielsweise
kooperiert ein Produzent aus Kapazitätsgründen mit einem anderen Produzenten,
oder ein Händler arbeitet mit einem anderen Händler zusammen, sodass sie Mengen‐
rabatte realisieren können. Bei horizontalen Kooperationen mit Wettbewerbern spricht
man auch von strategischen Allianzen. Im Rahmen einer strategischen Allianz könnten
z. B. Autohersteller gemeinsam Motoren entwickeln und fertigen, die dann in den
Autos der beteiligten Partner eingebaut werden, um die Entwicklungs‐ und Herstel‐
lungskosten für alle zu senken. Liegen horizontale Kooperationen mit Komplementa‐
toren vor, d. h. mit Partnern, welche die Leistungen des eigenen Unternehmens ergän‐
zen, dann spricht man auch von virtuellen Netzwerken. Im Gegensatz dazu kooperie‐
ren Unternehmen vertikal, wenn sie in unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen, meist
innerhalb der gleichen Lieferkette, agieren. Beispiele wären Kooperationen zwischen
einem Händler und seinen Lieferanten, oder zwischen einem Produzenten und seinen
Zulieferern. Aus einer Kombination von horizontaler und vertikaler Kooperation
ergibt sich eine diagonale bzw. laterale Kooperation. Eine diagonale Kooperation liegt
somit dann vor, wenn beide Unternehmen aus verschiedenen Branchen stammen und
trotzdem zusammenarbeiten. Beispielsweise könnte ein Autohersteller mit einem
Hersteller digitaler Karten zusammenarbeiten, um seine Fahrzeuge mit einem Naviga‐
tionsgerät auszustatten. Neben dem Merkmal Kooperation können Wertschöpfungs‐
netzwerke durch die Merkmale Wettbewerb, rechtliche Selbstständigkeit, Interdepen‐
denz, Polyzentriertheit, relative Stabilität sowie Flexibilität gekennzeichnet werden:

58
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

 Unter Kooperation wird die freiwillige, zweckorientierte Zusammenarbeit von


mehreren Unternehmen verstanden. Allerdings können zwischen den Partnern in
einem Wertschöpfungsnetzwerk sowohl kooperative als auch kompetitive Bezie‐
hungen bestehen88. Beispielsweise ist dies der Fall, wenn sich die Kooperation
nur auf einige Unternehmensbereiche erstreckt, die Unternehmen aber in anderen
Funktionsbereichen weiterhin im Wettbewerb stehen.

 Rechtliche Selbstständigkeit bedeutet, dass jedes Unternehmen im Wertschöpf‐


ungsnetzwerk die eigene Rechtspersönlichkeit behält89. Durch dieses Merkmal
werden Wertschöpfungsnetzwerke von Unternehmenszusammenschlüssen abge‐
grenzt.

 Die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Partner wird durch die Zusammenarbeit


in Wertschöpfungsnetzwerken teilweise eingeschränkt. Die Partner sind zwar
grundsätzlich frei in ihren Entscheidungen, allerdings entsteht für den Zeitraum
der Kooperation im Netzwerk eine gewisse gegenseitige wirtschaftliche Abhän‐
gigkeit, da sie auf die Leistungen der Partner angewiesen sind. Wertschöpfungs‐
netzwerke stehen somit in einem scheinbaren Widerspruch zwischen Autonomie
und gegenseitiger Abhängigkeit. Aufgrund der relativen Autonomie der Netz‐
werkpartner wird ein Wertschöpfungsnetzwerk als ein heterarchisches oder poly‐
zentrisches System charakterisiert, das aufgrund seiner Komplexität über viele
Handlungs‐ und Entscheidungszentren verfügt und nicht ausschließlich zentral
steuerbar ist90.

 Ein Wertschöpfungsnetzwerk ist eine Organisationsform, die sowohl durch Stabi‐


lität als auch durch Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an wandelnde Umwelt‐
anforderungen gekennzeichnet ist. Die Stabilität ist relativ zu sehen, da sie eine
gewisse Dynamik beinhaltet. Ein Wertschöpfungsnetzwerk kann aber auch in dy‐
namischen Umwelten eine relativ große Stabilität aufweisen, selbst wenn es in ei‐
nigen Teilbereichen aufgrund von Anpassungsvorgängen nicht als stabil er‐
scheint91.

Wertschöpfungsnetzwerke zielen auf das Realisieren von Wettbewerbsvorteilen ab, die


nur unternehmensübergreifend, also nicht von einem Unternehmen allein, realisiert
werden können. Indem in einem Wertschöpfungsnetzwerk nicht nur die eigenen Inte‐
ressen, sondern auch die Interessen der Partner berücksichtigt werden, können bisher
ungenutzte Potenziale gehoben und Synergieeffekte nutzbar gemacht werden. Neben
Kosten‐, Zeit‐ und Qualitätsvorteilen kann durch die unternehmensübergreifende
Zusammenarbeit auch eine Steigerung der Flexibilität erreicht werden. Neben den
erzielbaren Vorteilen ist die Zusammenarbeit in Unternehmensnetzwerken auch mit
einigen betriebswirtschaftlichen Risiken verbunden. SYDOW betont in diesem Zusam‐

88 Vgl. SYDOW (1992, S. 94).


89 Vgl. SYDOW (1992, S. 90).
90 Vgl. SYDOW (1992, S. 80).
91 Vgl. SYDOW (1992, S. 96).

59
Logistikkonzeption
2
menhang, dass nur eine partielle Systembeherrschung möglich ist, da die Gefahr eines
Kompetenzverlusts besteht und gegenseitige Abhängigkeiten geschaffen werden. Des
Weiteren führt er die erschwerte strategische Steuerung, den Verlust strategischer
Autonomie, eine Steigerung der Koordinationskosten und den unkontrollierten Ab‐
fluss von Wissen als mögliche Risiken an92.

Unternehmen, die eine führende Marktstellung einnehmen, haben erkannt, dass der
Wettbewerb Wertschöpfungsnetzwerk gegen Wertschöpfungsnetzwerk lautet und
nicht Unternehmen gegen Unternehmen. Indirekte Unternehmensaktivitäten wie die
Logistik werden vollständig in diese Wertschöpfungsnetzwerke einbezogen und als
gleichberechtigte Wertaktivitäten angesehen, die einen originären Beitrag zur Steige‐
rung des Kundennutzens und zur Senkung der Kosten leisten können. Die Aufgaben
der Logistik entlang dieser integrierten Wertschöpfungsnetzwerke bestehen in der
Überbrückung von räumlichen und zeitlichen Disparitäten, der Überwindung von
Hierarchie‐ und Funktionsgrenzen sowie der Koordination von inner‐ und zwischen‐
betrieblichen Prozessen.

2.4.1 Typologie von Wertschöpfungsnetzwerken


Eine einheitliche Systematisierung von Wertschöpfungsnetzwerken ist in der Literatur
nicht zu finden. Im Folgenden wird der Typologie interorganisationaler Wertschöp‐
fungsnetzwerke nach Sydow gefolgt, der die beiden Dimensionen Steuerungsform
und zeitliche Stabilität unterscheidet93.
Bezüglich der Steuerungsform kann zwischen hierarchischen und heterarchischen
Wertschöpfungsnetzwerken unterschieden werden. Netzwerke mit hierarchischer
Koordination werden durch ein dominantes, fokales Unternehmen geführt. Die ande‐
ren Partner sind meist von diesem fokalen Unternehmen abhängig und werden durch
Weisungen, Programme und Zielvorgaben gesteuert. Da ein Wertschöpfungsnetzwerk
ein polyzentrisches System ist, das nicht ausschließlich zentral steuerbar ist, kommt in
der Praxis zumeist eine Kombination aus zentral und lokal durchgeführten Plänen vor.
Heterarchische bzw. polyzentrische Wertschöpfungsnetzwerke sind dagegen durch
ein gleichberechtigtes, partnerschaftliches Verhältnis der beteiligten Unternehmen
gekennzeichnet. Da kein fokales Unternehmen existiert, kommen flexible Koordina‐
tionsinstrumente wie gegenseitige Abstimmung, Verrechnungspreise oder Auktionen
zum Einsatz.

Die zweite Dimension, zeitliche Stabilität, unterscheidet zwischen stabilen und dyna‐
mischen Wertschöpfungsnetzwerken. Stabile Netzwerke bilden sich vor allem in gut
prognostizierbaren Märkten meist um ein fokales Unternehmen heraus und sind lang‐
fristig angelegt. Dynamische Netzwerke entstehen dagegen in Märkten mit hohen
Veränderungsgeschwindigkeiten und Diskontinuitäten. Da sie zumeist auf ein Projekt

92 Vgl. SYDOW (2010, S. 387).


93 Vgl. SYDOW (2010, S. 381).

60
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

beschränkt sind, bilden sich im Idealfall aus einem Pool potenzieller Partner immer
wieder auftragsbezogen zeitlich begrenzte Wertschöpfungsnetzwerke heraus.

Anhand der beiden Dimensionen Steuerung und zeitliche Stabilität, die als kontinuier‐
liche und nicht als dichotome Größen zu verstehen sind, lassen sich folgende vier
Wertschöpfungsnetzwerktypen identifizieren: strategische, regionale, projektbezogene
sowie virtuelle Wertschöpfungsnetzwerke (vgl. Abbildung 2‐11). In diese Typologie
lassen sich im Hinblick auf das Netzwerkmanagement wichtige Typenklassen einord‐
nen.

Abbildung 2‐11 Typologie interorganisationaler Wertschöpfungsnetzwerke94

hierarchisch

strategische
Projekt‐
Netzwerke
netzwerke

virtuelle
Netzwerke

regionale
Netzwerke

heterarchisch

stabil dynamisch

Strategische Wertschöpfungsnetzwerke sind hierarchisch organisiert, relativ stabil und


werden von einem oder mehreren fokalen Unternehmen strategisch geführt. Die stra‐
tegische Führung zielt auf eine proaktive und auf die Erschließung von Wettbewerbs‐
vorteilen gerichtete Organisationsform ab95. Strategische Wertschöpfungsnetzwerke
liegen vor, wenn die Abarbeitung mehrerer Produktionsaufträge mit derselben Part‐
nerkonstellation durchgeführt wird. Die Netzwerkführerschaft liegt meist bei den

94 In Anlehnung an SYDOW (2010, S. 382).


95 Vgl. SYDOW (1992, S. 81).

61
Logistikkonzeption
2
endverbrauchernahen Großunternehmen, also oft beim Endprodukthersteller oder
Handelsunternehmen, die den zu bearbeitenden Markt, die notwendigen Strategien
und Technologien sowie die Ausgestaltung der Netzwerkorganisation bestimmen.
Weiterhin sind in diesen strategischen Wertschöpfungsnetzwerken explizit formulierte
Ziele sowie formale Strukturen mit formalen Rollenzuweisungen zu finden. Die Koor‐
dination erfolgt durch gemeinsame Planungen und Programme und ist vertraglich
geregelt. Strategische Wertschöpfungsnetzwerke sind in gut prognostizierbaren, ver‐
gleichsweise stabilen Märkten zu finden, da sich somit relativ stabile Beziehungen mit
gut strukturierten Aufgaben und einer hohen Wiederholungshäufigkeit der Transakti‐
onen entwickeln können. Als Beispiele für strategische Wertschöpfungsnetzwerke
können die Automobilindustrie, die Biotechnologie und die Telekommunikation ge‐
nannt werden. Vorteile strategischer Wertschöpfungsnetzwerke sind Effizienzsteige‐
rungen und langfristige Prozessverbesserungen sowie die Entwicklung einer gemein‐
samen Kooperationskultur. Als nachteilig erweist sich die Einschränkung der Flexibili‐
tät, die sich aus der Stabilität und Langfristigkeit der Netzwerkbeziehung ergibt96.

Die heterarchisch organisierten regionalen Wertschöpfungsnetzwerke sind sowohl


durch Stabilität als auch Dynamik gekennzeichnet. Sie bestehen meist aus kleineren
und mittleren Unternehmen (KMU), die in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander
angesiedelt sind und als gleichberechtigte Partner agieren. Regionale Netzwerke sind
polyzentrisch und haben keine strategische Führung, die Zusammenarbeit basiert auf
gemeinsam vereinbarten informellen Regeln. Es besteht eine stabile Mitgliedschaft im
Netzwerkpool, aus dem heraus aufgabenspezifische Kooperationen erfolgen. In der
Praxis sind regionale Wertschöpfungsnetzwerke oftmals in strategisch geführte, inter‐
nationale Netzwerke eingebettet97. Als Beispiele regionaler Wertschöpfungsnetzwerke
lassen sich in Norditalien die Textilindustrie, im Silicon Valley die Mikroelektronik
oder in Baden‐Württemberg die Automobilindustrie nennen. Ein großer Vorteil regio‐
naler Netzwerke sind schlanke und flexible Strukturen. Durch die räumliche Nähe der
Unternehmen ermöglichen regionale Netzwerk einen schnellen und verlustfreien
Informationsaustausch und es lassen sich Bündelungseffekte beispielsweise im Trans‐
portbereich realisieren. Weiterhin ermöglicht die regionale Nähe eine gemeinsame
Know‐how‐Nutzung sowie die frühzeitige und gemeinsame Lösung auftretender
Probleme. Als Nachteil regionaler Wertschöpfungsnetzwerke können die teilweise
sehr hohen und spezifischen Investitionen genannt werden.

Projektnetzwerke sind zeitlich befristete Zusammenschlüsse von rechtlich und wirt‐


schaftlich selbstständigen Unternehmen, die hierarchisch koordiniert und in dynami‐
schen Märkten zu finden sind. Projektbezogene Wertschöpfungsnetzwerke werden
meist von einem fokalen Unternehmen geführt, können aber auch heterarchisch orga‐
nisiert sein. Für jedes Projekt werden vertragliche Vereinbarungen getroffen, die sich
jeweils nur auf das durchzuführende Projekt beschränken98. Obwohl Projektnetzwer‐

96 Vgl. PFOHL/BUSE (1997).


97 Vgl. SYDOW (2010, S. 384).
98 Vgl. LETMATHE (2001, S. 552).

62
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

ke zeitlich befristet sind und die Dynamik unter den Partnern sehr hoch ist, reichen die
Beziehungen zwischen den Partnern oft über ein einziges Projekt hinaus, um bei neu‐
en Projekten auf die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit ehemaligen Partnern
zurückgreifen zu können. Projektnetzwerke sind beispielsweise in der Baubranche
sowie in der Film‐ und Fernsehindustrie zu finden. Als vorteilhaft werden die gerin‐
gen spezifischen Investitionen gesehen, da vorübergehend auf die Ressourcen und
Kapazitäten der Partner zurückgegriffen werden kann. Die Grenzen projektbezogener
Wertschöpfungsnetzwerke bestehen in einer mangelnden Win‐Win‐Situation, d. h. die
Vorteile kommen nur einseitig einzelnen Partnern zugute. Außerdem besteht in Pro‐
jektnetzwerken die Gefahr, dass Partner das hinzugewonnene Know‐how einsetzen,
um mit ihren ehemaligen Kooperationspartnern zu konkurrieren99. Virtuelle Wert‐
schöpfungsnetzwerke als besondere Form von Projektnetzwerken sind zeitlich befris‐
tete Zusammenschlüsse rechtlich und wirtschaftlich selbstständiger Unternehmen, die
gegenüber Dritten als eine Einheit auftreten. Virtuelle Netzwerke sind durch strategi‐
sche Flexibilitätsvorteile gekennzeichnet, die durch die individuellen Kernkompeten‐
zen der Partner entstehen. Die Koordination erfolgt hierbei durch den Einsatz von
unternehmensübergreifenden Informations‐ und Kommunikationssystemen, wobei
dafür oftmals spezifische Investitionen notwendig sind100. Eine strategische Führung
erfolgt durch einen Broker oder auch ein fokales Unternehmen, wobei meistens dasje‐
nige Unternehmen, das dem Kunden am nächsten steht, die Führung dieses Netz‐
werktyps übernimmt. In virtuellen Wertschöpfungsnetzwerken wird auf eine Institu‐
tionalisierung der Kooperation weitgehend verzichtet, sodass die Zusammenarbeit auf
gegenseitigem Vertrauen und losen Übereinkünften beruht, die jedoch hohe Anforde‐
rungen an die Koordination stellt. Beispiele für virtuelle Netzwerke stellen die sich
schnell entwickelnden High‐Tech‐Industrien wie die Mikroelektronik oder Biotechno‐
logie dar, aber auch in Low‐Tech‐Industrien mit sehr kurzen Produktlebenszyklen wie
der Bekleidungs‐ oder Spielwarenindustrie ist dieser Netzwerktyp zu finden. Als
Nachteile virtueller Netzwerke können rechtliche Probleme bei Urheber‐ oder Eigen‐
tumsrechten, sowie ein zu kleines Geschäftsvolumen genannt werden, das die spezifi‐
schen Investitionen nicht rechtfertigt.

Für die Gestaltung einer Kooperation im Wertschöpfungsnetzwerk kann der Koopera‐


tions‐Lebenszyklus genutzt werden, der sich – aufbauend auf eine Eigen‐ oder Fremd‐
initiative – in die Phasen Anbahnung, Aufbau, Betrieb und Auflösung unterschei‐
det101. Aufgabe der Anbahnung ist die Suche und Auswahl geeigneter Kooperations‐
partner, um Chancen und Möglichkeiten für eine etwaige Kooperation zu evaluieren.
Ausgehend von wesentlichen Defiziten im Unternehmen erfolgt eine schwachstellen‐
bezogene Zielformulierung, wobei für eine erfolgreiche Kooperation die gemeinsame
Festlegung von Kooperationszielen wichtig ist. Während der Aufbauphase erfolgt die
Festlegung der Organisationsform, des Kooperationsmodells, der Kooperationsstrate‐
gie und der Kooperationskonditionen. Dazu gehören auch Investitionen in notwendi‐

99 Vgl. LETMATHE (2001, S. 553f).


100 Vgl. SYDOW (2010, S. 385).
101 Vgl. KUHN/HELLINGRATH (2002, S. 59ff).

63
Logistikkonzeption
2
ge Informations‐ und Kommunikationstechnologie, in produktionstechnologische und
logistische Ressourcen, eine Umstrukturierung der Aufbau‐ und Ablauforganisation
sowie die Aufgaben‐ und Rollenverteilung entsprechend der Kompetenzen der Part‐
ner. Die Kooperationsvereinbarung kann mündlich per Handschlag, mit einer Ab‐
sichtserklärung (letter of intent) oder mit einem detaillierten schriftlichen Kooperati‐
onsvertrag geregelt werden. In der Betriebsphase erfolgt die Verwendung von Steue‐
rungs‐ und Kontrollinstrumenten zur koordinierten Zusammenarbeit. Wichtig ist
insbesondere die Generierung und Auswertung von Kennzahlen zur Bewertung der
gemeinsamen Kooperationsziele, um bei Abweichungen geeignete Maßnahmen zu
treffen. Die letzte Phase umfasst die Auflösung der Zusammenarbeit, bedingt durch
ökonomische bzw. psychologische Gründe oder durch die Erfüllung des Zwecks der
Kooperation. Wichtig bei der Beendigung einer Kooperation sind die Verteilung ge‐
meinsam getätigter Investitionen, eine Reintegration bisher gemeinschaftlich durchge‐
führter Aufgaben und die Vermeidung des Missbrauchs von Informationen sowie
gemeinsam aufgebauten Know‐hows.

2.4.2 Supply Chain Management


Die Supply Chain stellt eine Kooperation vertikal alliierter Unternehmen dar, die
durch Material‐, Güter‐, Informations‐ und Geldflüsse miteinander verbunden und an
den Bedürfnissen der Endverbraucher ausgerichtet sind. In der Abbildung 2‐12 ist ein
Wertschöpfungsnetzwerk gegeben, in dem beispielhaft eine Supply Chain hervor‐
gehoben ist. Informationsflüsse gehen den Material‐ und Güterflüssen voraus, folgen
ihnen oder begleiten sie. Somit fließt der Informationsfluss in beide Richtungen und ist
für den Austausch von Informationen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zwi‐
schen den kooperierenden Unternehmen verantwortlich. Ziel ist es, eine Vielzahl ein‐
zelner, unabhängiger Informationsflüsse möglichst redundanzfrei zu diesem abge‐
stimmten Informationsfluss zu integrieren, um eine optimale Planung, Steuerung und
Koordination der Prozesse zu ermöglichen. Materialien und Güter sind die physischen
Objekte innerhalb der Supply Chain. Sie verlaufen in der Regel von den Rohstoffliefe‐
ranten über weitere Partner inkl. Dienstleister und das eigene Unternehmen bis hin
zum Endkunden. Die Objektflüsse sind so zu gestalten, dass eine Abstimmung von
Angebot und Nachfrage zwischen den an der Supply Chain beteiligten Partnerunter‐
nehmen und den eingesetzten Ressourcen derart erfolgt, dass diese Objektströme u. a.
hinsichtlich ihrer Durchlaufzeiten und der in ihnen gebundenen Kapitalwerte optimal
gesteuert werden. Über den Geldfluss, der hauptsächlich von rechts nach links ver‐
läuft (eine Ausnahme stellen Forderungen dar, wie z.B. eine nachträgliche Abrechnung
von Boni) sind die Besitzverhältnisse gesteuert, indem Kreditbedingungen und Zah‐
lungspläne geregelt werden.

64
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

Abbildung 2‐12 Modell einer Supply Chain im Wertschöpfungsnetzwerk

Lieferantennetzwerk Distributionsnetzwerk

Produktionsunternehmen
Rohstoffgewinnung

Be schaff- Produk- Distri-

Endkunden
ung tion bution

Entsorgung

Tier n Tier 2 Tier 1


Informationsfluss

Mate rial-/Güterfluss

Ge ldfluss

Der Begriff Supply Chain Management (SCM) wurde in den USA im Jahr 1982 von
Oliver/Webber eingeführt102 und betont den Wandel der klassischen Logistik zu einer
strategischen Managementaufgabe. Es gibt eine Vielzahl betriebswirtschaftlicher Teil‐
disziplinen, wie z. B. Logistik, Marketing, Operations Research, Organisation und
Unternehmensführung, die Einfluss auf die Entwicklung des Supply Chain Manage‐
ments genommen haben103. In der Literatur existiert kein einheitliches Begriffsver‐
ständnis zum Supply Chain Management. Trotz der unterschiedlichen Definitionen
und Ansätze zum Supply Chain Management sind jedoch die folgenden Kernelemente
zu erkennen104:

 Supply Chain Management ist geschäftsprozessorientiert und zielt auf die opti‐
male Gestaltung der unternehmensübergreifenden Geschäftsprozesse ab, sodass
die Koordination sowie Integration aller Managementaktivitäten ein wesentliches
Merkmal ist.

 Es liegt eine kooperative Zusammenarbeit der Partner vor, die in einem Netzwerk
miteinander verbunden sind, um die Effizienz und Effektivität zu steigern.

 Es sind alle Wertschöpfungsstufen von der Rohstoffgewinnung bis zum Endver‐


braucher enthalten.

102 Vgl. OLIVER/WEBBER (1982); COOPER ET AL. (1997, S. 1).


103 Vgl. STADLER (2010, S. 23).
104 Vgl. KOTZAB (2000, S. 27); EISENBARTH (2003, S. 35f).

65
Logistikkonzeption
2
 Den Ausgangspunkt der Steuerung bildet der Endkundenbedarf.

 Das Supply Chain Management schließt alle Material‐, Informations‐ und Geld‐
flüsse ein.

Aufgrund dieser Kernelemente wird Supply Chain Management folgendermaßen


definiert:
Supply Chain Management beinhaltet die kooperative Zusammenarbeit innerhalb
eines Netzwerks vertikal verbundener Unternehmen, welche am Bedarf des End‐
kunden ausgerichtet ist und alle Wertschöpfungsprozesse von der Rohstoffgewinnung
bis zum Endverbraucher inklusive der dazugehörigen unternehmensübergreifenden
Material‐, Waren‐, Informations‐ und Geldflüsse so plant, steuert und koordiniert,
dass eine ganzheitliche Optimierung der Wirtschaftlichkeit des Wertschöpfungsnetz‐
werks erfolgt.

Unter Berücksichtigung der beiden Kernelemente „Netzwerk“ und „Endkundenbe‐


darf“ erscheint der Begriff Supply Chain Management nicht richtig gewählt zu sein.
Da der Endkundenbedarf im Vordergrund steht, sollte nicht die Versorgungsseite
(supply) sondern die Nachfrageseite (demand) zum Ausdruck kommen. Des Weiteren
sind die Unternehmen Partner in einem Netzwerk (network) und nicht in einer Kette
(chain). Aus den genannten Gründen wäre somit der Begriff „Demand Network Ma‐
nagement“ zielführender. In der Literatur und Praxis hat sich jedoch der Begriff Supp‐
ly Chain Management durchgesetzt.

Supply Chain Management fordert durch seinen Fokus auf den Endkunden von den
beteiligten Partnern ein Ausrichten der eigenen internen Ziele an den Zielen der Supp‐
ly Chain, eine Integration bestehender Geschäftsprozesse mit denen der Geschäfts‐
partner und den Übergang von konfrontativen zu kooperativen Beziehungen. Für die
normative Ebene, die vom Topmanagement zu prägen ist, gilt es gemeinsame kongru‐
ente Philosophien, Ziele, Werte, Normen und Maßnahmen als Basis für längerfristige
kooperative Beziehungen zu entwickeln. Zur Umsetzung des Supply Chain Manage‐
ments muss, basierend auf dessen Zielen, eine explizite Strategie entworfen werden,
die ohne eine Unterstützung der Unternehmensführung und der Bereichsleitungen
jedoch nicht umsetzbar ist. Diese Strategie muss direkt in die Unternehmensstrategie
eingehen. Aus den Zielen des Supply Chain Managements können für die einzelnen
Teilprozesse und Bereiche jeweils spezifische Teilziele definiert werden.

2.4.2.1 Aufgaben und Ziele des Supply Chain Managements


Die zentrale Aufgabe des Supply Chain Managements ist die kooperative Planung,
Steuerung und Koordination aller Prozesse und Beziehungen innerhalb eines Wert‐
schöpfungsnetzwerks. Dazu gehören sowohl strategische, taktische und operative
Aufgaben105.

105 Vgl. BUSCH/DANGELMAIER (2004, S. 7).

66
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

Auf der strategischen Ebene nimmt das Supply Chain Management die Aufgabe der
Gestaltung der logistischen Netzwerkstruktur wahr. Dazu gehören unter anderem die
Auswahl der Lieferanten und logistischen Dienstleister, die Standortwahl für Produk‐
tions‐ und Lagerstandorte sowie die Gestaltung der Distributionsstruktur. Die Nach‐
frage‐ und Lieferkettenplanung sind Aufgaben der taktischen Ebene. Dabei steht die
Abstimmung der Material‐ und Warenflüsse auf den Endkundenbedarf und eine wirt‐
schaftliche Nutzung der Ressourcen im Vordergrund. Innerhalb der operativen Ebene
obliegt dem Supply Chain Management die inhaltliche, mengenmäßige und zeitliche
Abstimmung der Beschaffungs‐, Produktions‐ und Distributionsmengen sowie die
Überwachung der Prozessdurchführung.

Das übergeordnete Ziel des Supply Chain Managements besteht in der ganzheitlichen
Optimierung des Wertschöpfungsnetzwerks. Darunter fallen insbesondere die Ver‐
besserung der Kundenorientierung (Erhöhung des Serviceniveaus der Endverbrau‐
cher), eine durchgängige Kostensenkung über alle Stufen des Wertschöpfungs‐
prozesses sowie die Flexibilitätssteigerung durch Erhöhung der Anpassungs‐ und
Entwicklungsflexibilität der Supply Chain. Im Einzelnen umfassen diese Ziele die
Optimierung der Produktion synchron zum Bedarf, die Flexibilisierung der Auftrags‐
einplanung und Fertigung, die Minimierung der Bestände, die Verkürzung der Liefer‐
zeiten sowie die Realisierung von Skalen‐ und Verbundeffekten entlang der Supply
Chain. Weitere Ziele sind eine höhere Effizienz und Effektivität durch eine unterneh‐
mensübergreifende Steuerung, die Schaffung von Vertrauen durch die gemeinsame
Entwicklung von Zielen, Strategien und Kulturen sowie eine Erhöhung der Transpa‐
renz durch den Abbau von Informationsasymmetrien.

Zwischen den Zielen des Supply Chain Managements treten allerdings inner‐ und
überbetriebliche Zielkonflikte auf, sodass eine genaue Abwägung der Ziele erfolgen
muss. Innerbetriebliche konträre Ziele sind z. B. eine hohe Termintreue und niedrige
Lagerbestände. Überbetriebliche Zielkonflikte entstehen, wenn zugunsten eines Ge‐
samtoptimums im Wertschöpfungsnetzwerk lokale Optima bei den einzelnen Partnern
aufgegeben werden müssen. Bei der Realisierung des Gesamtoptimums im Wert‐
schöpfungsnetzwerk kann es durchaus passieren, dass ein oder mehrere Partner
schlechter gestellt werden als bei der Umsetzung der individuellen lokalen Optima. In
diesen Fällen sind Kompensationsleistungen notwendig, damit für alle Partner eine
Win‐Win‐Situation und somit für keinen der Partner ein Nachteil aus der kooperativen
Zusammenarbeit entsteht.

2.4.2.2 Integrationsphasen des Supply Chain Managements


Bei der Umsetzung des Supply Chain Managements lassen sich die vier Entwicklungs‐
phasen Optimierung, Integration, Collaboration und Synchronisation unterschei‐
den106. Diese vier Phasen, die von jedem sich im Supply Chain Management weiter‐
entwickelnden Unternehmen durchlaufen werden, unterscheiden sich durch den je‐

106 Vgl. BAUMGARTEN (2004, S. 54); BAUMGARTEN ET AL. (2004, S. 64ff).

67
Logistikkonzeption
2
weiligen Grad der Integration der am Wertschöpfungsprozess beteiligten Partner (vgl.
Abbildung 2‐13).

Abbildung 2‐13 Integrationsphasen des Supply Chain Managements107

Akteure

Synchronisation:
Gesamtes Konstrukt eines netzwerkübergreifenden Gesamtoptimums durch neutrale
Netzwerk Steuerung und gemeinsame Datenbasis

Netzwerk‐ Collaboration:
ausschnitte Aktive und konstruktive Zusammenarbeit mit
vereinbarten Prozessen und Regeln

Mit Kunden, Integration:


Lieferanten, Dienst‐ Elektronischer Informationsaustausch mit
leister direkten Partnern

Unternehmen Optimization:
werksübergreifend Interne Supply Chain
Qualität
Simultane Planung Austausch von gemeinsame neutrale Steuerung
Nachrichten Prozesse

Die erste Entwicklungsphase fokussiert die internen Abläufe eines Unternehmens.


Einzelne Funktionen innerhalb von oder zwischen Funktionseinheiten eines Unter‐
nehmens bzw. verschiedenen Unternehmensstandorten werden optimiert. Ziel ist eine
simultane Planung des Bedarfs und der Kapazitäten innerhalb eines Unternehmens.
Der Kundenauftrag stellt eine Prozesskette dar, die alle betroffenen funktionalen Be‐
reiche im Unternehmen verbindet. Dazu werden Daten ausgetauscht und Abläufe
automatisiert. Vorgelagerte und nachfolgende Prozesse werden jedoch nicht in die
Betrachtungen einbezogen.

In der zweiten Phase werden die unmittelbar angrenzenden Partner, d. h. die Lieferan‐
ten, Dienstleister und Kunden des Unternehmens, in die Supply Chain integriert. Der
Schwerpunkt der Integration liegt meist auf einer reinen Datenintegration, also einem
Austausch von Informationen. Auf technischer Ebene wird der Informationsaustausch
durch moderne Informations‐ und Kommunikationssysteme unterstützt, sodass die
Verknüpfung der jeweiligen Endprozesse der unternehmensinternen Prozessketten
über einen durchgängigen Kommunikationskanal (z. B. EDI) erfolgt. Mit zunehmen‐
der Kooperationsdauer nimmt auch das Vertrauen zwischen den Partnern zu. Als
Versorgungsstrategien werden beispielsweise Just‐in‐Time oder Konsignationslager
verwendet.

Die dritte Entwicklungsphase des Supply Chain Managements beinhaltet die gemein‐
same Gestaltung, Steuerung und Überwachung von Prozessen in Netzwerk‐
ausschnitten, sodass sich die kooperative Zusammenarbeit nun über mehrere Partner
der Supply Chain hinweg erstreckt. Mittels eines besseren und intensiveren Informati‐

107 In Anlehnung an BAUMGARTEN ET AL. (2004, S. 64).

68
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

onsaustausches sowie einer eng aufeinander abgestimmten Planung, Steuerung und


Problembewältigung kann ein Netzwerkausschnitt optimiert werden.

Die vierte und letzte Entwicklungsphase ist die theoretisch höchste Evolutionsstufe
des Supply Chain Managements. Sie beinhaltet eine Synchronisation aller Prozesse
über das gesamte Netzwerk hinweg, sodass auf das Erreichen eines netzwerk‐
übergreifenden Gesamtoptimums abgezielt wird. Um eine vollständige Synchronisati‐
on zu erreichen, müssten die beteiligten Partner alle Informationen vollständig offen
legen und für die Steuerung des gesamten Netzwerks wäre eine neutrale Instanz er‐
forderlich. Dafür wäre es notwendig, dass die einzelnen Partner ihre Steuerungsauto‐
nomie weitestgehend aufgeben und die zentral vorgegebenen Pläne umsetzen. Ein
weiteres Problem der Supply Chain Synchronisation besteht in der Überlagerung
einzelner Supply Chains in verschiedenen Wertschöpfungsnetzwerken, da somit die
einzelnen Optimierungsbestrebungen miteinander in Konflikt geraten können. Da
diese ganzheitliche Steuerung für die heute in der Praxis weit verzweigten, globalen
Supply Chains als unrealistisch erscheint, ist diese vierte Entwicklungsphase lediglich
als Vision zu betrachten108. Die aufgezeigten Probleme verdeutlichen, dass eine er‐
reichbare Stufe der Supply Chain Integration die Optimierung von Netzwerkaus‐
schnitten und somit die dritte Entwicklungsphase darstellt.

2.4.2.3 Probleme bei der Umsetzung des Supply Chain Managements


Als Probleme bei der Umsetzung des Supply Chain Managements können die Behar‐
rungstendenz bestehender Organisationen, Macht und Opportunismus sowie die
zugrundeliegende Netzwerkkomplexität identifiziert werden.

Wird Supply Chain Management in die Unternehmensstrategie integriert, so ergeben


sich in der Folge Umgestaltungen der Unternehmensorganisation. Supply Chain Ma‐
nagement erfordert den Aufbau neuer Fähigkeiten und verwendet neue Ansätze ge‐
genüber traditionellen Rollenbildern, Verantwortlichkeiten und Berichtsbeziehungen
in einer Organisation109. Die bereits aufgezeigte Unterordnung der Ziele der einzelnen
Bereiche unter die Ziele der Supply Chain bedeutet tendenziell eine Abgabe von Ent‐
scheidungskompetenz der einzelnen Abteilungen und damit eine Veränderung der
Unternehmenskultur. Doch gerade die bestehende Unternehmenskultur kann eine
Umsetzung des Supply Chain Managements behindern. Somit kommt dem Manage‐
ment von Veränderungen (Change Management) im Supply Chain Management eine
besondere Bedeutung zu. Die verschiedenen Stakeholder, unter ihnen das Manage‐
ment, die Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten, müssen von den Vorteilen der ange‐
strebten Veränderung überzeugt werden, wobei die Unterstützung der Unterneh‐
mensführung eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung dafür
darstellt.

108 Vgl. CORSTEN/GABRIEL (2004, S. 276).


109 Vgl. JOHNSON/LEENDERS (2003).

69
Logistikkonzeption
2
Einen wichtigen Aspekt im Supply Chain Management stellt die gemeinsame Ab‐
stimmung mittels Planung, Steuerung und Kontrolle durch einen intensiven Informa‐
tionsaustausch dar. Sollen in einer Supply Chain vollständige, durch Verträge festge‐
legte formale Abstimmungsmechanismen bestehen, so muss die Komplexität gering
sein und die Handelnden müssen über vollständige Rationalität verfügen. Diese Vo‐
raussetzungen sind in einer realen Supply Chain jedoch nicht gegeben. Neben den
vertraglich geregelten formalen Abstimmungsmechanismen in einer Supply Chain
existieren mit Macht und Vertrauen auch informelle Mechanismen110. Macht mit den
Formen Belohnung, Expertentum oder Bekanntheitsgrad bedeutet die Fähigkeit, das
Verhalten des Partners direkt beeinflussen zu können. Die Ausübung von Macht kann
durch ein dominantes Mitglied der Supply Chain erfolgen. Es besteht jedoch das Risi‐
ko der Benachteiligung der schwächeren Partner, auch wenn für die gesamte Supply
Chain dennoch ein Optimum erzielt wird. Für eine erfolgreiche Supply Chain sollte
jedoch nicht Macht, sondern gegenseitiges, auf der normativen Ebene festgelegtes
Vertrauen die Basis darstellen. In vertrauensvollen Beziehungen können beispielswei‐
se eine Komplexitätsreduktion, die Übernahme von Verantwortung, eine verbesserte
Kommunikation und Kooperation sowie eine Kostensenkung leichter realisiert wer‐
den. Die größte Gefahr für eine auf Vertrauen basierende Beziehung geht vom Poten‐
zial an Opportunismus aus. Opportunismus kann jedoch vermieden werden, indem
die Partner in einer Supply Chain sorgfältig ausgewählt werden, um eine Win‐Win‐
Situation zu erreichen.

Aufgrund der hohen Komplexität von Wertschöpfungsnetzwerken können nicht alle


Unternehmen des Netzwerks, vom Rohstofflieferanten bis zum Endkunden, in die
Kooperation einbezogen werden. Das Management einer vollständigen Supply Chain
ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, denn sich wandelnde Kundenbedürfnisse führen
zu einer hohen Intransparenz und Komplexität. Da ein Unternehmen typischerweise
Mitglied mehrerer Wertschöpfungsketten ist, können zahlreiche Koordinationskon‐
flikte entstehen, die eine intensive Zusammenarbeit nur mit wenigen sorgsam ausge‐
wählten Partnern sinnvoll erscheinen lässt. Eine Integration von Partnern erscheint nur
dann lohnenswert, wenn sich die zu Grunde liegende Beziehung durch eine entspre‐
chende strategische Bedeutung wie beispielsweise die Differenzierung des Endpro‐
duktes auszeichnet. Bieten alle Lieferanten die gleiche Leistung, dann ist eine vertiefte
Beziehung nicht sinnvoll. Weitere mögliche Faktoren zur Bewertung einer Integration
ergeben sich aus der Komplexität des Produktes, der Anzahl möglicher Lieferanten
oder der Verfügbarkeit von Rohmaterialien.

2.4.2.4 Das Aufgabenmodell im Supply Chain Management


Zur Erfüllung aller Aufgaben im Supply Chain Management bedient man sich für die
Erreichbarkeit der festgelegten Ziele eines SCM‐Aufgabenmodells. Dieses Modell stellt
ein standardisiertes, unternehmensunabhängiges Referenzmodell für das Supply

110 Vgl. BALLOU ET AL. (2000).

70
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

Chain Management dar und besteht aus drei Ebenen, die verschiedene Zeithorizonte
umfassen und sich in die Aufgabenbereiche Gestaltung (Supply Chain Design), Pla‐
nung (Supply Chain Planning) und Ausführung (Supply Chain Execution) unter‐
gliedern111 (vgl. Abbildung 2‐14).

 Gestaltung:
Die Gestaltungsebene, das Supply Chain Design, beinhaltet die strategische, lang‐
fristige Netzwerkgestaltung ausgerichtet an den Zielen und der Strategie der
Supply Chain. Durch die Auswahl und kapazitative Auslegung von geeigneten
Beschaffungs‐, Produktions‐ und Lagerstandorten soll ein realitätsnahes Modell
der Supply Chain abgebildet werden. Basierend auf der Simulation von „what‐if‐
Szenarien“ und deren Bewertung können Entscheidungen wie beispielsweise zu
Investitionen, der räumlichen Anordnung von Produktionsstätten und Lager‐
standorten, zur Auswahl potenzieller Partnerunternehmen und Informationssy‐
stemen, oder auch zu Funktionsausgliederungen und Kapazitätsentscheidungen
getroffen werden. Diese Ebene stellt die Rahmenbedingungen und Informationen
für die beiden unteren Ebenen bereit.

Abbildung 2‐14 Ebenen des SCM-Aufgabenmodells112

111 Vgl. PIONTEK (2016, S. 8ff); KUHN/HELLINGRATH (2002, S. 142ff).


112 In Anlehnung an HELLINGRATH ET AL. (2007).

71
Logistikkonzeption
2
 Planung:
Supply Chain Planning (SCP) umfasst die taktische und operative Planungsebene
und befasst sich mit mittelfristigen Entscheidungen für einen zeitlichen Horizont
von einem Vierteljahr bis zu einem Jahr. Ziel ist es, die gesamte Supply Chain in‐
nerhalb der durch das Supply Chain Design vorgegebenen Rahmenbedingungen
zu optimieren. Auf dieser Ebene fallen Entscheidungen, um Produktions‐ und
Logistikaufgaben effektiv den Produktions‐ und Logistikressourcen zuzuordnen.
Die Planungsaufgaben lassen sich in die Teilaufgaben Bedarfs‐, Netzwerk‐, Be‐
schaffungs‐, Produktions‐ und Distributionsplanung, Order Promising, Feinpla‐
nung für Beschaffung, Produktion und Distribution sowie kollaborative Planung
unterteilen.

Die Bedarfsplanung (Demand Planning) beinhaltet die Planung des künftigen


Bedarfs, der möglichst wirtschaftlich und vollständig gedeckt werden sollte. Vor‐
handene kurzfristige Bedarfe, welche bereits aus vorliegenden Bestellungen in
den verschiedenen Stufen der Supply Chain resultieren, werden transparent dar‐
gestellt. Des Weiteren wird auf der Basis von Marktforschungsanalysen, Werbeak‐
tionen und Trendentwicklungen eine möglichst genaue zukünftige Bedarfsprog‐
nose113 erstellt. Die Ziele der Bedarfsplanung bestehen in einem hohen Lieferser‐
vicegrad, niedriger Kapitalbindung und optimaler Kapazitätsplanung, um den
Bullwhip‐Effekt114 zu verringern.

Aufgabe der Netzwerkplanung (Network Planning) ist die Optimierung der Zu‐
ordnung von Kapazitäten zum existierenden und prognostizierten Bedarf und die
Bestimmung der aus dem Planungsergebnis resultierenden Distributionsanfor‐
derungen. Verantwortlich für diese Koordination ist meist derjenige Partner in der
Supply Chain, welcher den höchsten Wertschöpfungsanteil aufweist oder sich in
unmittelbarer Nähe zum Endkunden befindet. Das Ergebnis der Netzwerk‐
planung ist eine Zuordnung von Produkten und Produktionsvolumina zu einem
Standort und stellt den Input für die detaillierten Planungsaufgaben in der Be‐
schaffung, Produktion und Distribution dar.

Im Rahmen der Produktionsplanung (Production Planning) wird ein optimierter


Produktionsplan (Master Production Schedule) bezüglich Auslastung und Be‐
standskosten für jeden Produktionsstandort in der Supply Chain auf der Grund‐
lage des aus der Netzwerkplanung resultierenden Produktionsprogramms er‐
stellt. Es wird eine Maximierung der Lieferbereitschaft und Termintreue unter Be‐
rücksichtigung der Auslastung von Produktionskapazitäten und der Minimie‐
rung von Beständen angestrebt. Die Produktionspläne beinhalten eine Mengen‐
und Terminplanung sowie eine Kapazitätsplanung und somit eine Zuordnung
von Kapazitäten und der benötigten Materialien zu den entsprechenden Ferti‐
gungsaufträgen.

113 Vgl. LASCH (2022, S. 170ff).


114 Vgl. Kapitel 2.5.

72
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

Ausgangspunkt für die Beschaffungsplanung (Supply Planning) bilden die Er‐


gebnisse der Bedarfs‐ und Netzwerkplanung sowie die detaillierten Produk‐
tionspläne. Das Ziel der Beschaffungsplanung besteht in der Sicherstellung der
Versorgung jeder einzelnen Produktionsstätte mit Rohstoffen, Materialien und
Vorprodukten unter Minimierung der Bestände. Auf der Grundlage von Stücklis‐
ten werden Sekundär‐, Tertiär‐ und Zusatzbedarfe sowie Sicherheitsbestände un‐
ter Berücksichtigung der Kapazitäten, Wiederbeschaffungszeiten und Anliefer‐
rhythmen ermittelt115.

Die Distributionsplanung (Distribution Planning) umfasst die Optimierung der


Lagerbestände sowie die Produktverteilung in einer mehrstufigen Distributions‐
struktur. Auf der Grundlage der Prognoseergebnisse der Bedarfsplanung und
den Vorgaben aus der Netzwerkplanung erfolgt die Ermittlung des Bedarfs an
Transportmitteln, Lager oder Personal sowie die Verwaltung der Intransit‐
Bestände. Durch Simulation können mehrere Distributionsstrukturen unter Nut‐
zung von Dienstleistern zur Warenverteilung, verschiedenen Transportmitteln
und Lager mit bzw. ohne Bestände getestet werden.

Die Verfügbarkeitsplanung (Order Promising) beinhaltet die Überprüfung, ob Be‐


stellungen oder Kundenanfragen erfüllt werden können. Bei der Verfügbarkeits‐
planung stehen als Ausprägungsformen Available‐to‐Promise (ATP), Capable‐to‐
Promise (CTP), Configure‐to‐Promise (CoTP) und Profitable‐to‐Promise (PTP) zur
Verfügung. Während ATP die Verfügbarkeit des gewünschten Produkts im La‐
gerbestand oder im Produktionsplan überprüft, erfolgt bei CTP die Überprüfung
der zur Produktion des gewünschten Produkts benötigten Kapazitäten und Mate‐
rialien. CTP ist mehrstufig und berücksichtigt Restriktionen wie kapazitive Aus‐
lastung, Durchlaufzeit und Distributionszeit. Bei CoTP erfolgt eine Konfiguration
des gewünschten Produkts gemäß Kundenwunsch und eine Prüfung der Materia‐
lien sowie Kapazitäten zur Zusicherung des Liefertermins. PTP greift auf umsatz‐
und ertragsorientierte Größen zu und es kann sofort festgestellt werden, ob der
Kundenwunsch hinsichtlich Wunschtermin oder Konfiguration für das Unter‐
nehmen profitabel ist.

Die Beschaffungsfeinplanung (Supply Planning short term) bezieht sich auf die
Minimal‐ und Maximalbestände der übergeordneten Beschaffungsplanung und
setzt diese in die werkseigene Beschaffungsplanung an einem Standort um. Dies
umfasst z. B. eine Planung der Anliefermengen der benötigten Bedarfe auf Stun‐
den‐ oder Tagesbasis, wobei alle internen und externen Restriktionen beachtet
werden müssen, um die Anlieferungen zu optimieren. Die Produktionsfeinpla‐
nung (Production Scheduling short term) nutzt die Ergebnisse aus der überge‐
ordneten Produktionsplanung. Es werden unter Berücksichtigung der Verfügbar‐
keiten von Personal, Maschinenkapazitäten und Material konkrete Fertigungs‐
oder Montageaufträge festgelegt, terminiert und freigegeben. Gegenstand der

115 Vgl. Lasch (2022, S. 145f).

73
Logistikkonzeption
2
Distributionsfeinplanung (Distribution Planning short term) ist die Lieferung des
richtigen Produkts, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort, in der richtigen
Menge und in der richtigen Qualität. Dafür werden die Ergebnisse der Distributi‐
onsplanung verfeinert und es erfolgen die optimierte auftragsbezogene Festle‐
gung der Transportmittel, die Bestimmung der Touren und der Beladung zur
termingerechten Kundenbelieferung inkl. einer Exportunterstützung.

Die kollaborative Planung umfasst die gemeinsame Abstimmung aller Partner in


der Supply Chain unter Verwendung von IT‐Werkzeugen und bezieht sich auf die
Kapazitäts‐, Bedarfs‐ und Bestandsplanung. Im Rahmen der kollaborativen Kapa‐
zitätsplanung wird die unternehmensübergreifende Planung der Kapazitäten
über Web‐basierte Lösungen abgestimmt. Die kollaborative Bedarfsplanung un‐
terstützt eine frühzeitige und aktive Einbeziehung der Lieferanten und Kunden
unter Nutzung von Advanced‐Planning‐and‐Scheduling‐Systemen. Die Planung
und Steuerung von Versorgungsstrategien, bei denen der Lieferant und der Kun‐
de durch Continuous Replenishment oder Vendor Managed Inventory gemein‐
sam die Planung der Kundenbestände durchführen, wird durch eine kollaborati‐
ve Bestandsplanung ermöglicht.

 Ausführung:
Die Ausführungsebene dient der Prozessabwicklung sowie der Auskunftsfähig‐
keit und stellt die operativ‐exekutive Ebene dar, die nach Abschluss der Planungs‐
aktivitäten folgt. Die Komponenten der Ausführungsebene unterstützen die ope‐
rative Arbeit, sodass die Partner der Supply Chain flexibel und in Echtzeit auf Än‐
derungen externer Rahmenbedingungen reagieren können. Das Supply Chain
Execution setzt dafür Kommunikations‐, Visualisierungs‐, E‐Business und E‐
Commerce‐Lösungen zur Unterstützung der operativen Aufgaben im Hinblick
auf die Disposition und Auftragsabwicklung innerhalb einer Supply Chain ein.
Entscheidungen werden kurzfristig, meistens täglich getroffen und beziehen sich
auf die Auftrags‐, Lager‐, Fertigungs‐ und Transportabwicklung. Dabei werden
zeit‐ und mengengenaue Vorgaben zur Ausführung dieser Prozesse erstellt, wobei
ERP‐ bzw. PPS‐Systeme diese Aufgaben unterstützen.

Die Auftragsabwicklung umfasst alle administrativen Tätigkeiten ab dem Zeit‐


punkt der Anfrage des Kunden bis zur Rechnungserstellung und verfügt über al‐
le Informationen zu den kundenauftragsbezogenen Prozessen. Das Ziel besteht in
der Sicherstellung einer hohen Kundenzufriedenheit, sodass die Auftrags‐
abwicklung eng mit der Verfügbarkeitsplanung verbunden ist.

Aufgabe der Lagerabwicklung ist die unternehmensübergreifende Verwaltung


von Beständen (Roh‐, Hilfs‐, Betriebsstoffe, Teile, Baugruppen) in Echtzeit, wobei
als Zielstellung die Schaffung von Bestandstransparenz entlang der gesamten
Supply Chain sowie einzelner Partner verfolgt wird. Der Schwerpunkt liegt
hauptsächlich in der Verknüpfung und Steuerung von überbetrieblichen Be‐

74
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

standsinformationen, da ein großer Teil des Aufgabenspektrums bereits von


transaktionsorientierten ERP Systemen übernommen wird.

Die Transportabwicklung ist eng mit der Transportplanung verbunden und er‐
möglicht die flexible Steuerung der überbetrieblichen Transportströme auf der
Beschaffungs‐ als auch auf der Distributionsseite nach unterschiedlichen Ziel‐
kriterien wie beispielsweise Transportkosten oder ‐zeiten. Des Weiteren werden
die Transportdokumente und Lieferscheine erstellt sowie Abholzeitfenster und
die Reihenfolge für die Ver‐ und Entladung festgelegt. Die Transportabwicklung
kann damit Aussagen über Intransit‐Bestände treffen sowie Informationen zum
Transportstatus abgeben.

Die Produktionsabwicklung umfasst die Umsetzung der Produktionsfeinpla‐


nung. Die Produktionsaufträge werden unter Nutzung von Informationen über
Maschinen, Materialien, Werkzeuge und Betriebsmittel kapazitätsgerecht in die
Produktion eingelastet. Unterstützt wird diese Aufgabe durch ERP‐ bzw. PPS‐
oder MES‐Systeme.

Das Supply Chain Event Management (SCEM) besteht aus einer durchgängigen
Überwachung aller Aktivitäten innerhalb einer Supply Chain, um durch Früh‐
warnmechanismen Probleme in Echtzeit identifizieren und auch vorhersagen zu
können. Solche Probleme können z. B. Transportengpässe, Produktionsunter‐
brechungen oder ausverkaufte Lager bzw. Verkaufsflächen sein. Das SCEM
schließt die methodische Lücke zwischen der mittel‐ und kurzfristigen Planung
der Supply Chain und der operativen Prozessdurchführung. Die Einführung ei‐
nes wirksamen und erfolgreichen SCEM ist dabei sehr stark gekoppelt an die
Entwicklung der mobilen Vernetzung von Waren und Verkehrsträgern (z. B. Con‐
tainer) über die RFID‐Technologie116. Wichtige Hilfsmittel zur Umsetzung des
SCEM sind das Alert Management, Workflow Management und Tracking and
Tracing. Mit dem Alert Management kann eine frühzeitige Erkennung von Ab‐
weichungen zwischen Ist‐ und Soll‐Werten sichergestellt werden. Workflow Ma‐
nagement‐Systeme dienen der elektronischen Überwachung von Arbeitsabläufen
und mit Tracking‐and‐Tracing‐Systemen erfolgt eine Sendungsverfolgung und es
wird die zeitliche und örtliche Transparenz von Gütern innerhalb eines Trans‐
portprozesses ermöglicht. Events basieren auf von Monitoring‐Systemen zurück‐
gemeldeten Statusinformationen, beispielsweise aus ERP‐ oder Tracking‐and‐
Tracing‐Systemen, und ermöglichen ein schnelles Reagieren auf Ausnahmesitua‐
tionen. Events können Abweichungen von geplanten Soll‐Zuständen und tatsäch‐
lichen Ist‐Zuständen aufzeigen. Dabei werden die entsprechenden Entschei‐
dungsträger selbstständig nur mit solchen Statusinformationen versorgt, die für
den spezifischen Entscheidungskontext relevant sind. Das SCEM unterstützt nicht
nur die Generierung und aktive Mitteilung von Events, sondern auch die not‐
wendigen Steuerungsfunktionen zur proaktiven Steuerung der Supply Chain. Es

116 Vgl. LASCH (2020, S. 331ff).

75
Logistikkonzeption
2
werden Maßnahmen eingeleitet, um die durch das Event ausgelösten negativen
Konsequenzen zu minimieren oder die Eintrittswahrscheinlichkeit kritischer
Events zu reduzieren.

Ein erfolgreiches SCM setzt die Einführung eines Supply Chain Controllings
(SCC) voraus und somit die Nutzung von Instrumenten zur zielorientierten Steu‐
erung der Supply Chain. Das SCC fokussiert sein Aufgabenfeld über die Unter‐
nehmensgrenzen hinweg auf die gesamte Supply Chain und zielt auf die Koordi‐
nation und Steuerung aller beteiligten Partner zur Erreichung der gewünschten
Kooperationsvorteile. Dazu gehören die konzeptionelle Gestaltung und Koordi‐
nation eines die gesamte Supply Chain umfassenden Informationssystems zur
Schaffung einer einheitlichen Informationsbasis für alle beteiligten Partner sowie
eines transparenten Systems zur Planung und Kontrolle des Leistungs‐
erstellungsprozesses in der Supply Chain. Des Weiteren erfolgt eine Koordination
innerhalb des Planungs‐ und Kontrollsystems.

2.4.3 Supply Chain Governance


Unter Governance wird das Regel‐ und Koordinationssystem einer Organisation ver‐
standen welches sicherstellt, dass alle Entscheidungen an den langfristigen Zielen der
Organisation ausgerichtet werden. Der Begriff Governance wird in verschiedenen
wissenschaftlichen Fachbereichen unterschiedlich ausgelegt und interpretiert. In den
Wirtschaftswissenschaften liegt der Fokus speziell auf der Corporate Governance und
der Supply Chain Governance. Während die Corporate Governance sich auf die
Grundsätze der Unternehmensführung konzentriert, umfasst die Supply Chain
Governance die Steuerung und Koordinierung von Akteuren in Lieferketten.

Mit einem verstärkten Interesse an der Erforschung der zwischenbetrieblichen Zu‐


sammenarbeit Anfang der 1990er Jahre wuchs auch das wissenschaftliche Interesse an
der Koordinierung der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit und damit der Supply
Chain Governance. Die Supply Chain Governance wird als System von Regeln und
Strukturen definiert, welches bei zwischenbetrieblichen Transaktionen einen Rahmen
zum Handeln und Treffen von Entscheidungen vorgibt. Sie koordiniert die Art und
Weise, wie finanzielle, materielle und personelle Ressourcen innerhalb der Lieferkette
zugewiesen werden. Die Supply Chain Governance ermöglicht es einerseits das Ver‐
halten von Partnern zu beeinflussen und in bestimmte Richtungen zu lenken. Ande‐
rerseits dient die Governance auch zum Schutz der zwischenbetrieblichen Beziehung
der involvierten Partner und ihrer (geistigen) Eigentümer, indem ein essentieller Teil
der Governance die Opportunismusvermeidung und ‐reduzierung umfasst117.

Innerhalb des strukturierenden Rahmens der Supply Chain Governance werden


Governance‐Mechanismen (auch Governance‐Instrumente genannt) verwendet. Die

117 Vgl. KELLER ET AL. (2021a).

76
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

Governance‐Mechanismen werden zur aktiven Beeinflussung des Verhaltens der Part‐


ner verwendet und unterteilen sich in formelle und informelle Governance‐Mecha‐
nismen118.

Die Supply Chain Governance wird in der Literatur nicht immer klar vom Supply
Chain Management abgegrenzt, obwohl hier elementare Unterschiede zu nennen sind.
Das Supply Chain Management umfasst die Organisation der Material‐, Güter‐, In‐
formations‐ und Geldflüsse, konzentriert sich damit auf das operationelle Manage‐
ment sowie die strategische Koordination der Maßnahmen der Partner in der Unter‐
nehmensbeziehung und ist auf einen Wettbewerbsvorteil ausgerichtet. Supply Chain
Governance befasst sich mit den evolutionären Aspekten der Lieferkette und mit der
Kontrolle der Handlungen aller Partner, indem sie die Koordinierung der Abläufe
integriert und sicherstellt, dass die richtigen Strategien umgesetzt und kontrolliert
werden119.

2.4.3.1 Governance-Modi
In der wissenschaftlichen Literatur wird zwischen verschiedenen Ansätzen der
Governance unterschieden, welche Governance‐Modi (im Englischen Governance
Modes) genannt werden. Governance‐Modi beschreiben die Art wie Unternehmen
ihre Unternehmensbeziehungen koordinieren und steuern. Es wird zwischen der
hierarchischen Governance, der marktorientierten Governance und der Netzwerk‐
Governance unterschieden.

 Hierarchische Governance
Der hierarchische Governance‐Modus bezieht sich auf ein klar strukturiertes
Governance‐System mit ungleicher Machtverteilung zwischen den Partnern. Der
mächtige Akteur in der Unternehmensbeziehung kann seine Partner durch Beloh‐
nungen und Strafen zu bestimmten Verhaltensweisen bewegen120. Häufig sind
Unternehmensbeziehungen, welche hierarchisch gesteuert werden, bürokratisch
organisiert und haben klare Prozessabläufe. Dabei werden häufig Verträge ver‐
wendet, welche bei der Prozessstrukturierung helfen, Belohnungen und Strafen
definieren und das Machtungleichgewicht verschärfen können121.

 Marktorientierte Governance
Im marktorientierten Governance‐Modus orientieren sich die Akteure in ihren
Unternehmensbeziehungen an den sich im Markt entwickelnden Preisen. Die
Machtverhältnisse sind in der marktorientierten Governance ausgeglichen und
die Akteure können sich ohne größere Abhängigkeitsverhältnisse frei am Markt

118 Vgl. PILBEAM ET AL. (2012).


119 Vgl. DOLCI ET AL. (2017).
120 Vgl. CONSIDINE/LEWIS (2003); MEULEMANN (2008).
121 Vgl. POWELL (1990).

77
Logistikkonzeption
2
bewegen. Die Unternehmensbeziehungen können daher von relativ kurzer Dauer
sein, da Lieferanten bspw. gewechselt werden, wenn dies aus finanzieller Perspek‐
tive sinnvoll erscheint. Langfristig angelegte Beziehungen sind eher selten und
auch soziale, zwischenmenschliche und zwischenbetriebliche Verbindungen spie‐
len eine untergeordnete Rolle bei der Koordinierung der Unternehmensbeziehun‐
gen122.

 Netzwerk‐Governance
Neben dem hierarchischen Governance‐Modus und dem marktorientierten Go‐
vernance‐Modus gibt es noch einen dritten Modus, welcher zunächst als hybride
Form der beiden erstgenannten Modi aufgeführt wurde und sich entsprechend
der individuellen Ausprägung auf dem Hierarchie‐Markt‐Kontinuum bewegte123.
In der Forschung wurde der hybride Governance‐Modus von einem eigenständi‐
gen Governance‐Modus, dem Netzwerk‐Governance‐Modus, abgelöst124. In der
Netzwerk‐Governance werden die Akteure über ihre engen sozialen und persön‐
lichen Kontakte aneinander gebunden und über die sozialen Strukturen auch in
ihrem Verhalten beeinflusst. Die Akteure entwickeln in den langfristig ausgeleg‐
ten Unternehmensbeziehungen ein hohes Vertrauen zueinander und wissen viel
über die Bedürfnisse und die Möglichkeiten der Partnerunternehmen. Dies er‐
möglicht es sich besser auf die Partner einzustellen und ihnen in der Unterneh‐
mensbeziehung mit einer gegenseitigen Kompromissbereitschaft entgegenzu‐
kommen. Im Gegensatz zum marktorientierten Governance‐Modus werden im
Netzwerk‐Governance‐Modus langfristige Gewinne aus der bestehenden Unter‐
nehmensbeziehung über kurzfristige mögliche Profite gestellt125.

2.4.3.2 Formelle Governance-Mechanismen


Während die Governance‐Modi die generelle Ausrichtung und Art der Koordinierung
der Akteure in Wertschöpfungsnetzwerken beschreiben, dienen Governance‐
Mechanismen zur aktiven Beeinflussung des Verhaltens der Partner.

Formelle Governance‐Mechanismen steuern stark strukturierend und regulierend das


Verhältnis der Partner und ihre Transaktionen126. Formelle Governance‐Mechanismen
legen die Rollen, die Verantwortlichkeiten, aber auch die Rechte der beteiligten Partner
fest und geben der Unternehmensbeziehung so eine klare Struktur. Zudem können
formelle Governance‐Mechanismen auch die Vorgehensweise einzelner Prozesse defi‐
nieren. Ein sehr häufig verwendeter formeller Governance‐Mechanismus ist der Ver‐
trag. Verträge können die Rechte und Pflichten aller Akteure in der Beziehung festle‐

122 Vgl. GOLDBACH ET AL. (2003).


123 Vgl. WILLIAMSON (1975); GOLDBACH ET AL. (2003).
124 Vgl. PROVAN/KENIS (2007).
125 Vgl. POWELL (1990); JONES ET AL. (1997).
126 Vgl. POPPO/ZENGER (2002).

78
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

gen und bspw. die erwarteten Preise, Liefertermine und Qualitäts‐ oder Nachhaltig‐
keitsstandards beinhalten. Zudem können Verträge häufig auch Belohnungs‐ und
Bestrafungssysteme bei Übererfüllung bzw. Nichteinhaltung der Verträge umfassen.
Die Umsetzung von Verträgen kann mithilfe der formellen Kontrollmechanismen
überwacht werden. Dabei können bspw. die Produktionsprozesse der Partner dauer‐
haft oder auch mithilfe von Audits stichpunktartig kontrolliert werden. Alternativ
können stetig Wareneingangskontrollen durchgeführt werden, welche bspw. die Qua‐
lität der eintreffenden Waren überprüfen. Dadurch wird der Partner dazu gedrängt
die vereinbarten Qualitätsstandards einzuhalten, da die Ware sonst nicht angenom‐
men wird.127

Eine Übersicht beispielhafter formeller Governance‐Mechanismen ist in Tabelle 2‐4


gegeben.

Tabelle 2‐4 Beispielhafte formelle Governance-Mechanismen128

Formelle Governance‐ Erläuterung


Mechanismen
Verträge Schriftliche Vereinbarungen, welche (z. B.
finanzielle) Anreize, aber auch Strafelemente
enthalten können, um Partner zu bestimmten
Verhaltensweisen zu bewegen.
Audits und Überwachung Kontrollmechanismen, welche die Erbrin‐
gung der vereinbarten Leistungen überwa‐
chen und so auch die Einhaltung von Verträ‐
gen kontrollieren.
Gemeinsame Standards Gemeinsam festgelegte Standards geben eine
Orientierungshilfe für Partner zur Art der
Erbringung der Transaktionsleistungen (z. B.
bzgl. Qualitäts‐ oder Nachhaltigkeitsstan‐
dards).
Formelle Strukturen Formelle Strukturen können vereinbart wer‐
den, um Rollen, Verantwortlichkeiten klar zu
definieren und Kompetenzüberschreitungen
oder opportunistische Verhaltensweisen in
der Beziehung zu vermeiden.

127 Vgl. HUANG ET AL. (2014); ZHAO/CHEN (2013).


128 Vgl. PILBEAM ET AL. (2012).

79
Logistikkonzeption
2
2.4.3.3 Informelle Governance-Mechanismen
Die Koordinierung mithilfe von formellen Governance‐Mechanismen beruht zu gro‐
ßen Teilen auf Verträgen, weshalb sie häufig auch vertragliche Governance genannt
wird. Verträge und auch andere formelle Koordinierungsmechanismen sind jedoch
nicht immer vollständig und können trotz großer Fürsorge bei der Implementierung
Lücken enthalten. Zudem sind formelle Mechanismen relativ unflexibel und starr in
der Koordinierung, wenn Unternehmen und Supply Chains auf unerwartete Ereignis‐
se, wie bspw. Unterbrechungen in der Lieferkette aufgrund von Naturkatastrophen
oder Unfällen, reagieren müssen129.

Informelle Governance‐Mechanismen werden daher verwendet, um auf unerwartete


Ereignisse reagieren zu können und auch, um die Lücken der formellen Governance‐
Mechanismen zu schließen. Informelle Governance‐Mechanismen beruhen einerseits
auf gegenseitigem Vertrauen sowie andererseits auf der sozialen Identifikation der
Partner mit der Unternehmensbeziehung130. Aufgrund der hohen sozialen Identifika‐
tion der Partner mit der Beziehung streben sie eine möglichst langfristige Partnerschaft
an und sind dafür bereit Kompromisse einzugehen und auf kurzfristige Gewinne
zugunsten einer langfristigen Beziehung zu verzichten. Das gegenseitige Vertrauen
gibt den Beteiligten eine Zuversicht, dass die anderen Partner ebenfalls an einem lang‐
fristigen Bestehen der Unternehmensbeziehung interessiert sind131.

Alle Mechanismen, welche zur Vertrauensbildung oder zur sozialen Identifikation mit
der Beziehung beitragen, können daher als informell bezeichnet werden132. Im Gegen‐
satz zu formellen Mechanismen müssen und können informelle Mechanismen nicht
vertraglich vereinbart oder offiziell in einer Beziehung eingeführt werden. Stattdessen
entwickeln sie sich mit der Zeit und können sich auch gegenseitig verstärken. Auf‐
grund ihres informellen Charakters ermöglichen informelle Mechanismen schnelle
Reaktionen auf unerwartete Ereignisse und machen die Steuerung und Koordinierung
von Unternehmensbeziehungen generell unkomplizierter, da sie eine selbstregulie‐
rende Wirkweise haben.

Eine Übersicht beispielhafter informeller Governance‐Mechanismen ist in Tabelle 2‐5


gegeben.

129 Vgl. CAO/LUMINEAU (2015); ECKERD/ECKERD (2017).


130 Vgl. HOETKER/MELLEWIGT (2009).
131 Vgl. HAMMERVOLL (2011); KE ET AL. (2015); ZHAO/CHEN (2013).
132 Vgl. DYER/SINGH (1998); HOETKER/MELLEWIGT (2009); MARTINEZ/JARILLO (1989).

80
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

Tabelle 2‐5 Beispielhafte informelle Governance-Mechanismen133

Informelle Governance‐ Erläuterung


Mechanismen
Normen Gemeinsame und gegenseitig anerkannte
Handlungsabläufe, welche das soziale In‐
teragieren in der Unternehmensbeziehung
betreffen und bestimmte Verhaltensweisen
fördern oder unterbinden.
Werte Gemeinsame Vorstellungen, wie sich Un‐
ternehmen und ihre Mitarbeitenden nicht
nur in der Unternehmensbeziehung, son‐
dern generell, verhalten sollten.
Soziale Strukturen Die soziale Struktur in den Unternehmens‐
beziehungen beschreibt, wie die Unterneh‐
men in dem Wertschöpfungsnetzwerk
zueinander stehen und evtl. eine Macht‐
asymmetrie zwischen den Akteuren be‐
steht.
Teilen von Informationen Das informelle Teilen von Informationen
bspw. nach Meetings oder im Rahmen von
Geschäftsreisen ermöglicht den schnellen
und unkomplizierten Austausch von rele‐
vanten Informationen, welcher über die
offiziellen Kommunikationskanäle deutlich
verzögert oder gar nicht stattfinden würde.

2.4.3.4 Anwendung formeller und informeller Governance-Mechanis-


men im Wertschöpfungsnetzwerk
Die Effektivität von formellen und informellen Governance‐Mechanismen wird von
internen und externen Faktoren eines Wertschöpfungsnetzwerks beeinflusst. Zu den
internen Einflussfaktoren gehören der Zentralisierungsgrad, der Grad der Abhängig‐
keit und der Grad der Diversität der Partner, sowie die Netzwerkkomplexität. Externe
Einflussfaktoren umfassen die Dynamik und die Stakeholderanforderungen134.

133 Vgl. PILBEAM ET AL. (2012).


134 Vgl. TACHIZAWA/WONG (2015); NI/SUN (2018); REZAEI VANDCHALI ET AL. (2020);
SOUNDARARAJAN ET AL. (2021).

81
Logistikkonzeption
2
 Zentralisierung
Liegt ein hoher Zentralisierungsgrad im Wertschöpfungsnetzwerk vor, dann ist
die Entscheidungsgewalt in wenigen Knoten des Netzwerks verankert. Da
zentralisierte Netzwerke bereits formelle Strukturen aufweisen, wird die Anwen‐
dung von formellen Mechanismen vereinfacht. Aufgrund der geringen Anzahl
von Entscheidungsträgern und der kurzen Informationswege wird auch der In‐
formationsaustausch erleichtert. Die Kontrolle und die Beeinflussung des Netz‐
werks durch das Anwenden von stärkeren Machtpositionen verhindern jedoch
den Aufbau von Vertrauen. Dagegen erscheint der Einsatz von informellen
Governance‐Mechanismen bei dezentralen Netzwerken effizienter, da diese auf
Vertrauen und Machtverteilung basieren.

 Abhängigkeit
Innerhalb eines Wertschöpfungsnetzwerkes bestehen Abhängigkeiten zwischen
den beteiligten Unternehmen, die durch den unterschiedlichen Zugang zu Res‐
sourcen oder Kapazitäten entstehen. Der Grad, von dem fokale Unternehmen von
ihren Lieferanten abhängig sind, beeinflusst die Wahl des Governance‐Mecha‐
nismus. Falls sowohl Lieferanten als auch Unternehmen die gegenseitigen Ab‐
hängigkeiten nicht wahrnehmen, dann kann dies zu Zielkonflikten, wenig Enga‐
gement und Informationslücken führen. Aus diesem Grund sind der Aufbau von
transparenten Kommunikationskanälen, das Festlegen von gemeinsamen Zielen
und ein gemeinsames Verständnis der Zusammenarbeit insbesondere zu Beginn
der Lieferanten‐Käufer‐Beziehung entscheidende Instrumente, sodass bei hoher
Abhängigkeit des fokalen Unternehmens von den Lieferanten die Anwendung
von informellen Mechanismen empfehlenswert ist.

 Diversität
Die Diversität der Supply Chain Partner spiegelt sich durch unterschiedliche Res‐
sourcen, technische Fähigkeiten und Expertise wider. Auch der Zugang zu Infor‐
mationen unterscheidet sich zwischen den Partnern im Wertschöpfungsnetzwerk.
Somit sind informelle Mechanismen wie Wissens‐ und Informationsaustausch
sowie Trainings durch das fokale Unternehmen geeignete Werkzeuge, um allen
Partnern den Zugang zu neuen Fähigkeiten und Ressourcen zu ermöglichen.

 Netzwerkkomplexität
Mit steigender Anzahl der Partner und Verbindungen im Wertschöpfungsnetz‐
werk erhöht sich der Koordinations‐ sowie der Kontrollaufwand und somit die
Netzwerkkomplexität für fokale Unternehmen, sodass formelle Governance‐
Mechanismen wie z. B. Audits oder Verträge weniger effektiv sind. Da Lieferanten
unterschiedliche Prozesse und Fähigkeiten aufweisen, erhöht sich der Koordinati‐
onsaufwand bei der Implementierung von Audits und führt zu einer Erhöhung
der Transaktionskosten. Des Weiteren ist auch die Durchsetzung von umfangrei‐
chen Verträgen in unterschiedlichen Rechtssystemen schwer umsetzbar. Dagegen
steigern bei hoher Komplexität informelle Mechanismen die Effizienz, da auf‐
grund der Diversität die Lieferanten eher motiviert sind in informellen Zusam‐

82
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

menschlüssen zu agieren. Durch eine steigende Anzahl informeller Verbindungen


wird opportunistisches Verhalten der Lieferanten erschwert, da Informationen
schneller ausgetauscht werden können.

 Dynamik
Unternehmen in einem schnell verändernden Marktumfeld weisen wenig Routi‐
nen und sich stetig ändernde Prozesse auf. Bei hoher Dynamik der Umfeldverän‐
derungen agieren Unternehmen eher proaktiv als reaktiv und suchen strategische
Partnerschaften mit Lieferanten, mit welchen langfristig nachhaltige Produkt‐ und
Prozessveränderungen vorgenommen werden können. Um eine enge Zusam‐
menarbeit mit den Lieferanten aufzubauen, eignet sich der Einsatz von informel‐
len Governance‐Mechanismen. Unternehmen, die in einem vorhersehbaren, stabi‐
len Marktumfeld agieren, zeichnen sich durch Routinen aus, welche eine effizien‐
te Ressourcennutzung zum Ziel haben. Hierbei eignet sich die Anwendung von
formellen Mechanismen, wie z. B. eine regelmäßige Überwachung oder Audits.

 Stakeholderanforderung
Unternehmen müssen die Einhaltung von Standards auch für Stakeholder entlang
der Supply Chain transparent offenlegen, sodass eine genaue Datenerfassung bei
Partnern erfolgen muss. Hierbei sind formelle Mechanismen wie die Lieferanten‐
bewertung oder Audits effektiv. Darüber hinaus werden auch informelle Mecha‐
nismen benötigt, um Opportunismus und die Zurückhaltung von Daten durch ei‐
ne enge und auf Vertrauen basierte Zusammenarbeit zu vermeiden.

2.4.3.5 Governance in der digitalen Transformation


Die Forschung zur Supply Chain Governance konzentrierte sich bis zu den 2000er
Jahren hauptsächlich auf die Untersuchung der verschiedenen Governance‐Modi und
der unterschiedlichen formellen und informellen Mechanismen. Aufbauend auf die‐
sem Wissen zur Koordinierung von Lieferketten und ‐netzwerken wurden anschlie‐
ßend auch weitere Themengebiete, wie die Globalisierung, Nachhaltigkeitsbestrebun‐
gen oder die Digitalisierung, mit in die Forschungen einbezogen, um deren Auswir‐
kungen auf die Supply Chain Governance näher untersuchen zu können135. Speziell
die Governance in Zeiten der Digitalisierung stellt dabei ein interessantes Forschungs‐
feld dar, da durch neue Informationstechnologien nicht nur die Effektivität altbewähr‐
ter Koordinationsinstrumente reduziert wird, sondern auch neue Koordinationsmög‐
lichkeiten entstehen.

Digitale Wertschöpfungsnetzwerke zeichnen sich durch die Entwicklung, Implemen‐


tierung und Anwendung von neuen Technologien und Informationssystemen aus.
Verschiedene neue Technologien, wie z. B. Internet of Things, RFID, Big Data oder
Blockchain‐Technologie, kommen dabei zum Einsatz, um die Abläufe und Prozesse in

135 Vgl. GEREFFI ET AL. (2005); KELLER ET AL. (2021b).

83
Logistikkonzeption
2
Unternehmen und auch zwischen den Unternehmen effizienter zu gestalten136. Im
Folgenden werden die Auswirkungen der Digitalisierung auf Wertschöpfungsnetz‐
werke und ihre Koordination mit Governance‐Mechanismen näher untersucht.

Die Digitalisierung und damit der Einsatz neuer Technologien verändert grundlegend
die Struktur und die Zusammenarbeit in Wertschöpfungsnetzwerken. Unternehmen
und Wertschöpfungsnetzwerke haben die Möglichkeit sich deutlich einfacher global
auszubreiten und können dank neuer Technologien eine rege Kommunikation und
einen umfangreicheren Informationsaustausch aufrechterhalten. Zudem bieten neue
Technologien auch neue Koordinierungsmöglichkeiten, wie bspw. die Governance von
Lieferketten mithilfe der Blockchain‐Technologie137. Generell hat die Digitalisierung
drei Haupteinflüsse auf die Supply Chain Governance: eine erhöhte Transparenz,
bessere Datenanalysen und eine Reduktion der persönlichen Kontakte138.

 Transparenz
Die Transparenz in Wertschöpfungsnetzwerken wird aufgrund der Digitalisie‐
rung stark erhöht. Neue Technologien ermöglichen den stetigen und umfangrei‐
chen Austausch von Informationen und Daten. Dazu können bspw. auch Informa‐
tionssysteme von Unternehmen verknüpft werden, um automatisiert Daten aus‐
zutauschen139.

Der umfangreiche Austausch von Informationen und Daten bietet Wertschöp‐


fungsnetzwerken einen hohen Mehrwert bei der Koordinierung der Unterneh‐
mensbeziehungen und ihrer Transaktionen. Unternehmen könnten z. B. das Ver‐
halten der Partner besser überwachen und so die Einhaltung von Vereinbarungen
und Verträgen mit weniger Aufwand kontrollieren. Zudem bietet eine erhöhte
Transparenz auch die Möglichkeit sich auf zukünftige Warenströme besser einzu‐
stellen und so Transaktionen effizienter abwickeln zu können.

Während die durch die Digitalisierung erhöhte Transparenz verschiedene Vorteile


bietet, welche die Governance von Wertschöpfungsnetzwerken erleichtert, entste‐
hen durch sie auch neue Herausforderungen. Im Vordergrund steht dabei die Ge‐
fahr des opportunistischen Missbrauchs der geteilten Daten und Informationen.
Die Governance sollte daher entsprechend auf diese Herausforderungen ange‐
passt werden. Formelle Mechanismen, wie Verträge, sollen u. a. den Missbrauch
von Daten verhindern, indem sie z. B. hohe Geldstrafen oder andere Sanktionen
festlegen140. Da jedoch der opportunistische Missbrauch von Daten nicht immer
erkannt oder auch nachgewiesen werden kann, müssen die formellen Mechanis‐
men durch informelle Mechanismen gestützt werden. Der Aufbau von einer ver‐
trauensvollen, engen und partnerschaftlichen Beziehung kann den Missbrauch

136 Vgl. AGERON ET AL. (2020).


137 Vgl. LUMINEAU ET AL. (2020).
138 Vgl. KELLER ET AL. (2021a).
139 Vgl. KORPELA ET AL. (2017).
140 Vgl. KACHE/SEURING (2017).

84
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

der Daten verhindern. Dies erfolgt insbesondere dadurch, dass die Partner wei‐
terhin Teil der Beziehung bleiben möchten und nicht das Risiko eingehen möch‐
ten, dass ihre opportunistischen Verhaltensweisen entdeckt werden könnten141.

 Datenanalyse
Ein weiterer großer Effekt der Digitalisierung, welcher sich auf die Governance
auswirkt, ist die stark verbesserte Datenanalyse dank Big Data Analytics. Unter‐
nehmen tauschen stetig und teils automatisiert Daten aus, welche analysiert wer‐
den können, um in unternehmensübergreifenden Beziehungen bei Entschei‐
dungsprozessen zu unterstützen142. Die Daten werden nach dem Austausch ge‐
sammelt und strukturiert. Anschließend wird der komplette Datensatz gereinigt,
z. B. durch Löschen von redundanten oder unvollständigen Datensätzen. Der Da‐
tensatz kann danach mithilfe verschiedener Ansätze analysiert werden, um neues
Wissen aus den Datenmengen zu extrahieren. Dieses neu generierte Wissen kann
bspw. bessere Nachfrageprognosen umfassen oder eine frühzeitige Identifikation
von Lieferkettenunterbrechungen oder anderen Herausforderungen ermögli‐
chen143. Mithilfe der Datenanalyse und des so neu generierten Wissens sind bes‐
sere und schnellere Entscheidungsprozesse möglich, welche die Koordinierung
und die Governance von Wertschöpfungsnetzwerken vereinfachen.

Während der automatisierte Austausch von Daten und deren Analyse zur besse‐
ren und schnelleren Entscheidungsfindung einen großen Vorteil bei der Koordi‐
nierung von Unternehmensnetzwerken darstellen, gibt es auch Herausforderun‐
gen, welche dadurch entstehen. Im speziellen Fokus für die Supply Chain Gover‐
nance steht dabei, dass die Mitarbeitenden der einzelnen Unternehmen sich
seltener persönlich austauschen144. Die Grundlage zum effektiven Einsatz infor‐
meller Governance‐Mechanismen ist jedoch eine gute, persönliche und vertrau‐
ensvolle Beziehung der Partner145. Durch automatisierte Datenaustäusche anstatt
von Telefonaten, E‐Mails oder persönlichen Treffen wird dieser persönliche Kon‐
takt reduziert. Zudem sind Entscheidungsprozesse in der Regel von einem inten‐
siven Austausch der Partner geprägt, um für alle Beteiligten eine passende Ent‐
scheidung zu treffen. Diese Entscheidungsprozesse können aufgrund der verbes‐
serten Datenanalyse zunehmend datengetrieben und weniger im persönlichen
Austausch durchgeführt werden.

 Persönliche Kontakte
Der reduzierte persönliche Kontakt innerhalb von Unternehmensbeziehung stellt
daher auch den dritten großen Einflussfaktor der Digitalisierung auf die Gover‐
nance dar. Unternehmensübergreifende Transaktionen können dank der Digitali‐

141 Vgl. KELLER ET AL. (2021a).


142 Vgl. GÜRDÜR ET AL. (2019).
143 Vgl. BÜYÜKÖZKAN/GÖÇER (2018).
144 Vgl. KELLER ET AL. (2021a).
145 Vgl. ALVAREZ ET AL. (2010).

85
Logistikkonzeption
2
sierung deutlich effektiver und effizienter durchgeführt werden. Dabei spielt spe‐
ziell der Einfluss der Digitalisierung auf die veränderte Häufigkeit und die Art
von zwischenmenschlichen Kontakten in Unternehmensbeziehungen eine große
Rolle146. In konventionellen, nicht digitalisierten Unternehmensbeziehungen fin‐
den regelmäßig persönliche Treffen, z. B. im Rahmen von gemeinsamen Meetings,
Geschäftsreisen oder Konferenzen statt. Vor, zwischen und nach den offiziellen
Programmpunkten dieser Veranstaltungen finden auch persönliche, zwischen‐
menschliche Gespräche statt, welche keiner klaren Agenda folgen und einen in‐
formellen Charakter haben. Diese informellen Gespräche können zusätzliche,
nicht offizielle Informationen offenlegen und die tatsächlichen Absichten der Ge‐
schäftspartner offenbaren147. Durch die Digitalisierung entfallen diese informellen
Gespräche teilweise, da die offiziellen zwischenbetrieblichen Veranstaltungen
häufig durch digitale Kommunikation oder einen automatisierten Datenaustausch
ersetzt werden.

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf Wertschöpfungsnetzwerke beeinflusst


ebenfalls die Art und Weise, wie Unternehmen ihre zwischenbetrieblichen Beziehun‐
gen steuern und koordinieren. Während sich die Effektivität verschiedener Gover‐
nance‐Mechanismen erhöht oder verringert, gibt es dennoch weiterhin einen Bedarf
sowohl formelle als auch informelle Mechanismen einzusetzen148.

Die Anwendungsmöglichkeiten für formelle Governance‐Mechanismen, wie z. B.


Verträge oder Überwachungsinstrumente, werden durch die Digitalisierung gefördert
und vereinfacht. Verträge können bspw. mithilfe der Blockchain‐Technologie als
„Smart Contracts“ automatisiert abgewickelt werden. Die vertraglichen Vereinbarun‐
gen werden in einem Software Code implementiert, der aus Wenn-Dann-Regeln beste‐
het und die eigenständige und automatisierte Ausführung der Verträge ermöglicht149.
Die Abwicklung von Smart Contracts kann dabei deutlich schneller erfolgen als die
Umsetzung herkömmlicher Verträge, da die klaren Regelungen im Software‐Code
kaum Interpretationsspielraum zulassen. Zudem werden aufgrund der Anwendung
der Blockchain‐Technologie keine Intermediäre, wie Anwälte oder Notare, bei der
Umsetzung der Verträge benötigt, was die Abwicklung von Transaktionen kosten‐
günstiger werden lässt150.

Neben Smart Contracts ermöglicht die Digitalisierung auch eine verbesserte Kontrolle
innerhalb von Wertschöpfungsnetzwerken mithilfe digitaler Überwachungsmöglich‐
keiten151. Durch den stetigen, teils automatisierten Austausch von Daten und Informa‐
tionen haben Unternehmen einen besseren Einblick in die Aktivitäten der Partner. Bei
Nicht‐Einhaltung von Vereinbarungen oder Verträgen können Unternehmen leichter

146 Vgl. BÜYÜKÖZKAN/GÖÇER (2018).


147 Vgl. CHOW ET AL. (1999); KELLER ET AL. (2021a).
148 Vgl. KELLER ET AL. (2021a).
149 Vgl. KUMAR ET AL. (2020); TREIBLMAIER (2018).
150 Vgl. KELLER (2022).
151 Vgl. KACHE/SEURING (2017).

86
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

und schneller die Missstände erkennen und entgegenwirken. Diese verbesserten Kon‐
trollmöglichkeiten können dazu führen, dass Unternehmen sich zuverlässiger an ihre
vertragliche Vereinbarung halten. Durch die verbesserten digitalen, formellen Kon‐
trolloptionen werden daher informelle Mechanismen seltener verwendet, um die Um‐
setzung von Verträgen durchzusetzen.

Andererseits können die digitalen Kontrollmöglichkeiten jedoch auch zu einem un‐


vollständigen oder manipulierten Datenaustausch führen, um die Überwachung kriti‐
scher Bereiche im eigenen Unternehmen durch die Partner zu unterbinden. Um zu‐
mindest den vollständigen Austausch der benötigten Daten und Informationen zu
fördern, können Verträge abgeschlossen werden, welche die auszutauschenden Daten
definieren.

Während die formellen Mechanismen durch die Automatisierung von Verträgen mit‐
hilfe von Smart Contracts und durch neue Überwachungsmöglichkeiten an Bedeutung
gewinnen, wird die Anwendung informeller Governance‐Mechanismen durch die
Digitalisierung behindert. Der durch neue Informations‐ und Kommunikationstechno‐
logien reduzierte persönliche Kontakt zwischen den Unternehmen erschwert die Ent‐
stehung einer engen und vertrauensvollen Beziehung zwischen den Akteuren152. Die‐
se enge und vertrauensvolle Beziehung stellt die Basis zur Koordination mit informel‐
len Mechanismen dar153.

Trotz der erschwerten Möglichkeiten mit informellen Governance‐Mechanismen digi‐


talisierte Unternehmensbeziehungen zu koordinieren, gibt es weiterhin die Notwen‐
digkeit neben formellen auch informelle Mechanismen zur Beeinflussung des Verhal‐
tens der Partner zu verwenden. Die Digitalisierung vereinfacht es aus bisherigen Da‐
ten Ereignisse und Entwicklungen in der Zukunft zu prognostizieren, indem große
Datenmengen mit verschiedenen Methoden ausgewertet werden. Unternehmen kön‐
nen sich durch die verbesserte Datenauswertung deutlich besser auf zukünftige Ereig‐
nisse einstellen und es wird eine längerfristige Planung ermöglicht154. Obwohl die
Datenanalyse sich deutlich verbessert hat, gibt es Ereignisse, welche nicht prognosti‐
ziert werden können, wie bspw. Unfälle oder Katastrophen. In diesen Fällen ist eine
schnelle und flexible Reaktion auf das eingetretene Ereignis notwendig. Da formelle
Mechanismen in ihrer Koordinierungsart eher strukturierender Natur und damit recht
unflexibel sind, sind weiterhin informelle Mechanismen notwendig, um spontan auf
unvorhersehbare Ereignisse reagieren und die Partner entsprechend koordinieren zu
können.

Ein weiterer Aspekt, der die fortwährende Bedeutung informeller Mechanismen un‐
terstreicht ist die Möglichkeit, die tatsächlichen Intentionen der Partner mit informel‐
len Mechanismen besser erfassen zu können. Während viele Gespräche und Dienstrei‐
sen durch die digitale Kommunikation abgelöst werden können, ist es dennoch not‐

152 Vgl. KELLER ET AL. (2021a).


153 Vgl. PILBEAM ET AL. (2012).
154 Vgl. SEYEDAN/MAFAKHERI (2020).

87
Logistikkonzeption
2
wendig mit den Partnern regelmäßig persönlich in Kontakt zu treten. Durch inoffiziel‐
le Gespräche können Inhalte ausgetauscht werden, welche z. B. nicht im E‐Mail‐
Verkehr Platz finden würden. Dabei können durch die nonverbale Kommunikation
auch zusätzlich die tatsächlichen Intentionen der Partner erkannt werden.

Die Digitalisierung hat demnach einen sehr großen Einfluss auf Wertschöpfungsnetz‐
werke und ihre Koordination mit Governance‐Mechanismen. Zusammenfassend lässt
sich eine deutliche Vereinfachung und Verbesserung der Koordinierung mit formellen
Governance‐Mechanismen feststellen. Der Einsatz informeller Mechanismen wird
zwar durch die Digitalisierung erschwert, jedoch ist er dennoch notwendig, um auf
unerwartete Ereignisse flexibel reagieren zu können und die tatsächlichen Intentionen
der Partner besser einschätzen zu können155.

2.4.4 Sustainability Governance


Nachhaltigkeit (Sustainability) bezeichnet ein Handlungsprinzip, bei der die Bedürf‐
nisse der Gegenwart befriedigt werden sollen, ohne zu riskieren, dass künftige Gene‐
rationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können156. Es werden durch die
Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Aspekte die drei Dimensi‐
onen der nachhaltigen Entwicklung nun zusammen betrachtet. Diese Sichtweise der
unternehmerischen Nachhaltigkeit steht in engem Zusammenhang mit dem Manage‐
mentansatz Corporate Social Responsibility (CSR).

Corporate Social Responsibility präzisiert die Art und Weise, wie Unternehmen ge‐
genüber verschiedenen internen und externen Anspruchsgruppen (Stakeholder) Ver‐
antwortung übernehmen müssen157. Diese Anspruchsgruppen unterscheiden sich
hinsichtlich deren Bedeutung für das Unternehmen, wobei eine gänzliche Befriedi‐
gung der Ansprüche aller Stakeholder jedoch nicht möglich ist, da deren prinzipiell
uneingeschränkten Ansprüchen die Knappheit von Gütern gegenübersteht. Aus die‐
sem Grund sollte die Verteilung der erwirtschafteten Wertschöpfung so erfolgen, dass
die Ressourcenlieferung der Stakeholder auf möglichst wirtschaftliche Weise nachhal‐
tig sichergestellt wird. Insbesondere kann eine Vereinbarung unternehmerischer Ziele
mit Stakeholder‐Interessen zu Win‐win‐Situationen für das Unternehmen und für
seine Stakeholder führen. Unternehmen sollen im Sinne der CSR jedoch nicht nur
Verantwortung für ihre Stakeholder übernehmen, sondern der Befriedigung der Be‐
dürfnisse der Gesellschaft als Ganzes dienen. Somit sollen Unternehmen Verantwor‐
tung für ihr wirtschaftliches Handeln und deren Auswirkung auf die soziale und
ökologische Umwelt übernehmen.

Die soziale Verantwortung bzw. die soziale Nachhaltigkeit beinhaltet die Berücksichti‐
gung der sozialen Wirkungen des wirtschaftlichen Handelns auf die Umwelt. Dazu

155 Vgl. KELLER ET AL. (2021a).


156 Vgl. WORLD COMMISSON ON ENVIRONMENT AND DEVELOPMENT (1987, S. 8).
157 Vgl. VAN MARREWIJK (2003).

88
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

gehören die Berücksichtigung der Menschenrechte, der Arbeitsbedingungen und der


Geschäftspraktiken während des gesamten Produktlebenszyklus sowie Bildung, Ge‐
sundheit und Sicherheit der Beteiligten innerhalb der Wertschöpfungskette158. Die
ökologische Verantwortung betrachtet die Auswirkungen des unternehmerischen
Handelns auf die unmittelbare, natürliche Umwelt. Zu berücksichtigen sind Emissio‐
nen, der Abbau und die Beschaffung von Rohmaterialien, die Verschmutzung der
Umwelt durch Produktionsabfälle und die Energieversorgung entlang der Wertschöp‐
fungskette159. Ein Unternehmen kann der eigenen CSR nur dann gerecht werden,
wenn auch die Partner auf allen Wertschöpfungsstufen der Supply Chain diese Anfor‐
derungen erfüllen.

Sustainability Governance ist ein Teilbereich der Governance und stellt ein Regelwerk
für die Koordinierung und Gestaltung sowohl der internen als auch externen Unter‐
nehmensbeziehungen dar, um die ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhal‐
tigkeitsziele umzusetzen160.

2.4.4.1 Nachhaltigkeitsstandards
Nachhaltigkeitsstandards beinhalten einerseits die von Regierungen aufgestellten
minimalen sozialen und ökologischen Standards und umfassen andererseits auch die
von Unternehmen freiwillig aufgestellten, über regulatorische Standards hinausge‐
hende Anforderungen. Unternehmen, welche bestimmte Zertifizierungen vorweisen
können, erhalten die Legitimität für ihr wirtschaftliches Handeln und das Unterneh‐
men wird in der Außenwirkung als nachhaltig repräsentiert. Daraus können wirt‐
schaftliche Vorteile wie z. B. eine höhere Kundenbindung resultieren. Nachhaltigkeits‐
standards tragen auch dazu bei die Unsicherheiten in der Supply Chain zu minimie‐
ren, da insbesondere bei Zertifizierungsstandards die Informationsasymmetrie abge‐
baut und somit die Transparenz erhöht werden161.

Nachhaltigkeitsstandards lassen sich in prinzipienbasierte Standards, Zertifizierungs‐


standards und Berichterstattungsstandards unterteilen162. Prinzipienbasierte Stan‐
dards beinhalten allgemeine Anforderungen für die Verbesserung der Nachhaltigkeit,
sie überprüfen oder überwachen die Unternehmensleistung jedoch nicht. Dazu gehört
z. B. der United Nations Global Compact, eine im Jahr 2000 gegründete globale Initia‐
tive der Vereinten Nationen, die Unternehmen dabei unterstützt, sich freiwillig zu
verantwortungsvollen Geschäftspraktiken in den Bereichen Menschenrechte, Arbeits‐
normen, Umweltschutz und Korruption zu bekennen. Im Gegensatz zu prinzipienba‐
sierten Standards wird bei Zertifizierungsstandards die Unternehmensleistung durch
eine dritte Partei gemessen und überwacht sowie die Einhaltung vordefinierter Regeln

158 Vgl. NASSAR ET AL. (2020); AMOAKO ET AL. (2021).


159 Vgl. LONGONI ET AL. (2018).
160 Vgl. GIMENEZ/SIERRA, (2013); FORMENTINI/TATICCHI, (2016).
161 Vgl. SAUER (2021, S. 3).
162 Vgl. JELLEMA ET AL. (2022).

89
Logistikkonzeption
2
geprüft. Ein Beispiel für einen Zertifizierungsstandard für soziale Verantwortung ist
die von der Social Accountability International entwickelte Norm Social Accountabili‐
ty 8000 (SA8000), welche Zwangs‐ und Kinderarbeit, Gesundheit und Sicherheit, Ver‐
einigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen, Diskriminierung, Disziplinarmaßnah‐
men, Arbeitszeiten, Lohnniveau und Managementsysteme umfasst. Die Global Re‐
porting Initiative (GRI) repräsentiert Berichterstattungsstandards für die Nachhaltig‐
keitsberichterstattung aller Organisationen, der weltweit Anwendung findet. Dieser
Berichtsrahmen inkl. des Leitfadens (Sustainability Reporting Guidelines) enthält
Prinzipien und Indikatoren, welche die Unternehmen zur Messung ihrer ökonomi‐
schen, ökologischen und sozialen Leistungsfähigkeit nutzen können, unabhängig von
der Branche, Größe oder dem Standort des Unternehmens. Ziel ist die Erstellung eines
Nachhaltigkeitsberichts der umfassend über die ökonomischen, ökologischen und
sozialen Auswirkungen von Organisationen informiert. Es soll der Vergleich der Leis‐
tungsfähigkeit von Organisationen im Kontext der nachhaltigen Entwicklung im Sinne
des Benchmarkings163 ermöglicht werden.

2.4.4.2 Herausforderungen für die Umsetzung von


Nachhaltigkeitsstandards
Bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstandards werden die Unternehmen mit ver‐
schiedenen spezifischen Herausforderungen konfrontiert. Diese Herausforderungen
betreffen die Verfügbarkeit von Nachhaltigkeitsdaten, Zielkonflikte der Stakeholder,
hohe Investitionskosten sowie fehlende regulatorische Strukturen.

 Verfügbarkeit von Nachhaltigkeitsdaten


Für eine Überprüfung, ob und inwiefern die Partner der Supply Chain Nachhal‐
tigkeitsstandards einhalten, werden Daten z. B. über Prozesse, Produkte und
Dienstleistungen benötigt. Es zeigt sich, dass die Verfügbarkeit, Beschaffung und
die Qualität von Informationen über das Nachhaltigkeitsverhalten von Lieferan‐
ten nicht immer vorliegen. Es mangelt beispielsweise an Informationen zu sozia‐
len Aspekten der Produktion (z. B. Arbeitsbedingungen), an Daten zu Umweltas‐
pekten sowie an grundlegenden Daten wie z. B. dem genauen Standort eines
(Sub‐) Lieferanten164. Dieser Herausforderung kann jedoch mit einer Einführung
der Digitalisierung in der Supply Chain begegnet werden, die eine erhöhte Trans‐
parenz und einen automatischen Austausch von Nachhaltigkeitsdaten ermöglicht.

 Zielkonflikte der Stakeholder


Aufgrund der zahlreichen Partner in einem Wertschöpfungsnetzwerk mit ihren
verschiedenen Interessen resultieren zwangsläufig Zielkonflikte. Bei den Partner‐
unternehmen erfolgt auch eine einseitige Betrachtung der drei Nachhaltigkeitszie‐
le, da oftmals nur ein oder zwei Nachhaltigkeitsziele betrachtet werden. Auffal‐

163 Vgl. Kapitel 4.1.


164 Vgl. FOERSTL ET AL. (2018); O’ROURKE/LOLLO (2021).

90
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke

lend ist auch, dass die sozialen Ziele bisher weniger Beachtung in der Literatur
finden. Die Hauptmotivation von Unternehmen für eine nachhaltige Lieferketten‐
gestaltung resultiert oftmals aus dem Druck der Stakeholder wie Kunden oder
Regierungen. Reputationsschäden, die aus nicht sozialen oder umweltschädlichen
Produktionspraktiken resultieren können, sollen durch die Etablierung von
Nachhaltigkeitsstandards reduziert werden. Einige Partner im Wertschöpfungs‐
netzwerk hingegen fokussieren den Kostenaspekt und richten daran ihr Handeln
aus. Die verschiedenen Zielkonflikte und starres Festhalten an unternehmensei‐
genen Zielen lassen sich jedoch durch eine enge, transparente und vertrauensvolle
Zusammenarbeit reduzieren. Eine enge Kollaboration ermöglicht ein besseres
Verständnis über die Prozesse der Partner, die zu einer wirksameren Abstimmung
innerhalb des Netzwerkes führen kann. Die genaue Auswahl und Bewertung von
möglichen Partnern stellt einen entscheidenden Schritt für die spätere Etablierung
von gemeinsamen Nachhaltigkeitszielen dar und legt die Grundlagen für den
Austausch von Wissen und Technologie. Dabei erfolgt z. B. ein Abgleich der mög‐
lichen Partner mit den unternehmenseigenen Verhaltensrichtlinien, um die Kom‐
patibilität in der späteren Zusammenarbeit zu garantieren. Durch gemeinsame
Entscheidungen und eine ganzheitliche Betrachtung des Wertschöpfungsnetz‐
werks können die verschiedenen Zielsetzungen der Partner berücksichtigt und
harmonisiert werden. Die Überwachung und die Überprüfung der vereinbarten
Ziele kann z. B. über Audits durch das Hauptunternehmen bei den Lieferanten
vorgenommen werden165.

 Hohe Investitionskosten
Für eine proaktive Etablierung von Nachhaltigkeitsstandards in Wertschöpfungs‐
netzwerken fallen zunächst hohe Investitionskosten an, die Unternehmen von de‐
ren Umsetzung abhalten können. Die Implementierung von nachhaltigen Struktu‐
ren kann jedoch zu einer Steigerung des Umsatzes führen, da Kunden eine höhere
Zahlungsbereitschaft für nachhaltig produzierte Produkte zeigen. Die damit ver‐
bundenen Investitionskosten werden sich jedoch nur langfristig amortisieren. Ei‐
ne entsprechende Verteilung der anfallenden Kosten und Gewinne muss von An‐
fang an mit berücksichtigt werden. Investitionen in grüne Technologien bei Supp‐
ly Chain Partnern können auch durch die Weiterleitung oder das Aufteilen von
staatlichen Erleichterungen incentiviert werden166.

 Fehlende regulatorische Strukturen


Nachhaltigkeitsstandards, welche durch die Gesetzgebung gestützt werden, kön‐
nen deren Umsetzung vereinfachen. Jedoch mangelt es insbesondere in Entwick‐
lungsländern an existierenden regulatorischen Strukturen. Es zeigt sich auch, dass
durch die hohe Komplexität in Wertschöpfungsnetzwerken die Wirkung von kol‐

165 Vgl. SOUNDARARAJAN ET AL. (2021); BEYERS ET AL. (2022), ZAREI ET AL. (2020); NI/ SUN (2018).
166 Vgl. CHOI ET AL. (2018); DING ET AL. (2018); YOUNIS ET AL. (2020); WU (2016); ZAREI ET AL.
(2020).

91
Logistikkonzeption
2
laborativen Mechanismen auf die Nachhaltigkeit in Netzwerken begrenzt ist, so‐
dass regulatorische Maßnahmen und Standards trotzdem erforderlich sind167.

2.5 Der Bullwhip-Effekt


Vernachlässigen die Wertschöpfungspartner in der Supply Chain den Integrations‐
gedanken und optimieren ihre Prozesse lokal, dann kann man den sogenannten
„Peitscheneffekt“ oder „Bullwhip‐Effekt“ beobachten. Der Bullwhip‐Effekt, der in der
Literatur auch nach seinem Entdecker als „Forrester‐Effekt“168 bezeichnet wird,
besagt, dass aufgrund von Informationsverzerrungen in mehrstufigen Wertschöpf‐
ungsketten die Variabilität in den Bestellmengen und den Beständen umso mehr
zunimmt, je weiter man sich stromaufwärts von der Kundennachfrage entfernt. Der
Bullwhip‐Effekt gilt als wichtiger Impuls zur Entwicklung des Supply Chain Manage‐
ments.

Mit Hilfe einer einfachen Wertschöpfungskette, die nur aus einem Produzenten,
Distributor, Großhändler, Einzelhändler und dem Kunden besteht, konnte FORRESTER
das Problem der Nachfrageverzerrung und ‐aufschaukelung in unternehmensüber‐
greifenden Wertschöpfungsketten nachweisen. Obwohl sich die Kundenbestellmengen
nur gering erhöhen und anschließend einen konstanten Verlauf aufweisen, schaukeln
sich auf jeder weiteren Stufe stromaufwärts der Wertschöpfungskette die Bestell‐
mengen und Lagerbestände überproportional auf (vgl. Abbildung 2‐15).

Der Bullwhip‐Effekt lässt sich mit dem Beergame simulieren, indem den Teilnehmern
eine Rolle innerhalb einer vierstufigen Wertschöpfungskette, bestehend aus Brauerei,
Distributor, Groß‐ und Einzelhändler zugewiesen wird. Die Partner in der
Wertschöpfungskette können frei entscheiden, wie viel sie bestellen bzw. produzieren
wollen. Das Ziel besteht darin, dass in jeder Runde die Bestellmengen der
nachgeordneten Partner möglichst gut erfüllt werden und die Gesamtkosten,
bestehend aus Lagerhaltungs‐ und Fehlmengenkosten, minimiert werden. Den
Partnern in der Wertschöpfungskette sind immer nur diejenigen Bestellmengen
bekannt, die sie selbst betreffen. Die Kommunikation zwischen den Partnern besteht
somit aus der Erteilung von Bestell‐ bzw. Produktionsaufträgen und das Verschicken
von Lieferungen. Allerdings treffen die in einer Runde bestellten Mengen erst nach
einer Verzögerung von zwei Runden ein. Kapazitätsbeschränkungen, unvorher‐
gesehene Produktionsausfälle, Qualitätsprobleme oder Änderungen in den Liefer‐
zeiten werden außer Acht gelassen. Steigt ein relativ konstanter Bedarfsverlauf des
Endkunden nach Bier einmalig auf ein höheres Niveau an, dann ergeben sich
beispielhaft die in der Abbildung 2‐15 angegebenen Ergebnisse eines Spieldurchlaufs
mit 30 Runden.

167 Vgl. Beyers et al. (2022); SOUNDARARAJAN ET AL. (2021)


168 Vgl. FORRESTER (1958, S. 41).

92
2.5
Der Bullwhip-Effekt

Abbildung 2‐15 Bullwhip-Effekt

Brauerei Brauerei
Produktionsmenge

120 100
100

Lagerbestand
80 50

60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20 ‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100

Perioden Perioden

Distributor Distributor

120 100
Bestellmenge

100

Lagerbestand
80 50

60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20 ‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100

Perioden Perioden

Großhändler Großhändler

120 100
Bestellmenge

100
Lagerbestand

80 50

60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20 ‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100

Perioden Perioden

Einzelhändler Einzelhändler

120 100
Bestellmenge

100
Lagerbestand

80 50

60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20
‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100

Perioden Perioden

Kunde

120
Bestellmenge

100
80
60
40
20
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29

Perioden

93
Logistikkonzeption
2
Folgende drei Verhaltensmuster können in der Supply Chain festgestellt werden:

 Die Amplitude und die Varianz in den Bestellungen erhöhen sich stetig vom
Kunden über den Einzelhändler bis zur Brauerei. Die Höchstproduktion der
Brauerei ist sehr viel höher als die Spitzenbestellung des Einzelhändlers.

 Die Bestellmengen und die Lagerbestände fluktuieren, es ergibt sich eine Schwin‐
gungskurve mit einer Schwingungsdauer von etwa 20 Wochen.

 Es erfolgt eine Phasenverschiebung, d. h. wenn man sich vom Einzelhändler zur


Brauerei flussaufwärts bewegt, dann erreichen die Bestellungen ihren Höchstwert
immer später.

Beispiel 2.5.1:

Anfang der 1990er Jahre hat der Konsumgüterhersteller Procter & Gamble den Bull‐
whip‐Effekt anhand der Bestellmengen von Pampers‐Windeln erstmals in der Praxis
nachgewiesen. Der Logistikabteilung des Unternehmens ist aufgefallen, dass die Be‐
stellmengen der Großhändler, die von Procter & Gamble beliefert werden, unregelmä‐
ßige Schwankungen aufweisen, obwohl die Marktnachfrage, die durch die Babys aus‐
gelöst wird, konstant ist. Dadurch ist es zu Schwierigkeiten in der Kapazitätsplanung
und zum Aufbau von Beständen bei Procter & Gamble gekommen. Untersuchungen
der Supply Chain haben ergeben, dass die Bestellmengenschwankungen auf der Stufe
der Einzelhändler noch relativ gering sind, sich auf der Stufe der Großhändler vergrö‐
ßern und die Bestellmengen, die Procter & Gamble seinen Zulieferern übermittelt,
noch stärker schwanken. Eine Analyse hat ergeben, dass die Bestellmengen bereits
nach der ersten Stufe, dem Einzelhändler, nicht mehr mit dem ursprünglichen Bedarf
der Babys korrelieren und die Varianz der Nachfrage von Stufe zu Stufe größer
wird169.

2.5.1 Ursachen für und Maßnahmen gegen den Bullwhip-


Effekt
Für den Bullwhip‐Effekt lassen sich verschiedene Ursachen finden, die sich in real
existierenden Supply Chains aufgrund komplexer Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen
ergeben. In der Praxis kann der Bullwhip‐Effekt nicht vollständig eliminiert, er kann
jedoch durch die Kombination geeigneter Maßnahmen reduziert werden. Im Folgen‐
den werden die wichtigsten Ursachen für den Bullwhip‐Effekt diskutiert und an‐
schließend Maßnahmen zur Reduzierung dieses Effektes angegeben.

169 Vgl. LEE ET AL. (1997).

94
2.5
Der Bullwhip-Effekt

2.5.1.1 Zeitliche Verzögerung der Informationsübermittlung


Der Einzelhändler prognostiziert auf der Grundlage vergangener Verkaufsdaten die
Kundennachfrage und gibt dem Großhändler Informationen zu Nachfrageänderungen
in Form von Bestellungen weiter. Diese Bestellungen stellen dann flussaufwärts die
Grundlage für die weitere verzögerte Informationsweitergabe bis zum Produzenten
dar. Bis sich die Partner auf die Nachfrageänderungen eingestellt haben, kann sich der
tatsächliche Absatz jedoch anders entwickelt haben als prognostiziert, sodass der Wa‐
renbestand bei den Partnern in der Supply Chain zu‐ oder abnimmt. Um diese Be‐
standsveränderungen auszugleichen, passen die Partner ihre zukünftigen Bestellmen‐
gen überproportional zur Nachfrageschwankung an. Auf diese Weise erhalten die
Partner flussaufwärts in der Supply Chain verfälschte Nachfragedaten, auf deren
Grundlage sie Prognosen sowie Kapazitäts‐ und Produktionsplanungen durchführen.
Zur Erhöhung der eigenen Lieferzuverlässigkeit integrieren die Partner in der Wert‐
schöpfungskette in ihre Bestellprognosen Sicherheitsbestände. Somit erhöhen sich die
Schwankungen der Bestellmengen flussaufwärts immer mehr und übersteigen die
tatsächlichen Nachfrageänderungen der Kunden. Bei einem Nachfragerückgang wer‐
den die Aufträge aus den Sicherheitsbeständen bedient und die Bestellmengen verrin‐
gert. Als Resultat ergeben sich beträchtliche Schwankungen der Auftragsvolumina
und eine ungleichmäßige Auslastung der Kapazitäten.

Durch die dezentrale Informationsübermittlung zwischen jeweils zwei benachbarten


Partnern in der Wertschöpfungskette wird eine Durchgängigkeit und vollständige
Transparenz über die aktuelle Marktnachfrage verhindert. Die zeitliche Verzögerung
der Informationsübermittlung lässt sich deutlich reduzieren, wenn die Informationen
bzgl. der Endkundennachfrage nicht dezentral sondern zentral bereitgestellt werden.
Durch den Einsatz entsprechender Informations‐ und Kommunikationstechnologien
kann in der Praxis eine zentrale Informationsübertragung im Rahmen von strategi‐
schen Partnerschaften mit dem ECR‐ bzw. CPFR‐Konzept umgesetzt werden170. Durch
den langfristigen Aufbau von Vertrauen wird ein offener Informationsaustausch mög‐
lich. Bestände können durch Informationen ersetzt, die Reaktionsfähigkeit erhöht
sowie Überbestände und Überkapazitäten vermieden werden. Durch eine gemeinsa‐
me Planung und Steuerung der Wertschöpfungskette können außerdem die Gesamt‐
kosten gesenkt und ein höherer Servicegrad erreicht werden.

2.5.1.2 Unterschiedliche Prognoseverfahren


Jeder Partner in der Wertschöpfungskette erstellt eine eigene Prognose für den zu
erwartenden Bedarf. Die Bedarfsprognose wird jeweils von den vergangenheits‐
bezogenen Bedarfs‐, Bestands‐ und Lieferdaten sowie von zukunftsbezogenen Daten
beeinflusst. Auch hängt die Wahl des zu verwendeten Prognoseverfahrens von der Art
des Bedarfs (z. B. konstant, trendförmig, saisonal) ab. Einfache Prognosemodelle füh‐

170 Vgl. Kapitel 4.4.1 und 4.4.2.

95
Logistikkonzeption
2
ren zu einer verspäteten Reaktion bzw. Unter‐ oder Überschätzungen von Trends und
Saisoneinflüssen und verstärken somit das Aufschaukeln der Nachfrage entlang der
Wertschöpfungskette. Falls zusätzlich lange Lieferzeiten bestehen, wird die prognosti‐
zierte Menge noch um Sicherheitsbestände erhöht. Die Prognosen verzerren sich im‐
mer stärker, je weiter man sich flussaufwärts in der Lieferkette befindet, denn die
Prognosen der Partner basieren wiederum auf (fehlerhaften) Prognosen seines unmit‐
telbaren Nachfolgers flussabwärts in der Wertschöpfungskette.

Eine Verbesserung der Prognosequalität kann dadurch erzielt werden, indem die
Nachfragedaten am Ende der Wertschöpfungskette allen Partnern zur Verfügung
gestellt werden. Durch diese Transparenz kennt jeder Partner in der Wertschöpfungs‐
kette die tatsächliche Nachfrage beim Endkunden und kann seine Planung darauf
abstimmen. Eine zwischen den Partnern abgestimmte und transparente Prognose
kann beispielsweise mit dem CPFR‐Konzept171 realisiert werden. Dadurch können
genauere Prognosen erstellt, die Lagerbestände gesenkt und Kapazitäten genauer
geplant werden. Es wird vermieden, dass ein Partner innerhalb der Wertschöpfungs‐
stufe etwas prognostizieren muss, was bei einem anderen Partner bereits bekannt ist.
Eine andere Möglichkeit besteht im Direktverkauf an Endkunden, um an die relevan‐
ten Nachfragedaten zu gelangen.

2.5.1.3 Unterschiedliche Bestellperioden


Der Bestellprozess wird in vielen Unternehmen nicht kontinuierlich. sondern in perio‐
dischen Abständen, z. B. wöchentlich, zweiwöchentlich oder monatlich durchgeführt.
Um Transport‐ und fixe Bestellkosten zu reduzieren werden Bestellungen gesammelt
und zu bestimmten Zeitpunkten an den Lieferanten weitergeleitet. Da die Kunden
eines Unternehmens ihre Bestellperioden nicht synchronisieren und diese sich somit
teilweise überlappen, wird die Variabilität der Bestellungen beim Vorlieferanten er‐
höht, sodass dessen Kapazitäten ungleichmäßig beansprucht und als Folge höhere
Sicherheitsbestände vorgehalten werden (vgl. Abbildung 2‐16). Als Resultat dieser
unterschiedlichen Bestellperioden tritt eine Nachfrageverstärkung auf, die als Bur‐
bidge‐Effekt bezeichnet wird172.

Zur Reduzierung des Burbidge‐Effekts sind Auftragsbündelungen zu verhindern,


sodass durch eine Verringerung der Bestellmengen die Bestellfrequenzen erhöht wer‐
den. Falls sich alle Bestellungen der Kunden gleichmäßig z. B. über einen Monat ver‐
teilen, dann würde sich der Bullwhip‐Effekt minimieren. Dazu müssen geeignete
Transport‐ und Bestellprozesse entwickelt werden, um die steigenden Kosten der
Auftragsbearbeitung bei kontinuierlichen Bestellungen zu reduzieren. Beispielsweise
können die Kosten pro Bestellung durch den Einsatz moderner IuK‐Technologien
reduziert werden. Transportkosten lassen sich durch den Einsatz eines Spediteurs, der
eine Konsolidierung der Bestellungen von verschiedenen Lieferanten vornimmt, ver‐

171 Vgl. Kapitel 4.4.2.


172 Vgl. BURBIDGE (1996).

96
2.5
Der Bullwhip-Effekt

ringern. Weiterhin lassen sich geringere Transportkosten durch die Lieferung ganzer
Wagenladungen mit Mischpaletten erzielen. Lieferanten können die Auftragsbünde‐
lungen auch dadurch vermeiden, dass sie auf Mindestbestellmengen verzichten.

Abbildung 2‐16 Burbidge-Effekt

Aufträge
Durchschnittliche
Nachfrage
Tatsächliche
Nachfrageschwankung
Induzierte Nachfrage‐
schwankung durch unter‐
schiedliche Bestellperioden

Zeit

2.5.1.4 Lange Lieferzeiten der Zulieferer


Durch den direkten Zusammenhang bei der Berechnung des Sicherheitsbestands und
der Wiederbeschaffungsmengen zur Lieferzeit lässt sich erkennen, dass mit steigender
Lieferzeit auch die Bestellmengen steigen. Lange Lieferzeiten verursachen beträchtli‐
che zeitliche und somit auch mengenmäßige Verzerrungen und führen ebenfalls zu
einer Verstärkung der Varianz der Nachfrage. Je länger die Lieferzeiten, desto stärker
wirken sich Bestellmengenerhöhungen auf die nächsten Stufen aus und verursachen
dort eine Erhöhung der Nachfragemenge sowie des Sicherheitsbestands.

Zur Reduzierung der Lieferzeiten müssen moderne Distributionskonzepte umgesetzt


werden. Durch eine Reduktion der Stufigkeit des Distributionssystems verbunden mit
Direktbelieferungen, den Einsatz von Gebietsspediteuren, Express‐Diensten oder dem
Just‐in‐Time‐Konzept lassen sich Lieferzeiten reduzieren.

2.5.1.5 Preisschwankungen
Hersteller und Distributoren bieten in periodischen Abständen immer wieder beson‐
dere Angebote, wie beispielsweise Preissenkungen, Mengenrabatte, Coupons oder
Boni an, die in Preisschwankungen resultieren. Ebenso werden größere Mengen auf
Vorrat gekauft, wenn man zukünftige Preisanstiege befürchtet. Oft werden daher
Waren nicht bestellt wenn sie benötigt werden, sondern wenn sie gerade günstig zu
erwerben sind. Als Ergebnis ergeben sich erhöhte Bestellmengen, die nicht den aktuel‐
len Bedarf widerspiegeln. Die Nachfrage erhöht sich kurzzeitig, bricht nach der Ver‐

97
Logistikkonzeption
2
kaufsaktion aber in der Regel stark ein und stimmt nicht mehr mit dem eigentlichen
Bedarf überein.

Als geeignete Gegenmaßnahme sollten die Lieferanten fixe Preise festlegen, sodass
überhöhte Bestellmengen durch Preissenkungen oder angekündigte Preiserhöhungen
vermieden werden. Diese Fixpreis‐Strategie wird als Every Day Low Price (EDLP)‐
Strategie bezeichnet und ermöglicht eine stabile Nachfrage. Bei dieser Strategie wer‐
den die Preise anfänglich etwas reduziert und bleiben dann auf diesem niedrigeren
Niveau. Ein Kauf auf Vorrat lohnt sich nun für den Kunden nicht mehr und die Ab‐
verkaufsdaten spiegeln den realen Endkundenbedarf wider. Preisnachlässe sollten
auch so gestaltet sein, dass sie sich nicht nur auf komplette Paletten und Lkw‐
Ladungen, sondern auch auf mehrere Teillieferungen beziehen. Dadurch können Si‐
cherheitsbestände reduziert und eine gleichmäßige Nachfrage gewährleistet werden.

2.5.1.6 Mengenkontingentierung
Übersteigt die Nachfrage das Angebot eines Lieferanten, dann rationiert der Lieferant
die Bestellmengen (shortage gaming, rationing) i. d. R. im Verhältnis zu den bestellten
Mengen. Vermutet ein Kunde eine Mengenrationierung, dann wird dieser seine Be‐
stellmengen soweit erhöhen, bis er unter Berücksichtigung der Kontingentierung seine
benötigte Bestellmenge erhält. Beim Lieferanten entsteht dadurch der Eindruck einer
höheren Nachfrage, die er bei seiner zukünftigen Planung fälschlicherweise berück‐
sichtigt. Wenn sich die Angebotslage wieder entspannt hat, dann fallen plötzlich die
Bestellmengen wieder zurück oder Bestellungen werden sogar storniert.

Anstelle einer zu den aktuellen Bestellmengen proportionalen Rationierung sollte der


Lieferant sein knappes Angebot proportional zu den historischen Bestellmengen ver‐
teilen. Somit wird der Anreiz zu übertriebenen Bestellmengen reduziert. Durch das
Offenlegen der Informationen erhält der Lieferant nicht den Eindruck einer überhöh‐
ten Kundennachfrage. Des Weiteren können in Lieferantenvereinbarungen Klauseln
festgelegt werden, die eine Stornierung von überhöhten Bestellmengen verbieten.

2.5.2 Quantifizierung des Bullwhip-Effekts


Der Anstieg der Varianz in den Bestellmengen, die sich im Beergame vom Kunden
über den Einzelhändler bis zur Brauerei zeigt, kann an einer einfachen zweistufigen
Wertschöpfungskette, bestehend aus dem Einzelhändler und dem Produzenten, er‐
klärt werden. Im Folgenden soll die relative Varianz Var(q)/Var(d), d. h. der Quotient
aus der Varianz des vom Einzelhändler beobachteten Kundenbedarfs d und des von
ihm an den Produzenten weitergegebenen Bedarfs q für diese zweistufige Wertschöp‐
fungskette berechnet werden. Zwischen Produzent und Einzelhändler wird eine Lie‐
ferzeit L unterstellt, sodass eine Bestellung des Einzelhändlers am Ende von Periode t
zu Beginn der Periode t+L eintrifft. Es wird angenommen, dass der Einzelhändler

98
2.5
Der Bullwhip-Effekt

aufgrund des konstanten Bedarfs des Endkunden für die Prognose des zukünftigen
Bedarfs dˆt 1 das Verfahren der gleitenden Durchschnitte – ausgehend von der Periode
t für die letzten n Perioden – verwendet:
t
 di
dˆt 1  i  t  n 1
n

Unter Berücksichtigung der Lieferzeit L gilt für die vom Einzelhändler geschätzte
Kundennachfrage dˆt 1  L  dˆt 1 .
L

Es wird unterstellt, dass der Einzelhändler eine (t,St)‐Bestellpolitik anwendet. Somit


wird in festen Zeitintervallen t das Lager auf einen Sollbestand St aufgefüllt, wobei
unter der Annahme unabhängiger und identisch normalverteilter Bestellmengen des
Einzelhändlers gilt:

S t 1  dˆtL1  k  ˆ tL1  L  dˆt 1  k  L  ˆ t 1


Hierbei ist ˆ t 1 die geschätzte Standardabweichung der Kundennachfrage innerhalb
L

der Lieferzeit L und k der vom  ‐Servicegrad abhängige Sicherheitsfaktor. Für das
Verhältnis der Varianzen gilt nun173

Var (q) 2 L 2 L2
 1  2
Var (d ) n n

Es ist deutlich zu erkennen, dass eine längere Lieferzeit L zu einer Erhöhung der rela‐
tiven Varianz führt und somit eine wesentliche Ursache für den Bullwhip‐Effekt dar‐
stellt. Die relative Varianz lässt sich mit einer größeren Anzahl n an Beobachtungen
reduzieren. Dies hat allerdings zur Folge, dass immer weiter in der Vergangenheit
liegende Verbrauchswerte in die Schätzung der zukünftigen Kundennachfrage einbe‐
zogen werden und somit die Prognose nicht dem aktuellen Bedarf entspricht.

Eine zentrale bzw. dezentrale Bereitstellung der Bedarfsinformation hat ebenfalls Aus‐
wirkungen auf die Erhöhung der Varianz. Werden die Bedarfsinformationen z. B. mit
Hilfe des CPFR‐Konzepts zentral bereitgestellt, dann verfügen alle Partner in der
Wertschöpfungskette über eine zwischen den Partnern abgestimmte und transparente
Bestellprognose des Einzelhändlers. Für die Varianz der Bestellmengen der Stufe j der
Wertschöpfungsstufe im Verhältnis zur Varianz der Kundennachfrage gilt dann174:
j j
j 2 Li 2(  Li ) 2
Var (q ) i 1 i 1
 1 
Var ( d ) n n2

173 Vgl. SIMCHI‐LEVI ET AL. (2008, S. 157).


174 Vgl. SIMCHI‐LEVI ET AL. (2008, S. 159).

99
Logistikkonzeption
2
Mit Li wird die Lieferzeit zwischen den Stufen i und i+1 bezeichnet. Die Varianz der
Bestellmengen einer Stufe j in der Wertschöpfungskette ist somit eine mit der Summe
der Lieferzeiten zwischen dem Einzelhändler und der Stufe j ansteigende Funktion.

Im Fall einer dezentralen Bedarfsinformation wird die Bedarfsprognose unabgestimmt


auf jeder Stufe der Wertschöpfungskette separat getroffen. Die Varianz der Bestell‐
mengen der j‐ten Stufe der Wertschöpfungskette im Verhältnis zur Varianz der Kun‐
dennachfrage kann dann wie folgt berechnet werden175:

Var (q j ) j 2 L 2 L2
  (1  i  2i )
Var ( d ) i 1 n n

Auch in diesem Fall entspricht Li der Lieferzeit zwischen den Stufen i und i+1. Es ist
ersichtlich, dass sich auf jeder Stufe j der Wertschöpfungskette die relative Varianz bei
der dezentralen Bedarfsinformation multiplikativ erhöht und somit deutlich höher an‐
steigt als bei einer zentralen Bedarfsinformation.

Beispiel 2.5.2:

Betrachtet wird eine zweistufige Wertschöpfungskette bestehend aus einem Einzel‐


händler und einem Produzenten, wobei die Lieferzeit L vom Produzenten zum Ein‐
zelhändler eine Periode beträgt. Zur Berechnung des gleitenden Durchschnitts werden
zunächst die letzten n=5 Perioden herangezogen. Für die Varianz des vom Einzelhänd‐
ler an den Produzenten weitergegebenen Bedarfs q gilt dann

Var ( q )  1,48  Var ( d ) ,


d. h. sie ist um mindestens 48% höher als die Varianz der Kundennachfrage. Werden
für die Berechnung des gleitenden Durchschnitts die letzten n=10 Bedarfswerte be‐
rücksichtigt, dann beträgt die Varianz des vom Einzelhändler an den Produzenten
weitergegebenen Bedarfs q immer noch mindestens 22% der Varianz der Kundennach‐
frage:

Var ( q )  1,22  Var ( d )


Eine Erhöhung der Lieferzeit von einer auf zwei Perioden würde bei n=5 zu einer
Varianzerhöhung von mindestens 112% und bei n=10 zu einer Varianzerhöhung von
mindestens 48% führen.

175 Vgl. SIMCHI‐LEVI ET AL. (2008, S. 160).

100
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107
3 Prozessketten in der Logistik

Das Denken in Prozessen löst die durch starre Hierarchiemuster geprägte Aufbau‐
organisation durch eine an bereichsübergreifenden Prozessen ausgerichtete Ablauf‐
organisation ab. Die Prozessorientierung ist im Gegensatz zur Ablauforganisation
nicht auf Stellen oder Abteilungen beschränkt, sondern zielt auf die ganzheitliche
Optimierung des gesamten Wertschöpfungsprozesses ab. Das heutige Prozess‐
verständnis ist gerade von dem Gedanken einer übergreifenden Sichtweise gekenn‐
zeichnet, d. h Prozesse werden unabhängig von organisatorischen und funktionalen
Bereichen betrachtet. Ein Unternehmen lässt sich somit als komplexes, offenes System
von Prozessen darstellen, die in vielfältigen Wechselbeziehungen zu internen und
externen Kunden sowie Lieferanten stehen. Das Konzept der prozessorientierten Mo‐
dellbildung logistischer Abläufe bietet einen geeigneten Ansatz, um Verbesserungs‐
potenziale aufzeigen zu können. Auf der Basis von Prozessketten wird die notwendige
Transparenz für logistische Abläufe geschaffen und somit das Prozessverständnis und
die Prozessbeherrschung gefördert176.

Lernziele:

 Konstitutive und klassifizierende Merkmale eines Prozesses


 Prozessmodellierung mit selbstähnlichen Prozessketten und Process Mining
 Prozessleistungstransparenz bzgl. Kosten, Zeit, Qualität und Flexibilität
 Prozesskostenrechnung und Target Costing
 Balanced Scorecard und Supply‐Chain‐Operations‐Reference‐Modell
 Prozessverbesserung und Prozesserneuerung
 Qualitätssicherung logistischer Prozesse

3.1 Der Prozessbegriff


Das Denken in Prozessketten zählt zu einem zentralen Bestandteil jeder Logistikkon‐
zeption. Die prozessorientierte Betrachtungsweise einer Unternehmung ist nicht neu.
Bei NORDSIECK, der zusammen mit HENNIG die analytische Trennung von Aufbau und
Ablauf eingeführt hat, kommt dynamischen bzw. prozessualen Elementen mindestens

176 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen LASCH (1998, S. 51ff) entnommen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 109
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_3
Prozessketten in der Logistik
3
die gleiche Bedeutung wie Bestandselementen zu177. Sein Prinzip der Aufgabengliede‐
rung nach dem Prozess der Leistung ist sogar als Primat der Prozessorganisation in‐
terpretierbar178. NORDSIECK’S ablaufmäßige Betrachtung der Betriebsaufgaben lenkt
die Aufmerksamkeit auf die

 Möglichkeit, Netzbilder betrieblicher Abläufe zu zeichnen,

 zeitliche und räumliche Verkettung betrieblicher Abläufe,

 Rolle der Zeit als Gestaltungsdimension,

 verschiedenen Möglichkeiten der Verbindung der Verrichtungen und der Gestal‐


tung der Bindungsdichte

und nimmt somit aktuelle Prozesskettenstrukturen vorweg, die heute Hilfsmittel lo‐
gistischer Gestaltungs‐ und Rationalisierungsbemühungen sind. Typisch für die neuen
Beiträge zur Prozessorganisation ist die Betonung der Rolle der modernen Informa‐
tions‐ und Kommunikationstechnik als Katalysator bei der Optimierung von Ge‐
schäftsprozessen, die Ausrichtung an den Kundenbedürfnissen und die konsequent
betriebene Umsetzung der Prozessorientierung.

Der Begriff „Prozess“ hat seinen etymologischen Ursprung in dem lateinischen Wort
“procedere“, das so viel wie vorangehen oder vorgehen bedeutet. In der betriebswirt‐
schaftlichen Literatur sind je nach der spezifischen Sichtweise unterschiedliche Bedeu‐
tungen und Definitionsversuche für den Begriff Prozess zu finden, wobei die Termini
Geschäfts‐, Unternehmens‐ oder Leistungsprozess synonym verwendet werden. Die
Managementliteratur versucht unter den Stichwörtern wie „Prozessperspektive“,
„Business Reengineering“ oder „Business Process Redesign“ den Unternehmen ein
höheres Maß an Prozessorientierung zu verleihen. Die Prozessorientierung dient zur
Überwindung der kaum noch aufrechthaltbaren Dichotomie zwischen direkten wert‐
schöpfenden und indirekten Unternehmensbereichen. Ziel dieser radikalen Änderun‐
gen der Organisation sind substantielle Verbesserungen der Leistungsfähigkeit einer
Unternehmung179. Geschäftsprozesse bestehen aus der funktionsüberschreitenden
Verkettung wertschöpfender Aktivitäten, die von Kunden erwartete Leistungen er‐
zeugen und deren Ergebnisse strategische Bedeutung für das Unternehmen haben. Sie
können sich über Unternehmensgrenzen hinweg erstrecken und Aktivitäten von Kun‐
den und Lieferanten einbinden180. Geschäftsprozesse stellen eine zusammenhängende
abgeschlossene Folge von Tätigkeiten dar, die von Aufgabenträgern in organisatori‐
schen Einheiten unter Nutzung der benötigten Produktionsfaktoren geleistet werden.
Unterstützt wird die Abwicklung der Geschäftsprozesse durch betriebliche Informa‐
tions‐ und Kommunikationssysteme.

177 Vgl. NORDSIECK (1934); HENNIG (1934).


178 Vgl. NORDSIECK (1968, S. 10ff).
179 Vgl. HAMMER/CHAMPY (2003, S. 47ff).
180 Vgl. SCHMELZER/ SESSELMANN (2013, S. 6).

110
3.1
Der Prozessbegriff

„Unter Geschäftsprozessmanagement wird ein integriertes Konzept von Führung,


Organisation und Controlling verstanden, das eine zielgerichtete Steuerung der Ge‐
schäftsprozesse ermöglicht. Es ist auf die Erfüllung der Bedürfnisse der Kunden und
anderer Interessensgruppen ausgerichtet und trägt wesentlich dazu bei, die strategi‐
schen und operativen Ziele des Unternehmens zu erreichen“181. Um den komplexen
Aufgaben der Dokumentation, Überwachung und Optimierung von Unternehmensab‐
läufen gerecht zu werden, umfasst das Geschäftsprozessmanagement die folgenden, in
einem Regelkreislauf ablaufenden, drei Phasen der Prozessabgrenzung, der Prozess‐
modellierung und der Prozessführung182.

In der Prozessabgrenzung bzw. ‐entstehung werden zunächst Prozesskandidaten für


jedes Geschäftsfeld abgeleitet, bewertet und ausgewählt. In der sich anschließenden
Prozessmodellierung werden diese ausgewählten Prozesskandidaten aus fachlich‐
konzeptioneller Perspektive modelliert, wobei dies die Schritte Geschäftsprozess‐
modellierung, ‐analyse, ‐restrukturierung und Strategieentwicklung umfasst. Darauf‐
hin werden im Rahmen einer technischen Modellierung die Geschäftsprozessmodelle
bis auf die operative Workflow‐Ebene verfeinert. Die Prozessführung und deren lau‐
fende Überwachung bilden den Abschluss des Lebenszyklus, wobei festgestellte Ab‐
weichungen in Form einer Rückkopplung erneut auf die Teilzyklen der Prozess‐
modellierung übertragen werden, um eine Re‐Modellierung auszulösen. Insbesondere
die Phase der Prozessmodellierung ist für die Prozessidentifikation, ‐analyse und
Ableitung von geeigneten Maßnahmen zur Prozessverbesserung von großer Bedeu‐
tung.

Aufgrund der Tatsache, dass die Abgrenzung des Prozessbegriffs in der Literatur
unterschiedlich vorgenommen wird, soll im Folgenden eine Darstellung der wesentli‐
chen Kriterien und Elemente, die einen Prozess ausmachen, in Form von konstitutiven
und klassifizierenden Merkmalen vorgenommen werden183.

3.1.1 Konstitutive Merkmale eines Prozesses


Konstitutive Prozessmerkmale begründen die Existenz eines Prozesses, d. h ein be‐
stimmter Betrachtungsgegenstand ist genau dann ein Prozess, wenn diese Merkmale
grundsätzlich vorhanden sind. Hierunter fallen die Merkmale Folge von Aktivitäten,
messbarer Input, messbarer Output, Transformation, Determiniertheit, Lieferanten‐
Kunden‐Beziehungen, Anpassungsfähigkeit und Führbarkeit.

Ein Prozess muss aus einer Folge von Aktivitäten, also mindestens zwei Aktivitäten
bestehen. Anstelle des Begriffs Aktivität werden synonym die Termini Aufgaben, Ver‐
richtungen und Tätigkeiten verwendet. Unter einer Aktivität soll ein zielgerichteter
Einzelvorgang in einem Unternehmen verstanden werden, für den eine weitere Unter‐

181 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2013, S. 6).


182 Vgl. GADATSCH (2020, S. 20f).
183 Vgl. SCHUDERER/KLAUS (1994, S. 23ff).

111
Prozessketten in der Logistik
3
teilung nicht mehr sinnvoll ist. Als Kriterien dafür können die geschlossene Bearbei‐
tung an einem Arbeitsplatz oder eine festgelegte Ablaufstruktur ohne Bearbeitungsal‐
ternativen angeführt werden184. In diesem Sinne stellen Aktivitäten die Grundbaustei‐
ne der Unternehmenstätigkeit dar, wobei der Detaillierungsgrad der Betrachtung vom
Untersuchungszweck und der Pragmatik abhängt. Wichtigstes Merkmal einer Aktivi‐
tät ist also die Ausrichtung auf ein Ziel. Beispiele für Aktivitäten sind elementare logis‐
tische Transferaktivitäten wie beispielsweise transportieren, lagern, umschlagen,
kommissionieren oder nicht‐logistische Transformationsaktivitäten wie z. B. umfor‐
men, schneiden, montieren.

Jeder Prozess muss einen messbaren Input besitzen. Unter Input sollen diejenigen
Objekte verstanden werden, an denen im Prozess die Aufgaben verrichtet werden und
die im Prozess eine Änderung erfahren. Inputobjekte lassen sich in physische und
immaterielle Objekte unterteilen. Beispiele für physische Objekte sind Materialien
(z. B. Rohmaterial, Zukaufteile, Halb‐, Fertigerzeugnisse) oder aber auch Dokumente
(z. B. Aufträge, Pläne). Zu den immateriellen Objekten zählen Dienstleistungen, Ar‐
beitsleistungen, Informationen und Rechte. In der Regel wird der Input aus einer
Kombination aus physischen und immateriellen Objekten bestehen. Resultat der
Durchführung eines Prozesses ist ein messbarer Output. Analog zu den Inputobjekten
können auch hier materielle und immaterielle Outputobjekte unterschieden werden.
Der Output eines vorgelagerten Prozesses stellt jeweils den Input eines nachfolgenden
Prozesses dar, sodass sich entlang der Prozesse Objektströme identifizieren lassen.

Innerhalb eines Prozesses erfolgt die Transformation des Inputs in den Output, wobei
eine bewusste Zustandsänderung der Inputobjekte vorgenommen wird. Die Trans‐
formation umfasst neben Bearbeitungsschritten auch logistische Aktivitäten wie lie‐
gen, lagern oder transportieren. Die Zustandsänderung wird von Potenzialelementen
durchgeführt, die ein bestimmtes qualitatives und quantitatives Potenzial aufweisen
und in Personen und Betriebs‐ sowie Arbeitsmittel unterschieden werden können. In
vielen Fällen wird die Transformation auch von beiden Potenzialtypen gemeinsam
durchgeführt.

Mit dem Merkmal Determiniertheit soll die Zielorientierung eines Prozesses, d. h ein
gewollter und geplanter Prozessablauf sichergestellt werden. Von einem Prozess wird
somit verlangt, dass er einen eindeutigen Beginn und ein eindeutiges Ende hat. Um
eine durchgängige Marktorientierung der Prozesse zu schaffen, gehört zu einem Pro‐
zess ein Denken in Lieferanten‐Kunden‐Beziehungen. Jeder am Prozess Beteiligte ist
Kunde vorgelagerter Prozesse und Lieferant für nachgelagerte Prozesse. Diese Bezie‐
hung kann unternehmensintern zwischen Abteilungen bestehen, die am gleichen
Prozess beteiligt sind oder unternehmensextern zwischen dem eigenen Unternehmen
und Kunden bzw. Lieferanten. Nach Bedarf werden zwischen den für den Prozess
verantwortlichen Aktivitäten und den Kunden und Lieferanten Geschäftsprozess‐
vereinbarungen (service level agreements) getroffen. In diesen Vereinbarungen wird

184 Vgl. SCHEER (1992, S. 65).

112
3.1
Der Prozessbegriff

u. a. fixiert, wer zu welchem Zeitpunkt welche Leistung erbringt und wie diese Leis‐
tungen zu kontrollieren sind. Dadurch werden dem liefernden Prozess eindeutige
Leistungsanforderungen vorgegeben, und die Qualität der Prozessleistung kann an‐
hand fixierter Kriterien beurteilt werden.

Die Anpassungsfähigkeit bzw. Flexibilität als weiteres konstitutives Merkmal fordert,


dass Prozesse sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen können. Prozesse müs‐
sen in doppelter Hinsicht anpassungsfähig sein. Zum einen müssen sie trotz leicht
veränderter Aufgabenstellungen den für den Prozess definierten Output bringen. Zum
anderen müssen sich Prozesse auch an neue Anforderungen anpassen und einen ver‐
änderten Output bringen können, wenn dies der Kunde wünscht. Durch die Führbar‐
keit eines Prozesses soll zum Ausdruck gebracht werden, dass ein Prozess durch einen
Prozessverantwortlichen (process owner), der für die Effektivität, Effizienz und An‐
passung des Prozesses verantwortlich ist, führbar sein muss.

3.1.2 Klassifizierende Merkmale eines Prozesses


Mit Hilfe der klassifizierenden Merkmale soll beurteilt werden, in welche Kategorie
ein bestimmter Prozess eingeordnet werden kann. Da eine Klassifikation stets vom
jeweiligen Untersuchungsgegenstand abhängt, ist eine vollständige und objektiv wi‐
derspruchsfreie Prozessklassifikation nicht möglich. Im Folgenden wird deshalb eine
Prozessklassifikation im Sinne einer Prozessbewertung vorgenommen, wobei als klas‐
sifizierende Merkmale die Hierarchie, die Wertschöpfung, die Reichweite und der
Dispositionsspielraum herangezogen werden.

Die Prozesshierarchie als vertikales Klassifikationskriterium erlaubt eine Betrachtung


der Prozesse auf unterschiedlichen Aggregationsebenen. Geschäftsprozesse werden
zweckmäßigerweise so analysiert, dass man von einer Gesamtbetrachtung ausgeht
und die Beschreibung nach und nach weiter verfeinert (vgl. Abbildung 3‐1). Ausge‐
hend von der Geschäftsprozessebene können Subprozesse auf den Ebenen 1 bis n
sowie die Ebene der Aktivitäten als flexible Hierarchieebenen unterschieden werden.
Durch dieses schrittweise absteigende Verfahren ergibt sich eine Hierarchie von Pro‐
zessen, wobei sich die Hierarchieebenen durch ihren unterschiedlichen Detaillie‐
rungsgrad unterscheiden. Die Flexibilität dieser Prozesshierarchie ist dadurch gege‐
ben, dass je nach Untersuchungszweck eine unterschiedliche Anzahl von Hierarchie‐
ebenen gewählt werden kann. Unterste Ebene der Prozesshierarchie bilden stets die
Aktivitäten, für die eine weitere Detaillierung nicht mehr sinnvoll erscheint. Die Zahl
der Geschäftsprozesse ist abhängig von der Größe und Komplexität der Geschäftsein‐
heit, von der Anzahl und Varianz der Kunden sowie von der Anzahl und Varianz der
für die Kunden erzeugten Leistungen185.

185 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 80).

113
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐1 Prozesshierarchie

Geschäftspro‐
zessebene

Subprozess
1. Ebene


Subprozess
n. Ebene

Ebene der
Aktivitäten

In der Betriebswirtschaftslehre wird unter Wertschöpfung der Wert verstanden, den


ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung für den Kunden aus dessen Sicht
darstellt. Der Wert ist dabei im Sinne der betrieblichen Wertschöpfungsrechnung mit
Preis gleichzusetzen. Nur für diesen Wert bzw. Nutzen ist der Kunde bereit, einen
entsprechenden Preis zu bezahlen. Prozesse lassen sich nach ihrem Wertschöpfungs‐
potenzial in unmittelbar, mittelbar, bedingt und nicht wertschöpfend klassifizieren.
Unmittelbar wertschöpfende Prozesse, die auch als Primärprozesse bezeichnet wer‐
den, weisen einen direkten Kundenbezug auf und sind an sich die einzigen Prozesse,
für die der Kunde dem Unternehmen einen dem Nutzen entsprechenden Preis be‐
zahlt. Beispiele für Primärprozesse sind Aktivitäten der Kundenauftragsabwicklung
wie Auftragsbearbeitung, Produktion und Versand. Die mittelbar wertschöpfenden
Prozesse oder Sekundärprozesse versuchen durch ihre Leistungen die Primärprozesse
zu verbessern. Sekundärprozesse unterstützen somit die Primärprozesse und weisen
deshalb einen indirekten Kundenbezug auf. Hierzu gehören Prozesse der Auftrags‐
vorbereitung, Instandhaltung, Qualitätssicherung, Marktanalyse und ‐prognose sowie
personalwirtschaftliche Aktivitäten. Prozesse mit bedingtem Wertschöpfungspotenzial
werden als Tertiärprozesse bezeichnet und weisen eine größere hierarchische und
zeitliche Distanz zu den alltäglichen Wertschöpfungsaktivitäten auf und sind sachlich
und zeitlich von den Primärprozessen weitgehend entkoppelt186. Als Beispiele für
bedingt wertschöpfende Prozesse können die Bilanzbuchführung, die Strategieent‐

186 Vgl. KLAUS (1998, S. 68).

114
3.2
Prozessmodellierung

wicklung, Aktivitäten der Grundlagenforschung oder der Arbeitssicherheit genannt


werden.

Unter die Kategorie der nicht wertschöpfenden Prozesse fallen jene Prozesse, die
überhaupt keinen Bezug zum Kunden aufweisen. Solche Prozesse existieren eigentlich
für diejenigen Autoren nicht, die Wertschöpfung als konstituierendes Merkmal eines
Prozesses ansehen. Allerdings wird im Rahmen von Reorganisationsprojekten gefor‐
dert, dass Prozesse ohne positiven Beitrag zur Wertschöpfung wie z. B. Reklamatio‐
nen, Nacharbeiten, Doppelarbeiten oder Liegen bzw. Warten identifiziert und elimi‐
niert werden. Zu betonen ist, dass eine Kategorisierung nach der Wertschöpfung ei‐
nerseits nicht trennscharf und andererseits auch stets zeitpunktbezogen ist. Aufgrund
geänderter Marktanforderungen können sich mittelbar wertschöpfende Prozesse zu
unmittelbar wertschöpfenden Prozessen ändern. Als Beispiel sei die Qualitätssiche‐
rung genannt, die im Rahmen von Null‐Fehler‐Lieferungen, unter der Voraussetzung
konstanter Vorleistungen, zu höheren Umsatzerlösen des Zulieferers aufgrund höhe‐
rer erzielbarer Preise führt.

Bezüglich des Merkmals Reichweite können Prozesse nach der Prozessgrenze klassifi‐
ziert werden. Prozesse lassen sich danach differenzieren, ob sie Abteilungs‐, Funkti‐
ons‐ oder Unternehmensgrenzen durchschneiden187. Da die Lieferanten‐Kunden‐Be‐
ziehungen mit ihren Leistungsanforderungen zu den konstitutiven Prozessmerkmalen
zählen, steigt der Koordinationsaufwand mit wachsender Prozessreichweite an. Über‐
schreiten Prozesse die Unternehmensgrenze, dann gibt es mindestens einen externen
Kunden oder Lieferanten, in dessen Verantwortung ein Subprozess des unterneh‐
mensübergreifenden Hauptprozesses fällt und der bei Reorganisationsmaßnahmen
mit einbezogen werden muss. Je geringer die Reichweite einzelner Prozesse festgelegt
wird, umso größer wird die Zahl der Prozesse, die im Rahmen von Reorganisations‐
vorhaben zu berücksichtigen sind.

Bezüglich des Dispositionsspielraumes kann eine Klassifikation in repetitive und in‐


novative Prozesse vorgenommen werden. Repetitive Prozesse wie z. B. die Auftrags‐
abwicklung zeichnen sich dadurch aus, dass dieselbe Folge von in der Regel detailliert
festgelegten Aktivitäten immer wieder und wieder durchlaufen wird. Innovative Pro‐
zesse sind dagegen weniger standardisiert. In dieser Prozessklasse bestehen Entschei‐
dungsspielräume bei der Festlegung der Aktivitätenfolge, der Verfahren und der
Hilfsmittel.

3.2 Prozessmodellierung
Prozesskettenmodelle in der Logistik beschreiben Abläufe als eine Menge von ver‐
knüpften Prozessen und dienen der Darstellung von Material‐, Waren‐ und Informati‐
onsflüssen. Entscheidendes Kriterium für die Bildung von Prozessketten ist neben der

187 Vgl. DAVENPORT/SHORT (1990, S. 18).

115
Prozessketten in der Logistik
3
gemeinsamen Zugehörigkeit zu demselben betrieblichen Ablauf vor allem die strikte
Ausrichtung am Kunden‐Lieferanten‐Prinzip, d. h vorgelagerte Prozesse werden stets
als Lieferanten und nachgelagerte Prozesse als Kunden angesehen. Das Unternehmen
wird nicht mehr als Summe einzelner Teilfunktionen gesehen, sondern als System
untereinander vernetzter Prozessketten. Ziel des Prozesskettenmanagements ist es,
nicht mehr einzelne Bereiche isoliert zu verbessern, sondern ein Optimum bezüglich
der relevanten Zielgrößen Kosten, Qualität, Zeit und Flexibilität entlang der gesamten
logistischen Kette anzustreben. Eine Optimierung muss dabei über Funktions‐ und
Unternehmensgrenzen hinausgehen.

Die Gestaltung logistischer Prozesse basiert auf den Grundprinzipien und Methoden
der Prozessmodellierung. Unter Prozessmodellierung wird die Visualisierung, Be‐
schreibung und Detaillierung logistischer Prozessketten auf der Basis einer Prozess‐
struktur‐ und Prozessleistungstransparenz zur ganzheitlichen Analyse von Geschäfts‐
prozessen verstanden188. Die Verwendung von Modellen dient der bewussten Reduk‐
tion von Komplexität durch Isolation und Abstraktion. Dabei werden nur diejenigen
Aspekte in das Prozessmodell aufgenommen, die für die Beschreibung und Analyse
sowie das Verständnis des Prozesses notwendig sind. Da in ein Prozessmodell somit
auch subjektive Elemente einfließen, kann das konstruierte Prozessmodell nur im
Hinblick auf die Zweckmäßigkeit für eine bestimmte Problemstellung, nicht jedoch
dessen Richtigkeit bewertet werden.

3.2.1 Prozessstrukturtransparenz
Unter der Prozessstruktur ist die hierarchische Darstellung aller im Prozess vorkom‐
menden Aktivitäten zu verstehen, wobei jede Ebene ihren eigenen spezifischen Detail‐
lierungsgrad besitzt. Das primäre Ziel der Prozessstrukturtransparenz ist die Visuali‐
sierung der Prozessabläufe, sodass die jeweils relevanten Prozesse sowohl den betei‐
ligten Managementebenen als auch den unmittelbar von der Prozessgestaltung
betroffenen Mitarbeitern transparent gemacht werden.

Die Prozessgestaltung kann Top‐down oder Bottom‐up erfolgen189. Bei der Top‐down‐
Vorgehensweise werden zunächst die Hauptprozesse einer Unternehmung grob aus‐
gegrenzt, die anschließend in Subprozesse respektive Aktivitäten weiter zerlegt sowie
in Raum und Zeit angeordnet werden. Der Bottom‐up‐Ansatz fügt dagegen Aktivitä‐
ten synthetisch zu Subprozessen und Hauptprozessen zusammen.

Ein Prozessmodell, welches die Qualität von Prozessketten in der Logistik bewerten
und Verbesserungspotenziale aufdecken will, muss die dem Prozess zugrunde‐
liegenden Kunden‐Lieferanten‐Beziehungen beschreiben. Ausgehend vom systemisch‐
en Ansatz und in Anlehnung an das Modell der logistischen Wertkette von KLÖPPER
wird im Folgenden ein selbstähnliches Prozessmodell zur Beschreibung von Logistik‐

188 Vgl. SCHOLZ/VROHLINGS (1994a; 1994b).


189 Vgl. GAITANIDES ET AL. (1994b, S. 6ff).

116
3.2
Prozessmodellierung

prozessen definiert190. Dieses Modell basiert auf Prozesskettenelementen, die sich aus
den fünf Strukturelementen Input, Output, Lenkung, Potenzialfaktoren und Trans‐
formation zusammensetzen (vgl. Abbildung 3‐2).

Abbildung 3‐2 Selbstähnliches Prozesskettenelement

Lenkung

Input Transformation Output

Potenzialfaktoren

3.2.1.1 Input und Output


Jedes Prozesskettenelement kommuniziert über die zwei Schnittstellen Input und
Output mit den vor‐ bzw. nachgelagerten Prozesskettenelementen. Beim Input handelt
es sich um eine Kombination aus Material und Informationen, die im Prozess‐
kettenelement verändert werden sollen. Der Output beschreibt den Bedarf bzw. das
Abrufverhalten des nachfolgenden Prozesskettenelements und stellt somit dessen
Input dar. Zwischen Input und Output findet der eigentliche Transformationsvorgang
statt. Durch die Betrachtung von Input und Output wird deutlich, welchen Beitrag das
betrachtete Prozesskettenelement zur Erfüllung der Kundenanforderungen leistet. Sie
bilden damit die Grundlage zur Bewertung der Prozesskettenelemente.

3.2.1.2 Potenzialfaktoren
Die logistischen Potenzialfaktoren umfassen das Logistikpersonal und die Logistik‐
technologien. Personal und Technologien bewirken durch Potenzialfreisetzung die
Transformation von Inputobjekten in den Prozessen. Die menschlichen Ressourcen
werden heute nicht mehr als die zu optimierende Residualgröße, sondern als kriti‐
scher Erfolgsfaktor angesehen, der eine nachhaltige Differenzierung gegenüber dem
Wettbewerb erlaubt. Die Leistungsfähigkeit des logistischen Gesamtsystems wird
wesentlich durch die Fähigkeiten, das Wissen und das Verhalten des Logistikpersonals
bestimmt. Durch die wachsenden wettbewerbsbedingten Anforderungen an die Logis‐
tik wird von den Mitarbeitern eine zunehmende logistische Kompetenz und Lernbe‐
reitschaft gefordert. Eine hohe logistische Kompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass

190 Vgl. KLÖPPER (1991, S. 140ff).

117
Prozessketten in der Logistik
3
neben solidem Logistikfachwissen die Fähigkeit zur Analyse und Strukturierung von
vernetzten Problemstrukturen und ganzheitliches Planungsvermögen vorhanden ist.
Gerade die Logistik erfordert aufgrund ihrer interdisziplinären Grundkonzeption ein
hohes Maß an Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, um den zukünftigen Anforderun‐
gen gerecht zu werden.

Unter den Logistiktechnologien werden die zur Durchführung logistischer Aufgaben


eingesetzten Sachmittel, Methoden und Verfahren verstanden, die einen effektiven
und effizienten Material‐, Waren‐ und Informationsfluss gewährleisten. Zu den Mate‐
rialflusstechnologien gehören Lagersysteme, Transport‐, Förder‐, Ladehilfs‐ und
Handhabungsmittel191. Die Informationsflusstechnologien dienen der Erfassung,
Übermittlung, Speicherung, Verarbeitung und Verwertung der zur Auftrags‐
abwicklung erforderlichen Datenströme. Dem Einsatz moderner Informations‐
technologien kommt angesichts des steigenden Informationsbedarfs eine besondere
Rolle zu, wobei sich diese Technologien nicht nur auf die interne Wertschöpfungskette
beschränken. Der Anschluss an internationale Datennetze ermöglicht einen elektroni‐
schen Datenaustausch zwischen Lieferanten, Produzenten, Speditionen und Kunden.

In vielen Fällen können Aktivitäten alternativ durch Personal oder Technologien aus‐
geführt werden. Das Verhältnis von Technologie‐ zu Personaleinsatz bei der Prozess‐
ausführung bestimmt den Automatisierungsgrad. Ein hoher Automatisierungsgrad
bewirkt allerdings nicht per se eine hohe Leistungsfähigkeit des Prozesses, sodass ein
optimales Verhältnis zwischen Personal und eingesetzter Technologie angestrebt wer‐
den sollte.

3.2.1.3 Transformation
Die Transformation besteht aus den vier Basistransformationen bearbeiten, transpor‐
tieren, prüfen und lagern192. Darüber hinaus wird auf der Transformationsebene der
vertikale Detaillierungsgrad des Prozesskettenelements vorgenommen. Dies bedeutet,
dass die Transformation wieder einen Subprozess in Form einer internen Prozesskette
beinhalten kann, die einen höheren Auflösungsgrad besitzt und somit eine neue Ebene
innerhalb der Prozesshierarchie definiert. Bei Bedarf kann eine vertikale Detaillierung
bis auf die Ebene der Aktivitäten vorgenommen werden. Wesentlich ist nun die selbst‐
ähnliche Modellierung dieser internen Prozesskette, d. h deren Prozesskettenelemente
setzen sich wieder aus den fünf Strukturelementen Input, Output, Lenkung, Potenzial‐
faktoren und Transformation zusammen. Selbstähnlichkeit bedeutet demnach die
Wiederholung dieser fünf Strukturelemente auf immer kleineren Skalen. Aufgrund
der Selbstähnlichkeit können auf allen Ebenen der Prozesshierarchie grundsätzlich
gleichartige Beeinflussungsmöglichkeiten genutzt werden193.

191 Vgl. JÜNEMANN/SCHMIDT (2000, S. 4ff).


192 Vgl. KUHN (1995, S. 43).
193 Vgl. KUHN (1995, S. 42).

118
3.2
Prozessmodellierung

Resultat dieser Prozessdekomposition ist eine Prozesshierarchie mit mehreren Hierar‐


chieebenen aus Haupt‐ und Subprozessen sowie Aktivitäten auf der untersten Ebene.
Aufgrund der Selbstähnlichkeit sind die Prozesse nach dem kybernetischen Prinzip
der Rekursion aufgebaut. Der Vorteil rekursiver Prozessstrukturen besteht in der Mög‐
lichkeit, auf allen Ebenen der Prozesshierarchie die gleichen Denkweisen, Methoden,
Techniken und Programme anzuwenden. Durch diese selbstähnliche Konstruktion
wird eine durchgängige Vernetzung der einzelnen Betrachtungsebenen ermöglicht.

Abbildung 3‐3 zeigt beispielhaft eine Prozesskettenstruktur für die Distributions‐


logistik auf vier unterschiedlichen Prozessebenen. Der Hauptprozess Distributionslo‐
gistik wird dabei als Teil der gesamten betrieblichen Logistik, bestehend aus den Pro‐
zesskettenelementen „Warenannahme“, „Kommissionierlager“, „Kommissionieren“,
„Kontrolle“, „Verpackung“ und „Versand“ verstanden. Das Prozesskettenelement
„Kommissionieren“ beinhaltet die Prozesskette mit den Elementen „Kommissionier‐
auftrag annehmen“, „Waren zusammenstellen“ und „Weitergabe an Kontrolle“. Auf
der untersten Ebene dieser Prozesshierarchie beginnt der Subprozess „Waren zusam‐
menstellen“ mit dem Prozesskettenelement bzw. der Aktivität „Suchen im Lager“ und
endet mit der Aktivität „Behälter auf Transportbahn geben“.

Abbildung 3‐3 Beispiel einer Prozesskette in der Distributionslogistik

Lieferanten‐ Beschaffungs‐ Produktions‐ Distributions‐ Kunden‐


prozesskette logistik logistik logistik prozesskette

Kommis‐
Warenan‐ Kommis‐ Kontrol‐ Verpacken/
sonier‐ Versenden
nahme sionieren lieren Ettiketieren
lager

Komissionier‐ Waren
Weitergabe
auftrag zusammen‐
an Kontrolle
annehmen stellen

geforderte Ablegen in Behälter auf


Suchen im
Menge Transport‐ Transportbahn
Lager
entnehmen behälter geben

119
Prozessketten in der Logistik
3
3.2.1.4 Lenkung
Lenkung bezeichnet die Fähigkeit eines Systems, sich selbst unter Kontrolle zu halten
und besteht aus den Grundkomponenten der Steuerung und Regelung194. Hierzu
gehört im Wesentlichen die Steuerung und Regelung der wertschöpfenden Material‐,
Waren‐ und Informationsflussprozesse. Während bei der Steuerung versucht wird,
einen festgelegten Wert einer Prozessregelgröße durch Elimination oder Kompen‐
sation der Störung beizubehalten, vergleicht die Regelung kontinuierlich den Soll‐ und
den Ist‐Wert einer Prozessregelgröße. Tritt eine Abweichung auf, dann korrigiert der
Regler eine Stellgröße, bis der Ist‐Wert dem vorgegebenen Soll‐Wert der Prozessregel‐
größe entspricht. Die Prozessregelgrößen sind so zu bestimmen, dass sie die Lenkung
des Prozesses ermöglichen und gleichzeitig das Prozessverhalten beschreiben195. Pro‐
zessregelgrößen lassen sich nach der zu messenden Dimension des Prozessverhaltens
in Kosten‐, Qualitäts‐, Flexibilitäts‐ und Zeitgrößen unterteilen. Der Detaillierungsgrad
der Prozessregelgrößen ist dabei der Prozessebene anzupassen, d. h die Lenkung eines
Hauptprozesses basiert auf aggregierteren Regelgrößen als die eines Subprozesses.
Für die ausgewählten Prozessregelgrößen müssen entsprechende Soll‐Werte festgelegt
werden.

Um eine effektive Lenkung sicherzustellen, ist ein Prozessverantwortlicher zu be‐


stimmen, der als Regelinstanz fungiert, wobei die interne Prozesskette die Regelstre‐
cke bildet. Prozessverantwortung bedeutet, dass einzelne, bisher auf mehrere Perso‐
nen, Abteilungen oder Bereiche verteilte, prozessrelevante Verantwortlichkeiten in
einer Person konzentriert werden. Je nach dem Grad der Prozessauflösung können
den Subprozessen auch Subprozessverantwortliche zugeordnet werden. Tritt eine
Abweichung einer Regelgröße auf, initiiert der Prozessverantwortliche geeignete
Maßnahmen zur Beseitigung der Störung. Die Lenkung wird in der Regel nicht nur
einen Regelkreis aufweisen, sondern in Abhängigkeit vom Grad der Prozessauflösung
wird ein Netz von Regelkreisen vorhanden sein, die in ihrem Zusammenwirken die
Prozesslenkung von der Hauptprozessebene über die Subprozesse bis auf die Aktivi‐
tätenebene sicherstellen. Die Regelkreise sind dabei derart vernetzt, dass ein überge‐
ordneter Regelkreis den Soll‐Wert der Regelgröße eines untergeordneten Regelkreises
vorgibt.

Die Lenkungsebene ist für die vertikale Strukturierung der Prozesskettenelemente und
deren Verbindung zu benachbarten Prozesskettenelementen verantwortlich. Die Pro‐
zesslenkung sollte aber nicht als Aufgabe des Prozessverantwortlichen, sondern aller
Prozessbeteiligten betrachtet werden. Dabei genügt es nicht, nur die Anforderungen
des nachfolgenden Prozesskettenelements zu erfüllen, vielmehr muss jedes Prozess‐
kettenelement den letztendlichen Kundennutzen des zu bearbeitenden Prozesses ken‐
nen. An den einzelnen Mitarbeiter wird somit ein höheres Maß an Verantwortung

194 Vgl. ULRICH/PROBST (1995, S. 78).


195 Vgl. SCHOLZ/VROHLINGS (1994b, S. 58ff).

120
3.2
Prozessmodellierung

übertragen, was wiederum einen positiven Einfluss auf die Arbeitsergebnisse des
Mitarbeiters im jeweiligen Tätigkeitsfeld haben kann.

3.2.1.5 Darstellung logistischer Geschäftsprozesse


Ein aussagekräftiges Werkzeug für das Aufzeigen von wechselseitigen Abhängig‐
keiten und Nahtstellen zwischen Geschäftsprozessen bietet eine Prozess‐Landkarte.
Mit dem Aufzeigen dieser Wechselbeziehungen wird ein Prozessverständnis erreicht,
das für die Prozesssteuerung und ‐verbesserung notwendig ist. Prozess‐Landkarten
sind nicht auf das eigene Unternehmen beschränkt, sondern können auch Lieferanten
und Kunden mit einbeziehen, sodass sie den Informations‐ und Leistungsaustausch
sowie die Schnittstellen zwischen den Geschäftsprozessen bzw. Teilprozessen darstel‐
len196. Die Abläufe von logistischen Geschäftsprozessen können anschaulich mittels
Netzplänen, ereignisgesteuerten Prozessketten (EPK) und Wertschöpfungsketten dar‐
gestellt werden. Den Netzplänen liegt das Modell der Ablaufgraphen zugrunde, wobei
in der Praxis hauptsächlich Vorgangspfeil‐ und Vorgangsknotennetze zur Anwendung
kommen.

Bei Vorgangspfeilnetzen (VPN) werden Aktivitäten bzw. Vorgänge durch Pfeile und
Ereignisse durch Knoten dargestellt. Wenn alle einmündenden Vorgänge abge‐
schlossen sind, kann ein Ereignis eintreten (logische Und‐Bedingung). Die Einführung
von sogenannten Scheinvorgängen ist für die Vermeidung von parallelen Vorgängen
und eindeutigen Vorgänger‐Nachfolger‐Beziehungen notwendig. In einem Vorgangs‐
pfeilnetz ist ein Zyklus ein logischer Widerspruch, da die Bedingung für den Beginn
einer Aktivität der eigene Abschluss ist197.

In Vorgangsknotennetzen (VKN) werden Aktivitäten bzw. Vorgänge durch Knoten


dargestellt. Die Pfeile stellen Bedingungen oder Restriktionen dar, denen die Vorgänge
bei der Ausführung unterliegen. Scheinvorgänge werden dann benötigt, wenn bei
Projektstart bzw. ‐ende mehrere Vorgänge gleichzeitig stattfinden. Für die Ausführung
von Aktivitäten gelten logische Und‐Bedingungen. Demnach werden alle Vorgänge
einmal ausgeführt. Im Unterschied zu den Vorgangspfeilnetzen sind Zyklen zulässig,
solange sie keine streng positive Länge haben198.

Ereignisgesteuerte Prozessketten (EPK) sind eine Weiterentwicklung der Petri‐Netze


und wurden von SCHEER im Rahmen des ARIS‐Konzeptes entwickelt199. Eine EPK
besteht, wie auch ein Netzplan, aus Vorgängen und Ereignissen. Zusätzlich werden
Organisationseinheiten (Ort, an dem ein Vorgang ausgeführt wird), Informations‐
objekte (Daten die von einem Vorgang benötigt bzw. erzeugt werden) und Operatoren
(die Ausführung von Aktivitäten oder das Eintreten von Ereignissen kann logischen

196 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 81f).


197 Vgl. ROSENKRANZ (2006, S. 157f).
198 Vgl. ROSENKRANZ (2006, S. 165f).
199 Vgl. BECKER ET AL. (2009, S. 43).

121
Prozessketten in der Logistik
3
Bedingungen unterliegen) verwendet. Dabei können drei Operatoren unterschieden
werden:

 Exklusives Oder (XOr): Genau eine Funktion muss erfüllt sein bzw. ein Ereignis
muss eintreten.

 Oder (Or): Mindestens eine der Funktionen muss erfüllt sein bzw. mindestens
eines der Ereignisse muss eintreten.

 Und (And): Es müssen alle Funktionen erfüllt sein bzw. alle Ereignisse eintreten.

Weiterhin ist zu beachten, dass sich Funktionen und Ereignisse immer gegenseitig
ablösen. In der seriellen Folge von Aktivitäten und Ereignissen ist die Abfolge von
Aktivitäten eindeutig festgelegt und der Graph enthält keine logischen Operatoren.
Die Verknüpfung von Funktionen und Ereignissen wird in der Regel durch gestrichel‐
te Pfeillinien wiedergegeben. Unterschieden werden erweiterte und einfache EPKs,
wobei bei letztgenannten nur Vorgänge und Ereignisse und keine Organisations‐
einheiten bzw. Informationsobjekte berücksichtigt werden200.

Abbildung 3‐4 Vergleichende Darstellung zwischen EPK, VKN und VPN201

EPK VKN VPN

E1 E1 E1

A1

A2
A1 A2 A1 A2 E*

E2
E2

A3 Legende:
A3 A3
E : Ereignis
A : Aktivität
S : Scheinvorgang
E3 E3 E3 : Und‐Bedingung

200 Vgl. ROSENKRANZ (2006, S. 24).


201 Vgl. ROSENKRANZ (2006, S. 78).

122
3.2
Prozessmodellierung

Die Abbildung 3‐4 stellt den Vergleich einer einfachen EPK mit einem Vorgangskno‐
tennetz und einem Vorgangspfeilnetz dar. Vorteilhaft beim Vorgangsknotennetz ist,
dass bis auf das Anfangs‐ und Endereignis die anderen Ereignisse und die logischen
Operatoren entfallen, da es sich um einheitliche Und‐Bedingungen handelt. Somit
enthält es nur die drei Vorgangsknoten. Beim Vorgangspfeilnetz bleiben die Ereignisse
der EPK‐Darstellung erhalten und die Pfeile repräsentieren die Vorgänge. Auch hier
entfallen die Operatoren, es muss jedoch ein Scheinvorgang und ein zusätzliches Er‐
eignis eingefügt werden, um parallele Vorgänge zu vermeiden.

Bei der Darstellung als Wertschöpfungskette repräsentiert jedes Element eine inhalt‐
lich zusammengehörige EPK bzw. allgemein eine Prozesskette. Die Elemente sind
linear angeordnet und stellen damit die repräsentierten Prozessketten in Beziehung.
Wertschöpfungsketten geben den verdichteten Ablauf wieder und können, ausgehend
von der Geschäftsprozessebene, über die Teilprozessebene und die Prozess‐
schrittebene bis auf die Ebene der Arbeitsschritte bzw. Aktivitäten zerlegt werden (vgl.
Abbildung 3‐3).

Für die Modellierung, Darstellung und Analyse von Prozessen sind verschiedene
Software‐Tools entwickelt worden, die Referenzmodelle bzw. generische Prozesse zur
Verfügung stellen. Unter Referenzmodellen oder generischen Prozessen sind Pro‐
zessmuster zu verstehen, die branchen‐ oder unternehmensspezifisch zu konkretisie‐
ren sind. Die bekannteste Modellierungssoftware stellt das „ARIS‐Toolset“ dar202.
Speziell für die Logistik wurde vom Fraunhofer‐Institut für Materialfluss und Logistik
das Software‐Tool „LogiChain“ entwickelt, mit dem Prozessketten rechnerunterstützt
abgebildet, analysiert und simuliert werden können. Einen Ansatz zur Standardisie‐
rung unternehmensübergreifender Prozessketten stellt das Supply‐Chain‐Operations
Reference‐Modell (SCOR‐Modell) dar203.

Die Prozessvisualisierung liefert die notwendige Voraussetzung für die Identifizierung


von kritischen Bereichen und die gezielte Eliminierung von Schwachstellen im Pro‐
zessablauf. Weiterhin unterstützt sie die Festlegung von Prozessverantwortlichkeiten,
die Definition von relevanten Prozesskennzahlen für die auf den Ebenen dargestellten
Teilprozesse, die Ausarbeitung von Leistungsvereinbarungen für externe und interne
Lieferanten sowie die Schulung und Einarbeitung von Mitarbeitern für ein besseres
Verständnis bzgl. einer abteilungs‐ und unternehmensübergreifenden Zusammen‐
arbeit.

3.2.1.6 Gestaltungsoptionen für Prozessketten


Im Rahmen der Gestaltung der Logistikprozesse, mit denen die Leistungsfähigkeit der
gesamten Logistikkette beeinflusst wird, werden die einzelnen Strukturelemente (z. B.
Teilprozesse, Prozessschritte, Aktivitäten) in eine logische und zeitliche Abfolge (Ab‐
laufstruktur) gebracht. Logistikorientierte Gestaltungsmaßnahmen, die an Aktivitäten

202 Vgl. SCHEER (2001).


203 Vgl. Kapitel 3.2.7.

123
Prozessketten in der Logistik
3
und Prozessen ausgerichtet sind, basieren auf einer Betrachtung des Unternehmens im
Zeitablauf. Als Kriterien für die Gestaltung der Prozessketten werden die Effizienz
und Effektivität herangezogen. Das bedeutet, dass die Anordnung der Strukturele‐
mente möglichst so festzulegen ist, dass sie einen zeit‐ und ressourcengünstigen Ab‐
lauf gewährleisten. Gestaltungsoptionen, die am Stellhebel der Aktivitäten und Pro‐
zesskettenelemente ansetzen, zielen auf eine Veränderung der Struktur durch deren
Reihenfolgeänderung, Parallelisierung, Integration, Erweiterung und Eliminierung ab
(vgl. Abbildung 3‐5).

Abbildung 3‐5 Gestaltungsoptionen für die Struktur von Prozessketten

Reihenfolgeänderung: P1 P2 P3 P1 P3 P2

P2
Parallelisierung: P1 P2 P3 P1
P3

Integration: P1 P2 P3 P1 P2/3

Erweiterung: P1 P2 P3 P1 P2 P3 P4

Eliminierung: P1 P2 P3 P1 P2

Eine Reihenfolgeänderung von Aktivitäten und Prozessen in logischer Hinsicht erfolgt


beispielsweise dann, wenn im Rahmen des Variantenbestimmungspunktes204 kunden‐
spezifische Prozesse an das Ende der Wertschöpfungskette verschoben werden. Eine
weitere Gestaltungsoption besteht in der Parallelisierung von Aktivitäten und Prozes‐
sen, die zu einer Beschleunigung der Transformation im Prozess führt. Als Gestal‐
tungsmaßnahme für eine Parallelisierung von Prozessen kann das Simultaneous Engi‐
neering205 im Rahmen der Produktentwicklung genannt werden, mit dem ein zeitpa‐
ralleles Durchführen verschiedener Aktivitäten oder Teilprozesse ermöglicht wird.
Eine Integration von Prozesskettenelementen kann durch eine Komplettbearbeitung
erreicht werden, indem beispielsweise Betriebsmittel und Personal räumlich und or‐
ganisatorisch zu Fertigungssegmenten206 zusammengefasst werden. Die Erweiterung
einer Prozesskette kann durch Zuordnung eines weiteren Prozesskettenelements (In‐
sourcing) das Leistungsverhalten eines Prozesses verbessern. Im Rahmen einer Out‐
sourcing‐Diskussion kann man sich fragen, welche Leistungen extern billiger angebo‐

204 Vgl. Kapitel 4.2.


205 Vgl. WILDEMANN (1992).
206 Vgl. Kapitel 4.3.4.3.

124
3.2
Prozessmodellierung

ten werden. Die Eliminierung von Prozesskettenelementen, z. B. durch die Verlage‐


rung von Prozessen auf Lieferanten, hat eine höhere Spezialisierung und dadurch
Zeit‐ und Kostenvorteile zur Folge.

3.2.2 Process Mining


Geschäftsprozesse sollen Informationen zur richtigen Zeit, in der richtigen Menge und
Qualität sowie am richtigen Ort zur Verfügung stellen, sodass sie effektiv durch den
gezielten Einsatz von Informationstechnologie (IT) unterstützt werden müssen. Dies
hat zur Folge, dass sich auch der Schwerpunkt der IT von der Datenorientierung hin
zur Prozessorientierung verschiebt und heutzutage datengesteuerte Informations‐
systeme (IS) durch datenverarbeitende IS ersetzt werden. Ein IS wird als prozess‐
orientiert bezeichnet, wenn es die Umsetzung des Prozesses durch die Terminierung
der Aktivitäten gemäß festgelegter Regeln des jeweiligen Prozesstyps unterstützt.
Prozessorientierte IS stellen den richtigen Benutzern, die richtigen Geschäftsfunk‐
tionen, zur richtigen Zeit, mit den für sie erforderlichen richtigen Informationen und
Anwendungsdiensten in Form von expliziten Prozessdarstellungen zur Verfügung.
Ein prozessorientiertes IS kennt die Logik der zu unterstützenden Prozesse, indem
diese explizit in Form von ausführbaren Prozessmodellen hinterlegt werden. Auf die‐
ser Basis verwalten prozessorientierte IS den Kontrollfluss auszuführender Aktivitäten
während der Laufzeit und steuern deren Datenfluss207. Eine stärkere Unterstützung
der Geschäftsprozesse seitens der IT hat zur Folge, dass eine hohe Prozesskomplexität
mit einem massiven Datenwachstum kombiniert wird und somit konventionelle Ana‐
lysetechniken, wie die manuelle Prozessmodellierung, an ihre Grenzen stoßen208.

Process Mining (PM) stellt vor dem Hintergrund komplexer Prozessumgebungen mit
hohem Datenaufkommen einen fortgeschrittenen Analytics‐Ansatz dar. Im Vergleich
zu den klassischen Methoden der Wissensakquisition ist das PM eine noch junge Dis‐
ziplin und erste Publikationen zu diesem Thema erschienen Ende der 1990er Jahre209.
Bei PM handelt es sich um einen induktiven Ansatz, der das in den IS implizit vor‐
handene Prozesswissen extrahiert, sodass explorativ und hypothesenfrei der in den
Unternehmen gelebte Prozessverlauf in Form von Prozessmodellen rekonstruiert
wird. Diese Prozesserkennung basiert auf den digitalen Spuren aus Informations‐
verarbeitungssystemen, welche als Ereignisprotokolldatei zusammengefasst werden.
Während der Abwicklung von Prozessen durch IS wird deren Ausführung kontinuier‐
lich in realen Ereignislogdateien festgehalten und protokolliert. Unter Nutzung von
Process‐Mining‐Methoden kann das implizit vorhandene Prozesswissen automatisch
aus den Ereignislogs extrahiert und als Basis zur Erstellung von Prozessmodellen
genutzt werden210. Demnach werden durch PM IST‐Prozessmodelle bottom‐up auf

207 Vgl. REICHERT/WEBER (2012, S. 9f).


208 Vgl. RUNKLER (2012, S. 35).
209 Vgl. COOK/WOLF (1995); AGRAWAL ET AL. (1998).
210 Vgl. VAN DER AALST (2016, S. 13).

125
Prozessketten in der Logistik
3
Basis von realen Verlaufsdaten vergangener Prozessausführungen erstellt und es wird
nicht auf eine subjektive Modellvorstellung durch Methoden der klassischen Ge‐
schäftsprozessmodellierung zurückgegriffen. Auch wenn der bereits gelebte Prozess
in Form von ex‐post Ereignisdaten extrahiert wird, ist PM nicht auf eine offline‐
Analyse beschränkt. Vielmehr können die Erkenntnisse auch auf laufende Fälle ange‐
wendet und in Form von a‐priori Analysen zur operativen Unterstützung genutzt
werden. Process Mining visualisiert Prozesse end‐to‐end und in Echtzeit, sodass An‐
wender eine transparente Sicht in einer bisher nicht vorhandenen Detailtiefe auf die
Logistikprozesse erlangen. Mit Process Mining lassen sich große Nutzenpotenziale
realisieren. Durch erfolgreiche PM‐Projekte können Durchlaufzeiten um 37% redu‐
ziert, 25% mehr Einsparpotenziale realisiert und eine Effizienzsteigerung des unter‐
suchten Prozesses um 30% erzielt werden211.

3.2.2.1 Abgrenzung zwischen Data Mining, klassischer Geschäfts-


prozessmodellierung und Process Mining
Data Mining (DM) ist ein analytischer Prozess, der anhand der Disziplinen Statistik
(Methoden zur Datenexploration, ‐auswahl und ‐transformation), Datenbankfor‐
schung (Methoden und Werkzeuge zur effizienten Gewinnung und Speicherung von
Daten) und künstliche Intelligenz (Algorithmen zur Mustererkennung) eine möglichst
autonome und effiziente Identifizierung von neuen, potenziell nützlichen und ver‐
ständlichen Mustern in großen Datensätzen ermöglicht. Die klassischen DM‐Me‐
thoden lassen sich nur bedingt im Prozessumfeld anwenden, da die DM‐Analyseme‐
thoden bei ablaufbezogenen Strukturen an ihre Grenzen stoßen. Insbesondere neben‐
läufige Strukturformen wie Verzweigungen, Parallelitäten oder Schleifen erfordern
eine Prozessorientierung, welche die DM‐Methoden wie z. B. Klassifikationsalgorith‐
men oder Assoziationsregeln nicht aufweisen.

Im Rahmen der klassischen Geschäftsprozessmodellierung werden Prozesse auf Basis


von Informationen modelliert, die anhand von Interviews oder Workshops mit Mitar‐
beitern und Prozessexperten oder durch Dokumentensichtung (z. B. Arbeitsanwei‐
sungen) gewonnen werden. Mögliche Optimierungspotenziale werden durch Diskus‐
sionen und Hinterfragungen von Prozessabschnitten durch Experten generiert. Da die
so realisierten Prozessmodelle entweder auf Basis von Erzählungen der Informanten
oder anhand formal vorgeschriebener Prozessabläufe modelliert werden, besteht je‐
doch nur eine marginale Verbindung zwischen dem tatsächlich gelebten Prozess und
dessen Modellvorstellung durch Methoden der klassischen Geschäftsprozessmodel‐
lierung212. Das entstandene Prozessmodell gibt somit den „as-is“‐Zustand des Pro‐
zessablaufs wieder und zeichnet sich durch große Zuverlässigkeitsprobleme aus, da
die Korrektheit des Modells von der Vertrauenswürdigkeit der Quelle abhängt und
Informationen über außergewöhnliche Prozessinstanzen schwer zu beschaffen sind.

211 Vgl. BAYER (2019, S. 1); HÖPNER/KERKMANN (2019, S. 1).


212 Vgl. VAN DER AALST ET AL. (2011, S. 8).

126
3.2
Prozessmodellierung

Bei der klassischen Geschäftsprozessmodellierung handelt es sich daher um eine stati‐


sche Analyse, die Verbesserungen des Prozessmodells nur anhand von Feedback reali‐
sieren kann213.

Da PM auf der Annahme beruht, das verborgene Wissen auf Basis der in Ereignispro‐
tokolldateien überführten IST‐Daten der tatsächlichen Prozessvorgänge zu extra‐
hieren, wird der Prozess nicht modelliert, sondern mit Hilfe der Software entdeckt.
Demnach zielt PM darauf ab, den „to-be“‐Zustand des Prozessablaufs in Form von
Modellen zu rekonstruieren. Die klassischen Methoden der Geschäftsprozessmodellie‐
rung sind demnach also nicht in der Lage, den tatsächlich gelebten Prozessablauf zu
modellieren.

Vergleicht man die Disziplinen Data Mining, klassische Geschäftsprozessmodellierung


und Process Mining dann wird deutlich, dass weder die klassische Geschäftsprozess‐
modellierung noch das Data Mining den Anforderungen einer datenorientierten Pro‐
zessmodellierung gerecht werden können. Process Mining kann somit als fehlendes
Bindeglied zwischen Data Mining und dem traditionellen, modellgetriebenen Ge‐
schäftsprozessmanagement verstanden werden214.

3.2.2.2 Datenbeschaffung beim Process Mining


Die Ergebnisqualität einer rechnergestützten Datenverarbeitung hängt im Wesent‐
lichen von der zur Verfügung gestellten Datengrundlage ab. Insbesondere in prozess‐
orientierten IS werden Prozessdaten über eine Vielzahl heterogener Quellsysteme
verteilt und führen somit zu polystrukturierten Datenbeständen215. Der Grund für die
Fragmentierung des Prozesswissens besteht in der Diskrepanz zwischen der wirt‐
schaftlichen und technischen Sicht auf Geschäftsprozesse. Somit entspricht die Dar‐
stellung der Prozessaktivitäten in Prozessmodellen nicht der Art und Weise, wie diese
im prozessorientierten IS implementiert worden sind.

Zur Datenbeschaffung wird im PM auf den im Data Mining verwendeten Extract‐


Transform‐Load‐Vorgang zurückgegriffen, bei welchem Daten aus einem Quellsystem
extrahiert, in ein standardisiertes Format transformiert und anschließend in ein sepa‐
rates Data‐Warehouse geladen werden. Für das PM stellen die Datenextraktion sowie
deren Zusammenführung und Aufbereitung in Form eines sogenannten Ereignislogs
eine entscheidende Anwendungsvoraussetzung dar216. Ein Ereignislog ist eine hierar‐
chisch strukturierte Datei, die Daten über historische Prozessausführungen enthält.
Somit werden in dieser Datei Daten über mehrere Ausführungen desselben Prozesses
gespeichert, die mit PM‐Techniken extrahiert werden können. Die Ereignisse entspre‐
chen den grundlegendsten Teilen der Ausführung eines bestimmten Prozesses und
sind typischerweise in IS in Form von Statusaktualisierungen oder Aktivitätsaufzeich‐

213 Vgl. IVANCIC (2019, S. 9f).


214 Vgl. VAN DER AALST (2016, S. 447ff).
215 Vgl. DUMAS ET AL. (2005, S. 4).
216 Vgl. VAN DER AALST (2016, S. 126).

127
Prozessketten in der Logistik
3
nungen zu finden. Neben einem Namen können Ereignisse auch mehrere andere At‐
tribute haben, um beispielsweise durch einen spezifischen Zeitstempel den Ursprung
des Ereignisses anzuzeigen. Spuren repräsentieren chronologische Sammlungen von
Ereignissen, die zu der selben Prozessausführung gehören.

Tabelle 3‐1 veranschaulicht den Aufbau eines Ereignislogs am Beispiel eines Kunden‐
auftragsbearbeitungsprozesses. Alle aufgezeichneten Daten der Auftragsannahme und
‐bearbeitung im Kundenauftrag können eine Spur darstellen. Verschiedene Spuren im
Ereignisprotokoll entsprechen dann verschiedenen Aufträgen, für die der Prozess
ausgeführt wurde. Um Erkenntnisse für einen Prozess gewinnen zu können, müssen je
Prozess der konkrete Vorgang (Case, hier Kundenbestellung) sowie die Aktivitäten
(Events) zum jeweiligen Vorgang mit Zeitstempel und Referenz der Ressource, welche
die Aktivität durchführt, aufgeführt werden217. Grundsätzlich kann ein Ereignislog
aus einer potentiell unendlichen Anzahl an Ereignissen zu einem gegebenen Prozess
bestehen. Die wichtigsten Komponenten eines Ereignislogs sind die auftretenden
Verbindungen und Abfolgen, da PM auf diese Relationen fokussiert, um ein Prozess‐
modell zu erstellen. Im Idealfall bildet ein Ereignislog eine Tabelle, die Ereignisse
anhand ihrer Instanznummer (CASE‐ID) und ihres Zeitstempels chronologisch nach
deren Eintreten aufzeichnet.

Tabelle 3‐1 Auszug eines Ereignislogs eines Kundenauftragsbearbeitungsprozesses218

Kunden‐
Aktivität Zeitstempel Status Ressource
bestellung
Bestellung
SO1‐CustA 2012‐09‐28 9:50 vollständig User 3544
ausgelöst
Bestellung
SO1‐CustA 2012‐10‐01 8:15 vollständig User 3544
geliefert
Rechnung ver‐
SO1‐CustA 2012‐10‐01 10:31 vollständig User 1282
sandt
Bestellung
SO2‐CustA 2012‐9‐30 11:05 vollständig User 3544
ausgelöst
Informationen
SO2‐CustA 2012‐10‐04 10:20 vollständig User 6759
angefordert
Bestellung
SO2‐CustB 2012‐10‐02 10:25 vollständig User 3544
ausgelöst

Als Speicherformat wird der XML‐basierende Standard XES (eXtensible Event Stream)
verwendet. Die Vorteile dieses Formats sind die Einfachheit des Speicherns und Le‐

217 Vgl. PETERS/NAUROTH (2019, S. 15f).


218 In Anlehnung an STOCKER ET AL. (2014, S. 95).

128
3.2
Prozessmodellierung

sens, die Flexibilität hinsichtlich der Datenherkunft sowie dessen unkomplizierte Er‐
weiterbarkeit und die hohe Ausdrucksstärke, die Informationsverluste verhindert219.

3.2.2.3 Aufgaben und Perspektiven des Process Mining


Unter Verwendung der PM‐Methodik können die Aufgaben Process Discovery, Con‐
formance Checking, Process Enhancement und Operational Support durchgeführt
sowie der Prozess anhand unterschiedlicher Perspektiven analysiert werden. Der
Zusammenhang zwischen Prozessmodellen und Ereignisdaten wird in Abbildung 3‐6
dargestellt. Als Input fungieren Ereignisprotokolle aus den prozessorientierten IS, die
entlang der Prozesskette jede Prozessaktivität als Ereignis in Log‐Dateien abspeichern.

Beim Process Discovery werden Log‐Dateien in Ereignislogs überführt und daraus


unter Verwendung geeigneter Mining‐Algorithmen220 automatisiert Prozessmodelle
erstellt. Da keine weiteren a‐priori Informationen verwendet werden, liefert das resul‐
tierende Prozessmodell eine unvoreingenommene Sicht auf die Ablaufstrukturen der
Prozesse221.

Abbildung 3‐6 Aufgabengebiete des Process Mining

Geschäftsprozessausführung SOLL Geschäftsprozessmodell


Prozess‐
orientierte Digitale
IS Ausführungsspuren

Anpassung
IST Prozessmodell zum Übereinstimmungs- und
Geschäftsprozess überprüfung Erweiterung
Extract-Transform-Load

Process Enhancement

Conformance Checking

Process Mining Process Discovery


Algorithmus
Ereignislog

Nachdem das Prozessmodell mit einem PM‐Algorithmus erstellt worden ist, wird es
im Rahmen des Conformance Checkings den zugehörigen Ereignislogs gegenüber‐

219 Vgl. GÜNTHER/ VERBEEK (2014, S. 2).


220 Zu den gebräuchlichsten Discovery Algorithmen zählen der ߙ‐ Algorithmus, Heuristic Miner,
Fuzzy Miner, Genetic Miner und der Inductive Miner (VAN DER AALST (2016, S. 167ff)).
221 Vgl. VAN DER AALST (2016, S. 163ff).

129
Prozessketten in der Logistik
3
gestellt, um die bestmögliche Güte des reproduzierten Prozessmodells im Vergleich
zum Ereignislog zu gewährleisten. Des Weiteren können verschiedene Prozessmodelle
miteinander verglichen werden und auch die tatsächliche, in Ereignislogs dokumen‐
tierte Realität anhand von Prozessmodellen überprüft werden. Dadurch lassen sich
mögliche Abweichungen zwischen dem protokollierten und dem modellierten Verhal‐
ten identifizieren, visualisieren und messen222.

Da Ereignislogs weitere Attribute, d. h. Daten aus der Organisations‐, Zeit‐, oder Fall‐
perspektive mit zusätzlichen Informationen besitzen (s. Tabelle 3‐1 „Ressource“ oder
„Status“), können im Rahmen des Process Enhancements bestehende a‐priori Prozess‐
modelle durch Berücksichtigung dieser entweder korrigiert, verbessert oder weiter‐
entwickelt werden. Anhand dieser zusätzlichen Informationen können beispielsweise
Prozessleistungen oder Durchlaufzeiten extrahiert und somit grundlegende Unter‐
suchungen bzgl. der Performance durchgeführt werden223.

Durch den verstärkten kommerziellen Einsatz von PM sowie des technischen Fort‐
schritts von prozessorientierten IS, besteht ein weiteres Aufgabengebiet in der operati‐
ven Unterstützung IT‐basierter Systeme (Operational Support). Diese erlaubt es bei
der Abwicklung eines Prozesses auf Erkenntnisse vergangener Ereignisdaten zurück‐
zugreifen und sie in Form von Informationen und Hinweisen als Echtzeithilfe bei der
Vorgangsbearbeitung zur Verfügung zu stellen224.

Der PM‐Ansatz zeichnet sich neben der Diversität von Aufgabenfeldern auch durch
eine Multiperspektivität aus. Insgesamt lassen sich eine Kontrollfluss‐Perspektive, eine
organisatorische und zeitliche Perspektive sowie eine Fall‐Perspektive unterscheiden.
Die Kontrollfluss‐Perspektive betrachtet die Extraktion von ablaufbezogenen Struk‐
turen, d. h. die Reihenfolge, in der Aktivitäten ausgeführt werden. Es werden die ver‐
schiedenen Möglichkeiten der Ausführung eines Geschäftsprozesses untersucht und
die Entscheidungen in Form von Prozessmodellen repräsentiert. Somit beantwortet
die Kontrollfluss‐Perspektive folgende Fragen: Wie werden die Prozessinstanzen225
ausgeführt? Welches ist der häufigste oder der kritische Weg durch das Geschäfts‐
prozessmodell? Die organisatorische Perspektive betrachtet diejenigen Ressourcen, die
aus den Ereignisdaten extrahiert werden können und rekonstruiert somit das Verhal‐
ten der Parteien über die Art ihrer Beteiligung oder Interaktion. Diese Perspektive
liefert Antworten für folgende verhaltensorientierte Fragestellungen: Welche Rollen
gibt es? Wie sehen die Kommunikationsstruktur und die Abhängigkeiten zwischen
den Parteien aus? Wie viele Mitarbeiter arbeiten an einer Instanz? Anhand der zeitli‐
chen Perspektive können Durchführungszeiten und Ereignisfrequenzen betrachtet

222 Vgl. ROZINAT ET AL. (2007, S. 2f).


223 Vgl. SONG/VAN DER AALST (2008, S. 302).
224 Vgl. PETERS/NAUROTH (2019, S. 6f).
225 Eine Prozessinstanz beschreibt die Durchführung eines Prozesses als spezifischen operativen
Vorgang und enthält alle Aktionen und Phasen, die in Form von Aufgaben von den Prozess‐
beteiligten bearbeitet werden müssen.

130
3.2
Prozessmodellierung

werden. Im Rahmen der Fall‐Perspektive werden merkmalsbasierte Analysen von


Prozessinstanzen durchgeführt226.

3.2.2.4 Determinanten für ein erfolgreiches Process Mining


Als Erfolgsfaktoren werden die Gesamtheit der Einflusskräfte betrachtet, die direkt
oder indirekt zum Erfolg eines Projekts beitragen, d. h. dass das Projekt innerhalb der
geplanten Zeit und des veranschlagten Budgets abgeschlossen wird (Effizienz) und
die gesetzten Ziele erfüllt werden (Effektivität). Da Process Mining das Bindeglied
zwischen der klassischen Geschäftsprozessmodellierung und Data Mining darstellt,
lassen sich kritische Erfolgsfaktoren für das Process Mining aus den kritischen Erfolgs‐
faktoren der Geschäftsprozessmodellierung und aus DM‐Projekten ableiten227. Somit
können mental‐kulturelle, projektspezifische, informationstechnologische und PM‐
spezifische Erfolgsfaktoren unterschieden werden (vgl. Abbildung 3‐7).

Abbildung 3‐7 Erfolgsfaktoren in Process-Mining-Projekten

226 Vgl. VAN DER AALST (2016, S. 34ff).


227 Vgl. BANDARA ET AL. (2005, S. 337ff) und HILBERT (2002, S. 24ff).

131
Prozessketten in der Logistik
3
 Mental‐kulturelle Faktoren
Durch die Unterstützung des Top Managements wird sichergestellt, dass wert‐
volle organisatorische Ressourcen und das notwendige Budget zur Verfügung ge‐
stellt werden sowie die Akzeptanz bei den Mitarbeitern erhöht wird. Im Rahmen
der Unternehmenskultur spielen die Innovationsfreudigkeit eines Unternehmens
und die Aufgeschlossenheit der Unternehmensleitung gegenüber einem Wandel
eine wichtige Rolle. Um die Implementierung einer neuen Technologie zu ge‐
währleisten, muss der Umgang mit Neuem geschult werden, sodass sich die An‐
wendung eines Change‐Managements empfiehlt. Bei der Zusammensetzung des
Projektteams muss die Bildung eines heterogenen Teams mit interdisziplinären
Fähigkeiten sichergestellt werden. Geschäftsnähe und Domänenwissen sollten
ebenso vertreten sein wie technisches Verständnis für Prozessabläufe und Daten‐
verarbeitung. Auch wirkt sich das Vorhandensein eines Projekt‐Champions, der
genügend Macht, Ansehen sowie formale und informale Netzwerke besitzt um
das Projekt voranzutreiben, positiv auf den Erfolg eines Projekts aus. Ebenso sind
ein Wissensmanagement im Sinne der Integration von Stakeholdern, Endbenut‐
zern und Prozessspezialisten sowie deren Kommunikationsstrategie von Bedeu‐
tung, damit die Projektergebnisse auch nachhaltig in die betriebliche Realität
transferiert werden.

 Projektspezifische Faktoren
Durch eine Budget‐ und Ressourcenplanung werden die mittel‐ bis langfristige
Planbarkeit determiniert und es wird verhindert, dass ein PM‐Projekt aufgrund
von Konflikten um Ressourcen oder Kapital scheitert. Die Lizenzkosten für eine
PM‐Software und die Kosten für die Datenermittlung und ‐bereitstellung müssen
in die Budgetplanung integriert werden. Des Weiteren soll im Rahmen eines Pro‐
jektmanagements eine genaue Überwachung und Kontrolle sowie eine Überprü‐
fung des Projektumfangs erfolgen. Durch eine Zielplanung müssen die Erwartun‐
gen an das PM kommuniziert und die Übereinstimmung mit den strategischen
Zielen der Unternehmung sichergestellt werden. Eine präzise Definition von Ziel‐
vorgaben und des Zwecks sind unabdingbar. Der Zweck setzt ein klares Ver‐
ständnis dessen voraus, wofür PM eingesetzt werden soll, d. h. welcher konkrete
Anwendungsfall untersucht werden soll. Weiterhin sollte ein Vorgehensmodell
entwickelt und berücksichtigt werden, damit bei PM‐Projekten iterativ vorgegan‐
gen wird, diese aber auch wiederholt und gegenseitig vergleichbar gemacht wer‐
den können.
 Informationstechnologische Faktoren
Als Methode zur Analyse von Geschäftsprozessen in datenintensiven Umge‐
bungen spielen die Datenbereitstellung sowie die Datenvorverarbeitung eine
wichtige Rolle. Somit müssen eine größere Anzahl an IT‐Systemen zur Verfügung
stehen, aus denen Vorgangsdaten extrahiert werden können. Für die Daten‐
extraktion bietet sich die Nutzung eines Data Warehouse an. Auch die Art der IT‐
Systeme hat großen Einfluss auf den Erfolg von PM‐Projekten. Insbesondere das
Zusammenführen von Daten aus unterschiedlichen IS oder aus IS mit fehlender

132
3.2
Prozessmodellierung

Prozessorientierung sollte mit zusätzlichen Ressourcen kompensiert werden. Mit


Hilfe einer explorativen Datenanalyse erhält man ein ganzheitliches Datenver‐
ständnis und somit ein Gefühl für den Prozess und die Daten im Ereignisproto‐
koll.

Die Ergebnisqualität wird maßgeblich vom richtigen Abstraktionsgrad der Daten


bestimmt. Mit der Anwendung zahlreicher Iterationen von Datenvorverarbei‐
tungsmechanismen (Datenmanipulation und ‐filterung) kann die Datenqualität
beeinflusst werden, die sich wiederum direkt auf die Ergebnisqualität des PM‐
Ansatzes auswirkt. Neue Iterationen können das Filtern oder Modifizieren des
Ereignisprotokolls, das Hinzufügen neuer Daten, das Anwenden neuer Filter oder
das Einbeziehen neuer Methoden umfassen. Während durch die Datenfilterung
der adäquate Abstraktionsgrad sichergestellt wird, werden im Rahmen der Daten‐
manipulation Ereignislogs durch Löschen oder Hinzufügen von Attributen ver‐
vollständigt. Beide Datenvorverarbeitungsmechanismen können ausschließlich
mit entsprechendem Domänenwissen erfolgreich durchgeführt werden, sodass
ein aktives Engagement von Unternehmensexperten notwendig ist. Nur so kön‐
nen die Daten richtig interpretiert und für die PM‐Analyse richtig vorgefiltert
werden. Die Integration von Domänenexpertise in die Datenvorverarbeitung kann
verhindern, dass Zeit mit Analysen von irrelevanten Daten verschwendet wird.
Empfohlen wird ein „question‐driven approach“, um durch häufig gestellte Fra‐
gen sowohl einen Leitfaden für die Datenextraktion als auch eine Methodik für
die Anwendung der Daten‐ und Prozessanalyse zu haben. Des Weiteren spielt der
Datenschutz für eine faire und transparente Durchführung von PM‐Projekten eine
wichtige Rolle.

 PM‐spezifische Faktoren
Die Wahl der PM‐Software und das Vorhandensein von PM‐Expertise werden als
erfolgskritisch eingestuft. Im Vordergrund steht jedoch nicht die Anwendung des
bestmöglichen Tools, sondern die passende Lösung für die zu untersuchenden
Prozesse zu finden. Häufig bedeutet dies, unterschiedliche Tools zu kombinieren,
um bessere Modelle oder exaktere Analysen zu erhalten. Insbesondere sind struk‐
turierte und unstrukturierte Prozesse mit unterschiedlichen Methoden und Tools
zu analysieren. PM sollte an Prozessen mit einem hohen Abstraktionsgrad durch‐
geführt werden, um heterogene Muster von Prozessinstanzen besser verstehen
und verwalten zu können, die mit der Prozessüberwachung und ‐steuerung zu‐
sammenhängen. Weiterhin wird empfohlen das PM‐Projekt mit einer Testinstanz
zu beginnen, die für ein erstes Minimum Viable Product sorgt, das einen An‐
fangswert zeigt und neben Begeisterung auch Bewusstsein für PM im Unterneh‐
men schafft. Für einen langfristigen Einsatz von PM ist die Visualisierung der ge‐
samten Prozesslandschaft in Form von End‐to‐End Prozessen hilfreich. Eine breite
Anwendung von PM sollte nicht an bestimmten Prozesscharakteristika wie bei‐
spielsweise den Grad der Prozessstrukturierung (wenig strukturiert), des Pro‐
zessverlaufs (gleichzeitig, parallel) oder der Anzahl an Prozessvarianten scheitern.

133
Prozessketten in der Logistik
3
Die Interpretation der Ergebnisse muss aus der Unternehmensperspektive erfol‐
gen. Je mehr Experten in die Bewertungsphase integriert werden, desto umfas‐
sender kann die Analyse erfolgen. Eine domänenspezifische Ergebnisevaluierung
sollte jedoch nicht nur zum Projektabschluss durchgeführt werden, sondern in
Form von regelmäßigen Feedbackgesprächen soll eine kontinuierliche domänen‐
spezifische Evaluierung von jedem Ergebnisschritt erfolgen. Je mehr Informatio‐
nen von den Experten zur Verfügung gestellt werden, desto umfangreicher wird
das Wissen über den analysierten Prozess. Wichtig ist auch die Notwendigkeit des
Transfers der PM‐Ergebnisse in die betriebliche Realität in Form von Prozessver‐
besserungen. Demnach ist eine erfolgreiche PM‐Implementierung auch unmittel‐
bar mit Anpassungen des untersuchten Geschäftsprozesses in Form von Business
Process Reengineering verbunden.

3.2.3 Prozessleistungstransparenz
Prozessketten beschreiben Abläufe als eine Menge von verknüpften Prozessketten‐
elementen. Wesentlich ist jedoch, dass für die Erfassung der Prozessleistung jedes
Prozesskettenelement neben der informellen Beschreibung durch Kennzahlen parame‐
trisiert wird. Wichtige Kennzahlen sind dabei die Prozesskosten, die Prozesszeiten, die
Prozessqualität und die Prozessflexibilität. Diese Prozesskennzahlen dürfen jedoch
nicht isoliert betrachtet werden, sondern deren Wechselwirkungen sind zu beachten.

Kennzahlen stellen ein wichtiges Instrument des effizienzorientierten Logistik‐


managements dar. Unter Kennzahlen werden quantitative Daten verstanden, die als
bewusste Verdichtung der komplexen Realität über zahlenmäßig erfassbare betriebs‐
wirtschaftliche Sachverhalte informieren sollen. Nach der statistischen Form lassen
sich absolute und relative Kennzahlen unterscheiden, wobei den relativen Kennzahlen
(Verhältniszahlen) aufgrund der höheren Aussagekraft eine größere Bedeutung zu‐
kommt. Hierbei differenziert man in Gliederungs‐, Beziehungs‐ sowie Maßzahlen. Die
wichtigsten Funktionen, die Kennzahlen zu erfüllen haben, können wie folgt zusam‐
mengefasst werden228:

 Operationalisierungsfunktion: Mit Hilfe von Kennzahlen werden Leistungen und


Ziele sowie die Erreichung von Zielen quantifizierbar.

 Anregungsfunktion: Die laufende Erfassung und Beobachtung von Kennzahlen


ermöglicht ein Erkennen von Auffälligkeiten oder Veränderungen im betrieb‐
lichen Leistungsprozess.

 Vorgabe‐, Steuerungs‐ und Kontrollfunktion: Durch die Vorgabe von Zielen in


Form von Kennzahlen und die ständige Kontrolle der Zielrealisierung können bei
Abweichungen zwischen Soll‐ und Ist‐Kennzahl entsprechende Steuerungsmaß‐
nahmen ergriffen werden.

228 Vgl. WEBER (1995, S. 188).

134
3.2
Prozessmodellierung

 Informationsfunktion: Erhöhung der Qualität der Informationen für das Manage‐


ment.

 Koordinationsfunktion: Logistikkennzahlen ermöglichen eine stellen‐, bereichs‐


und unternehmensübergreifende Koordination logistischer Aufgaben.

Damit Kennzahlen die oben genannten Funktionen erfüllen können, sind an die Kenn‐
zahlenbildung bestimmte Anforderungen zu stellen. Kennzahlen sollen die betriebli‐
chen Tatbestände und Prozesse so realistisch und aktuell wie möglich abbilden, d. h.
dass die entscheidenden Größen eines quantifizierbaren Prozesses oder Zustands in
der Kennzahl zum Ausdruck kommen müssen. Außerdem sollte eine Kennzahl aus‐
schließlich entscheidungsrelevante Informationen abbilden. Eine inner‐ und zwi‐
schenbetriebliche Vergleichbarkeit sowie ein Vergleich zu verschiedenen Zeitpunkten
sollten durch Kennzahlen gewährleistet sein. Aus der Vorgabefunktion ergibt sich die
Anforderung, dass die durch die Kennzahl dargestellte Zielgröße für die entsprechen‐
den Handlungsträger voll beeinflussbar sein muss. Aus Kosten‐ und Nutzenüberle‐
gungen sollten die Kennzahlen soweit wie möglich aus dem betrieblichen Informati‐
onssystem gebildet werden können. Kennzahlen müssen auch zueinander kompatibel
sein, um den späteren Aufbau von Kennzahlensystemen oder ihre Vergleichbarkeit
miteinander zu ermöglichen.

3.2.3.1 Prozesszeit
Die Prozesszeit ist ein leistungsdifferenzierender Wettbewerbsfaktor, da kürzere Pro‐
zesszeiten die Reaktionsfähigkeit und die Termintreue erhöhen sowie die Kapitalbin‐
dung und somit die Kosten reduzieren. Kürzere Prozesszeiten erhöhen auch die Pro‐
zessqualität, da Rückkoppelungen schneller stattfinden und somit die Lernkurve stei‐
ler verläuft. Des Weiteren haben kurze Prozesszeiten eine Erhöhung der Prognose‐
sicherheit und Verringerung des Prognoseaufwands zur Folge. Die Prozesszeit eines
Geschäftsprozesses setzt sich aus den Prozesszeiten der Teilprozesse zusammen, wo‐
bei für die Messung der Prozesszeit von Teilprozessen eine genaue Bestimmung der
Transformation, welche der Messung zugrunde gelegt wird, vorausgesetzt wird. Für
die Erfassung der Prozesszeiten können Laufzettel, Selbstaufschreibungen oder Auf‐
tragsbegleitkarten ausgewertet werden. Auch können Daten aus der Betriebsdatener‐
fassung genutzt werden, falls dort die Messpunkte der zu untersuchenden Prozesse
richtig eingegrenzt werden können. Prozesszeiten werden als Durchlaufzeit oder Zyk‐
luszeit gemessen229.

Die Durchlaufzeit ist die Zeitstrecke vom Anfang bis zum Ende der Transformation im
Prozesskettenelement. Sie ergibt sich aus der Summe der zeitbestimmenden Aktivitä‐
ten einer Transformation, wobei zeitparallele Aktivitäten nicht berücksichtigt werden.
Im Gegensatz zur Durchlaufzeit berechnet sich die Zykluszeit aus der Summe der
zeitbestimmenden Aktivitäten einer Transformation, wobei auch zeitparallele Aktivitä‐

229 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 275ff).

135
Prozessketten in der Logistik
3
ten addiert werden. Somit ist im Fall parallel ablaufender Aktivitäten die Zykluszeit
länger als die Durchlaufzeit. Da die Zykluszeit die Zeitdauer der Ressourcenbindung
misst, erhöht eine Verkürzung der Zykluszeit die Prozesseffizienz.

Die Prozesszeit setzt sich aus der wertschöpfenden Bearbeitungszeit sowie der nicht‐
wertschöpfenden Transfer‐ und Liege‐ bzw. Wartezeit zusammen. Die Bearbeitungs‐
zeit umfasst diejenigen Zeitanteile, die unmittelbar zur Erstellung des Prozessoutputs
beitragen. Die Transferzeit setzt sich aus Zeiten für die Weitergabe von Zwischen‐ und
Endergebnissen zusammen. Zeiten, in denen die Bearbeitung oder der Transfer ruht,
weil z. B. benötigte Inputs oder Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, werden als
Liege‐ bzw. Wartezeit bezeichnet. Transfer‐ und Liegezeiten liefern somit keinen Bei‐
trag zur Wertschöpfung, da sie keinen Mehrwert im Sinne eines zusätzlichen Kunden‐
nutzens erzeugen. Untersuchungen zeigen, dass die Zeitanteile der Liege‐ und Trans‐
ferzeiten ca. 90% der Durchlaufzeit betragen und somit ein erhebliches Rationalisie‐
rungspotenzial darstellen230. Die Zeiteffizienz wird als Verhältnis aus der Summe der
Bearbeitungszeiten und der Durchlaufzeit bzw. der Zykluszeit berechnet. Zeitineffizi‐
enzen treten aufgrund nicht abgestimmter Aktivitäten, unterschiedlichen Bearbei‐
tungsprioritäten und fehlenden oder unzureichenden Informationen zwischen ver‐
schiedenen Bereichen auf.

3.2.3.2 Prozessqualität
Unter Prozessqualität wird das Vermögen einer Gesamtheit inhärenter Merkmale
eines Prozesses zur Erfüllung der Anforderungen von Kunden oder anderen interes‐
sierten Parteien verstanden. Die Prozessqualität wird anhand von Fehlern gemessen,
d. h. ein Prozessergebnis stimmt nicht mit den an den Prozess gestellten Anforderun‐
gen überein. Eine hohe Prozessqualität wird erreicht, wenn Prozesse beherrscht wer‐
den, d. h. es werden keine Fehler angenommen, keine Fehler gemacht und keine Feh‐
ler weitergegeben. Somit ist die präventive Qualitätssicherung ein wichtiges Instru‐
ment zur Verbesserung der Prozessqualität. Eine Beherrschung der Geschäftsprozesse
wirkt sich positiv auf die Kundenzufriedenheit und die Effizienz aus, da durch ver‐
miedene Fehler keine Zeiten, Ressourcen und Kosten zur Fehlerentdeckung, ‐analyse,
‐behebung und ‐vermeidung anfallen. Die Prozessqualität kann z. B. über Qualitäts‐
kosten, First Pass Yield oder Fehlerraten gemessen werden231.

Qualitätskosten lassen sich in Präventiv‐ und Fehlleistungskosten unterteilen. Die


Präventivkosten umfassen die Kosten für alle Maßnahmen, die das Erreichen der Qua‐
litätsziele sichern. Zu den Fehlleistungskosten gehören die Kosten für die Fehlerentde‐
ckung, ‐analyse und ‐behebung. Mit Präventivkosten kann auch die Höhe der Fehlleis‐
tungskosten verringert werden, die auf eine mangelnde Effizienz der Prozesse hinwei‐
sen. Für eine Erfassung der Qualitätskosten müssen die Präventiv‐ und Fehlleistungs‐

230 Vgl. WILDEMANN (2009, S. 367); SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 283).


231 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 288ff).

136
3.2
Prozessmodellierung

kosten mit Hilfe einer Prozesskostenrechnung232 ermittelt werden, da sie mit einer
traditionellen Kostenrechnung nicht oder nur ungenau erfasst werden.

Mit der Kennzahl First Pass Yield (FPY) wird derjenige Prozentsatz des Prozessout‐
puts bezeichnet, der nach dem ersten Prozessdurchlauf fehlerfrei ist. Der FPY steht in
reziproker Beziehung zu den Fehlleistungskosten, d. h. eine Erhöhung der Kennzahl
FPY reduziert die Fehlleistungskosten und steigert die Kundenzufriedenheit. Im Ge‐
gensatz zur Kennzahl FPY wird mit der Kennzahl Final Yield die Prozessoutputmenge
nach Durchlauf aller Prozessschritte bezeichnet und durch Multiplikation der FPYs
aller Teilprozesse ermittelt.

Die Fehlerrate eines Prozesses wird ermittelt, indem die nach einem Prozessdurchlauf
aufgetretene Anzahl von Fehlern durch die Gesamtsumme der Prozessergebnisse
dividiert wird. Diese Kennzahl wird in Fehler pro Million Möglichkeiten angegeben
(ppm). Die Prozessstreuung wird mit der Standardabweichung  gemessen. Durch
eine Verringerung der Prozessstreuung kann die Prozessqualität verbessert werden.
Ein Prozess weist eine ausgezeichnete Qualität auf (99,99966% Prozessqualität bzw. six
sigma‐Prozess), wenn bei seinen aus Kundensicht kritischen Merkmalen nicht mehr
als 3,4 Fehler pro Million Möglichkeiten auftreten.

3.2.3.3 Prozessflexibilität
Mit der Prozessflexibilität wird die Eigenschaft eines Prozesses bezeichnet, proaktive
oder reaktive sowie zielgerichtete Änderungen eines Prozesses zu ermöglichen, um
veränderte Marktanforderungen oder Umweltbedingungen zu erfüllen. Flexible Pro‐
zesse ermöglichen zum einen, dass sie trotz leicht veränderter Aufgabenstellungen
den für den Prozess definierten Output bringen. Zum anderen müssen sich Prozesse
auch an neue Anforderungen anpassen und einen veränderten Output bringen kön‐
nen, wenn dies aufgrund neuer Anforderungen notwendig ist. Eine hohe Prozessflexi‐
bilität bedeutet, dass einerseits bereits bestehende Prozesse bzw. deren Prozessmodell
schnell an neue Gegebenheiten angepasst werden können und andererseits die schnel‐
le Implementierung von neuen, robust und flexibel ausführbaren Prozessen.

Die Prozessflexibilität ist eng mit der Prozesszeit verbunden, da die grundlegenden
Elemente der Prozessflexibilität sowohl die Anpassung an veränderte Umwelt‐
anforderungen oder Marktanforderungen, als auch die Geschwindigkeit zur Anpass‐
ung sind233. Mit einer hohen Prozessflexibilität sichern Unternehmen langfristig ihre
Existenz, da sie Unternehmen ermöglicht in einem turbulenten Umfeld mit wechseln‐
den Bedingungen Chancen zu nutzen und Risiken abzuwenden. Eine Voraussetzung
zur Anpassung an neue Bedingungen sind klar strukturierte Prozesse, da dadurch
Teilprozesse verändert werden können, ohne dass der Gesamtzusammenhang verlo‐
ren geht. Die Messung der Prozessflexibilität kann z. B. als Verhältnis aus der in der
geforderten Zeit realisierten Prozessanpassungen bzw. ‐implementierungen und der

232 Vgl. Kapitel 3.2.3.


233 Vgl. BOGASCHEWSKY/ROLLBERG (1998, S. 10).

137
Prozessketten in der Logistik
3
Gesamtanzahl der geforderten Prozessanpassungen bzw. ‐implementierungen berech‐
net werden.

3.2.3.4 Prozesskosten
Mit Kosten erfolgt eine monetäre Bewertung des Verzehrs von Gütern und Diensten
zur Erstellung betrieblicher Leistungen, wobei die Aussagekraft der Kosten wesentlich
vom angewandten Kostenrechnungssystem abhängt. Ein wesentlicher Mangel der
traditionellen Kostenrechnungssysteme besteht darin, dass nur die Einzelkosten direkt
und die Gemeinkosten durch Zuschlagssatzbildung, d. h. nicht verursachungsgerecht,
den Kostenträgern zugerechnet werden. Gerade durch die Zunahme der planerischen,
überwachenden und dispositiven Aktivitäten in den Unternehmen ergibt sich heute
ein Übergewicht der Gemeinkosten gegenüber den Einzelkosten. Diese Verschiebung
in der Kostenstruktur wird durch die traditionelle Zuschlagskalkulation, die Gemein‐
kosten auf Basis einer wertabhängigen Bezugsgröße verrechnet, nicht berücksichtigt,
sodass die Zuschlagskalkulation zu falschen Ergebnissen führt. So werden beispiels‐
weise komplexe Produkte mit vielen Varianten, die wenig nachgefragt werden, mit zu
niedrigen Kosten und andererseits einfache, variantenarme Produkte mit zu hohen
Kosten kalkuliert. Die Zuschlagskalkulation berücksichtigt somit nicht, dass die Kos‐
tenstellen durch einfache und komplexe Produkte sehr unterschiedlich beansprucht
werden.

Die Prozesskostenrechnung versucht diesen Mangel zu beseitigen, indem sie die Ge‐
meinkosten bestimmter Kostenstellen zunächst den in diesen Kostenstellen erbrachten
Leistungen zuordnet. Anschließend bestimmt die Anzahl der vom Kostenträger ver‐
brauchten Leistungen die Höhe der diesem Kostenträger zuzurechnenden Gemeinkos‐
ten.

3.2.4 Prozesskostenrechnung
Zur Quantifizierung und Steuerung der Wertschöpfungsaktivitäten sollte ein prozess‐
orientiertes Kostenrechnungssystem zum Einsatz kommen. Die Prozesskosten‐
rechnung betont die Bedeutung von Prozessen und deren Zusammengehörigkeit über
mehrere Kostenstellen hinweg, woraus sich die Eignung dieses Ansatzes zur kosten‐
und leistungsmäßigen Abbildung logistischer Prozesse ergibt. Die Prozesskosten‐
rechnung geht auf das amerikanische System des „Activity Based Costing“ zurück234.
Sie stellt kein neues Kostenrechnungssystem dar, sondern bedient sich der traditionel‐
len Kostenarten‐ und Kostenstellenrechnung. Die Prozesskostenrechnung wurde in
ihrer ursprünglichen Form als Vollkostenrechnung konzipiert, d. h. es wird keine
Trennung in fixe und variable Kosten vorgenommen.

234 Vgl. COENENBERG/FISCHER (1991, S. 21f).

138
3.2
Prozessmodellierung

Der wesentliche Unterschied zur konventionellen Vollkostenkalkulation besteht darin,


dass die Verrechnung der Gemeinkosten auf die Produkte nicht über pauschale Zu‐
schlagssätze erfolgt. Vielmehr werden in den Gemeinkostenbereichen Aktivitäten als
ressourcenkonsumierende und damit als kostentreibende Faktoren betrachtet. Den
Produkten werden die Gemeinkosten anhand der von ihnen in Anspruch genomme‐
nen Aktivitäten zugerechnet. Als Aktivitäten können dabei physische (z. B. Ware ein‐
lagern), administrative (z. B. Lagerzugang erfassen) oder wertmäßige Vorgänge (z. B.
Verzinsung von Lagerbeständen) definiert werden. Voraussetzung für diese Vorge‐
hensweise ist das Vorhandensein überwiegend repetitiver, d. h. sich regelmäßig wie‐
derholender Tätigkeiten mit vergleichsweise geringem Entscheidungsspielraum. Mit
der Prozesskostenrechung werden folgende Zielsetzungen angestrebt (vgl. Abbildung
3‐8)235:

 Verursachungsgerechte Produktkalkulation:
Ein möglichst hoher Anteil der entstandenen Gemeinkosten soll verursachungs‐
gerecht auf die Produkte zugerechnet werden. Zur Vermeidung von strategischen
Fehlentscheidungen ist eine Vollkostenrechnung erforderlich, die auch die als fix
betrachteten „sunk costs“ berücksichtigt.

 Effiziente Planung und Kontrolle der Gemeinkosten:


Durch die Bestimmung der Sub‐ bzw. Hauptprozesse und deren Kostentreiber
sowie der Ermittlung der Prozesskostensätze für die ausgeübten repetitiven Tä‐
tigkeiten wird deutlich, wofür Ressourcen eingesetzt werden und wodurch ihr
Volumen bestimmt wird.

 Erhöhung der Kostentransparenz in den indirekten Bereichen:


Die Prozesskostenrechnung soll die Gemeinkostenstruktur für die Entscheidungs‐
träger transparenter machen, woraus sich wichtige Anhaltspunkte für Rationali‐
sierungsmaßnahmen ableiten lassen.

Abbildung 3‐8 Ziele der Prozesskostenrechnung

Kalkulation Transparenz Effizienz


• Verursachungsgerechte Ver‐ • Rationalisierungspotenziale • Wirtschaftlichkeitskontrolle
teilung der Gemeinkosten • Kapazitätssteuerung • der Prozesse und Verhal‐
• Ermittlung tatsächlicher • Ressourcenverbrauch tensweisen
Selbstkosten • Verrechnungspreise • Realisierung von Rationali‐
• Strategische Ausrichtung • Kosten von Produktions‐ sierungspotenzialen
• Verrechnung interner • und Verfahrensänderungen • Gemeinkostenreduktion
• Dienstleistungen • Verantwortungs‐ und kos‐ und ‐budgetierung
• Produktkalkulation • tenbewusstes Handeln • Schnittstellenmanagement

235 Vgl. CERVELLINI (1994, S. 65); MAYER (1990, S. 75).

139
Prozessketten in der Logistik
3
3.2.4.1 Ablauf der Prozesskostenrechnung

Grundlage der Prozesskostenrechnung bildet die Erfassung der in den einzelnen Kos‐
tenstellen durchgeführten Tätigkeiten, wobei sachlich zusammenhängende Tätigkei‐
ten zu Subprozessen verdichtet werden. Neben der Zuordnung von Subprozessen zu
Kostenstellen erfolgt darüber hinaus eine Zusammenfassung zu übergeordneten
Hauptprozessen, wodurch erst der kostenstellen‐ bzw. abteilungsübergreifende Cha‐
rakter von Prozessen abgebildet wird. Die Aggregation zu Hauptprozessen dient ins‐
besondere dazu, wenige wichtige gemeinkostentreibende Faktoren zu identifizieren,
und soll die Gemeinkostenverrechnung auf die Produkte ermöglichen.

Die Prozesskostenrechnung wird in folgenden Schritten durchgeführt:

Schritt 1: Festlegung der Bereiche in denen die Prozesskostenrechnung eingeführt


werden soll
Da der Einführungsaufwand für die Prozesskostenrechnung sehr hoch ist,
sollten ausgewählte logistische indirekte Bereiche für deren Einführung
festgelegt werden.

Schritt 2: Analyse der in den Kostenstellen der indirekten Bereiche ablaufenden


Aktivitäten
Inhaltlich zusammengehörende Aktivitäten einer Kostenstelle werden zu
Teilprozessen aggregiert. In Abhängigkeit von der Leistungsmenge, die in
der Kostenstelle erbracht wird, lassen sich leistungsmengeninduzierte Pro‐
zesse (lmi), die sich in Abhängigkeit von dem in der Kostenstelle zu erbrin‐
genden Arbeitsvolumen mengenvariabel verhalten (z. B. Material lagern)
von leistungsmengenneutralen Prozessen (lmn), die unabhängig von der Ar‐
beitsmenge generell anfallen (z. B. Abteilung leiten), unterscheiden. Leis‐
tungsmengenneutrale Prozesse stellen überwiegend dispositive, planende
und organisatorische Tätigkeiten dar.
Schritt 3: Festlegung der Kostentreiber
Für die leistungsmengeninduzierten Prozesse müssen geeignete Bezugsgrö‐
ßen, sogenannte Kostentreiber (cost driver) festgelegt werden, mit deren
Hilfe eine Verrechnung der angefallenen Gemeinkosten ermöglicht wird.
Kostentreiber stellen direkte Maßstäbe der Kostenverursachung dar, wobei
zwischen Kostentreibern und Prozesskosten (langfristig) eine proportionale
Beziehung unterstellt wird. Die Kostentreiber sollten sich aus dem verfüg‐
baren Informationssystem einfach ableiten lassen, verständlich sein und sich
möglichst proportional zur Beanspruchung der Ressourcen verhalten. Als
Beispiele für Bezugsgrößen in der Logistik können die Anzahl der Ein‐ und
Auslagerungsvorgänge, der Lieferscheinpositionen, der Materialbestellun‐
gen und die Kubikmeter Lagerraum genannt werden.

140
3.2
Prozessmodellierung

Schritt 4: Bestimmung der Planprozessmengen und Planprozesskosten


Für jede Bezugsgröße ist in einem weiteren Schritt eine Planprozessmenge
zu bestimmen, welche die Anzahl der geplanten Prozessauslösungen für ei‐
nen definierten Zeitraum angibt. Den Planprozessmengen sind Planpro‐
zesskosten zuzuordnen, die sich entweder analytisch mit Hilfe technisch‐
kostenwirtschaftlicher Verfahren236 oder auf der Basis von Vorjahres‐ bzw.
Budgetwerten ermitteln lassen. Die Planprozesskosten stellen die Summe al‐
ler Kosten(arten) dar, die durch einen Teilprozess in dem betrachteten Zeit‐
raum verursacht werden.

Schritt 5: Bestimmung der Prozesskostensätze


Stehen die Planprozesskosten und die Planprozessmengen fest, dann ergibt
sich der Prozesskostensatz, d. h die durchschnittlichen Kosten für die ein‐
malige Ausführung bzw. Nutzung eines leistungsmengeninduzierten Pro‐
zesses aus dem Quotienten der Planprozesskosten und der Planprozess‐
menge:

Planprozesskosten Input 1
Prozesskostensatz   
Planprozessmenge Output Produktivität
Eine Produktivitätsbetrachtung unterstützt ein Funktionscontrolling in den
verschiedenen Wertschöpfungsstufen. Produktivitätskennzahlen über die
Zeit betrachtet zeigen einerseits Rationalisierungspotenziale auf und geben
andererseits Hinweise ob und wie schnell produktivitätssteigernde Prozess‐
verbesserungen bereits erreicht wurden.

Schritt 6: Bestimmung des Umlagesatzes


Für die Behandlung der prozessmengenunabhängigen Kosten erfolgt die
Umlage der leistungsmengenneutralen Prozesskosten proportional zur Hö‐
he der leistungsmengeninduzierten Prozesskostensätze237:

Prozesskosten(lmn)
Umlage 
Prozesskosten(lmi)
Der Umlagesatz der prozessmengenunabhängigen Kosten ergibt sich durch
Multiplikation des Prozesskostensatzes mit der Umlage:

Umlagesatz  Prozesskostensatz  Umlage


Schritt 7: Prozesskosten kostenstellenübergreifender Hauptprozesse:
Durch Addition von Prozesskostensatz und Umlagesatz ergibt sich der Ge‐
samtprozesskostensatz, der zur Wirtschaftlichkeitsanalyse der zugrunde‐
liegenden Tätigkeiten verwendet werden kann. Den Gesamtprozesskosten‐

236 Zur analytischen Kostenplanung sei auf KILGER ET AL. (2012, S. 289ff) verwiesen.
237 Die Problematik der Proportionalisierung von fixen Gemeinkosten kann durch eine Unter‐
scheidung der Prozesskosten in variable und fixe Kostenbestandteile gelöst werden, vgl.
KLOOCK (1992, S. 241ff).

141
Prozessketten in der Logistik
3
satz des kostenstellenübergreifenden Hauptprozesses erhält man durch Ad‐
dition der Kostensätze seiner Subprozesse (vgl. Abbildung 3‐9).

Abbildung 3‐9 Bildung von Haupt- und Geschäftsprozessen

Logistik‐
Geschäfts‐ Produkt‐
Einkauf manage‐
prozesse management
ment

Hauptprozesse Zentrale Distribution Internatio‐ Internatio‐


Zentrale
zu „Logistik‐ Beschaffung
Einlage‐ Flughafen‐ nale Pla‐ nale Distri‐
management“ rung drehkreuz nung bution

Kostentreiber Anzahl Artikel Anzahl Warenein‐ Anzahl Anzahl internat. Anzahl internat.
gangspositionen Distributionen Standorte Distributionen

Teilprozesse Sendungen Transport‐ Zolldoku‐


Waren
zu „Internatio‐ auslagern
kommis‐ auftrag ver‐ mente vorbe‐
nale Distribution“ sionieren geben reiten

3.2.4.2 Würdigung der Prozesskostenrechnung


Die Prozesskostenrechnung ermöglicht eine genauere und verursachungsgerechtere
Zuordnung der Aufwendungen, die durch die einzelnen Produkte in den indirekten
Bereichen entstehen. Darüber hinaus liefert die Prozesskostenrechnung Ansatzpunkte
für die Erhöhung der betrieblichen Effizienz, da sie den Anteil der betrieblichen Res‐
sourcen aufzeigt, der für Nacharbeiten, Reparaturen und Reklamationen gebunden
wird. Durch eine möglichst verursachungsgerechte Kostenzurechnung wird zusätzlich
das Verantwortungsgefühl für die in den einzelnen Bereichen entstehenden Kosten
gefördert.
Außerdem unterstützt die Prozesskostenrechnung die Entwicklung von Produkten
geringer Komplexität, da bereits in der Entwurfsphase die Beanspruchung der betrieb‐
lichen Prozesse durch neue Produkte berücksichtigt werden kann. So würden z. B.
schon beim Produktentwurf diejenigen erhöhten Kosten Beachtung finden, die ein
Produkt in der Beschaffung verursacht, wenn es aus vielen verschiedenen Teilen zu‐
sammengesetzt ist und daher viele Bestellpositionen (Kostentreiber) verursacht.

Zur Durchführung der prozessorientierten Kostenrechnung ist jedoch ein erheblicher


Aufwand notwendig. Die Prozessstruktur muss analysiert und transparent dargestellt
werden. Ferner müssen für die einzelnen Prozesse die Kostentreiber bestimmt und in
einem dynamischen Umfeld laufend die Prozessmengen und Prozesskosten aktuali‐
siert werden. Ein kritisch zu beleuchtender Punkt ist die durch das Konzept unter‐
stellte Proportionalität zwischen den identifizierten Prozessgrößen und Prozesskosten.
Auch stößt die Prozesskostenrechnung bei einer geringen Anzahl repetitiver Prozesse
an ihre Grenzen. Die Prozesskostenrechnung ist besonders für folgende Kostenblöcke

142
3.2
Prozessmodellierung

geeignet: Materialgemeinkosten, Fertigungsgemeinkosten und Vertriebsgemeinkosten.


Weniger geeignet ist sie dagegen für Kosten der Verwaltung (Personal, Organisation,
Management etc.), da hier i. d. R. keine direkte Beanspruchung von Kostentreibern
durch die Produkte festzustellen ist. Durch die Berücksichtigung von leistungs‐
mengenneutralen Prozessen und deren Kosten weist die Prozesskostenrechnung Prob‐
leme bei der verursachungsgerechten Zurechnung der Gemeinkosten auf die Kosten‐
träger auf. Es bleibt immer ein Restrisiko von verzerrten Kosteninformationen und
daraus resultierenden Entscheidungen bestehen.

Beispiel 3.2.1:

Das Unternehmen Mont Black bietet neben hochwertigen Schreibgeräten auch Leder‐
waren an, die in Handarbeit gefertigt werden. Derzeit sind hohe Kosten für die Lei‐
tung der Qualitätssicherungsabteilung sowie die Schulung der Mitarbeiter im Waren‐
eingang zu verzeichnen. Diese sollen den am Standort Meissen gefertigten Produkten
verursachungsgerecht zugeordnet werden. Für die Durchführung einer Prozesskos‐
tenrechnung für den Prozess „Qualitätssicherung Wareneingang“ werden die not‐
wendigen Daten vom Leiter der Controlling‐Abteilung in der angegebenen Tabelle
bereitgestellt.

Die Kosten für die Leitung der Abteilung sowie für die Schulung der Mitarbeiter stel‐
len die leistungsmengenneutralen Kosten dar.

Damen‐
Prozess ʺQualitätssiche‐ Brieftasche Organizer Etui Mau‐
handtasche Summe
rung Wareneingangʺ Karl L. Boheme ritius
Gloria
Planprozessmenge (ME) 5000 3000 4100 8000
Material beschaffen
Plankosten Prüfen des
Leders auf Unebenheiten
55000 33200 42000 80000
und Aussortieren
schlechter Leder (Euro)
Plankosten Transport der
Leder zum Fertigungsbe‐ 22000 10900 9900 27000
reich (Euro)
Plankosten Leitung der
60000
Abteilung (Euro)
Plankosten Schulung der
10000
Mitarbeiter (Euro)

Für den Prozesskostensatz der Damenhandtasche Gloria erhält man:

Planprozesskosten 55000  22000


Prozesskostensatz    15,4 Euro/ME
Planprozessmenge 5000

143
Prozessketten in der Logistik
3
Für die Umlage der leistungsmengenneutralen Prozesskosten gilt:

Prozesskosten(lmn) 60000  10000


Umlage    0,25
Prozesskosten(lmi) 210200  69800
Somit verteuern sich die Prozesskostensätze um 25% und für den Umlagesatz der
Handtasche gilt:

Umlagesatz  Prozesskostensatz  Umlage  15,4  0,25  3,85 Euro/ME


In der folgenden Tabelle sind die resultierenden Prozesskosten‐, Umlage‐ und Ge‐
samtprozesskostensätze angegeben:

Prozesskostensatz Umlagesatz Gesamtprozesskosten‐


(Euro/ME) (Euro/ME) satz (Euro/ME)
Damenhandtasche
15,40 3,85 19,25
Gloria
Brieftasche Karl L. 14,70 3,68 18,38
Organizer Boheme 12,66 3,16 15,82
Etui Mauritius 13,38 3,34 16,72

3.2.5 Target Costing


Target Costing ist ein ganzheitlicher Ansatz des Kostenmanagements, der im Jahre
1965 bei Toyota entwickelt und über Japan und Amerika Ende der achtziger Jahre
auch in Deutschland unter dem Begriff Zielkostenmanagement angewendet wurde.
Unter Target Costing versteht man einen umfassenden Prozess der marktorientierten
Planung, Steuerung und Kontrolle der Kosten, um bereits zu Beginn der Entstehung
eines Produktes, einer Dienstleistung oder eines Prozesses die Kosten bzgl. den
Marktanforderungen wettbewerbsfähig über den gesamten Produkt‐, Dienstleistungs‐
oder Prozesslebenszyklus gestalten zu können238. Im Vordergrund steht somit die
Frage „Was darf ein Produkt, eine Dienstleistung oder ein Prozess kosten?“ und nicht
„Was wird ein Produkt, eine Dienstleistung oder ein Prozess kosten?“.

3.2.5.1 Ziele und Ablauf des Target Costing


Target Costing identifiziert die maximalen Kosten, zu denen ein vom Markt definiertes
Produkt, eine Dienstleistung oder ein Prozess vor dem Hintergrund der Gewinnziele
erstellt werden muss. Somit fokussiert Target Costing auf die Optimierung des Wert‐
schöpfungsnetzwerkes eines neu zu entwickelnden Produktes, einer neuen Dienstleis‐
tung oder eines neuen Prozesses. Mit Target Costing können auch Kostensenkungspo‐
tenziale für existierende Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse aufgezeigt werden

238 Vgl. HORVATH/SEIDENSCHWARZ (1992, S. 142).

144
3.2
Prozessmodellierung

und fördert somit Effizienzsteigerungen in den indirekten Bereichen. Bei der Anwen‐
dung auf den Dienstleistungsbereich sind die logistischen Leistungen, die die Abneh‐
mer in Anspruch nehmen, als Produktfunktionen im weiteren Sinn zu sehen. Voraus‐
setzung für seine Anwendung ist, dass die Dienstleistung oder der Prozess einen ho‐
hen Wiederholungsgrad haben und somit die getroffene Entscheidung eine nach‐
haltige Wirkung auf die langfristige Entwicklung des Unternehmens hat. Andernfalls
wäre der relativ hohe Aufwand nicht gerechtfertigt.
Mit Target Costing werden folgende Zielsetzungen angestrebt239:

 Markt‐ und kundengerechte Entwicklung von Produkten, Dienstleistungen und


Prozessen,
 Betrachtung der Produkte, Dienstleistungen und Prozesse über den gesamten
Lebenszyklus,
 Gezieltes Kostenmanagement bereits in der Entwicklungs‐ und Konstruktions‐
phase,
 Aufzeigen von Kostensenkungspotenzialen bei bestehenden Produkten, Dienst‐
leistungen und Prozessen,
 Effizienzsteigerungen in indirekten Bereichen,
 Motivations‐ und Anreizfunktion bei Mitarbeitern,
 Anwendung eines funktionsübergreifenden Instrumentenmixes.

Target Costing für die Entwicklung neuer Produkte oder Prozesse wird in folgenden
Schritten durchgeführt:

Schritt 1: Ermittlung des potenziellen Marktpreises und der entsprechenden Stück‐


zahl
Voraussetzung zur Zielpreisfestlegung ist, dass zunächst die anvisierte
Kundengruppe genau identifiziert wird. Es muss festgelegt werden, welche
Produkt‐ oder Prozessanforderungen bei der identifizierten Zielgruppe be‐
deutsam sind. Mit Hilfe der Marktforschung werden der potenzielle Markt‐
preis und die Absatzmenge des neuen Produkts bzw. der Marktpreis für ei‐
nen Prozess ermittelt. Gleichzeitig werden aus den Präferenzen der Kunden
die Wichtigkeit einzelner Produkt‐ bzw. Prozessmerkmale und Ausprägun‐
gen abgeleitet. Als geeignete Methode kann hierzu die Conjoint‐Analyse240
angewendet werden.
Schritt 2: Bestimmung der zulässigen Kosten – allowable costs
Für die Bestimmung der zulässigen Kosten kann der „market into com‐
pany“‐ oder der „out of competitor“‐Ansatz herangezogen werden. Beim
„market into company“‐Ansatz werden die zulässigen Kosten (allowable
costs) dadurch bestimmt, indem der prognostizierte Umsatz um die vom

239 Vgl. COENENBERG ET AL. (1997, S. 189), Götze (1993, S. 381f).


240 Vgl. GREEN/RAO (1971); RAO (2008).

145
Prozessketten in der Logistik
3
Management geforderte Umsatzrendite reduziert wird. Werden die zulässi‐
gen Kosten aus den Produktionskosten bzw. Prozesskosten der Wettbewer‐
ber abgeleitet, z. B. im Rahmen eines wettbewerbsorientierten Benchmar‐
king241, dann wählt man den „out of competitor“‐Ansatz. Bei diesem Ansatz
kann man jedoch nur höchstens Zweitbester werden. In den zulässigen Kos‐
ten sind alle Kosten enthalten, die während des gesamten Lebenszyklus ei‐
nes Produktes bzw. Prozesses entstehen dürfen und sind somit als schärfstes
Kostenziel zu betrachten. Die resultierenden zulässigen Kosten werden nun
noch um diejenigen Kosten (z. B. Kosten für Forschung, Marketing, Verwal‐
tung) reduziert, die nicht auf einzelne Produkt‐ oder Prozesskomponenten
heruntergebrochen werden können.

Schritt 3: Kostenspaltung
Die zulässigen Kosten aus Schritt 2 sind als Gesamtkosten für die geplante
Stückzahl vorgegeben. Um allerdings Kostenvorgaben für einzelne Kompo‐
nenten eines Produktes oder eines Prozesses zu erhalten, ist der Kostenblock
noch auf einzelne Komponenten aufzuspalten. Diese Kostenspaltung wird
anhand der Gewichtung der Produkt‐ bzw. Prozessmerkmale aus Kunden‐
sicht vorgenommen. Das Target Costing basiert auf der Grundannahme,
dass die Teilnutzenwerte der Produkt‐ oder Prozesskomponenten durch
analoge Kostenanteile realisiert werden, d. h. Komponenten, die stärker
zum Kundennutzen beitragen, dürfen auch mehr kosten. Das durch den
Kunden definierte Leistungsprofil wird auf Produkt‐ oder Prozesskompo‐
nenten übertragen und es wird geprüft, inwieweit die einzelnen Komponen‐
ten die von den Kunden geforderten Merkmale erfüllen.

Schritt 4: Ermittlung der geschätzten Kosten – drifting costs


Ausgehend von dem am Markt erfassten Anforderungsprofil des Produkts
bzw. Prozesses werden, unter Berücksichtigung der momentanen Abläufe
und Technologien im Unternehmen, die Kosten des neuen Produkts bzw.
Prozesses abgeschätzt. Diese Kosten werden als drifting costs bezeichnet
und entsprechen denjenigen, die aktuell vor der Durchführung etwaiger
kostenreduzierender Maßnahmen anfallen würden. Diese drifting costs
werden i. d. R. über den zulässigen Kosten liegen.

Schritt 5: Bewertung der drifting costs


Durch einen Vergleich des prozentualen Nutzenbeitrags, der bereits bei der
Kostenspaltung herangezogen wurde (Teilnutzen in %), und des prozen‐
tualen Kostenanteils je Produkt‐, bzw. Prozesskomponente (drifting costs)
können durch die Berechnung von Zielkostenindizes entsprechende Hand‐
lungsempfehlungen abgeleitet werden:

241 Vgl. Kapitel 4.1.

146
3.2
Prozessmodellierung

prozentualer Nutzenanteil
Zielkostenindex 
prozentualer Kostenanteil
Ergibt sich ein Zielkostenindex von 1, so hat diese Komponente den richti‐
gen Kostenanteil gemäß der Forderung der Kunden bereits erreicht. Liegt
der Wert dagegen über 1, so ist die Komponente aus Sicht der Kunden ver‐
mutlich „zu einfach“ und bei einem Wert kleiner als 1 „zu aufwändig“. Die
Zielkostenindizes lassen sich in einem Zielkostenkontrolldiagramm darstel‐
len (vgl. Abbildung 3‐10). Im Zielkostendiagramm werden für die Kompo‐
nenten auf der x‐Achse die Nutzenanteile (ui) in Prozent und auf der y‐
Achse die entsprechenden Kostenanteile (ci) in Prozent angetragen. Ein idea‐
les Kosten‐Nutzen‐Verhältnis wird durch die Diagonale repräsentiert. Kom‐
ponenten, die oberhalb der Diagonale liegen sind zu aufwändig und erfül‐
len Funktionen, die der Kunde nicht honoriert. Bei diesen Komponenten
lässt sich Handlungsbedarf für eine Kostensenkung ableiten. Komponenten
unterhalb der Diagonale sind zu einfach, sodass Nachbesserungen notwen‐
dig sind, falls der gewünschte Komponentennutzen nicht bereits mit einfa‐
chen Mitteln realisiert werden konnte.

Abbildung 3‐10 Zielkostenkontrolldiagramm

50
45 zu aufwändig
40
Kostenanteil in % (c)

35 P2
30
25 P4
P3
20 q=15
15
10 q=10 P1 zu einfach
q=15
5
q=10
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

Nutzenanteilgewichte in % (u)

Da das ideale Kosten‐Nutzen‐Verhältnis meist nicht erreichbar ist, wird ein Zielkorri‐
dor festgelegt. Dieser Zielkorridor gibt denjenigen Bereich an, in dem Abweichungen
der kalkulierten Komponentenkosten von den Zielkosten toleriert werden, solange die
gesamten Produkt‐ bzw. Prozesszielkosten eingehalten werden. Für Komponenten mit
hohen Kosten oder Nutzen ist die Einhaltung des idealen Kosten‐Nutzen‐Verhält‐

147
Prozessketten in der Logistik
3
nisses wichtiger als für Komponenten mit niedrigem Nutzen oder Kosten, d. h. der
Zielkostenkorridor verjüngt sich mit steigenden Kosten‐/Nutzenwerten. Die obere
Begrenzungslinie des Zielkorridors wird durch die Funktion yo  u  q und die
2 2

untere Begrenzungslinie durch die Funktion yu  max(u 2  q 2 ;0) definiert242. Diese


Funktionen bewirken, dass bei kleinen Nutzenanteilgewichten die Abweichungen von
der Diagonale größer sind als bei hohen Nutzenanteilgewichten. Somit wird sicherge‐
stellt, dass bei Komponenten mit einem hohen Nutzen keine großen Abweichungen
vom idealen Kosten‐Nutzen‐Verhältnis erlaubt sind. Mit dem Parameter q wird die
Höhe der Abweichung gesteuert und sollte kleiner als 20% gewählt werden. In der
Abbildung 3‐10 ist ein Zielkorridor für q=10 und q=15 angegeben. Mit steigendem q
wird der Zielkorridor breiter. Somit weisen die Komponenten P1 und P4 ein ideales
Kosten‐Nutzen‐Verhältnis auf. Die Komponente P2 ist zu aufwändig realisiert und
weist auf ein Kostensenkungspotenzial hin. Dagegen ist die Komponente P3 zu ein‐
fach realisiert, sodass zu prüfen ist, ob der gewünschte Kundennutzen mit dieser ein‐
fachen Realisierung erfüllt werden kann oder ob nachgebessert werden muss.

Beispiel 3.2.2:

Das Sportartikelunternehmen Nice möchte mit dem eleganten Freizeitschuh „Cushi“,


welcher durch eine spezielle Sohle Rückenschmerzen vorbeugen und lindern soll,
neue Marktanteile im Gesundheitsmarkt gewinnen. Für die Entwicklung des neuen
Schuhtyps wurde eine Marktforschung mit nachfolgenden Ergebnissen durchgeführt.
Der Schuh soll in Deutschland vertrieben werden, wobei eine Absatzmenge von
1.000.000 Stück zu einem Marktpreis von 250 €/Stück erwartet wird. Das Unternehmen
strebt eine Umsatzrendite von 20% an. Die Forschungskosten liegen bei 7.500.000 €.
Die Kosten für Marketing sowie Vertrieb liegen bei 5% und die Kosten für die Verwal‐
tung bei 2% des erwarteten Umsatzes. In den folgenden Tabellen sind die Kunden‐
wünsche mit den Gewichtungen sowie der Beitrag der einzelnen Produktkomponen‐
ten zur Erfüllung der Kundenwünsche angegeben.

Kundenwünsche elegantes leichter schmutz‐ hoher lange nicht


Design Schuh abweisende Komfort Halt‐ sichtb.
Oberfläche barkeit Ver‐
Produktkomponenten schlusst.
Obermaterial 30 30 100 20 30 0
Innenmaterial 15 20 0 10 10 0
Sohle 35 35 0 60 30 0
Schnürung 10 10 0 5 0 100
Verbindung Sohle/
10 5 0 5 30 0
Obermaterial

242 Vgl. TANAKA (1989, S. 67).

148
3.2
Prozessmodellierung

Kundenwünsche Gewichte
elegantes Design 25%
leichter Schuh 20%
schmutzabweisende Oberfläche 10%
hoher Komfort 35%
lange Haltbarkeit 5%
nicht sichtbare Verschlusstechnik 5%

Der Kundenwunsch elegantes Design wird somit zu 30% vom Obermaterial, zu 15%
vom Innenmaterial, zu 35% von der Sohle und jeweils zu 10% von der Schnürung bzw.
der Verbindung Sohle/Obermaterial beeinflusst. Unter Berücksichtigung der momen‐
tanen Abläufe und Technologien im Unternehmen ergeben sich für die Produktkom‐
ponenten die folgenden drifting cost:

Produktkomponenten drifting costs


(Euro/Stück)
Obermaterial 69
Innenmaterial 35
Sohle 60
Schnürung 19,5
Verbindung Sohle/Obermaterial 11,8

Bei einem Marktpreis von 250 €/Stück und einer Absatzmenge von 1.000.000 Stück
ergibt sich ein erwarteter Umsatz von 250.000.000 €. Unter Verwendung des „market
into company“‐Ansatzes ergeben sich durch Subtraktion der Umsatzrendite vom
Umsatz die folgenden allowable costs:
allowable costs = 250.000.000 € ‐ 50.000 € = 200.000.000 €
Diese allowable costs müssen vor der Kostenspaltung noch um die Forschungskosten,
die Kosten für Marketing und Vertrieb sowie für die Verwaltung verringert werden,
da diese nicht auf einzelne Produktkomponenten heruntergebrochen werden können.
Somit ergeben sich die folgenden allowable costs i. e. S.:
allowable costs i. e. S. = 200.000.000 € ‐ 7.500.000 € ‐ 12.500.000 €– 5.000.000 € =
175.000.000 €
Pro Stück resultieren allowable costs i. e. S. von 175 €. Der Teilnutzenwert der Pro‐
duktkomponenten berechnet sich aus dem Beitrag zur Erfüllung des Kundenwun‐
sches, gewichtet mit der Bedeutung des Kundenwunsches. Somit beträgt der Teilnut‐
zenwert des Obermaterials
0,25  30  0,20  30  0,10  100  0,35  20  0,05  30  0,05  0  32% .
Da die Teilnutzenwerte der Produktkomponenten durch analoge Kostenanteile der
allowable costs i. e. S. realisiert werden, ergeben sich für das Obermaterial erlaubte
Kosten in Höhe von 175 €  0,32 = 56 €.

149
Prozessketten in der Logistik
3
In der folgenden Tabelle werden die Teilnutzenwerte, die allowable costs sowie die
Zielkostenindizes angegeben:

Produktkomponenten
Verbindung
Ober‐ Innen‐ Schnü‐
Sohle Sohle/Ober‐
material material rung
Kundenwünsche Gewichte material
elegantes Design 0,25 30 15 35 10 10
leichter Schuh 0,2 30 20 35 10 5
schmutzabweisende
0,1 100 0 0 0 0
Oberfläche
hoher Komfort 0,35 20 10 60 5 5
lange Haltbarkeit 0,05 30 10 30 0 30
nicht sichtbare Ver‐
0,05 0 0 0 100 0
schlusstechnik
Teilnutzen in % 32 11,75 38,25 11,25 6,75
allowable costs i. e. S.
56,00 20,56 66,94 19,69 11,81
(€/Stck)
drifting costs (€/Stck) 69 35 60 19,5 11,8
Kostenanteil in % 39,43 20,00 34,29 11,14 6,74
Zielkostenindex 0,81 0,59 1,12 1,01 1,00

Aufgrund der resultierenden Zielkostenindizes haben die Schnürung und die Verbin‐
dung Sohle/Obermaterial die richtigen Kostenanteile. Das Innenmaterial und das
Obermaterial werden zu aufwändig und die Sohle wird etwas zu einfach hergestellt.

Beispiel 3.2.3:

Für ein mittelständisches Industrieunternehmen wurde im Rahmen eines wettbe‐


werbsorientierten Benchmarking der Lagerprozess, bestehend aus den Teilprozessen
bzw. Prozesskomponenten „Material einlagern (Kostentreiber: Anzahl Paletten)“,
„Materialzugang erfassen (Kostentreiber: Anzahl Bestellpositionen)“, „Fertigungs‐
material kommissionieren (Kostentreiber: Anzahl Stücklistenpositionen)“ und „Mate‐
rialabgang erfassen (Kostentreiber: Anzahl Stücklistenpositionen)“ analysiert. Mit dem
„out of competitor“‐Ansatz wurde für den untersuchten Lagerprozess als best in class‐
Vergleichskosten ein Prozesskostensatz von 17,69 € ermittelt, der als allowable costs
dient. In der folgenden Tabelle sind die Kundenwünsche mit den Gewichtungen, der
Beitrag der einzelnen Prozesskomponenten zur Erfüllung der Kundenwünsche sowie
die unter Verwendung der bisherigen Prozesse entstandenen drifting costs angegeben.

150
3.2
Prozessmodellierung

Prozesskomponenten
Material Material‐ Material Material‐
ein‐ zugang kommis‐ abgang
Kundenwünsche Gewichte lagern erfassen sionieren erfassen
Termintreue 0,40 20 15 50 15
Lieferzeit 0,30 20 10 60 10
Lieferqualität 0,20 30 0 70 0
Lieferkosten 0,10 50 25 20 5
drifting costs (€) 6,25 2,08 11,45 1,42

Der Teilnutzenwert der Prozesskomponenten berechnet sich aus dem Beitrag zur
Erfüllung der Kundenwünsche, gewichtet mit der Bedeutung der Kundenwünsche.
Somit beträgt der Teilnutzenwert für die Prozesskomponente „Material einlagern“
0,40  20  0,30  20  0,30  30  0,10  50  25% .
Da die Teilnutzenwerte der Prozesskomponenten durch analoge Kostenanteile der
allowable costs realisiert werden, ergibt sich für die Prozesskomponente „Material
einlagern“ ein erlaubter Prozesskostensatz in Höhe von 17,69 €  0,25  4,42 € .
In der folgenden Tabelle werden die Teilnutzenwerte für die Prozesskomponenten, die
erlaubten Prozesskostensätze sowie die Zielkostenindizes angegeben. Aufgrund der
resultierenden Zielkostenindizes sind im Vergleich zum Benchmarking‐Partner die
Prozesskostensätze für die Prozesskomponenten „Material einlagern“ und „Material
kommissionieren“ zu hoch. Da die Produktivität in diesen Prozessen verglichen mit
dem Benchmarking‐Partner zu gering ist, sollten diese Teilprozesse vorrangig verbes‐
sert werden. Der Teilprozess „Materialzugang erfassen“ hat im Vergleich zum Bench‐
marking‐Partner den richtigen Prozesskostensatz und der Teilprozess „Material‐
abgang erfassen“ weist einen geringeren Prozesskostensatz als der Benchmarking‐
Partner auf.

Prozesskomponenten
Material Material‐ Material Material‐
ein‐ zugang kommis‐ abgang
Kundenwünsche Gewichte lagern erfassen sionieren erfassen
Termintreue 0,40 20 15 50 15
Lieferzeit 0,30 20 10 60 10
Lieferqualität 0,20 30 0 70 0
Lieferkosten 0,10 50 25 20 5
Teilnutzen in % 25 11,5 54 9,5
allowable costs. (€) 4,42 2,03 9,55 1,68
drifting costs (€) 6,25 2,08 11,45 1,42
Kostenanteil in % 35,33 11,76 64,73 8,03
Zielkostenindex 0,71 0,98 0,83 1,18

151
Prozessketten in der Logistik
3
3.2.5.2 Würdigung des Target Costing
Das Target Costing muss als Instrument des strategischen Managements auch zu‐
kunftsbezogen angewendet werden, um Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse
anzubieten, welche die vom Kunden gewünschten Merkmale erfüllen und zu Preisen
angeboten werden, die den am Markt geforderten Bedingungen entsprechen. Kritisch
anzumerken ist jedoch, ob bereits in der Phase der Entwicklung von Produkten,
Dienstleistungen oder Prozessen zuverlässige Daten über Zielpreise und potenzielle
Umsätze vorliegen. Da diese Größen mit großen Unsicherheiten behaftet sind, emp‐
fiehlt es sich Durchschnittsgrößen über die gesamte Lebensdauer zu verwenden. Fer‐
ner ist bei großen Zeitspannen zwischen der Konzeption und der Markteinführung in
dynamischen Märkten zu beachten, dass Kundenpräferenzen und Zielpreise sich
ändern und angepasst werden müssen. Somit müssen Änderungen in der Ausgangssi‐
tuation beim Target Costing berücksichtigt werden, sodass für die Durchführung des
Target Costing ein erheblicher Aufwand notwendig ist. Auch wird keine Trennung
zwischen fixen und variablen Kosten durchgeführt und somit haben Fehler bei der
Prognose des Preises und der Menge Auswirkungen auf die zulässigen Kosten je
Stück. Als Renditemaß wird die Umsatzrendite herangezogen, wobei hier zu hinter‐
fragen ist, ob nicht die Kapitalrendite Return on Assets (RoA) eine geeignetere Kenn‐
größe zur Ermittlung des Gewinnabschlags beim Target Costing darstellt243. Auch die
Behandlung der Gemeinkosten (Verwaltung etc.) ist kritisch zu betrachten, da sie als
gegeben betrachtet und abgezogen werden. Somit wird dieser Kostenblock nicht im
Sinne des Target Costing analysiert. Zu überprüfen ist ebenso, ob die Kosten wirklich
proportional im Verhältnis zum Nutzenbeitrag stehen. In einigen Fällen kann der
Kunde eine Komponente als weniger nützlich einstufen, aber ohne diese Komponente
wäre das Produkt nicht marktfähig. Analog dazu ist es denkbar, dass durch eine über‐
durchschnittliche Kompetenz des Unternehmens eine Komponente mit hohem Nut‐
zenbeitrag ohne Qualitätsabstriche preiswert angeboten werden kann. In einem sol‐
chen Fall kann der Zielkostenindex in die falsche Richtung weisen.

Die Durchführung des Target Costing selbst führt noch zu keinerlei Kosten‐
einsparungen bzw. sinnvollen Verschiebungen der Kosten. Das Aufzeigen der Ausma‐
ße verschiedener Kosten anhand ihres Nutzens für den Kunden gibt jedoch eine Rich‐
tung für konkrete Maßnahmen vor. Außerdem wird durch das Target Costing ein
gewisser Kostendruck aufgebaut, ohne den sich keine Änderungen ergeben. Weiterhin
ist zu beachten, dass die Maßnahmen zur Kostenreduzierung nicht immer zu den am
Markt zulässigen Kosten führen müssen. Die einzelnen Komponenten, ihre Materia‐
lien und Fertigungsprozesse müssen einer genauen Kostenanalyse unterzogen wer‐
den. Nur so ist festzustellen, ob es überhaupt möglich ist, die Komponente zu geringe‐
ren Kosten herzustellen und dennoch die geforderte Qualität zu erzielen.

243 Vgl. COENENBERG ET AL. (2012, S. 581).

152
3.2
Prozessmodellierung

3.2.6 Balanced Scorecard


Einzelne Logistikkennzahlen haben eine vergleichsweise geringe Aussagekraft, da sie
die komplexe wirtschaftliche Realität verdichtet darstellen und mehrdeutige Inter‐
pretationen zulassen. Um Mehrdeutigkeiten und Fehlinterpretationen auszuschließen
und Interdependenzen zwischen logistischen Bereichen zu berücksichtigen, ist es not‐
wendig, die einzelnen Logistikkennzahlen zu einem Kennzahlensystem zusammen‐
zufassen. Unter einem Kennzahlensystem wird eine Zusammenstellung von quanti‐
tativen Variablen verstanden, die in sachlogischer oder rechentechnischer Beziehung
zueinander stehen und auf ein gemeinsames übergeordnetes Ziel ausgerichtet sind.
Eine rechentechnische Beziehung liegt vor, wenn – ausgehend von einer Spitzen‐
kennzahl – jede Kennzahl so lange algebraisch in weitere Kennzahlen zerlegt wird, bis
eine ausreichend detaillierte Kennzahlenpyramide entsteht. Bei sachlogischen Kenn‐
zahlensystemen sind die Beziehungen nach Art und Wirkung aufgrund der Erfahrung
bekannt. Sinnvoll scheint eine Kombination beider Kennzahlensysteme, um den Vor‐
teil der rechentechnischen Ableitung von Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen mit der
höheren Flexibilität sachlogischer Verknüpfungen zu verbinden. Für die Zusammen‐
stellung logistischer Kennzahlen sollten die folgenden Kriterien beachtet werden:

 Integration: Durch die Integration wird sichergestellt, dass alle sachgemäßen


Aktivitäten und Teilprozesse sowie Funktionen, Abteilungen und Organisationen
entlang eines Logistikprozesses einbezogen werden. Die Messgrößen sollten dabei
aufeinander abgestimmt sein.

 Kausalitätsorientierung: Eine Kausalität ist gegeben, wenn das Kennzahlensystem


auch Ursachen statt lediglich Auswirkungen oder Ergebnisse erfasst. Die kausali‐
tätsorientierten Messgrößen erhöhen die Sichtbarkeit langfristiger Ziele und sind
tendenziell nicht‐monetärer Art.

 Mehrdimensionalität: Durch die Mehrdimensionalität wird gewährleistet, dass


die Performance von Logistikprozessen aus unterschiedlichen Perspektiven mit
verschiedenen Dimensionen und Messgrößen erfasst wird.

 Problemorientierung: Ein Kennzahlensystem für die Logistik ist problemorien‐


tiert, wenn die Logistikmanager und ‐mitarbeiter die Messgrößen anhand ihres
(subjektiven) Verständnisses der Problemsituation auswählen.

 Relevanz: Die Relevanz fordert, dass das Kennzahlensystem brauchbar für die
Entscheidungsträger und somit leicht verständlich, einfach und nicht zu komplex
ist.

In den letzten Jahren haben logistische Kennzahlensysteme als Führungsinstrumente


in den Unternehmen stark an Bedeutung gewonnen. Trotz zunehmender Popularität
ist jedoch zu beachten, dass deren Anwendung durchaus Grenzen gesetzt sind. Mögli‐
che Defizite liegen in der Beeinträchtigung der Aussagefähigkeit durch Konstrukti‐
onsmängel oder fehlende Aktualität, mangelnde Berücksichtigung des erforderlichen
Aufwands für das Datenmanagement, zu starke Fokussierung auf ein bestimmtes Ziel

153
Prozessketten in der Logistik
3
zu Lasten anderer wichtiger Zielsetzungen, eine zu starke Ausrichtung auf monetäre
Größen sowie eine zu starke Vergangenheitsorientierung.

Die erwähnten Kritikpunkte veranlassten KAPLAN und NORTON zu Beginn der neunzi‐
ger Jahre das Forschungsprojekt „Performance Measurement in Unternehmen der
Zukunft“ durchzuführen, an dem sich zwölf amerikanische Unternehmen aus den
unterschiedlichsten Branchen beteiligten244. Als Ergebnis entstand als Kennzahlensys‐
tem eine Balanced Scorecard (BSC), die eine Ausgewogenheit zwischen monetären
und nicht‐monetären Kennzahlen, kurzfristigen und langfristigen Zielen, Früh‐ und
Spätindikatoren, sach‐, formal‐ und sozialzielorientierten Kennzahlen sowie internen
und externen Performance‐Perspektiven bietet. Weiterhin berücksichtigt die BSC, dass
der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens nicht nur auf die Finanzebene begrenzt
ist, sondern zusätzlich um Kundenbeziehungen, Geschäftsprozesse und Mitarbeiter
bzw. Innovationskraft erweitert werden muss.

3.2.6.1 Aufbau der Balanced Scorecard


Die Balanced Scorecard umfasst in ihrer ursprünglichen Form eine Finanz‐, Kunden‐,
Lern‐ und Entwicklungsperspektive sowie eine Perspektive der internen Geschäfts‐
prozesse. Für jede Perspektive erfolgt aus der Vision und der Strategie eine Ableitung
strategischer Ziele, mehrdimensionaler Messgrößen und Vorgaben sowie Maßnah‐
men, die dem Management und den Mitarbeitern eine Richtung für ihr Handeln auf‐
zeigen sollen (vgl. Abbildung 3‐11). Die ausgewählten Messgrößen sind sowohl stra‐
tegisch als auch operativ ausgerichtet und lassen auf diese Weise kurz‐ und langfristi‐
ge Potenziale auf allen Leistungsebenen erkennen. Während die Frühindikatoren
hauptsächlich nicht‐monetäre Kennzahlen umfassen, bilden die monetären Größen
vordergründig Spätindikatoren ab. Die finanzielle Perspektive repräsentiert letztlich
die Oberziele der Strategie, die aus dem Erfolg oder Misserfolg der anderen Perspekti‐
ven resultieren. Deren Messgrößen werden als Leistungstreiber bezeichnet, da sie
diejenigen Faktoren darstellen, die zum langfristigen Wachstum und somit zur finan‐
ziellen Wertschöpfung führen. Die einzelnen Kennzahlen sind über Ursache‐
Wirkungs‐Beziehungen miteinander verbunden, welche die Bedeutung jedes Ziels,
jeder Kennzahl und jeder Maßnahme im Hinblick auf die Strategieumsetzung deutlich
machen und die Analyse der Ursachen bei auftretenden Fehlentwicklungen erleich‐
tern. Da die Kennzahlen pro Perspektive fortlaufend aktualisiert werden müssen,
sollten pro Perspektive nicht mehr als fünf bis sieben Kennzahlen definiert werden, da
sonst der Aufwand zu hoch ist.

244 Vgl. KAPLAN/NORTON (1997, S. VII).

154
3.2
Prozessmodellierung

Abbildung 3‐11 Balanced Scorecard245

Finanzperspektive

men
len
en
nzah

nah
gab
Ziele

Ma ß
Ken
Vor
Wie sollen wir
gegenüber Teil‐
habern auftreten,
um finanziellen
Erfolg zu haben?
Kundenperspektive Perspektive interner
men

men
len

hlen
en

en
Geschäftsprozesse
nzah

nah

nah
gab

nza
gab
Ziele
Ziele

M aß

M aß
In welchen Ge‐
Ken

Ken
Vor

Vor
Vision schäftsprozessen
Wie sollen wir und müssen wir die
gegenüber unseren Strategie besten sein, um
Kunden auftreten, unsere Teilhaber
um unsere Vision und Kunden zu
zu verwirklichen? befriedigen?
Lernen‐ & Entwick‐

men
len
en
lungsperspektive nzah

nah
g ab
Ziele

Ma ß
Wie können wir
Ken
Vor
unsere Verände‐
rungs‐ und Wachs‐
tumspotenziale
fördern, um unsere
Vision zu verwirk‐
lichen?

a) Finanzperspektive

Obwohl von vier gleichgewichtigen Perspektiven gesprochen wird, gilt die finan‐
zielle Perspektive nach wie vor als die Wichtigste. Die Finanzperspektive liefert
eine Übersicht über die wirtschaftlichen Konsequenzen der durchgeführten Akti‐
vitäten und zeigt auf, ob die Implementierung der Unternehmensstrategie grund‐
sätzlich eine Ergebnisverbesserung bewirkt. Die finanziellen Ziele und Kennzah‐
len definieren einerseits die finanzielle Leistung, die mittels der Strategie realisiert
werden soll und andererseits dienen sie als Oberziele für die strategischen Ziele
und Kennzahlen der drei anderen Perspektiven246. Da die finanzielle Situation
des Unternehmens ausschlaggebend für dessen Fortbestand ist und somit die ge‐
sonderte Stellung der Finanzperspektive hervorhebt, münden alle nicht‐mone‐
tären Ziele und Messgrößen in diese Perspektive. Um durch eine Rückverfolgung
der Beziehungen eine Ursachenforschung für die finanzielle Entwicklung zu er‐
möglichen, müssen sämtliche Kennzahlen der Kunden‐, Prozess‐ sowie Lern‐ und
Entwicklungsperspektive grundsätzlich über Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen mit
mindestens einem finanziellen Ziel verbunden sein. Typische Größen der Finanz‐
perspektive sind Umsatz, Gewinn, Cash Flow und Return on Investment, die Spä‐
tindikatoren darstellen. Zur Ableitung logistischer Kennzahlen ist die Identifika‐
tion logistischer Einflussgrößen erforderlich. Beispielsweise werden die Gesamt‐
kosten des Unternehmens durch Materialkosten, die Kapitalbindung durch Lager‐

245 in Anlehnung an KAPLAN/NORTON (1997, S. 9).


246 Vgl. KAPLAN/NORTON (1997, S. 46).

155
Prozessketten in der Logistik
3
bestände bzw. Umsatzsteigerungen durch verbesserte Logistikleistungen verän‐
dert.

b) Kundenperspektive

Ausgehend von der Identifikation der Kunden‐ und Marktsegmente, in denen das
Unternehmen Erfolg verzeichnen will, sind entsprechende Kennzahlen zu defi‐
nieren, welche die Leistung der Geschäftseinheit in diesen Segmenten messen247.
Die Kundenperspektive beinhaltet Früh‐ und Spätindikatoren. Typische Ergeb‐
nismessgrößen sind Kundentreue, ‐zufriedenheit, ‐rentabilität, und ‐akquisition
sowie die Gewinn‐ und Marktanteile in den Zielsegmenten. Die Leistungstreiber
sollen die Frage beantworten, welches Wertangebot bezüglich der Produkt‐ und
Serviceeigenschaften, der Kundenbeziehungen sowie der Reputation und des
Image das Unternehmen seinen Kunden unterbreiten muss, um die Ergebnis‐
kennzahlen positiv zu beeinflussen248. Beispielsweise können die Kundenzufrie‐
denheit und ‐treue durch eine Verbesserung der logistischen Größen Lieferzeit
und Liefertreue erhöht werden.

c) Perspektive interner Geschäftsprozesse

Gegenstand dieser Perspektive ist die Identifikation kritischer Prozesse, d. h. der‐


jenigen Kerntätigkeiten, die für die Unternehmensstrategie eine hohe Wichtigkeit
darstellen und somit besonders gut beherrscht werden müssen. Kritische Ge‐
schäftsprozesse umfassen Innovations‐, Betriebs‐ und Kundendienstprozesse, die
jeweils kundenorientierte Wertvorgaben liefern können. Aufgabe der Innovati‐
onsprozesse ist es, einerseits potenzielle Kundenwünsche zu identifizieren und
dafür entsprechende Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und anderer‐
seits die bestehenden Betriebsprozesse zu optimieren. Somit stellen die Innovati‐
onsprozesse eine Schnittstelle zur Lern‐ und Entwicklungsperspektive dar. Ge‐
genstand der Betriebsprozesse ist die Herstellung und Auslieferung der Produkte
und Dienstleistungen unter Zeit‐, Kosten‐, Qualitäts‐ und Flexibilitätsaspekten.
Die Beherrschung der Betriebsprozesse gilt als Voraussetzung für die Zielerrei‐
chung der Finanz‐ und Kundenperspektive und wird mit Produktivitäts‐ und
Qualitätskennzahlen gemessen, um deren Effizienz und Effektivität abzubilden.
Kundendienstprozesse, welche sowohl Serviceleistungen wie Garantie‐ und War‐
tungsangebote sowie die Bearbeitung von Reklamationen als auch Fehlerbehe‐
bungen umfassen, dienen der Erhaltung der Kundenzufriedenheit und
‐treue auch nach dem eigentlichen Kauf249. Mögliche Kennzahlen sind als Spätin‐
dikatoren der Nacharbeitsanteil, die Stillstandszeiten in der Fertigung oder die
Anzahl unvollständiger Lieferungen bzw. als Frühindikatoren die Flexibilität der
Einsatzfaktoren oder die Prozesskomplexität.

247 Vgl. KAPLAN/NORTON (1997, S. 24f).


248 Vgl. SIEPERMANN (2003, S. 320).
249 Vgl. SIEPERMANN (2003, S. 320f).

156
3.2
Prozessmodellierung

d) Lern‐ und Entwicklungsperspektive

Die vierte Perspektive umfasst Ziele und Messgrößen, die eine lernende und
wachsende Organisation fördern sollen und schafft somit die notwendige Infra‐
struktur, um die Ziele der ersten drei Perspektiven zu erreichen und somit lang‐
fristig Verbesserung und Wachstum zu sichern250. Gegenstand dieser Perspektive
sind die Potenziale und Motivation der Mitarbeiter sowie die notwendigen In‐
formationssysteme251. Typische Spätindikatoren zur Messung der Mitarbeiter‐
potenziale sind die Mitarbeitertreue und ‐produktivität, die zusammen die Mitar‐
beiterzufriedenheit beeinflussen. Da sehr gute Kenntnisse über die Prozesse und
Kunden nur über einen längeren Zeitraum anzueignen sind, ist der Aufbau einer
hohen Mitarbeitertreue, gemessen über die Fluktuationsrate, für die Unternehmen
von großem Wert. Mit der Mitarbeiterproduktivität wird der Ertrag pro Mitarbei‐
ter gemessen, der durch Schulungen und Weiterbildungsmaßnahmen gesteigert
werden kann. Motivierte und gut ausgebildete Mitarbeiter fördern auch die Inno‐
vationsfreudigkeit, die sich anhand der Anzahl umgesetzter Verbesserungs‐
vorschläge messen lässt. Die Voraussetzung für den Erfolg der Mitarbeiter bildet
der jederzeitige Zugriff auf alle notwendigen Informationen der Kunden, der in‐
ternen Geschäftsprozesse und der finanziellen Auswirkungen ihrer Entscheidun‐
gen. Als Kennzahl eignet sich beispielsweise die strategische Informationsde‐
ckungsziffer, welche das Verhältnis von erhältlichen Informationen zum benötig‐
ten Informationsbedarf darstellt.

Diese vier Perspektiven stellen lediglich einen Rahmen dar und sollten branchen‐ und
unternehmensspezifisch angepasst werden. Insbesondere für die Logistik bietet es sich
an, als weitere Perspektive auch eine Lieferantenperspektive einzuführen. Des Weite‐
ren sind die in der Balanced Scorecard zu verwendenden Kennzahlen der einzelnen
Perspektiven nicht isoliert zu betrachten, sondern es muss eine Verknüpfung der Ziele
und Kennzahlen der Finanzperspektive mit denen der drei anderen Perspektiven
erfolgen. Dabei werden alle ausgewählten Kennzahlen durch Ursache‐Wirkungs‐
Beziehungen miteinander verbunden, um in der Gesamtheit die Unternehmensstrate‐
gie widerzuspiegeln und deren Steuerung und Bewertung zu ermöglichen. Ursache‐
Wirkungs‐Beziehungen stellen Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den
strategischen Zielen einer Perspektive sowie zwischen den Perspektiven dar und
schaffen somit beim Management ein Bewusstsein über die Zusammenhänge und
Bedeutung der unterschiedlichen Ziele. Des Weiteren verdeutlichen sie gegenseitige
Effekte bei der Zielerreichung, liefern ein Erklärungsmodell für den strategischen
Erfolg, fördern die Zusammenarbeit im Management und der verschiedenen Bereiche
und gestalten die Logik der strategischen Ziele nachvollziehbar und somit kommuni‐
zierbar252. Zur Bildung von Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen werden ausgehend von
den finanziellen Oberzielen schrittweise Unterziele abgeleitet bis man die unterste

250 Vgl. KAPLAN/NORTON (1997, S. 27).


251 Vgl. SIEPERMANN (2003, S. 321).
252 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 180).

157
Prozessketten in der Logistik
3
Ebene erreicht hat. Dabei muss beachtet werden, dass zwischen zwei Kennzahlen
mehrere und durchaus gegensätzliche Verknüpfungen existieren, die zu Fehlinterpre‐
tationen führen können. Obwohl sich die praktische Generierung von Ursache‐
Wirkungs‐Beziehungen als schwierig darstellt, bietet die Balanced Scorecard kaum
eine methodische Hilfestellung dafür an. In der folgenden Abbildung 3‐12 sind bei‐
spielhaft Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen für eine BSC im Logistikbereich angegeben.
Anstelle der Lern‐ und Entwicklungsperspektive wurde bei dieser BSC eine Lieferan‐
tenperspektive aufgenommen.

Abbildung 3‐12 Ursache-Wirkungs-Beziehungen253

Senkung der Senkung der Senkung der


Finanzperspektive Beschaffungslogistik‐ Produktionslogistik‐ Distributionslogistik‐
kosten kosten kosten

Erhöhung der Aus‐


Verbesserung des kunftsfähigkeit
Kundenperspektive Lieferservice gegenüber den
Kunden

Erhöhung des Automa‐


Reduzierung von
Interne Beschleunigung der tisierungsgrades des
Störungen in den
Prozessperspektive Warenannahme innerbetrieblichen
Prozessabläufen
Transportes

Langfristige Verbesserung der


Entwicklung von
Lieferantenperspektive Zusammenarbeit mit
Systemlieferanten
Lieferantenkommu‐
wichtigen Lieferanten nikation

3.2.6.2 Die Balanced Scorecard als Managementkonzept


Visionen und Strategien bleiben in den Unternehmen meist verbale Wunschformu‐
lierungen, da häufig Ansatzpunkte fehlen, wie die strategischen Ziele erreicht werden
können, welche konkreten Projekte und Maßnahmen umzusetzen sind und wie die
zur Verfügung stehenden Ressourcen eingesetzt werden sollen. Da die Balanced Sco‐
recard als Bindeglied zwischen der Entwicklung einer Strategie und ihrer Umsetzung
anzusehen ist, stellt sie neben dem bereits erwähnten Kennzahlensystem auch ein
Managementkonzept zur Umsetzung und Erreichung der strategischen Ziele dar.
Dementsprechend bildet die erste Phase des strategischen Handlungsrahmens als
Teamarbeit des Top‐Managements die eigentliche Strategieformulierung, in der vor
allem Klarheit und Einigkeit hinsichtlich der Vision und Strategie innerhalb der Füh‐
rung geschaffen wird. Anschließend werden diese Strategien mit spezifischen Zielset‐

253 Vgl. SIEPERMANN (2003, S. 324).

158
3.2
Prozessmodellierung

zungen konkretisiert und mit Hilfe von entsprechenden Kennzahlen der einzelnen
Perspektiven operationalisiert. KAPLAN und NORTON empfehlen mit den finanziellen
und kundenbezogenen Zielen zu beginnen, um den Fokus auf eine hohe Rentabilität
oder ein hohes Marktwachstum zu legen und die richtigen Kunden‐ und Marktseg‐
mente für die weitere Entwicklung zu identifizieren254. Anschließend werden die
Leistungstreiber der internen Geschäftsprozesse mit Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen
fixiert und mit Kennzahlen untersetzt. Die Ableitung der Ziele und Kennzahlen für die
Lern‐ und Entwicklungsperspektive bildet das letzte notwendige Bindeglied der BSC,
um Aussagen über erforderliche Investitionen in die Personalweiterbildung und in
Informations‐ und Kommunikationssystemen treffen zu können.

Nach der abgeschlossenen Strategieformulierung und der Übersetzung in konkrete


Ziele gilt es, die strategischen Zielsetzungen innerhalb des Unternehmens von der
Vorstandsebene ausgehend über die Leiter der Geschäftseinheiten und Abteilungs‐
leiter im gesamten Unternehmen zu kommunizieren. Zur Umsetzung einer offenen
Kommunikation der Strategie und Ziele in allen Bereichen und Ebenen eignen sich
Kommunikations‐ und Weiterbildungsprogramme, Zielbildungsprogramme sowie
Anreiz‐ und Vergütungssysteme255. Anschließend erfolgt die Bestimmung konkreter
Zielvorgaben für die ausgewählten Kennzahlen in den einzelnen Perspektiven, wobei
sich aufgrund der langfristigen Ausrichtung der Balanced Scorecard die Zielvorgaben
auf einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren beziehen. Zielvorgaben sollten realistische
und herausragende Leistungen in den Geschäftseinheiten darstellen. Abschließend
müssen vom Management die strategischen Ziele mit erforderlichen Maßnahmen
hinterlegt und aufeinander abgestimmt werden. Dazu sind umfangreiche Ressourcen
den strategischen Zielvorgaben so zuzuordnen, dass deren optimaler Einsatz anhand
der Zielwerte sichergestellt werden kann. Um einen kontinuierlichen Verbesserungs‐
und Veränderungsprozess zu ermöglichen, muss die Balanced Scorecard mit Hilfe
einer Rückkopplung in den strategischen Lernprozess eingebunden werden. Ob sich
eine gewählte Strategie und die aufgestellten Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen für die
langfristige Sicherung der Wertschöpfung als geeignet erweisen, kann erst nach einer
gewissen Zeitspanne überprüft werden. Somit umfasst der Rückkoppelungsprozess
eine kontinuierliche Überwachung der strategischen Maßnahmen im Hinblick auf die
Erfüllung der festgelegten Ziele sowie eine ständige Analyse der Strategie und Ziele.
Die neu gewonnenen Erkenntnisse aus dem Lernprozess fließen in eine neue Strategie‐
formulierung ein. Durch dieses iterative Vorgehen kann einerseits die Balanced Score‐
card kontinuierlich an die wirklichen Bedürfnisse angepasst und andererseits auf
Veränderungen schneller reagiert werden.

3.2.6.3 Implementierung der Balanced Scorecard


Da die Entwicklung und Einführung einer BSC unter Berücksichtigung der spezifi‐
schen Merkmale eines Unternehmens eine komplexe Aufgabe darstellt, empfiehlt sich

254 Vgl. KAPLAN/NORTON (1997, S. 11).


255 Vgl. KAPLAN/NORTON (1997, S. 193).

159
Prozessketten in der Logistik
3
eine systematische Vorgehensweise, um die Komplexität des Konzeptes zu beherr‐
schen, den Entwicklungsprozess zu beschleunigen sowie die Kommunikation mit
allen Betroffenen zu erleichtern. Im Folgenden wird die Grundstruktur zur Implemen‐
tierung einer BSC anhand des 5‐Phasenmodells von Horváth & Partner vorgestellt
(vgl. Abbildung 3‐13), das eine konkrete Handlungsanweisung darstellt.

Abbildung 3‐13 5-Phasen-Modell zur Implementierung einer BSC256

Organisatorischen Strategische Eine BSC Roll‐Out Kontinuierlichen


Rahmen schaffen Grundlagen klären entwickeln managen Einsatz sicherstellen
• BSC‐Architektur • Strategische Voraus‐ • Strategische Ziele ab‐ • BSC unternehmens‐ • BSC in Management‐
• festlegen • setzungen überprüfen • leiten • weit einführen • und Steuerungssys‐
• Projektorganisation • Strategische Stoß‐ • Ursache‐Wirkungsbe‐ • BSC auf nachgelager‐ • teme integrieren

• bestimmen • richtung bestimmen • ziehungen aufbauen • te Einheiten herunter‐ • BSC ins Planungssys‐

• Projektablauf • BSC in Strategieent‐ • Messgrößen aus‐ • brechen • tem integrieren

• gestalten • wicklung integrieren • wählen • BSCs zwischen den • Mitarbeiter mit Hilfe
• Information, Kommu‐ • Zielwerte bestimmen • Einheiten abstimmen • der BSC führen

• nikation und Partizi‐ • Strategische Aktionen • Qualität sichern und • BSC ins Berichtssys‐

• pation sicherstellen • festlegen • Ergebnisse dokumen‐ • tem integrieren

• Methoden und In‐ • tieren • BSC mit Shareholder


• halte standardisieren • Value verknüpfen

• und kommunizieren • EQA und BSC abge‐

• Kritische Erfolgsfak‐ • stimmt einsetzen

• toren berücksichtigen • BSC mit Risiko‐

• management unter‐
• stützen

• BSC und Target

• Costing verbinden

• BSC durch IT unter‐


• stützen

Phase 1: Organisatorischen Rahmen schaffen

Bei der Schaffung des organisatorischen Rahmens für die Implementierung der BSC
geht es zum einen um die Bestimmung der BSC‐Architektur und zum anderen um die
Regeln eines bewährten Projektmanagements257. Bezüglich der Architektur der BSC
ist die Frage zu klären, welche organisatorischen Einheiten der Logistik mit der BSC
gesteuert werden sollen. Wichtige Ziele der oberen Ebene lassen sich besser auf nach‐
folgende Ebenen herunter brechen, wenn mehr logistische Organisationseinheiten
einbezogen werden. Es empfiehlt sich mit einem Pilotprojekt zu starten, um die
Zweckmäßigkeit der BSC zu testen und um später beim Roll Out bereits Erfolge vor‐
weisen zu können. Bezüglich des Projektmanagements gilt es, die Projektorganisation,
den Projektablauf, das Informations‐ und Kommunikationskonzept, die Methoden‐
standards sowie die kritischen Erfolgsfaktoren zu definieren. Für die Einführung der
Balanced Scorecard in der Logistik sind das Logistikmanagement und das Projekt‐
team, bestehend aus mehreren Beteiligten der verschiedenen einbezogenen Organisa‐
tionseinheiten, verantwortlich. Jedes Projektmitglied erhält entsprechende Aufgaben

256 In Anlehnung an HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 62).


257 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 63).

160
3.2
Prozessmodellierung

und Kompetenzen zugeschrieben und die betroffenen Mitarbeiter müssen überzeugt


werden, dass die BSC einen Mehrwert für das Unternehmen bringt, um eine breite
Akzeptanz bereits im Entstehungsprozess zu schaffen. Die Sicherstellung der Projekt‐
kommunikation und ‐partizipation beispielsweise über Workshops sind von besonde‐
rer Bedeutung, da das neue Konzept tiefgreifende Veränderungen im Unternehmen
bewirkt.

Auf Basis der Zielfestlegung wird eine detaillierte Ablaufplanung für die Steuerung
des Pilotprojekts erstellt, wobei sich der Projektablauf an den in Abbildung 3‐13 abge‐
bildeten fünf Phasen orientiert. Neben der eigentlichen Vorgehensweise umfasst der
Ablaufplan u. a. auch den Zeitaufwand, die Ressourcenbeanspruchung sowie das Pro‐
jektbudget.

Phase 2: Klärung der strategischen Grundlagen

Da die BSC ein Konzept zur Umsetzung vorhandener Strategien und nicht zur Ent‐
wicklung grundsätzlich neuer Strategien ist, muss zunächst im Management ein ein‐
heitliches Verständnis über die zu verfolgende logistische Stoßrichtung geschaffen
werden258. Hierbei ist zu beachten, dass Versäumnisse bei der Strategiefindung die
Einführung der BSC erschweren. Zur Festlegung der strategischen Stoßrichtung soll‐
ten vorhandene Dokumente analysiert und Interviews mit den Führungskräften über
potenzielle Strategien erfolgen. Anschließend sollten die ermittelten Strategien abge‐
bildet und drängende strategische Probleme diskutiert werden. Im Rahmen eines
Workshops sollten die Ergebnisse zusammengefasst und daraus eine Abstimmung
über die Relevanz der strategischen Stoßrichtungen erfolgen259.

Phase 3: Balanced Scorecard entwickeln

Zunächst erfolgt die Formulierung der strategischen Ziele sowie der Perspektiven.
Den Ausgangspunkt stellen die Mission und Vision dar, die anschließend in die stra‐
tegischen Ziele umgewandelt werden260. Während die Mission eine prägnant formu‐
lierte und einprägsame Aussage über das Image des Unternehmens in der Öffentlich‐
keit darstellt, wird mit der Vision ein Leitbild für die Unternehmens‐ und Führungs‐
grundsätze ausgedrückt. Weiterhin müssen geeignete Perspektiven gewählt werden.
Da es nicht die universell richtigen Perspektiven gibt, müssen diese individuell gemäß
der Schwerpunktsetzung im Pilotprojekt bestimmt werden. Die Mission und Vision
bilden die Basis zur Erarbeitung der Strategie, die anschließend durch die Formulie‐
rung von strategischen Zielen in den einzelnen Perspektiven umgesetzt werden. Dabei
sollte sich die Strategiedefinition bereits auf denjenigen Bereich beziehen, der Gegen‐
stand des BSC‐Projektes ist. Da i. d. R. zu viele strategische Ziele formuliert werden,
müssen diese vom Projektteam hinsichtlich ihres Potenzials zur Umsetzung der Stra‐
tegie selektiert werden.

258 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 66).


259 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 104ff).
260 Vgl. KAPLAN/NORTON (1997, S. 22).

161
Prozessketten in der Logistik
3
Anschließend erfolgt die Identifizierung und Darstellung von Ursache‐Wirkungs‐
Beziehungen, sodass die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen den strategischen
Zielen innerhalb der einzelnen Perspektiven und vor allem perspektivenübergreifend
abgebildet werden. Ziele der verschiedenen Perspektiven müssen aufeinander auf‐
bauen und sollen letztlich dem Erreichen der finanziellen Ziele dienen. Durch die
Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen werden die gegenseitigen Abhängigkeiten der Teil‐
ziele transparent und somit kann der Erfolg einer Strategie besser gesteuert werden.

Mit Hilfe auszuwählender Messgrößen werden die strategischen Ziele operatio‐


nalisiert und sollen auf diese Weise das Verhalten in die gewünschte Richtung beein‐
flussen. Zur Gewährleistung einer eindeutigen Beurteilung der Zielerreichung sollen
nicht mehr als zwei und nur in seltenen Fällen drei Messgrößen für jedes Ziel festge‐
legt werden261. Bei der Auswahl einer übersichtlichen Anzahl von Messgrößen können
folgende Fragestellungen hilfreich sein262:

 Ist mit der Messgröße das Erreichen des gewünschten Ziels ablesbar?
 Wie gut bildet die Messgröße das betreffende Ziel ab?
 Kann mit der Messgröße das Verhalten der Mitarbeiter in die gewünschte Rich‐
tung beeinflusst werden?
 Ist die Eindeutigkeit der Interpretation der Messgröße gewährleistet?
 Ist die kontinuierliche Erhebung möglich?
 Liegt die Messgröße überwiegend im Einflussbereich der Zielverantwortlichen?
 Kann die Messgröße kurzfristig (1 Jahr) oder nur langfristig (mehr als 2 Jahre)
beeinflusst werden?

Erst durch die Festlegung eines Zielwertes ist das strategische Ziel vollständig be‐
schrieben. Es ist darauf zu achten, dass die festgelegten Zielwerte ehrgeizig, aber auch
realistisch und somit erreichbar sind, da zu niedrige Zielwerte nicht anspornen und zu
hohe demotivierend wirken. Für die Festlegung der Zielwerte dienen Vergleichswerte
aus aktuellen oder vergangenen Zielvorgaben, Benchmarks oder Ergebnisse aus Be‐
fragungen. Die Zielwerte sind für die einzelnen Jahre zu bestimmen, wobei der zeitli‐
che Horizont drei bis fünf Jahre beträgt263. Nachdem der Zielwert für das Ende des
strategischen Zeithorizonts festgelegt wurde, muss dieser in Etappenziele pro Pla‐
nungsperiode heruntergebrochen werden. Die Überprüfung der Etappenziele hat die
Aufgabe verhaltenssteuernd zu wirken.

Abschließend erfolgt die Festlegung von strategischen Maßnahmen in Form von Initi‐
ativen, Projekten und anderen Tätigkeiten außerhalb des Tagesgeschäftes, mit denen
die definierten Zielwerte erreicht werden sollen. Typischerweise entstehen im Rahmen
eines Brainstormings mehr Maßnahmenvorschläge als mit der vorhandenen Mitarbei‐
terkapazität und dem verfügbaren Budget zu bewältigen sind. Deshalb sollten nur

261 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 197).


262 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 200).
263 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 217).

162
3.2
Prozessmodellierung

diejenigen Vorschläge, welche innerhalb des Projektteams übereinstimmend priori‐


siert und mit den verfügbaren Ressourcen umgesetzt werden können, in das Maß‐
nahmenprogramm aufgenommen werden. Die Maßnahmen werden beschrieben so‐
wie Verantwortlichkeiten, Zeitfenster und die benötigten Ressourcen zur Umsetzung
festgelegt. Falls die Ressourcen nicht ausreichen sollten, um die definierten Zielwerte
zu erreichen, dann müssen Änderungen bei den Zielwerten oder auch bei der Strate‐
gie erfolgen.

Phase 4: Roll‐out managen

Durch die vierte Phase soll die Anwendung der entwickelten BSC in möglichst vielen
Organisationseinheiten oder sogar unternehmensweit erfolgen264. Somit wird das
Vorgehen der Phase 3 bei allen ausgewählten Organisationseinheiten durchgeführt.
Dazu werden die strategischen Ziele und Aktionen von in der Hierarchie übergeord‐
neten Organisationseinheiten auf die unteren Einheiten heruntergebrochen (vertikale
Zielintegration). Die strategischen Ziele gleich geordneter Ebenen werden durch die
BSC miteinander koordiniert, sodass eine horizontale Zielintegration erfolgt. Durch
diese vertikale und horizontale Zielintegration werden die strategischen Ziele und
Aktionen besser unterstützt und aufeinander abgestimmt.

Phase 5: Kontinuierlichen Einsatz der Balanced Scorecard sicherstellen

Eine langfristige Realisierung der in der BSC formulierten Strategie und abgeleiteten
Ziele ist Gegenstand der letzten Phase265. Um die Strategieentwicklung und
‐umsetzung dauerhaft im Unternehmen zu verankern ist es notwendig, dass die BSC
in das Management‐ und Steuerungssystem integriert und im Unternehmen gelebt
wird. Als problematisch erweist sich jedoch, dass die Managementsysteme sich bisher
meist an der hierarchischen und oftmals funktionalen Organisation des Unternehmens
ausrichten. Die Inhalte der BSC hingegen betrachten jedoch mehrere Organisations‐
einheiten gleichzeitig, sodass die Zuordnung von Verantwortlichkeiten für die BSC‐
Ziele nicht einfach aus dem Organigramm ableitbar ist. Auch sind die Führungs‐,
Planungs‐ und Berichtssysteme an der bestehenden Organisationsstruktur ausge‐
richtet. Somit erfordert die Einbindung der BSC in die bestehenden Management‐
systeme ein Controlling, das die konsequente Umsetzung der strategischen Ziele mit
den entsprechenden Maßnahmen überprüft. Des Weiteren müssen die Ziele und
Maßnahmen der BSC sowohl in die strategische und operative Planung eingebunden
und ein BSC‐orientiertes Berichtswesen aufgebaut werden.

Die konkrete Implementierung der BSC muss durch die Entwicklung eines IT‐Systems
unterstützt werden, das die Messgrößen bzw. Kennzahlen mit den bestehenden Da‐
tenbanken und Informationssystemen verknüpft. Auch die Verknüpfungen der BSC

264 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 70).


265 Vgl. HORVÁTH & PARTNER (2001, S. 70).

163
Prozessketten in der Logistik
3
mit dem Target Costing, dem Risikomanagement oder dem Konzept des European
Quality Award (EQA) sind vielversprechend.

Mit Abschluss der letzten Phase wirkt die BSC nicht nur als Instrument zur Messung
der Performance eines Unternehmens (Measurementkonzept), sondern auch als Ma‐
nagementkonzept. Durch die Vorgabe von Zielen und Maßnahmen wird die Perfor‐
mance des Unternehmens aktiv beeinflusst und nicht mehr nur passiv gemessen.

3.2.7 Supply-Chain-Operations-Reference-Modell
Aufgrund der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft durch weltweit
agierende Unternehmen und global vernetzte Versorgungsketten werden logistische
Prozesse immer komplexer. Referenzmodelle begegnen dieser Herausforderung mit
der Möglichkeit, die Unternehmensmodellierung auf mehreren Abstraktionsebenen
unterschiedlicher Detaillierungsgrade zu unterstützen und damit die auftretende
Komplexität zu bewältigen. Bei einem Referenzmodell handelt es sich um ein Modell,
das für die Entwicklung anderer Modelle herangezogen werden kann266. Referenz‐
modelle werden somit nicht anhand objektspezifischer Eigenschaften konstruiert,
sondern abstrahieren diese auf eine höhere Ebene. Um mit einem Referenzmodell auf
der Basis einer einheitlichen Terminologie die Erstellung von Modellen vereinfachen
und beschleunigen zu können, sind an Referenzmodelle im Rahmen des Supply Chain
Managements die folgenden Anforderungen zu stellen267:

 Richtigkeit: Modelle sind als korrekte Abbildungen der Realität in syntaktischer


und semantischer Hinsicht darzustellen.

 Semantische Eindeutigkeit: Die Beschreibung des Modells muss so gestaltet wer‐


den, dass sie eindeutig und verständlich auf reale Situationen übertragbar ist.

 Vollständigkeit: Alle relevanten Prinzipien und Konzepte einer Supply Chain


müssen in ihrer Gesamtheit abgebildet werden.

 Verständlichkeit: Referenzmodelle müssen für den potenziellen Nutzer in jeder


Hinsicht inhaltlich nachvollziehbar sein.

 Komplexitätsreduktion: Die Entwicklung konkreter Sichten mit unterschiedlichen


Detaillierungsgraden muss möglich sein.

 Überprüfbarkeit: Die Eignung des Einsatzes eines Referenzmodells muss analy‐


sier‐, prüf‐ und bewertbar sein.

 Anpassbarkeit: Die Modifikation und Erweiterbarkeit hinsichtlich der spezi‐


fischen Problemstellung durch eine entsprechende Modellmodularisierung müs‐
sen möglich sein.

266 Vgl. HARS (1994, S. 15).


267 Vgl. HEYM (1995, S. 107f); WOLF (2001, S. 130).

164
3.2
Prozessmodellierung

 Kombinierbarkeit: Referenzmodelle sollen aufgrund der Zusammensetzungs‐


möglichkeit zu einem Implementierungsmodell kombinierbar sein.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen bei der Gestaltung von Geschäftsprozessen im


Rahmen des Supply Chain Managements ist ein einheitliches Prozessverständnis der
Kooperationspartner, sodass eine standardisierte Beschreibungssprache für die Pro‐
zesse in der Supply Chain unabdingbar ist. Eine einheitliche Gestaltung gewährleistet
auch die Kompatibilität der modellierten Geschäftsprozesse und bildet die Basis für
deren Abbildung in SCM‐Softwaresystemen. Im Jahr 1995 beauftragte die Unterneh‐
mensberatung Pittiglio Rabin Todd & McGrath (PRTM) das unabhängige Marktfor‐
schungsunternehmen Advanced Manufacturing Research (AMR) mit einer Analyse
des Marktes für Unternehmenssoftware. Diese beiden Unternehmensberatungen ha‐
ben im Jahr 1996 zusammen mit weiteren 69 Mitgliedsunternehmen das unabhängige,
nicht‐gewinnorientierte Supply Chain Council (SCC) gegründet, um gemeinsam das
Supply‐Chain‐Operations‐Reference‐Modell (SCOR‐Modell) als Standard‐Referenz‐
modell für die unternehmens‐ und branchenübergreifende Beschreibung, Analyse und
Bewertung von Lieferketten zu entwickeln268. Die Anzahl der Mitglieder im SCC, die
sich aus Industrieunternehmen verschiedener Branchen, Softwareanbietern, Bera‐
tungsunternehmen sowie Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammenset‐
zen, ist inzwischen auf über 1000 Unternehmen angestiegen. Das SCOR‐Modell inte‐
griert die Konzepte Business Process Reengineering269, Benchmarking270 und Best
Practice‐Analyse, unterstützt die unternehmensübergreifende Gestaltung der Ge‐
schäftsprozesse einer Supply Chain und stellt Kennzahlen zur Leistungsmessung der
Prozesse sowie Best‐Practice‐Referenzen zur Verfügung. Weiterhin werden Software‐
funktionalitäten für das SCM festgelegt, d. h. dass sich für jeden Prozess Anforderun‐
gen ableiten lassen, die durch die Softwarehersteller in eine entsprechende Funktiona‐
lität umzusetzen sind. Beispiele für eine Softwarefunktionalität sind geeignete EDI‐
Schnittstellen für Transaktionen, die Unterstützung elektronischer Kanbans oder die
Führung der Konsignationsbestände. Somit beschreibt das SCOR‐Modell explizit Pro‐
zesse, nicht etwa Funktionen oder personenbezogene Fähigkeiten.

3.2.7.1 Aufbau des SCOR-Modells


Das SCOR‐Modell stellt ein Geschäftsprozessmodell dar, welches durch eine perma‐
nente Weiterentwicklung sowie Anpassung einen evolutionären Prozesscharakter
aufweist. Aufgrund mehrfacher Überarbeitungen ist von einer gewissen Modellreife
auszugehen. Alle Supply‐Chain‐Aktivitäten und ‐Aufgabenstellungen werden durch
die sechs Basisprozesse Planung (plan P), Beschaffung (source S), Herstellung (make
M), Lieferung (deliver D), Rücklieferung (return R) und Ermöglichen (enable E) be‐
schrieben. Aus der Interaktion zwischen dem Beschaffungsprozess des Kunden und

268 Vgl. POLUHA (2007, S. 81).


269 Vgl. Kapitel 3.2.7.
270 Vgl. Kapitel 4.1.

165
Prozessketten in der Logistik
3
dem Lieferprozess des Anbieters ergibt sich die Verkettung der Partner innerhalb der
Supply Chain (vgl. Abbildung 3‐14). Die Planung erfolgt unternehmensübergreifend
und sorgt für ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage sowie einen durchgän‐
gigen Warenfluss.

Abbildung 3‐14 Das SCOR-Modell271

Planung
Planung Planung

Lieferung Beschaffung Herstellung Lieferung Beschaffung Herstellung Lieferung Beschaffung

Beschaffung Herstellung Lieferung


Rücklieferung Rücklieferung Rücklieferung Rücklieferung Rücklieferung
Ermöglichen
Rücklieferung Rücklieferung
Ermöglichen

Ermöglichen
Lieferant Kunde
Lieferanten intern oder extern Unternehmen Kunde intern oder extern
des Lieferanten des Kunden

Das SCOR‐Modell weist eine hierarchische Struktur auf und beinhaltet vier Modell‐
Ebenen, wobei auf jeder Ebene Ausschnitte der vorangegangenen Ebene konkretisiert
werden (vgl. Abbildung 3‐15). Auf der ersten Ebene wird der Umfang der betrachteten
Supply Chain mit der Auswahl der beteiligten Partner festgelegt. Da dieser Schritt die
Grundlage für die späteren Optimierungs‐ und Reorganisationsmaßnahmen darstellt,
hat die Abgrenzung unter wettbewerbsrelevanten Aspekten zu erfolgen. Dabei wer‐
den die strategisch bedeutenden Partner der Lieferkette und deren Standorte be‐
stimmt, die Prozesse zwischen ihnen durch die sechs Basisprozesse Planen, Beschaf‐
fen, Herstellen, Liefern, Rückliefern und Ermöglichen beschrieben sowie Leistungszie‐
le festgelegt. In der Abbildung 3‐16 sind die grundlegenden Prozesse auf der Ebene 1
zur Planung und Auftragsabwicklung beschrieben272.

Zunächst wird für die Auftragsabwicklung der Informationsfluss betrachtet. Ausge‐


hend vom Kundenauftrag (1) wird der Prozess Liefern bearbeitet. Als Ergebnis kann
ein Produktionsauftrag (2) mit einem darauffolgenden Materialbereitstellungsauftrag
(3) generiert werden. Zur Lieferung der Materialien kann eine Materialbestellung (4)
beim Lieferanten ausgelöst werden. In entgegengesetzter Richtung verläuft nun der
Materialfluss. Nach der Lieferung der Materialien (5) durch den Lieferanten versorgt
der Beschaffungsprozess auf Basis des Materialbereitstellungsauftrages die Produkti‐
on (6). Die Produktion stellt die je nach Produktionsauftrag anzufertigenden Produkte
(7) her, welche anschließend auf Basis des Kundenauftrages durch den Lieferprozess
kommissioniert, gepackt und an den Kunden versendet werden (8). In der Regel sind
die Auftragsdurchlaufzeiten länger als die vom Kunden geforderten Lieferzeiten,
sodass das Antizipieren zukünftiger Ereignisse eine essentielle Aufgabe des Pla‐

271 In Anlehnung an BERNING (2002, S. 154).


272 Vgl. GEIMER/BECKER (2001, S. 124f).

166
3.2
Prozessmodellierung

nungsprozesses ist. Der Planungsprozess bestimmt die vorzuhaltenden Material‐ und


Produktbestände, um kurze Lieferzeiten zu realisieren. Dazu werden die Beschaf‐
fungs‐, Herstell‐ und Liefermöglichkeiten zu den Supply‐Chain‐Möglichkeiten (13)
zusammengefasst und unter Berücksichtigung der Marktprognose (9) eine Beschaf‐
fungsprognose (14) abgegeben. Auf dieser Grundlage werden anschließend die not‐
wendigen Aktivitäten in den Funktionsbereichen geplant273.

Abbildung 3‐15 Ebenen des SCOR-Modells274

Ebene Beschreibung Semantik Anmerkungen

1 Bestimmung des
Umfangs und
Höchste Ebene der beteiligten
(Prozesse) Partner im Netz‐
Netzwerk werk

2 Planen Konfiguration
der Kernprozesse
Abgedeckter Bereich

Konfigurations‐ Beschaffen Liefern der Supply


Herstellen
Herstellung
ebene (Prozess‐ Chain
kategorien)
Rückliefern
Rücklieferung Rückliefern

Abstimmung der
Unternehmens‐
3 D 3.1
Produkt
strategien
kommissio‐
nieren D 3.3 D 3.4
Gestaltungsebene
Ladungen Versandweg
(Prozesselemente) planen festlegen
D 3.2
Transportun‐
ternehmen aus‐
wählen

4 Beschreibung der
Arbeitsabläufe
Nicht im Modell

und Aktivitäten/
enthalten

Implementierungs‐ Arbeitsanwei‐
ebene (Detaillieren sungen
der Prozesselemente)

273 Vgl. GEIMER/BECKER (2001, S. 124f).


274 In Anlehnung an KUHN/HELLINGRATH (2002, S. 109).

167
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐16 SCOR-Prozessbeschreibung275

Beschaffungs‐ Markt‐
prognose
14 9 prognose

Planung
Beschaffungs‐ Supply Chain
möglichkeiten
10 13 Möglichkeiten

Liefer‐
12 möglichkeiten
11

Herstell‐
möglichkeiten

Material‐
bereitstellungs‐ Produktions‐
auftrag auftrag
Informationsfluss

Bestellung 4 3 2 1 Kundenauftrag

Lieferant Beschaffung Herstellung Lieferung Kunde

Rücklieferung Rücklieferung
Materiallieferung 5 6 7 8 Auftragslieferung

Warenfluss
Teile‐ Produkt‐
lieferung lieferung

Die sechs Basisprozesse werden auf der zweiten Ebene des SCOR‐Modells in Prozess‐
kategorien verfeinert und in kontextspezifische Anwendungsbereiche unterteilt. Auf
dieser Ebene wird genauer beschrieben, wie Prozesse geplant, Materialien beschafft,
Produkte hergestellt und geliefert sowie Rücklieferungen organisiert werden. Weiter‐
hin erfolgt auf dieser Ebene die Beschreibung der Infrastruktur, die für die Ausfüh‐
rung der Prozesse notwendig ist.

275 In Anlehnung an GEIMER/BECKER (2001, S. 125).

168
3.2
Prozessmodellierung

Abbildung 3‐17 Prozesskategorien der SCOR-Ebene 2

Planung
P1 Planung Supply Chain

P2 Planung P3 Planung P4 Planung P5 Planung


Beschaffung Herstellung Lieferung Rücklieferung

P0 Infrastruktur für Planung

Beschaffung Herstellung Lieferung


S1 M1 D1
zugekauftes Ma‐ Auf Lager Lagerhaltige Pro‐
terial beschaffen fertigen dukte liefern

D2 Auftragsspezi‐
S2 Auftragsspe‐ M2
Lieferanten

fisch hergestellte Pro‐


Auf Kundenauftrag

Kunden
zifisch hergestellte
dukte liefern
Produkte beschaffen fertigen

D3 Auftragsspezi‐
S3 Auftragsspezi‐ M3
fisch konstruierte
fisch konstruierte Auf Kundenauftrag
Produkte liefern
Produkte beschaffen konstruieren

S0 Infrastruktur M0 Infrastruktur D4 Auslieferung


für Beschaffung für Herstellung an den
Handel

D0 Infrastruktur
für Lieferung

SR Rücklieferung SR0 Infrastruktur DR Rücklieferung DR0 Infrastruktur


der beschafften für Rückliefern der gelieferten für Rückliefern
Produkte Produkte

Ermöglichen E1, E2, E3, E4, E5, E6, E7, E8, E9, E10, E11

Der Planungsprozess besteht aus fünf Kategorien, die nicht nur die einzelnen Ausfüh‐
rungsprozesse Beschaffung, Herstellung, Lieferung und Rückführung planen, sondern
auch die gesamte Supply Chain. Die Basisprozesse Beschaffen, Herstellen und Liefern
werden in verschiedene Prozesskategorien unterteilt, sodass eine Differenzierung in
eine lagerhaltige und kundenauftragsbezogene Produktion sowie in eine auftragsbe‐
zogene Konstruktion ermöglicht wird (vgl. Abbildung 3‐17). Beim Prozess der Rück‐
führung erfolgt eine Unterscheidung zwischen der Rückführung gelieferter Fertigpro‐
dukte vom Absatzmarkt und der Rückführung beschaffter Produkte zum Beschaf‐

169
Prozessketten in der Logistik
3
fungsmarkt. Der Basisprozess „Ermöglichen“ schafft die Voraussetzungen für einen
reibungslosen Ablauf der Supply Chain, d. h. die Aufrechterhaltung, Handhabung
und Regelung von Informationen und Beziehungen, auf denen die Planungs‐ und
Ausführungsprozesse aufbauen.

Dem Prozess „Planung“ wird eine organisatorische Bedeutung zugerechnet, da dieser


Prozesstyp die strategische Planung und Überwachung der gesamten betrachteten
Supply Chain umfasst und mit den entsprechenden Plänen der Supply‐Chain‐Partner
abgeglichen werden soll. Der Planungsprozess wird in die Prozesskategorien P1: Pla‐
nung Supply Chain, P2: Planung Beschaffung, P3: Planung Herstellung, P4: Planung
Lieferung und P5: Planung Rücklieferung unterteilt, welche die einzelnen Planungs‐
prozesse für die jeweiligen Ausführungsbereiche enthalten. Weiterhin umfasst die
Planung noch das Management der Planungsinfrastruktur (P0). Der Prozess „Pla‐
nung“ soll die aggregierte Nachfrage und das aggregierte Angebot in Einklang brin‐
gen, um somit Aktivitäten festzulegen, die den eingeführten Geschäftsregeln am bes‐
ten entsprechen. Auch das Abschätzen etwaiger Supply‐Chain‐Risiken ist Bestandteil
des Planungsprozesses. Planen umfasst somit alle vorbereitenden Aktivitäten zu den
entsprechenden Ausführungsprozessen wie z. B. die Bewertung von Lieferanten, die
Aggregation der Nachfrage‐, Produktions‐ und Distributionsanforderungen sowie die
Planung der Kapazitäten und die Verteilung der Aufträge. Das Management der Pla‐
nungsinfrastruktur konzentriert sich auf die Konfiguration der Supply Chain, auf
strategische Entscheidungen bzgl. einer Eigenherstellung oder eines Fremdbezugs, auf
die langfristige Kapazitäts‐ und Ressourcenplanung sowie die Produkteinführung und
den Produktauslauf.

Der Basisprozess „Beschaffen“ versorgt das Unternehmen mit Produkten und Leis‐
tungen, um die vorhergesagte oder tatsächliche Nachfrage zu erfüllen. Der Beschaf‐
fungsprozess umfasst die Prozesskategorien S1: Zugekauftes Material beschaffen, S2:
Auftragsspezifisch hergestellte Produkte beschaffen und S3: Auftragspezifisch kon‐
struierte Produkte beschaffen. Diese bilden die verschiedenen Arten der Materialbe‐
schaffung ab, abhängig davon, ob die Ware von einem Anbieter bezogen wird, der
diese auf Lager bereithält (S1), oder ob sie von ihm noch hergestellt (S2) bzw. entwi‐
ckelt (S3) werden muss, bevor sie geliefert werden kann. Zum Basisprozess „Beschaf‐
fen“ gehören neben der Eingangsabwicklung der beschafften Materialien und Produk‐
te die Prüfung, Lagerung und Ausgabe der benötigten Materialien, die Pflege der
Lieferantenbeziehungen und das Abschätzen von Beschaffungsrisiken. Das Manage‐
ment der Beschaffungsinfrastruktur (S0) umfasst z. B. die Zertifizierung von Lieferan‐
ten, das Erstellen und Abschließen von Lieferantenverträgen und die Qualitätskontrol‐
le im Wareneingang.

Der Prozess „Herstellen“ beinhaltet alle Prozesse, welche die Güter in ihren Endzu‐
stand überführen, sodass die vorhergesagte bzw. tatsächliche Nachfrage erfüllt wer‐
den kann. Der Herstellungsprozess – an dem sich sämtliche Prozesse des Modells
orientieren – wird in M1: Lagerfertigung, M2: Auftragsfertigung und M3: Individual‐
fertigung unterteilt. Zu den Prozessen gehören die Materialbereitstellung, Fertigung,

170
3.2
Prozessmodellierung

Qualitätsprüfung, Verpackung und Lagerung der Endprodukte sowie die Entsorgung


von entstandenen Abfällen. Zum Management der Herstellungsinfrastruktur (M0)
zählen u. a. Veränderungen in der Konstruktion, die Überwachung des Produktions‐
status, die kurzfristige Kapazitätsplanung sowie die Terminierung und Reihenfolge‐
planung.

Gegenstand des Basisprozesses „Liefern“ ist die Lieferung von Fertigwaren oder Leis‐
tungen an die Kunden. Die Unterteilung in die verschiedenen Prozesskategorien ori‐
entiert sich wiederum daran, ob das Produkt bei einer Kundenanfrage auf Lager liegt
und sofort ausgeliefert werden kann (D1) oder ob es erst nach Durchlauf eines Her‐
stellprozesses (D2) bzw. Konstruktionsprozesses (D3) ausgeliefert werden kann. Eine
weitere Prozesskategorie behandelt die Auslieferung an den Handel (D4). Lieferpro‐
zesse beinhalten das Auftrags‐, Lager‐ und Transportmanagement sowie die Abschät‐
zung von Risiken. Das Management der Lieferinfrastruktur (D0) umfasst die Verwal‐
tung der Vertriebskanäle.

Der Basisprozess „Rückliefern“ beinhaltet Rücklaufprozesse von den Kunden an das


Unternehmen (DR) und vom Unternehmen an den eigenen Lieferanten (SR) sowie die
Risikoabschätzung. Gründe für Rücklaufprozesse sind z. B. defekte Produkte (SR1
bzw. DR1), zu reparierende Produkte bzw. MRO‐Produkte (SR2 bzw. DR2) oder über‐
zählige Produkte bzw. Materialien (SR3 bzw. DR3). Im Rahmen des Managements der
Lieferinfrastruktur (R0) werden Rückführkanäle bestimmt und verwaltet.

Der letzte Basisprozess „Ermöglichen“ beschreibt diejenigen Tätigkeiten, die mit dem
reibungslosen Management der Supply Chain in Verbindung gebracht werden. Dazu
gehören die Festlegung und Gestaltung von Regeln (E1), die Leistungsbewertung der
Supply Chain (E2), die Verwaltung von Daten und Informationen (E3), das Manage‐
ment der Humanressourcen (E4) und des Anlagevermögens (E5), die Verwaltung der
Supply‐Chain‐Verträge (E6), das Management des Supply‐Chain‐Netzwerks (E7), die
Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen (E8), das Management der Supply‐Chain‐
Risiken (E9) und der Supply‐Chain‐Beschaffung (E10) sowie der Supply‐Chain‐
Technologien (E11).

In der dritten Ebene wird jede Prozesskategorie durch Prozesselemente, die als Stan‐
dardreferenz branchenspezifisch konfiguriert sind, genau beschrieben. Gegenstand
sind die Geschäftsprozessfestlegung, die Best Practices sowie die Auswahl einzelner
Metriken, welche bei der Abwicklung von Kunden‐, Einkaufs‐, Fertigungs‐ und Wie‐
derbeschaffungsaufträgen, Genehmigungen für Rücklieferungen und Absatzprogno‐
sen zur Anwendung kommen. Jede Prozesskategorie der zweiten Ebene wird auf
dritter Ebene einer separaten Betrachtung unterzogen und erfährt eine einzelne Do‐
kumentation. Die Prozesselemente werden durch Informationsflüsse zu Prozessmo‐
dellen verknüpft, wobei jedes Prozesselement über einen eindeutigen Bezeichner iden‐
tifizierbar ist. Für jedes Element werden Informationsinput und ‐output sowie die
Reihenfolge festgelegt. Auf Grundlage dieser Detaillierung sind Optimierungen und
Vergleiche mit den Leistungen anderer Prozesse möglich. Abbildung 3‐18 zeigt als
Beispiel für die dritte Gestaltungsebene die Prozesskategorie S1 „Zugekauftes Material

171
Prozessketten in der Logistik
3
beschaffen“ mit den drei Prozesselementen „Materiallieferung“, „Material erhalten &
prüfen“ und „Material transferieren“ sowie deren Input‐ und Outputgrößen.

Abbildung 3‐18 Prozesselement der SCOR-Ebene 3

S1 Zugekauftes Material beschaffen

Ausführungsdaten,
Materialbestand, Be‐
Beschaffungspläne, Zugekauftes
Input stand an Halbfertig‐
Wiederauffüllungs‐ Material
und Fertigprodukten
signale

S 1.1 S 1.2 S 1.3


Prozess‐
Material Material
elemente Material‐
erhalten & transfe‐
lieferung
prüfen rieren

Beschaffungssignal,
Output Eingangsprüfung Bestand
bestelltes Material

Eine vierte Ebene enthält eine Beschreibung der Aktivitäten und Arbeitsabläufe in den
einzelnen Prozessen. Für diese Ebene werden jedoch keine Modellierungselemente
angeboten, da eine Beschreibung dieser Tätigkeiten nicht branchenunabhängig erfol‐
gen kann. Somit ist diese Implementierungsebene nicht mehr Bestandteil des SCOR‐
Modells.

Das SCOR‐Modell enthält neben dem hierarchisch gegliederten Prozessmodell auch


ein Kennzahlensystem, mit dem die geforderte Übersichtlichkeit und notwendige
Informationsverdichtung ermöglicht wird. Durch Supply‐Chain‐Kennzahlen soll das
Verhalten der Partner in der Supply Chain so beeinflusst werden, dass es strategiekon‐
form ist. Das Kennzahlensystem enthält nach Leistungsattributen kategorisierte, spezi‐
fische Kennzahlen, die auch ein Benchmarking zwischen den Partnern bzw. der ge‐
samten Supply Chain ermöglichen. Darüber hinaus werden Best Practices zur Errei‐
chung eines hohen Leistungsniveaus angeboten sowie Anforderungen an die dafür
benötigte Softwarefunktionalität festgelegt.

Grundsätzlich sind jedem Prozesselement fünf Leistungsattribute zugeordnet, mit


denen über Metriken ein Benchmarking ermöglicht wird. Die Leistungsattribute um‐
fassen die Lieferzuverlässigkeit, Reaktionsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Liefer‐
kettenkosten sowie den Kapitaleinsatz und werden bezüglich der Wahrnehmbarkeit
für den Kunden oder einer reinen internen Bewertung unterschieden (vgl. Tabelle 3‐2).

172
3.2
Prozessmodellierung

Die Kennzahlen der ersten Ebene umfassen strategische Kennzahlen zur Leistungs‐
messung der gesamten Supply Chain. Diese Management‐ oder Leistungskennzahlen
ergeben sich als aggregierte Größen der Kennzahlen der zweiten Ebene. Die Mess‐
größen der dritten Ebene sind mit den Prozesselementen verknüpft, sodass es dem
Management möglich ist, eventuelle Abweichungen schnell identifizieren zu können.

Tabelle 3‐2 SCOR-Kennzahlensystem276

Kundenbezogen Unternehmensbezogen
(extern) (intern)
Leistungs‐ Lieferzu‐ Reaktions‐ Flexibilität Lieferketten‐ Kapitalein‐
attribut verlässigkeit fähigkeit kosten satz

Ebene1 Fehlerlose Auftragsab‐ Flexibilität Gesamte Liefer‐ Kapital‐


Auftragsausfüh‐ wicklungszeit (lieferantenseitig) kettenkosten bindungsdauer
rung Lieferzeit Anpassungsfähig‐ Herstellkosten Rendite auf das
Strategische
keit verkaufter Supply‐Chain‐
Kennzahlen zur
(lieferantenseitig) Güter Anlagevermö‐
Leistungsmes‐
gen
sung der gesam‐ Anpassungsfähig‐
ten Supply Chain keit Rentabilität des
(kundenseitig) Working Capital

Ebene 2 Prozentsatz  Durchlaufzeit Flexibilitätsgrad in Kosten der Umschlagdauer


vollständig in der Beschaf‐ der Beschaffung Planung der Forderungen
Leistungsindika‐ ausgelieferter fung Flexibilitätsgrad in Kosten der Lagerreichweite
Aufträge
toren zur Unter‐  Durchlaufzeit der Herstellung Beschaffung
suchung der Prozentsatz in der Herstel‐
Prozesskategorien pünktlicher lung
Auslieferungen

Ebene 3 Prozentsatz  Dauer für die Verfügbarkeit der Kosten des  Alter über‐
korrekt erstellter Einlagerung der Einkaufsmitarbei‐ Risikomanage‐ schüssiger
Messgrößen zur Lieferscheine Waren ter ments Lagerbestände
Ermittlung der Prozentsatz Rechnungs‐ Aktuelles Liefervo‐ Vertriebskosten Wert der
Leistungsfähig‐ fehlerfreier durchlaufzeit lumen Lagerbestände
keit Produkte

3.2.7.2 Anwendung des SCOR-Modells


Für die Anwendung des SCOR‐Referenzmodells wird vom Supply Chain Council ein
Vorgehen in vier Schritten vorgeschlagen. Die ersten drei Schritte umfassen die Analy‐
se der Wettbewerbsbasis, die Gestaltung der Supply Chain und die Ausrichtung der
Leistungsniveaus, Best Practices sowie Softwaresysteme und sind in Verbindung zu
den drei Ebenen im SCOR‐Modell zu sehen. Der vierte Schritt sieht die Implementie‐
rung der Supply‐Chain‐Prozesse und ‐Softwaresysteme vor und entspricht der SCOR‐

276 In Anlehnung an WEBER/WALLENBURG (2010, S. 168).

173
Prozessketten in der Logistik
3
Ebene vier. Da diese Ebene außerhalb des SCOR‐Modells auf Basis klassischer Pro‐
zesskettenmodelle277 Berücksichtigung findet, wird sie im Folgenden nicht weiter
konkretisiert.

Der erste Schritt „Analyse der Wettbewerbsbasis“ wird auf Grundlage der in der
SCOR‐Ebene 1 angebotenen Metriken umgesetzt. Mit Hilfe dieser Kennzahlen erfolgt
eine Beurteilung der Supply Chain aus Kundensicht und unternehmensintern (vgl.
Tabelle 3‐2). Diese Kennzahlen werden zur Veranschaulichung der Leistungsziele in
eine Supply Chain Scorecard eingetragen, sodass die aktuelle der angestrebten Leis‐
tungsfähigkeit gegenübergestellt wird. Für die „Gestaltung der Supply Chain“ im
zweiten Schritt empfiehlt das Supply Chain Council die folgenden Teilschritte:

 Abgrenzung der zu gestaltenden Geschäftseinheit bzgl. Standorte, Produkte und


Organisation.

 Darstellung der Standorte der betrachteten Produktionseinrichtungen (Herstel‐


len), der Beschaffungsaktivitäten (Beschaffen) und der Vertriebsaktivitäten (Lie‐
fern) in einer Karte.

 In der Karte werden die wichtigsten Punkt‐zu‐Punkt Materialflüsse durch Pfeile


miteinander verbunden.

 Um die Aktivitäten an jedem Standort beschreiben zu können, erfolgt die Aus‐


wahl und Zuordnung der geeigneten Ausführungsprozesskategorien der SCOR‐
Ebene zwei.

 Für jede Produktfamilie wird eine Beschreibung der zugehörigen Teilprozesskette


der Supply Chain vorgenommen.

 Um die Verbindung zu den entsprechenden Ausführungsprozessen aufzuzeigen,


erfolgt eine Darstellung der Planungsprozesskategorien für jede Teilprozesskette
durch Linien.
 Abschließend kann eine Darstellung der Prozesskategorie P1 „Supply Chain pla‐
nen“ erfolgen, die den Output der Prozesskategorien P2, P3 und P4 aggregiert.

Im dritten Schritt „Ausrichtung der Leistungsniveaus, Best Practices und Software‐


systeme“ wird die Supply‐Chain‐Konfiguration weiter detailliert. Dazu werden Pro‐
zesskettenmodelle entwickelt, welche auf die strategischen Zielsetzungen von Schritt
eins ausgerichtet sind. Weiterhin werden Best Practices auf operativer Ebene etabliert,
Systemanforderungen für die Prozesse bestimmt sowie entsprechende Softwaresyste‐
me ausgewählt. Die Diagnosekennzahlen dieser Ebene unterstützen dabei die detail‐
lierte Gestaltung und Optimierung der Prozesse und zeigen Verbesserungspotenziale
zur Leistungssteigerung auf.

277 Vgl. Kapitel 3.2.1.

174
3.2
Prozessmodellierung

Beispiel 3.2.4:

Ein US‐amerikanisches Unternehmen stellt Desktops und Laptops sowie Monitore her.
Eine geographische Karte der Supply Chain mit den wichtigsten Punkt‐zu‐Punkt
Materialflüssen ist in der Abbildung 3‐19 gegeben, wobei nur die Teilprozesskette
„Laptop“ betrachtet wird. Eine Niederlassung in Taiwan liefert auftragsspezifisch
hergestellte Produkte, die als zugekauftes Material beschafft (S1) werden. Weiterhin
werden Halbleiterelemente von einem Großhändler beschafft (S1), der diese wiede‐
rum von einem Halbleiterhersteller bezieht (S1). Der Halbleiterhersteller fertigt diese
Halbleiter auftragsspezifisch (M2) und liefert diese anschließend aus (D2). Die auf
Lager gefertigten Laptops (M1) werden an einen Laptop‐Großhändler geliefert (D1),
der diese dann an einen Laptop‐Einzelhändler ausliefert (D1). Bei den Händlern treten
nur Beschaffungs‐ und Lieferprozesse und keine Herstellprozesse auf. Die resultieren‐
den Teilprozessketten der Partner sind in der Abbildung 3‐20 dargestellt.

Durch eine Verbindung zu den entsprechenden Ausführungsprozessen kann eine


Planungsprozesskategorie für jede Teilprozesskette unternehmensintern und ‐extern
durch Linien dargestellt werden. Beispielsweise werden bei den Händlern die Beschaf‐
fungsprozesse (S1) und die Distributionsprozesse (D1) durch die Planung Beschaffung
(P2) verbunden.

Abbildung 3‐19 Geographische Karte der Supply Chain278

Niederlassung
Taiwan (D2)

Laptop
Produktion
(S1, M1, D1) Desktop
Produktion
(S1, M1, D2)
Laptop
Großhändler
(S1, D1)
Monitor
Desktop
Produktion
Halbleiter Distributions‐
(S1, M1)
Laptop Großhändler zentrum (D1)
Einzelhändler (S1, D1) (S1, D2)

Halbleiter
Hersteller (S1, M2, D2) Distributions‐
Desktop
zentrum Nord‐
Einzelhändler
amerika (D1)
(S1, D1)
Teilprozesskette „Laptop“

278 In Anlehnung an Supply Chain Council (https://supply‐chain.org).

175
Prozessketten in der Logistik
3
Zwischen dem Laptop‐Hersteller und dem Laptop‐Großhändler bzw. dem Laptop‐
Großhändler und dem Laptop‐Einzelhändler werden die Lieferprozesse (D1) und
Beschaffungsprozesse (S1) mit dem Prozess Planung Lieferung (P4) verbunden. An‐
schließend werden die Prozesse Planung Beschaffung (P2) beim Großhändler und
Planung Lieferung (P4) zwischen Groß‐ und Einzelhändler zur Planung der Supply
Chain (P1) aggregiert. Führt man diese Vorgehensweise fort, dann ist eine Gesamtpla‐
nung (P1) für die gesamte Supply Chain möglich.

Abbildung 3‐20 Teilprozesse der Supply Chain

P1

P1 P1

D2 P2 P3 P4 P2 P4 P2

D2 S1 D2 S1 M1 D1 S1 D1 S1 D1

Halbleiter Halbleiter Laptop Produktion Laptop Laptop


Hersteller Großhändler Großhändler Einzelhändler

3.2.7.3 Kritische Würdigung des SCOR-Modells


Das SCOR‐Modell wurde seit seiner Entwicklung im Jahre 1996 kontinuierlich weiter‐
entwickelt und befindet sich auch noch heute in einem evolutionären Zustand. Mit
dem SCOR‐Modell wird eine Unternehmensgrenzen überschreitende, einheitliche
Beschreibung der Geschäftsprozesse ermöglicht, sodass eine wesentliche Voraus‐
setzung für die Gestaltung einer durchgängigen Wertschöpfungskette von den Liefe‐
ranten über den Hersteller bis hin zu den Kunden geschaffen wird. Dies fördert die
Überwindung von Schnittstellen zwischen funktional ausgerichteten Unternehmens‐
bereichen ebenso wie zwischen verschiedenen Unternehmen in einer Supply Chain.
Der Nutzen des SCOR‐Modells liegt insbesondere in der Schaffung eines gemeinsa‐
men Verständnisses der Prozesse in der Supply Chain, womit eine optimierte Gestal‐
tung der Kunden‐Lieferanten‐Beziehungen über das gesamte Netzwerk hinweg mög‐
lich wird. Beim SCOR‐Modell handelt es sich um ein Referenzmodell, mit dem Supply
Chains unterschiedlicher Komplexität abgebildet werden können und das auf der
vierten Ebene frei adaptierbar ist. Dieser branchenunabhängige Charakter gilt als ein

176
3.2
Prozessmodellierung

großer Vorteil, der vor allem für das generische Benchmarking279 genutzt werden
kann. Vor allem Praktiker in den USA wenden das SCOR‐Modell seit Jahren an und
unterstützen mit ihren Erfahrungen dessen stetige Weiterentwicklung. Bei verschie‐
denen SCOR‐Projekten konnten eine Bestandsreduzierung in der Lieferkette von 50‐
80% realisiert, die Liefertreue um durchschnittlich 10‐25% verbessert, der Gesamt‐
ressourceneinsatz um 50% reduziert, Qualitätsmängel nahezu vermieden und die
Fertigungsfläche um 50% reduziert werden280.

Aktuell sind im SCOR‐Modell alle kundenbezogenen Prozesse vom Auftragseingang


bis zum Begleichen der Rechnung, alle physischen Prozesse für den Umgang mit z. B.
Roh‐, Hilfs‐, Betriebsstoffen, Maschinen, Ersatzteilen, Software sowie alle absatzmarkt‐
bezogenen Prozesse vom Erkennen der aggregierten Nachfrage bis zum Ausführen
eines Auftrags enthalten. Im Modellumfang fehlen jedoch die Verwaltungs‐ und Infra‐
strukturprozesse im Vertrieb, Produktentwicklungsprozesse sowie die immer wichti‐
ger werdenden After Sales Services281. Auch werden die Pflege der Kundenbeziehung
und die Koordinationsmechanismen bei unterschiedlichen Produktionsstrategien (z. B.
einige Varianten werden auf Lager gefertigt und andere Varianten werden kunden‐
auftragsspezifisch hergestellt) im SCOR‐Modell zu wenig beachtet.

Da es sich beim SCOR‐Modell um ein Beschreibungsmodell und nicht um ein Gestal‐


tungsmodell handelt, beschränkt es sich auf die Beschreibung der Prozesse und ver‐
zichtet auf erklärende sowie entscheidungsunterstützende Aussagen. Auch bezieht
sich die dargestellte Prozesshierarchie im Kern auf einzelne Partner in der Supply
Chain und der Unternehmensgrenzen übergreifende Charakter wird erst durch die
Verknüpfung der jeweiligen unternehmensbezogenen Prozesse sowie durch unter‐
nehmensübergreifende Kennzahlen erreicht.

Unternehmen, die das SCOR‐Modell anwenden möchten, müssen die eigenen Prozes‐
se sehr gut verstehen und beschreiben können, da das SCOR‐Modell einen hohen
Abstraktionsgrad besitzt. Die vierte Ebene ist nicht Bestandteil des SCOR‐Modells,
sodass es keine Unterstützung für eine detaillierte Modellierung der Supply‐Chain‐
Prozesse bietet. Eine Anwendung des SCOR‐Modells setzt somit voraus, dass die
Partner in der Supply Chain entsprechende Prozesskettenmodelle282 verwenden, um
auch die Teilprozesse und die Aktivitätsebene mit Kennzahlen entsprechend abbilden
zu können. Weiterhin sollte das SCOR‐Modell nur bei stabilen Netzwerken angewen‐
det werden, da es eine gewisse Kontinuität voraussetzt.

Das SCC befindet sich mit dem SCOR‐Modell in dem Dilemma der Referenz‐
modellierung, da eine zu detaillierte Modellierung zwar den Anpassungsbedarf für
die anwendenden Unternehmen verringert, jedoch gleichzeitig den Anwenderkreis
verkleinert. Dagegen sprechen Referenzmodelle mit einem hohen Abstraktionsgrad

279 Vgl. Kapitel 4.1.5.


280 Vgl. BECKER (2004, S. 88); POLUHA (2007, S. 110).
281 Vgl. Kapitel 6.1.
282 Vgl. Kapitel 3.2.1.

177
Prozessketten in der Logistik
3
einen großen Adressatenkreis an, die jedoch mit einem hohen Anpassungsaufwand
konfrontiert werden. Als weiteres Problem erweist sich die ursprüngliche Entwick‐
lungsintention des SCOR‐Modells283. Demnach wurde das Modell für die Elektronik‐
fertigung mit geringer Fertigungstiefe und einfachen zugrunde liegenden Produkti‐
onsprozessen entwickelt, sodass Schwierigkeiten in der Modellierung komplexer Pro‐
duktionsprozesse mit mehreren Produktionsstufen gesehen werden. Die durch das
SCOR‐Modell induzierte Standardisierung der Prozesse und Strukturen kann auch zu
einem Wettbewerbsnachteil in Form einer Individualitätshemmung der Supply Chains
führen. Das SCOR‐Modell forciert den höchsten Grad der Integration der im Wert‐
schöpfungsprozess involvierten Partner im Sinne einer Synchronisation, die das Errei‐
chen eines netzwerkübergreifenden Gesamtoptimums zum Ziel hat284. Das impliziert
jedoch eine vollständige Informationsoffenlegung aller beteiligten Supply‐Chain‐
Partner sowie die Aufgabe ihrer Steuerungsautonomie, um zentrale Pläne umsetzen
zu können. Demnach kann der Anspruch der Ganzheitlichkeit nur bedingt für einen
Ausschnitt des Netzwerkes realisiert werden.

3.2.8 Prozesskettenmanagement
Zur Darstellung der Effektivität und Effizienz der Unternehmenslogistik gehört neben
der Visualisierung der Logistik‐Prozesskette auch die Operationalisierung der Pro‐
zessleistung. Die Ausrichtung und Erarbeitung logistischer Ziele und Strategien orien‐
tiert sich dabei streng am Kundennutzen, d. h. Prozessketten werden immer vom
Kunden ausgehend analysiert. Die konsequente Ausrichtung der Prozessketten am
Kundennutzen führt zu Verbesserungen der Erfolgsfaktoren Kosten, Qualität, Zeit
und Flexibilität. Insbesondere die Zeitoptimierung in logistischen Ketten ermöglicht es
den Unternehmen schneller und flexibler auf Kundenwünsche zu reagieren und führt
damit zu Flexibilitätsverbesserungen. Die Steigerung der Qualität erhöht die Konkur‐
renzfähigkeit des Unternehmens und reduziert durch Vermeidung von Fehlerfolge‐
kosten auch die Kostenbelastung. Für ein kundenorientiertes Prozesskettenmanage‐
ment sind zunächst die logistischen Prozesse zu erfassen und in Prozessketten abzu‐
bilden, um ein Verständnis für die eigenen logistischen Prozesse zu schaffen. Zur
Sicherstellung des Informationsflusses zu anderen Prozessketten müssen die Schnitt‐
stellen über Input‐ und Outputbeziehungen exakt definiert werden. Das Ziel des Pro‐
zesskettenmanagements liegt in der effektiven und effizienten Gestaltung von Pro‐
zessketten, um damit einen wesentlichen Beitrag zum Erreichen der strategischen,
taktischen und operativen Unternehmensziele zu leisten. Für die nachhaltige Leis‐
tungssteigerung von Prozessketten können die Prozesserneuerung (Revolution) und
die Prozessverbesserung (Evolution) herangezogen werden285.

283 Vgl. HELLINGRATH ET AL. (2004, S. 197).


284 Vgl. Kapitel 2.4.2.2.
285 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 369f).

178
3.2
Prozessmodellierung

Sind die aktuellen Prozessleistungen nicht mehr wettbewerbsfähig oder strategie‐


konform ausgerichtet, da z. B. Veränderungen im unternehmerischen Umfeld durch
Kunden, Märkte, Wettbewerber oder Technologien stattgefunden haben, dann kann es
notwendig sein, die bestehenden Prozesse grundlegend neu zu gestalten. Im Rahmen
der Prozesserneuerung werden altbekannte Denk‐ und Vorgehensweisen grund‐
sätzlich überdacht und aus einem anderen Blickwinkel gesehen, um den Kunden eine
auf seine Bedürfnisse angepasste, wettbewerbsfähige Leistung anzubieten. Die be‐
kannteste Methode der Prozesserneuerung ist das Business Process Reengineering
(BPR)286, das ein fundamentales Überdenken und radikales Redesign von Unter‐
nehmen oder wesentlichen Unternehmensprozessen darstellt, sodass Verbesserungen
in Quantensprüngen in den Erfolgsfaktoren Kosten, Qualität, Flexibilität und Zeit
möglich sind287. Die wesentlichen Merkmale des BPR sind288:

 dramatische und radikale Änderungen, die bestehende Strukturen und Prozesse


in Frage stellen und zu Verbesserungen in Quantensprüngen führen,

 ein funktionsübergreifendes Prozessdenken, das die Organisationsgestaltung do‐


miniert,

 ein ganzheitlicher Ansatz unter Berücksichtigung des gesamten Unternehmens


bzw. kompletter Geschäftsprozesse,

 eine Fokussierung auf externe aber auch interne Kunden und

 eine Top‐down‐Vorgehensweise, bei der die Veränderungen vom Top‐Manage‐


ment ausgehen und durch Überzeugungsarbeit auf die unteren Hierarchieebenen
übertragen werden.

Durch eine radikale Veränderung der Prozessstrukturen werden Leistungssteigerun‐


gen hinsichtlich der kundenorientierten Zielkriterien Zeit, Qualität, Kosten und Flexi‐
bilität erreicht. Die Ziele des Business Process Reengineering sind drastische Kosten‐
reduktionen in nicht wertschöpfenden Prozessen, eine deutliche Verbesserung der
Produktqualität sowie des Kundenservice. Insbesondere durch die Eliminierung un‐
nötiger Tätigkeiten und Wartezeiten können Effizienzgewinne in Form von signifikan‐
ten Durchsatzsteigerungen oder Verkürzungen von Prozessdurchlaufzeiten erzielt
werden. Bei derartigen radikalen Änderungen ist es wichtig, dass das Top‐Manage‐
ment von Anfang an mit eingebunden wird, da diese Vorgehensweise sehr risikoreich
ist und hohe Investitionen notwendig sind. Die Vorgehensweise beim Business Process
Reengineering in der Logistik basiert auf folgenden fünf Schritten289:

286 Vgl. GAITANIDES ET AL. (1994a, S. 4).


287 Vgl. HAMMER/CHAMPY (2003, S. 48).
288 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 373); NIPPA/PICOT (1996, S. 70ff).
289 Vgl. BECKER (2008, S. 69f).

179
Prozessketten in der Logistik
3
 Zunächst erfolgt eine Identifikation und Visualisierung sowie ein Verständnis der
wichtigsten Logistikprozesse, insbesondere bzgl. der Ziele, Strategie und Einfluss‐
faktoren.

 Für eine kundenorientierte Analyse der logistischen Prozesskette sind anschlie‐


ßend die Kundenanforderungen und die einzelnen Dimensionen des Kundennut‐
zens zu identifizieren und zu quantifizieren.
 Der gesamte logistische Prozess wird in Frage gestellt, d. h. zugrundeliegende
Annahmen, die Ablauforganisation, die Ressourcenzuordnung, Verantwort‐
lichkeiten und Funktionsbeschreibungen etc. werden hinterfragt. Es erfolgt eine
Analyse der Schwachstellen im aktuellen Prozess und eine Festlegung von Zielen
für den neu zu gestaltenden Prozess.

 Anschließend wird der Logistikprozess radikal umgestaltet und auf die Kunden‐
anforderungen ausgerichtet. Dazu werden ambitionierte Ziele gesetzt. Die Suche
derjenigen Erfolgsfaktoren, die für eine nachhaltige Verbesserung der eigenen
Prozesse verantwortlich sind, kann z. B. auf der Basis eines Benchmarking290 vor‐
genommen werden.

 Für die Implementierung des völlig neuen Prozesses werden die erforderlichen
Maßnahmen zur Erreichung der festgelegten Ziele umgesetzt. Die gesamte Um‐
setzung wird durch eine Fortschrittskontrolle begleitet, indem ein Vergleich mit
den Zielgrößen durchgeführt wird.

Das Business Process Reengineering bietet für Unternehmen, die den Prozess‐
gedanken noch nicht konsequent verfolgen, Chancen zu besserer Kundenorientierung
und kann durch eine geeignete Informationstechnologie unterstützt werden. Jedoch
handelt es sich beim Business Process Reengineering um einen innovativen, einmali‐
gen Veränderungsprozess. Somit fehlt die Betrachtung des weiteren Wandels nach
dem Reengineering, da neue Prozesse auch eine ständige Anpassung an Änderungen
erfordern. Auch tendieren radikale Prozessverbesserungen dazu, die Veränderungsfä‐
higkeit des Unternehmens zu überfordern, sodass ein hohes Risiko des Scheiterns
besteht.

Im Gegensatz zur Prozesserneuerung führen bei der Prozessverbesserung Verän‐


derungen in kleinen Schritten zu einer nachhaltigen Leistungssteigerung (vgl. Tabelle
3‐3). Die Ideen für eine Prozessverbesserung stammen meist von den Mitarbeitern
selbst und werden von diesen im Team als permanente Aufgabe selbstständig umge‐
setzt, wobei eine Standardlösungsmethode wie z. B. Define ‐ Measure ‐ Analyse ‐ Im‐
prove ‐ Control (DMAIC) aus Six Sigma genutzt wird291. Mit dem DMAIC‐Zyklus
kann ein Problem systematisch, schrittweise und faktenorientiert angegangen werden,
um die Effizienz sowie die Kunden‐ und Mitarbeiterzufriedenheit zu verbessern.

290 Vgl. Kapitel 4.1.


291 Vgl. TÖPFER (2007, S. 80).

180
3.2
Prozessmodellierung

Tabelle 3‐3 Unterschiede zwischen Prozesserneuerung und -verbesserung292

Merkmal Prozesserneuerung Prozessverbesserung


Ausgangspunkt  neuer Prozess  bestehender Prozess
 Kundenzufriedenheit  Effizienz
Ziele
 Effizienz  Kundenzufriedenheit
 radikal  inkrementell
Umfang
 in großen Schritten  in kleinen Schritten
Häufigkeit  diskontinuierlich  kontinuierlich
Durchführung  als Projekt  als permanente Aufgabe
Anstoß  vom Top‐Management  alle Mitarbeiter
 funktionsübergreifend  innerhalb des Prozesses
Wirkung
 tiefgreifend  nicht tiefgreifend
Risiko  hoch  gering

Eine Prozessverbesserung wird über einen Problemlösungskreislauf erreicht, der aus


den folgenden fünf Schritten besteht293:

 Zunächst werden Prozessprobleme identifiziert, gewichtet und ausgewählt.

 Anschließend werden das Problem und deren Ursachen analysiert und Ziele
gesetzt.

 Der dritte Schritt umfasst die Generierung von Lösungen und die Umsetzung der
besten Lösung.

 Darauffolgend wird die Wirkung der Zielerreichung überprüft.

 Der den Kreislauf abschließende Schritt umfasst die Einführung der Lösung als
Standard, um anschließend wieder mit Schritt eins zu beginnen.

Das Prinzip der ständigen Verbesserung kann durch einen kontinuierlichen Verbesse‐
rungsprozess (KVP) im Unternehmen etabliert werden, der auch das organisationale
Lernen im Rahmen der Problemlösungskompetenz stärkt. Die Aktivitäten zur Leis‐
tungssteigerung konzentrieren sich dabei vor allem auf die Vermeidung von Ver‐
schwendungen und Fehlern innerhalb eines Prozesses sowie auf die Reduzierung von
Prozesszeiten und der Streuung der Prozessergebnisse. Da es sich bei der Prozesser‐
neuerung im Rahmen des BPR um einmalige, tiefgreifende Prozessveränderungen
handelt, sollte diese anschließend über geeignete Maßnahmen der kontinuierlichen
Verbesserung konsolidiert, stabilisiert und ausgebaut werden294. Somit bietet es sich
an, die Prozesserneuerung mit der Prozessverbesserung zu kombinieren, um eine
nachhaltige Steigerung der Effektivität und Effizienz der Prozesse zu sichern.

292 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 370).


293 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 376).
294 Vgl. SCHMELZER/SESSELMANN (2008, S. 371).

181
Prozessketten in der Logistik
3
3.3 Qualitätssicherung logistischer Prozesse
Zufriedene Kunden sind der dominante, strategische Erfolgsfaktor. Somit darf Quali‐
tät nicht nur als objektiver, technisch zu bestimmender Parameter aufgefasst werden,
der unternehmensintern durch einen Soll‐Ist‐Vergleich überprüft wird, sondern Quali‐
tät wird durch die Anforderungen der Kunden, interne Empfänger jeglicher Leistung
eingeschlossen, definiert. Diejenigen Produkt‐ und Dienstleistungsmerkmale, die zur
Kundenzufriedenheit beitragen, müssen Ausgangspunkt für die Gestaltung des Leis‐
tungsangebots eines Unternehmens sein.

Der Qualitätsbegriff hat sich über die Jahre durch einen zeit‐ und umweltbedingten
Einschätzungswandel verändert. In den 50er Jahren bedeutete Qualität – aufgrund der
Konzentration auf den Fertigungsbereich – die Einhaltung von technischen Standards.
Heute hingegen beziehen Kunden und diverse Anspruchsgruppen in die Beurteilung
der Qualität von Produkten neben grundlegenden Produkteigenschaften und ‐funk‐
tionalitäten verstärkt auch den Bedienungskomfort, modernste Technologie, die
Nachhaltigkeit von Produkten und Produktion sowie einen weltweiten Service mit
ein. Auch wirken sich eine hohe Lieferflexibilität und Lieferqualität oder zusätzlich
angebotene Leistungen wie Tracking and Tracing sowie die kostenlose Entsorgung
von Verpackungsmaterialien positiv auf die Wahrnehmung und Bewertung des Kun‐
den aus.

Unter Qualität wird nach der Qualitätsnorm DIN EN ISO 9001:2015 das Vermögen
einer Gesamtheit inhärenter (lat. innewohnender) Merkmale eines Produkts, eines
Systems oder eines Prozesses zur Erfüllung von Forderungen von Kunden und ande‐
ren interessierten Parteien verstanden. Dieses Qualitätsverständnis schließt nicht nur
die Qualität der Produkte und Dienstleistungen ein, sondern bezieht sich ebenfalls auf
die Qualität der kundenbezogenen Prozesse wie z. B. die Kundenbetreuung und im‐
pliziert somit eine strategische Orientierung, die insbesondere eine hohe Kundentreue
in den Mittelpunkt stellt.

Das Qualitätsmanagement umfasst alle organisatorischen und technischen Maßnah‐


men, die vorbereitend, begleitend und prüfend der Schaffung und Erhaltung der Qua‐
lität von Produkten und Dienstleistungen dienen und umfasst die Teilfunktionen
Qualitätsplanung, ‐lenkung und ‐kontrolle sowie die kontinuierliche Qualitätsver‐
besserung295.

Unter der Qualitätsplanung werden sämtliche planerische Tätigkeiten zusammen‐


gefasst, in denen die Qualitätsmerkmale sowie ihre geforderten und zulässigen Aus‐
prägungen für ein Produkt, einen Prozess oder ein Verfahren festgelegt werden, um
eine reproduzierbare Ausführungsqualität zu erreichen. Die Qualitätsplanung erfolgt
im Hinblick auf die Kundenanforderungen, die technische Realisierbarkeit sowie die
personellen, materiellen und finanziellen Ressourcen im Unternehmen. Durch Pla‐

295 Vgl. BRÜGGEMANN/BREMER (2012, S. 122).

182
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

nung der Qualität, z. B. durch die Qualitätstechniken Quality Function Deployment


(QFD), Fehlermöglichkeits‐ und Einflussanalyse (FMEA), Poka Yoke oder die Auditie‐
rung, werden Kosten gespart, Entwicklungszeiten verkürzt und fehlerhafte Prozesser‐
gebnisse vermieden.

Die Qualitätslenkung, die auch als Qualitätssteuerung oder ‐regelung bezeichnet wird,
basiert auf den Ergebnissen der Qualitätsplanung. Sie beinhaltet die Vorgabe der Pro‐
dukt‐ und Ausführungsanforderungen sowie die Überwachung der Umsetzung dieser
Anforderungen bei der Leistungserstellung. Als weitere Aufgabe umfasst die Quali‐
tätslenkung die Steuerung der Herstellungsprozesse und die Organisation von Pro‐
dukt‐ oder Prozessprüfungen. Unter Verwendung der Ergebnisse der Qualitäts‐
kontrolle können Maßnahmen veranlasst werden, die Störgrößen und Schwachstellen
eliminieren. Darüber hinaus können auch Maßnahmen geplant und veranlasst wer‐
den, die auf eine Änderung der Entwurfsqualität oder der eingesetzten Prozesse und
Verfahren abzielen.

Die Qualitätskontrolle bzw. ‐prüfung beinhaltet einen Soll‐Ist‐Vergleich um festzu‐


stellen, inwieweit logistische Prozesse und Tätigkeiten die an sie gestellten Qualitäts‐
anforderungen erfüllen. Im Fall von Abweichungen ist nicht nur eine Aussonderung
oder eventuelle Nachbesserung erforderlich, sondern auch eine Ursachenermittlung,
um Rückschlüsse auf weitere Planungsprozesse ziehen zu können. Die systematische
Ursachenfindung kann mit Hilfe der statistischen Prozessregelung, Ishikawa‐Dia‐
grammen und der ABC‐Analyse unterstützt werden.

Die kontinuierliche Qualitätsverbesserung umfasst die permanente Verbesserung der


Leistungen der Prozesse und der Potenziale des Unternehmens sowie die Verände‐
rung des Verhaltens von Führungskräften und Mitarbeitern in Richtung eines höheren
Qualitätsbewusstseins und einer besseren Lernfähigkeit.

Das Qualitätsmanagement muss unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet


werden, sodass vor allem die Qualitätskosten von Bedeutung sind. Die Qualitätskos‐
ten lassen sich in Fehlerverhütungskosten und in die Kosten der Nicht‐Qualität unter‐
teilen. Zu den Fehlerverhütungskosten gehören die Kosten zur Fehlerverhütung und
die Kosten für vorbeugende Maßnahmen der Qualitätssicherung. Beispiele für Fehler‐
verhütungskosten sind die Kosten für die Qualitätsplanung, für Schulungsmaßnah‐
men, für Prozessfähigkeitsuntersuchungen oder für die Bewertung und Entwicklung
von Lieferanten. Die Kosten der Nicht‐Qualität umfassen die Prüfkosten sowie die
internen und externen Fehlerfolgekosten. Zu den Prüfkosten zählen die Personal‐ und
Sachkosten für die Durchführung und Bewertung der Qualitätskontrolle, wie z. B. die
Kosten für die Fertigungs‐ oder Wareneingangsprüfung, die Kosten für Prüfmittel
oder die Kosten für die Vorbereitung oder Durchführung von Audits. Die internen
und externen Fehlerfolgekosten umfassen alle Kosten zur Beseitigung von Fehlern, die
entweder im Unternehmen oder außerhalb des Unternehmens entdeckt werden. Bei‐
spiele für interne Fehlerfolgekosten sind die Kosten für Nacharbeiten oder Ausschuss.
Zu den externen Fehlerfolgekosten zählen z. B. die Kosten für die Produkthaftung,
Garantiekosten, Kosten in Folge von Rückrufaktionen oder eines Imageverlusts.

183
Prozessketten in der Logistik
3
3.3.1 Qualität von Logistiksystemen
Unter Logistikqualität wird die Übereinstimmung zwischen Merkmalen und Merk‐
malsausprägungen eines Logistikprozesses und den Anforderungen verstanden, die
von den Kunden an diesen Logistikprozess gestellt werden. Logistikqualität darf nicht
statisch betrachtet werden, da die Bedürfnisse der Kunden wie auch die gesetzlichen
Anforderungen einem Wandel unterworfen sind. Entsprechend muss die Gesamtheit
der Eigenschaften weiterentwickelt werden, um den jeweils maßgebenden Qualitäts‐
ansprüchen gerecht zu werden.

Abbildung 3‐21 Betrachtungsebenen der Logistikleistung

Zustand

Menge
Leistungsstandard

Art

Ort
Zuverlässigkeit

Zeit
Flexibilität

Um logistische Systeme einer umfassenden Qualitätssicherung zu unterziehen, müs‐


sen die drei Dimensionen Ressourcenverfügbarkeit, Phasen der Leistungserstellung
und Eigenschaften des Logistiksystems betrachtet werden (vgl. Abbildung 3‐21)296.
Die Ressourcenverfügbarkeit umfasst aus Sicht des Leistungsempfängers die Zeitdau‐
er bis zur Bedürfnisbefriedigung (kurze Lieferzeit, hohe Termintreue), die Anlieferung
an den richtigen Ort, die Liefergenauigkeit nach Art und Menge sowie den materiellen
Zustand der Produkteigenschaften (Schadensfreiheit). Diese fünf Ausprägungen der
Ressourcenverfügbarkeit können bezüglich der Eigenschaften des Logistiksystems
und den Phasen der Leistungserstellung betrachtet werden. Die Eigenschaften eines
logistischen Systems werden bezüglich der Komponenten Leistungsstandards, Flexibi‐
lität (Veränderung des Leistungsstandards über die Zeit) und Zuverlässigkeit der
Realisierung unterschieden und werden vom Kunden durch die Ergebnisqualität
wahrgenommen. Die Zuverlässigkeit des Logistiksystems bezeichnet die Wahrschein‐
lichkeit, mit der die Ausprägungen der Leistungsdimensionen auch eingehalten wer‐

296 Vgl. WILDEMANN (2009, S. 12ff).

184
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

den, und kann durch die Streuung des realisierten Ergebnisses um die zugesagte Leis‐
tung bestimmt werden. Die Flexibilität umfasst die Anpassungsfähigkeit des Logistik‐
systems bei unveränderter Struktur des Logistiksystems. Die Ableitung der Phasen
der Leistungserstellung erfolgt auf Basis der kundenorientierten Untersuchung der
Dienstleistungsqualität nach DONABEDIAN, der die Komponenten Ergebnis‐, Abwick‐
lungs‐ und Potenzialqualität unterscheidet297.

Die Ergebnisqualität gibt den Grad der Erfüllung der gesetzten Leistungsziele an und
wird durch die Erfüllung aller fünf Ausprägungen der Ressourcenverfügbarkeit – Zeit,
Ort, Menge, Art und Zustand – bewertet. Eine geringe Ergebnisqualität resultiert aus
der Nichteinhaltung der vom Kunden geforderten Logistikleistung bezüglich einer
oder mehrerer dieser fünf Dimensionen. Wie eine hohe Ergebnisqualität erreicht wird,
ist vom Kunden oftmals nicht genau zu beobachten. Beispielsweise kann eine hohe
Termintreue auch durch teure Sonderfahrten erreicht werden. Diese Unzulänglich‐
keiten in der Erstellung logistischer Leistungen müssen innerhalb der Abwicklungs‐
qualität aufgedeckt werden. Zur Messung der Ergebnisqualität eignen sich z. B. Aus‐
wertungen von Kundenreklamationen oder die Ergebnisse von Lieferanten‐
bewertungen externer Kunden298. Des Weiteren können bei Anwendung der Balanced
Scorecard auch Früh‐ bzw. Spätindikatoren der Kundenperspektive, wie z. B. die
Kundentreue oder ‐zufriedenheit herangezogen werden299.

Kundenzufriedenheit entsteht durch den subjektiven Vergleich von individuellen


Erwartungen vor und nach einer konkreten logistischen Leistung. Wenn Unternehmen
unzureichende logistische Leistungen anbieten oder der Kunde zu viel von einer logis‐
tischen Leistung erwartet, entsteht Kundenunzufriedenheit. Ziel ist es die Kundenzu‐
friedenheit wiederherzustellen und aus der Reklamation eine Verbesserung der
Dienstleistungsqualität zu erreichen. Die Kundenbindung kann durch ein gutes Re‐
klamationsmanagement verbessert werden. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass nur
wenige der unzufriedenen Kunden ihre Unzufriedenheit auch gegenüber dem Unter‐
nehmen in Form von Reklamationen äußern. Dabei spielt insbesondere die Art der
Kundenkommunikation eine wichtige Rolle. Der Kunde möchte ernst genommen
sowie über verschiedene Kanäle erreicht werden und das Gefühl haben, dass er wich‐
tig ist. Gerade im Fall niedriger Reklamationsraten müssen im Rahmen eines proakti‐
ven Reklamationsmanagements nicht nur die sich beschwerenden Kunden, sondern
die viel größere Anzahl der sich nicht beschwerenden und abwandernden Kunden
befragt werden. Zu einem proaktiven Reklamationsmanagement gehören nicht nur
die Reklamationsannahme und ‐bearbeitung, sondern auch die Reklamations‐
stimulierung und ‐auswertung sowie das Reklamationsmanagement‐Controlling.
Oftmals ist der Informationsfluss von der Reklamationsabteilung zu den fehler‐
verursachenden Organisationseinheiten in den Unternehmen nur unzureichend um‐
gesetzt. In diesem Fall kann der Einsatz einer Reklamationsmanagement‐Software

297 Vgl. DONABEDIAN (1980, S. 81).


298 Vgl. WILDEMANN (2009, S. 386ff).
299 Vgl. Kapitel 3.2.6.

185
Prozessketten in der Logistik
3
eingesetzt werden, mit der Reklamationen via Telefon, E‐Mail, Brief oder Fax erfasst
werden können. Die Eingabe erfolgt entweder von einer zentralen Reklamationsstelle,
vom Kunden selbst oder von jedem Mitarbeiter mit Kundenkontakt strukturiert über
ein Webformular, z. B. im Intranet, über welches auch eingescannte Dokumente (z. B.
Kundenfehlerberichte, Lieferscheine, etc.) erfasst werden können. Weiterhin spielt die
Reklamationsstimulierung eine wichtige Rolle, denn nur wenn Kunden erfolgreich
motiviert werden, sich zu äußern, kann das Unternehmen überhaupt von ihnen profi‐
tieren. Somit erhält das Unternehmen wertvolle Hinweise zu kritischen Schwachstel‐
len im Unternehmen, die es gewinnbringend zur Verbesserung logistischer Leistungen
nutzen kann.

Die Ergebnisqualität logistischer Leistungen kann auch durch eine systematische Lie‐
ferantenbewertung von größeren Abnehmern verbessert werden. Im Rahmen einer
Lieferantenbewertung wird ein Lieferantenanforderungsprofil definiert, das eine Rei‐
he von überschneidungsfreien Kriterien umfasst, anhand derer die Leistungsfähigkeit
der Lieferanten im Zuge eines Mehrfaktorenvergleiches bewertet wird300. Im Gegen‐
satz zum Reklamationsmanagement, das eher einen situativen Charakter aufweist,
erfolgt bei der systematischen Lieferantenbewertung eine kontinuierliche Erfassung
von Leistungsabweichungen eines geforderten Anforderungsprofils. Durch die Bil‐
dung und Verfolgung von Kennzahlen für die fünf Ausprägungen der Ressourcenver‐
fügbarkeit können im Rahmen einer systematischen Lieferantenbewertung umfassen‐
de Aussagen gewonnen werden. Dabei haben die zu bildenden Kennzahlen im We‐
sentlichen die Operationalisierungs‐, Anregungs‐, Vorgabe‐ und Informationsfunktion
zu erfüllen, um Handlungsbedarf für Verbesserungen zu signalisieren301.

Die Abwicklungsqualität bezieht sich auf die Qualität der Leistungserstellungs‐


aktivitäten und ist eng mit der Ergebnisqualität verbunden. Die Abwicklungsqualität
zielt auf die Logistikkompetenz ab, d. h. auf die Fähigkeit eine logistische Leistung
auch kosteneffizient zu erstellen. Somit wird durch die Abwicklungsqualität der Auf‐
wand zur Erstellung der geforderten logistischen Leistung bewertet. Auch während
der Phase der Leistungserstellung ist der Kundenservice durch die fortwährende
Kommunikation zwischen Kunde und Unternehmen ein wichtiger Faktor. Die Aus‐
kunftsfähigkeit vermittelt dem Leistungsempfänger das Gefühl in die Prozesse der
Leistungserstellung eingebunden zu sein. Um eine den Kundenerwartungen entspre‐
chende Logistikleistung zu erreichen, muss auf die Ursachen für unzureichende und
fehlerhafte Prozesse eingegangen werden. Dabei sind Qualitätssicherungsinstrumente
erforderlich, die einen direkten Einfluss auf die Abwicklungsqualität besitzen. Als
mögliche Instrumente können das Quality Function Deployment (QFD), die Fehler‐
möglichkeits‐ und Einflussanalyse (FMEA), die statistische Prozessregelung, Poka
Yoke und die Auditierung genutzt werden.

300 Vgl. LASCH (2022, S. 40ff).


301 Vgl. Kapitel 3.2.3.

186
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

Die Potenzialqualität beschreibt das logistische Entwicklungspotenzial an zukünftige


Marktanforderungen, die sich durch neue Kundenbedürfnisse oder aufgrund geänder‐
ter gesetzlicher Anforderungen ergeben können. Durch die Potenzialqualität wird
somit auf einer strategischen Ebene das Entwicklungspotenzial des bereitgestellten
Logistiksystems bezüglich der fünf Dimensionen der Ressourcenverfügbarkeit festge‐
legt. Der Leistungsstandard wird durch die Mitarbeiter (z. B. Kompetenz, Know‐how,
persönliche Fähigkeiten), die technische Ausstattung (z. B. IuK‐Technologien, Lager‐,
Transport‐, Umschlags‐, Kommissioniertechnik), Beschaffungs‐ und Bestandspolitik,
Organisation des Zusammenwirkens der Potenzialfaktoren sowie durch die Nachhal‐
tigkeit der logistischen Konzepte festgelegt. Da die Potenzialqualität auf die Evolution
logistischer Systeme abzielt, unterscheidet sie sich deutlich von der Flexibilität des
Logistiksystems, die lediglich die Veränderungen bei gleicher Struktur umfasst302. Zur
Beurteilung der Potenzialqualität müssen die zukünftigen Kunden‐ und Marktanfor‐
derungen antizipiert werden. Dazu eignen sich z. B. selektive Kunden‐ und Wettbe‐
werbsanalysen. Die Ergebnisse dieser Analysen müssen anschließend mit den Ent‐
wicklungsmöglichkeiten der Ressourcenverfügbarkeiten abgeglichen werden. Weiter‐
hin sind auch neue Erfordernisse an den Informationsfluss sowie die Implementierung
effizienter und effektiver Logistikkonzepte an der Schnittstelle zwischen Unternehmen
und Kunde zu untersuchen.

Die Ergebnis‐, Abwicklungs‐ und Potenzialqualität eines Logistiksystems dürfen nicht


isoliert betrachtet werden, da sie Interdependenzen aufweisen. Beispielsweise können
Engpässe bei logistischen Ressourcen zu Verschlechterungen bei der Abwicklungs‐
qualität logistischer Prozesse führen und damit eine verminderte Ergebnisqualität zur
Folge haben. Mit der Potenzialqualität wird festgelegt, ob das Logistiksystem auch den
zukünftig auftretenden Anforderungen gerecht wird. Ist die Potenzialqualität zu ge‐
ring ausgeprägt, dann können neue Marktanforderungen nur unzureichend berück‐
sichtigt werden, was wiederum negative Auswirkungen auf die Abwicklungsqualität
haben kann.

3.3.2 Methoden zur Verbesserung der Abwicklungsqualität


Im Folgenden werden die prozessorientierten Qualitätssicherungsmethoden Quality
Function Deployment, Fehlermöglichkeits‐ und Einflussanalyse, Poka Yoke, Statisti‐
sche Prozessregelung und Auditierung vorgestellt. Durch Auditierungen werden die
Qualitätsmanagementsysteme begutachtet und auf Übereinstimmung mit den Quali‐
tätsanforderungen logistischer Prozesse überprüft.

3.3.2.1 Quality Function Deployment


Das Quality Function Deployment (QFD) wurde von AKAO in den 1960er Jahren ent‐
wickelt und stellt eine präventive Methode zur Qualitätsplanung dar. Mit dieser Me‐

302 Vgl. WILDEMANN (2009, S. 385).

187
Prozessketten in der Logistik
3
thode werden bereits in der Produkt‐ sowie in der Prozessentstehungsphase die Quali‐
tätserwartungen des Kunden sowie die Anforderungen des Marktes bezüglich der
Produkte und Prozesse einbezogen, um Mängel in späteren Produkt‐ und Prozessle‐
bensphasen zu vermeiden und Qualität in jedem Stadium zu garantieren303. Eine
Zusammenführung verschiedener Unternehmensbereiche, wie Marketing, Produkt‐
entwicklung, Fertigung und Qualitätssicherung in einem Team, kann auf Grundlage
der verschiedenen Fachkenntnisse und ‐fertigkeiten zu einer erfolgreichen Realisie‐
rung des QFD führen. Ziel des QFD ist es, die systematisch erfassten Kundenanforde‐
rungen in einzelne Qualitätsmerkmale und effiziente und effektive Prozesse umzuset‐
zen, die eigene Mittelverteilung den Kundenprioritäten entsprechend auszurichten
und somit eine bessere Abstimmung der gebotenen auf die geforderten Qualitätsleis‐
tungen zu erreichen.

Abbildung 3‐22 House of Quality

5
4

1 2 6 3

7
8
9

Grundlage zur Durchführung des QFD bildet das House of Quality (HoQ), welches
eine Art Formblatt des QFD darstellt und dessen neun Arbeitsfelder wie folgt schritt‐
weise ausgefüllt werden (vgl. Abbildung 3‐22):

1. Im Feld 1 werden zunächst die unterschiedlichen vom Kunden geforderten Leis‐


tungsmerkmale beispielsweise im Rahmen einer Marktforschung erfasst. Dabei ist
auf eine für alle beteiligten Team‐Mitglieder verständliche Formulierung der ein‐
zelnen Kundenwünsche zu achten, um frühzeitig Missverständnisse zu vermei‐
den.

2. Auf Basis der Anzahl der Nennungen oder anhand der durch die Befragten be‐
rechneten Priorisierung (z. B. mit Hilfe einer Conjoint‐Analyse) werden die Kun‐

303 Vgl. AKAO (1992, S. 15f).

188
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

denanforderungen anschließend im Feld 2 gewichtet, wobei in der Regel auf Ge‐


wichtungsstufen von 1 (unwichtig) bis 5 (sehr wichtig) zurückgegriffen wird.

3. Durch eine gezielte Kundenbefragung wird versucht die Wettbewerbsposition des


eigenen Unternehmens aus Sicht der Kunden gegenüber der Konkurrenz zu er‐
fassen (Feld 3).

4. Anhand der in Schritt 1 ermittelten Kundenanforderungen werden Leistungs‐


merkmale des Produkts oder Prozesses abgeleitet (Feld 4). Dabei sollten beson‐
ders einfach messbare Leistungsmerkmale gewählt werden, da diese in der späte‐
ren Umsetzung deutlich leichter überprüft werden können.

5. Im Feld 5 werden die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Leistungs‐


merkmalen analysiert. Negativ korrelierende Merkmale können beispielsweise
mit einem ”‐“ und sich positiv beeinflussende Merkmale mit einem ”+“ gekenn‐
zeichnet werden. Alternativ können Abhängigkeiten auch mit einem ”x“ markiert
werden.

6. Durch die Gegenüberstellung der abgeleiteten Leistungsmerkmale mit den zuvor


ermittelten Kundenanforderungen entsteht eine Matrix, in welcher der Einfluss
der ermittelten Leistungsmerkmale zur Umsetzung des Kundenwunsches einge‐
tragen wird (Feld 6). Diejenigen Leistungsmerkmale, welche einen großen Ein‐
fluss auf einen Kundenwunsch haben, werden entsprechend hoch bewertet, ge‐
ringe oder keine Einflüsse nur niedrig beziehungsweise gar nicht.

7. Im Feld 7 erfolgt die Quantifizierung der Leistungsmerkmale. Dabei werden auch


Zielgrößen festgelegt.

8. Im Feld 8 wird anhand der festgelegten Zielgrößen der Leistungsmerkmale eine


Wettbewerbsanalyse bezüglich des Erfüllungsgrades dieser Werte durch Konkur‐
renzunternehmen durchgeführt.
9. Abschließend werden spaltenweise die aus Feld 2 und Feld 6 multiplizierten
Werte aufaddiert (Feld 9). Somit erhält man eine Prioritätenreihenfolge der Leis‐
tungsmerkmale, wobei die Merkmale mit den höchsten Werten zuerst optimiert
werden sollten.

Optional können einige Felder, abhängig vom individuellen Anwendungsfall, auch


unausgefüllt bleiben. Auch ist die Einführung weiterer Felder denkbar, wie zum Bei‐
spiel zur Herleitung von Marktzielen, welche sich aus den eigenen Defiziten gegen‐
über der Konkurrenz generieren können.

In der Abbildung 3‐23 ist ein HoQ für die Bearbeitung eines Kundenauftrags darge‐
stellt. Auf das Feld 7, in dem eine Festlegung der Zielgrößen erfolgt, wurde in diesem
Beispiel verzichtet. Dafür wurde ein neues Feld für die Festlegung von Marktzielen
eingefügt.

189
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐23 Bearbeitung eines Kundenauftrags

x x
x x

Auftragsannahme (schriftlich)

Auftragsannahme (mündlich)
Prozesse

Zusammenführung von
EDV‐/Lagerverwaltung

Kommissionierung

Teilkommissionen
Gewichtung

Verpacken
Wettbe‐
werbsbe‐
Anforderungen des wertung Marktziele
Kunden ‐ +
Hoher Kundenservice 5 1 1 ‐ ‐ ‐ ‐

Eilaufträge 4 1 2 3 2 ‐ ‐

Identifizierbarkeit (Artikel) 3 ‐ ‐ ‐ 3 ‐ ‐

Unbeschädigte Teile 5 ‐ ‐ ‐ 2 ‐ 3 Verpackung verbessern

Kurzfr. telef. Änderungen 2 ‐ 3 1 2 ‐ ‐

Komplette Lieferung 3 ‐ ‐ 3 ‐ 3 ‐

Artikeltreue Lieferung 5 2 2 ‐ 3 ‐ 2 Artikeltreue steigern

Mengentreue Lieferung 5 2 2 ‐ 3 ‐ 2 Mengentreue steigern


+ Eigenes
Wettbewerbs‐ x Beeinflussung
Unternehmen
bewertung + besser
‐ Konkurrenz‐
‐ schlechter
Bedeutung der Prozesse 29 39 23 61 9 35 unternehmen

Rangfolge 4 2 5 1 6 3

Mit der Erstellung des ersten House of Quality, welchem gleichzeitig auch die größte
Bedeutung zukommt, ist die erste Phase des QFD‐Verfahrens abgeschlossen. Darauf
aufbauend folgen drei weitere Phasen, deren Ergebnisse wieder jeweils ein komplett
ausgefülltes HoQ darstellen. Die nachfolgenden Häuser bauen dabei stets auf den
Resultaten des jeweils vorhergehenden Hauses auf und dienen vor allem der genaue‐
ren Spezifizierung und Detaillierung der Anforderungen an die unterschiedlichen
Unternehmensbereiche und ‐ebenen. Auf diese Weise können weitere Wechselbezie‐
hungen zwischen den Leistungsmerkmalen identifiziert und in die Qualitätsplanun‐
gen einbezogen werden. Somit kann mittels QFD die ”Stimme des Kunden“ in konkre‐
te Produkt‐, Prozess‐ oder auch Dienstleistungsmerkmale übersetzt werden und ist
damit sowohl für Neuentwicklungen als auch zur Optimierung bereits bestehender

190
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

Prozesse und Leistungen geeignet. In der folgenden Abbildung 3‐24 sind die vier
Phasen des QFD für die Prozessplanung in der Logistik dargestellt304.

Abbildung 3‐24 Vier-Phasen-Modell des QFD

Wie?
Was?

Prozess‐
analyse Wie?
Was?

Wieviel? Lenkungs‐
analyse Wie?

Ressourcen‐
Was?

Prozessstrukturen Wieviel?
analyse Wie?

Dyn. Prozessketten
Was?
Wieviel? Struktur‐
analyse

Vollständig bewertete Wieviel?


Prozessketten

In den vier Häusern des QFD werden die Fragen nach dem „Was?“ (Was will der
Kunde?) den Fragen nach dem „Wie?“ (Wie können diese Anforderungen in Quali‐
tätsmerkmalen realisiert werden?) gegenübergestellt, um daraus das „Wieviel?“ abzu‐
leiten305:

1. Haus der Logistik:


Was: Erfassung der Kundenwünsche und ‐bedarfe sowie der Servicegrade
Wie: Vernetzung mit den Prozessstrukturen
Wieviel: Mit Zielwerten (Kosten, Zeit, Qualität, Flexibilität) versehene Prozessstruk‐
turen

2. Haus der Logistik:


Was: Prozessstrukturen des 1. Hauses
Wie: Vernetzung mit Lenkungsebenen (Prozesssteuerung, Netzwerk, Dispositi‐
on, Administration)
Wieviel: Dynamisierte Prozessketten

304 Vgl. PIELOK (1995, S. 118ff).


305 Vgl. PIELOK (1995, S. 131).

191
Prozessketten in der Logistik
3
3. Haus der Logistik:
Was: Dynamisierte Prozessketten des 2. Hauses
Wie: Vernetzung mit den Ressourcen
Wieviel: Vollständig bewertete und mit Zielen versehene Prozessketten

4. Haus der Logistik:


Was: Vollständig bewertete Prozessketten des 3. Hauses
Wie: Vernetzung mit den realen Strukturen (Layout, Aufbauorganisation)
Wieviel: Transformation der Prozessketten in reale Strukturen

Wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anwendung des QFD sind verlässli‐
che Kunden‐ und Wettbewerbsdaten, die insbesondere für das Aufstellen des 1. Hau‐
ses notwendig sind. Zu den Stärken des QFD zählt eine konsequente Orientierung an
den Kundenanforderungen inklusive deren Prioritäten, sodass ein Overengineering
von Prozessen bzw. aufwändige nachträgliche Änderungen vermieden werden kön‐
nen. Auch Schnittstellenverluste werden aufgrund der Zusammenarbeit in funktions‐
übergreifenden Teams minimiert und es lassen sich frühzeitig Aussagen über beste‐
hende Zielkonflikte aufdecken. Weitere Vorteile der Methode bestehen in der Förde‐
rung des interdisziplinären und prozessorientierten Denkens sowie in der
transparenten und nachvollziehbaren Dokumentation aller Schritte. Durch die Doku‐
mentation lassen sich die erstellten HoQ bei ähnlichen Fragestellungen wiederver‐
wenden, was den enormen planerischen und personellen Aufwand zur Durchführung
der Methode deutlich verringern kann.

Die Schwächen des QFD sind vor allem in dem hohen zeitlichen und personellen
Aufwand zu sehen. Daher besteht die Aufgabe des Top‐Managements darin, die Mit‐
arbeiter eines Unternehmens zur Anwendung des QFD zu motivieren. Nur wenn im
gesamten Unternehmen der Stellenwert einer Implementierung des QFD erkannt
wird, kann eine Qualitätsverbesserung erfolgreich sein. Hierbei ist die Methoden‐
kenntnis von essentieller Bedeutung, da eine falsche Durchführung des QFD zu suk‐
zessiven Fehlern führt und in der Folge verstärkende negative Effekte besitzt. Weitere
Probleme können außerdem bei starren Organisationsstrukturen sowie einer Vernach‐
lässigung der Dokumentation und Erfahrungssicherung auftreten.

3.3.2.2 Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse


Die Fehlermöglichkeits‐ und Einflussanalyse (FMEA) gehört zu den präventiven Me‐
thoden der Qualitätsplanung. Ursprünglich wurde die FMEA in den 1960er Jahren
durch die NASA für ein Raumfahrtprojekt entwickelt, um potenzielle Fehler in einem
frühen Stadium zu erkennen und daraus Gegenmaßnahmen einzuleiten. Vor dem
Hintergrund, dass ca. 80% der Fehler, die in der Nutzungsphase auftreten, auf
Schwachstellen in der Planung zurückzuführen sind, bestehen die Ziele der FMEA im
Aufdecken möglicher Fehlerursachen und Fehlerfolgen, dem Bewerten des auf Basis
dieser möglichen Fehler bestehenden Risikos und in dem Erarbeiten sowie Überprüfen
von geeigneten Verbesserungsmaßnahmen. Seit den 1980er Jahren wird die FMEA

192
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

auch in deutschen Unternehmen erfolgreich angewendet und lässt sich entsprechend


ihrer Einsatzfelder in eine System‐FMEA, eine Konstruktions‐FMEA und eine Prozess‐
FMEA unterteilen.

Die System‐FMEA analysiert während der Entwicklungsphase die Teilsysteme bzw.


Komponenten eines gesamten Systems auf Funktionalität und ist damit der Konstruk‐
tions‐FMEA vorgelagert. Die System‐FMEA zielt auf die Identifikation möglicher
Schwachstellen und Risiken insbesondere an den Schnittstellen ab, die aufgrund der
Interdependenz der einzelnen Teilsysteme eintreten können. Die Konstruktions‐
FMEA überprüft während der Entwicklung und Konstruktion eines Produktes oder
Produktkonzeptes systematisch die einzelnen Teilfunktionen der Komponenten, Bau‐
gruppen und ‐teile und deckt deren mögliche Schwachstellen auf. Die Prozess‐FMEA
basiert auf den Resultaten der Konstruktions‐FMEA und analysiert die Fehler und
Schwachstellen für Fertigungs‐, Montage‐, Logistik‐ und Prüfprozesse, um diese im
Vorfeld abzuwenden306.

Für eine erfolgreiche Erstellung einer FMEA ist eine interdisziplinäre Teamarbeit not‐
wendig. Die einzelnen Teammitglieder sollten hierbei Fachkenntnisse über die gängi‐
gen Qualitätstechniken besitzen. Der Ablauf einer FMEA in der Logistik vollzieht sich
in den folgenden fünf Schritten:

1. Vorbereitung
Bevor mit der Durchführung der eigentlichen FMEA begonnen werden kann, muss
eine Auswahl und genaue Abgrenzung der zu untersuchenden Prozesse erfolgen,
da die Durchführung einer FMEA sehr aufwändig ist. Dazu können die wichtigsten
fehleranfälligen Prozesse auf der Basis von Kundenurteilen (z. B. Beschwerde‐
analyse) oder nach den im Unternehmen gesetzten Prioritäten bezüglich logistischer
Zielgrößen (z. B. niedrige Durchlaufzeiten, hohe Termintreue) identifiziert werden.
Unterstützt werden kann die Prozessauswahl beispielsweise auch durch die Ergeb‐
nisse eines im Vorfeld durchgeführten QFD. Weiterhin muss ein leistungsfähiges
und interdisziplinäres Projektteam zusammengestellt werden, das aus denjenigen
Fachleuten besteht, die mit dem zu untersuchenden Prozess konfrontiert sind. Die
genaue Zusammensetzung ist jedoch von Art und Umfang der zu untersuchenden
Prozesse abhängig. Empfehlenswert ist auch der Einsatz eines Moderators, der über
technisches Wissen, Teamfähigkeit, Motivation und Selbstsicherheit verfügen sollte.

2. Fehleranalyse
Im zweiten Schritt werden zunächst alle Fehlermöglichkeiten unabhängig von ihrer
Bedeutung oder Auftrittswahrscheinlichkeit erfasst. Dabei wird auf ein FMEA‐
Formblatt zurückgegriffen (vgl. Abbildung 3‐25). Anschließend werden für jeden
potenziellen Fehler die individuellen Auswirkungen und Ursachen der einzelnen
Fehlermöglichkeiten identifiziert. Für die Identifikation möglicher Fehlerursachen
eignen sich z. B. Fehlerbäume, bei denen durch die Zerlegung einzelner Fehlerursa‐
chen in weitere Untergruppen Baumstrukturen entstehen. Diese Untergliederung

306 Vgl. BRÜCKNER (2015).

193
Prozessketten in der Logistik
3
erfolgt so lange, bis alle Ursachen des Fehlerbaumes auf Grundereignisse, die nicht
weiter zerlegt werden können oder sollen, zurückgeführt worden sind. Diese Grun‐
dereignisse werden auch als Blätter des Fehlerbaums bezeichnet und dürfen nicht
voneinander abhängig sein.

Abbildung 3‐25 Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse

Prozess FMEA Verantwortliche Mitarbeiter: FMEA‐Nr.: Überarbeitet von:


Betroffener Kunde/Lieferant: Datum: Überarbeitet am:
Abteilung:

Prozess/ Potentielle Potentielle Potenzielle Derzeitiger Zustand Empfohlene Verbesserter Zustand


Prozessschritt Fehler Folgen des Fehler‐ Abstellmaßnahmen
Fehlers ursachen Kontroll‐ A B E RPZ
maßnahme Getroffene A B E RPZ
Maßnahmen

Verladen der Mangelnde Beschädi‐ Mangelnde Kontrolle 5 10 5 250 Schulung des Personals Schulung des 2 10 3 60
Ware im Ladungs‐ gung der Ausbildung durch Fahrer an Verladun‐
Warenausgang sicherung Ware der und Bereitstellung geeigneter gen beteiligten
Mitarbeiter Verlade‐ Ladungssicherungs‐ Personals
personal möglichkeiten
Kunde Anschaffung
unzufrieden Transport‐ moderner
sicherung Ladungs‐
Reklamation ungeeignet sicherungs‐
technologien

Auslieferung Neuliefe‐ Mangelhafte Kontrolle 7 10 7 490 Verbesserte RFID‐gestützte 1 10 1 10


falscher Ware rung via Palettenbe‐ durch Fahrer Palettenkennzeichnung Paletten‐
Eillieferung zeichnung und mittels RFID verwaltung
Verlade‐
Kunde Ware optisch personal Farbliche Kennzeichnung Pick‐by‐Light‐
unzufrieden sehr ähnlich optisch ähnlicher Ware unterstützte
(Kommissi‐ Kommissio‐
onierfehler) Unterstützung der nierung
Zusatz‐ Kommissionierer durch
kosten Fehlerhafte neue Technologien
Unterlagen

.
.
.

Fehler‐ und Risikoanalyse Risikobewertung Handlungsempfehlungen Erneute Risiko‐


bewertung
Erfolgskontrolle

3. Risikobewertung
Das Ziel der Risikobewertung besteht in der Identifikation der wichtigsten Fehler,
die anschließend für die Umsetzung von Verbesserungsmaßnahmen ausgewählt
werden. Dazu werden der Ist‐Zustand bewertet und gleichzeitig aktuelle Kontroll‐
maßnahmen aufgelistet. Um eine Vergleichbarkeit der Fehler untereinander bezüg‐
lich ihrer Wichtigkeit zu ermöglichen, werden alle potenziellen Fehler nach ihrer
Auftrittswahrscheinlichkeit (A), der Bedeutung für den Kunden (B) und der Wahr‐
scheinlichkeit des Entdeckens vor einer Auswirkung auf den Kunden (E) wie folgt
bewertet:

194
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

Wahrscheinlichkeit
Wahrscheinlichkeit Bedeutung für der Entdeckung
des Auftretens den Kunden (vor Auswirkung
beim Kunden)
Kaum
Unwahrscheinlich Hoch 1
wahrnehmbar
Sehr gering Unbedeutend Mäßig 2‐3
Gering Mäßig schwer Gering 4‐6
Mäßig Schwerer Fehler Sehr gering 7‐8
Hoch Äußerst schwer Unwahrscheinlich 9‐10

4. Verbesserungsmaßnahmen
Für die mit der RPZ priorisierten Fehler werden geeignete Verbesserungs‐
maßnahmen erarbeitet, um das fehlerindividuelle Risiko zu verringern. Dazu kön‐
nen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Fehlers reduziert, die möglichen
Auswirkungen des Fehlers minimiert oder aber die Entdeckungswahrscheinlichkeit
deutlich erhöht werden. Jedoch muss beachtet werden, dass zunächst Maßnahmen
zur Fehlervermeidung, dann zur Folgenminimierung und abschließend zur Erhö‐
hung der Entdeckungswahrscheinlichkeit vorgeschlagen werden sollten. Im Rah‐
men der Fehlervermeidung kann zwischen prozessorientierten (z. B. Statistische
Prozessregelung) und mitarbeiterorientierten Maßnahmen (z. B. Poka Yoke) unter‐
schieden werden. Neben der Festlegung von Maßnahmen müssen auch Verantwort‐
liche benannt sowie Ziel‐ und Terminvorgaben gemacht werden.

5. Ergebnisprüfung
Nachdem die empfohlenen Verbesserungsmaßnahmen termingerecht umgesetzt
wurden, erfolgt im letzten Schritt die Überprüfung und Dokumentation der ge‐
troffenen Maßnahmen sowie eine Beschreibung des verbesserten Zustands. Dazu
wird für jeden im vierten Schritt ausgewählten potenziellen Fehler die neue RPZ be‐
rechnet und somit der Erfolg oder Misserfolg der Maßnahmen kontrolliert. Eine
niedrigere RPZ führt zu einem positiven Ergebnis und wird entsprechend als sol‐
ches dokumentiert. Konnte die RPZ mit den getroffenen Maßnahmen nicht verbes‐
sert werden, so müssen der Fehler neu analysiert und alternative Verbesserungs‐
maßnahmen erarbeitet werden.

Die FMEA als präventives und systematisches Verfahren zur Identifikation, Analyse
und Bewertung von Fehlerursachen und ‐folgen fördert die interdisziplinäre Koopera‐
tion und den Informationsaustausch verschiedener Unternehmensbereiche. Die
Durchführung von Präventionsmaßnahmen statt nachträglicher Fehlerkorrektur führt
zu einer erhöhten Kundenzufriedenheit und verbessert die Wettbewerbssituation.
Auch resultiert der frühzeitige Eingriff bei der Feststellung von Fehlern in der Pla‐
nungsphase in einer Kosten‐ und Zeitersparnis. Durch die Dokumentation kann ein
Informationspool durch Anlegen einer FMEA‐Datenbank geschaffen werden, mit

195
Prozessketten in der Logistik
3
deren Hilfe auch Wiederholungsfehler durch die Übertragbarkeit der erarbeiteten
Verbesserungen auf äquivalente Prozesse vermieden werden können.

Eine Durchführung einer FMEA hat einen erheblichen Zeit‐ und Personalaufwand zur
Folge, da zunächst die Motivation und Schulung der Mitarbeiter notwendig ist, um ein
grundlegendes Verständnis für deren Anwendung zu schaffen. Bei komplexen Prozes‐
sen kann eine FMEA sehr unübersichtlich werden. Es besteht auch die Gefahr, dass bei
gleichartigen Problemstellungen ein gewisser Routinecharakter entsteht. Ein weiterer
Kritikpunkt an der FMEA besteht in der subjektiven Bewertung der Risiken und die
damit zusammenhängende Unsicherheit der RPZ. Weitere Nachteile werden in der
Gleichgewichtung der Auftrittswahrscheinlichkeit, Fehlerbedeutung und Entdeck‐
ungswahrscheinlichkeit sowie in der Nicht‐Berücksichtigung der Fehlerfortsetzung
gesehen. Es besteht auch keine Möglichkeit der Darstellung von Ursachen, die nur
gemeinsam zu unerwünschten Fehlern führen. Des Weiteren können auch mögliche
Fehlerursachen durch die Mitarbeiter verschleiert werden, um eigene Fehler in der
Vergangenheit zu verschweigen und somit etwaige negative Folgen zu vermeiden.

3.3.2.3 Poka Yoke


Die aus den 1960er Jahren aus Japan stammende präventive Qualitätsplanungs‐
methode bedeutet übersetzt die Vermeidung (Yoke) des zufälligen oder unbeabsichtig‐
ten Fehlers (Poka)307. Mit dem Ziel einer Null‐Fehler‐Strategie wird eine Fehlerver‐
meidung oder zumindest ‐verminderung angestrebt. Aus dem Null‐Fehler‐Prinzip
kann für alle am Wertschöpfungsprozess Beteiligte die Zielsetzung abgeleitet werden,
dass keine Fehler angenommen, keine Fehler gemacht und keine Fehler weitergegeben
werden. Durch Vorkehrungen oder technische Einrichtungen und entsprechende
Systemgestaltung sollen Fehler, welche durch mangelnde Konzentration, Verwechseln,
Vergessen, Müdigkeit oder Fehlinterpretationen der Mitarbeiter verursacht werden,
vermieden oder ursachennah entdeckt werden. Dies betrifft vor allem monotone, sich
ständig wiederholende Arbeitsabläufe und ‐vorgänge. Die Vorgehensweise zur Im‐
plementierung einer Poka‐Yoke‐Maßnahme lässt sich in folgende drei Schritte unter‐
teilen308:

1. Problemanalyse
Im Rahmen der Problemanalyse wird geklärt, welche Probleme wo, wann und unter
welchen Umständen auftreten könnten. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob
bereits Fehler aufgetreten oder bekannt sind, sodass Poka‐Yoke‐Maßnahmen auch
präventiv zur Anwendung kommen können. Die Auswahl der Prozesse, die ent‐
sprechend analysiert werden sollen, kann durch Hinweise von Mitarbeitern oder
durch Anwendung von Methoden wie z. B. einer FMEA oder Fehlerbaumanalyse,
erfolgen. Besonders kritische Prozessschritte sollten generell einer Problemanalyse
unterzogen werden.

307 Vgl. SHINGO (1986, S. 1ff).


308 Vgl. SONDERMANN (2015).

196
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

2. Ideenfindung und ‐bewertung


Wurden potenzielle Fehlerquellen identifiziert, dann werden im zweiten Schritt
Ideen zur Fehlervermeidung und ‐bekämpfung gesammelt. Für eine gute Lösungs‐
findung ist es wichtig, dass sich Entwickler und Prozessingenieure gut in die Lage
der ausführenden Arbeitskräfte versetzen können. Kreative Techniken, wie das
Brainstorming, oder die Theorie des erfinderischen Problemlösens werden für die
Lösungsfindung von Ideen angewendet. In der anschließenden Ideenbewertung
sind Aspekte wie zeitlicher und personeller Aufwand, Kosten und Interessens‐
konflikte von Bedeutung. Sogenannte harte Poka‐Yoke‐Maßnahmen, die fehlerhafte
Handlungen z. B. durch formschlüssige Verbindungen verhindern, bieten zwar eine
ho‐ he Sicherheit, sind aber auch in der Umsetzung kosten‐ und zeitintensiver als
weiche Maßnahmen. Bei den schneller umsetzbaren und kostengünstigeren weichen
Poka‐Yoke‐Maßnahmen wird mittels Warnleuchten, Checklisten oder farblichen
Kennzeichnungen auf den Fehler aufmerksam gemacht. Wichtige Mechanismen, die
zeitlich aufeinanderfolgend die Entdeckung und Meldung einer Fehlerhandlung
ermöglichen, sind der Detektions‐, Auslöse‐ und der Regulierungsmechanismus.
Diese Mechanismen dienen dazu, dass aus den entdeckten, fehlerhaften Handlun‐
gen keine Fehler oder dass die festgestellten Fehler nicht an den nächsten Prozess‐
schritt weitergegeben werden. Detektionssysteme sind mit Sensoren zur Überwa‐
chung ausgestattet und erkennen das Vorliegen einer Fehlhandlung. Der sich an‐
schließende Auslösemechanismus erzeugt den Impuls für den Regulierungs‐
mechanismus und signalisiert potenzielle Fehler durch folgende drei Methoden:

 Kontaktmethode
Unzulässige Abweichungen der Produkte oder der Arbeitsfolge werden von Sen‐
soren über geometrische Kenngrößen wie z. B. Maße, Gewichte festgestellt und
signalisiert.

 Fixmethode
Durch die Festlegung einer bestimmten Anzahl notwendiger Teilarbeitsschritte
können Fehler durch Unterschreitung der Schrittanzahl festgestellt werden.

 Schrittfolgenmethode
Durch die Etablierung einer Standardbewegungsabfolge können Abweichungen
von dieser durch eine Vorrichtung erkannt und gemeldet werden.

Mit dem Regulierungsmechanismus können die Fehler beseitigt werden, wobei fol‐
gende zwei Methoden zur Verfügung stehen:

 Alarmmethode
Optische oder akustische Signale signalisieren so lange eine Unregelmäßigkeit
oder Abweichung im Prozess, bis diese behoben wurde.

 Abschaltmethode
Unmittelbar nach der Feststellung einer Unregelmäßigkeit mithilfe des Detekti‐
ons‐ und Auslösemechanismus wird der Prozess angehalten, um entsprechende
Korrekturmaßnahmen einleiten zu können.

197
Prozessketten in der Logistik
3
3. Umsetzung
Nachdem die Ideen bewertet, priorisiert und schließlich selektiert wurden, findet
die Umsetzung des Poka Yoke statt. Dazu gehört die Schulung der Mitarbeiter, die
Installation von Sensoren und die Dokumentation der Wirkungsweise. Bereits ge‐
machte Erfahrungen können die Umsetzung der einzelnen Maßnahmen dabei we‐
sentlich begünstigen. Die Umsetzung von Poka‐Yoke‐Maßnahmen sollte im Idealfall
in der Phase der Prozessgestaltung berücksichtigt werden.

Für die Logistik bietet sich die Umsetzung von Poka Yoke beispielsweise für die
Kommissionierung oder Distribution an. Der Kommissionierprozess ist i. d. R. wenig
automatisiert und daher sehr anfällig gegenüber menschlichen Fehlern. Aus diesem
Grund wird durch entsprechende Pick‐by‐Light‐ oder Pick‐by‐Voice‐Maßnahmen
versucht den Kommissionierer bei seiner Arbeit zu unterstützen. Bei Pick‐by‐Light
steuert der Kommissionierer das nächste Fach durch eine weithin sichtbare Blickfang‐
leuchte an und über einen Quittierknopf bestätigt er die Entnahme, sodass die Be‐
standsänderung in Echtzeit an das Lagerverwaltungssystem zurückgemeldet werden
kann. Meist besitzen die Fachanzeigen zusätzlich eine numerische oder alphanumeri‐
sche Anzeige, um dem Kommissionierer die Entnahmemenge und gegebenenfalls
zusätzliche Informationen anzuzeigen. Pick‐by‐Voice übermittelt die Kommissionier‐
aufträge vom Lagerverwaltungssystem mittels Funk an das Headset des Kommissio‐
nierers. Dabei umfasst die erste Sprachausgabe das Regal, von dem Waren entnom‐
men werden sollen. Der Kommissionierer übermittelt dann die am Regal angebrachte
Prüfziffer oder einen Prüfbuchstaben womit das System eine Überprüfung vornehmen
kann. Falls die richtige Prüfziffer genannt wurde, wird dem Kommissionierer mitge‐
teilt, wie viele Einheiten er aus dem Fach entnehmen soll. Nach Entnahme quittiert der
Kommissionierer diesen Vorgang mittels Schlüsselwörtern, die vom Lagerverwal‐
tungsrechner mittels Spracherkennung verstanden werden. Durch diese Poka‐Yoke‐
Maßnahmen resultieren eine geringere Fehlerrate, höhere Kommissionierleistungen
und eine nachhaltig verbesserte Ergebnis‐ und Abwicklungsqualität.

Zu den Stärken von Poka Yoke gehören die frühzeitige Erkennung und präventive
Verhinderung von menschlichen Fehlern, geringe Investitions‐ und Umsetzungs‐
kosten bei weichen Poka‐Yoke‐Maßnahmen, eine Erhöhung der Effizienz durch stabile
Prozessabläufe sowie die Umsetzung einer Null‐Fehler‐Strategie.

Für eine erfolgreiche Umsetzung von Poka Yoke ist die Kenntnis der Fehler eine not‐
wendige Voraussetzung, da nur durch ein entsprechendes vorausschauendes Denken
durch System‐ und Prozessingenieure die potenziellen Fehler durch geeignete Mecha‐
nismen verhindert werden können. Somit ist insbesondere bei neuartigen Prozessen
eine Anwendung kritisch zu sehen. Außerdem ist der Erfolg einer Poka‐Yoke‐Maß‐
nahme stets von der Qualität der Problemanalyse abhängig. Falls nur Symptome, nicht
aber die eigentlichen Fehlerursachen bekämpft werden, dann können trotz eigentlich
guter Lösungen hohe Ausschussraten und Nacharbeitskosten auftreten.

198
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

3.3.2.4 Auditierung
Der Begriff Auditierung bzw. Audit beschreibt eine neutrale und prozessunabhängige
Prüfungsmethode, welche durch systematischen Soll‐Ist‐Vergleich Aussagen über den
Umsetzungsgrad und Erfolg von Systemen, Maßnahmen und anderen Sachverhalten
möglich macht. Speziell im Qualitätsmanagement ist die Methode auch als Qualitäts‐
audit bekannt und dient der Kontrolle von qualitätsbezogenen Tätigkeiten und den
damit zusammenhängenden Ergebnissen. Eine Auditierung kann zur Erarbeitung von
Verbesserungsmaßnahmen, aber auch zur Messung des Fortschritts bei der Umset‐
zung eines gesamten Qualitätsmanagementsystems eingesetzt werden. Als Grundlage
für die Auditierung werden Regelwerke, wie die DIN EN ISO 9000 Normenreihe,
angewendet, die branchenweit anerkannte Forderungen und Ansprüche für die Im‐
plementierung von Qualitätsmanagementsystemen in Unternehmen beinhalten309.

Die Auditierung ermittelt zudem die Verhältnismäßigkeit von Nutzen und Aufwand
der Qualitätstätigkeiten. Zum einen werden die Unternehmensziele, wie z. B. die Ge‐
winnmaximierung und zum anderen das Erreichen der von den Kunden geforderten
Ziele, wie z. B. Qualität, Liefertreue und Service, verfolgt. Für die Aufgabe der Audi‐
tierung wird ein Qualitätsmanagementbeauftragter eingesetzt, welcher unabhängig ist
und nicht im direkten Verhältnis zu der zu auditierenden Aktivität steht. Falls die
Auditoren Mitarbeiter des Unternehmens sind, dann spricht man von einem internen
Audit, und bei externen Experten von einem externen Audit.

Je nach Anwendungsbereich kann die Auditierung in Produkt‐, Verfahrens‐ oder


Prozess‐ und Systemaudit unterschieden werden:

 Das Produktaudit überprüft, meist auf Basis einer Stichprobe, die Übereinstim‐
mung der Produkteigenschaften mit Kundenwünschen sowie die Konsistenz und
Sinnhaftigkeit der dazugehörigen Unterlagen.

 Das prozessbezogene Verfahrensaudit befasst sich in erster Linie mit der Wirk‐
samkeit der vorhandenen Richtlinien, Vorschriften und der Erreichung des ange‐
strebten Qualitätsziels bezüglich bereits umgesetzter Maßnahmen.

 Das Systemaudit bezieht sich auf das gesamte Qualitätsmanagementsystem und


dient der umfassenden Beurteilung hinsichtlich der Übereinstimmung von ge‐
planten und tatsächlich umgesetzten Arbeits‐, Prüf‐ und Verfahrensweisen sowie
der Kontrolle der Qualitätsfähigkeit dieser Elemente.

Der Ablauf eines Audits kann, unabhängig von seiner Art, in folgende drei Phasen
unterteilt werden:

1. Vorbereitungsphase
In der ersten Phase werden die zu untersuchenden Objekte und Sachverhalte sowie
Ziele der Auditierung definiert. Außerdem werden die durchführenden Auditoren
bestimmt und alle relevanten Informationen und Daten bezüglich des zu auditie‐

309 Vgl. WIENDAHL (2002, S. 152f).

199
Prozessketten in der Logistik
3
renden Produktes, Prozesses oder Systems zusammengetragen. Darauf aufbauend
wird ein Fragenkatalog erarbeitet, welcher der Feststellung des Erfolgs oder Misser‐
folgs von Qualitätssicherungs‐ und Verbesserungsmaßnahmen dient.

2. Durchführungsphase
In der Durchführungsphase erfolgt die Detailplanung und die Festlegung von Rei‐
henfolge und Schwerpunkten des Audits. Dazu werden Mitarbeiter des jeweiligen
Bereichs gemäß dem Fragenkatalog interviewt, sämtliche relevante Unterlagen kon‐
trolliert und stichprobenartig die richtige Durchführung der festgelegten Verhal‐
tensvorschriften überprüft.

3. Auswertungsphase
In der letzten Phase werden die ermittelten Abläufe sowie Abweichungen im Audi‐
tbericht dokumentiert und bewertet. Es erfolgt eine Formulierung von Defiziten so‐
wie die Ableitung von Verbesserungsvorschlägen. Ein zuvor abgestimmtes Bewer‐
tungsschema ermöglicht einen Vergleich des eigenen Qualitätsmanagementsystems
mit dem anderer Unternehmen. Die Ergebnisse werden anschließend den verant‐
wortlichen Führungskräften vorgestellt, welche gegebenenfalls weitere Maßnahmen
veranlassen, die wiederum bezüglich ihrer Umsetzung überwacht und verfolgt
werden müssen.

Eine Auditierung kann in der Logistik als Verbesserungsinstrument, zur Einführungs‐


kontrolle eines logistischen Qualitätsmanagementsystems oder zur Beurteilung von
Lieferanten eingesetzt werden. Ein Lieferantenaudit stellt die Qualität der zugelie‐
ferten Produkte und Dienstleistungen für den Abnehmer sicher und prüft zugleich die
Wirksamkeit von dessen Qualitätsmanagementsystem. Von Lieferanten wird daher
eine Auditierung, zumeist nach der Normenreihe DIN EN ISO 9000 bis 9004, für eine
gemeinsame Zusammenarbeit gefordert. Lieferantenaudits werden bei der Lieferan‐
tenauswahl, bei Mängeln, zur Kontrolle von Verbesserungsmaßnahmen und zur
Nachbeurteilung bei Vertragsverlängerungen durchgeführt. Zu beachten ist jedoch,
dass der Auditor in keinem dienstlichen Verhältnis zum überprüften Bereich steht.
Nur so kann ein möglichst objektives Ergebnis gewährleistet werden.

Die Vorteile einer Auditierung gegenüber anderen Bewertungsverfahren liegen in der


strukturierten Vorgehensweise, der Möglichkeit der breiten Anwendung auf alle Un‐
ternehmensbereiche sowie in der frühzeitigen Entdeckung von Fehlern und Schwach‐
stellen im System. Des Weiteren ist eine Überprüfung der Umsetzung durchgeführter
Maßnahmen und eine kontinuierliche Überwachung durch den kombinierten Einsatz
mit einem Kennzahlensystem möglich.

Zu den Schwächen zählen der verhältnismäßig hohe Arbeitsaufwand bei der Neuein‐
führung und die damit verbundene erstmalige Erstellung eines Fragenkatalogs. Auch
besteht die Gefahr der Beeinflussung des Auditergebnisses durch eine fehlende Homo‐
genität des Fragenkatalogs. Insbesondere können durch eine Variation der Gewichtung
und Bewertung sowie des Detaillierungsgrads der Fragen unterschiedliche Ergebnisse
in Abhängigkeit der durchführenden Auditierungsinstitution erzielt werden. Weiter‐

200
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

hin repräsentieren Audits lediglich Momentaufnahmen und stellen nur den aktuellen
Zustand bei Durchführung des Audits dar.

3.3.2.5 Statistische Prozessregelung


Eine weit verbreitete Methode zur Sicherung und Steuerung der Qualität von standar‐
disierten Prozessen ist die in den 1930er Jahren von SHEWHART entwickelte Statistische
Prozessregelung (Statistical Process Control – SPC). Im Gegensatz zu den präventiven
Qualitätsplanungsmethoden QFD, FMEA, Auditierung und Poka Yoke zielt die SPC
auf die Qualitätsprüfung ab, um prozessbegleitend Abweichungen aufzudecken.

Die SPC basiert auf der Grundannahme, dass alle Prozessabläufe gewissen natürlichen
Schwankungen unterliegen, sodass das Resultat eines Prozesses folglich das Ergebnis
der vielen unterschiedlichen Einflüsse auf einen Prozess ist. Diese Prozessvariabilität
führt zu unterschiedlichen Resultaten und unterliegt den Gesetzen der Wahrschein‐
lichkeit. Neben diesen natürlichen und nicht beeinflussbaren Schwankungen existie‐
ren auch nicht‐natürliche Abweichungen, d. h. Schwankungen, die sich aus Fehlern
und Störungen im Prozessablauf ergeben und die natürliche Variabilität überlagern.
Als Folge resultieren deutlich voneinander abweichende Prozessergebnisse mit ent‐
sprechenden Qualitätsabweichungen. Die Einhaltung einer gewissen Prozessstabilität
ist somit eine wichtige Voraussetzung für ein gleichbleibend hohes Qualitätsergebnis.
Die Aufgabe der SPC ist es daher diejenigen Werte, die nicht‐natürliche Einflüsse sig‐
nalisieren, frühzeitig zu identifizieren, um ein rechtzeitiges und angemessenes Ein‐
greifen zu ermöglichen und damit stabile Prozesse zu schaffen310.

Die Prozesse werden mit Stichproben überprüft, was zur Folge hat, dass keine einzel‐
nen Merkmalsträger überprüft werden, sondern es wird die Gesamtheit aller Merk‐
malsträger analysiert. Um zwischen den natürlichen Schwankungen und systematisch
bedingten Veränderungen im Prozess genau differenzieren zu können, werden als
Hilfsmittel verschiedene Qualitätsregelkarten verwendet. Auf diesen Qualitätsregel‐
karten werden die aus den Stichproben resultierenden Ergebnisse grafisch dargestellt,
um auf Prozessstörungen und ‐schäden aufmerksam zu machen und durch die Gestal‐
tung von Regelkreisen eine optimale Prozessführung zu ermöglichen. Eine Qualitäts‐
regelkarte kann durch folgende drei Eigenschaften charakterisiert werden311:

 Erhöhung der Prozesstransparenz aufgrund der graphischen Darstellung

 Darlegung von Prozessstörungen mithilfe von Eingriffsgrenzen


 Aufzeigen systematischer Einflüsse durch Testen spezieller Verläufe

310 Vgl. RICHARD (1999, S. 82ff).


311 Vgl. PFEIFER (2001, S. 519).

201
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐26 Qualitätsregelkarte mit Warn- und Eingriffsgrenzen

4,5

4
OEG
3,5
OWG
Stichprobenmittelwerte

3 Prozessmittelwert
2,5 UWG

2 UEG

1,5

0,5

0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Stichprobennummer

In den Regelkarten werden jeweils eine obere und eine untere Warn‐ (QWG, UWG)
sowie Eingriffsgrenze (OEG, UEG) festgelegt. Bei einem stabilen Prozess schwanken
die Werte gering und zufallsverteilt zwischen diesen Grenzen um einen Mittelwert.
Überschreiten die Werte jedoch diese Eingriffsgrenzen, so ist dies ein Anzeichen für
auf Fehler zurückführbare Einflüsse und es muss entsprechend regulierend in den
Prozessablauf eingegriffen werden (vgl. Abbildung 3‐26). Auf diese Weise können
systematische Störungseinflüsse erkannt und beseitigt sowie stabile, qualitätsfähige
Prozesse geschaffen werden. In der Abbildung 3‐26 werden die obere Eingriffsgrenze
bei den Stichprobennummern 3 und 4 über‐ und die untere Eingriffsgrenze bei den
Stichprobennummern 2, 6, 19 und 20 unterschritten.

Die Vorgehensweise einer SPC ist in folgende vier Schritte unterteilt312:

1. Bestimmung der Prüfmerkmale


Aus ökonomischen Gründen wird im ersten Schritt eine Beschränkung auf ausge‐
wählte Prüfmerkmale vorgenommen. Die genaue Bestimmung der Prüfmerkmale
erfolgt mit einer Prozessanalyse, mit der Führungsgrößen bestimmt werden, welche
die Qualität des Prozesses im Sinne der definierten Unternehmensziele bestmöglich
repräsentieren.

2. Untersuchung der Prozessfähigkeit


Die Prozessfähigkeit gibt Aufschluss über die Kompetenz der Prozesse, die an sie
gestellten Qualitätsanforderungen langfristig zu gewährleisten und für die Anwen‐
dung der SPC geeignet zu sein. Für die Prozessuntersuchung werden zunächst die

312 Vgl. WIENDAHL (2002, S. 131).

202
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse

potenziellen Fehlerquellen und Risiken aufgedeckt, die z. B. mit der Prozess‐FMEA


analysiert werden können, und entfernt. Im Anschluss werden dem Prozess Stich‐
proben entnommen, um sogenannte Fähigkeitskennzahlen zu ermitteln, welche
Aussagen über die Stabilität und Qualitätsfähigkeit eines Prozesses ermöglichen.
Sind die Messwerte normalverteilt mit der Standardabweichung  , dann kommt in
der Praxis häufig der Prozessfähigkeitsindex Cp (Process Capability Index) zur An‐
wendung, der wie folgt definiert ist

OEG  UEG
Cp 
6 
und das Verhältnis der Streubreite zur Toleranz (OEG‐UEG) angibt. Wenn die Tole‐
ranz dem 6‐fachen der Prozessstreuung entspricht, dann ist der Cp = 1,00. In diesem
Fall liegen 99,73% der Messwerte innerhalb der Toleranz. Der Prozess‐
fähigkeitsindex berücksichtigt nicht die Lage des Prozessmittelwerts und sagt somit
aus, welche Prozessfähigkeit erreicht werden könnte, wenn der Prozess zentriert
wäre. Würde ausschließlich der Cp‐Wert zur Prozessfähigkeitsbewertung verwendet
werden, dann könnte im ungünstigsten Fall ein Prozess völlig außerhalb der Tole‐
ranz liegen und dennoch durch eine relativ kleine Streuung einen hohen Cp‐Wert
haben.

Dagegen verwendet der Cpk‐Wert neben der Prozess‐Streuung  auch die Prozess‐
lage μ zur Beurteilung der Prozessfähigkeit. Er wird wie folgt definiert:

   UEG OEG   
C pk  min  ; 
 3  3  

Ist für ein Merkmal nur eine Toleranzgrenze UEG oder OEG angegeben, wird aus‐
schließlich der Cpk‐Wert für die Prozessfähigkeit berücksichtigt. Im Allgemeinen
verweisen höhere Cp‐ bzw. Cpk‐Werte auf einen fähigeren Prozess. Niedrigere Werte
geben an, dass der Prozess möglicherweise verbessert werden muss. Gängige Cpk‐
Werte, ab denen man von Prozessfähigkeit spricht, sind 1,33 und 1,67. Diese Werte
entsprechen 8  bzw. 10  zwischen den Toleranzgrenzen und führen zu einer
Fehlerwahrscheinlichkeit von 0,0063% bzw. 0,000057%. Prozesse mit wesentlichem
Anteil an Handarbeit erreichen unter idealen Bedingungen bestenfalls Cpk‐Werte
von 1,0. Erst wenn ein Prozess als stabil gilt, wird mit dem dritten Schritt weiterver‐
fahren.
3. Bestimmung der Eingriffsgrenzen
Im dritten Schritt werden die Eingriffsgrenzen, der Mittelwert sowie gegebenenfalls
die Warngrenzen auf Basis der vorherigen Ergebnisse ermittelt. Je nach Typ der
verwendeten Qualitätsregelkarte können andere Werte als Grenzwerte in Frage
kommen. Generell werden diese Grenzen anhand der aus Stichproben ermittelten
Streuung aus Tabellen bestimmt. Neben der Ermittlung der Grenzen werden im

203
Prozessketten in der Logistik
3
dritten Schritt auch der zukünftige Stichprobenumfang und die Stichprobenfre‐
quenz festgelegt.

4. Statistische Prozessüberwachung und ‐regelung


Im letzten Schritt werden im vorher definierten Umfang und in der festgelegten
Frequenz Stichproben gezogen und die entsprechenden Werte in die Regelkarte ein‐
getragen. Liegen mehr als sieben Werte auf einer Seite der Mittellinie (ein sog.
„Run“) oder treten mehr als sieben Werte hintereinander in auf‐ oder absteigender
Folge auf (ein sog. „Trend“), dann sind dies charakteristische Anzeichen für einen
systembedingten Einfluss. Kommt es im Verlauf eines Prozesses dann sogar zur
Überschreitung der festgelegten Eingriffsgrenzen, dann liegt ein Fehler vor und es
müssen mittels einer Ursachenanalyse die einzelnen Fehlerquellen ermittelt und an‐
schließend beseitigt werden. Nachdem die ermittelten Ursachen und getroffenen
Maßnahmen auf der Qualitätsregelkarte vermerkt wurden, können die Eingriffs‐
grenzen neu bestimmt werden, um weitere Fehler zu identifizieren. Auf diese Weise
wird durch SPC eine kontinuierliche Verbesserung der Prozesse ermöglicht.

Die SPC als Instrument zur Visualisierung und Überwachung von Messwerten ist für
logistische Vorgänge von großem Nutzen. Eine wichtige Voraussetzung für einen
Einsatz der SPC in der Logistik ist das Ziehen von Stichproben und die Vergleich‐
barkeit der Ergebnisse. Daher sollten nur Standardprozesse wie z. B. Auftragsbearbei‐
tungs‐ oder Kommissionierprozesse, welche häufig im Unternehmen auftreten, aus‐
gewählt werden. Für den Einsatz der SPC in der Logistik werden weiterhin mess‐ und
regelbare Prüfgrößen vorausgesetzt, wie z. B. Auftragsdurchlauf‐ und Lieferzeiten,
Terminabweichungen, die Anzahl von Kundenreklamationen oder Fehlteile pro Auf‐
trag sowie der Auslastungsgrad der Transportmittel. Zu beachten ist jedoch, dass eine
kurzfristige Regelung der logistischen Prozessgrößen, wie z. B. die Korrektur der
Terminabweichung, nicht durchführbar ist. Logistische Prozesse sind oftmals vonei‐
nander abhängig, sodass die Analyse der Fehlerursache zu einem Problem in einem
mangelhaften vorgelagerten Prozess führt. Die Regelung dieses Mangels bedarf meist
einer übergeordneten Maßnahme des Managements, wofür ein Mitarbeiter meist keine
Befugnisse besitzt. Aus diesem Grund sind kurzfristig regelbare Prüfmerkmale, wie z.
B. die Lieferzeit, welche direkt durch die Mitarbeiter beeinflusst und geregelt werden
können, besser geeignet.

Zu den Stärken der SPC zählen die Möglichkeit der frühzeitigen Fehler‐ und Kosten‐
vermeidung durch präventive Eingriffe in den Prozess, Zeitvorteile durch rechtzeitige
Signalisierung sich anbahnender negativer Veränderungen vor dem eigentlichen Ein‐
treten und somit die Möglichkeit der kontinuierlichen Steigerung des Prozessniveaus
sowie die guten Kontrollmöglichkeiten.

Schwächen der SPC liegen in dem hohen personellen und zeitlichen Aufwand für die
Schulung der Mitarbeiter zur Vermittlung der statistischen Kompetenzen sowie zur
Erhebung der notwendigen Daten. Weiterhin ist der verzögerte Wirkungseinsatz zu
kritisieren, da ein gewisser Vorlauf benötigt wird, um gesicherte Aussagen treffen zu
können. Auch werden keine Aussagen über mögliche Ursachen der identifizierten

204
3.4
Literaturhinweise

Probleme getroffen, sodass eine separate Analyse erforderlich ist. Ein weiterer Kritik‐
punkt ist die unterstellte Normalverteilung, die in der Praxis nur in seltenen Fällen
gerechtfertigt ist, da eher Mischverteilungen vorzufinden sind313.

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209
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210
4 Konzepte und Methoden zur
Verbesserung logistischer Prozesse

Ineffizienzen in logistischen Prozessen beeinflussen nachteilig die strategischen Er‐


folgsfaktoren Kosten, Zeit, Flexibilität und Qualität. Für die Etablierung effektiver und
effizienter Logistikprozesse wird im Folgenden eine prozessorientierte Strategie ver‐
folgt, die sich durch eine kontinuierliche Optimierung logistischer Prozesse aus‐
zeichnet und somit den Aufbau strategischer Wettbewerbsvorteile unterstützt. Eine
dadurch realisierbare Verbesserung der strategischen Erfolgsfaktoren führt zu einer
Erhöhung des Outputs. Für die Verbesserung logistischer Prozesse werden im Folgen‐
den die Konzepte Benchmarking, Postponement, Efficient Consumer Response, Colla‐
borative Planning, Forecasting and Replenishment sowie das Komplexitätsmanage‐
ment vorgestellt.

4.1 Das Benchmarking-Konzept


Infolge der gestiegenen Marktdynamik, einer hohen Markttransparenz mit zuneh‐
mender Individualisierung der Kundenwünsche, einer Verringerung der Fertigungs‐
tiefe durch Konzentration auf Kernkompetenzen, einem fortschreitenden Trend zur
Globalisierung und einem verstärkten Einsatz von Informations‐ und Kommunikati‐
onstechnologien wird es für Unternehmen immer schwieriger, mit den traditionellen
Strategien – Kostenführerschaft bzw. Differenzierung – Wettbewerbsvorteile zu errei‐
chen. Das Benchmarking‐Konzept ist ein geeignetes Managementinstrument, um den
veränderten Anforderungen gerecht zu werden. Mittels Benchmarking können logisti‐
sche Prozesse analysiert und objektiviert, die Leistungslücken zum internationalen
Spitzenniveau bestimmt sowie entsprechende Maßnahmen zur Schließung der eige‐
nen Wettbewerbslücke abgeleitet werden.

In diesem Kapitel soll zunächst ein Überblick über die Entwicklungsgeschichte des
Benchmarking gegeben werden. Daran anschließend werden auf der Basis ausgewähl‐
ter und in der Literatur vorgestellter Definitionsansätze die grundlegenden Aspekte
dieses Managementwerkzeugs herausgearbeitet.

Neben einer Darstellung der Gründe, warum Benchmarking als strategisch‐wett‐


bewerbsanalytisches Planungsinstrument zunehmend an Bedeutung gewinnen wird,
werden die verschiedenen Arten und Objekte des Benchmarking sowie dessen Erfolgs‐

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 211
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_4
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
faktoren erläutert. Weiterhin erfolgt eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Pha‐
sen des Benchmarking‐Zyklus unter Berücksichtigung logistischer Fragestellungen314.

Lernziele:

 Definition und Ziele des Benchmarking


 Verschiedene Arten und Objekte des Benchmarking
 Ablauf des Benchmarking‐Zyklus
 Erfolgsfaktoren des Benchmarking

4.1.1 Entwicklungsgeschichte des Benchmarking


Mit Benchmarking wird eine Managementmethode bezeichnet, die ihren Ursprung in
den USA hat. US‐amerikanische Business‐Schools beschreiben mit Benchmarking ein
Instrument, das es dem Management erlaubt, erfolgreiche Prinzipien und Methoden
auf den Märkten zu entdecken und zu adaptieren.

Die Firma Xerox Corporation, als Musterbeispiel in nahezu jeder Benchmarking‐


Literatur zitiert, war das erste Unternehmen, das den Benchmarking‐Ansatz gezielt in
der Logistik einsetzte315. In den 60er Jahren erfuhr die Xerox‐Gruppe einen beispiello‐
sen Aufstieg, der auf dem Weltmarkt für Kopiergeräte zu einem Anteil von ca. 80%
führte. Anfang der siebziger Jahre wurden weltweit die Hauptpatente für Kopiergerä‐
te frei, sodass Xerox nun vor allem mit japanischen Unternehmen im Wettbewerb
stand. Der Konkurrent Canon aus Japan brachte einen Kopierer zu einem Verkaufs‐
preis auf den Markt, der unter den Herstellkosten für vergleichbare Geräte bei Xerox
lag. Angesichts einer vehementen Erosion der Marktanteile von 80% auf 10% inner‐
halb von nur fünf Jahren, zu hoher Kosten bei gleichzeitig unterdurchschnittlicher
Qualität von Produktpalette und Service, drohte Xerox das Aus. Xerox musste in die‐
ser Phase die Qualitäts‐ und Kostenprobleme schnellstmöglich wieder in den Griff
bekommen. Höhepunkt in diesem Bestreben stellte die Initiierung des „Leadership
Through Quality‐Programms“ – ein unternehmensweites, kundenorientiertes Quali‐
tätsprogramm – aus dem Jahre 1983 dar, das sich aus den drei Bausteinen Einbindung
der Mitarbeiter, Benchmarking und Qualitätsverbesserungsprozess zusammensetzte.
Für Aufsehen hat vor allem das Instrument Benchmarking gesorgt, mit dem Maschi‐
nendefekte um 90% reduziert, die Produktivität des Vertriebs um ein Drittel gesteigert
und gleichzeitig die Servicekosten um 30% gesenkt wurden.

Xerox wollte 1979 mit Benchmarking ursprünglich nur die Stückkosten in der Ferti‐
gung analysieren. Man erkannte dabei sehr früh, dass eine Stückkostenanalyse durch

314 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen LASCH (1998, S. 117ff) entnommen.
315 Vgl. GRUNWALD (1995, S. 144ff).

212
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Reverse Product Engineering nicht ausreichte, um den Rückstand gegenüber den


Wettbewerbern wieder aufzuholen. Aus diesem Grund begann man zielgerichtet, die
den eigenen Produkten zugrundeliegenden Prozesse in allen Unternehmensbereichen
nach Verbesserungspotenzialen zu untersuchen. In der Abteilung Logistik und Ver‐
trieb stellte man fest, dass man hier die Produktivität jährlich nur um 3% bis 5% stei‐
gern konnte. Dies erwies sich als nicht ausreichend genug, um konkurrenzfähig zu
bleiben. Die Analyse führte zu dem Ergebnis, dass die Materialentnahme den
schwächsten Teilprozess im logistischen Prozess darstellte.

Ein interner Vertriebsfachmann wurde beauftragt, Unternehmen mit den besten Pro‐
zessen im Vertriebsmanagement ausfindig zu machen. Nach dem Studium von Fach‐
zeitschriften und entsprechenden Kontakten mit Branchenverbänden und Unterneh‐
mensberatern konnte der Sportartikelversender L. L. Bean als geeigneter Kandidat für
das Benchmarking ausfindig gemacht werden. Der Vertriebsmann erkannte die für
einen Laien wohl kaum sichtbare Strukturgleichheit zwischen beiden Unternehmen,
nämlich die Entwicklung von Lagerhaltungs‐ und Vertriebssystemen für Produkte
höchst unterschiedlicher Größen, Formen und Gewichte. Bei einem Vergleich der
Leistungsbeurteilungsgrößen „Aufträge pro Manntag“, „Stückzahl pro Manntag“ und
„Gänge pro Manntag“, übertraf L. L. Bean bei der Produktivitätskennzahl „Gänge pro
Manntag“ Xerox um das Dreifache. Als Hauptursache konnte die sehr viel größere
Zahl an computergesteuerten Arbeitsvorgängen bei L. L. Bean identifiziert werden.
Xerox konnte von dem System von L. L. Bean einige der Verfahren erfolgreich für die
Modernisierung der eigenen Lager nutzen. Die positiven Erfahrungen führten zu
Folgeprojekten im Bereich Logistik/Vertrieb, sodass eine Steigerung des jährlichen
Produktivitätszuwachses auf 10% in den Folgejahren erreicht werden konnte. Da der
Benchmarking‐Zyklus immer ein Geben und Nehmen bedeutet, ergaben sich auch für
den Partner L. L. Bean Vorteile. Benchmarking wurde erstmals bei Xerox institutionali‐
siert und systematisch angewandt. Heutzutage wird bei Xerox prozessorientiertes
Benchmarking durchgeführt, d. h. man geht von einem ganzheitlichen Ansatz aus, der
das gesamte Unternehmen und alle Bereiche einbindet.

Seit dem erfolgreichen Einsatz von Benchmarking bei Xerox ist dieses Management‐
tool von namhaften Unternehmen angewandt worden316. Die erste systematische
Darstellung der Benchmarking‐Methodik geht auf CAMP (1989) zurück, die auf prakti‐
schen Erfahrungen aus einer Reihe von Benchmarking‐Projekten gründet. Die Veröf‐
fentlichung dieses bis heute gültigen Standardwerkes führte zu einer explosions‐
artigen Verbreitung von Benchmarking auch jenseits der USA. Für die weitere Verbrei‐
tung von Benchmarking sorgte der Malcolm Baldrige National Quality Award, der
durch den Präsidenten der USA ab 1987 verliehen wird, und eine begehrte Auszeich‐
nung für herausragende Leistungen im Qualitätsmanagement darstellt. Amerikani‐
sche Unternehmen, die den Malcolm Baldrige National Quality Award gewonnen
haben, verpflichten sich, ihre Erfahrungen an andere amerikanische Unternehmen
weiterzugeben. Ziel hierbei ist ein bewusster Wissenstransfer, um die amerikanische

316 Vgl. BICHLER ET AL. (1994, S. 32).

213
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Wirtschaft im internationalen Vergleich zu stärken. Von den Bewerbern für diese be‐
gehrte Auszeichnung mit hohem Prestigewert wird heute eine Anwendung des
Benchmarking verlangt317. Benchmarking als fester Bestandteil der Kriterien für die
Vergabe dieser Auszeichnung verdeutlicht den hohen Stellenwert dieses Management‐
instruments in den USA. Beim European Quality Award, der in Anlehnung an den
Malcolm Baldrige Award in den Bewertungskriterien ebenfalls das Instrument
Benchmarking beinhaltet, wird Benchmarking sogar noch stärker gewichtet.

In den 90er Jahren entstanden erste Benchmarking‐Institute, die zu einer weiteren


Verbreitung der Methodik beitrugen. Im Jahr 1992 wurden in den USA das Internatio‐
nal Benchmarking Clearinghouse (IBC) und das Strategic Planning Institute Council of
Benchmarking (SPIC) gegründet. Das IBC nimmt alle für Benchmarking‐Zwecke inte‐
ressanten Informationen von den unterschiedlichsten Unternehmen auf und stellt sie
ihren Mitgliedern zur Verfügung, wobei sich der Tätigkeitskreis auch auf die interna‐
tionale Ebene erstreckt. Das IBC bietet beispielsweise Beratungen, Schulungen, die
Nutzung ihrer Datenbanken sowie Unterstützung bei der Suche nach geeigneten
Benchmarking‐Partnern an. In Europa können als Benchmarking‐Institute das Bench‐
marking Centre in England, das Deutsche Benchmarking Zentrum DBZ in Berlin
(Institut für Prozessoptimierung und Informationstechnologien), das SCS‐
Benchmarking‐Center in Nürnberg (Fraunhofer SCS) und das Benchmarking Center
Europe in Köln (INeKO Institut an der Universität zu Köln) genannt werden. Im Jahr
1994 wurde das Global Benchmarking Network (GBN) gegründet, das ein Netzwerk
von Benchmarking‐Zentren darstellt und der internationalen Vermittlung von Bench‐
marking‐Partnern dient.

4.1.2 Inhaltliche Bestimmung


Zum Thema Benchmarking existiert heute eine Fülle von Literaturquellen, sodass
deshalb auch unterschiedliche Definitionen dieses Begriffs anzutreffen sind. Hinter
den verschiedenen Begriffsbestimmungen, die von Theoretikern oder Praktikern for‐
muliert wurden, lassen sich jedoch Elemente feststellen, die einander sehr ähnlich
sind. Bevor nun diese wesentlichen Grundgedanken des Begriffs Benchmarking dar‐
gestellt werden, sollen vorab einige exemplarische Definitionen aus der Literatur vor‐
gestellt werden:

 Benchmarking ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem Produkte, Dienstleistungen und
insbesondere Prozesse und Methoden betrieblicher Funktionen über mehrere Unternehmen
hinweg verglichen werden318.

 Benchmarking ist ein externer Blick auf interne Aktivitäten, Funktionen oder Verfahren,
um eine ständige Verbesserung zu erreichen319.

317 Vgl. APQC (1993, S. 171‐190).


318 Vgl. HORVÁT/HERTER (1992, S. 5).

214
4.1
Das Benchmarking-Konzept

 Benchmarking ist ein kontinuierlicher, systematischer Prozess, um Produkte, Dienst-


leistungen und Arbeitsprozesse von Unternehmen zu beurteilen und zu verbessern320.

 Benchmarking ist die Suche nach den besten Industriepraktiken, die zu Spitzenleistungen
führen321.

 Benchmarking ist der kontinuierliche Prozess, Produkte, Dienstleistungen und Praktiken


zu messen gegen den stärksten Mitbewerber oder die Firmen, die als Industrieführer ange-
sehen werden [Kearns D., Chief Executive Officer, Xerox Corporation, zitiert nach Camp
1994, S. 13].

Um die wesentlichen Gesichtspunkte der angeführten Definitionsvarianten herauszu‐


arbeiten, erscheint es zunächst hilfreich, vom Begriff „benchmark“ auszugehen. Im
angelsächsischen Sprachraum steht „benchmark“ für eine Markierung an einem fest‐
stehenden Objekt, das als Referenzpunkt im Bereich geografischer Untersuchungen
dient. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden unter „benchmarks“ Werte verstanden,
die als Basis einer Messung dienen oder einen Standard setzen, an dem andere ausge‐
richtet werden können. Der hier verwendete Standard muss jedoch als „progressive“
Kennzahl verstanden werden, die sich im Zeitablauf ändern kann. Diese Änderung ist
notwendig, um stets die tatsächlichen, wettbewerbsfähigen Geschäftspraktiken wider‐
zuspiegeln. Betrachtet man die oben angeführten Definitionen, so lassen sich die fol‐
genden gemeinsamen Elemente feststellen.

Benchmarking soll als kontinuierliches Managementinstrument verstanden werden.


Bei Benchmarking handelt es sich nicht um eine einmalige Aktivität, sondern um ei‐
nen Managementprozess, der im Unternehmen auf lange Sicht praktiziert und imple‐
mentiert sein muss, um effizient zu sein. Vor dem Hintergrund immer kürzerer Pro‐
duktlebenszyklen, sich schneller ändernder Prozesse und Praktiken müssen die „Bes‐
ten der Besten“ ständig neu identifiziert und deren Spitzenleistungen als Vergleichs‐
maßstab herangezogen werden. Den Benchmarking‐Zyklus nur einmal durchzuführen
würde bedeuten, dass man sich der fortlaufenden Veränderung der wirtschaftlichen
Umwelt verschließen würde.

Benchmarking beruht auf einer systematischen Vorgehensweise, die bestimmten Re‐


geln folgt und keine zufällige, unorganisierte Tätigkeit sein darf.

In allen genannten Definitionen wird ein Vergleichen, Messen und Beurteilen der
eigenen Leistung im Verhältnis zu der des Benchmarking‐Partners hervorgehoben.
Benchmarking ist ein wirksames Instrument, das den eigenen Standort im Wettbewerb
bestimmt und zugleich Verbesserungspotenziale für die Zukunft aufzeigt. Wesentlich
ist, die Leistungslücke zu anerkannten „Klassenbesten“ nicht nur quantitativ, sondern
vor allem qualitativ zu verstehen. Im Vordergrund steht somit ein „Lernaspekt“, d. h.
das Verständnis der Prozesse und nicht die Ableitung einer quantitativen Kennzahl.

319 Vgl. LEIBFRIED/MCNAIR (1993, S. 13).


320 Vgl. BICHLER ET AL. (1994, S. 33).
321 Vgl. CAMP (1994, S. 16).

215
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Die Kennzahlen müssen als das Resultat des Verständnisses der besten Praktiken
gesehen werden, nicht als irgendetwas, das zuerst festgelegt und dann verstanden
wird.

Mit Benchmarking wird ein Zielsetzungsprozess bezeichnet, der im Gegensatz zu


einer internen Zielvorgabe auch zeigt, wie das Ziel erreicht werden kann. Es erzwingt
eine externe Sicht, um die Richtigkeit von Zielsetzungen sicherzustellen. Benchmar‐
king spiegelt ein Streben nach Exzellenz in allen unternehmerischen Tätigkeiten wider.
Das japanische Wort „dantotsu“, der Beste unter Besten zu sein, ist der eigentliche
Kern des Benchmarking.

Zusammengefasst ist das Ziel eines Benchmarking‐Projekts die kontinuierliche, struk‐


turierte und systematische Orientierung aller Aktivitäten an Weltklassestandards.
Benchmarking bildet somit ein Managementinstrument, das Leistungslücken quantifi‐
ziert, die zugrundeliegenden Ursachen analysiert, von sogenannten „best practices“
lernt und Maßnahmen zur Schließung der Wettbewerbslücke ableitet und implemen‐
tiert. Das permanente Vergleichen und Messen mit anderen Unternehmen oder Orga‐
nisationen generiert im Allgemeinen neue Ideen für eigene Verbesserungen, sodass
das Lernen von anderen institutionalisiert wird und nicht dem Zufall überlassen
bleibt.

4.1.3 Terminologische Abgrenzung des


Benchmarking
Benchmarking hat als Baustein des Total Quality Managements (TQM) die zentrale
Funktion, den externen Vergleich mit dem jeweils Klassenbesten anzustoßen und
durchzuführen, um die Leistungslücken zu quantifizieren und um die „best industrial
practices“ im Unternehmen einzuführen. Neu durch Benchmarking ist die Systematik
und Disziplin, aus dem eigenen Unternehmen herauszutreten, um weltweit die Besten
in Produkt, Prozess oder Funktion zu suchen und zu identifizieren. Dabei ist es wich‐
tig, sich nicht nur auf reine Kostenvergleiche zu konzentrieren, sondern ein Verständ‐
nis für die zugrundeliegenden Prozesse und Methoden zu bekommen. Das so Gelernte
darf im Anschluss daran nicht nur kopiert, es muss durch die eigenen Mitarbeiter
adaptiert und umgesetzt werden. Benchmarking lässt sich somit deutlich von Begrif‐
fen wie Marktforschung, Wettbewerbsanalyse, Reverse Product Engineering oder
Kaizen wie folgt differenzieren.

a) Marktforschung

Marktforschung hat die Analyse der Kundenanforderungen und Kunden‐


meinungen sowie die Größe und Dynamik von Märkten und Marktsegmenten
zum Ziel. Sie setzt beim Kunden und dessen Bedürfnissen an und hat somit im
Gegensatz zum Benchmarking einen klaren Branchenfokus. Die Marktforschung

216
4.1
Das Benchmarking-Konzept

hat zwar eine wichtige Informationsfunktion, sie kann aber lediglich den Input
von Prozessen ändern und nicht die Realisierung von Prozessen.

b) Wettbewerbsanalyse

Die Wettbewerbsanalyse beschränkt sich in der Regel auf die Untersuchung von
Marktaktivitäten und ‐strategien der Wettbewerber. Das durch eine Wettbewerbs‐
analyse ausgelöste Sammeln von Fakten reicht in der Regel nicht aus, um einen
Veränderungsprozess anzustoßen und aufrechtzuerhalten. Es fehlt hier somit der
direkte Zusammenhang zwischen Analyse und Aktion. Benchmarking kann mit
einer Wettbewerbsanalyse beginnen, geht jedoch weit darüber hinaus und be‐
trachtet die grundlegenden betrieblichen Tätigkeiten und die Führungsfähig‐
keiten, die das Fundament für den Erfolg bilden. Man will in erster Linie nicht
wissen, um wie viel die Konkurrenz besser ist, sondern wie sie es ermöglicht, in
bestimmten Bereichen einen Vorsprung zu haben. Bei der Wettbewerbsanalyse
wird meistens auf Sekundärinformationen zurückgegriffen, eine detaillierte Ana‐
lyse kann nicht erfolgen. Benchmarking baut dagegen auf Primärinformationen
auf, die insbesondere dann leichter zu beschaffen sind, wenn kein Vergleich zu di‐
rekten Konkurrenten erfolgt.

Die Wettbewerbsanalyse ist auf Unternehmen beschränkt, die unmittelbar kon‐


kurrierende Produkte und Dienstleistungen herstellen. Branchengrenzen werden
allenfalls dann überschritten, wenn dort potenzielle Konkurrenten zu finden sind.
Konzentriert man sich lediglich auf Konkurrenten, so besteht höchstens die Mög‐
lichkeit, mit ihnen gleichzuziehen. Bei der Wettbewerbsanalyse besteht auch die
Gefahr der Aufdeckung von Praktiken, die es nicht wert sind, adaptiert zu wer‐
den. Berücksichtigt man zusätzlich, dass in anderen Branchen bestimmte Funkti‐
onen von erheblich größerer Bedeutung und deshalb auch wesentlich weiterent‐
wickelt sind, dann bieten gerade Nicht‐Konkurrenten die Chance für Neuerungen
und exzellente Praktiken. Benchmarking erweitert den Vergleich durch die Einbe‐
ziehung aller Unternehmen, welche die zu benchmarkende Unternehmensaktivi‐
tät in hervorragender Weise beherrschen. Benchmarking liefert Prozesspraktiken
und messbare Ziele, die daraus abgeleitet werden können, wie der Klassenbeste
vorgeht und wie angenommen wird, dass er weiter vorgeht. Die Wettbewerbsana‐
lyse stellt vorrangig ein Informationsinstrument für das Management dar,
Benchmarking ist dagegen ein Zielsetzungs‐ und Umsetzungsinstrument.

c) Reverse Product Engineering

Mit Reverse Product Engineering können einzelne Komponenten der Konkur‐


renzprodukte untersucht werden. Diese Analyse ist nicht auf die Ermittlung der
Kostenposition im Verhältnis zum Wettbewerb ausgerichtet. Es werden vielmehr
die Kosten des Konkurrenzprodukts in den im eigenen Unternehmen vorhande‐
nen Strukturen abgebildet. Die Unterschiede in der Effizienz und in den Faktor‐
kosten des eigenen Unternehmens in Relation zur Konkurrenz werden jedoch in

217
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
die Analyse nicht mit einbezogen. Die Vorteile des Reverse Product Engineering
liegen in der vergleichsweise schnellen Kostenreduktion durch Redesign existie‐
render Produkte und in der Berücksichtigung aufgefundener Verbesserungsmög‐
lichkeiten bei einer Neuproduktentwicklung. Durch diese Art der Produktanalyse
ergeben sich zwar oftmals schon Hinweise auf die Effizienz der den Produkten
zugrundeliegenden Prozesse, eine exakte Untersuchung der Praktiken erfolgt
aber noch nicht. Vor diesem Hintergrund kann das Reverse Product Engineering
als Instrument des Benchmarking für Produkte angesehen werden. Benchmarking
ist jedoch nicht nur auf Produkte beschränkt, sondern ist zusätzlich auf Dienstleis‐
tungen, Prozesse, Ressourcen und Strategien anwendbar.

d) Kaizen

Unter Kaizen322 versteht man eine spezifische japanische Lebenseinstellung, die


man am treffendsten mit kontinuierlichen Verbesserungen in kleinen Schritten de‐
finieren kann, wobei sich die Verbesserungen auf den privaten wie auch geschäft‐
lichen Lebensbereich beziehen, und alle Personen im Sinne einer Lebensphiloso‐
phie davon involviert sind. Das Ziel von Kaizen ist, alle Schritte zu eliminieren,
die nicht zur Wertschöpfung beitragen. Kaizen beinhaltet neben der Produktquali‐
tät auch alle menschlichen Verhaltensweisen, die Arbeitsweise der Mitarbeiter, die
Maschinen sowie die Organisation und betont deren qualitätsrelevante Bedeu‐
tung. Es handelt sich bei Kaizen im Gegensatz zum Benchmarking um die primä‐
re Nutzung des internen Know‐hows zur Veränderung. Beim Benchmarking wer‐
den die zu ändernden Objekte einer objektiven externen Sicht unterzogen, sodass
die eigene Position sichtbar wird. Durch die Nutzung von externem Wissen zielt
Benchmarking auf Verbesserungen in Quantensprüngen ab, bei Kaizen handelt es
sich dagegen um kleinere Veränderungen im bestehenden Rahmen.

e) Betriebsvergleich
Betrachtungs‐ und Vergleichsobjekt des Betriebsvergleichs sind Betriebe sowie
Teile eines Betriebes. Im Gegensatz zum Benchmarking ist beim traditionellen Be‐
triebsvergleich eine starke Ausrichtung an funktionalen Strukturen zu beobach‐
ten. Indirekte Bereiche oder die Betrachtung von Prozessen spielen beim Betriebs‐
vergleich so gut wie keine Rolle. Der Betriebsvergleich beruht im Wesentlichen
auf einem Richtwertevergleich, bei dem Betriebe zu Branchendurchschnitten in
Beziehung gesetzt werden. Da die übergeordneten Ziele des Betriebsvergleichs
monetärer Art sind, werden neben wenigen nicht‐monetären Größen, wie z. B.
Produktivitäten oder Umschlaghäufigkeiten, hauptsächlich monetäre Größen
verwendet. Beim Benchmarking, das sich beim Vergleich nicht nur auf die Bran‐
che beschränkt, sondern vielmehr Gemeinsamkeiten und Analogien zwischen

322 Das japanische Wort Kaizen, das sich aus den beiden japanischen Schriftzeichen Kai (Verän‐
derung, Wandel) und Zen (zum Besseren) zusammensetzt, bedeutet das Streben nach ständi‐
ger, systematischer und schrittweiser Verbesserung.

218
4.1
Das Benchmarking-Konzept

verschiedenen Branchen sucht, haben nicht‐monetäre Kennzahlen (z. B. Qualität,


Zeit etc.) große Bedeutung. Diese nicht‐monetären Kennzahlen erlauben eine
konkrete Beschreibung der Ursachen für die festgestellten Unterschiede und sind
somit charakteristisch für die qualitative Dimension des Benchmarking.

Neben dem Mess‐ bzw. Positionierungsaspekt dominiert beim Benchmarking der


Lernaspekt, d. h. die Identifikation und das Verständnis der Ursachen für bessere
Parameter, um somit ganz bewusst das unternehmensinterne Wissen zu erweitern. Ein
weiteres Unterscheidungsmerkmal ist auch in der Systematik der Durchführung zu
sehen. Insbesondere gewährleisten die Kontinuität, der direkte Kontakt und der Vor‐
Ort‐Besuch beim Benchmarking‐Partner eine höhere Qualität.

Tabelle 4‐1 fasst die Hauptunterschiede der angesprochenen Managementmethoden


nochmals kurz zusammen.

Tabelle 4‐1 Benchmarking-Abgrenzungen

Vergleichs‐ Vergleichs‐
Ziel Gegenstand Quellen
horizont merkmale
extern, montetär,
Markt‐ Märkte, Markt,
branchen‐ nicht‐ Kunden
forschung Marktsegmente Kundenbedürfnisse
beschränkt monetär
extern, montetär, Analy‐
Wettbewerbs‐ Strategien der
Produkte, Strategien branchen‐ nicht‐ sten,
analyse Wettbewerber
beschränkt monetär Berater
Reverse extern,
Produkt‐ Wettbe‐
Product Produkte branchen‐ montetär
komponenten werber
Engineering beschränkt
Produkte, Dienst‐
nicht wert‐ montetär,
leistungen, Mitar‐
Kaizen schöpfende intern nicht‐
Prozesse, beiter
Tätigkeiten monetär
Resourcen
extern,
Betriebs‐ Wettbe‐
Betriebe Funktionsbereiche branchen‐ montetär
vergleich werber
beschränkt
Produkte, Dienst‐
leistungen, monetär,
Bench‐ Weltklasse‐ intern, extern unbe‐
Prozesse, nicht‐
marking standards unbeschränkt schränkt
Ressourchen, Strate‐ monetär
gien

219
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.1.4 Gründe für Benchmarking
Die Anstrengungen vieler Unternehmen zur Steigerung der Effizienz beruhen oft auf
dem Vergleich der Leistung einzelner interner Bereiche sowie der Gesamtleistung.
Diese nach innen gerichtete Sichtweise neigt dazu, Gefühle der Überlegenheit zu ver‐
stärken und das sogenannte „not‐invented‐here‐Syndrom323“ zu fördern. Darüber
hinaus schirmen sich diejenigen Unternehmen, die ihre Kosten intern weiterbelasten,
von der Konkurrenz ab. Mit Benchmarking, das die fortlaufende Überprüfung und
Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit zum Ziel hat, steht ein Weg offen, die
angesprochenen Nachteile zu überwinden. Dies wird dadurch erreicht, dass jeder
Unternehmensbereich ständig gezwungen wird, seine eigene Leistungsfähigkeit durch
das Vergleichen und Messen mit externen Standards immer wieder unter Beweis zu
stellen. In einer Zeit des immer rascheren Wandels, des immer härteren globalen Wett‐
bewerbs und der sinkenden Toleranz für Ineffektivität und Ineffizienz ist Benchmar‐
king auf jeder Unternehmensebene eine notwendige und keine fakultative Aufgabe.

Die Leistung muss am grundsätzlichen Zweck jeder unternehmerischen Tätigkeit


gemessen werden, nämlich dem Schaffen eines Kundennutzens, der größer ist als die
dafür anfallenden Kosten324. Unternehmerische Leistung und deren Steigerung basiert
somit implizit auf zwei Komponenten. Einerseits gilt es, den Kundennutzen als Quoti‐
ent aus Qualität und Preis zu steigern, und andererseits muss auch die Produktivität,
definiert als Verhältnis von Produktionsmenge und Ressourceneinsatz, erhöht werden.
Leistung, definiert als Verhältnis von Kundennutzen und Produktivität ist, unter Be‐
achtung der bestehenden Abhängigkeiten und Interdependenzen zwischen diesen
beiden Komponenten, zum Leitbild für unternehmerischen Erfolg geworden. Bench‐
marking signalisiert die Bereitschaft der Unternehmensführung zu einer Einstellung,
die proaktiv statt reaktiv mit Veränderungen umgeht. Nur ein nach außen gerichteter
Blick stellt sicher, dass die Kundenanforderungen bestimmt und auf der Basis der
besten Industriepraktiken realisiert werden. Benchmarking erfordert die aktive Mitar‐
beit aller Betroffenen und fördert somit eine Teamarbeit, die auf den Notwendigkeiten
des Wettbewerbs beruht. Mitarbeiter die motiviert sind, werden mit sehr viel mehr
Engagement ihre Aufgaben erledigen und somit zu steigender Produktivität und hö‐
herem Kundennutzen beitragen.

Ein großer Vorteil des Benchmarkings ergibt sich aus der Tatsache, dass es auch in
Bereichen angewendet werden kann, die aufgrund einer fehlenden Markt‐ und Wett‐
bewerbsnähe nicht den Kräften der Marktwirtschaft ausgesetzt sind. Beispielsweise
können bei Unternehmenseinheiten, die ihre Leistungen für andere Abteilungen er‐
bringen und deshalb nicht direkt am Markt operieren, durch Benchmarking leistungs‐
steigernde Effekte ausgelöst werden. Ein Unternehmen sollte Benchmarking durch‐
führen, um in einer globalen Wirtschaft zu überleben, zu florieren und um eine Kon‐

323 Hierunter wird das Phänomen der Ablehnung externer Entwicklungen durch Mitarbeiter
eines Unternehmens verstanden.
324 Vgl. KARLÖF/ÖSTBLOM (1994, S. 3).

220
4.1
Das Benchmarking-Konzept

kurrenzfähigkeit von Weltklasse zu erreichen. Vor dem Hintergrund der Leistungs‐


steigerung im Wettbewerb sprechen auf einer eher untergeordneten Ebene folgende
Gründe für Benchmarking.

 Mit Benchmarking wird ein Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das für die
Prognose wirtschaftlicher Entwicklungen hervorragend geeignet ist. Benchmar‐
king‐Informationen beinhalten oftmals wertvolle Hinweise auf zukünftige Ände‐
rungen des Marktes und der Marktpotenziale. Da die Klassenbesten häufig eine
Vorreiterrolle auf bestimmten Märkten spielen, ermöglicht ihre Auswahl als Bench‐
marking‐Partner nicht selten eine gute Prognose dessen, was das eigene Unter‐
nehmen leisten muss, um im Wettbewerb bestehen zu können. Durch die Kenntnis
möglicher zukünftiger Marktpotenziale leistet Benchmarking auch einen wichtigen
Beitrag zur strategischen Planung. Um die eigene Leistungsfähigkeit langfristig zu
sichern und zu steigern, bedarf es einer strategischen Planung, die auf realistischen
Zukunftserwartungen aufbaut. Voraussetzungen für die strategische Planung sind
umfassende Kenntnisse über den Markt, die Konkurrenten und den Kundenstamm
sowie über die besten verwendeten Praktiken. Diese Informationen können durch
Benchmarking zugänglich gemacht werden, um mit ihrer Hilfe Unternehmensstra‐
tegien in realistische Richtungen zu steuern oder zumindest Risiken einer Ge‐
schäftstätigkeit in bestimmten Märkten zu identifizieren.

 Benchmarking ist eine Alternative zum traditionellen Vorgehen, Ziele und Vorga‐
ben zu setzen. Im Gegensatz zur Fortschreibung vergangener Trends und Prakti‐
ken erzwingt Benchmarking regelmäßig den Fokus auf das externe Umfeld. Durch
die Konzentration auf die Klassenbesten wird einerseits eine glaubwürdige Basis
für Ziele geschaffen und andererseits der Zielsetzungsprozess ständig neu vali‐
diert. Von den Klassenbesten können quantifizierbare Leistungsziele für Produkte,
Prozesse, Ressourcen und Strategien gewonnen werden. Als Ergebnis des Bench‐
marking erhält man jedoch nicht nur Zielvorgaben, sondern auch konkrete Hin‐
weise, wie diese realisiert werden können. Klare und überzeugende Zielvorgaben
sowie das schlagkräftige Argument, dass diese von anderen Unternehmen bereits
erreicht werden, wirken motivationsfördernd auf die eigenen Mitarbeiter und un‐
terstützen somit auch die praktische Umsetzung.

 Die bei den Benchmarking‐Partnern durchgeführten Produkt‐, Prozess‐, Ressour‐


cen‐ oder Strategievergleiche bieten eine gute Gelegenheit für den Transfer neuer
Geschäftsideen. Ein Blick über den eigenen „Tellerrand“ hinaus ermöglicht es, ein‐
gefahrene und verkrustete Strukturen im Unternehmen aufzubrechen, um somit
innovativer und wettbewerbsorientierter aufzutreten. Benchmarking beschränkt
sich jedoch nicht nur auf das Kopieren der Ideen vom Benchmarking‐Partner. Be‐
sonders wertvoll ist die Entwicklung neuer Ideen durch die eigenen Mitarbeiter,
die sich durch die Auseinandersetzung mit dem Benchmarking‐Objekt ergeben.

 Gerade im Umfeld sprunghafter Veränderungen und des immer härteren globalen


Wettbewerbs, der eine Interpolation der Vergangenheit nicht mehr adäquat er‐
scheinen lässt, stellt Benchmarking ein notwendiges Managementwerkzeug dar.

221
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Durch die lernintensive Konfrontation mit der weltweiten Realität und dem Zwang
zur Entscheidung für eine wettbewerbsführende Unternehmensposition, trägt
Benchmarking gerade durch den Einsatz aller Mitarbeiter dazu bei, die Existenz
des Unternehmens für die Zukunft erfolgreich zu sichern.

Benchmarking wird meistens bei Informationsbedürfnissen im Unternehmen durchge‐


führt, die sich aus Projekten oder Problemen ergeben können. Als Auslöser für
Benchmarking‐Projekte können die folgenden Aspekte genannt werden325:

 Qualitätsprogramm

 Kostensenkung

 Verfahrensverbesserungen

 Betriebliche Veränderungen oder neue Ventures

 Überprüfung gegenwärtiger Strategien

 Krisen und Konkurrenzdruck

4.1.5 Ziele des Logistik-Benchmarking


Für den Aufbau postfordistischer Unternehmensstrukturen326 – gekennzeichnet durch
hohe Flexibilitäts‐ und Innovationsfähigkeit – stellt die Logistik als Bindeglied
zwischen Lieferanten, Kunden und Fertigungsstätten eine unabdingbare Voraus‐
setzung dar. Die postfordistische Flexibilität wird im Wesentlichen erst durch
Veränderungen im Mitarbeiterpotenzial, in den internen Strukturen der Arbeits‐
organisation sowie in den Beziehungen zu Lieferanten, Kunden und Vertriebspart‐
nern realisiert. Mit zunehmender Konzentration auf Kernkompetenzen und einer
Reduzierung der Fertigungstiefen steigen die Anforderungen an die zeitliche Ab‐
stimmung der Aktivitäten des Wertschöpfungsprozesses. Damit rückt die Logistik
verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses, die jedoch unter den komplexen Bedin‐
gungen des Wettbewerbs nicht zentral zu organisieren ist. Für die Erfüllung dieser
komplexen Integrationsanforderungen müssen die Voraussetzungen für die Gene‐
rierung logistischen Wissens, seine Anwendung und Weitergabe in der gesamten
Wertschöpfungskette grundsätzlich gegeben sein. Benchmarking, als Baustein einer
lernenden Organisation, entdeckt und fördert die Problemlösungsfähigkeit der Mitar‐
beiter. Logistik‐Benchmarking kann somit definiert wie folgt definiert werden:

325 Vgl. LEIBFRIED/MCNAIR (1993, S. 42).


326 Postfordistische Unternehmen sind charakterisiert durch einen verstärkten Einsatz neuer
Technologien, eine geringere Fertigungstiefe, nach Kundenwünschen individuell gestaltete
Produkte und das Entstehen von Kooperationen.

222
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Logistik-Benchmarking ist der systematische Prozess der Erhebung und Analyse von Logistik-
daten zur exakten Beschreibung und Erklärung der Stärken und Schwächen der eigenen
Logistik durch Vergleiche mit möglichst leistungsstarker Logistik bzw. leistungsstarken
Logistikbereichen anderer Unternehmen, um Ziele und Maßnahmen zur nachhaltigen Ver-
besserung der eigenen Logistik realisieren zu können327.

Für den Aufbau und den Ausbau nachhaltig wirksamer logistischer Erfolgspotenziale
orientiert sich das Erfolgstripel der Logistik, bestehend aus Wirtschaftlichkeit,
Kundenzufriedenheit und Zukunftssicherung, an internen und externen Erfolgspo‐
tenzialen unter Berücksichtigung ihrer Interdependenzen. Ausgehend von dem logis‐
tischen Erfolgstripel können die Ziele des Logistik‐Benchmarking wie folgt definiert
werden:

 Transparenz der eigenen Logistikprozesse

 Kritische Auseinandersetzung mit der Dynamik und dem Fortschritt der Logistik –
Objektivierung der eigenen Stärken und Schwächen

 Quantifizierung der Logistikleistungslücken zum internationalen Spitzenniveau

 Kontinuierliche Verbesserung durch ständiges Hinterfragen und Aufbrechen tradi‐


tioneller Logistikprozesse

 Umfassende Marktorientierung

 Verbreitung und Nutzung des Marktwissens im Unternehmen

 Formulierung neuer Logistikziele auf der Basis realistischer „best practices“

Die Logistik ist als zentrale betriebliche Querschnittsfunktion für das Benchmarking
prädestiniert, wobei eine prozessorientierte Betrachtung und die Berücksichtigung
von Integrationsaspekten vielversprechend zu sein scheint. Ein wesentlicher Vorteil
des Bereichs Logistik ist, dass bei der Auswahl geeigneter Benchmarking‐Partner keine
Produkt‐ oder Branchengleichheit erforderlich ist. Eine Strukturgleichheit, die
beispielsweise in einer ähnlichen Kundenstruktur, einer Produktähnlichkeit bezüglich
kosten‐ und leistungsrelevanter Größen oder einer Ähnlichkeit der Warenbezugs‐
struktur zum Ausdruck kommt, ist ausreichend. Gerade für den Funktionsbereich
Logistik ist es sehr wahrscheinlich, dass branchenfremde Unternehmen geeignete
Benchmarking‐Partner darstellen. In Frage kommen vor allem jene Unternehmen, die
Logistikprozesse als Gegenstand der Geschäftstätigkeit, als Existenzgrundlage oder als
Hauptprozess betreiben.

Folgende zwei erfolgreich durchgeführte Benchmarking‐Studien im Bereich der Be‐


schaffungs‐ und Distributionslogistik sollen exemplarisch belegen, dass das Loslösen
von der Branchenfokussierung zum Auffinden eines idealen, strukturähnlichen Bench‐
marking‐Partners führen kann.

327 Vgl. WILD (1995, S. 83).

223
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
 Die Porsche AG, die bezüglich der Struktur einen Klein‐ bis Mittelserienhersteller
darstellt, wählte als Benchmarking‐Objekt den Bereich der Beschaffungslogistik,
insbesondere den Lieferservice, die Lieferantenstruktur sowie die Disposition und
Steuerung328. Die branchenorientierte Sichtweise bei der Suche nach einem
potenziellen Benchmarking‐Partner führte zwangsläufig zu Großserienherstellern,
die sich jedoch strukturell wesentlich von der Porsche AG unterschieden. Erst eine
Loslösung von der gedanklichen Fixierung auf die Automobilbranche führte zu
einem Landmaschinenhersteller als idealen Benchmarking‐Partner, der hinsichtlich
der strukturellen Merkmale produzierte Stückzahl, Variantenvielfalt, Lieferanten‐
struktur und Marktpositionierung große Ähnlichkeiten zur Porsche AG aufwies.

 Die Bosch‐Siemens Hausgeräte GmbH (BSHG) suchte nach einem geeigneten


Benchmarking‐Partner, um ihre Lieferzeit zu verbessern329. Als Vergleichspartner
sollte ein Unternehmen ausgewählt werden, das den Lieferservice besonders
perfektioniert hat. Für die Auswahl geeigneter Partner bot sich die Nahrungs‐
mittelbranche an, da dort wegen der Verderblichkeit der Waren wesentlich höhere
Anforderungen an die Lieferzeit gestellt werden. Die Vergleichbarkeit der BSHG
mit dem ausgewählten Nahrungsmittelhersteller wurde unter anderem durch eine
hohe Ähnlichkeit bei folgenden strukturellen Merkmalen begünstigt:

 Beide Unternehmen beliefern den Handel und weisen somit ähnliche flächen‐
deckende Lieferstrukturen auf.

 Beide Unternehmen unterhalten eine ähnliche mehrstufige Warenverteilungs‐


struktur über Lager und Umschlagpunkte.

 Die Hausgeräte und die Paletten mit den Nahrungsmitteln weisen ein
vergleichbares Warengewicht pro m3 und einen vergleichbaren Warenwert je
Volumeneinheit auf.

Diese zwei erfolgreich durchgeführten Benchmarking‐Projekte verdeutlichen, dass


gerade branchenfremde exzellente Unternehmen als Vergleichspartner die Chance
bieten, Verbesserungen in Quantensprüngen zu erreichen. Die Auseinandersetzung
mit exzellenter Leistung eines branchenfremden Unternehmens fördert Innovation
und Flexibilität im Denken. Darüber hinaus ist mit branchenfremden Unternehmen im
Vergleich zu Konkurrenten eher ein offener Informationsaustausch gewährleistet.

Grundlage eines Benchmarking‐Projektes ist eine Festlegung der Ziele, die mit Hilfe
eines Benchmarking erreicht werden sollen. Um die Leistungsfähigkeit des Unter‐
nehmens wesentlich zu steigern, können als zielrelevante Erfolgsgrößen eine Redukti‐
on der Kosten oder eine Erhöhung der Qualität oder Flexibilität sowie eine Verbesse‐
rung von Zeitgrößen herangezogen werden. Gleichzeitig können das gesamte Unter‐
nehmen oder Teilbereiche Gegenstand des Projektes sein, wobei sich die Analyse
entweder auf eine aggregierte Gesamtebene beschränkt oder in die Tiefe geht. Unter

328 Vgl. KLINKNER (1994).


329 Vgl. WILD (1995, S. 90ff).

224
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Berücksichtigung dieser Möglichkeiten werden in der Literatur verschiedene Bench‐


marking‐Arten definiert, die sich aus der Betonung der in Abbildung 4‐1 angegebenen
Kriterien ergeben.

Bei der am häufigsten vorgenommenen Differenzierung gemäß dem Benchmarking‐


Partner unterscheidet man zwischen internem und externem Benchmarking. Das ex‐
terne Benchmarking kann mit Unternehmen außerhalb der eigenen Branche oder mit
Konkurrenten durchgeführt werden. Während das wettbewerbsorientierte Benchmar‐
king immer externes Benchmarking darstellt, gilt dies für das funktionale Benchmar‐
king nur teilweise. Das Attribut „funktional“ wird verwendet, um bei dieser Bench‐
marking‐Art bereits auf das Benchmarking‐Objekt zu verweisen. Hier stehen Prozesse
und Funktionen im Vordergrund, sodass diese Benchmarking‐Art nach außen aber
auch nach innen gerichtet sein kann. Generisches Benchmarking bezieht sich auf Ge‐
schäftsbereiche und Prozesse, die unabhängig von der Branche gleich sind.

Abbildung 4‐1 Benchmarking-Arten

wettbewerbsorientiert
extern funktional
generisch
unternehmensintern
intern
konzernintern

Kriterium:
Vergleichspartner

Kriterium: Kriterium:
Zielkategorie Benchmarking Vergleichsfokus

Kosten direkt
Qualität Kriterium: indirekt
Objekt
Zeit
Flexibilität Prozesse/Funktionen
Produkte/Dienstleistungen
Strategie
Ressourcen

Bezüglich der Differenzierung hinsichtlich des Vergleichsfokus ist zwischen dem di‐
rekten und dem indirekten Benchmarking zu unterscheiden. Das direkte Benchmar‐
king zeichnet sich durch den direkten Kontakt und das in der Regel vertrauensvolle
Verhältnis der Benchmarking‐Partner aus. Demgegenüber eröffnet das indirekte
Benchmarking die Möglichkeit, Beratungsunternehmen oder Institute, die Benchmar‐
king als Dienstleistung anbieten, als dritte Partei (Clearing‐Stelle) mit der Durchfüh‐
rung der Benchmarking–Studie zu beauftragen, um die Anonymität und Vertraulich‐
keit zu gewährleisten.

225
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Alles, was in einem Unternehmen oder einer Organisation beobachtbar und messbar
ist, kann einem Benchmarking‐Projekt unterzogen werden, wobei der Detaillierungs‐
grad und die Tiefe der Analyse unterschiedlich sein können. Das Spektrum der
Benchmarks kann dabei von relativ einfach beschaffbaren Informationen, wie z. B.
Preisen, Umsatz pro Mitarbeiter oder Lieferzeiten, bis zu Messgrößen reichen, die erst
nach umfangreichen Analyseprozessen gewonnen werden können. Zu den komplexe‐
ren Benchmarks zählen beispielsweise Fehlerquoten oder die sich aufgrund von Ab‐
grenzungsproblemen ergebenden Schwierigkeiten bei verschiedenen Kostengrößen.
Die Ziele des Benchmarking erfordern jedoch stets eine prozessorientierte Betrach‐
tungsweise der Wertschöpfungskette, um so die Erwartungen der Kunden effizient
und effektiv erfüllen zu können. Bei der Auswahl der Benchmarking‐Objekte sollten
potenzialträchtige Hauptprozesse bzw. Produkte des Unternehmens stehen. Prinzipi‐
ell können Strategien, Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Funktionen oder Res‐
sourcen Gegenstand des Benchmarking sein.

4.1.5.1 Typisierung nach Vergleichspartnern

a) Internes Benchmarking

Beim internen Benchmarking werden die Benchmarking‐Objekte mit ähnlichen


bzw. gleichartigen Benchmarking‐Objekten innerhalb eines Unternehmens oder
mit assoziierten Unternehmen verglichen. Diese Benchmarking‐Art ist deshalb für
größere internationale und dezentral organisierte Unternehmen mit einem breiten
Produkt‐ und Leistungsspektrum sowie vergleichbaren autarken Strukturen ge‐
eignet. Aber auch kleinere Unternehmen mit Niederlassungen und Filialstruktur
sind prädestiniert, da oft an zwei und mehr Stellen die gleiche Arbeit getan wird.
Für signifikante Unterschiede in der Effektivität und Effizienz von Arbeitsprozes‐
sen können vor allem geografische oder entwicklungsgeschichtliche Gründe oder
unterschiedliche Mentalitäten und Motivationen der Mitarbeiter angeführt wer‐
den. Neben der Steigerung der Unternehmensgesamtleistung hat internes
Benchmarking zusätzlich den Effekt, dass extreme Schwankungen zwischen den
einzelnen, parallel operierenden Geschäftsbereichen ausgeglichen werden und
sich auf einem höheren Leistungsniveau einpendeln330.

Die Durchführung interner Benchmarking‐Studien eignet sich hervorragend, um


sich im Unternehmen einerseits mit dem Instrument Benchmarking vertraut zu
machen und andererseits einen Wandel im Denken anzuregen. Wesentlicher Vor‐
teil ist die relativ unproblematische Informationsbeschaffung beim Benchmar‐
king‐Partner, da Vertraulichkeitsprobleme nicht existieren sollten. Außerdem
kann der Vergleich mit hoher Präzision vorgenommen werden, da alle relevanten
Daten im eigenen Unternehmen verfügbar sind. Soweit in diversifizierten Unter‐
nehmen wirkliche Spitzenleistungen vorkommen, können mit internem Bench‐

330 Vgl. KARLÖF/ÖSTBLOM (1994, S. 63).

226
4.1
Das Benchmarking-Konzept

marking meist relativ schnell substantielle Verbesserungen vorgenommen wer‐


den.

Ein Nachteil der rein internen Sichtweise stellt das begrenzte Blickfeld für Verbes‐
serungspotenziale dar, falls keine Spitzenleistungen im Unternehmen vorkom‐
men. Innerbetriebliche, dezentrale Unternehmenseinheiten, die auf den ersten
Blick eine hohe Ähnlichkeit aufweisen, können in der betrieblichen Realität be‐
züglich ihrer grundlegenden Arbeitsinhalte und Informationssysteme starke Un‐
terschiede aufweisen, die eine erfolgreiche Umsetzung erschweren können331. Un‐
ternehmen, die das Instrument Benchmarking einsetzen, beginnen in der Regel
mit einem internen Benchmarking‐Projekt, falls das Benchmarking‐Objekt inner‐
halb des Unternehmens mehr als einmal vorkommt. Die aus einem internen Pro‐
jekt gewonnenen Erkenntnisse können als Grundlagen für die folgenden, weiter‐
führenden Benchmarking‐Arten gesehen werden, die eine externe Sichtweise ein‐
schließen.

b) Wettbewerbsorientiertes Benchmarking

Im Rahmen des wettbewerbsorientierten Benchmarking konzentrieren sich der


Vergleich und die Analyse auf direkte Konkurrenten. Unabhängig von der Wahl
des Benchmarking‐Objekts sollte nach Möglichkeit der stärkste Wettbewerber als
Benchmarking‐Partner herangezogen werden, um ein großes Verbesserungspo‐
tenzial zu gewährleisten. Selbst wenn der ausgewählte stärkste Wettbewerber
keine Spitzenleistung hinsichtlich des Benchmarking‐Objekts vorweisen kann,
können die gewonnenen Informationen trotzdem wertvoll sein, beispielsweise um
Transparenz über die eigene Position im Wettbewerb zu schaffen. In diesem Zu‐
sammenhang ist es auch sinnvoll, eine gleichzeitige Beobachtung des Käufer‐
marktes vorzunehmen. Nur so gelingt es, ein Verständnis dafür zu bekommen,
was die Konkurrenten tun und was der Kunde will, um die eigene Wettbewerbs‐
strategie festzulegen.

Beim wettbewerbsorientierten Benchmarking ist zu beachten, dass die Vergleich‐


barkeit der zu untersuchenden Objekte gewährleistet ist, damit eine tiefer gehen‐
de Analyse überhaupt sinnvoll ist. In der Regel werden die Konkurrenzprodukte
ähnliche Merkmale aufweisen und deshalb ähnliche Anforderungen an die Un‐
ternehmensprozesse stellen. Die Vergleichbarkeit kann aber ein Problem darstel‐
len, wenn in den zu untersuchenden Funktionen unterschiedliche Größenord‐
nungen zwischen den Wettbewerbern vorliegen.

Neben der Sicherstellung der Vergleichbarkeit der Objekte muss auch das nicht
unerhebliche Problem des Informationsaustausches mit dem Konkurrenten richtig
angegangen werden. Es gilt dabei stets das Grundprinzip, diejenigen Unterneh‐
men, mit denen ein Benchmarking angestrebt wird, als echte Partner zu betrach‐
ten. Erfolgversprechend ist hierbei eine offene und ehrliche Kooperation mit dem

331 Vgl. KARLÖF/ÖSTBLOM (1994, S. 123).

227
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Konkurrenten. Nur mit der Bereitschaft, ebenfalls interne Informationen preiszu‐
geben, wird man vom Konkurrenten Interna erfahren, die in eine Steigerung der
eigenen Leistung umzusetzen sind. Beiden Parteien muss bewusst sein, dass die
Analysen schwerpunktmäßig auf „best practices“ ausgerichtet sind – also der
Wunsch nach einem strukturierten Vergleich von Methoden, Verfahren und Pro‐
zessen besteht – und nicht auf strategischen Themen332. Zur Vermeidung von
wettbewerbsrechtlichen Problemen empfiehlt es sich, Wettbewerbs‐Benchmarking
indirekt durchzuführen.

Prinzipiell muss die häufig noch vorhandene psychologische Barriere, Konkurren‐


ten bezüglich eines Informationsaustausches anzusprechen, sich ihm zu stellen
und mit ihm zu kommunizieren, überwunden werden. Beginnt man wettbe‐
werbsorientiertes Benchmarking mit Objekten, die sich am Rande des eigentlichen
Kerngeschäftes befinden (z. B. Materialeinkauf, Absatzwege), dann können durch
gemeinsame Interessen diese Barrieren abgebaut werden. In der Regel wird kein
Unternehmen annehmen, dass es die eigenen Prozesse bereits optimal gestaltet
hat. Ein Unternehmen, welches sich benchmarken möchte, hat sich mit dem
Benchmarking‐Objekt in der Regel bereits sehr intensiv auseinandergesetzt. Die
daraus resultierenden Fragestellungen werden auch beim Vergleichsunternehmen
ein Nachdenken und ein weiteres Verständnis über deren eigene Praktiken her‐
vorrufen und zu weiteren Verbesserungen anregen.

Neben einer Positionierung im Markt bietet wettbewerbsorientiertes Benchmar‐


king bei umsichtiger Durchführung auch das Potenzial zu einer kontinuierlichen
Verbesserung. Es empfiehlt sich allerdings nicht, alle Prozesse, Verfahren und Me‐
thoden des Konkurrenten zu kopieren, denn damit werden keine Maßnahmen ge‐
funden, den Konkurrenten zu überflügeln, sondern höchstens mit ihm gleichzu‐
ziehen. Auch sollte stets der Kunde und der Kundennutzen bei allen Überlegun‐
gen miteinbezogen werden, da ein alleiniges Kopieren des Konkurrenten typische
unternehmenseigene Leistungen zerstören kann, die von bestimmten Kunden ver‐
langt und auch speziell honoriert werden.

c) Funktionales und generisches Benchmarking

Beim funktionalen Benchmarking erfolgt ein Vergleich mit Unternehmen, die für
bestimmte funktionale Bereiche wie z. B. Logistik, Entwicklung, etc. – unabhängig
von der Branchenzugehörigkeit – absolute Spitzenleistungen erbringen. Diese
funktionalen Bereiche stellen für die ausgewählten Unternehmen eine Kernkom‐
petenz dar. Während beim funktionalen Benchmarking funktionsgleiche Prozesse
verglichen werden, werden beim generischen Benchmarking keine Grenzen durch
Funktionen gesetzt. Generisches Benchmarking liegt schließlich vor, wenn ganze
unternehmensübergreifende Geschäftsprozesse, über die alle Branchen gleicher‐
maßen verfügen, mit den hierbei führenden Unternehmen Gegenstand des

332 Vgl. CAMP (1994, S. 79).

228
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Benchmarking sind. Als Beispiel für generisches Benchmarking wird in der Litera‐
tur der Vergleich der Bodenzeiten der Flugzeuge von South‐West Airlines (Aus‐
stieg von Passagieren, Auftanken, usw.) mit den Boxenstopps bei Formel 1‐
Rennen angeführt333. Die Trennung zwischen funktionalem und generischem
Benchmarking erfolgt in der Literatur jedoch nicht eindeutig.

Unternehmen und Organisationen, die große Erfahrungen mit Benchmarking ha‐


ben, betrachten das funktionale und generische Benchmarking als den „Kern und
die Quintessenz des Benchmarking“ und sehen in ihm das größte Verbesserungs‐
potenzial. Obwohl das interne als auch das wettbewerbsorientierte Benchmarking
Möglichkeiten zu substantiellen und nachhaltigen Leistungssteigerungen besit‐
zen, kann lediglich das funktionale bzw. generische Benchmarking die volle Wir‐
kungskraft dieses Instrumentariums entfalten.

Ein großer Vorteil des funktionalen bzw. generischen Benchmarking ist darin zu
sehen, dass Lösungsmöglichkeiten aus anderen Branchen bereitwilliger akzeptiert
werden, als solche aus der eigenen Branche. Der Grund dafür liegt darin, dass die
Fixierung auf das Produkt entfällt und somit von Anfang an die Methoden und
Praktiken auf einer objektiveren Basis angegangen werden334. Da bei branchen‐
fremden Unternehmen der Stellenwert des Benchmarking‐Objekts durch Markt‐
und Kundenanforderungen diktiert wird, verfügen sie zwangsläufig über die
notwendige Professionalität. Es gibt auch weniger Probleme mit der Vertraulich‐
keit von Informationen und Daten. Funktionales bzw. generisches Benchmarking
eröffnet ein hohes Potenzial an übertragbaren, innovativen Lösungen und führt
zu einer Vergrößerung des Ideenspektrums der eigenen Mitarbeiter. Aus diesem
Grund erfordert es aber eine hohe Auffassungsfähigkeit, ein genaues sowie abs‐
traktes Verständnis des allgemeinen Prozesses und ein hohes Maß an Kreativität,
um die Erkenntnisse aus der oft zeitaufwändigen und langwierigen Analyse des
Partners in das eigene Unternehmen zu transformieren.
In der Tabelle 4‐2 sind abschließend die oben vorgestellten Benchmarking‐Arten mit
ihren Vor‐ und Nachteilen zusammengefasst.

333 Vgl. LUCZAK ET AL. (2003, S. 9).


334 Vgl. CAMP (1994, S. 80).

229
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Tabelle 4‐2 Vergleich ausgewählter Benchmarking-Arten

Typ Definition Vorteile Nachteile


Vergleich und Analyse ‐ Datenerfasssung ‐ begrenzter Blick‐
ähnlicher Tätigkeiten relativ einfach winkel
Internes
oder Funktionen inner‐ ‐ gute Ergebnisse für ‐ interne Vorurteile
Bench‐
halb eines Unternehmens diversifizierte, heraus‐
marking
oder mit assoziierten ragende Unternehmen
Unternehmen.
Konzentriert sich auf den ‐ geschäftsrelevante ‐ schwierige Daten‐
Vergleich und die Analy‐ Informationen erfassung
Wettbewerbs‐
se der Produkte, Dienst‐ ‐ vergleichbare Produkte, ‐ branchenorientierte
orientiertes
leistungen, Prozesse und Prozesse Sichtweise
Bench‐
Methoden bei direkten ‐ eigene Positionierung ‐ Gefahr der Adaption
marking
Wettbewerbern. im Wettbewerb nicht optimaler
Praktiken
Vergleich ähnlicher Funk‐ ‐ höchstes Potenzial zum ‐ zeitaufwändige
tionen bzw. Geschäftsbe‐ Finden innovativer Lö‐ Analyse
reiche und Prozesse, die sungen ‐ evtl. schwierige
Funktionales/ unabhängig von der ‐ Erweiterung des Ideen‐ Transformation der
Generisches Branche gleich sind zwi‐ spektrum Praktiken in das
Bench‐ schen Organisationen, die ‐ bereitwillige Akzeptanz eigene Unternehmen
marking in keinem Wettbewerbs‐ von Lösungsmöglich‐
verhältnis stehen. keiten
‐ Zugang zu entsprechen‐
den Datenbanken

4.1.5.2 Typisierung nach dem Benchmarking-Objekt

a) Unternehmensstrategie

Wird Benchmarking auf einer übergeordneten Ebene durchgeführt, dann wird die
eigene Unternehmensstrategie mit derjenigen von Konkurrenten oder Unterneh‐
men mit Spitzenleistungen verglichen. Ein Benchmarking von Strategien, ein so‐
genanntes Makro‐Benchmarking, sollte vor allem dann eingesetzt werden, wenn
komplexe Veränderungen geplant sind, die das gesamte Unternehmen betreffen.
Bei strategischen Fragen besteht das Ziel in der Identifikation derjenigen Fakto‐
ren, die von entscheidender Bedeutung für Wettbewerbsvorteile sind und die De‐
finition von Messkriterien, die diese Faktoren erfassen. Lösungsansätze für die
Messbarkeit der kritischen Erfolgsfaktoren kann beispielsweise das seit den sieb‐
ziger Jahren durchgeführte PIMS (Profit Impact of Market Strategy)‐Programm
liefern. Makro‐Benchmarking ersetzt jedoch in vielen Fällen nicht die genaue Ana‐
lyse von Prozessen, Produkten, Dienstleistungen und Ressourcen, die einer Un‐
ternehmensstrategie zu Grunde liegen.

230
4.1
Das Benchmarking-Konzept

b) Produkte und Dienstleistungen

Aus den in der Literatur angegebenen Benchmarking‐Projekten geht hervor, dass


einzelne Produkte oder Dienstleistungen diejenigen Objekte bilden, auf die sich
Unternehmen bei Benchmarking‐Projekten am meisten konzentriert haben.
Grundsätzlich werden dabei die eigenen Produkte und Dienstleistungen denjeni‐
gen des Wettbewerbs gegenübergestellt. Analog zur Vorgehensweise des Reverse
Product Engineering werden die Produkte zunächst in einzelne Komponenten
zerlegt, um Differenzen im Funktionsumfang sowie in der Verschiedenartigkeit
technischer Lösungen zu ermitteln.

c) Prozesse und Funktionen

Die Analyse von Prozessen und Funktionen stellt im Grunde den Kern des
Benchmarking‐Ansatzes dar. Das Problem, wie Spitzenleistungen für Produkte
und Dienstleistungen erreicht werden können, wird erst hier angegangen. Im ei‐
genen Unternehmen wird die Frage nach der Effizienz von Prozessen und Funk‐
tionen gestellt. Beim Benchmarking‐Partner erfolgt dann eine genaue Analyse der
ausgewählten Prozesse und Funktionen, um daraus Zielvorgaben für das eigene
Unternehmen abzuleiten. Das ausgewählte Unternehmen sollte die betrachteten
Prozesse und Funktionen besonders perfektioniert haben. Gerade die Auseinan‐
dersetzung mit exzellenter Leistung eines branchenfremden Unternehmens för‐
dert Innovation und Flexibilität im Denken.

Betriebliche Prozesse und Funktionen können in Arbeitsprozesse und Support‐


funktionen unterschieden werden. Bei Arbeitsprozessen werden Methoden und
Verfahren analysiert, die in einem direkten Zusammenhang mit der Erstellung
von Produkten und Dienstleistungen stehen, um Entwicklungsprozesse zu ver‐
stehen. Die Betrachtung richtet sich vor allem auf Methoden und Praktiken die
entlang der Wertschöpfungskette vollzogen werden, d. h. Forschung und Ent‐
wicklung, Beschaffung, Produktion sowie Distribution und After Sales Services.
Werden Arbeitsprozesse als Benchmarking‐Objekte betrachtet, dann ist die Blick‐
richtung auf den externen Kunden gerichtet und es wird nach Spitzenleistungen
entlang der Wertschöpfungskette gesucht.

Bei der Analyse von Supportfunktionen geht es um Benchmarking von Verfahren


und Funktionen, die mit der Herstellung des Produktes oder der Dienstleistung
nur indirekt zusammenhängen. Benchmarking‐Projekte beschäftigen sich hier vor
allem mit Bereichen, die interne Servicefunktionen erfüllen. Zu diesen Funktionen
gehören beispielsweise Tätigkeiten des Finanz‐ und Personalbereichs. Es stehen
hier somit nicht die externen Kunden, sondern die eigenen Mitarbeiter im Mittel‐
punkt. Als Beispiel kann die Ausgestaltung des Entlohnungssystems im Unter‐
nehmen genannt werden. Entsprechende Änderungen können motivationsstei‐
gernde Wirkungen bei den Mitarbeitern auslösen, die zu einer Erhöhung der Un‐
ternehmensleistung führen können.

231
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
d) Ressourcen

Die Zielsetzung bei der Betrachtung von Ressourcen ist die Wettbewerbs‐ und
Leistungsfähigkeit eines Unternehmens im Hinblick auf die zur Verfügung ste‐
henden Potenzialfaktoren, wie beispielsweise Personal, Betriebsmittel oder Kapi‐
tal, zu verbessern. In vielen Unternehmen entsprechen heute Käufe und Bezüge
bereits über die Hälfte der Wertschöpfung und stellen deshalb oftmals den größ‐
ten Kostenblock dar. Geringe prozentuale Verbesserungen, z. B. in Bezug auf Ein‐
kaufspreise oder Qualität, können entscheidende Kostenvorteile bringen.

4.1.6 Phasen des Benchmarking-Zyklus


Benchmarking zur Steigerung der eigenen Leistung durch gezieltes Adaptieren basiert
auf einer strukturierten Vorgehensweise, die in eine Planungs‐, Analyse‐ und Umset‐
zungsphase unterschieden wird. Die kontinuierliche Anwendung dieser drei Phasen
führt zu einem geschlossenen Zyklus, dessen zehn Teilschritte der Abbildung 4‐2 ent‐
nommen werden können.

Abbildung 4‐2 Benchmarking-Zyklus

1. Planung

1. Benchmarking‐Objekt festlegen
2. Benchmarking‐Team bilden
3. Benchmarking‐Partner identifizieren
4. Informationsquellen bestimmen

10. Benchmarks 5. Aktuelle Lei‐


rekalibrieren stungslücke be‐
stimmen
9. Implementie‐
rung, 6. Leistungs‐
Fortschritts‐ lücke verstehen
kontrolle
7. Zukünftiges
8. Ziele, Aktionspläne Leistungsniveau
formulieren prognostizieren
3. Umsetzung 2. Analyse

232
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Diese Teilschritte des Benchmarking‐Zyklus müssen kontinuierlich und systematisch


durchlaufen werden und zwar unabhängig vom gewählten Benchmarking‐Objekt. Ein
Abbruch des Benchmarking‐Zyklus ist beispielsweise dann denkbar, wenn eine weite‐
re Positionsverbesserung unmöglich erscheint.

In der Logistik erscheint ein mehrstufiges Vorgehen, bei dem zunächst die Wertschöp‐
fungskette prozessorientiert analysiert wird und im Anschluss daran detailliertere
Benchmarking‐Aktivitäten stattfinden, sinnvoll. Durch diese Vorgehensweise wird
offensichtlich, wie die eigenen Wertschöpfungsaktivitäten miteinander verknüpft sind
und wie sie durch weitere unternehmerische Aktivitäten unterstützt werden. Insbe‐
sondere in der Logistik zeigt sich, dass die Betrachtung von funktionsübergreifenden
Prozessen in der Regel hilfreicher sein dürfte als die Konzentration auf einzelne Funk‐
tionen, deren isolierte Optimierung nicht selten zu Suboptima führt oder für den Ge‐
samtprozess sogar kontraproduktiv sein kann.

4.1.6.1 Bestimmung des Benchmarking-Objekts


Den Ausgangspunkt in der Planungsphase bildet die Wahl des Objekts, das verglichen
werden soll. Als Benchmarking‐Objekt sollten diejenigen kritischen Erfolgsfaktoren
beachtet werden, die direkt den Kundennutzen und somit die Wettbewerbsposition
beeinflussen. Für die Logistik bieten sich somit Subprozesse als Benchmarking‐Objekt
an, die von besonders strategischer Bedeutung für das Unternehmen sind (sog. poten‐
zialträchtige Kernprozesse), oder bei der die eigene Wettbewerbsfähigkeit verbessert
werden muss. Das Benchmarking‐Objekt muss klar abgegrenzt werden, um den Auf‐
wand abschätzen und eine Abstimmung mit dem Benchmarking‐Partner erzielen zu
können.

SPENDOLINI unterscheidet drei Ebenen kritischer Erfolgsfaktoren335. Die Faktoren der


ersten Ebene sollen sich auf ein breiteres Untersuchungsgebiet beziehen. Für die Lo‐
gistik ist auf dieser Ebene die eigene Leistungstiefe von Bedeutung, d. h. welche
Haupttätigkeiten selbst durchgeführt und welche ausgelagert werden sollen. Auf der
zweiten Ebene werden noch recht allgemeine Faktoren, wie z. B. Lieferzeit, Liefer‐
zuverlässigkeit, Lieferqualität, Lieferbereitschaft und Lieferflexibilität verglichen. Die
dritte Ebene umfasst dann detaillierte Faktoren, die auf spezifische Subprozesse zu‐
rückzuführen sind. Im Detail können auf dieser Ebene für die Logistik beispielsweise
Lagerbestände, Lagerkosten, Umschlaghäufigkeiten, Materialreichweiten, Transport‐
und Handlingkosten sowie technische Einrichtungen verglichen werden.

BOXWELL schlägt zur Identifikation potenzieller Benchmarking‐Objekte eine alternative


Vorgehensweise vor336. Überträgt man seine gesamtunternehmensbezogenen Überle‐
gungen auf den Bereich der Logistik, dann sind zunächst sämtliche Logistikaktivitäten
hinsichtlich ihrer aktuellen Kompetenz gegenüber dem Wettbewerb und hinsichtlich

335 Vgl. SPENDOLINI (1992, S. 72ff).


336 Vgl. BOXWELL (1994, S. 60f).

233
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
ihrer benötigten Kompetenz, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, vom Logistik‐
Management zu beurteilen. Diese Einschätzungen des Managements werden in einer
zweidimensionalen „Competence gap“‐Matrix eingetragen (vgl. Abbildung 4‐3). Als
geeignete Benchmarking‐Objekte kommen nun diejenigen logistischen Faktoren in der
rechten unteren Ecke dieser Matrix in Frage, die eine hohe benötigte Kompetenz zur
Realisierung eines Wettbewerbsvorteils erfordern und bei denen zugleich die aktuelle
logistische Kompetenz niedrig ausgeprägt ist.

Abbildung 4‐3 "Competence gap"-Matrix für die Logistik

hoch Lieferqualität

Informations‐
aktuelle Kompetenz Lieferzeit
bereitschaft
gegenüber
Wettbewerbern
Lieferbereitschaft

Termintreue

niedrig
niedrig hoch
benötigte Kompetenz
für Wettbewerbsvorteil

Als weiteres Auswahlkriterium sollte zusätzlich das geschätzte Verbesserungs‐


potenzial einzelner logistischer Prozesse herangezogen werden. Zur Identifikation
solcher Prozesse bietet sich die Untersuchung des Wertzuwachses von Produkten
entlang der Prozesskette an (vgl. Abbildung 4‐4). Treten hier lange Phasen oder Zeit‐
räume auf, in denen keine Wertzuwächse vorliegen, stellt sich die Frage, ob die dafür
unter Umständen ursächlichen logistischen Prozesse (z. B. transportieren, lagern) nicht
verbessert werden können. Die Abschätzung möglicher Verbesserungspotenziale für
verschiedene Subprozesse kann dabei nicht ohne die gleichzeitige Berücksichtigung
und Beobachtung von „best practices“ möglicher Benchmarking‐Partner erfolgen. Dies
ist ein Indiz für die Tatsache, dass in der Vorbereitungsphase die Auswahl einzelner
Benchmarking‐Objekte, sowie die Identifizierung geeigneter Benchmarking‐Partner
und die Informationsbeschaffung beim ausgewählten Benchmarking‐Partner oft si‐
multan ablaufende Prozesse sind, die in der Praxis nur schwer voneinander getrennt
werden können.

234
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Abbildung 4‐4 Wertzuwachskurve

Kumulierte
Herstellungs‐
kosten

Durchlaufzeit
1 2 3 4 5 6 7 8 9 [Tage]

Vorfertigung Transport Transport Bau‐


(Teile, gruppen‐ Endmon‐
Vormontage Puffer
Komponenten) montage tage
Lagerung Lagerung

Eine sowohl leistungs‐ als auch kostenorientierte Methode, um kritische Leistungs‐


faktoren zu ermitteln, stellen sogenannte Ursache‐Wirkungs‐Diagramme dar337. Aus‐
gehend von konkreten Problemen, Streitfragen oder Herausforderungen für logisti‐
sche Teilbereiche werden hier aus Problembeschreibungen Ursache‐Wirkungs‐
Diagramme entwickelt. Selbst bei recht allgemeinen Aufgabenstellungen, wie z. B.
Logistikkosten senken, lassen sich durch Brainstorming relativ schnell Ursachen, Ein‐
flussfaktoren bzw. logistische Subprozesse identifizieren, die es näher zu untersuchen
gilt. Abbildung 4‐5 zeigt beispielhaft ein Ursache‐Wirkungs‐Diagramm für die Aufga‐
benstellung „Logistikkosten senken“. Bei der Betrachtung der Logistikkosten muss
allerdings beachtet werden, dass sie in den traditionellen Kostenrechnungssystemen in
der Regel nicht ausreichend getrennt erfasst werden und es dadurch häufig zur Ver‐
mischung mit Material‐, Fertigungs‐ und Vertriebskosten kommt338. Um die Kosten‐
wirksamkeit logistischer Prozesse entlang der Logistikkette erkennen zu können,
sollte eine Prozesskostenrechnung339 durchgeführt werden.

337 Vgl. ISHIKAWA (1986, S. 18ff).


338 Vgl. WEBER (2002 S. 71ff).
339 Vgl. Kapitel 3.2.3.

235
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Abbildung 4‐5 Ursache-Wirkungs-Diagramm

Verminderung reduzierte
Lieferantenanzahl Durchlaufzeiten

Verminderung Verbesserung
Variantenvielfalt Umschlagsprozesse

Logistikkosten
gesenkt

Fuhrpark‐ reduzierte
verkleinerung Transportzeiten

effiziente bessere
Lagerstruktur Tourenplanung

4.1.6.2 Bildung eines Benchmarking-Teams


Mit der organisatorischen Vorbereitung und der Durchführung des Benchmarking‐
Projekts sollte ein Benchmarking‐Team beauftragt werden. Das Benchmarking‐Team
besteht in der Regel aus einem Teamleiter, dem Prozessverantwortlichen und weiteren
Teammitgliedern, die über fachliches Know‐how hinsichtlich des Benchmarking‐
Objekts verfügen sollten. Aus Effizienzgründen sollte das Team nicht zu groß sein340;
bei größeren Benchmarking‐Objekten bietet es sich an Subteams zu bilden341. Da sich
aufgrund der Querschnittsfunktion der Logistik vielfältige Interdependenzen zu ande‐
ren Funktionsbereichen ergeben, sollten die Teammitglieder bereichsübergreifend
ausgewählt werden. Um eine kontinuierliche und plangerechte Arbeit des Teams zu
gewährleisten, ist die Zusammenarbeit mit einem externen Berater empfehlenswert,
der bereits Erfahrungen mit Benchmarking‐Projekten in der Logistik hat.

Das Team führt zunächst eine Beurteilung der eigenen Leistung bezüglich des Bench‐
marking‐Objekts durch. Dazu gehört die Strukturierung, das Abbilden und Messen
relevanter Prozesse und die detaillierte Herausarbeitung der Problemfelder und
Schwachstellen. Für die Analyse empfiehlt es sich, auf der Basis einer Prozessstruktur‐
transparenz342 den zu benchmarkenden logistischen Prozess in Subprozesse bzw.
einzelne Aufgaben zu zerlegen, um den Ist‐Prozessablauf sowie den Material‐, Waren‐

340 Eine Untersuchung US‐amerikanischer Unternehmen, die erfolgreich Benchmarking betrei‐


ben, ergab eine durchschnittliche Größe des Benchmarking‐Teams von sechs Mitgliedern
(SPENDOLINI, 1993, S. 54).
341 Vgl. BOXWELL (1994, S. 62).
342 Vgl. Kapitel 3.2.1.

236
4.1
Das Benchmarking-Konzept

und Informationsfluss vergleichbar abzubilden. Anschließend werden beteiligte Pro‐


zessstrukturen sowie deren Aktivitäten erarbeitet und die Durchgängigkeit des Tool‐
einsatzes – insbesondere die Datenverarbeitung – ermittelt. Die im Rahmen einer Pro‐
zessleistungstransparenz343 vorzunehmende genaue Quantifizierung der zeit‐, kos‐
ten‐, flexibilitäts‐ und qualitätstreibenden Faktoren, bezogen auf die Teilaktivitäten
und den Gesamtprozess, ermöglicht die Auswahl geeigneter Kennzahlen. Erst durch
das Verstehen und die Beurteilung der eigenen Aktivitäten ist ein Vergleich mit ande‐
ren und die Bestimmung der „besten“ Unternehmen möglich. Den Abschluss dieser
internen Beurteilung des Benchmarking‐Objekts bildet die Formulierung eines Fra‐
genkatalogs, der Fragen bezüglich des Gesamtobjekts und seine Einbindung, Teilas‐
pekte bzw. ‐prozesse, Messgrößen sowie konkrete Ansätze zur Beseitigung der identi‐
fizierten Schwachstellen enthält.

4.1.6.3 Identifikation geeigneter Benchmarking-Partner


Nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem Benchmarking‐Objekt besteht der
nächste Schritt in der Auswahl geeigneter Vergleichsunternehmen. Es werden dazu
unternehmensintern, branchen‐ bzw. industrieweit Unternehmen gesucht, die für das
gewählte Objekt anerkannt optimale Lösungen bieten. Das Benchmarking‐Objekt lässt
meistens den Schluss zu, ob nur ein Vergleich mit Wettbewerbern (z. B. in Produkti‐
onsbereichen) oder auch mit Nicht‐Konkurrenten (z. B. bei der Lagerhaltung oder der
Ersatzteillogistik) möglich ist. Bei der Auswahl des Partners muss besonders auf struk‐
turelle Unterschiede geachtet werden, da diese aussagekräftige Vergleiche erschweren
können. Der Erfolg und das Ergebnis einer Benchmarking‐Studie werden wesentlich
von der Qualität des Vergleichsunternehmens beeinflusst.

Vor dem eigentlichen Start der Informationsbeschaffung sollte man kritische Über‐
legungen über die Qualität der gewünschten Daten, die zur Verfügung stehenden
Geldmittel sowie über den benötigten Zeitaufwand anstellen. Anhand dieser Kriterien
sind die für die Benchmarking‐Studie heranzuziehenden Informationsquellen auszu‐
wählen. Man sollte mit den leicht zugänglichen und kostengünstigen Ressourcen, wie
z. B. unternehmensinternen Fachleuten, Fachzeitschriften, Geschäftsberichten und In‐
House‐Datenbanken beginnen. Erst nachdem diese Quellen vollständig ausgeschöpft
sind, ist eine gezielte Suche in den zeitaufwändigeren und teureren Informations‐
quellen, wie z. B. externe Datenbanken und Berater sowie Kundenbefragungen, durch‐
zuführen.

Aufgrund dieser Strategie können die potenziellen Informationsressourcen in unter‐


nehmensinterne und ‐externe Quellen eingeteilt werden, wobei in der Tabelle 4‐3 die
unternehmensexternen Quellen zusätzlich, dem Schwierigkeitsgrad entsprechend,
nach leichter zugänglichen externen Quellen und nach Quellen der eigenen Forschung
eingeteilt werden.

343 Vgl. Kapitel 3.2.2.

237
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
a) Unternehmensinterne Quellen

Den Ausgangspunkt bei der Identifikation potenzieller Benchmarking‐Partner


stellt die Nutzung des internen Know‐hows dar. Für die Logistik stellen vor allem
interne Fach‐ und Führungskräfte aus den Bereichen Beschaffung, Produktion,
Absatz, Vertrieb und Marketing wichtige Informationsquellen dar. Bei der Befra‐
gung der internen Spezialisten sollte man immer bei den prozessverantwortlichen
Mitarbeitern beginnen344. Da Vertriebsmitarbeiter ständig indirekt durch den
Kunden Kontakt mit dem Wettbewerb haben, sind sie über die Branchentrends
sehr gut informiert und wissen wo Spitzenleistungen gefunden werden können.

Intensive und etablierte Geschäftsbeziehungen zu Kunden und Lieferanten stellen


eine wichtige Informationsquelle für die Suche nach geeigneten Vergleichspart‐
nern dar und sollten in jedem Fall genutzt werden. Lieferanten und Kunden ha‐
ben in der Regel noch andere Zulieferer bzw. Abnehmer, sodass sie aus eigenen
Erfahrungen nützliche Aussagen über einen lohnenswerten Vergleichspartner
treffen und eventuell bei der Vermittlung von Direktkontakten behilflich sein
können.

Zu den internen Veröffentlichungen gehören unter anderem Werkszeitungen,


Protokolle über Konferenzen und Präsentationen, firmeninterne Richtlinien sowie
Produkt‐ und Lieferantenkataloge. Protokolle von Konferenzen und Präsentatio‐
nen enthalten eventuell Informationen über Experten für die zu untersuchenden
Prozesse und Methoden, aber auch über aktuelle Trends in der Branche.

Vor allem größere Unternehmen unterhalten Abteilungen, die für Branchen‐ und
Marktbeobachtungen zuständig sind. Diese Abteilungen führen oft, unabhängig
von Benchmarking‐Projekten, Kunden‐ und Lieferantenbefragungen sowie Pro‐
dukt‐analysen durch (z. B. zur Zielgruppenbestimmung eines neuen Produktes).
Neben den Informationen aus bereits durchgeführten Studien sollte auch die
Möglichkeit genutzt werden, sich an eine geplante Studie mit zusätzlichen Fragen
bezüglich des Benchmarking‐Objekts anzuhängen (Trittbrettstudien). Produktana‐
lysen im Fertigungsbereich, welche Konkurrenzprodukte in den eigenen Labors
analysieren, sind in der Lage, Informationen über Praktiken, Methoden und Pro‐
zesse der Wettbewerber aufzudecken.

Der technische Fortschritt und die steigende Bedeutung von Informationen hat in
vielen Unternehmen zur Einrichtung von In‐House‐Datenbanken und Netzwer‐
ken geführt. In‐House‐Datenbanken beinhalten beispielsweise Verzeichnisse der
Lieferanten und Kunden, Informationen über Wettbewerber und detaillierte fi‐
nanzielle Daten des Unternehmens sowie Informationen über die Auftragsab‐
wicklung. Falls bereits Benchmarking‐Studien durchgeführt wurden, werden Do‐
kumentationen der identifizierten „best practices“ sowie die benutzten Informati‐
onsquellen mit Kontaktadressen und Referenzpersonen in der In‐House‐Daten‐

344 Vgl. CAMP (1995, S. 106).

238
4.1
Das Benchmarking-Konzept

bank oder in einer speziell für Benchmarking‐Zwecke angelegten Datenbank ab‐


gelegt.

Tabelle 4‐3 Mögliche Informationsquellen

Unternehmensinterne Unternehmensexterne
Quellen Eigene Forschung
Quellen
Internes Know‐how Publikationen Benchmarking‐Netzwerke
‐ Tageszeitungen ‐ Informationssysteme
‐ Bereichs‐ bzw. prozess‐ ‐ Fachzeitschriften ‐ Seminare
bezogenes Fachwissen ‐ Fachbücher ‐ Treffen
‐ Persönliche Kontakte ‐ Dissertationen
‐ Erfahrungen mit Lieferanten ‐ Geschäfts‐, Jahresberichte Kunden‐, Lieferanten‐
und Kunden ‐ Statistische Jahrbücher Befragungen
‐ Branchenbücher ‐ Fragebogen
Bestehende Geschäftsbezie‐
‐ Telefonumfragen
hungen Öffentliche Stellen und
Verbände
Interne Publikationen ‐ Branchenverbände
‐ Werkszeitungen ‐ Fachverbände
‐ Protokolle über Konferenzen
und Präsentationen Forschungseinrichtungen
‐ Produkt‐ und Lieferanten‐ Veranstaltungen
Kataloge ‐ Seminare
‐ Firmeninterne Richtlinien ‐ Kongresse und Messen
Interne Analysen und ‐ Fachtagungen
Studien ‐ Konferenzen
‐ Trittbrettstudien Auszeichnungen
‐ Produktanalysen
Externe Spezialitäten
In‐House‐Datenbanken ‐ Unternehmensberater,
‐ Bereichsspezifische Daten‐ ‐analytiker
banken ‐ Benchmarking‐Organi‐
‐ EDV‐gestützte Informations‐ sationen
systeme ‐ Martforschungsunter‐
nehmen

Datenbanken

Sonstige externe Quellen


‐ Stellenanzeigen, Software‐
anbieter, Distributoren

239
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
b) Unternehmensexterne Quellen

Insbesondere durch das Studium von Logistikfachzeitschriften sowie anderen be‐


triebswirtschaftlichen Zeitschriften lassen sich häufig Hinweise auf logistische
Spitzenleistungen finden.

Für die Verfolgung gemeinsamer Interessen wurden zahlreiche öffentliche Stellen,


Branchen‐ und Fachverbände sowie Forschungseinrichtungen gegründet. Als
nützliche Informationsquellen im Bereich Logistik können beispielsweise die
Branchenverbände Bundesvereinigung Logistik e.V. (BVL), Deutsche Gesellschaft
für Logistik e. V. (DGfL) und Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Lo‐
gistik e. V. (BME), der Verband Deutscher Maschinen‐ und Anlagenbau e. V.
(VDMA) sowie das Fraunhofer‐Institut für Materialfluss und Logistik (IML) ge‐
nannt werden. Über diese Institutionen erhält man Zugang zu Logistikfachlitera‐
tur, Literaturdatenbanken, Seminaren, Fachkonferenzen, Betriebsbesichtigungen
und Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit zahlreichen ausländischen Verbän‐
den. Unter die Rubrik Forschungseinrichtungen gehören auch Hochschulen bzw.
Institute, die zum besseren Technologie‐ und Informationstransfer zwischen
Hochschule und Wirtschaft gegründet wurden.

Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Auszeichnungen und Preisen für hervorra‐
gende Leistungen von Unternehmen auf bestimmten Gebieten. Diese Auszeich‐
nungen werden von Zeitschriften, Organisationen, Wirtschaftsverbänden und
wissenschaftlichen Einrichtungen vergeben. Dazu gehören unter anderem der
Malcolm Baldrige National Quality Award (MBQA), der European Quality Award
(EQA), die Fabrik des Jahres, der deutsche Logistik‐Preis der BVL und der BME‐
Innovationspreis. Diese Auszeichnungen können auf geeignete Benchmarking‐
Partner hinweisen, da in den Veröffentlichungen über die Gewinner auch Infor‐
mationen über deren Prozesse und Methoden enthalten sind.

Zu der Gruppe externer Spezialisten zählen neben Unternehmensberatern auch


‐analytiker, Benchmarking‐Organisationen und Marktforschungsinstitute. Markt‐
forschungsunternehmen führen ebenso wie Verbände und öffentliche Stellen Stu‐
dien über Trendentwicklungen des Marktes durch. Dazu gehören auch Kunden‐
und Lieferantenbefragungen. Unter Umständen kann man bei diesen Unterneh‐
men auf eine für das Benchmarking‐Projekt interessante Untersuchung treffen
sowie Informationen über eventuelle Kontaktpersonen erhalten. Insbesondere Un‐
ternehmensberater und Benchmarking‐Organisationen bieten im Zusammenhang
mit Benchmarking‐Projekten eine Vielzahl von Dienstleistungen an. Das Leis‐
tungsspektrum dieser Organisationen umfasst unter anderem das Training zur
Vorbereitung und Durchführung von Benchmarking‐Projekten, das Management
des Benchmarking‐Projekts, die Unterstützung bei der Informationssuche und der
Auswahl von Benchmarking‐Partnern sowie das Unterhalten diverser Datenban‐
ken und den Zugang zu Datennetzen.

240
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Durch die Verfügbarkeit spezieller Benchmarking‐Datenbanken kann die Identi‐


fikation von potenziellen Benchmarking‐Partnern wesentlich erleichtert werden.
Die Davis Logistics Cost and Service Database ermöglicht einen branchenüber‐
greifenden Vergleich der Logistikkosten und ‐leistungen sowie des Logistikser‐
vices. Die Daten über Kosten, Leistungen und Kundenservice der an einer
Benchmarking‐Studie interessierten Unternehmen werden mit Hilfe eines stan‐
dardisierten, vertraulich behandelten Fragebogens erfasst. Mit Hilfe geeigneter
Software werden die Daten zu Kennzahlen verdichtet, die anschließend mit einem
ausgewählten Durchschnitt und den Klassenbesten der in der Davis Database er‐
fassten Unternehmen verglichen werden. Die Benchmarking‐Teilnehmer erhalten
Ergebnisse beispielsweise über Transport‐, Lagerhaltungs‐, Bestands‐ und Auf‐
tragsabwicklungskosten sowie Kosten der Logistikadministration. Alle teilneh‐
menden Firmen erhalten eine kostenlose Computeranalyse, welche die derzeitige
Position des Unternehmens in seiner Branche sowie Leistungslücken aufzeigt.
Ebenso wird eine Grobauswahl geeigneter Benchmarking‐Partner vom Computer
anhand der Datenbankinformationen vorgenommen. Die Datenbank vom Ameri‐
can Productivity & Quality Center (APQC) enthält Informationen über beste Pro‐
zesse und Praktiken, Benchmarking‐Studien, Benchmarking‐Kontakte, Bench‐
marking‐Literatur und Übungsmaterial sowie eine Liste von Informationsquellen,
die speziell für Benchmarking‐Zwecke geeignet sind. Das Projekt IMP³rove wurde
im Jahr 2006 von der Europäischen Kommission initiiert und wird von einem eu‐
ropäischen Konsortium unter Leitung von A.T. Kearney und der Fraunhofer‐
Gesellschaft durchgeführt. IMP³rove verfügt über die umfassendste europäische
Benchmarking‐Datenbank (ca. 3.000 KMU aus ganz Europa sind registriert) zum
Innovationsmanagement und den Erfolgsfaktoren bei kleinen und mittel‐
ständischen Unternehmen (KMU).

Als weitere externe Quellen können noch Softwareanbieter, Distributoren sowie


Stellenanzeigen genannt werden. Softwareanbieter können nach Informationen
über deren Anwendungen sowie nach Kontaktpersonen bzw. Kunden, für die ein
spezielles Softwareprogramm entwickelt wurde, gefragt werden. Distributoren
fungieren als Schnittstelle zwischen Kunde und Hersteller und haben deshalb be‐
sondere Bedeutung als Informationslieferanten im Zusammenhang mit Produk‐
ten, Logistikprozessen und der Lieferantenqualität. Auch über Stellenanzeigen
und Werbematerial kann auf geeignete Vergleichsunternehmen oder Kontakt‐
personen hingewiesen werden.

c) Eigene Forschung

Unter einem Benchmarking‐Netzwerk wird eine lose organisierte Anzahl von Un‐
ter‐nehmen bezeichnet, die bestrebt sind, mehr über Benchmarking zu erfahren
oder die bereits Benchmarking‐Projekte durchführen. Die Teilnahme an einem ex‐
ternen Benchmarking‐Netzwerk ermöglicht es dem Unternehmen, sich aktiv am
Aufbau des Netzwerkes zu beteiligen und für die Benchmarking‐Studie relevante
Daten aus dem vorhandenen Informationssystem zu gewinnen. Durch die Mög‐

241
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
lichkeit, direkt mit den Fachleuten, die dem Benchmarking‐Netz angehören, zu
kommunizieren, können benötigte Informationen sehr schnell beschafft werden.
Da sich alle Beteiligten bereits mit dem Thema Benchmarking befasst haben, wird
der Informationsaustausch erheblich erleichtert.

Falls keine Möglichkeit besteht, sich an aktuellen Untersuchungen zu beteiligen,


und auch die externen Quellen nicht aussagekräftig genug sind, müssen eigene
Studien bzw. Kunden‐ und Lieferantenbefragungen durchgeführt werden. Bei
Kundenbefragungen wird die Wirkung der Qualität der unternehmensinternen
Prozesse auf den Kunden beurteilt. Die Kunden äußern ihre Zufriedenheit oder
Unzufriedenheit direkt oder im Vergleich mit dem Wettbewerber. Man erhält so‐
mit Informationen über die Kundenzufriedenheit, die Qualität der Kunden‐ und
Lieferantenbeziehungen sowie brancheninterne Benchmarks aus dem Vergleich
der Erfüllung der Kundenanforderungen durch die Wettbewerber. Dies gilt ana‐
log für Lieferanten, die aufgrund ihrer Tätigkeit für mehrere Unternehmen Unter‐
schiede in der Zusammenarbeit aufzeigen können.

4.1.6.4 Datensammlung beim ausgewählten Benchmarking-Partner


Als Ergebnis des Auswahlprozesses hat das Benchmarking‐Team eine oder mehrere
geeignete Unternehmen als Benchmarking‐Partner identifiziert, bei denen nun detail‐
liertere Informationen beschafft werden sollen. Der bei der Identifizierung geeigneter
Benchmarking‐Partner eingeleitete Informationsbeschaffungsprozess wird jetzt mit
anderen Methoden, geänderter Zielausrichtung und eingeengter Zielgruppe fortge‐
führt. Erfolgte die Identifikation der Partner eher auf der Basis von öffentlich zugäng‐
lichen Leistungsdaten und Kennzahlen, so stehen in diesem Schritt verstärkt die Prak‐
tiken der Vergleichsunternehmen im Vordergrund. Bereits vorhandene Informationen
sollen zu einem umfassenden Bild der Leistungen und Methoden der Vergleichsun‐
ternehmen ausgebaut werden345.

Die Zusammenarbeit der Benchmarking‐Partner bedarf der beiderseitigen Offenheit


bezüglich des Informationsaustauschs. Um ein effizientes und ethisches Benchmar‐
king zu ermöglichen, stimmen die Beteiligten und im Namen der von ihnen vertrete‐
nen Unternehmer zu, sich an die Prinzipien des sogenannten „Code of Conduct“ zu
halten346. Die wichtigsten Methoden der Informationsbeschaffung beim ausgewählten
Benchmarking‐Partner sind Telefonbefragungen, postversandte Fragebögen und di‐
rekte Firmenbesuche, wobei der direkte Firmenbesuch die beste Möglichkeit darstellt,
detaillierte Informationen über logistische Praktiken und Leistungen des Partners zu
erfahren347.

345 Vgl. BOXWELL (1994, S. 109), CAMP (1994, S. 120).


346 www.apqc.org/bmkcode.
347 Vgl. BOXWELL (1994, S. 101ff), CAMP (1994, S. 112ff).

242
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Die Durchführung eines Firmenbesuchs bedarf einer präzisen Vorbereitung. Die Ver‐
sendung eines Fragebogens, der später als Diskussionsleitfaden und Checkliste be‐
nutzt werden kann, ermöglicht es dem Partner, Informationen aus den relevanten
Bereichen einzuholen und sich seinerseits auf das Treffen vorzubereiten. Während des
Firmenbesuchs können durch Gespräche mit Mitarbeitern vor Ort die relevanten Pro‐
zesse noch genauer kennengelernt werden. Im Rahmen der Diskussion besteht dann
erstens die Möglichkeit, Unklarheiten, die sich beim Besuch ergeben haben, zu klären
und zweitens die vorhandenen Datenlücken unter Zuhilfenahme des Fragebogens zu
schließen. Die Diskussion sollte dabei nicht nur die laufenden Praktiken betrachten,
sondern auch für die Zukunft geplante Veränderungen (z. B. weitere Optimierung der
Just‐in‐time‐Anbindung von Lieferanten) ansprechen. Unmittelbar nach dem Firmen‐
besuch sollte eine Nachbesprechung durchgeführt werden, um wesentliche Fakten
und Beobachtungen der Teammitglieder in Übereinstimmung zu bringen und zu be‐
stätigt. Kommt ein Datenaustausch aufgrund einer starken Konkurrenzsituation nicht
zustande, dann kann mit Hilfe eines externen Beraters versucht werden, die benötig‐
ten Daten zu sammeln, zu interpretieren und somit in den Benchmarking‐Zyklus
einzubringen.

Sobald alle benötigten Daten vorhanden sind, sollte das Benchmarking‐Team die er‐
haltenen Informationen strukturieren und einer Qualitätskontrolle unterziehen. Die
Informationsstrukturierung und Qualitätskontrolle soll zum einen gewährleisten, dass
die Entscheidungen über Veränderungen der logistischen Prozesse auf Grundlage
einer soliden Datenbasis getroffen werden, zum anderen ist die Genauigkeit und Qua‐
lität der Information ein wichtiger Aspekt zur Sicherstellung der Akzeptanz der Un‐
tersuchungsergebnisse. Bei der Informationsstrukturierung erfolgt eine Zuordnung
von Benchmarking‐Partnern zu den ermittelten Informationen. Als Hilfsmittel zur
Darstellung quantitativer Logistikdaten bietet sich eine Datenmatrix an, in der zeilen‐
weise die verschiedenen Beurteilungskriterien mit Hilfe von Logistikkennzahlen und
spaltenweise die am Benchmarking‐Projekt beteiligten Firmen eingetragen werden.
Beim Logistik‐Benchmarking ist im Rahmen der Informationsstrukturierung vor allem
darauf zu achten, Unterschiede in der Leistungsmessung oder die unternehmensindi‐
viduelle Ermittlung von Kosten‐ und Effizienzkennzahlen durch entsprechende Hin‐
weise zur Datenerhebung beim Benchmarking‐Partner zu erläutern, damit in der Ana‐
lysephase eine korrekte Beurteilung der Daten ermöglicht wird. Von Vorteil ist hier,
wenn im Rahmen des Benchmarking‐Projekts Vereinbarungen über eine äquivalente
Erhebung von logistischen Kosten‐ und Leistungsdaten getroffen werden. Ergänzend
zu dieser Zusammenstellung von logistischen Kosten‐ und Leistungsgrößen sollten
auch qualitative Erläuterungen und Erkenntnisse über die zugrundeliegenden logisti‐
schen Praktiken angeführt werden.

Zur Einschätzung der Informationsqualität logistischer Kosten‐, Leistungs‐ und Effizi‐


enzkennzahlen kann es hilfreich sein, die beim Benchmarking‐Partner gängige Praxis
der Logistikkostenrechnung und Kennzahlenermittlung zu untersuchen. Selbst dieje‐
nigen Unternehmen, die Logistik als kritischen Leistungs‐ und Kostenfaktor angeben,
müssen nicht zwingend über eine laufende strukturierte Datenerhebung auf diesem

243
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Gebiet verfügen. Unter Umständen werden die angegebenen Daten einmalig erhoben
oder nur geschätzt. Dies resultiert zum einen sicherlich aus der Tatsache, dass die
Logistikleistungserfassung problembehaftet ist, zum anderen in der fehlenden Ver‐
breitung umfassender Logistikkostenrechnungssysteme. Die geringsten Probleme
bezüglich der Informationsqualität sind bei Unternehmen zu erwarten, die eine Erfas‐
sung logistischer Kosten und Leistungen im betrieblichen Berichtssystem implemen‐
tiert und über Datenblätter genau festgelegt haben, wie, wann und von wem die jewei‐
ligen Kosten‐ und Leistungsdaten zu erheben sind.

4.1.6.5 Bestimmung der aktuellen Leistungslücke


In der Analysephase werden zunächst die Leistungslücken im Vergleich zu den
Benchmarking‐Partnern bestimmt. Für das Verständnis der Ursachen der Lücke müs‐
sen die aktuellen eigenen Prozesspraktiken und die der Benchmarking‐Partner stu‐
diert und verstanden werden. Die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Bench‐
marking‐Studie, aber auch die Implementierungsfähigkeit und das Implementierungs‐
tempo hängen sehr stark von der Vergleichbarkeit der zu benchmarkenden Prozesse
ab. Typische Einflussfaktoren, die eine Vergleichbarkeit verfälschen können, sind un‐
terschiedliche Betriebsinhalte, Leistungsumfänge, Kostensituationen und Marktbedin‐
gungen348.

Unterschiedliche Betriebsinhalte liegen vor, wenn betriebliche Prozesse so differieren,


dass ihre Leistungen nicht direkt miteinander verglichen werden können. Die Leis‐
tung von Ein‐ und Auslagerungssystemen für Hochregallager hängt beispielsweise
vom Gewicht, Volumen und von der Erschütterungsempfindlichkeit der zu transpor‐
tierenden Teile ab. Bei im Prinzip gleicher Systemauslegung wird die Lagerzugriffszeit
bei elektrischen Geräten wesentlich langsamer erfolgen als z. B. bei Textilien. Ent‐
scheidend für die Bestimmung des Leistungsunterschiedes ist, welche Leistung das
Ein‐/Auslagerungssystem für Textilien bringen könnte, wenn elektrische Geräte trans‐
portiert werden müssten. Hinsichtlich des logistischen Leistungsumfangs ist die
Übernahme zusätzlicher Serviceleistungen, wie z. B. Belabelung oder Kommissionie‐
rung, zu berücksichtigen. Um reale Leistungsunterschiede messen zu können, müssen
den zu benchmarkenden Prozessen auch gleiche Leistungsumfänge zugrunde gelegt
werden. Unterschiedliche Kostensituationen, die auf externe Faktoren zurückzuführen
sind, können einen Leistungsvergleich ebenfalls verfälschen. Dabei handelt es sich um
nicht oder nur bedingt und eher langfristig beeinflussbare Kostenfaktoren, wie z. B.
Mieten, Grundstückspreise, Steuern oder Subventionen. Auch länderspezifische Un‐
terschiede in der Umwelt‐ oder der Sozialversicherungsgesetzgebung gilt es zu be‐
rücksichtigen. Auch aufgrund unterschiedlicher Marktbedingungen können sich Pro‐
bleme bezüglich der Vergleichbarkeit von Leistungsgrößen ergeben. Unterschiedliche
räumliche Kundenstrukturen können beispielsweise die Tagesleistung von Ausliefe‐
rungsfahrzeugen beeinflussen. Die Auslieferungszeit pro Auftrag als Indikator für die

348 Vgl. KARLÖF/ÖSTBLOM (1994, S. 165ff).

244
4.1
Das Benchmarking-Konzept

Auslieferungsleistung von gewichts‐ und volumenmäßig vergleichbaren Teilen kann


differieren, je nachdem, ob die zu beliefernden Kunden in verkehrstechnisch oft gut
erreichbaren Industriegebieten oder in Stadtzentren liegen. Als weitere Sachverhalte
können die Internationalität der Kunden, die Anzahl der Wettbewerber und die Preis‐
entwicklung genannt werden.

Neben der Berücksichtigung spezifischer Einflussfaktoren ist für die Vergleichbarkeit


der Daten auch die Umrechnung von absoluten Größen in Beziehungszahlen notwen‐
dig. Bei der Betrachtung logistischer Kosten‐ und Leistungsgrößen wird z. B. die Ab‐
schreibungshöhe pro Transportmittel in den meisten Fällen informativer sein als der
absolute Abschreibungsbetrag für den gesamten Fuhrpark. Sofern die relevanten logis‐
tischen Kennzahlen nicht schon als Beziehungszahlen vorliegen, erfolgt in der Regel
eine Darstellung auf Basis von Auftrags‐, Lager‐ und Transporteinheiten. Bezugsgrö‐
ßen logistischer Beziehungszahlen können darüber hinaus auch logistische Prozesse,
wie z. B. Kosten pro Entnahmevorgang im Lagerbereich, sein. Zur Beschreibung logis‐
tischer Effizienzen werden in diesem Zusammenhang auch häufig Normierungen
bezüglich entsprechender Sollgrößen (z. B. genutzter Laderaum/vorhandener Lade‐
raum) vorgenommen.

Auf Basis der so bereinigten bzw. modifizierten Daten kann die eigentliche Bestim‐
mung der quantitativen Leistungslücke erfolgen. Ausgehend von Kennzahlen, die das
Benchmarking‐Objekt beschreiben, wird die Differenz zwischen eigener Leistung und
der Leistung des Benchmarking‐Partners gebildet. Die Leistungslücke zeigt an, in
welcher Größenordnung Verbesserungspotenziale für die einzelnen Prozesse bzw.
Prozesskomponenten vorliegen. Bei der Quantifizierung der Leistungslücken in der
Logistik sollte dabei systematisch von übergeordneten Logistikkennzahlen, die das
Benchmarking‐Objekt beschreiben, zu detaillierten Kennzahlen für Subprozesse über‐
gegangen werden. Bei einfachen, überschaubaren Sachverhalten können durch diese
Vorgehensweise erste Ursache‐Wirkungs‐Zusammenhänge ermittelt werden, welche
die Bestimmung der qualitativen Leistungslücken im folgenden Analyseschritt verein‐
fachen können. Das Benchmarking‐Team bekommt so einen ersten Überblick, welche
Logistikprozesse bzw. ‐prozesskomponenten vom Benchmarking‐Partner besser
durchgeführt werden. Bei mehreren Benchmarking‐Partnern wird häufig ein fiktiver
„best‐of‐benchmark“‐Partner gebildet, der aus den optimalen Prozessketten der ein‐
zelnen Benchmarking‐Partner abgeleitet wird und somit als anspruchsvollste Zielvor‐
gabe gilt. Es soll an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen wer‐
den, dass eine exakte Bestimmung der quantitativen Leistungsunterschiede in der
Logistik ganz wesentlich davon abhängt, inwiefern die Erhebung der Kennzahlen bei
den am Benchmarking‐Projekt beteiligten Unternehmen abgestimmt wurde. Durch die
bereits mehrfach angesprochene Abgrenzungsproblematik logistischer Kosten und
Leistungen und die daraus resultierenden Unterschiede kostenstellen‐ oder kostenträ‐
gerbezogener Informationen kann eine aufwändige Datenangleichung in manchen
Fällen unumgänglich werden.

245
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.1.6.6 Erkenntnis der Ursachen der Leistungslücke
Nach der quantitativen Bewertung der eigenen Situation gilt es die Ursachen der ge‐
genwärtigen Leistungslücke zu identifizieren. Erst das Verstehen der Ursachen – der
eigentliche Kern des Benchmarking‐Zyklus – ermöglicht es dem Unternehmen, im
Sinne der Prozessorientierung entsprechende Maßnahmen zur Schließung der Leis‐
tungslücke zu ergreifen. Der Fokus dieses Schrittes richtet sich also auf die Prinzipien
und Methoden, nach denen die Prozesse und Abläufe stattfinden. Ziel dieser Fokus‐
sierung ist es, diejenigen Methoden und Verfahren zu erkennen und zu verstehen, die
die Prozesse des Benchmarking‐Partners leistungsfähiger und effektiver gestalten und
dadurch die Leistungslücke maßgeblich beeinflussen349. Analog zur Vorgehensweise
beim Verständnis der eigenen Prozesse müssen auch die identifizierten „best prac‐
tice“‐Prozesse der Partner in Form von hierarchisch gegliederten Prozessketten abge‐
bildet werden. Die Tiefe der abzubildenden Hierarchie hängt von der kleinsten Pro‐
zesskomponente ab, die für den Leistungsunterschied noch von Bedeutung ist.

Durch die Prozessaufspaltung und Gegenüberstellung der eigenen Prozesse mit den
Prozessen des Benchmarking‐Partners können die Subprozesse identifiziert werden,
die einzeln oder im Zusammenspiel mit anderen Prozesskomponenten zu Spitzenleis‐
tungen führen. Dabei ist zu beachten, dass sich aufgrund des Querschnittscharakters
der Logistik Schnittstellen zu anderen Unternehmensbereichen ergeben. Logistische
Spitzenleistungen können darauf beruhen, dass gerade diese Schnittstellen ausge‐
zeichnet organisiert sind. Sie müssen deshalb bei der Ursachenanalyse in die Prozess‐
betrachtung miteinbezogen werden. Beispielsweise kann der ausgezeichnete Liefer‐
service im Distributionsbereich das Ergebnis eines optimierten Informationsflusspro‐
zesses zwischen den Bereichen Verkauf/Marketing, Produktion und Distributions‐
logistik sein.

4.1.6.7 Prognose des zukünftigen Leistungsniveaus


Die Analyse darf keineswegs bei der Bestimmung der gegenwärtigen Leistungslücke
enden. Benchmarking muss prospektiv gestaltet sein, d. h. die Kennzahlen der Klas‐
senbesten müssen durch Analysen der Kundenanforderungen und der Technologie‐
trends projiziert werden. Durch eine Prognose des zukünftigen eigenen Leistungsni‐
veaus und das des Wettbewerbs wird das Ausmaß der intern notwendigen Verbesse‐
rungen quantifiziert, die es zu erreichen gilt, um zukünftig zu Spitzenunternehmen
aufzuschließen.

Die Prognose bildet somit die Grundlage für die Generierung von Benchmarks, die im
Unternehmen künftig anzustreben sind. Hierbei ist zu beachten, dass in der Regel die
Methoden und Praktiken der Benchmarking‐Partner nicht vollständig und absolut
gleichwertig im eigenen Unternehmen umgesetzt werden können. Aus diesem Grund
können die aktuellen Prozessgrößen der Benchmarking‐Partner – soweit überhaupt

349 Vgl. HORVATH/HERTER (1992, S. 9).

246
4.1
Das Benchmarking-Konzept

verfügbar – nur sehr bedingt als Zielgrößen und Benchmarks übernommen werden.
Echte Benchmarks basieren auf Kalkulationen, die eine Integration der „best practices“
in die eigenen Prozesse annehmen. Es gilt also nicht nur, die aktuellen Prozessgrößen
des Spitzenleistungsunternehmens durch die Übertragung auf die eigenen Prozesse zu
modifizieren, sondern auch deren zukünftige Entwicklung zu ermitteln, um so eine
Datengrundlage für die Entwicklung von Aktionsplänen und deren Kommunikation
im Unternehmen zu schaffen.

Eine Dynamisierung des zukünftigen Leistungsniveaus ist notwendig, da sich das


Umfeld einer Unternehmung nicht statisch verhält, sondern sich auf der Suche nach
weiteren Verbesserungspotenzialen weiterentwickelt. Zur grafischen Darstellung der
relativen Positionen eines Unternehmens in den Phasen vor, während und nach der
Überwindung einer Leistungslücke kann ein „Z‐Diagramm“ verwendet werden350. In
diesem wird auf einer aggregierten Betrachtungsebene die Leistungsentwicklung des
gesamten Unternehmens oder einer ausgewählten Geschäftseinheit im Vergleich zum
Wettbewerb für die drei Phasen dargestellt. Als Messgröße wird zu diesem Zweck eine
aggregierte Kosten‐ oder Ausgabengröße verwendet. Diese Größen sollten nach Mög‐
lichkeit auf den Umsatz normiert werden, da so leichter interpretiert und bewertet
werden kann, inwieweit in den einzelnen Phasen ein Beitrag zur Steigerung der Profi‐
tabilität vorliegt oder nicht. Die individuellen Daten und Leistungslücken untergeord‐
neter Bereiche können auf dieses Maß konvertiert und zusammengefasst werden. Für
die Unternehmensfunktion Logistik bieten sich als Messgrößen beispielsweise die auf
den Umsatz normierten aggregierten Kosten für die Gesamtlogistik, wie auch für die
Logistik‐Teilbereiche Beschaffungs‐, Produktions‐ und Distributions‐, Ersatzteil‐ und
Entsorgungslogistik an. Die Leistungsentwicklung in der Logistik kann auf überge‐
ordneter Ebene anhand von Logistikspitzenkennzahlen, wie z. B. Auftragsdurchlauf‐
zeit, Lagerbestand pro Umsatz oder Auslastungsgrad, beurteilt werden. Für die Prog‐
nose der Leistungsfähigkeit des Wettbewerbs bieten sich typische Branchenkennzah‐
len an. Abbildung 4‐6 verdeutlicht die drei Phasen des Z‐Diagramms am Beispiel
Distributionslogistikkosten pro Umsatz.

Die erste Phase des Z‐Diagramms zeigt den linearen Verlauf der internen Kostenre‐
duktion in der Vergangenheit bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Leistungslücke ge‐
messen wurde. Anschließend erfolgt die Darstellung der festgestellten Lücke. In der
dritten Phase wird die projizierte zukünftige Kostenreduktion des Benchmarking‐
Partners abgetragen. Das Z‐Diagramm gibt somit Aufschluss über den wahren Um‐
fang der notwendigen Anstrengungen, die in Zukunft zu erbringen sind, um zu Spit‐
zenleistungen aufschließen zu können. Da eine festgestellte Lücke in der Regel nicht
sprunghaft, sondern nur kontinuierlich durch die schrittweise Implementierung der
Praktiken und Methoden der Benchmarking‐Partner geschlossen werden kann, muss
die notwendige zukünftige interne Kostenreduktion ca. 6,7% pro Jahr betragen und
somit über derjenigen des Benchmarking‐Partners (4% pro Jahr) liegen, um zu einem
angestrebten Zeitpunkt eine Gleichstandsposition zu erreichen.

350 Vgl. CAMP (1994, S. 188ff).

247
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Abbildung 4‐6 Z-Diagramm für Distributionslogistikkosten / Umsatz

Kostenreduktion (intern) in der Vergangen‐


heit (2 %‐Punkte pro Jahr)
34
aktuelle interne
32 Leistung

30

Leistungslücke
28
aktuell
Distributions‐ Notwendige Kosten‐
logistikkosten/ 26 Reduktion, um zum
Umsatz [%] Benchmark Zeitpunkt 12/14
24 Gleichstand zu er‐
reichen
22

Kostenreduktion des Partners


20 (4 %‐Punkte pro Jahr)

6/12 12/12 6/13 12/13 6/14 12/14 6/15

Kritisch ist allerdings anzumerken, dass CAMP in seinem Z‐Diagramm nur lineare
Modellverläufe unterstellt. Lineare Modelle sind zwar leicht zu verstehen und zu
erklären, ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit muss aber nicht in jedem Fall
gegeben sein. Soweit annähernd gute lineare Trendverläufe für die ausgewählten
Leistungsmessgrößen vorliegen, bietet es sich an, eine Regressionsanalyse zur Progno‐
se des eigenen Leistungsniveaus (ohne Implementierung der Spitzenleistung) und des
Leistungsniveaus des Benchmarking‐Partners mit der Zeit als unabhängige und der
Leistungsmessgröße als abhängige Variable und eine anschließende Trendextrapolati‐
on durchzuführen. Können keine linearen Verläufe unterstellt werden, dann muss auf
komplexere Zeitreihenmodelle zurückgegriffen werden351.

4.1.6.8 Ziele und Aktionspläne


Um leistungssteigernde Veränderungen in Gang zu setzen, müssen für die kritischen
Bereiche Ziele und daraus abgeleitet Aktionspläne mit konkreten Handlungs‐
anweisungen festgelegt werden. Die Kommunikation der in der Analysephase ge‐
wonnenen Ergebnisse bildet dabei einen integralen Bestandteil des Zielformulierungs‐
prozesses. Das Benchmarking‐Team erarbeitet aufgrund seines detaillierten Wissens
und seiner gewonnenen Einblicke bezüglich der Verbesserungspotenziale erste Ziel‐
setzungen und Maßnahmenpläne. Diese werden dann mit dem Top‐Management
diskutiert. Die Zielfestlegung und Aktionsplanung sollten vom obersten Management

351 Vgl. z. B. SCHLITTGEN (2001).

248
4.1
Das Benchmarking-Konzept

getragen werden, um zu vermeiden, dass durch funktions‐ oder bereichsbezogene


Eigeninteressen das konsequente Nutzen von Chancen verhindert wird.

Im Rahmen des Benchmarking‐Zyklus werden Ziele aus den Benchmarks abgeleitet.


Für die Logistik liefern dabei die Prognosen und geplanten Entwicklungen zukünfti‐
ger Logistikkosten, Logistikleistungen und der Leistungslücke die Grundlage für die
Definition und Formulierung von Zielen. Bei der Formulierung von Zielen sollte –
unabhängig vom betroffenen Unternehmensbereich – sehr sorgfältig vorgegangen
werden. Ziele müssen auf den Kontext der eigenen Unternehmung angepasst und mit
der Geschäftsplanung abgestimmt werden. Aufgrund der Vielzahl möglicher Interde‐
pendenzen der Logistik zu anderen Bereichen muss die Zielsetzung stets vor dem
Hintergrund der Gesamtoptimierung der logistischen Kette erfolgen.

Das Wesen des Benchmarking besteht nicht in der Adoption sondern vielmehr in der
Adaption der identifizierten „best practices“. Die gesetzten Ziele sollten deshalb auf
realistischen Einschätzungen des Managements beruhen und erreichbar sein, damit sie
nicht zu starker Demotivation führen. Sie können sowohl qualitativer (z. B. Stückkos‐
tensenkung durch Minimierung der Durchlaufzeiten) als auch quantitativer Natur
(z. B. Logistikkostensenkung um 1% im Jahr) sein. Aus übergeordneten Logistikzielen
(z. B. Verkürzung der Auftragsdurchlaufzeit) sollten untergeordnete Ziele für die
einzelnen Teilbereiche der Logistik (z. B. Verkürzung der Transportzeiten in der Pro‐
duktion) abgeleitet werden. Ähnlich dem Aufbrechen von unterschiedlichen Kosten‐
und Leistungsschichten sollte eine mit der Logistik‐Organisationsstruktur korrespon‐
dierende Zielhierarchie entstehen, die für jede betroffene Organisationseinheit spezifi‐
sche Vorgaben enthält352. Bei der Vorgabe quantitativer Ziele sollten diese eine gewis‐
se Bandbreite aufweisen. Durch die Verwendung eines Wertebereichs wird deutlich,
dass einerseits eine gewisse Flexibilität bei der Zielerreichung vorhanden ist, und dass
sich andererseits das Ziel selbst durch zukünftige Veränderungen noch ändern
kann353.

Ausgehend von den ermittelten Zielen und Leistungsvorgaben sind Aktionspläne zu


entwickeln, die für alle betroffenen Bereiche detaillierte Handlungsanweisungen und
Umsetzungsschritte beinhalten. Inhalt von Aktionsplänen sollte neben der Definition
von Teilprojekten auch die Festlegung von Verantwortlichkeiten, Zeitrahmen sowie
Personal‐ und Mittelfreigaben sein, wobei folgende Schritte durchzuführen sind354:

 Spezifikation der Aufgabe


Die aus der Zieldefinition resultierenden Aufgaben und Handlungsanweisungen
(z. B. Einführung neuer Lagerhaltungsmethoden) sollten für diejenigen, die für die
Umsetzung verantwortlich sind (z. B. Leiter Auslieferungslager) vollständig be‐
schrieben und eindeutig formuliert werden.

352 Vgl. KARLÖF/ÖSTBLOM (1994, S. 189).


353 Vgl. CAMP (1994, S. 255).
354 Vgl. CAMP (1994, S. 227).

249
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
 Reihenfolgeplanung
Die einzelnen Schritte zur Durchführung der Aufgaben und Teilprojekte sind nach
ihrer Beschreibung in eine logische Reihenfolge zu bringen und nach Prioritäten zu
ordnen.

 Aufstellung eines Zeitplans


Ausgehend von der Reihenfolgeplanung ist für die durchzuführenden Aufgaben
ein möglichst exakter Zeitplan zu ermitteln. Hierzu können Verfahren aus der
Netzplantechnik eingesetzt werden.

 Zuordnung benötigter Ressourcen


Die für die Umsetzung benötigten Ressourcen (z. B. Personal, Flächen, Arbeitsmit‐
tel) müssen bestimmt, bewilligt und zugeteilt werden.

 Bestimmung der Verantwortung


Die Verantwortungs‐ und Rechenschaftspflicht für die einzelnen Teilprojekte muss
exakt festgelegt werden. Dies ist vor allem für die Querschnittsfunktion Logistik
aufgrund einer Vielzahl möglicher Schnittstellen nicht unproblematisch. Hier müs‐
sen Verantwortlichkeiten unter Umständen geteilt werden (z. B. zwischen Leiter
Logistik und Leiter Produktion).

 Erwartete Resultate und begleitende Messungen


Schon während der Aktionsplanung sollte spezifiziert werden, wie die Resultate
der Implementierung gemessen werden sollen. In der Logistik ist hier insbesonde‐
re auf die aus dem Logistik‐Controlling bekannten und bei der Prognose des zu‐
künftigen Leistungsniveaus eingesetzten Logistikleistungen, Logistikkosten und
Effizienzkennzahlen zurückzugreifen. Die mit dem Veränderungsprozess verbun‐
denen Kosten (z. B. Erweiterung des Fuhrparks, Kosten des Stellenabbaus) sollten
möglichst genau geplant und kontrolliert werden.

4.1.6.9 Implementierung und Fortschrittskontrolle


Im Rahmen der Implementierung werden die erforderlichen Maßnahmen zur Errei‐
chung der vorher festgelegten Zielvorstellungen umgesetzt. Die Umsetzung von Ver‐
besserungsmaßnahmen basiert auf der Adaption der bei den Vergleichsunternehmen
identifizierten, beschriebenen und verstandenen Praktiken. Dabei ist es wichtig zu
erklären, wo und wie die neuen Praktiken ermittelt wurden und wie hoch die ange‐
strebten Verbesserungspotenziale sind, um die Akzeptanz bei den Mitarbeitern zu
erhöhen. Bei internen Geschäftsprozessen stehen für die Übernahme einer Praktik als
Gestaltungsmöglichkeiten beispielsweise die Reorganisation der Arbeits‐, Material‐,
Waren‐ und Informationsflüsse, die Investition in neue Ressourcen und die Schulung
der Mitarbeiter zur Verfügung. Übertragen auf die Prozessketten in der Logistik be‐
deutet dies eine Reihenfolgeänderung, Parallelisierung, Integration, Erweiterung,
Beschleunigung oder Eliminierung von Aktivitäten nach räumlichen, zeitlichen und

250
4.1
Das Benchmarking-Konzept

logischen Kriterien unter Berücksichtigung des gesamten logistischen Beziehungsge‐


füges355.

Für die Gesamtkoordination und Durchführung der Implementierung bietet sich die
Bildung eines Projekt‐Teams an. Bei Benchmarking‐Projekten in der Logistik ist es
aufgrund des hohen Koordinations‐ und Kooperationsbedarfs mit anderen Unter‐
nehmensfunktionen und externen Zulieferern bzw. Kunden empfehlenswert, Mitarbei‐
ter aus den Bereichen Beschaffung, Produktion, Absatz oder Marketing sowie extern
Beteiligte in das Projekt‐Team aufzunehmen, um auch an den Schnittstellen eine ziel‐
orientierte und abgestimmte Umsetzung der Aktionspläne zu gewährleisten. Soll
beispielsweise im Bereich der Beschaffungslogistik der Anteil Just‐in‐time angelieferter
Teile erhöht werden, so müssen die entsprechenden Zulieferer spätestens in der Um‐
setzungsphase in das Benchmarking‐Projekt eingebunden werden.

Der gesamte Umsetzungsprozess wird von Anfang an durch einen Kontrollprozess


begleitet, in dem ein Vergleich des Fortschritts mit einem vorgegebenen Plan durchge‐
führt, Ursachen für Abweichungen bestimmt und entsprechende Gegenmaßnahmen
eingeleitet werden. Im Rahmen von Benchmarking‐Projekten in der Logistik ist diese
Aufgabe dem Logistik‐Controlling zu übertragen, das im Fall von signifikanten Plana‐
bweichungen direkt an die für die Umsetzung der Benchmarking‐Ergebnisse verant‐
wortlichen Personen im Projekt‐Team berichtet. Ziel der Fortschrittskontrolle ist es
dabei, vor allem mit Hilfe von Logistikkosten‐ und Logistikleistungskennzahlen die
quantitativen Abweichungen des Veränderungsprozesses zum vorgegebenen Plan zu
bestimmen, um gegebenenfalls nach einer Ursachenanalyse entsprechende Maßnah‐
men einzuleiten356. Von Vorteil ist dabei, wenn zur Fortschrittskontrolle ein Kennzah‐
lensystem vorliegt, da sich im Fall von Planabweichungen direkt Hinweise auf mögli‐
che Schwachstellen und Ursachen ergeben.

Neben der Überwachung des Umsetzungsprozesses hat die Fortschrittskontrolle noch


die Aufgabe, erste Ergebnisse mit dem Management und den betroffenen Bereichen zu
kommunizieren, um die Akzeptanz für die notwendigen Veränderungen zu erhöhen
und die Motivation für zukünftige Benchmarking‐Projekte zu steigern.

4.1.6.10 Rekalibrierung
Märkte, Prozesse, Kundenanforderungen und Wettbewerbsbedingungen unterliegen
einem stetigen Wandel, sodass auch die Informationsgrundlage des Benchmarking‐
Projekts regelmäßig überprüft werden muss. Bei dieser Rekalibrierung oder Aktuali‐
sierung der Benchmarks wird festgestellt, ob sie noch auf den besten Praktiken und
Methoden basieren, oder ob es aufgrund von externen Änderungen einer Modifikati‐
on der bisher festgelegten Ziele bedarf. Beim Rekalibrierungsprozess sollten alle zehn
Schritte des Benchmarking‐Zyklus (vgl. Abbildung 4‐2) noch einmal durchlaufen

355 Vgl. Kapitel 3.2.1.6.


356 Vgl. SHETTY (1993, S. 41).

251
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
werden, um mögliche Änderungen in allen Teilschritten zu berücksichtigen357. Durch
die iterative Durchführung der Benchmarking‐Schritte können die Qualität der Infor‐
mationen und der Informationsbeschaffungsprozess selbst deutlich verbessert werden.
Darüber hinaus können langfristige Benchmarking‐Verbindungen mit Spitzenunter‐
nehmen aufgebaut werden. Das Benchmarking‐Team gewinnt bei jedem durchgeführ‐
ten Benchmarking‐Zyklus an Erfahrung und Know‐how, sodass der Prozess auf Dauer
effektiver und auch kostengünstiger gestaltet werden kann358.

In der Logistik geht es bei der Aktualisierung bzw. Rekalibrierung vor allem darum zu
überprüfen, ob unter den gegebenen Bedingungen immer noch dieselben Logistikbe‐
reiche bzw. ‐prozesse als kritisch zu betrachten sind. Änderungen können sich hier
z. B. ergeben, wenn – vom Wettbewerb verursacht – neue Anforderungen an den Lie‐
ferservice gestellt werden, oder wenn sich im Bereich der Produktion neue Technolo‐
gien durchsetzen, welche die Aufgabenerfüllung der Produktionslogistik beeinflussen.
Unter Umständen muss in einem solchen Fall eine komplette Neuausrichtung der
Benchmarking‐Untersuchung erfolgen. Durch den Aktualisierungsprozess können
außerdem Informationslücken, die durch Schwierigkeiten bei der Ermittlung von
Logistikleistungen, Logistikkosten und Effizienzkennzahlen aufgetreten sind, ge‐
schlossen werden. Hier sollten gezielt diejenigen Größen untersucht werden, zu denen
beim Benchmarking‐Partner überhaupt keine Informationen vorlagen bzw. bei denen
eine andere Vorgehensweise bei der Erfassung angewandt wurde.

Über die Häufigkeit, wie oft eine Aktualisierung des Benchmarking‐Zyklus zu erfol‐
gen hat, lassen sich keine generellen Aussagen treffen. Jedes Unternehmen bzw. jeder
Geschäftsbereich sollte auf Basis seiner Informationen und Einschätzungen über die
externen Veränderungspotenziale die Häufigkeit seiner Rekalibrierungsmaßnahmen
bestimmen359. Benchmarking soll kein einmaliges Projekt bleiben, sondern als konti‐
nuierlicher Prozess im Unternehmen implementiert werden. Benchmarking soll letzt‐
endlich als Managementinstrument verstanden werden, das zu einem konstruktiven
Lernen aus den Praktiken und Methoden anderer Unternehmen anregt und nicht
eigene Versäumnisse der Vergangenheit sanktioniert.

4.1.7 Benchmarking-Erfolgsfaktoren
Unternehmen, die Benchmarking erfolgreich praktizieren, betonen immer wieder, dass
das Gelingen eines Benchmarking‐Projekts von der Beachtung einiger Faktoren ab‐
hängt. Eine grundsätzliche Voraussetzung ist das aktive Engagement der Unterneh‐
mensleitung, um somit die notwendige Zeit und die Ressourcen für die anstehenden
Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Erfolgreiches Benchmarking muss die Unterstüt‐
zung des oberen Managements haben, das von Beginn an seine positive Haltung ge‐

357 Vgl. CAMP (1994, S. 280).


358 Vgl. WATSON (1992, S. 117), SHETTY (1993, S. 44).
359 Vgl. CAMP (1994, S. 279).

252
4.1
Das Benchmarking-Konzept

genüber dem Wandel deutlich macht und Barrieren und Hindernisse auf dem Weg
zum Erfolg überwindet. Benchmarking muss also integrierter Bestandteil der Ge‐
schäftspolitik sein, wobei die konsequente Kundenorientierung im Vordergrund ste‐
hen muss.

Benchmarking‐Objekte sollten mit strategischen Erfolgsfaktoren und Kernkompe‐


tenzen festgelegt werden. Die Zielsetzung muss auf Veränderung und Ergebnis‐
orientierung ausgerichtet sein, damit man sich nicht in Kleinigkeiten verliert. Die Fi‐
xierung des Benchmarking‐Objekts ist jedoch noch keine hinreichende Voraussetzung
für ein erfolgreiches Benchmarking. Der Benchmarking‐Zyklus ist meistens dann zum
Scheitern verurteilt, wenn das Benchmarking‐Objekt zu weit gefasst oder schlecht
definiert ist. Eine der wichtigsten Erfahrungen ist die Unterschätzung des benötigten
Aufwands. Es empfiehlt sich deshalb, im Vorfeld den Benchmarking‐Aufwand mit
dem Benchmarking‐Partner abzuschätzen und zu begrenzen. Entscheidend ist, dass
der Umfang und die Grenzen, die für das Benchmarking‐Objekt festgelegt wurden,
respektiert werden. Gerade beim Wettbewerbs‐Benchmarking besteht die Gefahr,
interessante Diskussionen mit dem Benchmarking‐Partner zu führen, dabei aber das
eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Es ist notwendig, zunächst ein Verständ‐
nis für die Prozesse zu schaffen, um daraus Problemfelder oder Ansatzpunkte für
Verbesserungen abzuleiten. Erst nachdem die Prozesse verstanden wurden, sollten
Messkriterien zur Beurteilung der Leistung in den Mittelpunkt der Betrachtung ge‐
stellt werden.

Die Mitglieder des Benchmarking‐Teams müssen den untersuchten Prozess kennen


und in ihm arbeiten. Zusätzlich muss das Team das Instrument Benchmarking beherr‐
schen oder das Team muss durch einen Moderator geführt werden. Vom Benchmar‐
king‐Team wird ein großes Maß an Kreativität verlangt, damit Verbesserungspotenzia‐
le durch das Beobachten der betrieblichen Prozesse exzellenter Unternehmen erkannt
und zu innovativen Lösungen kombiniert werden. Durch Benchmarking können be‐
merkenswerte, teilweise sogar einschneidende Veränderungen im Unternehmen aus‐
gelöst werden. Um die notwendige Akzeptanz für diese Veränderungen im Unter‐
nehmen zu erreichen, sollten die von dem Projekt betroffenen Manager regelmäßig
über den Projektverlauf informiert werden. Für ein erfolgreiches Projekt sollte auch
die exakte Zeitplanung eingehalten werden.

Benchmarking kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich die Partner darüber im Kla‐
ren sind, dass diese Managementmethode nicht zu einer systematischen Suche nach
Betriebsgeheimnissen verwendet werden darf. Den ausgewählten Benchmarking‐
Partnern sollten grundsätzlich nur diejenigen Fragen gestellt werden, zu deren Beant‐
wortung man auch selbst bereit wäre. Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt ist die Tatsa‐
che, dass Benchmarking keine einmalige Tätigkeit, sondern ein kontinuierliches Ma‐
nagementinstrument darstellt. Diese Kontinuität hat zur Folge, dass sich Offenheit
und Ehrlichkeit gegenüber den Benchmarking‐Partnern auszahlt. Gerade in den USA,
dem Ursprungsland des Benchmarkings, haben sich sogenannte Clearinghäuser ge‐
bildet, an die jegliche für Benchmarking‐Zwecke interessante Informationen von den

253
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
unterschiedlichsten Unternehmen gegeben werden. Zeigt sich, dass ein Benchmar‐
king‐Partner unehrlich oder nur zum Zweck der einseitigen Vorteilsnahme Benchmar‐
king betreiben will, dann wird dieses Verhalten den Clearinghäusern sicher nicht
verborgen bleiben. Dies könnte zur Folge haben, dass in Zukunft mit diesem Unter‐
nehmen keine Benchmarking‐Kooperation mehr eingegangen wird.

4.2 Das Postponement-Konzept


Für eine gezielte Erfüllung individueller Kundenwünsche ist es notwendig, eine Viel‐
zahl von Produktvarianten anzubieten. Die Produktion als auch die Distribution müs‐
sen daher sehr flexibel gestaltet sein, um Produkte mit kunden‐ und länderspezifi‐
schen Ausstattungsmerkmalen bereitzustellen und auf neue Bedarfe, z. B. aufgrund
modischer Trends, schnell reagieren zu können. Die Möglichkeit, eine Entscheidung
bzgl. der zu fertigenden Varianten bzw. der Lagerorte optimal so lange wie möglich
aufzuschieben, bietet eine der Antworten für Unternehmen auf die Forderung nach
Flexibilität und zur Reduzierung des Risikos in einer unsicheren Umwelt. Im Rahmen
der Gestaltung der logistischen Kette, wird diese Planungsoption als Postponement‐,
Aufschiebe‐ oder Verzögerungsstrategie bezeichnet. Dabei stellt sich die Frage, ob und
ab wann die Prozesse innerhalb der Wertschöpfungskette kundenauftrags‐ oder prog‐
noseorientiert gestaltet werden sollten.

Nach der Erklärung der Postponement‐Speculation‐Strategie und der verschiedenen


Postponement‐Arten wird der Frage nachgegangen, unter welchen Umständen eine
Postponement‐Strategie für ein Unternehmen geeignet ist. Damit im Zusammenhang
steht die Analyse der Einflussfaktoren auf die Umsetzung von Postponement sowie
die notwendigen strukturellen Änderungen innerhalb der Bereiche Beschaffung, Pro‐
duktion und Distribution. Des Weiteren werden Nutzen und Risiken einer Postpone‐
ment‐Strategie diskutiert.

Lernziele:

 Ziele der Postponement‐Speculation‐Strategie


 Verschiedene Postponement‐Arten
 Einflussfaktoren auf die Umsetzung von Postponement
 Nutzen und Risiken einer Postponement‐Strategie
 Umsetzung von Postponement in der logistischen Kette

254
4.2
Das Postponement-Konzept

4.2.1 Postponement-Speculation-Strategie
Bei unregelmäßiger Nachfrage, hoher Variantenvielfalt, vielen bedienten Teilmärkten
und langen Prognosehorizonten nehmen das durch potenzielle Prognosefehler verur‐
sachte Absatzrisiko und die damit verbundenen negativen Kostenwirkungen einer
Überversorgung (Kapitalbindungskosten) oder Unterversorgung (Fehlmengenkosten)
zu. Diese Risiken versucht die Postponement‐Strategie (Aufschiebe‐ oder Verzöge‐
rungsstrategie) zu berücksichtigen, indem der Frage nachgegangen wird, an welcher
Stelle der Wertschöpfungskette die Variantenbildung vorgenommen werden soll. Die
zentrale Idee der Postponement‐Strategie besteht darin, die Bestimmung von Pro‐
duktmerkmalen sowie die räumliche Verteilung von Produkten so lange zu verzögern,
bis sichere (Kunden‐) Informationen vorliegen oder die Nachfrageprognosen nur noch
mit einer geringen Unsicherheit behaftet sind. Das Produkt wird demzufolge mög‐
lichst lange in einem neutralen oder generischen Zustand gehalten und die genaue
Zuordnung zu einem Markt bzw. Kunden wird im Idealfall bis zum Eingang eines
Kundenauftrags aufgeschoben. Somit wird das Risiko reduziert, aufgrund ungenauer
Prognosen Lagerbestände an nicht marktgerechten Varianten herzustellen, die insbe‐
sondere bei kurzen Produktlebenszyklen schnell abgeschrieben werden müssen. Die
Postponement‐Strategie wurde bereits in den 1950er Jahren durch ALDERSON (1950) als
Marketingansatz entwickelt, jedoch erschwerten lange Fertigungsdurchlaufzeiten und
lange Lieferzeiten die Umsetzung in der Praxis. Erst im Jahr 1965 erfuhr diese Strate‐
gie durch BUCKLIN (1965) wieder Beachtung, indem er die Vorteile der Postponement‐
Strategie insbesondere für den Vertriebskanal hervorhob.

Da sich nicht für jedes Unternehmen alle produktspezifizierenden Wertschöpfungs‐


schritte bis zum Erhalt des Kundenauftrags hinauszögern lassen, führte BUCKLIN
(1965) die Strategie des Spekulierens (Speculation) als Erweiterung zum Postponement
ein. Im Gegensatz zur Postponement‐Strategie verfolgt die Speculation‐Strategie das
Ziel, ein Produkt durch eine prognostizierte Kundennachfrage mit Ausstattungs‐
merkmalen und einer räumlichen Zuordnung zu versehen und somit frühzeitig an das
Ende der Wertschöpfungskette zu bringen. Der Vorteil dieser Strategie besteht darin,
dass sowohl bei der spekulativen Fertigung als auch der spekulativen Distribution von
Produkten in großen Stückzahlen Skaleneffekte genutzt und damit Kostenein‐
sparungen erzielt werden können. Weiterhin kann durch das Vorhalten absatzfähiger
Produktbestände am Ende der Wertschöpfungskette das Risiko von Fehlmengen mi‐
nimiert werden360. Eine kundennahe Lagerung von Fertigerzeugnissen ermöglicht
zudem kurze Lieferzeiten sowie eine hohe Lieferflexibilität und ‐bereitschaft. Die
Speculation‐Strategie weist ein geringes Risiko auf, wenn es sich um Produkte handelt,
die einen regelmäßigen Nachfrageverlauf aufweisen, in wenigen Varianten nachge‐
fragt werden oder bei denen sich die Kunden in einem bestimmten Teilmarkt konzent‐
rieren. Die Anwendung einer prognosebasierten Variantenproduktion oder räumli‐
chen Zuordnung kann zu folgenden Risiken führen:

360 Vgl. BUCKLIN (1965).

255
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
 Verluste durch nicht verkäufliche Varianten,

 zusätzliche Transportkosten durch notwendige Rücktransporte in die richtigen


Zielmärkte und

 Opportunitätskosten durch fehlende Varianten oder zu späte Rücktransporte.

Eine Lieferunfähigkeit aufgrund einer zu geringen Produktionsmenge an Fertigpro‐


dukten kann auch zu einem Imageverlust führen. Weiterhin weist die aus der hohen
Lieferflexibilität resultierende Bestandsflexibilität den Nachteil auf, dass sich Unter‐
nehmen über Bestände, die sie versuchen in den Markt zu drücken, evtl. von der
Marktentwicklung entkoppeln.

Ein Unternehmen kann sowohl im Bereich der Produktion als auch im Bereich der
Distribution zwischen den Strategien Postponement und Speculation wählen (vgl.
Abbildung 4‐7).

Abbildung 4‐7 Postponement-Speculation-Matrix361

Distribution
Speculation Postponement
Dezentrale Zentrale Lager‐
Lagerbestände bestände und
Direktvertrieb

Speculation Full Speculation Geographic


Postponement
Lagerfertigung
Produktion

Postponement Form Post‐ Full


Kundenauf‐ ponement Postponement
tragsfertigung ‐ Labeling
‐ Packaging
‐ Assembly
‐ Manufacturing

Bei der Strategie Full Speculation werden alle Fertigungsprozesse und die Verteilung
der Endprodukte auf der Grundlage einer prognostizierten Nachfrage durchgeführt.
Die spekulativ hergestellten Enderzeugnisse gelangen innerhalb eines dezentralen
Distributionssystems zum Kunden. Geographic Postponement zeichnet sich dadurch
aus, dass die Zuweisung räumlicher Merkmale zu einem Produkt durch die Feinver‐
teilung der Fertigerzeugnisse in die Fläche aufgeschoben wird. Die in Erwartung zu‐
künftiger Bedarfe hergestellten Fertigerzeugnisse werden somit in einigen wenigen
Zentrallagern vorgehalten, und erst beim Vorliegen relativ sicherer Informationen

361 In Anlehnung an ZINN/BOWERSOX (1988); PAGH/COOPER (1998).

256
4.2
Das Postponement-Konzept

erfolgt die Distribution in die Regionallager. Diese Form des Postponements bietet sich
speziell bei Produkten an, die für den anonymen Markt gefertigt werden oder bei
denen die Variantenanzahl gering ist. Durch möglichst langes Aufschieben der Fein‐
verteilung, können die Prognosesicherheit erhöht und zusätzliche Rücktransporte
aufgrund von Fehlmengen sowie die Bestandskosten verringert werden.

Bei Anwendung der Strategie Form Postponement werden Halbfertigfabrikate speku‐


lativ auf verschiedene dezentrale Lager in Kundennähe verteilt und dort nach Eingang
eines Kundenauftrags fertiggestellt. Somit kann das Risiko reduziert werden, dass eine
andere als die vom Kunden gewünschte Produktvariante, Marke oder Packungsgröße
hergestellt wird362. Je nachdem, welcher Fertigungsschritt herausgezögert wird, kann
zwischen Labeling, Packaging, Assembly und Manufacturing Postponement unter‐
schieden werden:

 Bei Anwendung eines Labeling Postponement wird aus einem neutralen Produkt
erst durch die Etikettierung eine Produktvariante erzeugt. Insbesondere bei Pro‐
dukten, die unter verschiedenen Markennamen vertrieben werden oder die länder‐
spezifisch verschiedensprachige Etiketten benötigen, eignet sich diese Form Post‐
ponement‐Variante.

 Packaging Postponement bietet sich dann an, wenn Produkte in verschiedenartigen


Verpackungen oder Packungsgrößen verkauft werden und der Vorgang des Verpa‐
ckens zu einer Erhöhung des Gewichts oder des Volumens der Produkte führt. An‐
stelle einer Verpackung der Produkte auf der Grundlage von Prognosen erfolgt
zunächst ein Transport der Produkte in Form von Bulk‐Ware in dezentrale Lager.
Nach dem Eingang einer Bestellung wird die Ware gemäß den kundenindividuel‐
len und länderspezifischen Anforderungen verpackt. Beispielsweise wird Wein
über weite Strecken zunächst in großen Tanks transportiert, da die Abfüllung in
Flaschen noch vor dem Distributionsprozess zu einer Erhöhung des Transportge‐
wichts und ‐volumens und damit zu einem Anstieg der Transportkosten führen
würde363.

 Beim Assembly Postponement wird ein für viele verschiedene Varianten gemein‐
sames, standardisiertes Basisprodukt unter Ausnutzung von Skaleneffekten herge‐
stellt und die abschließende Montage bis zum Erhalt eines Kundenauftrags her‐
ausgezögert. Dieses Basisprodukt kann durch das Hinzufügen von Komponenten
oder Individualteilen an die kundenspezifischen Wünsche angepasst werden. Ein
typisches Beispiel für Assembly Postponement stellt die Herstellung von Mobiltele‐
fonen als neutrales Basisprodukt dar, bei denen das kundenindividuelle Merkmal
„Farbe“ erst im Geschäft beim Verkauf festgelegt wird. Die in verschiedenen Far‐
ben erhältlichen Abdeckungen werden im Geschäft vorrätig gehalten und durch

362 Vgl. MIKUS (2003, S. 172f).


363 Vgl. TWEDE ET AL. (2000).

257
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
den Verkäufer auf das Mobiltelefon zur kundenindividuellen Variantenbildung
aufgesetzt364.

 Unter Manufacturing Postponement wird die dezentrale Verlagerung von Ferti‐


gungs‐ und Montageschritten nach kundenindividuellen Wünschen verstanden.
Im Gegensatz zum Assembly Postponement können die im kundennahen Lager zu
montierenden Komponenten auch von mehreren Produktionsstätten angeliefert
werden.

Full Postponement stellt den höchsten Grad einer Postponement‐Strategie dar. Sowohl
die produktspezifizierenden Fertigungs‐ als auch die Distributionsprozesse werden
erst durch einen Kundenauftrag ausgelöst365. Die Anwendung dieser Strategie bietet
sich insbesondere dann an, wenn kundenindividuelle Produktanforderungen zu erfül‐
len sind und das Erzielen von Skaleneffekten dafür spricht, dass produktmerkmalsbe‐
stimmende Tätigkeiten an einem zentralen Produktionsort durchgeführt werden sol‐
len. Beispielsweise lagert die Konservenindustrie frisches Obst und Gemüse zentral in
neutralen Konserven und die markenspezifische Etikettierung der Konservendosen
wird dann vorgenommen, wenn Kundenaufträge der verschiedenen Lebensmittelkon‐
zerne explizit vorliegen. Die Etikettierung der neutralen Konservendosen erfolgt voll‐
automatisiert, sodass sich Skaleneffekte nur bei einer Durchführung des Etikettie‐
rungsprozesses in einem Zentrallager realisieren lassen. Die beschrifteten Konserven
werden anschließend an die Kunden ausgeliefert366.

4.2.2 Festlegung des Entkopplungspunktes


Logistische Prozesse können aufgrund von Prognosen (Push‐Prinzip) oder kundenauf‐
tragsbasiert (Pull‐Prinzip) geplant werden. Solange die Planung prognosebasiert er‐
folgt, spricht man von antizipativen bzw. auftragsneutralen Prozessen. Erfolgt dage‐
gen die Planung aufgrund eines konkreten Kundenauftrages, so handelt es sich um
reaktive Prozesse. Der Entkopplungspunkt (Order Penetration Point OPP, Decoupling
Point) bezeichnet die Schnittstelle zwischen den auf Prognosen basierenden antizipa‐
tiven und den auf Kundenaufträgen basierenden reaktiven Prozessen. Da diejenigen
Prozesse, die in der Wertschöpfungskette vor dem Entkopplungspunkt liegen, gemäß
dem Push‐Prinzip gesteuert werden, sind diese Prozesse unter Ausnutzung von Ska‐
leneffekten zur Realisierung von Kostensenkungspotenzialen entsprechend schlank zu
gestalten. Die Prozesse nach dem Entkopplungspunkt werden dagegen durch konkre‐
te Kundenaufträge ausgelöst (Pull‐Prinzip). Das Endprodukt wird gemäß den indivi‐
duellen Kundenwünschen reaktiv fertiggestellt, wobei das Erreichen eines hohen
Serviceniveaus im Vordergrund steht. Je weiter ein Kundenauftrag flussaufwärts in
der Wertschöpfungskette eingesteuert werden kann, desto geringer werden aufgrund

364 Vgl. ARNDT (2005, S. 171).


365 Vgl. YANG ET AL. (2004).
366 Vgl. TWEDE ET AL. (2000).

258
4.2
Das Postponement-Konzept

des verkürzten Prognosehorizonts die Bestände sowie die Sicherheitsbestände. Folg‐


lich ist für diese reaktiven Prozesse eine agile Wertschöpfungskette erforderlich, die
sich durch eine hohe Reaktionsfähigkeit auszeichnet367. Am Entkopplungspunkt wird
in der Regel die bzw. eine Bevorratungsebene eingerichtet, von der aus dann die kun‐
denspezifischen Prozesse erfolgen. Die folgende Abbildung 4‐8368 zeigt beispielhaft
die Lage möglicher Entkopplungspunkte in der logistischen Kette. Das oberste Bei‐
spiel stellt eine rein prognosegesteuerte Fertigung auf Lager, das unterste Beispiel eine
reine Auftragsfertigung und die dazwischen liegenden Beispiele hybride Formen
beider Methoden dar, wodurch teilweise Vorteile beider Konzepte genutzt werden
können.

Die Frage ist nun, wo der Entkopplungspunkt liegt bzw. liegen sollte, an dem die
antizipativen Prozesse durch reaktive Prozesse abgelöst werden sollen. Im Sinne der
Kundenorientierung ist es erstrebenswert, die individuellen Kundenwünsche bei mög‐
lichst vielen Prozessschritten zu berücksichtigen. Je weiter flussaufwärts sich der OPP
in der logistischen Kette befindet, desto stärker können die kundenindividuellen
Wünsche in den einzelnen Prozessen berücksichtigt werden. Die Möglichkeit, den Ent‐
kopplungspunkt tatsächlich flussaufwärts zu verschieben, hängt jedoch maßgeblich
von der vom Kunden geforderten Lieferzeit und der Auftragsdurchlaufzeit ab. Da die
vom Kunden geforderte Lieferzeit zumeist die Auftragsdurchlaufzeit unterschreitet,
erfolgen die Prozesse bis zum Eingang eines Kundenauftrages prognosebasiert durch
Vorhalten spekulativer Bestände (Push‐Prinzip). Erst danach können die antizipativen
Prozesse durch reaktive Prozesse abgelöst werden (Pull‐Prinzip).

Abbildung 4‐8 Mögliche Entkopplungspunkte (OPP) in der logistischen Kette

Zuliefe‐ Beschaf‐ Teilefer‐ Vormon‐ Endmon‐ Zentral‐ Ausliefe‐


Kunden
rer fung tigung tage tage lager rungslager
Kundenauftragsabhängige Aktivitäten

Fertigung und Auslieferung spekulativ OPP 1 Lieferung aus Auslieferungslager


Prognoseabhängige Aktivitäten

Lagerfertigung spekulativ OPP 2 Lieferung aus Zentrallager

Vormontage spekulativ OPP 3 Endmontage nach Auftragserteilung

Einkauf spekulativ OPP 4 Fertigung nach Auftragserteilung

OPP 5 Einkauf und Fertigung nach Auftragserteilung

OPP = Order Penetration Point

Gemäß YANG ET AL. (2004) soll der Entkopplungspunkt zeitlich gesehen in Richtung
Kunden verschoben werden, um der Forderung nach kurzen Lieferzeiten nachkom‐

367 Vgl. MIKUS (2003, S. 177); COLLIN/LORENZIN (2006).


368 In Anlehnung an PFOHL (2004, S. 126).

259
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
men zu können. In Verbindung mit dem Anspruch möglichst viele Prozesse reaktiv
unter Einbindung der individuellen Kundenwünsche durchzuführen folgt daraus,
dass die Durchlaufzeiten der am Ende der Wertschöpfungskette stattfindenden Pro‐
zesse verkürzt werden müssen. Im besten Fall kann der Entkopplungspunkt vor dem
ersten produktspezifizierenden Fertigungsschritt positioniert werden, sodass der Ort
der Variantenbildung idealerweise mit dem Entkopplungspunkt übereinstimmt.

Abbildung 4‐9 Erhöhung reaktiver Prozessanteile durch Verkürzung der Durchlaufzeit

DLZ
0 1 2 3 4 5 [Wochen]

Beschaf‐ Teilefer‐ Vormon‐ Endmon‐ Distri‐


Unternehmen A
fung tigung tage tage bution

antizipative Prozesse reaktive Prozesse


OPP

vom Markt
geforderte Lieferzeit

Beschaf‐ Teilefer‐ Vor‐ End‐ Distri‐


Unternehmen B
fung tigung montage montage bution

antizipative
reaktive Prozesse
Prozesse
OPP

vom Markt
geforderte Lieferzeit

Zur Bestimmung des Entkopplungspunktes geht man, angefangen von der Ausliefe‐
rung an den Kunden, im Wertschöpfungsprozess diejenige Zeitspanne zurück, die der
vom Markt geforderten Lieferzeit entspricht. In Abbildung 4‐9 sind zwei konkurrie‐
rende Unternehmen A und B dargestellt, bei denen die vom Markt geforderte Liefer‐
zeit für deren Produkte jeweils zwei Wochen beträgt. Die Auftragsdurchlaufzeit von
Unternehmen A beträgt fünf Wochen, sodass der Entkopplungspunkt in der Endmon‐
tage liegt. Bis zum Entkopplungspunkt basiert der Herstellungsprozess auf prognosti‐
zierten Daten, d. h. lediglich ein Teilbereich der Endmontage und die Distribution
erfolgen auftragsbasiert. Das Konkurrenzunternehmen B benötigt nur eine Durchlauf‐
zeit von 3,5 Wochen, sodass der Entkopplungspunkt bereits vor der Vormontage liegt.
Aufgrund der geringeren Auftragsdurchlaufzeit hat Unternehmen B gegenüber A den
Vorteil, bereits in der Vormontage kundenindividuelle Wünsche zu berücksichtigen.
Die Lagerbestände und die daraus resultierenden Bestandskosten (insb. die Kapital‐
bindungskosten) sind dadurch geringer. Unternehmen A könnte z. B. im Rahmen eines

260
4.2
Das Postponement-Konzept

Benchmarking‐Projekts369 nach „best practices“ zur Reduzierung der Durchlaufzeit


suchen. Wie Abbildung 4‐9 zu entnehmen ist, kann der Entkopplungspunkt nur dann
weit vorn im Wertschöpfungsprozess liegen, wenn die Durchlaufzeit der reaktiven
Prozesse gering ist oder der Markt eine lange Lieferzeit erlaubt.

Bei der Festlegung des Entkopplungspunktes spielen insbesondere finanzielle Fakto‐


ren eine bedeutende Rolle, sodass eine Kosten‐Nutzen‐Analyse ratsam ist. Eine Analy‐
se bezüglich der Kosten‐ und Nutzeneffekte einer Postponement‐Strategie ist umso
komplexer, je früher Postponement im Wertschöpfungsprozess umgesetzt wird, da
mehr Stufen berücksichtigt werden müssen. Somit muss im Einzelfall geprüft werden,
ob bei Einführung einer Postponement‐Strategie die entstehenden Kosten geringer
sind als die realisierbaren Einsparungen und die zusätzlich entstandenen Erträge. Als
Ergebnis einer Kosten‐Nutzen‐Analyse ist es durchaus möglich, dass der Entkopp‐
lungspunkt über die vom Markt geforderte Lieferzeit hinaus gesetzt werden sollte.

4.2.3 Auswahl geeigneter Postponement-Speculation-


Strategien
Die Entscheidung, welche der in Abbildung 4‐7 genannten Postponement‐Speculation‐
Strategien im Unternehmen umgesetzt werden können, wird von der Kunden‐
nachfrage und dem Produktlebenszyklus, den Möglichkeiten der Modularisierung
bzw. Standardisierung von Produkten und Prozessen sowie der vom Markt geforder‐
ten Lieferzeit und ‐frequenz beeinflusst.

Die Einführung einer Postponement‐Strategie ist insbesondere bei Produkten mit


kurzen Lebenszyklen empfehlenswert. Kurze Produktlebenszyklen und die durch die
globale Beschaffung verursachten langen Vorlaufzeiten erschweren eine verlässliche
Prognose. Aufgrund technischer Neuerungen oder modischer Trends werden diese
kurzlebigen Produkte nicht mehr nachgefragt, sodass spekulativ vorgehaltene Bestän‐
de nicht mehr oder nur mit Preisabschlägen verkauft werden können. Als typisches
Beispiel für Produkte mit kurzen Lebenszyklen können High‐Tech‐Produkte wie z. B.
Mobiltelefone oder Personalcomputer aber auch Produkte aus der Modeindustrie
genannt werden. In diesem Fall bietet es sich an, Produktions‐ und Distributionspro‐
zesse durch eine geeignete Postponement‐Strategie zu verzögern370. Insbesondere bei
hochwertigen Endprodukten, deren spekulative Lagerung zu hohen Kapitalbindungs‐
kosten führt, sollten die Fertigungsprozesse durch Anwendung einer Form Postpone‐
ment‐Strategie verzögert werden371. Geringwertige Produkte sollten dagegen unter
Inkaufnahme erhöhter Lagerbestände nur gebündelt in Form von kompletten LKW‐
Ladungen auf verschiedene Auslieferungslager verteilt werden372.

369 Vgl. Kapitel 4.1.


370 Vgl. YANG ET AL. (2004).
371 Vgl. PAGH/COOPER (1998).
372 Vgl. BRETZKE (2010, S. 82f).

261
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Betrachtet man die vier Phasen des Produktlebenszyklus, die sich in Einführung,
Wachstum, Reife und Degeneration unterteilen lassen, dann ist eine Postponement‐
Strategie vor allem zum Ende der Wachstums‐ und während der Reifephase empfeh‐
lenswert. Während dieser beiden Phasen steigt die Zahl der Konkurrenten an, die
Variantenanzahl nimmt zu und die Unternehmen sind aufgrund des abnehmenden
Absatzwachstums zu Kostensenkungen gezwungen373. In diesen Phasen ist die mit
der Postponement‐Strategie verbundene Kostenersparnis und die resultierende Re‐
duktion der Variantenvielfalt als besonders hoch einzuschätzen.

Eine notwendige Voraussetzung für die Anwendung von Assembly oder Manufac‐
turing Postponement ist die Produktmodularisierung. Die Modularisierung bezeichnet
eine Produktgestaltungsstrategie zur Beschränkung der Variantenvielfalt, bei der ein
Endprodukt aus kleineren, voneinander unabhängigen Modulen gefertigt wird. Die
Produktmodularisierung ist damit eine notwendige Bedingung, um finale Produkti‐
onsschritte wie z. B. die Endmontage flussabwärts in die Wertschöpfungskette zu
verschieben und somit in einem Auslieferungslager in Kundennähe durchführen zu
können. Werden zusätzlich durch eine Produktstandardisierung sogenannte generi‐
sche Produkte geschaffen, die als Basiskomponenten Eingang in eine kundenindividu‐
elle Produktgestaltung finden, dann lässt sich die unternehmensinterne Produktviel‐
falt reduzieren und die für den Kunden erkennbare Varietät der Produkte maximieren.
Wenn verschiedene Produkte denselben Produktionsprozess durchlaufen, dann kann
die Produktionsplanung verbessert und die Durchlaufzeiten reduziert werden.

Falls Kunden eine hohe Lieferfrequenz bei gleichzeitig kurzer Lieferzeit fordern, kann
eine Full Speculation‐Strategie sinnvoll sein, bei der Produkte zu großen Teilen speku‐
lativ gefertigt und in die Kundenmärkte verteilt werden. Umgekehrt wird die Anwen‐
dung einer Form oder Geographic Postponement‐Strategie insbesondere dann ermög‐
licht, wenn der Kunde bereit ist längere Lieferzeiten in Kauf zu nehmen, um somit ein
speziell auf seine Wünsche zugeschnittenes Produkt zu erhalten. Des Weiteren wird
die Umsetzung einer Postponement‐Strategie erleichtert, wenn die vom Kunden ge‐
forderte Lieferfrequenz für die gewünschten Produkte niedrig ist374.

4.2.4 Vorteile und Risiken von Postponement-Strategien


Die Anwendung von Postponement‐Strategien ermöglicht es Unternehmen die beiden
Wettbewerbsstrategien Kostenführerschaft oder Differenzierung zur hybriden Wett‐
bewerbsstrategie Mass Customization zu vereinen und kundenindividualisierte Pro‐
dukte dem breiten Massenmarkt anzubieten. Um die Preise der individualisierten
Produkte und Dienstleistungen niedrig zu halten, erfolgt die Kombination von Push‐
und Pull‐Prinzip. Unter Ausnutzung von Skalen‐ und Verbundeffekten werden zu‐
nächst mit Hilfe des Push‐Prinzips standardisierte Module in großen Stückzahlen auf

373 Vgl. KOTLER ET AL. (2011, S. 671f).


374 Vgl. PAGH/COOPER (1998).

262
4.2
Das Postponement-Konzept

der Basis antizipativer Prozesse vorgefertigt. Die sich anschließende nach dem Pull‐
Prinzip gesteuerte reaktive Fertigung konfiguriert diese Module zu kundenindividuel‐
len Produkten, wobei die Integration des Kunden in den Leistungserstellungsprozess
ein konstituierendes Merkmal des Mass Customization darstellt. Somit kann eine
größtmögliche Deckungsgleichheit von Kundenbedürfnissen und Produkteigenschaf‐
ten hergestellt und der Kundennutzen maximiert werden375. Die Postponement‐
Strategie stellt eine mögliche Ausprägungsform des Mass Customization dar, bei der
die Konfiguration generischer Produkte zu kundenindividuellen Endprodukten bis
zum spätmöglichsten Zeitpunkt in der Wertschöpfungskette hinausgezögert wird.
Diese späte Variantenbildung führt dazu, dass die Vorteile des Mass Customization
optimal ausgenutzt werden können.

Die mit der Umsetzung von Postponement‐Strategien verbundenen Vorteile wirken


sich auf die Kundenzufriedenheit sowie auf die Realisierung von Kostenvorteilen aus.
Unterstellt man einen ausreichenden Bestand an generischen Produkten bzw. an End‐
produkten bei Anwendung einer Form Postponement‐ bzw. Geographic Postpone‐
ment‐Strategie, dann kann durch Anwendung dieser beiden Postponement‐Strategien
das Risiko einer Marktunterversorgung reduziert werden. Dies lässt ich darauf zu‐
rückführen, dass kundenindividuelle Produktmerkmale und die Feinverteilung in die
Fläche erst auf der Grundlage genauerer Marktinformationen festgelegt werden376.
Weiterhin ermöglicht die Aufteilung des Produktionsprozesses in antizipative und
reaktive Prozesse beim Assembly‐ und Manufacturing‐Postponement eine Beschleuni‐
gung der produktspezifizierenden Produktionsprozesse. Prognosezyklen können
dadurch verkürzt und aufgrund aktueller Marktinformationen können die erforderli‐
chen Prognosen genauer auf die Nachfrage ausgerichtet werden. Als Resultat ergeben
sich eine höhere Lieferbereitschaft und ‐zuverlässigkeit sowie kürzere Lieferzeiten.
Des Weiteren kann das Unternehmen mit einer besseren Reaktionsfähigkeit auf sich
ständig ändernde Kundenwünsche reagieren.

Die mit der Anwendung von Postponement‐Strategien verbundenen Kostenvorteile


beziehen sich auf die Verringerung von Bestands‐, Produktions‐ und Transportkosten.
Der Vorteil eines gemeinsamen Lagerbestands an generischen Produkten liegt im Risk
Pooling begründet, das eine Reduzierung des Sicherheitsbestandes bei konstantem
Servicegrad erlaubt, wie folgendes Beispiel zeigt.

Beispiel 4.2.1:

Ein Unternehmen hält vier kundenspezifische Varianten am Lager vor. Der Sicher‐
heitsbestand wird durch Multiplikation der Standardabweichung  des Kundenbe‐
darfs mit einem Sicherheitsfaktor k bestimmt. Unterstellt man einen  ‐Servicegrad
von 93,3%, dann ergibt sich ein Sicherheitsfaktor von k = 1,5. In der folgenden Tabelle

375 Vgl. WERNER (2010, S. 136‐141); DIETRICH (2007, S. 12ff).


376 Vgl. MIKUS (2003, S. 165).

263
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
können die einzelnen Sicherheitsbestände sowie die Summe der Sicherheitsbestände
der drei Varianten in Höhe von 58,5 ME entnommen werden.
Wird nun anstelle der vier Varianten ein generisches Produkt auf Lager gehalten,
dann ergibt sich bei Annahme einer unabhängigen Nachfrage der vier Varianten die
Standardabweichung  gen der Nachfrage des generischen Produkts aus der
Wurzel der Summe der quadrierten Standardabweichungen der vier Varianten:
 gen  82  9 2  10 2  12 2  20 . Unterstellt man den gleichen  ‐Servicegrad, dann
muss für das generische Produkt nur ein Sicherheitsbestand von SBgen  20  1,5  30
ME vorgehalten werden. Durch die Lagerung generischer Produkte, die einen geringe‐
ren Wertschöpfungsanteil als Endprodukte haben, können zusätzlich zur Verringe‐
rung des Sicherheitsbestands auch die Kapitalbindungskosten reduziert werden.

Variante 1 Variante 2 Variante 3 Variante 4


Standardabweichung  8 9 10 12
Sicherheitsbestand ( SB ) 12 13,5 15 18
Summe SB 58,5

Neben den Beständen ist durch die Verfolgung der Postponement‐Strategie auch das
Risiko beim Wegfall einer Variante geringer. Wenn Produkte möglichst lange in einer
neutralen Form vorgehalten werden, reduziert sich das Risiko, dass unverkäufliche
Varianten im Lager zurückbleiben.

Im Vergleich zu einer traditionellen Produktion mit frühzeitiger Variantenbildung


können durch Umsetzung einer Form Postponement‐Strategie generische Produkte bis
zum Entkopplungspunkt unter Ausnutzung von Größendegressions‐ und Synergieef‐
fekten kostengünstig hergestellt werden. Die Herstellung großer Stückzahlen führt zur
Realisierung von Erfahrungskurveneffekten und somit zu geringeren Stückkosten. Des
Weiteren können mit einem Form Postponement durch eine Verringerung von Volu‐
men und Gewicht bei den Produkten Transportkosten eingespart werden. Insbesonde‐
re bei Ländern, in denen für Fertigerzeugnisse höhere Zölle und Steuern anfallen als
für generische Halbfabrikate, ist diese Kostenersparnis von Bedeutung. Durch An‐
wendung einer Geographic Postponement‐Strategie – verbunden mit einer zentralen
Lagerhaltung – beschränkt sich die Verringerung der Transportkosten auf den Verzicht
von notwendigen Rücktransporten nicht nachgefragter, bereits in Auslieferungslager
verteilter Endprodukte.

Ob die Realisierung einer Postponement‐Strategie für ein Unternehmen wirtschaftlich


sinnvoll ist, ergibt sich erst durch einen Vergleich der realisierbaren Einsparungen mit
den durch die Umsetzung entstehenden Kosten. Durch die Implementierung einer
Postponement‐Strategie sind Investitionen für die Beschleunigung der physischen und

264
4.2
Das Postponement-Konzept

informatorischen Prozesse, für strukturelle Änderungen der Produkte, der Produkti‐


onsprozesse und des Produktionslayouts sowie für die Durchführung produktspezifi‐
zierender Prozesse in Kundennähe (z. B. in Regionallagern) notwendig. Darüber hin‐
aus können bei einer Verlagerung dieser Produktionsprozesse von einer zentralen zu
einer dezentralen Fertigung aufgrund kleinerer Losgrößen weniger Skalen‐ und Ver‐
bundeffekte realisiert werden377. Entscheiden sich Unternehmen für die Umsetzung
einer Geographic Postponement‐Strategie, dann kann eine zentrale Lagerung von
Fertigprodukten dazu führen, dass immer kleinere Transportmengen in kleineren
Zeitabständen über größere Transportdistanzen zu ihrem Bestimmungsort zurückle‐
gen müssen. Das Problem großer Transportdistanzen kann zusätzlich zu längeren
Lieferzeiten und aufgrund einer Verschlechterung des Lieferservice zu negativen
Kundenbindungseffekten führen.

4.2.5 Veränderungen logistischer Strukturen und Prozesse


Eine Voraussetzung zur erfolgreichen Umsetzung von Postponement‐Strategien ist die
Bereitschaft zur Veränderung logistischer Prozesse und Strukturen. Unter strukturel‐
len Veränderungen sind dabei Modifikationen an den Produkten, den Produktions‐
prozessen, dem Fertigungslayout sowie am Distributions‐ und Beschaffungssystem zu
verstehen. Des Weiteren ist der Einsatz moderner Informations‐ und Kommunikati‐
onstechnologien Voraussetzung für die Einführung von Postponement‐Strategien.
Eine frühzeitige Informationsversorgung der Unternehmensbereiche über aktuelle
Marktentwicklungen (z. B. gewünschte Ausstattungsvarianten, Entwicklung der
Nachfrage) ist notwendig, um die Aktivitäten vor dem Entkopplungspunkt effektiv
und effizient gestalten und so die entsprechenden Baugruppen oder Komponenten
bereithalten zu können. Im Folgenden werden Gestaltungsempfehlungen und Mög‐
lichkeiten der Umsetzung von Postponement‐Strategien für die Bereiche Beschaffung,
Produktion und Distribution aufgezeigt.

Um bei Beschaffungsprozessen auf Kundenwunschänderungen reagieren zu können,


sollte ein Unternehmen im Idealfall bei den Lieferanten seine Bedarfe erst dann bestel‐
len, wenn ein konkreter Kundenauftrag vorliegt. Dies erfordert jedoch von den Liefe‐
ranten eine extrem hohe Flexibilität und kurze Lieferzeiten. Diese geforderte hohe
Reaktionsfähigkeit der Lieferanten kann nur dann ermöglicht werden, wenn sich das
Unternehmen auf wenige Lieferanten beschränkt378. Deshalb wird sich das beschaf‐
fende Unternehmen unter Anwendung eines Single Sourcing auf die Zusammenarbeit
mit wenigen ausgewählten Lieferanten konzentrieren. Diese meist langfristig angeleg‐
te Partnerschaft basiert auf einer vertrauensvollen, qualitätsorientierten Zusammenar‐
beit, bei der Investitionen gemeinsam getätigt, Schnittstellen aufeinander abgestimmt
sowie Daten, Technologie und Know‐how transferiert werden, sodass die notwendige

377 Vgl. ZINN/BOWERSOX (1988); MIKUS (2003, S. 176).


378 Vgl. EICKE (1992).

265
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Flexibilität garantiert und kurze Lieferzeiten sichergestellt werden können. Somit kann
die Grundlage für innovative Beschaffungskonzepte wie z. B. Just‐in‐Time oder Just‐
in‐Sequence geschaffen werden. Die aufgrund der Umsetzung der Postponement‐
Strategie in der Fertigung verstärkte Produktmodularisierung379 kann sich bis auf den
Beschaffungsprozess auswirken. So werden bereits von Modul‐ bzw. Systemlieferan‐
ten komplexe Baugruppen im Rahmen eines Modular Sourcing bezogen. Durch ein
Modular Sourcing kann zusätzlich die Lieferantenanzahl verringert und somit die
Anzahl der Schnittstellen sowie die Beschaffungsmarktkomplexität reduziert werden.
Entscheidend ist außerdem ein schneller Austausch von Bestellinformationen und
Prognosedaten zwischen Lieferant und Bedarfsträger, z. B. per Electronic Data Inter‐
change.

Beispiel 4.2.2:

Das Unternehmen LUCE, welches sich auf die Produktion und den Vertrieb von
Lichtquellen konzentriert, weist eine sehr hohe Variantenvielfalt auf. Diese große Vari‐
antenvielfalt ist auf Eigenschaften wie Leistung, Spannung, Anzahl unterschiedlicher
Marken und Verpackungsgrößen zurückzuführen. Insbesondere bei den endverpack‐
ten Produkten liegt eine sehr hohe Prognoseunsicherheit vor. Bisher wurden die End‐
produkte auf der Basis von Prognosen auf Lager gefertigt und verpackt. Um den An‐
teil der antizipativen Prozesse und somit den Prognosehorizont zu verringern, musste
eine flexible Anpassung der Fertigungsstruktur an das Nachfrageverhalten des Mark‐
tes umgesetzt werden. Dazu trennte LUCE den Verpackungsprozesses vom Ferti‐
gungsprozess, indem die Verpackung an ein Unternehmen fremdvergeben wurde. Die
Endprodukte werden somit nicht mehr verpackt gelagert, sondern unverpackt in Be‐
hältern zwischengelagert. Durch die Trennung des Verpackungsprozesses vom Ferti‐
gungsprozess konnte die Durchlaufzeit verringert werden. Mit dem Verpackungsliefe‐
ranten wurde eine Just‐in‐Time‐Lieferung vereinbart, die eine möglichst späte Bestel‐
lung ermöglicht und somit die Flexibilität erhöht. Die Umsetzung von Postponement
in der Beschaffung in Verbindung mit dem Form Postponement führte zu einer Ver‐
schiebung des Verpackungsprozesses (vgl. Abbildung 4‐10).

Im Produktionsbereich betreffen die strukturellen Änderungen zunächst die Produkt‐


modularisierung und ‐standardisierung bzw. die Prozessmodularisierung. Durch eine
Produktmodularisierung können flache Erzeugnisstrukturen mit parallelen Arbeits‐
vorgängen geschaffen werden, die zur Verkürzung der Durchlaufzeit beitragen. Bei‐
spielsweise sollten bei länderspezifisch bedingten Konstruktionsunterschieden struk‐
turelle Veränderungen in der Produktion derart vorgenommen werden, dass länder‐
neutrale Komponenten möglichst spät mit länderspezifischen Baugruppen kombiniert
werden380. Bei einer Produktstandardisierung beispielsweise durch Anwendung einer

379 Vgl. Kapitel 4.3.4.1.


380 Vgl. EICKE (1992).

266
4.2
Das Postponement-Konzept

Plattformstrategie381 sollte beachtet werden, dass sich die Auswahlmöglichkeiten für


die Kunden nicht reduzieren. Durch eine Modularisierung der Prozesse können bisher
sequentiell durchgeführte Prozessschritte parallelisiert oder auch in ihrer Reihenfolge
vertauscht werden382. Dadurch gelingt es, den Entkopplungspunkt in der Wertschöp‐
fungskette so festzulegen, dass er mit der Variantenbildung zusammenfällt383.

Abbildung 4‐10 Postponement in der Beschaffung

DLZ
0 1 2 3 4 5 [Wochen]

Rohstoffe Produkte
beschaffen fertigen
Produkte Produkte Produkte
Ausgangssituation
verpacken lagern ausliefern
Rohstoffe Verpackungen
beschaffen fertigen

antizipative reaktive
Prozesse Prozesse

vom Markt geforderte bzw.


akzeptierte Lieferzeit

Rohstoffe Produkte Produkte Produkte Produkte


beschaffen fertigen lagern verpacken ausliefern

Mit Postponement
Verpa‐
ckungen
beschaf‐
fen

antizipative reaktive
Prozesse Prozesse

vom Markt geforderte bzw.


= OPP
akzeptierte Lieferzeit

Beispiel 4.2.3:

Das italienische Textilunternehmen Benetton muss die Ware für eine Saison mit einem
sehr langen Vorlauf von ca. 6‐12 Monaten bestellen. Die richtigen Modetrends so früh
abzuschätzen ist nahezu unmöglich, sodass Verkaufsschlager bereits nach einigen
Monaten ausverkauft und Ladenhüter im Schlussverkauf nur mit Preisrabatten zu
verkaufen waren. Als wesentliches Problem im Herstellungsprozess hat sich die Farb‐
gebung herausgestellt. Traditionell wurde das Garn bei Benetton erst gesponnen und
anschließend eingefärbt. Darauf folgte ein zeitintensiver Prozess, bei dem zunächst

381 Vgl. Kapitel 4.3.4.1.


382 Vgl. Kapitel 3.2.1.6.
383 Vgl. YANG ET AL. (2004).

267
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
aus dem gefärbten Garn die Stoffe gewebt werden, um diese anschließend zu ver‐
kaufsfähigen Kleidungsstücken zu verarbeiten.

Um die langen Durchlaufzeiten der Produktion und die unbeständigen Modetrends


zu bewältigen, modularisierte Benetton im Rahmen einer Postponement‐Umsetzung
die Prozesse und verschob anschließend den Färbeprozess hinter den Web‐ und
Schneiderprozess an das Ende der Wertschöpfungskette. Dadurch gelang es Benetton
den Entkopplungspunkt noch vor dem entscheidenden Fertigungsprozess des Färbens
zu positionieren. Die Stoffe werden zunächst hergestellt und zu fertigen Hosen, Pullo‐
vern, etc. verarbeitet und anschließend erfolgt die Farbgebung (vgl. Abbildung 4‐11).
Nach Saisonbeginn wird über eine direkte Rückkopplung mit den Scannerkassen im
Einzelhandel mit größerer Sicherheit prognostiziert, welche Farben sich zum Ver‐
kaufsschlager entwickeln und welche nicht. Verkaufsschlager können nun einfach
nachproduziert werden, da die bereits vorhandenen generischen Produkte nur noch
eingefärbt werden müssen. Die Reihenfolgeänderung der Prozesse führte bei Benetton
zu einer enormen Bestandsreduzierung und zu einem verbesserten Kundenservice384.

Abbildung 4‐11 Postponement in der Produktion

DLZ
0 1 2 3 4 [Wochen]

Gefärbtes Garn Garn Produkte Produkte


Ausgangssituation
beschaffen verarbeiten lagern ausliefern

antizipative reaktive
Prozesse Prozesse

vom Markt geforderte


bzw. akzeptierte
Lieferzeit
DLZ
0 1 2 3 4 [Wochen]

ungefärbtes Garn Garn Produkte Produkte Produkte


Mit Postponement
beschaffen verarbeiten lagern färben ausliefern

antizipative reaktive
Prozesse Prozesse

vom Markt geforderte


bzw. akzeptierte
= OPP Lieferzeit

384 Vgl. YANG/BURNS (2003).

268
4.2
Das Postponement-Konzept

Neben der Produkt‐ und Prozessmodularisierung kann eine Verkürzung der Durch‐
laufzeit auch durch ein verändertes Fertigungslayout erzielt werden. Für die vor dem
Entkopplungspunkt liegenden antizipativen Prozessschritte, mit denen generische
Produkte unter Ausnutzung von Skaleneffekten kostenminimal hergestellt werden,
bietet sich eine Fließfertigung an. Für die nach dem Entkopplungspunkt liegenden
reaktiven Fertigungsprozesse, die sich durch Agilität auszeichnen, empfiehlt sich die
Anwendung einer Fertigungssegmentierung385, mit der die Produktivitätsvorteile
einer Fließfertigung mit den Flexibilitätsvorteilen einer Werkstattfertigung verbunden
werden386. Falls das zu realisierende Produktionsvolumen einzelner Varianten oder
Produktgruppen zu klein und der Wiederholungsgrad bestimmter Fertigungsaktivitä‐
ten zu gering ist, um den beträchtlichen Aufwand und die Kosten einer Reorganisati‐
on im Rahmen der Fertigungssegmentierung zu rechtfertigen, können die reaktiven
Prozesse auch nach dem Prinzip einer Werkstattfertigung organisiert werden.

Für den Bereich der Distribution gilt, dass durch die Realisierung einer Geographic
Postponement‐Strategie die Stufigkeit des Distributionssystems beeinflusst wird.
Durch die Reduzierung der vertikalen und horizontalen Stufigkeit des Distributions‐
systems387 entsteht ein flaches Lagersystem. Ausgehend von einem Zentral‐ oder
Werkslager werden die verschiedenen Auslieferungslager erst nach Eintreffen relativ
sicherer Informationen beliefert. Durch die verringerte Stufigkeit des Distributions‐
systems vergrößert sich jedoch die räumliche Entfernung zwischen Zentrallager bzw.
Auslieferungslager und Kunde. Diese Distanz ist in kürzester Zeit zu überwinden, um
eine für den Kunden noch akzeptable Lieferzeit zu gewährleisten. Deshalb sind die
Transport‐, Kommissionierungs‐ und Umschlagsprozesse als auch der Informations‐
fluss zu beschleunigen. Neben den klassischen Ansätzen wie Express‐Dienste, 24h‐
Services oder dem Einsatz von Gebietsspediteuren unterstützt auch das Konzept der
„rollenden Lager“ flexible und zeitsparende Transporte388. Beim „rollenden Lager“
werden Fertigerzeugnisse, die nicht explizit für das Auffüllen eines Lagers oder für
bestimmte Kunden reserviert sind, auf LKW verladen und während der Fahrt dispo‐
niert. Der Fahrer wird über Satellit in die Informationskette eingebunden und erhält
Echtzeit‐Informationen über den Abladeort und die zu liefernde Menge389. Da die
Routen und Zeitpläne auf der Basis aktueller Informationen über die zu transportie‐
renden Waren immer wieder neu berechnet werden, lässt sich die Ausnutzung der
Fahrzeuge verbessern und Leerfahrten können vermieden werden. Weiterhin tragen
eine Verdichtung kleiner Sendungen in Transitterminals und eine Automatisierung
der Lager zu einer Verringerung der Lieferzeiten bei.

385 Vgl. Kapitel 4.3.4.3.


386 Vgl. EICKE (1992).
387 Vgl. LASCH (2020, S. 180ff).
388 Vgl. YANG ET AL. (2005).
389 Vgl. LASCH (2020, S. 329ff).

269
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Beispiel 4.2.4:

Der schwedische Werkzeughersteller Atlas Copco Tools AB hatte bisher eine mehrstu‐
fige Distributionsstruktur mit sieben Werkslager, zwei Zentrallager (Finnland und
Schweden), mehrere nationale Lager und einigen Regionallager aufgebaut. Die Regio‐
nallager wurden von den nationalen Lagern beliefert und diese wiederum von einem
der zwei Zentrallager. In den Regionallagern wurde jeweils das gesamte Sortiment
gelagert. Mit dieser mehrstufigen Struktur sollte die Zielsetzung einer geografischen
Nähe zu den Kunden umgesetzt werden. Bei den täglich über 1.000 eingehenden
Kundenaufträgen wurden im Durchschnitt jeweils drei Produkte bestellt, wobei 80 %
dieser Aufträge von europäischen Kunden stammen. Starke Nachfrageschwankungen
führten dazu, dass trotz der Verfügbarkeit aller Produkte nur 70 % der Bestellungen
aus den Regionallagern abgewickelt werden konnten. Obwohl von den Regionallagern
aus eine Lieferzeit von zwei Tagen möglich ist, betrug diese aufgrund der häufig vor‐
kommenden Unterversorgung der Regionallager mit nachgefragten Produkten durch‐
schnittlich zwei Wochen. Um die Lieferzeiten zu verbessern, wurde ein Geographic
Postponement umgesetzt (vgl. Abbildung 4‐12).

Abbildung 4‐12 Postponement in der Distribution

antizipative
Prozesse DLZ

Rohstoffe Produkte Produkte Produkte ko‐ Produkte an Produkte Produkte ko‐


beschaffen fertigen lagern missionieren ZL. liefern lagern missionieren

Ausgangssituation

Produkte an Produkte Produkte ko‐ Produkte an Produkte Produkte ko‐ Produkte an


NL. liefern lagern missionieren RL. liefern lagern missionieren K. liefern

DLZ
[Wochen]
antizipative reaktive
Prozesse Prozesse

vom Markt geforderte


bzw. akzeptierte
Lieferzeit
DLZ

Rohstoffe Produkte Produkte Produkte ko‐ Produkte an Produkte Produkte ko‐ Produkte an
Mit Postponement
beschaffen fertigen lagern missionieren ZL. liefern lagern missionieren K. liefern

antizipative reaktive
Prozesse Prozesse
vom Markt geforderte
= OPP ZL.. = Zentrallager RL. = Regionallager bzw. akzeptierte
Lieferzeit
NL. = nationales Lager K. = Kunde

Die Regionallager wurden geschlossen und es wurde ein gemeinsames Zentrallager in


Belgien eröffnet, von dem Europa per Flugzeug oder Lastkraftwagen beliefert wurde.
Die bestellten Produkte wurden an einen bestimmten zentralen Ort eines Landes gelie‐
fert, von dem die weitere Auslieferung bis zum Kunden durch ein nationales Trans‐
portunternehmen oder einen Postdienst übernommen wurde. Durch die Reduktion

270
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

der Stufigkeit der Distributionsstruktur konnten die Lagerbestände um mehr als 33 %


reduziert werden und die durchschnittliche Lieferzeit verkürzte sich von zwei Wochen
auf 24 bis 72 Stunden je nach Lage des Kunden. Der ‐Servicegrad konnte von 70 auf
93 % verbessert werden, wobei die Transportkosten nicht gestiegen sind390. In der
Abbildung 4‐12 wird ersichtlich, dass neben einer Reduktion der Komplexität der
Distributionsstruktur auch der Zeitanteil der antizipativen Prozesse deutlich reduziert
werden konnte. Durch die Umsetzung von Geographic Postponement war es möglich,
den Prognosehorizont zu verkürzen und die Prognosegenauigkeit zu verbessern.

4.3 Management der Komplexität in der Logistik


Aufgrund gestiegener und individueller Kundenanforderungen ist in den vergan‐
genen Jahren in nahezu sämtlichen Branchen eine rasche Zunahme der Typen‐, Vari‐
anten‐ und Teilevielfalt zu beobachten, sodass auch gleichzeitig die Komplexität der
Planung, Steuerung und Kontrolle der logistischen Abläufe und Prozesse immer wei‐
ter zunimmt. Aber auch die zunehmende Dynamik auf den Beschaffungs‐ und Ab‐
satzmärkten, Unsicherheiten in den Bereichen Nachfrage, Versorgung und Technolo‐
gie sowie die vielfältigen Schnittstellen zu den beteiligten Partnern eines Wertschöp‐
fungsnetzwerks führen zu einem Anstieg der Komplexität. Als Folge ergeben sich
intransparente Abläufe, eine verminderte Leistungsfähigkeit sowie steigende Kosten
in der Logistik. Im Rahmen des Komplexitätsmanagements wird versucht, die Kom‐
plexität auf der Produkt‐, Produktprogramm‐, Prozess‐ und Organisationsebene auf
dasjenige Maß zu beschränken, das für eine erfolgreiche Positionierung im Wettbe‐
werb erforderlich ist. Ein effektives und effizientes Komplexitätsmanagement stellt
zunehmend einen entscheidenden Erfolgs‐ und Wettbewerbsfaktor dar und wird als
eine der zentralen Herausforderungen im Supply Chain Management angesehen.

Lernziele:

 Dimensionen der Komplexität


 Komplexitätsursachen und ‐auswirkungen
 Komplexitätsstrategien und ‐nutzen
 Einzelansätze des Varianten‐ und Komplexitätsmanagements
 Umsetzung eines ganzheitlichen Komplexitätsmanagements

390 Vgl. ABRAHAMSSON (1993, S. 77ff).

271
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.3.1 Determinanten, Ursachen und Auswirkungen von
Komplexität
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird der Komplexitätsbegriff u. a. in
der Biologie, der Physik, der Soziologie, der Systemtheorie und den Wirtschaftswis‐
senschaften vielschichtig, mehrdimensional und transdisziplinär diskutiert391. Im
allgemeinen Sprachgebrauch werden mit dem Begriff der Komplexität vornehmlich
komplizierte, undurchschaubare, unverständliche oder unübersichtliche Aspekte ver‐
bunden392. Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften existieren zahlreiche Definiti‐
onsansätze zur Komplexität, die sich jedoch weniger widersprechen, sondern eher
ergänzen393. Im Folgenden wird Komplexität durch die beiden statischen Dimensio‐
nen Vielzahl und Vielfalt sowie die beiden dynamischen Dimensionen Veränderlich‐
keit und Vieldeutigkeit charakterisiert394:

 Die Vielzahl gibt die Anzahl der Elemente und Relationen an und spiegelt sich
z. B. in der Anzahl angebotener Produkte und Produktvarianten, der Menge un‐
terschiedlicher Distributionskanäle, der Anzahl zu bedienender Märkte bzw.
Kundengruppen, der Lieferantenanzahl oder der Anzahl zu beschaffender Mate‐
rialien, Baugruppen oder Kaufteile wider395.
 Neben der Vielzahl wirkt sich auch die Vielfalt oder Verschiedenartigkeit auf die
Entstehung von Komplexität aus. Somit wird die Komplexität durch den Grad, in
dem sich Elemente und Objekte unterscheiden, determiniert. Beispielsweise erhö‐
hen wenig standardisierte Prozessabläufe sowie viele Schnittstellen die Komplexi‐
tät.
 Die Veränderlichkeit bestimmt das Zeitverhalten und somit die Dynamik von
Systemen und zeigt sich in der Häufigkeit sowie der Schnelligkeit mit der sich
Elemente oder Einflussgrößen auf das System verändern. Eine permanente Ände‐
rung von Produkten oder Prozessen erhöht beispielsweise die Komplexität im
Unternehmen.
 Ein weiterer ursächlicher dynamischer Faktor für die Entstehung von Komplexität
ist die Vieldeutigkeit, durch die Unsicherheiten und Unbestimmtheiten der Sys‐
temelemente sowie ihre zukünftigen Entwicklungen ausgedrückt werden. So füh‐
ren z. B. unsichere Prognosen oder wenig verlässliche Wiederbeschaffungszeiten
zu erhöhten Sicherheitsbeständen.

Diese vier Dimensionen stellen konstitutive Eigenschaften der Komplexität dar. Dem‐
nach wird Komplexität als eine Systemeigenschaft verstanden, die durch die Anzahl,

391 Vgl. KIRCHHOF (2003, S. 11f).


392 Vgl. MALIK (2000, S. 185).
393 Vgl. DEHNEN (2004, S. 30).
394 Vgl. REIß (1993a, S. 58).
395 Vgl. BOHNE (1998, S. 23ff.).

272
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

Verschiedenartigkeit und Unsicherheit der Elemente und ihrer Beziehungen unterei‐


nander sowie deren Veränderung im Zeitverlauf bestimmt wird396.

Die Ursachen und Auswirkungen von Komplexität sind sehr umfassend, vielfältig
und unternehmensspezifisch zu betrachten. Zudem stehen viele Ursachen in wechsel‐
seitigen Wirkbeziehungen zueinander, sodass eine abschließende Auflistung kaum
möglich ist. Im Folgenden wird eine Unterteilung der Komplexitätsursachen in exoge‐
ne (externe) und endogene (interne) Komplexitätstreiber vorgenommen397. Externe
Komplexitätstreiber beeinflussen das Unternehmen von außen und können in die
Markt‐ und Gesellschaftskomplexität unterteilt werden. Determinanten der Gesell‐
schaftskomplexität sind politische, wirtschaftliche und rechtliche Systeme sowie öko‐
logische und kulturelle Faktoren und können vom Unternehmen nicht gesteuert wer‐
den. Die Marktkomplexität wird durch die Beschaffungs‐ und Absatzmärkte sowie
den Wettbewerb und die Technologie bestimmt und kann vom Unternehmen direkt
oder indirekt beeinflusst werden.

Bei den internen Komplexitätstreibern wird eine Unterscheidung in die korrelierte


und in die autonome Unternehmenskomplexität vorgenommen. Die korrelierte Un‐
ternehmenskomplexität steht in Wechselbeziehung mit der externen Marktkomplexi‐
tät, sodass sie direkt oder indirekt durch diese beeinflusst wird. Als Komplexitätstrei‐
ber können die Kundenstruktur (z. B. die Anzahl der Kundengruppen sowie die Indi‐
vidualität der Kundenanforderungen), das Produktprogramm, die Produkte und die
Anzahl der Unternehmensziele genannt werden. Auch wenn die Entscheidungen über
das Produktprogramm vom Unternehmen getroffen werden, obliegen sie doch der
Beeinflussung externer Faktoren, wie z. B. den individuellen Kundenanforderungen,
der Verfügbarkeiten von Rohstoffen, den potenziellen Lieferanten sowie den Wettbe‐
werbern. Zu beachten sind auch die Abhängigkeiten zwischen exogenen und endo‐
genen Komplexitätstreibern in entgegen gesetzter Richtung, da z. B. durch endogene
Komplexitätstreiber wie z. B. das Produktprogramm und die festgelegte Fertigungs‐
tiefe auch der Umfang benötigter Lieferanten (exogener Komplexitätstreiber) be‐
stimmt wird.

Die autonome Unternehmenskomplexität steht hingegen in keiner direkten Beziehung


zur Marktkomplexität. Ihre Komplexitätstreiber werden determiniert durch das Pro‐
duktionsprogramm, die Prozesse, die Organisation, die Fertigung sowie die Komple‐
xität der Informations‐, Planungs‐, Steuerungs‐ und Kontrollsysteme398. Die autonome
Unternehmenskomplexität weist auch Interdependenzen zur korrelierten Unterneh‐
menskomplexität auf, sodass eine strikte Trennung zwischen korrelierten und auto‐
nomen Komplexitätstreibern nicht möglich ist. Beispielsweise hat einerseits ein breites
Produktspektrum unmittelbare Auswirkungen auf Beschaffungs‐ und Fertigungspro‐

396 Vgl. MEYER (2007, S. 25).


397 Vgl. BLISS (2000, S. 5ff), WILDEMANN (2011, S. 8).
398 Vgl. KIRCHHOF (2003, S. 39ff).

273
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
zesse, eine zunehmende Individualisierung der Produkte beeinflusst andererseits die
Möglichkeiten zur Standardisierung von Prozessen399.

Analog zu den Ursachen der Komplexität existieren zahlreiche Komplexitätsauswir‐


kungen. Eine Komplexitätszunahme, insbesondere durch eine Erhöhung von Funktio‐
nalität und Vielfalt der Produkte, hat einen höheren Bedarf an koordinierenden Tätig‐
keiten in nahezu sämtlichen Unternehmensfunktionen und ‐bereichen zur Folge und
führt zu einem steigenden Aufwand für die Planung und Steuerung von Prozessen. In
den Logistikbereichen eines Unternehmens führt eine zunehmende Komplexität der
Produkte u. a. zu steigenden Zwischen‐ und Umlaufbeständen, höheren Durchlaufzei‐
ten, einer aufwändigeren Materialfluss‐ und Produktionssteuerung und einer Verrin‐
gerung des Qualitätsniveaus und somit mittel‐ und unmittelbar zu zusätzlichen Kos‐
ten400. Komplexitätskosten resultieren aus dem Verbrauch verschiedener Faktoren, die
in der Vielschichtigkeit von Produktkonzept, Produktprogrammzusammensetzung,
Prozessgestaltung sowie dem Fertigungs‐ und Koordinationssystem begründet sind.
Im Umgang mit diesen Komplexitätskosten stellt sich die Herausforderung, dass Kos‐
tenverursacher und Kostenträger oft nicht identisch sind. Darüber hinaus treten die
Kostenwirkungen vielfach zeitverzögert auf401. Die zu berücksichtigenden Komplexi‐
tätskosten lassen sich in unmittelbar auftretende und in zeitlich verzögert anfallende
Kosten unterteilen (vgl. Abbildung 4‐13).

Abbildung 4‐13 Klassifikation der Komplexitätskosten402

Komplexitätskosten

Unmittelbar anfallende Kosten Zeitlich verzögert anfallende Kosten

direkt indirekt

Einmalige Komplexi‐ Fortlaufende Komplexi‐ Opportunitätskosten Irreversible Kosten


tätskosten für: tätskosten für: für: für:

• Entwicklung und • Arbeitspläne • Effizienzverluste • neue Mitarbeiter


Produktion varianten‐ • Stücklisten • Kannibalisierungs‐ • leistungsfähigeres
spezifischer Teile • Prüfpläne effekte IT‐System
• Erstellung neuer Da‐ • Preisdokumentation •… •…
tensätze und Prüf‐ • Kundenbetreuung
pläne • Auftragsbearbeitung
• variantenspezifische • Koordination
Werkzeuge • Budgetierung
• Lieferantensuche • Disposition
und ‐auswahl •…
•…

399 Vgl. WILDEMANN (2010, S. 33).


400 Vgl. FRIEDRICH (2004, S. 21ff).
401 Vgl. RATHNOW (1993, S. 25f).
402 In Anlehnung an REINERS/SASSE (1999, S. 225f); PILLER/WARINGER (1999, S. 12f); BLISS (2000,
S. 9); FRIEDRICH (2004, S. 23).

274
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

Die unmittelbar auftretenden Komplexitätskosten ergeben sich entweder direkt in


Form von einmaligen bzw. fortlaufenden Kosten oder indirekt als Opportunitätskos‐
ten.

 Einmalige Komplexitätskosten entstehen durch neue Produktvarianten und erhö‐


hen sich in der Regel variantenproportional. Zu ihnen zählen beispielsweise Kos‐
ten für die Entwicklung und Konstruktion variantenspezifischer Teile und Kom‐
ponenten, für die Erstellung neuer Datensätze und Prüfpläne sowie Anschaf‐
fungskosten für neue variantenspezifische Werkzeuge.

 Fortlaufende Komplexitätskosten lassen sich in variantenspezifische und in all‐


gemeine Zusatzkosten unterteilen. Die variantenspezifischen Zusatzkosten erhö‐
hen sich überwiegend proportional mit der Anzahl der Varianten. Beispiele hier‐
für sind Kosten für die Pflege von Variantendaten, wie z. B. Arbeitspläne, Stücklis‐
ten, Prüfpläne oder Preisdokumentationen, Kosten für einen erhöhten Kundenbe‐
treuungsaufwand sowie die zusätzliche Auftragserfassung und ‐bearbeitung. Die
allgemeinen Zusatzkosten weisen dagegen mit zunehmender Komplexität ein
überproportionales Wachstum auf. Diese Kosten sind Folge eines durch die Kom‐
plexitätszunahme erhöhten Volumens vor allem indirekter Geschäftsprozesse wie
z. B. der Planung, Koordination, Budgetierung oder Disposition. Da sie keiner
Produktart oder keinem Kunden direkt zurechenbar sind, haben sie Gemeinkos‐
tencharakter.

 Zu den komplexitätsbedingten Opportunitätskosten gehören indirekte Erlösein‐


bußen, die durch Effizienzverluste aufgrund einer schlechteren Koordination oder
durch Kannibalisierungseffekte entstehen. Unter Kannibalisierung wird bei
gleichbleibender Gesamtabsatzmenge die Substitution der Varianten untereinan‐
der innerhalb einer Produktpalette verstanden. Auch die Opportunitätskosten
werden den Gemeinkosten zugerechnet.

 Aufgrund einer steigenden Komplexität werden die Ressourcen in allen Unter‐


nehmensbereichen zunehmend belastet. Zur Vermeidung von daraus resultieren‐
den Koordinations‐ und Kapazitätsengpässen werden beispielsweise neue Mitar‐
beiter eingestellt oder ein neues System zur Fertigungssteuerung angeschafft.
Dies hat eine zeitlich verzögerte, sukzessive und irreversible Erhöhung der fixen
Kosten zur Folge, da diese Kosten i. d. R. auch mit sinkender Variantenzahl beste‐
hen bleiben bzw. sich nur schwer wieder reduzieren lassen.
Neben den genannten negativen Auswirkungen führt eine Komplexitätserhöhung
auch zu einem Nutzen in Form möglicher Verbundeffekte und einer Erzielung zusätz‐
licher Erlöse. Verbundeffekte entstehen durch die mit einer zunehmenden Varianten‐
vielfalt realisierbare gemeinsame Nutzung von Ressourcen, die synergiebedingte
Kostensenkungen zur Folge haben403. Zusätzliche Erlöse ergeben sich beispielsweise
durch eine Volumenerweiterung oder durch höhere Preise, die sich aufgrund eines

403 Vgl. BECKER (1992, S. 173); AAKER (1998, S. 22 ff).

275
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
dem Wettbewerb überlegenen Kundennutzens durchsetzen lassen.404 Durch die Be‐
rücksichtigung der individuellen, sich schnell ändernden Präferenzen der Konsumen‐
ten kann auch eine hohe Kundenbindung erreicht werden.

Abbildung 4‐14 Kosten- und Nutzenwirkung steigender Komplexität405

Erlöse
Kosten,
Erlöse
Kosten

maximaler
Erfolg

Komplexität
(Variantenvielfalt)

Zu beachten ist jedoch, dass die Komplexitätskosten mit der Variantenvielfalt über‐
proportional und die Erlöse dagegen nur unterproportional ansteigen. Beispielsweise
lassen sich Verbundeffekte nur bedingt umsetzen, da eine parallele Nutzung der Res‐
sourcen kaum möglich ist. Auch ist oftmals eine Realisierung von Synergieeffekten mit
einem nicht unerheblichen Abstimmungsaufwand verbunden, der zu wettbewerbs‐
wirksamen Flexibilitätsverlusten führen kann406. Des Weiteren kann eine zunehmende
Variantenanzahl dazu führen, dass eine Differenzierung für den Kunden immer
schwieriger wird und dieser aufgrund kognitiver Überlastung zum Wettbewerb wech‐
selt. Werden die zeitlich verzögerten Komplexitätskosten vernachlässigt, entstehen die
in Abbildung 4‐14 dargestellten Kosten‐ und Nutzenwirkungen einer steigenden
Komplexität. Gelingt es nicht, den Komplexitätskosten entsprechende zusätzliche
Erlöse gegenüberstellen, dann verschlechtert sich mit steigender Variantenvielfalt die
Erfolgslage und das Unternehmen rutscht in die „Komplexitätsfalle“407. Die Komple‐
xitätsfalle hat zur Folge, dass Unternehmen auf die zusätzlichen Komplexitätskosten
mit einer Preiserhöhung reagieren, die zu einer Verschlechterung der Wettbewerbsfä‐
higkeit führt. Als Ausweg wird oftmals die Erschließung neuer Marktsegmente mit
Nischenprodukten gesehen, die wiederum die Produktvielfalt erhöht, wodurch sich
somit der Kreis zunehmender Komplexität schließt.

404 Vgl. REINERS/SASSE (1999, S. 225).


405 In Anlehnung an REINERS/SASSE (1999, S. 227).
406 Vgl. BECKER (1992, S. 173).
407 Vgl. ADAM/ROLLBERG (1995, S. 668).

276
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

Die sich aus einer steigenden Komplexität ergebenden Probleme haben ihre Ursache
in der Intransparenz der resultierenden Komplexitätskosten. Die traditionelle Zu‐
schlagskalkulation verrechnet die komplexitätsbedingten Gemeinkosten nicht verur‐
sachungsgerecht. Somit werden Standardprodukte zu teuer und Exoten zu billig an‐
geboten, da Sondervarianten von den Standardprodukten subventioniert werden. Eine
fundierte Entscheidung für oder gegen die Einführung einer neuen Variante ist mit der
traditionellen Zuschlagskalkulation nicht möglich. Es muss somit ein Kostenrech‐
nungssystem verwendet werden, das komplexitätsbedingte Kosten sowie deren Kos‐
tentreiber aufdeckt und eine verursachungsgerechte Zuordnung der Komplexitätskos‐
ten zu den einzelnen Varianten ermöglicht. Ein solches Kostenrechungssystem stellt z.
B. die Prozesskostenrechnung408 dar.

4.3.2 Komplexitätsstrategien
Das Komplexitätsproblem im Unternehmen wird entweder als Über‐ oder als Unter‐
komplexität wahrgenommen. Zur Feststellung eines Handlungsbedarfes für ein Kom‐
plexitätsmanagement im Unternehmen können folgende allgemeine Warnsignale her‐
angezogen werden, mit denen eine Identifizierung komplexitätsbezogener Schwach‐
stellen im Unternehmen unterstützt werden kann409:

 Veränderungen der Kostenstruktur


Kostenänderungen können z. B. über steigende Kosten in einzelnen Unterneh‐
mensbereichen oder über einen überproportionalen Anstieg der Gemein‐ und
Opportunitätskosten identifiziert werden.

 Verschlechterung der Umsatzstruktur


Als Warnsignale können eine stark ungleichgewichtige Umsatzverteilung, ein
sinkendes Verhältnis von Umsatz zu Kundenzahl bzw. Umsatz zu Produktanzahl
oder ein Verhältnis von Umsatz‐/Gewinnzuwachs zum Produkt‐/Variantenzu‐
wachs von kleiner eins herangezogen werden.

 Verschlechterung des Unternehmenserfolges


Negative Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg lassen sich beispielsweise
über eine Minderung der Leistungsfähigkeit bei geringem zusätzlichen Ertragspo‐
tenzial und über eine sinkende Umsatzrendite oder sinkende Produktivität erfas‐
sen.

Diese allgemeinen Warnsignale dienen lediglich der Problemerkennung bzw. Prob‐


lemsensibilisierung. Eine weitere Begründung und inhaltliche Konkretisierung eines
notwendigen Handlungsbedarfs müssen durch umfangreichere Betrachtungen erfol‐
gen.410 Auf der Basis von detaillierten Analysen, wie z. B. der Prozesskettenanalyse411,

408 Vgl. Kapitel 3.2.3.


409 Vgl. RATHNOW (1993, S. 210ff.); MATERN (2000, S. 52ff.).
410 Vgl. MATERN (2000, S. 62).

277
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
müssen für die identifizierten Problembereiche die wesentlichen Komplexitätstreiber
und ihre Wirkungen auf Kosten und Erlöse ermittelt werden, um entsprechende
Handlungsmaßnahmen ableiten zu können.

Unter Komplexitätsmanagement wird die Gestaltung, Lenkung und Entwicklung der


Komplexität des Leistungsspektrums (z. B. Produkte, Prozesse, Ressourcen etc.) im
Unternehmen verstanden.412 Das Ziel des Komplexitätsmanagements besteht nicht in
einer einseitigen Komplexitätsreduzierung oder ‐erhöhung, sondern in der Erreichung
eines Komplexitätsoptimums durch eine systematische Komplexitätsgestaltung. Um
Unternehmen aus der Komplexitätsfalle zu führen, stehen als mögliche Komplexitäts‐
strategien die Komplexitätsreduktion, ‐beherrschung und ‐vermeidung zur Verfü‐
gung413.

Die Komplexitätsreduktion verfolgt das Ziel einer Effektivitätssteigerung und stellt


den ersten Schritt dar, um eine aktuell vorhandene Überkomplexität erfolgswirksam
kurz‐ bis mittelfristig zu senken. Möglichkeiten zur Umsetzung bieten u. a. die Entfer‐
nung funktionsredundanter Teile oder eine Bereinigung von Kunden‐ oder Markt‐
segmenten. Mit Hilfe dieser Strategie kann die interne Variabilität und damit die kor‐
relierte und autonome Unternehmenskomplexität reduziert werden. Eine Verringe‐
rung der auf der externen Variabilität beruhenden Komplexität ist mit dieser Strategie
jedoch nur schwer zu erreichen.

Das Ziel der Komplexitätsbeherrschung besteht in einer Effizienzsteigerung, indem


die durch externe Anforderungen und Rahmenbedingungen verbleibende, nicht ver‐
meidbare Komplexität durch geeignete Maßnahmen effizient gehandhabt wird. Es
wird ein Ausgleich zwischen den externen Komplexitätsanforderungen und der dar‐
aus resultierenden internen Unternehmenskomplexität angestrebt. Dies kann bei‐
spielsweise durch eine Verlagerung des Variantenbestimmungspunktes in spätere
Stufen des Wertschöpfungsprozesses, durch eine angepasste Organisationsstruktur
oder durch standardisierte Schnittstellen erfolgen.
Mit der Komplexitätsvermeidung wird das Ziel einer präventiven Verhinderung der
Entstehung von Komplexität verfolgt. Diese Strategie erfordert die Berücksichtigung
künftiger Komplexitätsanforderungen in den betroffenen Produkten, Strukturen und
Prozessen zum Zeitpunkt der Betrachtung. Beispielsweise können durch eine Teile‐
standardisierung und eine modulare Produktgestaltung zukünftige Anforderungen
einfacher umgesetzt werden, da die Vielfalt und Veränderlichkeit der Produkte beein‐
flusst werden. Eine Begrenzung der Teilevielfalt führt zu Einsparungen bei den Ge‐
meinkosten.

411 Vgl. Kapitel 3.2.1 und 3.2.2.


412 Vgl. SCHUH (2005, S. 36).
413 Eine Strategie zur Lösung des Problems der Unterkomplexität stellt die Komplexitätserhö‐
hung dar. Diese Strategie wird aufgrund der geringen Relevanz nicht weiter betrachtet.

278
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

Diese drei Strategien sind jedoch in der Praxis nicht immer eindeutig gegeneinander
abgrenzbar, da Schnittstellen insbesondere zwischen der Komplexitätsbeherrschung
und ‐vermeidung existieren. Für eine zielführende Handhabung der unternehmer‐
ischen Komplexität bedarf es einer systematischen Vorgehensweise im Rahmen eines
ganzheitlichen Komplexitätsmanagements414.

4.3.3 Abgrenzung von Varianten- und Komplexitäts-


management
Für eine Reduktion, Beherrschung und zukünftige Vermeidung von Komplexität wer‐
den die Begriffe Varianten‐ und Komplexitätsmanagement in der Literatur oftmals
synonym verwendet415. Es lassen sich jedoch mit dem Variantenmanagement, dem
Komplexitätsmanagement i. e. S. sowie dem ganzheitlichen Komplexitätsmanagement
drei Entwicklungsstufen unterscheiden, die bedingt chronologisch und teilweise pa‐
rallel verlaufen.

Die Zielsetzung des Variantenmanagements besteht in der Gestaltung von Produkten


und Produktprogrammen, um einen optimalen Ausgleich zwischen Variantenvielfalt
und Wirtschaftlichkeit zu finden. Hierzu erfolgt primär eine konsequente Produktori‐
entierung, eine einfache und komplexitätsarme Produktgestaltung, die Nutzung von
Synergien über Produktreihen und Marken hinweg, die Bestimmung der optimalen
Variantenzahl sowie eine komplexitätsgerechte Produktprogrammgestaltung. Die
Anwendung dieser Maßnahmen erfolgt kurz‐ bis mittelfristig und im Einklang mit
den Unternehmensprozessen. Da eine Fokussierung auf die Produkte und das Pro‐
duktprogramm erfolgt, werden weitere Komplexitätstreiber, wie z. B. die Organisati‐
onsstruktur, die Prozesse oder externe Rahmenbedingungen, vernachlässigt.

Das Komplexitätsmanagement i. e. S. erweitert die Thematisierung komplexitäts‐


treibender Aspekte durch die Einbeziehung der Prozesse416. Gegenstand der Betrach‐
tung sind demnach die Planung, Gestaltung, Steuerung und Überwachung der Vielfalt
des Leistungsspektrums von ausgewählten Unternehmensbereichen, dem Gesamtun‐
ternehmen oder kompletter Branchen. Das Ziel besteht in der Vereinigung von Wirt‐
schaftlichkeit der Leistungserstellung und dem Kundennutzen. Das Komplexitätsma‐
nagement i. e. S. wird insbesondere determiniert durch eine verstärkte Prozessorien‐
tierung, einem angestrebten Konsens von Effizienz und Kundenorientierung, einer
Komplexitätsbeeinflussung durch organisatorische Ansätze sowie der Bestimmung
eines optimalen Komplexitätsgrades auf Basis systemtheoretischer Betrachtung. Die
Maßnahmen sind mittel‐ bis langfristig ausgerichtet. Die vorgestellten Entwicklungs‐
stufen Varianten‐ und Komplexitätsmanagement i. e. S. stehen in Abhängigkeit zuei‐

414 Vgl. Kapitel 4.3.5.


415 Vgl. SCHUH (2005, S. 34).
416 Vgl. GIEßMANN (2010, S. 55).

279
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
nander, da mit steigender Variantenanzahl innerhalb eines Unternehmens auch die
Produkt‐ und die Prozesskomplexität zunehmen.

Das ganzheitliche Komplexitätsmanagement, als dritte Entwicklungsstufe, zielt auf die


Entwicklung und Implementierung eines ganzheitlichen und systemorientierten Ge‐
samtkonzeptes für einen nachhaltigen Umgang von Komplexitätsproblemen. Gegen‐
stand der Betrachtung sind die Wertschöpfungskette sowie die Interdependenzen der
verschiedenen Maßnahmen und Einflussgrößen. Somit wird das Komplexitätsma‐
nagement in dieser Entwicklungsstufe als ein kontinuierlicher Prozess verstanden, der
die in den beiden ersten Phasen entwickelten produkt‐ und prozessbezogenen Einzel‐
ansätze kombiniert und integriert. Dadurch wird gewährleistet, dass die verschiede‐
nen Komplexitätsstrategien und Einzelansätze aufeinander abgestimmt werden.
Durch den ganzheitlichen und integrativen Charakter sowie der Entwicklung eines
Leitfadens zur Implementierung und Umsetzung des Komplexitätsmanagements ist
das ganzheitliche Komplexitätsmanagement langfristig ausgerichtet.

4.3.4 Einzelansätze des Varianten- und Komplexitäts-


managements
Die Einzelansätze des Varianten‐ und Komplexitätsmanagements lassen sich grob den
Strategien Komplexitätsreduktion, ‐beherrschung und ‐vermeidung zuordnen. Aller‐
dings erscheint eine eindeutige Klassifizierung der Ansätze gemäß den Strategien des
Komplexitätsmanagements nicht möglich, da diese mit Blick auf unterschiedliche Be‐
trachtungsperspektiven differieren kann. Beispielsweise werden diejenigen Ansätze,
die auf eine Reduzierung der Komplexität zielen, zum Teil auch für die zukünftige
Komplexitätsvermeidung angewendet. Aus diesem Grund werden im Folgenden die
wichtigsten Konzepte und Maßnahmen in Einzelansätze auf Produkt‐, Produkt‐
programm‐, Prozess‐ und Organisationsebene untergliedert und auf ihre Bedeutung
für die Logistik eingegangen417.

4.3.4.1 Einzelansätze auf Produktebene

a) Produktstandardisierung

Bei der Standardisierung auf Produktebene werden Bauteile mit identischer Funk‐
tion aber unterschiedlicher Ausführung vereinheitlicht. Mit der Standardisierung
wird das Ziel einer Verringerung der Teile‐ und Baugruppenvielfalt und mithin
eine Erhöhung des Wiederverwendungsgrades verfolgt418. Die dadurch realisier‐
bare Mehrfachverwendung der standardisierten Bauteile ermöglicht größere Ab‐
nahmemengen in der Beschaffung, sodass Mengenrabatte leichter durchsetzbar

417 Vgl. GIEßMANN (2010, S. 57ff).


418 Vgl. ROHRHOFER (2009, S. 75).

280
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

sind. Diese realisierbaren Mengeneffekte erschließen Optimierungspotenziale in‐


nerhalb der Materialwirtschaft, indem der Aufwand für den Wareneingang, die
Lagerung und den innerbetrieblichen Transport aufgrund der Standardisierung
reduziert werden kann419. Weiterhin wird eine Verringerung der Anzahl der Lie‐
feranten möglich, sodass die Informations‐ und Koordinierungsprozesse einfacher
und effizienter gestaltet werden können. Auch führt eine Standardisierung zu ei‐
ner Qualitätsverbesserung der Prozesse und somit der Produkte, da mit der Stan‐
dardisierung von Bauteilen das Fehlerpotenzial in der Fertigung, beispielsweise
durch Verwechslung, reduziert wird. Die aufgezeigten Potenziale sind allerdings
abhängig von der Ermittlung des optimalen Standardisierungsgrades sowie einer
konsequenten Umsetzung möglicher Standards420.

b) Gleichteileverwendung

Die Gleichteileverwendung impliziert den produktübergreifenden Einsatz von


standardisierten Teilen bei mehreren Produkten oder Produktreihen421. Im Ge‐
gensatz zur Standardisierung werden bei der Gleichteileverwendung funktional
unterschiedliche Bauteile auf eine identische Teilebasis reduziert422. Durch die
Verminderung der Teilevielfalt lassen sich Skaleneffekte realisieren, die aus den
größeren Stückzahlen der identischen Bauteile und der damit verbundenen höhe‐
ren Wiederverwendung resultieren. Somit lässt sich die Komplexität insbesondere
in den teilegetriebenen Bereichen wie der Beschaffung, der Fertigung und dem
Ersatzteilwesen reduzieren. Durch standardisierte Lagertechnologien und Trans‐
portmittel können zudem die Lagerprozesse sowie die Materialflüsse optimiert
werden, was zu einer Erhöhung von Prozessstabilität und ‐qualität führt. Der ge‐
stiegene Bedarf an gleichartigen Teilen ermöglicht zudem verbesserte Konditio‐
nen in der Beschaffung. Als nachteilig zeigt sich jedoch der mit der Optimierung
verbundene höhere Planungs‐, Implementierungs‐ und Koordinierungsaufwand
in den verschiedenen Unternehmensbereichen. Die Gleichteileverwendung stößt
an ihre Grenzen, wenn Kunden aus Differenzierungsgründen bei konkurrieren‐
den Produkten charakteristische Teile an einer Produktvariante erwarten423.

c) Plattformkonzept

Beim Plattformkonzept werden funktionale und physische Struktureinheiten aus


Teilen, Baugruppen, Modulen und Systemen für unterschiedliche Produkte in‐
nerhalb einer Produktfamilie einheitlich eingesetzt424. Die Basis bildet dabei das
Gleichteilekonzept, welches produktreihen‐, firmen‐ und produktlebenszyklen‐
übergreifend zur Anwendung kommt. Eine Plattform besteht aus einem einzelnen

419 Vgl. FISCHER (2008, S. 43).


420 Vgl. MEYER (2007, S. 63).
421 Vgl. STANG ET AL. (2002, S. 110).
422 Vgl. BLISS (2000, S. 42).
423 Vgl. BAYER (2010, S. 83).
424 Vgl. KIRCHHOFF (2003, S. 222).

281
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Modul oder aus mehreren zusammengehörigen Modulen. Die Verwendung über
einen größeren Zeithorizont impliziert entsprechend eine zeitliche Stabilität der
jeweiligen Produktplattform. Wesentliche logistische Vorteile des Plattformkon‐
zeptes sind die zu realisierenden Skalen‐ und Erfahrungskurveneffekte entlang
der gesamten Wertschöpfungskette in Kombination mit einer vom Markt gefor‐
derten hohen Produktvarianz. Durch eine Nutzung vorhandener Plattformen bei
Neuentwicklungen werden zudem deutliche Einsparungen im Bereich der Ent‐
wicklungszeiten sowie von Entwicklungs‐, Investitions‐, Material‐, Anlauf‐ und
Qualitätskosten möglich. Die Produktionsplanungen werden durch Verwendung
modellübergreifender Plattformen stabiler, sodass eine auftragsneutrale Disposi‐
tion und somit eine höhere Auftragsflexibilität resultieren. Als nachteilig erweist
sich jedoch eine mangelnde Produktidentifikation betroffener Marken, ein höhe‐
rer Koordinierungsaufwand, unklare Zuständigkeiten entlang der Schnittstellen,
Abhängigkeiten von dem jeweiligen Plattformverantwortlichen sowie eine einge‐
schränkte Innovationsfähigkeit betroffener Bereiche425.

d) Modularisierung

Bei der Modulbauweise setzt sich ein Produkt aus mehreren Modulen zusammen,
die funktional und physisch weitgehend unabhängig voneinander sind426. Die
Module bilden jeweils geschlossene Funktionseinheiten, die nach Konstruktions‐,
Fertigungs‐ und Logistikaspekten determiniert werden und im Idealfall jederzeit
und ohne Einfluss auf andere Module oder Baugruppen aufgrund klar definierter,
standardisierter Schnittstellen ausgetauscht werden können. Die Modularisierung
zielt darauf ab, die Varianz in wenigen Modulen zu konzentrieren und die Modu‐
le zu möglichst beliebigen Produktvarianten zu kombinieren. Ein modularisierter
Produktaufbau ermöglicht damit die Maximierung des Kundennutzens bei
gleichzeitig unternehmensinterner Kostenreduzierung aufgrund der geringeren
Produktkomplexität. Logistische Vorteile der Modulbauweise resultieren u. a. aus
einer Schnittstellen‐ und Aufwandsreduzierung durch Beschaffung kompletter
Module, einer Verlagerung des Variantenentstehungspunktes und einer damit re‐
sultierenden verzögerten Kundenauftragszuordnung sowie einer Verkürzung von
Liefer‐ und Montagezeiten427. Zudem kann auf Marktveränderungen deutlich
schneller und flexibler reagiert werden, da durch eine parallele Fertigung der
Module die Durchlaufzeit reduziert werden kann. Weitere Vorteile resultieren aus
der Nutzung von Skaleneffekten aufgrund geringerer Produktkosten durch den
höheren Standardisierungsgrad, einer Qualitätssteigerung sowie einer effiziente‐
ren Instandhaltung im After‐Sales‐Management428. Vor allem in Zeiten verkürzter
Produktlebenszyklen und zeitbasierter Wettbewerbsvorteile bietet die Modu‐
larisierung die Chance, innovative Produkte mit geringen Entwicklungskosten auf

425 Vgl. KLUG (2010, S. 60f).


426 Vgl. SCHMIDT (2002, S. 61).
427 Vgl. KLUG (2010, S. 59).
428 Vgl. BAYER (2010, S. 80f).

282
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

den Markt zu bringen. Den aufgezeigten Potenzialen stehen allerdings häufig


steigende Entwicklungs‐ und Einzelkosten gegenüber. Höhere Einzelkosten wer‐
den durch eine mögliche Überdimensionierung verursacht, da es bei Komponen‐
ten mit mehreren funktionalen Stufen mehr Restriktionen zu berücksichtigen gibt.

e) Baukastenprinzip

Einen im Vergleich zur Modulbauweise ähnlichen Ansatz stellt das Baukasten‐


prinzip dar. Beide Ansätze unterscheiden sich dadurch, dass beim Baukastenprin‐
zip ein oder wenige Grundkörper vorliegen, an die in verschiedenen Stufen un‐
terschiedlich variantenreiche Anbauteile montiert werden429. Die einzelnen Mo‐
dule eines Baukastensystems, die einheitliche Schnittstellen besitzen, setzen sich
aus Einzelteilen, Baugruppen oder sogar aus Baukastensystemen unter Beachtung
einer Rangordnung zusammen. Somit zeichnet sich das Baukastenprinzip durch
eine einfache Austauschbarkeit bzw. Kombinierbarkeit der einzelnen Anbauteile
aus. Die logistischen Vorteile des Baukastenprinzips sind denen der Modulbau‐
weise sehr ähnlich, da auch hier u. a. eine effizientere Instandhaltung, eine höhere
Flexibilität hinsichtlich sich ändernder Produktanforderungen sowie eine einfa‐
chere Variantenbildung durch Substitution der Anbauteile ermöglicht werden.
Den angeführten Vorteilen steht oft jedoch ein erheblicher Aufwand bei der Er‐
stellung und Implementierung eines Baukastensystems gegenüber430.

f) Differential‐ und Integralbauweise

Während bei der Differentialbauweise Produkte in physisch leicht trennbare und


funktional möglichst unabhängige Bauteile untergliedert werden, erfolgt bei der
Integralbauweise die Zusammenfassung mehrerer Funktionen in einem Bau‐
teil431. Beide Ansätze stellen konstruktive Maßnahmen dar, die auf einen optima‐
len Integrationsgrad abzielen, wobei eine Entscheidung zwischen Differential‐
und Integralbauweise individuell geprüft werden muss. Als Entscheidungskrite‐
rien können u. a. die Stückzahl der Produkte oder die physische Gestaltung der
Bauteile herangezogen werden. Die Differentialbauweise eignet sich insbesondere
bei großen Bauteilen sowie in der Einzel‐ und Kleinserienfertigung, während die
Integralbauweise bei kleinen und mittleren Bauteilen und hoher Stückzahl An‐
wendung findet432. Aus logistischer Sicht ergeben sich bei der Differentialbauwei‐
se Vorteile u. a. in der Schaffung von Gleichteileumfängen innerhalb der Varian‐
ten entsprechender Produkte und der damit einhergehenden Erhöhung der Wie‐
derholhäufigkeit. Daraus resultieren Skaleneffekte sowie eine Reduzierung der
Beschaffungskosten. Zudem wird eine Verschiebung des Variantenentstehungs‐

429 Vgl. ZICH (1996, S. 40).


430 Vgl. FISCHER (2008, S. 198).
431 Vgl. FIRCHAU/FRANKE (2002, S. 72).
432 Vgl. EHRLENSPIEL ET AL. (2007, S. 319).

283
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
punktes bewirkt, was zu einer Vereinfachung der logistischen Prozesse führt433.
Nachteile der Differentialbauweise resultieren aus einer größeren Anzahl von
Bauteilen, deren Vielfalt es wiederum bei der Beschaffung und Lagerung zu
handhaben gilt. Die Integralbauweise fokussiert eine Reduzierung der Teileviel‐
falt sowie eine Erhöhung der Wiederholhäufigkeit, sodass die sich ergebende Re‐
duktion von Fertigungsschritten zu einer Durchlaufzeitverkürzung führt. Weiter‐
hin ermöglicht eine verringerte Teilevielfalt eine Optimierung der Transport‐,
Umschlag‐ und Lageraktivitäten sowie eine Reduktion der Lieferantenanzahl.

4.3.4.2 Einzelansätze auf Produktprogrammebene

a) Paketbildung

Bei der Paketbildung (bzw. dem Bundling oder Packaging) werden Leistungs‐
bündel durch die Kombination verschiedener Komponenten und Funktionen ge‐
neriert434. Da die in diesen Leistungsbündeln abgebildeten Funktionen und Aus‐
stattungen nicht in anderen Kombinationen auftreten können, werden die Konfi‐
gurationsmöglichkeiten der Produkte bewusst eingeschränkt435. Die physische
Produktstruktur muss nicht modifiziert werden, sodass mit der Paketbildung eine
Reduktion der Produktprogrammkomplexität einfach zu realisieren ist. Als Vor‐
teile ergeben sich ein verminderter Entwicklungs‐ und Dispositionsaufwand, die
Möglichkeit der Standardisierung von Fertigungsabläufen, eine Verringerung der
Anzahl der Schnittstellen sowie ein Abbau der Bestände für Extra‐Ausstattungen.
Somit lassen sich die internen Koordinationskosten und die Gemeinkosten der
Infrastruktur senken. Da Pakete zumeist häufig nachgefragte Zusatzausstattungen
von Produktvarianten kombinieren, kann durch eine Integration selten nachge‐
fragter Zusatzausstattungen deren Prognose verbessert und somit deren Bestand
nachhaltig reduziert werden436. Als Nachteil der Paketbildung zeigt sich jedoch,
dass sich dadurch die interne Komplexität nur marginal verringern lässt437.

b) Sortimentsbereinigung

Produkte bzw. Produktvarianten, die ein zu geringes Umsatz‐ und Erlöspotenzial


oder einen negativen Deckungsbeitrag aufweisen, eine untergeordnete strategi‐
sche Relevanz für das Unternehmen besitzen, eine negative Imagewirkung erzeu‐
gen oder aufgrund technologischer Aspekte Nachteile aufweisen, sind durch eine
Sortimentsbereinigung zu eliminieren438. Bei der Elimination von Produkten oder
Produktvarianten wird zwischen einer direkten und einer indirekten Programm‐

433 Vgl. RAPP (2010, S. 64).


434 Vgl. HOMBURG/DAUM (1997, S. 335).
435 Vgl. SCHUH (2005, S. 128f); BLISS (2000, S. 40).
436 Vgl. KIRCHHOFF (2003, S. 217).
437 Vgl. RAPP (2010, S. 61).
438 Vgl. KIRCHHOFF (2003, S. 225); MEFFERT (2000, S. 1050); MEYER (2007, S. 64).

284
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

bereinigung unterschieden. Während bei der direkten Programmbereinigung


Produkte bzw. Produktvarianten unmittelbar eliminiert werden, erfolgt die indi‐
rekte Programmbereinigung durch eine Preiserhöhung, indem die entstandenen
Kosten verursachungsgerecht den Produkten bzw. Produktvarianten zugeordnet
werden439. Da sich über eine Sortimentsbereinigung beispielsweise die Anzahl
und Vielfalt der Produkte und Beschaffungsobjekte oder die Anzahl der Lieferan‐
ten verringern lässt, stellt sie einen effektiven Ansatz zur Reduktion der innerbe‐
trieblichen Komplexität dar. Als Nachteil ist allerdings das Risiko zu berücksichti‐
gen, dass Kostenreduzierungen aufgrund von Kostenremanenzen nur bedingt
eintreten können.

c) Kundenbereinigung

Einen der Sortimentsbereinigung ähnlichen Ansatz stellt die Kundenbereinigung


dar, bei der Kunden bzw. Kundengruppen zukünftig nicht mehr beliefert werden,
wenn deren Umsatzanteil sich deutlich unterdurchschnittlich entwickelt. Ebenso
kann die Kundenbereinigung direkt oder indirekt vorgenommen werden. Wäh‐
rend bei der direkten Kundenbereinigung bestimmte Kunden nicht mehr beliefert
werden, erfolgt die indirekte Kundenbereinigung über feste Mindestauftrags‐
mengen oder Mindermengenaufschläge um allokative Effekte zu generieren440.
Da sich Produkte und Kunden teilweise unmittelbar oder mittelbar bedingen, ist
es häufig zweckmäßig den Maßnahmen der Sortimentsbereinigung mit denjeni‐
gen der Kundenbereinigung entsprechend abzustimmen bzw. ihre Wirkungsbe‐
ziehungen zu beachten. Vorteile einer gezielten Reduzierung der Kundenanzahl
resultieren u. a. aus einer Verringerung der benötigten Beschaffungsobjekte sowie
einer Vereinfachung der Distribution infolge nicht mehr bedienter Marktsegmen‐
te. Weiterhin sind im Bereich der After‐Sales‐Logistik weniger kunden‐ und vari‐
antenspezifische Ersatzteile vorzuhalten. Als Nachteil müssen jedoch potenzielle
Wiedereintrittsbarrieren in einen nicht mehr belieferten Absatzmarkt berücksich‐
tigt werden, wenn die bereinigten Kunden oder Kundengruppen zukünftig er‐
neut fokussiert werden sollen.

4.3.4.3 Einzelansätze auf Prozessebene

a) Prozessstandardisierung und ‐modularisierung


Eine Prozessstandardisierung wird für diejenigen Prozesse empfohlen, die einen
hohen Wiederholungsgrad aufweisen und keinen großen Variationen unterliegen.
Durch eine Zusammenfassung und Gleichschaltung ähnlicher Prozessabläufe
wird die Prozessvielfalt in Form einer erhöhten Anzahl von logistischen Aktivitä‐
ten reduziert, sodass eine Standardisierung einen effektiven und effizienten Res‐

439 Vgl. BLISS (2000, S. 39).


440 Vgl. BLISS (2000, S. 41f).

285
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
sourceneinsatz ermöglicht441. Die Vorteilhaftigkeit der Standardisierung liegt u. a.
in der Festlegung von logistischen Ablaufregeln und der damit einhergehenden
Vereinfachung der logistischen Prozesse. Als Folge einer Erhöhung des Wiederho‐
lungsgrades werden die Material‐ und Informationsflüsse stabilisiert, Kosten ge‐
senkt und durch unternehmensübergreifende Logistikstandards wird eine schnel‐
le Integration von Lieferanten und Logistikdienstleistern erleichtert. Weiterhin
tragen standardisierte Prozesse wesentlich zur Generierung von Synergien, Lern‐
kurveneffekten und zur Effizienzsteigerung bei442. Diese Vorteile ergeben sich je‐
doch nur, wenn die festgelegten Standards nachhaltig durchgesetzt werden. Die
Standardisierung logistischer Prozesse bedarf allerdings der Bestimmung eines
optimalen Standardisierungsgrades zwischen repetitiven und innovativen Prozes‐
sen, um dynamisch auf Änderungen reagieren zu können.

Neben der Standardisierung von Prozessen besteht auch die Möglichkeit der Pro‐
zessmodularisierung, bei der Prozesse in einzelne modulare Bestandteile zerlegt
werden, um wiederverwendbare Elemente und Standards zu schaffen. Durch den
Austausch einzelner Module können Prozesse flexibilisiert werden. Da die Pro‐
zessänderungen auf einzelne Module beschränkt bleiben, resultiert eine höhere
Prozessstabilität. Eine Prozessmodularisierung unterstützt auch eine Komplexi‐
tätsreduktion, da durch eine Trennung in wenig und häufig zu ändernde modula‐
re Prozessbestandteile zukünftige Komplexitätsanforderungen bei der Prozessge‐
staltung berücksichtigt werden können. Allerdings besteht bei ungenügend spezi‐
fizierten Modulschnittstellen die Gefahr von Koordinationsproblemen443.

b) Fertigungssegmentierung

Unter Fertigungssegmentierung wird die Aufteilung der Fertigung in autonome,


produktorientierte Produktionsmodule mit eindeutiger Markt‐ und Zielausrich‐
tung verstanden444. Ziel der Fertigungssegmentierung ist die Restrukturierung
hochgradig arbeitsteiliger und zentral gesteuerter Produktionsbereiche in vertikal
und horizontal weitgehend autonome, kundenorientierte und an möglichst voll‐
ständigen Prozessfolgen ausgerichtete Einheiten. In den Fertigungssegmenten
werden dabei nur die zur Herstellung eines Produktes, einer Baugruppe oder Tei‐
lefamilie notwendigen Betriebsmittel und Arbeitsplätze zusammengefasst und
nach dem Fließprinzip angeordnet. Dadurch ist es möglich, die Kosten‐ und Pro‐
duktivitätsvorteile der Fließfertigung mit der hohen Flexibilität der Werkstattfer‐
tigung zu verbinden. Ein Fertigungssegment lässt sich durch die fünf folgenden
Definitionsmerkmale charakterisieren445:

441 Vgl. KLUG (2010, S. 68).


442 Vgl. MEYER (2007, S. 63).
443 Vgl. GRUNWALD (2001, S. 69).
444 Vgl. WILDEMANN (1998, S. 47).
445 Vgl. WILDEMANN (1998, S. 47ff).

286
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

 Markt‐ und Zielausrichtung


Durch die Bildung von Fertigungssegmenten werden spezifische Wettbe‐
werbsstrategien verfolgt, sodass nicht mehr alle Produkte eines Unterneh‐
mens dieselbe Fertigungsorganisation durchlaufen. Durch Fertigungsseg‐
mente können die Produkte hinsichtlich ihrer unterschiedlichen wettbe‐
werbsstrategischen Schwerpunkte (z. B. Kostenführerschafts‐, Differen‐
zierungsstrategie) organisatorisch voneinander getrennt werden. Dies ermög‐
licht eine Trennung von Renner‐ und Exotenlinien, sodass kundenindividuel‐
le Wünsche ohne Störung der Standardprodukte umgesetzt werden können.

 Produktorientierung
Fertigungssegmente zeichnen sich durch die Konzentration auf ein spezifi‐
sches Produkt und dessen Komplettbearbeitung durch eine geringe Ferti‐
gungsbreite und eine hohe Fertigungstiefe aus, um möglichst viele Synergie‐
und Spezialisierungsvorteile zu erreichen. Zwischen verschiedenen Ferti‐
gungssegmenten sollen möglichst wenige Leistungsverflechtungen bestehen,
sodass der Koordinationsaufwand reduziert werden kann.

 Logistikorientierung
In Fertigungssegmenten werden stets mehrere Stufen des Wertschöpfungs‐
prozesses eines Produktes (z. B. Teilefertigung, Vor‐ und Endmontage) reali‐
siert, sodass die Gestaltung der Material‐ und Informationsflüsse einfacher
und transparenter wird. Mit dieser Prozessorientierung wird in den Ferti‐
gungssegmenten insbesondere die Flussorientierung der Logistikkonzeption
berücksichtigt.

 Übertragung administrativer Aufgaben


Innerhalb der Fertigungssegmente werden neben ausführenden Tätigkeiten
auch fertigungsnahe dispositive und planende Aufgaben wahrgenommen.
Durch die Integration dieser indirekten Funktionen in Fertigungssegmente
werden koordinationsrelevante Schnittstellen abgebaut und die Entschei‐
dungskompetenz an den Ort der eigentlichen Wertschöpfung verlagert. Somit
entstehen in den Fertigungssegmenten teilautonome Arbeitsgruppen.

 Kosten‐ und Ergebnisverantwortung


Da die Fertigungssegmente auch Planungs‐ und Kontrollfunktionen ausüben,
können sie ein hohes Maß an Kosten‐ und Ergebnisverantwortung überneh‐
men. Werden die in Fertigungssegmenten erstellten Leistungen innerbetrieb‐
lich nachgefragt, dann werden sie aufgrund der Kostenverantwortung als
Cost‐Center organisiert. Im Fall einer außerbetrieblichen Leistungserstellung
übernehmen die Fertigungssegmente eine Ergebnisverantwortung, sodass sie
in der Form eines Profit‐Centers strukturiert werden.

Die mit Fertigungssegmenten resultierenden Verbesserungspotenziale bzgl. der


Planung, Steuerung und Koordination des Leistungserstellungsprozesses führen
u. a. zu einer Verkürzung der Durchlaufzeiten, einer Reduktion der Bestände so‐

287
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
wie einer Erhöhung der Qualität, Produktivität und Flexibilität446. Eine höhere
Flexibilität von autonomen Fertigungssegmenten gewährleistet bei zunehmender
Variantenvielfalt einen geringeren Anstieg der variantenabhängigen Kosten und
ermöglicht eine schnellere Anpassung an sich ändernde Umfeldsituationen wie
Markt‐ oder Technologietrends447. Da die Integration und die Steuerung der logis‐
tischen Prozesse mit einem hohen Aufwand verbunden sind, muss der wirtschaft‐
liche Nutzen von Fertigungssegmenten im Vorfeld einer Implementierung unter‐
sucht werden. Nachteile einer Fertigungssegmentierung bestehen in Zuordnungs‐
und Auslastungsproblemen, die bei Änderungen des Produktprogramms auftre‐
ten können. Des Weiteren besteht das Problem der Vorhaltung redundanter Res‐
sourcen in mehreren Fertigungssegmenten, sodass besonders bei kostenintensiven
Betriebsmitteln technologieorientierte Segmente im Gegensatz zu produktorien‐
tierten Segmenten zu bilden sind. Im konkreten Einzelfall müssen eine Prozessef‐
fizienz und eine niedrigere Steuerungskomplexität gegen eine hohe Ressourcenef‐
fizienz abgewogen werden.

c) Segmentierung indirekter Bereiche

Neben der Segmentierung der Fertigung können auch indirekte Bereiche, wie z.
B. die Auftragsabwicklung, segmentiert und prozess‐ sowie kundenorientiert ge‐
staltet werden448. Analog zu den Fertigungssegmenten erfolgt eine Segmentie‐
rung indirekter Bereiche, indem prozessorientierte Organisationseinheiten gebil‐
det werden, die sachlogisch zusammenhängende Planungs‐, Steuerungs‐ und Re‐
alisationsaufgaben innerhalb einer Prozesskette ganzheitlich und eigenverant‐
wortlich bearbeiten. Da in indirekten Bereichen bis zu 75 % der Netto‐Wert‐
schöpfung als Gemeinkosten anfallen, ca. 60 % der Gesamtauftragsdurchlaufzeit
stattfindet und bis zu 50 % der Beschäftigten tätig sind, bestehen in einer Segmen‐
tierung indirekter Bereiche enorme Potenziale. Beispielsweise zielt eine Segmen‐
tierung der Auftragsabwicklung durch einen Abbau von Organisations‐ und Ko‐
ordinationskomplexität auf eine Reduktion der Gemeinkosten, Durchlaufzeiten
und der Mitarbeiteranzahl ab. Wichtige Gestaltungsprinzipien zur Segmentierung
indirekter Bereiche sind die Wertschöpfungskonzentration, eine durchgängige
Prozessverantwortung mit dezentralen Entscheidungen, ein flexibler Personalein‐
satz und die Selbststeuerung449.

d) Selbststeuernde Regelkreise

Kennzeichnend für selbststeuernde Regelkreise, die sich zwischen zwei benach‐


barten Fertigungsstufen ergeben, sind Dispositions‐ und Steuerungsverfahren,
welche sich am Ablauf des Leistungserstellungsprozesses orientieren. Eine ver‐

446 Vgl. MEYER (2007, S. 67).


447 Vgl. KLUG (2010, S. 67).
448 Vgl. WILDEMANN (1997, S. 15ff).
449 Vgl. WILDEMANN (1998, S. 272ff).

288
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

brauchende Stelle (Senke) meldet den individuellen Bedarf zur Leistungserstel‐


lung direkt bei der jeweils vorgelagerten Stelle (Quelle) im Fertigungsprozess an
und holt diesen selbst ab (Hol‐Prinzip). Der Informationsfluss verläuft somit ent‐
gegengesetzt zur Produktionsrichtung und es besteht eine unmittelbare Verknüp‐
fung von Material‐ und Informationsfluss. Dies hat zur Folge, dass die Bedarfser‐
mittlung selbststeuernder Regelkreise dezentral, teilautonom und verbrauchsge‐
steuert erfolgt450. Das Prinzip selbststeuernder Regelkreise lässt sich auch über
akustische Signale, Behälter oder elektronische Medien gestalten. Als typisches
Beispiel für selbststeuernde Regelkreise kann die Produktionssteuerung nach dem
KANBAN‐Prinzip genannt werden, bei der die Regelkreise aus einer Quelle und
Senke bestehen, die über ein Pufferlager getrennt sind. Logistische Vorteile erge‐
ben sich aus einer Reduzierung der Komplexität sowie der Kosten für die Planung
und Steuerung der Leistungserstellung sowie einer verbesserten Transparenz des
Betriebsablaufs451. Weiterhin trägt eine Verringerung der Umlaufbestände zur
Reduktion der Koordinationskomplexität bei und die Einhaltung vorgegebener
Regeln gewährleistet die Ablaufsicherheit, sodass eine Entlastung der übergeord‐
neten Steuerungsebene erreicht wird. Der Einsatz selbststeuernder Regelkreise
setzt allerdings einen kontinuierlichen Verbrauch und klar definierte Teilestruktu‐
ren voraus.

e) Sourcing‐Strategien

Da die Beschaffungskomplexität durch die Festlegung von Art und Umfang der
Beschaffung sowie der Wahl der Lieferanten beeinflusst wird, bestimmt die von
einem Unternehmen gewählte Sourcing Strategie maßgeblich die Leistungsfähig‐
keit der Logistik452. Durch die Wahl einer bestimmten Sourcing Strategie werden
u. a. die Steuerung und Kontrolle des Informations‐ und Warenflusses zwischen
dem Unternehmen und den externen Partnern, die Einkaufskonditionen, die Wie‐
derbeschaffungszeiten, das Qualitätsverständnis, die Kommunikation und die
Währungsrisiken beeinflusst. Sourcing Strategien haben somit wesentliche Aus‐
wirkungen auf die Koordinationskomplexität.

Beim Single Sourcing erfolgt im Gegensatz zum Multiple Sourcing die Beschaf‐
fung einer Materialart ausschließlich über einen Lieferanten, obwohl alternative
Bezugsquellen existieren, und führt zu einer intensiveren Beziehungsgestaltung
zwischen Zulieferer und Abnehmer. Diese Strategie ermöglicht die Erreichung
wirtschaftlicher Losgrößen, eine Vereinfachung der Qualitätssicherung sowie eine
Senkung der Transaktionskosten. Die Reduktion der Lieferantenanzahl, das damit
verbundene hohe Beschaffungsvolumen und die Erhöhung der Umschlagfre‐
quenzen führen zu einer Aufwandssenkung der operativen Materialdisposition
und reduzieren Sicherheitsbestände und die Kapitalbindung sowie den Aufwand

450 Vgl. BLISS (2000, S. 54).


451 Vgl. WILDEMANN (1998, S. 338).
452 Vgl. SCHULTE (2005, S. 280).

289
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
für logistische Aktivitäten wie Transport, Umschlag und Lagerung453. Als Nach‐
teile des Single Sourcing sind eine starke Abhängigkeit vom Zulieferer, höhere
Wechselbarrieren zu anderen Lieferanten sowie die mangelnde Berücksichtigung
von Preisen und Technologien alternativer Anbieter am Markt zu nennen. Eine
Strategie, welche die Stärken des Single Sourcing nutzt, jedoch dessen Schwächen
reduziert, ist das Double bzw. Dual Sourcing, bei der die Beschaffung von Pro‐
dukten bzw. Produktgruppen über zwei Lieferanten sichergestellt wird.

Beim Modular Sourcing erfolgt die Beschaffung komplexer und fertigungstech‐


nisch zusammenhängender Einheiten (Module). Die Fertigungstiefe des beschaf‐
fenden Unternehmens ist niedriger und die Produktionsprozesse sind im Ver‐
gleich zur Beschaffung einzelner Teile im Allgemeinen weniger komplex. For‐
schungs‐ und Entwicklungsleistungen, die Beschaffungsmarktforschung, die
Qualitätssicherung und Fertigungsleistungen werden auf den Zulieferer abge‐
wälzt. Logistische Vorteile ergeben sich somit aus einer Verringerung der Liefer‐
beziehungen und einer damit einhergehenden Reduzierung der Schnittstellen,
sodass die Komplexität beim abnehmenden Unternehmen maßgeblich reduziert
wird454. Durch die Reduktion der Wertschöpfungstiefe wird eine Konzentration
auf die Kernkompetenzen erleichtert. Als weitere Vorteile des Modular Sourcing
lassen sich ein geringerer Flächenbedarf für die Lagerung und das Handling, ge‐
ringere Kapitalbindungs‐ und Transportkosten infolge einer produktionssynchro‐
nen Anlieferung sowie eine vereinfachte Produktionsplanung und ‐steuerung
nennen. Da beim Modular Sourcing die Verantwortung des Modullieferanten im
gesamten Wertschöpfungsprozess deutlich zunimmt, steigt jedoch auch die Ab‐
hängigkeit des Abnehmers vom Modullieferanten.

Eine Unterteilung der Beschaffungsstrategien nach ihrem regionalen Bezug führt


zur Unterscheidung zwischen Local Sourcing und Global Sourcing. Mit einer Zu‐
nahme des räumlichen Diversifizierungsgrades erhöht sich neben der Struktur‐
auch die Prozesskomplexität von Planung und Koordination455. Unter der Aus‐
nutzung weltweiter Beschaffungsmärkte ermöglicht Global Sourcing eine Erhö‐
hung der Markttransparenz, den Zugang zu neuen Technologien, günstigere Be‐
schaffungspreise und eine Verminderung der Abhängigkeit von inländischen Lie‐
feranten. Allerdings führt eine globale Beschaffung zu einem höheren logistischen
Aufwand, insbesondere bei der Planung, Umsetzung und Steuerung grenzüber‐
schreitender Transport‐, Umschlag‐ und Lageraktivitäten. Weitere Nachteile erge‐
ben sich aus höheren Frachtkosten durch gestiegene Entfernungen und längere
Transportzeiten, einer mangelnden Infrastruktur im Informations‐ und Kommu‐
nikationsbereich sowie differierenden Standardisierungs‐ und Qualitätsnormen.
Zudem erschweren sprachliche, rechtliche und kulturelle Barrieren die logistische

453 Vgl. KLUG (2010, S. 117ff).


454 Vgl. KLUG (2010, S. 120f).
455 Vgl. MEYER (2007, S. 66).

290
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

Abstimmung456. Die Auswahl geeigneter Sourcing Strategien wird von den unter‐
schiedlichen Anforderungsprofilen der Unternehmen beeinflusst, sodass eine
Festlegung grundsätzlich unternehmensindividuell vorgenommen werden muss.

f) Postponement457

Ein entscheidender komplexitätstreibender Faktor ist die Lage des Variantenent‐


stehungspunkts im Wertschöpfungsprozess. Werden verschiedene Produktvarian‐
ten schon früh im Fertigungsprozess durch eine Vielfalt an Rohstoffen und Teilen
festgelegt, dann hat das Auswirkungen auf sämtliche Produktions‐, Logistik‐ und
Steuerungsprozesse sowie ihre Ressourcen. Mit dem Postponement‐Konzept wird
der Leistungserstellungsprozess in auftragsneutrale und kundenspezifische Pro‐
zessbestandteile unterteilt, um die kundenspezifische Variantenentstehung bzw.
die räumliche Verteilung von Produkten möglichst spät im Produktions‐ bzw. Dis‐
tributionsprozess vorzunehmen. Der aus der Verschiebung des Variantenentste‐
hungspunktes an das Ende der Wertschöpfungskette resultierende längere neutra‐
le Zustand der Produkte vermindert die Komplexität in den logistischen Prozes‐
sen, weil dadurch der Umfang der standardisierten Wertschöpfungsanteile erhöht
wird und somit über weite Strecken Bedingungen einer Massenfertigung realisiert
werden können. Aus der Senkung der Variantenzahl auf allen dem Punkt der Va‐
riantenentstehung vorgelagerten Fertigungsstufen resultieren eine Bestands‐
reduzierung und damit eine Lagerkostensenkung. Da nur noch Unsicherheit in
der Nachfrage nach den Endproduktvarianten besteht, nimmt die Prognose‐
genauigkeit für die Teile und Baugruppen zu, sodass deren Sicherheitsbestände
reduziert werden können. In der Leistungserstellung kann bis zum Punkt der Va‐
riantenentstehung der Handlings‐, Verwaltungs‐ und Steuerungsaufwand in
sämtlichen logistischen Bereichen (z. B. Lagerhaltung, Kommissionierung, Trans‐
port, Materialbereitstellung) reduziert werden. Durch die Realisierung größerer
Lose können Transportkosten vermindert und in der Produktion eine geringere
Anzahl von Rüstvorgängen und damit eine kürzere Durchlaufzeit realisiert wer‐
den. Eine kürzere Durchlaufzeit bewirkt bei auftragsbasierten Prozessen wiede‐
rum eine Verkürzung der Lieferzeit. Innerhalb der Distribution kann die Feinver‐
teilung der Produkte auf Regionallager auf den spätmöglichsten Zeitpunkt, im
Idealfall erst bei Eingang eines Kundenauftrages, erfolgen, sodass die Prognose‐
genauigkeit erhöht, Umtransporte vermieden und Lagerkosten gesenkt werden
können. Allerdings besteht das Risiko einer zunehmenden strukturellen Komple‐
xität, da eine späte Produktdifferenzierung insbesondere bei komplexen Produk‐
ten flexible Montagestationen erfordert458.

456 Vgl. KLUG (2010, S. 122f).


457 Vgl. Kapitel 4.2.
458 Vgl. MEYER (2007, S. 67).

291
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.3.4.4 Einzelansätze auf Organisationsebene

a) Entscheidungsdezentralisierung

Eine Entscheidungsdezentralisierung (vertikale Autonomie, Empowerment) ist


ein organisatorisches Gestaltungselement, bei dem Entscheidungskompetenzen
auf untergeordnete Hierarchieebenen delegiert werden. Indem operative Bereiche
erweiterte Entscheidungsbefugnisse erhalten, können sie sich bei Störungen zu‐
mindest teilautonom in Eigenverantwortung selbst regulieren. Damit sinkt der
Steuerungs‐ und Kontrollaufwand in den übergeordneten Stellen und führt zu ei‐
ner Reduktion der Organisations‐ und Koordinationskomplexität459. Die vertikale
Autonomie verbindet zudem die Wahrnehmungsprozesse organisatorisch mit den
Entscheidungs‐ und Handlungsprozessen, um flexibel auf sich ändernde, dyna‐
mische Umweltbedingungen zu reagieren460. Strategische Unternehmensent‐
scheidungen sind allerdings weiterhin auf höheren Hierarchieebenen zu treffen,
da eine zu starke Dezentralisierung den notwendigen Überblick der Entschei‐
dungsträger über Abhängigkeiten und Auswirkungen ihrer Entscheidungen be‐
schränken kann.

b) Reduktion von Hierarchieebenen

Mit einer Entscheidungsdezentralisierung sind i. d. R. Veränderungen der Ent‐


scheidungs‐, Interessen‐, Kommunikations‐ und Machtstrukturen in einem Un‐
ternehmen verbunden. Eine Reduktion von Hierarchieebenen stellt demnach oft
eine sinnvolle Konsequenz dar, wenn die Entscheidungskompetenzen von auto‐
nomen, operativen Einheiten vergrößert werden461. Eine Reduktion hierarchischer
Ebenen lässt sich durch Eliminierung der Direktions‐, der Fachbereichs‐ bzw.
Hauptabteilungsleiter‐ebene oder der Gruppenleiter‐ bzw. Vorarbeiterebene errei‐
chen462. Eine Reduktion von Organisationshierarchien fördert insbesondere die
Beseitigung bürokratischer Hürden sowie die Beschleunigung von Informationen
und der Entscheidungsfindung zwischen den einzelnen Entscheidungsebenen.
Des Weiteren wird ein flexibleres Reaktionsvermögen auf dynamische Verände‐
rungen im Unternehmen bzw. der Unternehmensumwelt ermöglicht.

459 Vgl. BLISS (2000, S. 49f).


460 Vgl. KIRCHHOFF (2003, S. 213).
461 Vgl. KIRCHHOFF (2003, S. 213).
462 Vgl. REIß (1993b, S. 21).

292
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

4.3.5 Ganzheitliche Betrachtung des Komplexitäts-


managements
Mit den im Kapitel 4.3.4 dargestellten Einzelansätzen des Komplexitätsmanagements
kann die vorhandene Unternehmenskomplexität vermieden, reduziert bzw. beherrscht
werden. Zu beachten ist jedoch, dass zwischen den vorgestellten Einzelansätzen ein‐
seitige und wechselseitige Abhängigkeiten bestehen, die bei der Entscheidung für
einen Ansatz zu berücksichtigen sind. Im Folgenden werden ausgewählte Abhängig‐
keiten zwischen den Einzelansätzen beschrieben463.

4.3.5.1 Ein- und wechselseitige Abhängigkeiten der Einzelansätze des


Komplexitätsmanagements
Mit einer Fertigungssegmentierung erfolgt die Aufteilung der Fertigung in autonome,
produktorientierte Segmente, mit denen jeweils eine spezifische Wettbewerbsstrategie
verfolgt wird. Vor der Bildung dieser Produkt‐Markt‐Produktions‐Kombinationen
sollte zur Vermeidung eines nachträglichen Zusatzaufwands das Produktprogramm
und die Kundenstrukturen auf ihren Wert für das Unternehmen untersucht und gege‐
benenfalls bereinigt werden. Des Weiteren ist es empfehlenswert, wenn vor der Gestal‐
tung der Fertigungssegmente und Festlegung der Ressourcen pro Segment eine Mo‐
dularisierung, das Postponement‐Konzept sowie eine Standardisierung und Gleicht‐
eileverwendung zur Anwendung kommen. Ähnliche Abhängigkeiten lassen sich auch
für die Segmentierung indirekter Bereiche feststellen, denn ein veränderter Material‐
fluss beeinflusst auch den vorauseilenden, begleitenden, nachgelagerten und entge‐
gengesetzten Informationsfluss.

Da die Teilekomplexität in einem starken Zusammenhang mit der Lieferantenkomple‐


xität steht, sollte einer Reduzierung der Lieferantenzahl durch Single Sourcing oder
Modular Sourcing stets eine Teilestandardisierung und erhöhte Gleichteileverwen‐
dung vorangehen. Die so erzielte Verdichtung je Teilefamilie ermöglicht auch die Ver‐
ringerung der Lieferantenanzahl.

Eine Standardisierung und Gleichteileverwendung ist auch vor Anwendung der Pa‐
ketbildung zur Reduktion der internen Programmkomplexität sinnvoll. Die damit
erzielbare Verdichtung des Teilespektrums verringert notwendige Bündelungs‐
maßnahmen.

Die Kunden‐ und Programmkomplexität beeinflussen sich wechselseitig, da einerseits


einzelne Produkte bzw. Produktvarianten auf spezifische Markt‐ bzw. Kundensegmen‐
te ausgerichtet werden und andererseits einzelne Kundengruppen ihre Nachfrage
auch produktübergreifend nachfragen. Da eine Bereinigung des Produktprogramms
Auswirkungen auf das Kundenverhalten und eine Kundenbereinigung wiederum das

463 Vgl. BLISS (2000, S. 209ff).

293
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
anzubietende Produktprogramm beeinflusst, sollten beide Ansätze simultan umge‐
setzt werden.

Auch zwischen der Modularisierung und dem Postponement‐Konzept bestehen wech‐


selseitige Abhängigkeiten. Sollen Produktvarianten durch Assembly Postponement
erst spät im Wertschöpfungsprozess durch die Montage entsprechender individueller
Module entstehen, dann muss gleichzeitig geplant werden, an welchem Variantenbe‐
stimmungspunkt sich mit welchen Modulen diese Strategie umsetzen lässt.

Aus den exemplarisch dargestellten Abhängigkeiten können Schlussfolgerungen für


eine Implementierungsfolge der Einzelansätze und damit für ein ganzheitliches Kom‐
plexitätsmanagement gezogen werden: Während einseitige Abhängigkeiten zwischen
den Einzelansätzen sequentiell implementiert werden können, müssen wechselseitig
abhängige Ansätze möglichst simultan umgesetzt werden.

4.3.5.2 Ganzheitliches Komplexitätsmanagement


Die Umsetzung eines ganzheitlichen Komplexitätsmanagements erfordert die Festle‐
gung einer Implementierungsreihenfolge der Einzelansätze des Komplexitäts‐
managements. Der im Folgenden vorgestellte Ansatz von BLISS basiert auf der Idee,
dass erst nach Ausschöpfung aller internen Reduktionspotenziale (d. h. eine Redukti‐
on der Prozess‐ und Produktkomplexität) die Rentabilität der am Markt bedienten
Kunden bzw. der am Markt angebotenen Produkte und Produktvarianten (d. h. die
Programm‐ und Kundenkomplexität) beurteilt wird464. Die integrierte Anwendung
der vorgestellten Einzelansätze des Komplexitätsmanagements stellt BLISS in einem 4‐
Phasen‐Modell dar (vgl. Abbildung 4‐15).

Abbildung 4‐15 4-Phasenmodell nach BLISS

I II III IV
Reduktion der Reduktion der Reduktion der
wahrge‐ Komplexitäts‐
autonomen korrelierten
nommenen beherrschung
Unternehmens‐ Unternehmens‐
komplexität komplexität Marktkomplexität

464 Vgl. BLISS (2000, S. 66ff).

294
4.3
Management der Komplexität in der Logistik

In der ersten Phase, der Reduktion der autonomen Unternehmenskomplexität, soll


eine Reduktion der Übererfüllung der Anforderungen erzielt werden, ohne die eigent‐
liche Marktaufgabe (marktgerechte Variantenvielfalt) zu verändern. Zum Einsatz
kommen diejenigen Einzelansätze, die sich auf den Abbau der Organisations‐ und
Koordinationskomplexität beziehen, wie z. B. die Reduktion von Hierarchieebenen
oder die Entscheidungsdezentralisierung. Des Weiteren können auch die produktbe‐
zogenen Einzelansätze wie beispielsweise die Standardisierung oder die Gleichteile‐
verwendung umgesetzt werden, mit denen die Teilekomplexität verringert, aber die
Marktaufgabe nicht verändert wird.

Die zweite Phase reduziert die korrelierte Unternehmenskomplexität unter Einhaltung


der am Markt angebotenen Leistung. Es kommen diejenigen Ansätze zur Anwendung,
die zwar einen Marktbezug aufweisen, mit denen aber lediglich die Korrelation oder
auch der Kopplungsgrad zwischen Unternehmenskomplexität und einer als konstant
zu betrachtenden Marktkomplexität reduziert werden kann. Somit eignen sich die
Paketbildung zur internen Reduktion der Programmkomplexität, der produkt‐
bezogene Ansatz der Modularisierung und auf Prozessebene das Postponement‐
Konzept. Diese Einzelansätze erhalten die nach außen gerichtete Vielfalt bzw. das
Leistungsangebot, während sie die unternehmensinterne Komplexität reduzieren.

Erst nach Ausschöpfung der internen Reduktionspotenziale im Rahmen der ersten


beiden Phasen, lassen sich die Programm‐ und Kundenkomplexität anhand der ver‐
bleibenden Vielfaltskosten beurteilen und gegebenenfalls reduzieren. Zur Reduktion
des Produktprogramms und der Kundenkomplexität kann eine Sortiments‐ bzw.
Kundenbereinigung durchgeführt werden, wobei die indirekten Bereinigungsformen
(z. B. Mindermengenaufschläge, Preiserhöhung bei Exoten) den direkten (z. B. Elimi‐
nation, Nichtbelieferung) vorzuziehen sind.

Die vierte Phase umfasst die Komplexitätsbeherrschung und ist ausschließlich nach
Abschluss der dritten Phase, also unter Kenntnis der verbleibenden, nicht mehr zu
mindernden Restkomplexität, durchführbar. Geeignet sind diejenigen Einzelansätze,
die eine Beherrschung der Unternehmenskomplexität durch eine Differenzierung
unternehmensinterner Strukturen und Prozesse hinsichtlich der verbleibenden Markt‐
leistung ermöglichen. Neben einer Fertigungssegmentierung können eine Segmentie‐
rung der Auftragsabwicklung sowie im Rahmen der Beschaffung das Single oder
Modular Sourcing zur Komplexitätsbeherrschung umgesetzt werden.

Mit den vier aufeinander aufbauenden Phasen wird die Komplexität schrittweise von
innen nach außen unter Berücksichtigung der Abhängigkeiten zwischen den Einzelan‐
sätzen reduziert. Somit kann das 4‐Phasen‐Modell als praktikabler Handlungsleitfa‐
den zur Umsetzung eines ganzheitlichen, integrierten Komplexitätsmanagements
herangezogen werden. Dabei gilt es zu beachten, dass für jeden Einzelfall unterschied‐
liche Einzelansätze in Frage kommen können und diese individuell bewertet werden
müssen.

295
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.4 Strategische Allianzen zwischen Industrie-
und Handelsunternehmen
Um auf Märkten mit hoher Dynamik Wettbewerbsvorteile zu generieren besteht die
Notwendigkeit, dass eine Maximierung von isolierten Einzelinteressen durch eine
Optimierung der gesamten Wertschöpfungskette auf der Basis einer intensiven Zu‐
sammenarbeit aller Beteiligten ersetzt wird. Globale und komplexe Wertschöpfungs‐
ketten lassen sich heute nur durch eine unternehmensübergreifende Kooperation und
den Einsatz moderner Informationstechnologien erfolgreich steuern, um Ineffizienzen
in der Warenversorgung zwischen Herstellern, Logistikdienstleistern und Handel
entlang der Wertschöpfungskette zu vermeiden. Bei einer getrennten Betrachtung von
Marketing‐ und Logistikzielen werden die Zielkonflikte bezüglich der Effektivität auf
der Nachfrageseite und der Effizienz auf der Angebotsseite sichtbar. Somit spielt die
Integration von Logistik und Marketing bei der Gestaltung von Wertschöpfungsketten
eine wesentliche Rolle für die Erzielung und Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Die
Konzepte Efficient Consumer Response (ECR) und Collaborative Planning, Forecas‐
ting and Replenishment (CPFR) liefern jeweils prozessorientierte, unternehmensüber‐
greifende Ansätze, um Marketing‐ und Logistikentscheidungen durch die Nutzung
der Potenziale neuer Informationstechnologien und verstärkter Vernetzung besser
aufeinander abzustimmen. Eine wichtige Voraussetzung bildet dabei die Implementie‐
rung umfassender und unternehmensübergreifender Informations‐ und Planungssys‐
teme, die einen Informationsaustausch mit besserer Datenqualität ermöglichen.

Lernziele:

 Kennzeichen und Ziele des ECR‐Konzepts


 Basisstrategien der supply‐side und der demand‐side
 Nutzenpotenziale des ECR‐Konzepts
 Kennzeichen und Ziele des CPFR‐Konzepts
 Nutzenpotenziale des CPFR‐Konzepts

296
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

4.4.1 Efficient Consumer Response


Die Entwicklung kooperativen Verhaltens zwischen Industrie und Handel wurde in
Amerika von der Lebensmittelindustrie und der Textilwirtschaft angestoßen. Die ame‐
rikanische Textilwirtschaft war Anfang der 1980er Jahre durch lange Durchlaufzeiten
gekennzeichnet. In den Jahren 1985/1986 wurde von dem US‐amerikanischen Consul‐
ting‐Unternehmen Kurt Salmon Associates für die Textil‐ und Bekleidungsunterneh‐
men das Konzept Quick Response entwickelt. Quick Response ermöglicht eine schnel‐
le Reaktion auf Kundenwünsche, indem Bekleidungsartikel beim Hersteller bevorratet
werden und sich der Handel zur Abnahme bestimmter Mengen je Artikel verpflichtet.
Unter Nutzung unternehmensübergreifender Datenaustauschsysteme liefert der Han‐
del aktuelle Point of Sale (POS)‐Daten, auf deren Basis der Hersteller einen Beliefe‐
rungsvorschlag erstellt. Die Lieferzeit vom Produktionsstandort zum POS konnte
somit um mehr als 75% gesenkt werden465.

In den 1970er Jahren hatte die US‐amerikanische Lebensmittelindustrie mit steigenden


Ineffizienzen in der Distribution zu kämpfen, die zu sinkenden Umsätzen führte.
Initiiert durch das Food Marketing Institute untersuchte die Unternehmensberatung
Kurt Salomon Associates den Distributionskanal zwischen Lebensmittelhersteller und
‐händler, um Schwachstellen und Verbesserungspotenziale aufzudecken. Die resultie‐
renden Ergebnisse dieser Studie zeigen ein durch Kooperationen zwischen Lebensmit‐
telhersteller und ‐handel mögliches Einsparpotenzial von 10,8% vom Umsatz. Im Jahre
1993 wurden die Ergebnisse publiziert und markieren den Ausgangspunkt der Effi‐
cient Consumer Response (ECR)‐Bewegung466. Aus diversen ECR‐Arbeitsgruppen
entwickelte sich das Joint Industry Project on Efficient Consumer Response, welches
durch stetig wachsende Mitgliederzahlen aus Herstellern, Handelsunternehmen und
Unternehmensberatungen Best‐Practice‐Methoden entwickelt467.

Die ECR‐Entwicklungen in den USA wurden in Europa mit Interesse verfolgt. Im Jahr
1994 veröffentlichte die Coca Cola Retail Research Group Europe die Studie „Supplier
Retailer Collaboration in Supply Chain Management“, die Effizienzverbesserungen
von 2,5% vom Umsatz durch Optimierung der Kommunikation, des Materialflusses,
der Bestandsführung und der Verwaltung aufzeigt468. Im selben Jahr wurde das „Exe‐
cutive Board of ECR Europe“ mit Sitz in Brüssel gegründet, in welchem führende
Vertreter aus Handel und Industrie paritätisch vertreten sind. In den folgenden Jahren
gründeten sich viele nationale ECR‐Initiativen. Seit dem Jahr 2000 arbeiten die ECR‐
Initiativen der deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und der Schweiz
bei vielen Projekten unter „ECR‐D‐A‐CH“ eng zusammen.

Im Folgenden wird unter ECR ein umfassendes Managementkonzept auf der Basis
einer vertikalen Kooperation zwischen Industrie und Handel verstanden, das ein

465 Vgl. KOTZAB (1997, S. 126ff).


466 Vgl. O.V. (1993).
467 Vgl. HEYDT VON DER (1998, S. 56ff).
468 Vgl. O.V. (1994).

297
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Bündel an Strategien, Methoden und Instrumente umfasst, um dem Konsumenten ein
Optimum an Produktvielfalt, Qualität und Service kostenoptimal anbieten zu können.
Der Wandel von Konfrontation hin zu einer Kooperation fordert vom Management die
Bereitschaft, die traditionell konfliktgeprägte Beziehung zwischen Industrie und Han‐
del durch kooperative Beziehungen zu ersetzen, die für beide Partner in einer Win‐
Win‐Situation mündet. Das ECR‐Konzept propagiert ein Abwenden vom Streben nach
möglichst hohen Konditionen‐ und Leistungsanforderungen zwischen Handel und
Hersteller, hin zur Ausrichtung aller Aktivitäten an den Bedürfnissen der Konsumen‐
ten. Somit dominieren beim ECR‐Konzept die Wertschöpfungs‐ und die Kundenorien‐
tierung. Während mit der Wertschöpfungsorientierung ein prozessorientiertes Denken
und Handeln zur ganzheitlichen Optimierung aller Aktivitäten in der Wertschöp‐
fungskette verfolgt wird, zielt die Kundenorientierung auf eine möglichst optimale
Befriedigung der Kundenbedürfnisse ab. Dies erfordert eine ganzheitliche, unterneh‐
mensübergreifende Analyse, d. h. eine Abkehr vom antizipativen, planorientierten
Push‐Prinzip hin zu einem reaktiven, nachfragegesteuerten Pull‐Prinzip. Beim Push‐
Prinzip drückt der Hersteller die Waren durch die nachfolgenden Wertschöpfungsstu‐
fen. Da der Informationsfluss nur jeweils zwischen zwei benachbarten Wertschöp‐
fungsstufen stattfindet, wird der tatsächliche Kundenbedarf beim Hersteller nicht
berücksichtigt. Die resultierenden Teiloptimierungen in jeder einzelnen Wertschöp‐
fungsstufe führen zu Systembrüchen im Waren‐ und Informationsfluss und die beste‐
henden Schnittstellen zwischen den Unternehmen verursachen hohe Gesamtsystem‐
kosten. Beispiele für solche Ineffizienzen sind lange Liegezeiten von Waren, Brüche im
Informationsfluss und unnötige Sicherheitsbestände im Auslieferungslager bei gleich‐
zeitiger Out‐of‐stock‐Situation in der Filiale. Im Gegensatz zum Push‐Prinzip ist beim
Pull‐Prinzip der Kunde Ausgangspunkt aller Aktivitäten und zieht die Ware durch die
Wertschöpfungskette. Das ECR‐Konzept basiert auf dem Pull‐Prinzip, sodass die
Wertschöpfungsstufen lückenlos durch Informationssysteme und Kooperationsverein‐
barungen miteinander verbunden sind. So kann z. B. die Produktion beim Hersteller
auf Basis der aktuellen Abverkaufsdaten vom POS im Handel erfolgen (vgl. Abbil‐
dung 4‐16). Die verstärkte Kundenorientierung soll beim Kunden auch zu einem er‐
höhten Konsum führen, beispielsweise durch eine größere Produktvielfalt oder besse‐
ren Service.

298
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

Abbildung 4‐16 Efficient Consumer Response469

Ausgangssituation: Systembrüche im Waren‐ und Informationsfluss


Informationsfluss nur jeweils zwischen benachbarten Partnern

Hersteller Handel

Produk‐ Distribu‐ Logistik‐ Zentral‐ Konsument


POS
tion tionslager dienstleister lager

Langsamer, unterbrochener Warenfluss


Push „sell what you buy“

ECR: Ganzheitlich optimierte Wertschöpfungskette


Verzögerungsfreier, papierloser Informationsfluss

Hersteller Handel

Logistik‐ Zentral‐
Produktion Distributions‐ POS Konsument
dienstleister lager
lager

Schneller, kontinuierlicher Warenfluss


Pull „buy what you sell “

Das Hauptziel des ECR‐Konzepts besteht in der Beseitigung von Ineffizienzen inner‐
halb unkoordinierter Bereiche in der Wertschöpfungskette, sodass für Hersteller, Lo‐
gistikdienstleister, Handel und Konsumenten eine Win‐Win‐Situation entsteht. Dieses
Hauptziel lässt sich in Leistungs‐ und Kostenziele durch Optimierung der Logistik
sowie in Rentabilitätsziele durch Marketingverbesserung unterteilen470. Die Leis‐
tungsziele umfassen eine Vermeidung von Out‐of‐Stock‐Situationen in den Filialen
und eine Erhöhung der Termintreue, der Mengentreue sowie der Lieferqualität. Des
Weiteren wird eine auf Automatisierung basierende verbesserte Bereitstellung und
schnellere Übertragung von Abverkaufsinformationen zwischen den Kooperations‐
partnern verfolgt, um somit schneller auf Kundenwünsche reagieren zu können. Zu
den wichtigsten Kostenzielen gehören die Reduktion der Lagerungs‐ und Kapitalbin‐
dungskosten und der Kosten des physischen Materialflusses. Durch die automatisierte
Datenerfassung, ‐verarbeitung und ‐übertragung werden ebenfalls Informations‐ und
Steuerungskosten reduziert. Bei den durch das Marketing verfolgten Rentabilitätszie‐
len wird eine Erhöhung der Umsatzrentabilität verfolgt, die durch eine verbesserte
Nutzung der in den Nachfragedaten enthaltenen Informationen ermöglicht wird.
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung von ECR sind eine Investitionsbe‐
reitschaft in moderne Iuk‐Technologien, die Veränderung der eigenen Prozesse unter
Berücksichtigung der Flussorientierung, der Aufbau von Vertrauen zwischen den

469 In Anlehnung an WILDEMANN (2005, S. 223).


470 Vgl. WILDEMANN (2005, S. 225ff).

299
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Kooperationspartnern sowie eine uneingeschränkte und zuverlässige Datenweitergabe
und Informationsbereitstellung.

4.4.1.1 Basisstrategien des ECR-Konzepts


Die Umsetzung der Leistungs‐, Kosten‐ und Rentabilitätsziele im ECR‐Konzept basiert
auf Kooperationen in der Logistik (supply‐side ECR) sowie auf Kooperationen im
Marketing (demand‐side ECR), für die jeweils drei Strategien entwickelt wurden.
Während sich die Angebotsseite auf kollaborative ECR‐Praktiken zur Angebotsopti‐
mierung auf der Basis gemeinsamer Logistik‐ und Supply‐Chain‐Aktivitäten bezieht,
umfasst die Nachfrageseite kollaborative ECR‐Praktiken, die eine Stimulierung der
Nachfrage durch Förderung gemeinsamer Marketing‐ und Verkaufsaktivitäten verfol‐
gen (vgl. Abbildung 4‐17).

Zur Unterstützung dieser Strategien ist ein offener Informations‐ und Datenaustausch
mittels Electronic Data Interchange (EDI) sicherzustellen. EDI als Befähiger ermöglicht
einen elektronischen Datenaustausch mittels vereinbarter Normen (z. B. EDIFACT)
und dadurch eine auf Prozessoptimierung basierende unternehmensübergreifende
Zusammenarbeit. EDI zielt auf eine Standardisierung der folgenden Geschäftstrans‐
aktionen: Bestellprozess sowie dessen Dokumentation, Dokumentation der Auftrags‐
abwicklung, Versandprozess inkl. vorauseilender Versandmeldung, Rechnungs‐
abwicklung und elektronische Überweisung. Alternativ zu EDI kann auch das kosten‐
günstigere WebEDI‐Verfahren zur Anwendung kommen, mit dem EDI‐Nachrichten
über einen Webbrowser erfasst, versendet und empfangen werden können. Besonders
kleine und mittlere Unternehmen können über WebEDI mit geringem Zusatzaufwand
in die EDI‐Landschaft integriert werden. Während mit einer separaten Betrachtung
der ECR‐Strategien verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt werden
können, lassen sich aber nur durch einen integrierten Ansatz aller Strategien die mit
ECR umsetzbaren Potenziale für den Hersteller, Logistikdienstleister, Händler und
Konsumenten optimal nutzen, um Quantensprünge in der Effektivität der Versor‐
gungskette zu realisieren. Der Erfolg dieser Strategien hängt jedoch stark vom Ver‐
trauensverhältnis und der Qualität der übermittelten Informationen ab.

Das supply‐side ECR umfasst die drei Strategien Efficient Administration, Efficient
Logistics und Efficient Replenishment. Mit Efficient Administration wird eine Effi‐
zienzsteigerung der administrativen Logistikprozesse verfolgt. Dazu gehört eine
schnelle, sichere und kostengünstige Abwicklung der den Warenfluss begleitenden
Informations‐ und Geldflüsse mittels EDI oder WebEDI. Somit können bisher papier‐
gestützte Informationen automatisiert werden, sodass Mehrfacheingaben und somit
auch Fehlerquellen vermieden werden können.

300
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

Abbildung 4‐17 ECR-Strategien471

Hersteller Handel
Supply‐side ECR Demand‐side ECR

Efficient Administration Efficient Promotion

• Effiziente Konditionengestaltung • Optimierte Verkaufsförderung

• Papierloser Informationsfluss • Reaktion auf Verbraucher‐


verhalten

Efficient Logistics Efficient Assortment

• Cross Docking
• Bestandsoptimierung
• Direkte Warenlieferung
• Standardisierte Ladungsträger
• Regaloptimierung
• Optimierte Rollcontainer
• Lager‐ und LKW‐Pooling

Efficient Replenishment Efficient Product Introduction

• Computergestütztes Bestellwesen • Optimierte Produktentwicklung


• Nachfragesynchrone Produktion
• Vendor Managed Inventory • Optimierte Produkteinführung

Electronic Data Interchange (EDI)

Neben dem papierlosen Informationsfluss spielt auch eine effiziente Gestaltung der
Konditionen eine wichtige Rolle, mit denen die leistungswirtschaftlichen und finanzi‐
ellen Beziehungen zwischen Hersteller, Logistikdienstleister und Handel geregelt
werden. Die Konditionsarten umfassen beispielsweise Mengen‐, Umsatz‐, Zeit‐ und
Funktionsrabatte, Zahlungsmodalitäten sowie verschiedene Nebenleistungen (z. B.
Regalpflege, Inventurhilfe,…)472 und führen zu einem sehr hohen administrativen
Aufwand bei der Bearbeitung. Mit Hilfe einer effizienteren Konditionengestaltung
werden diese vielfältigen Konditionsarten durch die Koppelung an Leistungsaspekten
auf ein überschaubares Maß reduziert.

Beispiel 4.4.1:

Die Diephaus Betonwerk GmbH stellt Betonelemente her, die über Baumärkte vertrie‐
ben werden. Durch die Einführung von EDI im Jahr 2007 konnten gemeinsam mit dem

471 In Anlehnung an WILDEMANN (2005, S. 228).


472 Vgl. SEIFERT (2006, S. 129).

301
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Kooperationspartner OBI Baumarkt Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerungen
realisiert werden. Bisher zeitintensive administrative Tätigkeiten im Rechnungs‐ und
Bestellwesen, in der Lieferabwicklung und im Stammdatenaustausch werden mittels
moderner IuK‐Technologien vollkommen elektronisch durchgeführt und überprüft.
Die Produktdaten werden in einem Stammdatenpool bereitgestellt und sind für alle
Kunden permanent verfügbar. Die Bestellungen werden elektronisch ausgelöst, die
Artikelverfügbarkeit wird automatisch überprüft und das Lieferavis sowie die Rech‐
nungsstellung erfolgen papierlos473.

Die Strategie Efficient Logistics dient der Erhöhung der Effizienz der physischen Pro‐
zesse in der Wertschöpfungskette durch eine branchenübergreifende Zusammenarbeit
von Hersteller und Handel. Ziel ist die ganzheitliche Realisierung eines optimierten
Warenflusses, wobei auf Warenbestände in den einzelnen Stufen des Distributionssys‐
tems weitgehend verzichtet werden soll. Eine Möglichkeit der Bestandsreduzierung
besteht in der Einrichtung von Zentrallagerlösungen, mit denen statistische Ausgleich‐
seffekte realisiert werden können. Weiterhin können auch bestandslose Umschlag‐
punkte in Form von ein‐ oder zweistufigen Cross Docking Konzepten realisiert wer‐
den474. Vorteile bestandsloser Umschlagpunkte ergeben sich aus einer Reduzierung
von Lagerbeständen und ‐kosten, einer Verringerung von Rampenkontakten bei den
Filialen sowie durch eine Erhöhung des Lieferservice. Falls vom Hersteller zu den
Filialen größere Mengen umsatzstarker Artikel oder besonders umschlagempfindliche
Artikel geliefert werden sollen, dann bietet sich auch eine Direktlieferung unter Um‐
gehung aller Zwischenlagerstufen an. Eine Beschleunigung von Umschlagprozessen
kann durch Efficient Unit Load, d. h. eine Standardisierung von Ladungsträgern, ein‐
heitliche Palettenhöhen sowie eine abgestimmte Gestaltung der Transportetiketten
erreicht werden. Unterstützend wirken weiterhin eine Abstimmung von Stapelsche‐
mata und Auslastung, eine durchgängige Identifikation von Produkten, Versandein‐
heiten, Kartons und Paletten mittels Barcode oder RFID sowie eine Planung der An‐
kunftszeiten der Waren mit Zeitfenster. Auch sollten die Rollcontainer durch Roll‐
Cage‐Sequencing für die Filialbelieferung so beladen werden, dass eine aufwandsarme
Übernahme und Einräumung in die Verkaufsregale durch das Verkaufspersonal mög‐
lich ist. Dies erfordert eine Berücksichtigung des Filiallayouts und der Regalbelegung.
Die Umsetzung von Pooling‐Strategien fordert gemeinsame Planungs‐ sowie zusätzli‐
che Zusammenführungs‐ und Verteilprozesse. So können durch ein LKW‐ oder Lager‐
Pooling LKWs, einheitliche Behältersysteme und u. U. auch Lager unternehmensüber‐
greifend genutzt werden. Damit wird das Ziel verfolgt, die Transportkapazitäten bes‐
ser auszunutzen und Leerfahrten zu minimieren bzw. die Gesamtzahl der Lager zu
verringern.

Efficient Replenishment zielt auf eine nachfrageorientierte Produktion und Distributi‐


on der Warenmengen unter Nutzung der Abverkaufsdaten vom POS und der Be‐
standsdaten ab. Somit wird die bisher auf Prognosen basierende losgrößenorientierte

473 Vgl. O. V. (2008).


474 Vgl. LASCH (2020, S. 180ff).

302
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

Nachschubversorgung (Push‐Prinzip), die zu hohen Lagerbeständen sowohl beim


Hersteller als auch beim Handel führt, durch eine nachfrageorientierte Automatisie‐
rung des Warennachschubs (Pull‐Prinzip) ersetzt. Durch das computergestützte Be‐
stellwesen werden die mit Scannerkassen automatisch erfassten Abverkaufsdaten am
POS per EDI an die Lagerstufen des Handels übertragen und verdichtet. Anschließend
werden diese Daten an die Hersteller übertragen, sodass eine nachfrageorientierte
Produktion angestoßen werden kann. Die Weitergabe der aktuellen Daten vom POS
durch den Handel ermöglicht dem Hersteller eine bessere Planungsgrundlage, da er
mittels dieser Daten die zukünftige Absatzmenge prognostizieren und seine Produkti‐
on der tatsächlichen Nachfrage anpassen kann. Beim Vendor Manged Inventory (VMI)
wird die Bestandsverantwortung und Nachschubdisposition vom Handel auf den
Hersteller übertragen. Dazu übermittelt der Handel die Abverkaufszahlen und Lager‐
bestandsdaten an den Hersteller, der unter Berücksichtigung vorab vereinbarter Min‐
dest‐ und Maximalbestände sowie von Verkauf fördernden Maßnahmen und saisona‐
len Einflüssen eigenverantwortlich die Bestellungen auslöst und die Bestände im La‐
ger des Abnehmers verwaltet. VMI eignet sich besonders bei Artikeln mit hohem
Verbrauch und/oder hohem Verbrauchswert, da somit Out‐of‐Stock‐Situationen ver‐
mieden, Sicherheitsbestände in den Lagern des Handels reduziert und die Effizienz
des Warenflusses gesteigert werden können. Mit der Strategie Efficient Replenishment
können eine Reduzierung der Lagerbestände im Distributionszentrum des Handels,
eine höhere Auslastung der Transportkapazitäten, eine Verkürzung der Durchlauf‐
zeiten, eine Verringerung der Prozesskosten und eine Erhöhung des Servicegrades
erreicht werden. Die dadurch realisierbare Kostensenkung ermöglicht Preisreduktio‐
nen für die Produkte, sodass die Attraktivität des Handels steigt.

Ziel des demand‐side ECR sind Kooperationen zwischen Hersteller und Handel im
Bereich des Marketings. Dazu gehören die Strategien Efficient Promotion, Efficient
Assortment und Efficient Product Introduction. Mit der Strategie Efficient Promotion
sollen Verkauf fördernde Maßnahmen zwischen Hersteller und Handel abgestimmt
und unkoordinierte Aktionen vermieden werden. Efficient Promotion ermöglicht dem
Marketing die Wirkung von Werbemaßnahmen auf den Kunden zu überprüfen. Die
strategische Positionierung von Warengruppen und den zugehörigen Artikeln werden
gemeinsam festgelegt, um verschiedene Aktionen mit klaren Schwerpunkten zu pla‐
nen und umzusetzen sowie die Wirksamkeit von Werbemaßnahmen zu untersuchen.
Somit lassen sich bestimmte Sonderaktionen des Handels durch eine gezielte Waren‐
versorgung des Herstellers begleiten, um Fehlmengen zu vermeiden. Andererseits
können auch vom Hersteller geplante Aktionen vom Handel durch die Bereitstellung
von Sonderverkaufsflächen unterstützt werden. Mit der Strategie Every Day Low Price
wird ein Zustand von Dauerniedrigpreisen angestrebt, der auch bei den Kunden
übermäßige Bevorratungskäufe vermeidet. Voraussetzung für Efficient Promotion ist
eine intensive Zusammenarbeit der beteiligten Partner, verbunden mit einem hohen
Informationsaustausch bezüglich der Daten vom POS.

Die Strategie Efficient Assortment zielt auf eine Effizienzsteigerung bei der Zusam‐
mensetzung von Warengruppen, um die Kundennachfrage möglichst exakt zu befrie‐

303
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
digen und die vorhandenen Verkaufsflächen und Regalplätze profitabel zu nutzen.
Durch die zwischen Hersteller und Handel gemeinsam festgelegte Ausrichtung und
Darbietung des Sortiments wird unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede und
des Kaufverhaltens der Konsumenten eine Maximierung der Flächenwertschöpfung in
den Filialen erreicht. Ein somit am Kunden ausgerichtetes Sortimentsangebot erhöht
auch die Kundenbindung. Eine abverkaufsgerechte Platzierung der Waren vermeidet
Bestandslücken und Überbestände und ermöglicht einen gleichmäßigen Regalabver‐
kauf. Unter Effizienzgesichtspunkten kann das gesamte Sortiment gestrafft werden, d.
h. erfolgreiche Produkte mit hoher Umschlaghäufigkeit sind von weniger erfolgrei‐
chen zu trennen, schwache Artikel sind auf ihre Rentabilität hingehend zu prüfen und
gegebenenfalls auszulisten.

Mit der Strategie Efficient Product Introduction wird der Prozess der Einführung und
Entwicklung neuer Produkte gemeinsam zwischen Hersteller und Handel gestaltet
und optimiert. Diese Strategie setzt ein hohes Maß an Offenheit und Vertrauen zwi‐
schen Hersteller und Handel voraus. Der Handel bildet die Schnittstelle zum Konsu‐
menten und hat im Gegensatz zum Hersteller einen direkten Kontakt zum Kunden.
Beim Handel gehen Beschwerden, Reklamationen und Verbesserungsvorschläge der
Konsumenten ein. Auf dieses Wissen sollte der Hersteller bei der Ideensammlung für
Produkte zurückgreifen, um bestehende Produkte zu ändern oder neue Produkte
zielgerichtet entwickeln zu können. Durch eine rechtzeitige Abstimmung zwischen
Hersteller und Handel bei der Produktentwicklung werden die Erfolgsaussichten
eines neuen Produkts verbessert, sodass Flops vermieden werden können. Neben der
Produktentwicklung ist auch die Markteinführung neuer Produkte gemeinsam zu
planen. Dazu gehören die Festlegung der Sortiments‐, Preis‐, Verkaufsförderungs‐ und
Präsentationspolitik sowie die Abstimmung der Medien‐ und Kommunikationspläne.
Vor dem Hintergrund sich ständig verkürzender Produktlebenszyklen und damit
häufigerer Produktneueinführungen kommt Efficient Product Introduction eine be‐
sondere Bedeutung zu. Allerdings wird der Prozess der Produktentwicklung häufig
noch isoliert von der Industrie betrieben, obwohl gerade im Bereich des Handels ein
erhebliches Wissens‐ und Erfahrungspotential vorhanden ist.

4.4.1.2 Umsetzung und Nutzen des ECR-Konzepts


Vertikale Kooperationen im Rahmen von ECR‐Projekten werden fast ausschließlich
zwischen großen Unternehmen durchgeführt. Die mit der Umsetzung des ECR‐
Konzepts verbundenen gleichrangigen sechs Basisstrategien ermöglichen eine ge‐
meinsame Logistik‐ und Marketingplanung zwischen Industrie und Handel. Aller‐
dings haben diese Strategien tiefgreifende Änderungen der entsprechenden Prozesse
im Distributionskanal zur Folge, sodass für die Umsetzung aller Basisstrategien ein
Zeitraum von ca. zwei bis drei Jahren benötigt wird. Es ist vor allem die Aufgabe des
Top‐Managements, die strategischen Leitgedanken des ECR‐Konzepts als langfristig
angelegtes Managementkonzept in das Unternehmen zu integrieren, eine unterneh‐
mensindividuelle Anpassung voranzutreiben und alte Denkstrukturen aufzubrechen.

304
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

Zu beachten ist, dass bei den im Rahmen von ECR zu bewältigenden Veränderungen
es zu zirka 80% auf den Faktor Mensch und nur zu zirka 20% auf neue Technologien
ankommt475. Bei der Umsetzung ist auch zu beachten, dass der gesamte Realisie‐
rungsprozess sorgfältig überwacht werden muss, um den Erfolg der einzelnen Strate‐
gien zu erkennen. Vergleicht man die Komplexität und den Abstimmungsbedarf der
sechs Basisstrategien, dann bietet sich zuerst eine Umsetzung der leichter realisierba‐
ren Strategien der supply‐side an, da in diesem Bereich lediglich warenflussbezogene
Informationen mit geringer Vertraulichkeit anfallen. Auch lassen sich im Bereich der
supply‐side kurzfristig Gewinne durch Einsparungen und Optimierungen generieren.
Die Erhöhung des Kundennutzens durch kooperative Marketingmaßnahmen gestaltet
sich schwieriger, da die Beziehung zwischen Industrie und Handel auch heute noch
durch Konflikte gekennzeichnet ist. Insbesondere der Austausch sensibler markt‐ und
kundenbezogener Daten (z. B. Wettbewerbsinformationen, Markttrends, Kundenprofi‐
le) führt auf Seiten der demand‐side zu Problemen.

Eine Automatisierung des Bestellwesens beim Händler wird wesentlich von der Um‐
schlaghäufigkeit der Produkte beeinflusst. Es ergibt sich ein umso größeres Rationali‐
sierungspotenzial, je stabiler die Nachfrage und Sortimentszusammensetzung und je
länger die Produktlebenszyklen sind. Das ECR‐Konzept eignet sich somit für Produkte
aus dem Food‐Sortiment sowie für stabile Basissortimente im Bereich der Non‐Food‐
Artikel. Insbesondere Produkte mit einer hohen Umschlaghäufigkeit, geringer Halt‐
barkeit, hoher Substituierbarkeit, hohem Wert sowie kontinuierlicher Verfügbarkeit
eignen sich für ECR‐Projekte. Auf der ersten Konferenz von ECR Europe im Jahr 1995
wurden bei der Präsentation der Ergebnisse die zu erwartenden Kosteneinsparungen
im europäischen Raum mit ca. 6,9% vom Umsatz angegeben. Allerdings zeigten um‐
fangreiche Untersuchungen in der Praxis, dass lediglich Einsparungen von ca. 3,6%
des Umsatzes realisiert wurden476.

Der Erfolg von ECR‐Projekten hängt auch vom Erreichen einer kritischen Masse ab, da
isolierte Kooperationen mit zu wenigen Industrieunternehmen die hohen Investitio‐
nen in moderne IuK‐Technologien und Datenanalysesoftware sowie den Aufwand für
notwendige Reorganisationen nicht rechtfertigen. Auf Seiten des Handels ergeben sich
Vorteile durch niedrigere Kapital‐ und Lagerhaltungskosten, geringere Transportkos‐
ten durch Bündelungseffekte, erhöhte Warenpräsenz und Umsätze durch Vermeidung
von Out‐of‐Stock‐Situationen und einen verringerten Verwaltungsaufwand. Der Her‐
steller profitiert von einer besseren Planungsqualität aufgrund der POS‐Daten, die zu
einer kontinuierlichen Produktionsauslastung, einer Verkürzung der Durchlaufzeiten
sowie einer Senkung der Bestände im Distributionskanal führt. Die wichtigsten Nut‐
zenpotenziale des ECR‐Konzepts bestehen in einer schnelleren Reaktion auf kurzfris‐
tige Markt‐ und Nachfrageveränderungen sowie in einer besseren Ausrichtung der
Sortimentsgestaltung und Produktpositionierung inkl. der Werbeaktivitäten auf die
Kundenwünsche.

475 Vgl. GLEIßNER (2000, S. 337).


476 Vgl. HOFSTETTER (2006, S. 25f).

305
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Die Umsetzung von ECR‐Projekten ist mit einem enormen Arbeitsaufwand, einer
großen Veränderungsbereitschaft bei den eigenen Prozessen, einer hohen Investitions‐
bereitschaft in moderne IuK‐Technologien und einer uneingeschränkten und zuverläs‐
sigen Datenweitergabe verbunden. Der Austausch von sensiblen, wettbewerbsrelevan‐
ten Daten zwischen den Kooperationspartnern erfordert den Aufbau von Vertrauen.
Ein weiteres Problem bei der Implementierung stellen die Zieldivergenzen zwischen
Handel und Industrie dar, die im ECR‐Konzept wenig Berücksichtigung finden. Wei‐
terhin kann eine Verschiebung der Machtverhältnisse zum Hersteller beobachtet wer‐
den, der somit immer mehr Einfluss auf die Prozessgestaltung des Handels ge‐
winnt477. Auch wird im ECR‐Konzept die Aufteilung von Kosten und Nutzen zwi‐
schen beiden Kooperationspartnern nicht eindeutig geklärt. Die Handelsunternehmen
sollten sich an gewissen Investitionen der Industrie beteiligen oder eine gerechtere
Gewinnverteilung vornehmen. Eine weitere Schwierigkeit bei der Umsetzung ergibt
sich durch die einseitige und nicht transparente Erstellung von Prognosedaten durch
den Handel. Vielmehr sollte auch das Wissen und die Erfahrung der Hersteller in die
Erstellung einer gemeinsamen Nachfrageprognose integriert werden.

4.4.2 Collaborative Planning, Forecasting and


Replenishment
Das Konzept Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment (CPFR) stellt
eine Weiterentwicklung des ECR‐Konzepts dar und wurde von Handels‐ und Indu‐
strieunternehmen in den USA initiiert, um einen einheitlichen Standard für eine Zu‐
sammenarbeit in der Lieferkette zu entwickeln. Unter Federführung der Voluntary
Interindustry Commerce Standards Association (VICS) wurde 1998 unter Berück‐
sichtigung des Austauschs von Nachfrage‐ und Bestellprognosedaten zwischen In‐
dustrie und Handel ein Geschäftsprozessmodell erarbeitet und entsprechende Stan‐
dards definiert. In dem CPFR‐Geschäftsprozessmodell werden die im ECR‐Konzept
bisher getrennt behandelten Bereiche Planung, Prognose und Beschaffung miteinan‐
der verknüpft. Somit zielt CPFR auf die Integration der demand‐side und der supply‐
side ab, die im ECR‐Konzept meist isoliert betrachtet wurden478. Des Weiteren ist im
CPFR‐Konzept die Möglichkeit gegeben, Informationen über elektronische Marktplät‐
ze auszutauschen, sodass CPFR auch als WEB‐basierter Ansatz gesehen werden kann.
Somit stellt CPFR ein branchenübergreifendes Geschäftsmodell zur Optimierung der
kooperativen, unternehmensübergreifenden Planung, Prognose und Beschaffung
zwischen Industrie und Handel auf der Basis transparenter Informationen dar, um
eine höhere Planungssicherheit in der Lieferkette zu erreichen.

CPFR impliziert eine Kooperationsphilosophie, die von der strategischen Planung bis
zur operativen Umsetzung reicht und auf die gesamte Wertschöpfungskette ausgerich‐
tet ist. Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung von CPFR ist ein intensiver,

477 Vgl. LIETKE (2009, S. 183).


478 Vgl. HERTEL ET AL. (2005, S. 197).

306
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

zielgerichteter und vor allem transparenter Informationsaustausch, d. h. insbesondere


auch die Offenlegung sensibler Daten. Dies setzt eine Bereitschaft der Kooperations‐
partner voraus, die Planungs‐, Prognose‐ und Versorgungsprozesse gemeinsam zu
steuern, d. h. die strategischen, taktischen und operativen Teilprozesse aufeinander
abzustimmen und zu verknüpfen, um ein ganzheitliches Optimum zu erreichen. Ana‐
log zum ECR‐Konzept verfolgen sowohl Hersteller als auch Handelsunternehmen
dieselben Leistungs‐, Kosten‐ und Rentabilitätsziele, allerdings auf einem höheren
Kooperationsniveau.

4.4.2.1 Das CPFR-Geschäftsprozessmodell


Das Geschäftsprozessmodell zur Implementierung von CPFR umfasst insgesamt neun
Schritte. Dabei werden die ersten beiden Schritte der strategischen Planung, die Schrit‐
te drei bis acht der taktischen Prognose und der letzte Schritt der operativen Beschaf‐
fung zugeordnet:

Schritt 1: Entwicklung einer Rahmenvereinbarung für die Kooperation

Im ersten Schritt werden als Basis der Kooperation die Aufgaben, Regeln, Grundsätze
und Strukturen für eine Zusammenarbeit zwischen Industrie‐ und Handelsunterneh‐
men festgelegt und stellt somit eine Willenserklärung der obersten Führungsebene zur
Kooperation dar. Diese gemeinsam verfasste Rahmenvereinbarung bestimmt die Ziel‐
vorstellungen der beiden Partner, definiert die praktische Ausgestaltung der Partner‐
schaft, identifiziert die Rollen der involvierten Geschäftspartner und legt fest, wie die
Leistung der Partner gemessen werden soll479. Dieser komplexe, als Front‐End Arran‐
gement bezeichnete Prozessschritt umfasst folgende Aspekte:

 Ziele, Aufgaben, gemeinsame Metriken für die Leistungsmessung,


 Prognosemethoden für Verkaufs‐ und Bestellmengen sowie deren Ausnahme‐
regelungen bei Verletzung festgelegter Toleranzgrenzen,
 Kompetenzen und Ressourcen der funktionalen Einheiten,
 Art der auszutauschenden Informationen, Austauschfrequenz, Aktualisierungs‐
häufigkeit,
 Servicelevel, Zeitfenster für Bestell‐ und Lieferverpflichtungen,
 Maßnahmen zur Konfliktlösung und Deeskalationsmethoden.

Wichtig ist, dass dieser erste Prozessschritt gemeinsam von den Partnern entwickelt
wird, um die Basis für eine vertrauensvolle und konstruktive Kooperation zu schaffen.

479 Vgl. SEIFERT (2003, S. 45).

307
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Schritt 2: Entwicklung eines gemeinsamen Geschäftsplans

In diesem Schritt tauschen die Partner ihre individuellen Strategievorschläge aus, um


anschließend einen gemeinsamen Geschäftsplan zu entwickeln. Dabei werden die
Ziele und Taktiken der Partner anhand der Warengruppen diskutiert und anschlie‐
ßend gemeinsame Strategien für Marketingaktionen konzipiert. Ebenso werden detail‐
lierte Artikelmanagement‐Profile gebildet, in welchen u. a. Durchlaufzeiten oder Be‐
stellmindestmengen definiert werden. Der gemeinsame Geschäftsplan bildet das
Kernstück des Geschäftsprozesses, denn je transparenter und detaillierter die Maß‐
nahmen zur Geschäftsentwicklung vereinbart und anschließend umgesetzt werden,
desto besser ist die Grundlage für die nun folgenden Prognoseschritte480.

Schritt 3: Erstellung einer Verkaufsprognose

Auf der Basis des im zweiten Schritt entwickelten gemeinsamen Geschäftsplans kön‐
nen die Kooperationspartner die Qualität der Verkaufsprognose und somit die Waren‐
verfügbarkeit in den Filialen verbessern. Unter Nutzung der vergangenheitsbezo‐
genen POS‐Daten, Bestands‐ und Lieferdaten, Veränderungen im Kaufverhalten sowie
der zukunftsbezogenen Daten wie Promotionsaktivitäten wird eine Verkaufsprognose
gebildet. Die Wahrscheinlichkeit für eine exakte Verkaufsprognose ist umso höher, je
mehr vergangenheitsbezogene Daten mit zukunftsbezogenen Informationen von
Handelsunternehmen und Hersteller verknüpft werden können481.

Schritt 4: Erkennen kritischer Abweichungen in der Verkaufsprognose

Kritische Abweichungen bei den Verkaufsprognosen liegen dann vor, wenn die in den
Rahmenvereinbarungen festgelegten Toleranzgrenzen über‐ oder unterschritten wer‐
den. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Verkaufsprognose von Hersteller und
Handel oder die Verkaufprognose gegenüber dem Abverkauf zu weit abweichen. Für
das Erkennen und die Dokumentation dieser Ausnahmesituationen sollten die Partner
über geeignete Systeme verfügen.

Schritt 5: Bearbeitung kritischer Abweichungen und Aktualisierung der Verkaufs‐


prognose

Dieser Schritt konzentriert sich auf das gemeinsame Bearbeiten der kritischen Abwei‐
chungen, indem diese diskutiert und kooperativ gelöst werden. Zur Lösung der kriti‐
schen Abweichungen wird zwischen den Partnern eine Kommunikation in Echtzeit
durchgeführt, bis die Verkaufsprognose innerhalb des definierten Toleranzbereichs
liegt. Beispielsweise können Kapazitäten angepasst oder zusätzliche Werbemaßnah‐
men getroffen werden. Jede Änderung fließt dabei sofort in die Verkaufsprognose
(Schritt 3) ein, welche entsprechend anzupassen ist. In diesem Schritt zeigt sich insbe‐
sondere die lernende Komponente des CPFR‐Konzepts. Die nun erfolgte Aktualisie‐

480 IRELAND/CRUM (2005, S. 55).


481 IRELAND/CRUM (2005, S. 56).

308
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

rung der Verkaufsprognose erhöht die Zuverlässigkeit der im nächsten Schritt folgen‐
den Bestellprognose.

Schritt 6: Erstellung einer Bestellprognose

Die in diesem Schritt zu generierende Bestellprognose stellt gegenüber der Verkaufs‐


prognose einen höheren Detaillierungsgrad dar. Auf der Basis der Verkaufsprognose,
die mit den POS‐Daten, saisonalen Abhängigkeiten, offenen Aufträgen, Transitware
und den individuellen Bestandsmanagementstrategien der Partner verknüpft wird,
erfolgt eine Bestellprognose. Die generierten Bestellvolumina basieren auf den in
Schritt 2 festgelegten Bestandszielen pro Produkt und deren Bestimmungsort. Die
Bestellprognose erfolgt rollierend, sodass zeitnahe Prognosewerte zur Bestellauslö‐
sung und zur Kapazitätsplanung genutzt werden können.

Schritt 7: Erkennen kritischer Abweichungen in der Bestellprognose

Analog zu Schritt 4 erfolgt nun die Identifikation derjenigen Produkte, deren Bestell‐
prognose außerhalb der in den Rahmenvereinbarungen festgelegten Toleranzgrenzen
liegt. Diese Produkte werden in einer Liste zusammengestellt.

Schritt 8: Bearbeitung kritischer Abweichungen und Aktualisierung der Bestell‐


prognose

Vergleichbar mit Schritt 5 werden die kritischen Abweichungen für die im Schritt 7 in
einer Liste zusammengestellten Produkte zwischen den Partnern in Echtzeit disku‐
tiert. Dabei werden zusätzliche Informationen für eine Neubewertung der Bestell‐
prognose genutzt und die aktualisierten Prognosedaten fließen in die Verkaufsprog‐
nose ein. Somit wird gewährleistet, dass ein kontinuierlicher Abgleich mit dem tat‐
sächlichen Kundenbedarf erfolgt. Das Ergebnis ist eine zwischen den Partnern abge‐
stimmte und transparente Bestellprognose.

Schritt 9: Generierung der Bestellung

Der das Prozessmodell abschließende Schritt entspricht der operativen Beschaffung


und transformiert die Bestellprognose in eine verbindliche Bestellung. Die Bestellgene‐
rierung erfolgt entweder immer vom Hersteller oder immer vom Handel, wobei eine
Entscheidung darüber in Abhängigkeit der jeweiligen Kompetenzen, Ressourcenver‐
fügbarkeit und technischen Möglichkeiten erfolgen soll.
Die kooperative Verkaufs‐ und Bestellprognose gilt als Hauptmerkmal des CPFR‐
Konzepts. Grundlage für exakte Verkaufs‐ und Bestellprognosen ist der wirksame
Einsatz aller intern und extern vorhandenen Informationen zur Leistungsverbesserung
der Lieferkette. Bei der Mengenplanung werden Prognosen für das Basisgeschäft und
für das Aktionsgeschäft unterschieden. Prognosen für das Basisgeschäft sind genauer
und einfacher durchzuführen, da vorwiegend auf historische Abverkaufsdaten zuge‐
griffen und somit die zukünftigen Verkäufe gut determiniert werden können. Progno‐

309
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
sen für das Aktionsgeschäft können hingegen wenig vergleichbare historische Daten
nutzen und unterliegen zudem dem schlecht bestimmbaren Kundenverhalten, dem
Erfolg der Werbemaßnahmen sowie den Reaktionen der Wettbewerber.

Beispiel 4.4.2:

In einem Pilotprojekt von dm‐Drogeriemarkt und Procter & Gamble im Jahr 2002, das
nach einer gründlichen Vorbereitung mit einer Laufzeit von sechs Monaten durchge‐
führt wurde, konnte die Prognosegenauigkeit sowohl im Basisgeschäft als auch im
Aktionsgeschäft fast verdoppelt werden. Gleichzeitig stieg die Regalverfügbarkeit der
Produkte von Procter & Gamble in den getesteten dm‐Filialen im Bereich des Aktions‐
geschäfts durch CPFR von 92% auf 98%. Selbst im Basisgeschäft konnte eine Erhöhung
der Regalverfügbarkeit von 97% auf 98% und eine Erhöhung des Lieferservicegrads
von 97% auf 99% festgestellt werden. Diese Erfolge der Prozessoptimierung veranlass‐
ten beide Geschäftspartner das CPFR‐Konzept dauerhaft einzusetzen und weitere
Partner einzubeziehen482.

Das CPFR‐Prozessmodell wurde 2004 von VICS überarbeitet und in vier Phasen einge‐
teilt, wobei die nun noch acht verbleibenden Prozessschritte genauer bzgl. Hersteller
und Händler definiert wurden (vgl. Abbildung 4‐18). Für eine Implementierung von
CPFR kann dennoch auf die oben beschriebenen neun Prozessschritte zurückgegriffen
werden.

Abbildung 4‐18 Überarbeitetes CPFR-Prozessmodell

Strategie& Planung Nachfrage‐ & Durchführung Analyse


Angebotsplanung

Kunden‐ Markt‐ Marktdaten‐ Nachfrage‐ Hersteller Produktions‐ Logistik/ Ablauf‐ Customer


planung planung analyse prognose planung Distribution kontrolle Scorecard

Rahmenver‐ Geschäfts‐ Nachfrage‐ Bestell‐ Prozess‐ Bestell‐ Bestell‐ Abweich‐ Leistungs‐


einbarung plan prognose prognose schritte generierung ausführung ungen messung

Zulieferer‐ Category POS Warennach‐ Handel Bestellung/ Logistik/ Warenbe‐ Supplier


management Management Prognose schub‐ Kauf Distribution reitstellung Scorecard
planung

Kunde

Die Phase Strategie & Planung befasst sich mit der Aufstellung der Grundregeln für
die kollaborative Beziehung, die Ermittlung des Produktmix und dessen Platzierung
sowie die Entwicklung von Ablaufplänen. Die zugehörigen Aufgaben umfassen die
Festlegung der Zusammenarbeit bezüglich Ziele, Umfang, Rollenverteilung usw. so‐
wie die Entwicklung eines gemeinsamen Businessplans. Zur folgenden Phase der
Nachfrage‐ und Angebotsplanung gehören die Prognosen bezüglich der Nachfrage in
den Verkaufsstellen sowie die Bestellplanung und Bestellprognose für die zukünftigen
Produktbestellungen und Lieferanforderungen über den gesamten Planungshorizont.
Die Phase der Durchführung umfasst die Bestellauslösung sowie die Auftragserfül‐

482 Vgl. RODE (2003, S. 28).

310
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen

lung. Darin sind alle Vorgänge enthalten, die zum Erwerb des Produkts führen, wie z.
B. die Vorbereitung und die Zustellung von Warenlieferungen, die Annahme und die
Lagerung der Produkte in Handelsregalen, die Erfassung der Absatzbewegungen und
des Zahlungsverkehrs. Die Analysephase überwacht die Planungs‐ und Ausführungs‐
vorgänge bezüglich der Ausnahmekriterien, aggregiert die Ergebnisse, berechnet die
relevanten Erfolgskennzahlen, leitet die Erkenntnisse an die Beteiligten weiter und
passt die Pläne an die kontinuierlich aktualisierten Ergebnisse an.

4.4.2.2 Umsetzung und Nutzen des CPFR-Konzepts


Unternehmen sollten das CPFR‐Konzept stets mit einer strategischen Intention umset‐
zen. Der langfristige Implementierungsplan sollte die eigenen Ziele sowie die Ziele
der Kooperationspartner und die Marktsituation der gemeinsam betrachteten Artikel
beinhalten. Für die praktische Umsetzung des CPFR‐Konzepts muss vom Manage‐
ment zunächst geprüft werden, welche Verbesserungen auf der demand‐ und supply
side erzielt werden können, um somit eine CPFR‐Strategie zu konzipieren und einen
geeigneten Kooperationspartner auszuwählen. Anschließend werden in Anlehnung an
die Rahmenvereinbarung des CPFR‐Geschäftsprozessmodells Ziele gewählt, ein ge‐
meinsamer Geschäftsplan entwickelt und entsprechende, auf Vertrauen basierende
Projektteams gegründet. In einer Pilotphase wird eine begrenzte Anzahl von Artikeln
einbezogen, sodass der Datentransfer nicht zu komplex wird. Ferner wird die Nut‐
zung von interorganisatorischen Metriken empfohlen, welche auch die strategische
Angleichung unterstützen. Somit können die individuellen Kennzahlen der Koopera‐
tionspartner in Standardmetriken transferiert werden, die für jeden Kooperations‐
partner transparent sind. Beide Partner stimmen sich über das zu verwendende IT‐
System ab. Die Leistung wird im permanenten Austausch mit dem Kooperations‐
partner bewertet und die Anzahl der einbezogenen Artikel kann schrittweise erhöht
werden. Als notwendig wird eine Auditierung der Prognoseprozesse, ein Training der
fachübergreifenden Projektteams in Prognosetechniken und die Etablierung kontinu‐
ierlich stattfindender Meetings für die Erstellung einer gemeinsamen Verkaufs‐ und
Bestellprognose erachtet. Abschließend wird CPFR auf den vollen, vorher definierten
Umfang erweitert483.

Neben der partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf starker Vertrauensbasis stellt die


Informationstechnologie einen weiteren Erfolgsfaktor zur erfolgreichen Umsetzung
des CPFR‐Konzepts dar. Die im Rahmen von CPFR eingesetzten Technologien und
Applikationen müssen einen unternehmensübergreifenden Datentransfer und eine
durchgängige Planung über alle Fertigungsstufen gewährleisten. Elektronische
Marktplätze, welche die globale Anwendung von CPFR maßgeblich begleiten und
unterstützen, fungieren heute als „Middleware“ zwischen den Kooperationspartnern,
Die Kooperationspartner nutzen die auf den elektronischen Marktplätzen bereitge‐
stellte Software und können sich damit auf das eigentliche Ziel von CPFR konzentrie‐

483 Vgl. FINLEY/SRIKANTH (2005, S. 31ff); BARRAT/OLIVEIRA (2001 S. 284); MCCARTHY/GOLICIC


(2002, S. 449f).

311
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
ren. Elektronische Marktplätze ermöglichen den permanenten Datenaustausch der
Wertschöpfungspartner unter Einbezug der Bestellgenerierung und ‐abwicklung.
Insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen bieten elektronische
Marktplätze den Vorteil, dass sie die notwendige Technologie im Planungs‐ und Be‐
schaffungsmanagement ohne hohe Investitionen kostengünstig nutzen können.

Beispiel 4.4.3:
Für die Umsetzung des CPFR‐Konzepts entlang der Lieferkette hat Procter & Gamble
verschiedene Handelspartner und Zulieferer einbezogen. Es wurde eine kooperative
Beziehung zwischen den Kundenteams von Procter & Gamble und den Handels‐
unternehmen aufgebaut („Customer CPFR“). Der Schwerpunkt wird hierbei auf die
mit den Werbemaßnahmen verbundenen Geschäftsprozesse gelegt, d. h. es werden
Produkte, Zeitpunkt und Zeitraum sowie Werbeunterstützungen für das Aktions‐
geschäft abgesprochen. Des Weiteren besteht eine kooperative Beziehung zwischen
den Procter & Gamble Kundenteams und dem Demand Planning der Produktionspla‐
nung in den Werken von Procter & Gamble („Internal CPFR“). Die Kundenteams
leiten die gemeinsam mit den Handelsunternehmen erarbeiteten Verkaufsprognosen
an das Demand‐Planning weiter, die anschließend zu einer Gesamtprognose unter
Einbezug von POS‐Daten der Kunden, Lagerbewegungs‐ und Lieferdaten weiterver‐
arbeitet werden. Somit können ca. 80% der Liefermengen sechs Wochen vor der Liefe‐
rung mit einer Prognosegenauigkeit in einer Bandbreite von plus/minus 25% prognos‐
tiziert werden. Die kooperative Beziehung zwischen den Werken von Procter &
Gamble und den Zulieferern („Supplier CPFR“) bezieht sich auf Roh‐ und Verpa‐
ckungsmaterialien. Gemeinsam mit den Zulieferern wird anhand der Abverkaufs‐
prognosen deren Produktion, Lagerhaltung und die Belieferung der Werke gesteuert.
Mit einem Teil der Lieferanten wird Vendor Managed Inventory vereinbart. Die Um‐
setzung des CPFR‐Konzepts erfolgt bei Procter & Gamble in Deutschland mit Hilfe
der elektronischen Marktplätze Global Net Exchange (GNX) und World Wide Retail
Exchange (WWRE)484.

Die sich durch die Umsetzung des CPFR‐Konzepts ergebenden Vorteile lassen sich in
quantitative und qualitative Nutzenpotenziale unterscheiden. Die Tabelle 4‐4 fasst
beide Nutzenpotenziale sowohl für Handels‐ als auch für Herstellerunternehmen
zusammen.

484 Vgl. HAMBUCH (2002).

312
4.5
Literaturhinweise

Tabelle 4‐4 CPFR-Nutzenpotenziale485

Hersteller Händler
 Umsatzsteigerung
 Bestandsoptimierung durch bessere Absatzplanung
 Verbesserung der Liefertreue
 Reduzierung von Eilaufträgen
 Reduzierung der Kapitalbindungskosten durch verbesserte Lagerhaltung
Quantitativ

 Präzisierung der Bestellprognosen


 Senkung der Logistikkosten durch höhere Auslastung der Transportfahrzeuge
 Beschleunigung des Warennachschubs
 Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit auf das Nachfrageverhalten der Kunden
 Verbesserung der Wettbewerbssituation
 Optimierung der Produktion durch Angleichung  Verbesserung der Waren‐
an Händler‐ und Kundenbedarf verfügbarkeit im Regal
 Reduzierung des Rüstaufwands
 Verbesserung der interorganisatorischen Geschäftsbeziehungen

Qualitativ

Verbesserung der internen Prozesssteuerung und Kommunikation


 Erhöhung der Problemsensibilisierung und des Problembewusstseins der Mitarbei‐
ter
 Erhöhung der Kundenzufriedenheit  Erhöhung der Konsumen‐
tenzufriedenheit

Probleme bei der Umsetzung des CPFR‐Konzepts werden ähnlich zum ECR‐Konzept
in der Überwindung unternehmensinterner Barrieren, den hohen Investitionskosten in
Informations‐ und Kommunikationstechnologien und in dem mangelnden Vertrauen
der Partner gesehen486. Weiterhin wird CPFR als zu anspruchsvoll erachtet, da die
individuelle Prognosegenerierung auf Händler‐ und auf Herstellerseite viele Ressour‐
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485 Vgl. SHEFFI (2002, S. 8); ENGLER (2003, S. 214f); SEIFERT (2003, S. 272f); CHUNG/LEUNG (2005, S.
571f).
486 Vgl. ZENTES (2004, S. 267).

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319
5 Risikomanagement in der Supply
Chain

Individuelle Kundenanforderungen hinsichtlich Qualität, Preis, Flexibilität und Ver‐


fügbarkeit, die zunehmende Konzentration auf die eigenen Kernkompetenzen sowie
der zunehmende globale Wettbewerb veranlassen viele Unternehmen zu einer engeren
Zusammenarbeit innerhalb ihrer Wertschöpfungsketten. Die daraus resultierenden
schlanken Netzwerke sind durch niedrige Bestände, optimierte Durchlaufzeiten, gut
ausgelastete Kapazitäten und die sich daraus ergebenden hohen Abhängigkeiten ge‐
kennzeichnet. Aus diesen Abhängigkeiten, aber auch aus dem Marktumfeld, politi‐
schen Unruhen sowie Naturkatastrophen entstehen Risiken, deren Beherrschung für
den Erfolg des beschaffenden Unternehmens und des gesamten Wertschöpfungsnetz‐
werks unerlässlich ist. Somit wird ein proaktives und professionelles Supply‐Chain‐
Risikomanagement zur Reduzierung der Verwundbarkeit gegenüber potenziellen
Risiken immer wichtiger.

Lernziele:

 Definition und Klassifikation von Risiken


 Phasen des unternehmensübergreifenden Risikomanagementprozesses
 Methoden zur Identifikation, Bewertung, Steuerung und Kommunikation von
Risiken

 Maßnahmen zur Stärkung der Angriffssicherheit

5.1 Risiko und Risikomanagement


Etymologisch geht der Begriff Risiko auf das italienische Wort risicare zurück und
bedeutet Gefahr laufen bzw. wagen. Inhaltlich wurde der Begriff im 14. Jahrhundert
zunächst der Seefahrt zugeordnet und erst im Mittelalter erfolgte die Verallge‐
meinerung auch auf andere Handelsgeschäfte. Im deutschen Sprachgebrauch wurde
Risiko bis in das 19. Jahrhundert nur im ökonomischen Bezug verwendet und erst
anschließend auch in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen487.

487 Vgl. MEYER (2008, S. 24).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 321
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_5
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Voraussetzung für ein umfassendes Risikomanagement ist die Kenntnis der Risiken,
denen ein Unternehmen bzw. ein Wertschöpfungsnetzwerk ausgesetzt ist. Dazu er‐
folgt zunächst eine Präzisierung des Risikobegriffs. In der Literatur gibt es verschiede‐
ne Definitionen von Risiko, was vor allem mit dessen Behandlung in verschiedenen
akademischen Zusammenhängen begründet werden kann488. Die verschiedenen Be‐
griffserklärungen für Risiko lassen sich jedoch in zwei Gruppen unterscheiden489.
Unter Risiko im Sinne eines kausalen Risikobegriffs wird das Auftreten von Fehlern in
der Informationsstruktur verstanden, z. B. die bewusste Informationsverweigerung
gegenüber Partnern im Wertschöpfungsnetzwerk. Diese ursachenbezogene Risikode‐
finition resultiert aus einem unvollständigen Informationsstand des Entscheidungs‐
trägers über zukünftige Entwicklungen und Ereignisse. Es können dabei Entscheidun‐
gen unter Sicherheit, unter Risiko und unter Unsicherheit unterschieden werden. Für
eine Entscheidung unter Sicherheit benötigt der Entscheidungsträger eine vollkom‐
mene Informationslage. Eine Entscheidung unter Risiko liegt dann vor, wenn den
einzelnen möglichen Zukunftssituationen subjektive oder objektive Wahrscheinlich‐
keiten zugeordnet werden können. Liegen hingegen keine Eintrittswahrscheinlichkei‐
ten für zukünftige Umweltzustände vor, dann spricht man von einer Entscheidung
unter Unsicherheit. Im Sinne der wirkungsbezogenen Definition umfasst Risiko die
Gefahr eines unerwünschten Ereignisses, d. h. im Fokus dieser Sichtweise stehen die
Konsequenzen, die sich durch ein wirksam gewordenes Risiko ergeben können. Ab‐
weichungen von gesetzten Zielen können grundsätzlich sowohl im positiven als auch
im negativen Sinne erfolgen, wodurch Risiko nicht nur als Verlustgefahr, sondern auch
als Chance zum Übertreffen der angestrebten Unternehmensziele interpretiert werden
kann. In diesem Zusammenhang wird zwischen spekulativen und reinen Risiken
unterschieden. Während reine Risiken lediglich die negativen Auswirkungen einer
Entscheidung berücksichtigen (Risiken als Verlustgefahr), bieten spekulative Risiken
auch die Möglichkeit einer positiven Auswirkung490.

Um eine geeignete Risikodefinition für das Risikomanagement aufzustellen, empfiehlt


es sich, sowohl die kausale als auch die wirkungsbezogene Sichtweise miteinander zu
verknüpfen. Demnach wird Risiko im Folgenden als die Gefahr einer Fehlentschei‐
dung definiert, die zur Verfehlung der gesetzten Ziele führt491. Basierend auf der vor‐
genommenen Verknüpfung von wirkungs‐ und ursachenbezogener Perspektive lässt
sich Risiko quantitativ durch den Erwartungswert, d. h. als das Produkt aus der Höhe
des möglichen Verlustes oder Schadens und der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens
beschreiben:

Erwartungswert = Eintrittswahrscheinlichkeit · Schadensausmaß

488 Vgl. MEIERBECK (2010, S. 14).


489 Vgl. PFOHL ET AL. (2010, S. 34); KAJÜTER (2015, S. 14).
490 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 9).
491 Vgl. MIKUS (2001, S. 5); ZSIDISIN (2001, S. 2).

322
5.1
Risiko und Risikomanagement

Tabelle 5‐1 Klassifikation von Risiken

Kriterium Risikoklasse Erklärung


Reine Risiken Zielabweichungen nur in eine Richtung
Ergebnisab‐ (asymmetrisch) möglich
weichung Spekulative Risiken
Positive als auch negative Zielabweichungen
(symmetrisch)
Bergen eine Gefahr für das Unternehmen als
Strategische Risiken Ganzes und hindern die Realisierung lang‐
Entscheidungs‐
fristiger, globaler Ziele
ebenen
Taktische und Beziehen sich auf mittel‐ bis kurzfristige
operative Risiken Entscheidungen
Permanente vs. Risiken stehen in einem engen Zusammen‐
Zeitlicher
zeitlich begrenzte hang zu den gesetzten Zielen, bezogen auf
Kontext
Risiken einen bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum
Drückt das aufgrund einer Entscheidung be‐
Einzelrisiken
Umfang der wirkte Risiko aus
Entscheidung Umfasst das aus der Gesamtheit aller Ent‐
Gesamtrisiken
scheidungen bestehende Risiko
Güterwirtschaftli‐
Flussobjekte,
che, finanzielle, Zielabweichungen können im Zusammen‐
auf die sich die
informatorische hang mit betrieblichen Güter‐, Geld‐,
Risiken bezie‐
und rechtliche Informations‐ und Rechtsflüssen entstehen
hen
Risiken
Unabhängige Bei Unabhängigkeit beeinflussen sich die
Beziehung Risiken Einzelrisiken gegenseitig nicht
zwischen den Besteht Abhängigkeit zwischen den Risiken,
einzelnen Risi‐ so ist zwischen einer verstärkenden Wirkung
Abhängige Risiken
ken der Einzelrisiken und einer kompensierenden
Wirkung zu unterscheiden
Ursachen der Risiken überwiegend im Unter‐
Endogene Risiken
Herkunft der nehmen bzw. der Supply Chain selbst
Risiken Ursachen der Risiken überwiegend in der
Exogene Risiken
Unternehmens‐ bzw. Supply‐Chain‐Umwelt
Risiken, die mit dem Leistungsprozess eines
Leistungswirt‐ Unternehmens, der Beschaffung der
Unternehmens‐
schaftliche Risiken Produktionsfaktoren und/oder dem Absatz
sphäre, in der
der Produkte verbunden sind
die Risiken
Resultieren aus der Finanzsphäre eines
bestehen Finanzwirtschaft‐
Unternehmens, die der Unterstützung der
liche Risiken
eigentlichen Leistungsprozesse dient

Für eine zielgerichtete Einordnung, Bewertung und Priorisierung identifizierter Risi‐


ken ist eine Klassifikation der Risiken hilfreich. In der Literatur existieren verschiedene

323
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Ansätze zur Klassifikation, diese sind aber nicht immer eindeutig gegeneinander ab‐
grenzbar und überschneiden sich teilweise. In der Tabelle 5‐1 erfolgt eine umfangrei‐
che Klassifikation der Unternehmensrisiken492.

Aufgrund potenziell negativer Auswirkungen von Risiken bedarf es eines effizienten


und effektiven Risikomanagements im Unternehmen bzw. im Wertschöpfungsnetz‐
werk. Unter Risikomanagement wird aufbauend auf einer Risikostrategie die Identifi‐
kation, und Bewertung von Risiken sowie ihre Steuerung, Kontrolle und Berichterstat‐
tung verstanden, die integraler und kontinuierlicher Bestandteil der Planungs‐ und
Kontrollprozesse sind493. Eine übergeordnete Aufgabe des Risikomanagements be‐
steht darin, ein gewisses Risikobewusstsein im Unternehmen bzw. im Wertschöp‐
fungsnetzwerk zu etablieren und entsprechende Risikoaspekte in die verschiedenen
Handlungs‐ und Aufgabenbereiche zu integrieren. Die folgenden gesetzlichen Grund‐
lagen und Normen dienen als Gestaltungshilfsmittel für ein standardisiertes Risiko‐
management494:

 Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG): Mit


diesem Gesetz wurden am 1. Mai 1998 gesetzliche Anforderungen an die Vorstän‐
de von Aktiengesellschaften in Bezug auf die Identifikation, Kommunikation und
Überwachung von Risiken gestellt. Demnach hat die Geschäftsleitung von Aktien‐
und Kommanditgesellschaften die Pflicht, ein internes Überwachungs‐ und Früh‐
erkennungssystem, ein Risikomanagement sowie ein Controlling für Risiken ein‐
zurichten, um nicht in eine Krisensituation zu geraten. Allerdings erfolgen keine
Aussagen über eine eindeutige Ausgestaltung des geforderten Risikomanage‐
ments. Diese Bestimmungen, die auch auf Firmen anderer Rechtsformen ausstrah‐
len, beziehen sich nur auf einzelne Unternehmen und berücksichtigen die Aspekte
eines unternehmensübergreifenden Risikomanagements nicht. Das gilt ebenso für
die gesetzlichen Anforderungen in anderen Ländern, wie bspw. den COSO Report
in den USA oder den Turnbull Report in Großbritannien.
 Internationale Organisation für Normung (ISO) 31000: Diese Norm enthält einen
Leitfaden für ein international anerkanntes Risikomanagementsystem, mit dem
Unternehmen eine Integration des Risikomanagements in bestehende Unterneh‐
mensprozesse ermöglicht wird.

Ein an den gesetzlichen Anforderungen orientiertes Risikomanagement ist jedoch zu


stark an eher formalen, quantitativen und vergangenheitsorientierten Aspekten ausge‐
richtet und greift damit zu kurz. Gefordert wird vielmehr ein proaktives und antizi‐
pierendes Risikomanagement für die Wertschöpfungskette, da durch ein bewusstes
Ausweichen vor Risiken auch regelmäßig mögliche Chancen außer Acht gelassen
werden. Das Supply‐Chain‐Risikomanagement ist eine Kombination von Risikoma‐
nagement und SCM, welche die Identifikation von Schwachstellen des Wertschöp‐

492 Vgl. LASCH ET AL. (2015, S. 80).


493 Vgl. KAJÜTER (2015, S. 15).
494 Vgl. SIEBRANDT (2010, S. 33f); KAJÜTER (2003, S. 323).

324
5.1
Risiko und Risikomanagement

fungsnetzwerkes, die Analyse der Risikotreiber und die Festlegung geeigneter Steue‐
rungsmaßnahmen anstrebt. Für das Supply‐Chain‐Risikomanagement ergeben sich
aufgrund der unternehmensübergreifenden Ausrichtung im Vergleich zum klassi‐
schen Risikomanagement folgende Besonderheiten495:

 Durch die unternehmensübergreifende Perspektive von Supply Chains wird der


Handlungsrahmen des Risikomanagements ausgedehnt.

 Die Risiken in einer Wertschöpfungskette weichen in der Regel von der Summe
der Risiken der an ihr beteiligten Partner ab.

 Bedingt durch das globale Umfeld der Wertschöpfungskette ist das Risikoma‐
nagement der Unternehmen unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen ausge‐
setzt.

 Die einzelnen Unternehmen entlang der Supply Chain unterscheiden sich im Grad
ihrer Risikobereitschaft und ‐tragfähigkeit.

 Die Mitwirkung an vielen Wertschöpfungsketten wirkt sich oftmals negativ auf die
Bereitschaft der Unternehmen zur Adaption an spezielle Richtlinien einer einzel‐
nen Wertschöpfungskette aus.

 Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Unternehmen wird durch Informati‐


onsasymmetrien bezüglich der Supply‐Chain‐Risiken erschwert.

Aufgrund dieser Besonderheiten zeigt sich, dass ein Supply‐Chain‐Risikomanagement


umso komplexer wird, je unterschiedlicher die Risikoeinstellung, Risikotragfähigkeit
und Risikomanagementsysteme der beteiligten Unternehmen sind. Die im Rahmen
eines ganzheitlichen Risikomanagements auszuführenden Maßnahmen müssen auf
die spezifischen, für die Wertschöpfungskette relevanten Risiken abgestimmt werden.
Eine klare Abgrenzung der relevanten Risiken ist jedoch aufgrund bestehender wech‐
selseitiger Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Risiken kaum möglich. Entspre‐
chend beschränken sich die ausgewählten Strategien und Instrumente des Risikoma‐
nagements meist auf eine Betrachtung von Risiken im Supply‐Chain‐Kontext.

Um den starken Abhängigkeiten gerecht zu werden, sollten zwischen den Partnern ein
hohes Vertrauen und vor allem eine ständige Abstimmung vorausgesetzt werden, da
selbst kleine Änderungen und Risikomaßnahmen dynamische Auswirkungen auf
andere Supply‐Chain‐Akteure haben können. Opportunismus und Machtmissbrauch
stellen vor allem bei einem netzwerkweiten Risikomanagement ein gewisses Risiko
dar. Die Leistung der Supply Chain kann sich jedoch durch ein effizientes Supply‐
Chain‐Risikomanagement maßgeblich verbessern. Insbesondere können durch ein
einheitliches Informationssystem Risiken bereits in frühen Stadien erkannt und kom‐
muniziert werden. Eine durchgängige Transparenz entlang der Supply Chain führt zu
einem gesteigerten Vertrauen der Partner und zu sinkenden Kosten. Durch eine stabil

495 Vgl. KAJÜTER (2015, S. 16).

325
Risikomanagement in der Supply Chain
5
wirkende Supply Chain können auch Wettbewerbsvorteile realisiert werden, da die
Attraktivität gegenüber potenziellen Partnern und Kunden steigt.

Supply‐Chain‐Risiken lassen sich in Versorgungsrisiken, Prozess‐ und Steuerungs‐


risiken, Nachfragerisiken, Logistikrisiken durch Logistikdienstleister sowie Umfeld‐
risiken einteilen496. Bei Versorgungsrisiken kann es sich um Engpässe durch Produk‐
tionsverzögerungen und ‐ausfälle bei Lieferanten, Kapazitätsschwankungen auf dem
Beschaffungsmarkt sowie Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten durch den Ein‐
satz von Single‐Sourcing‐Strategien handeln. Prozess‐ und Steuerungsrisiken umfas‐
sen Risiken, die eine reibungslose Leistungserstellung verhindern. Während sich Pro‐
zessrisiken auf Störungen im Produktionsprozess zurückführen lassen, sind Steue‐
rungsrisiken das Resultat von Störungen im Managementprozess. Nachfragerisiken
beschreiben insbesondere Verkaufsrisiken, die bei fehlenden Abnehmern für bereits
produzierte Produkte durch Verkaufsausfälle entstehen sowie bei zeitlichen, qualitati‐
ven, quantitativen und preislichen Abweichungen in Bezug auf den geplanten Absatz
in Form von Verkaufsmängeln. Die fehlende Verfügbarkeit von Transport‐ und Lager‐
raum, unzureichende Lieferqualität sowie Transportschäden gehören zur Kategorie
der Logistikrisiken. Umfeldrisiken umfassen neben Naturkatastrophen auch Terroran‐
schläge sowie Zoll‐ und Grenzformalitäten.

Ausgangspunkt für das Management von Supply‐Chain‐Risiken ist eine Erweiterung


des allgemeinen Risikomanagements um eine kooperative Risikohandhabung zwi‐
schen den einzelnen Partnern. Je nach Grad der Zusammenarbeit können dabei fol‐
gende drei Ansätze zum Management von Supply‐Chain‐Risiken unterschieden wer‐
den497:

 Ein Risikomanagement mit Supply‐Chain‐Orientierung ist lediglich Bestandteil


des klassischen unternehmensbezogenen Risikomanagements und konzentriert
sich mehr auf die Erreichung der Ziele im Bereich der Beschaffung. Trotz einer Be‐
achtung der Supply‐Chain‐Risiken existiert keine Form einer Kooperation mit an‐
deren Unternehmen.

 Im Rahmen einer gemeinsamen Risikoanalyse in der Supply Chain findet zwar ein
kooperatives Risikomanagement zwischen einzelnen vor‐ und nachgelagerten Un‐
ternehmen statt, der Fokus des Risikomanagements liegt jedoch hauptsächlich auf
den Auswirkungen auf das eigene Unternehmen. Der Austausch von Risikoinfor‐
mationen erfolgt nur unregelmäßig und informell. In Bezug auf die Phase der
Netzwerkbildung findet eine Intensivierung der partnerschaftlichen Beziehung
zwischen einzelnen Unternehmen statt.

 Das Konzept des ganzheitlichen Supply‐Chain‐Risikomanagements stellt einen


unternehmensübergreifenden Ansatz zwischen allen Unternehmen einer Wert‐
schöpfungskette dar. Durch einen regelmäßigen Austausch von Risikoinforma‐

496 Vgl. PFOHL ET AL. (2008b, S. 99ff).


497 Vgl. KAJÜTER (2003, S. 115f).

326
5.2
Supply-Chain-Disruption-Risiken

tionen können Informationsasymmetrien in Bezug auf die Supply‐Chain‐Risiken


reduziert und das für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit notwendige Ver‐
trauen intensiviert werden.

Die folgende Tabelle 5‐2 enthält einen Überblick über die verschiedenen Ansätze zum
Management von Supply‐Chain‐Risiken, die in Abhängigkeit von der Phase der
Netzwerkbildung und Art der Beziehung zwischen den Unternehmen auch gleichzei‐
tig verfolgt werden können498.

Tabelle 5‐2 Ansätze zum Management von Supply-Chain-Risiken

Ansatz Risikomanagement Gemeinsame Risi‐ Ganzheitliches


mit Supply‐Chain‐ koanalyse in der Supply‐Chain‐
Merkmal Orientierung Supply Chain Risikomanagement
Fokus des Eigenes Unterneh‐ Eigenes Unterneh‐
Supply Chain
Risikomanagements men men
Kooperationen im Mit einzelnen Mit allen

Risikomanagement Partnerunternehmen Partnerunternehmen
Austausch von Risiko‐ Unregelmäßig,
‐ Regelmäßig, formell
informationen informell
Informationsasymme‐
trien in Bezug auf Hoch Mittel Gering
Supply‐Chain‐Risiken
Art der Beziehung Transaktionsorien‐
Partnerschaftlich Partnerschaftlich
zwischen Unternehmen tiert
Phase der Aufbau von Intensivierung von Etablierte
Netzwerkbildung Beziehungen Beziehungen Beziehungen
Gemeinsame Ziele Mit einzelnen Mit vielen

und Planungsprozesse Partnerunternehmen Partnerunternehmen
Intensität des
Vertrauens zwischen Gering Mittel Hoch
den Unternehmen

5.2 Supply-Chain-Disruption-Risiken
Im Rahmen des Supply‐Chain‐Risikomanagements kommt den Supply‐Chain‐Disrup‐
tion‐Risiken eine besondere Rolle zu. Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken lassen sich
durch folgende Merkmale charakterisieren und von anderen Risiken abgrenzen499:

498 Vgl. KAJÜTER (2015, S. 23).


499 Vgl. ZEGORDI/DAVARZANI (2012, S. 2103).

327
Risikomanagement in der Supply Chain
5
 Niedrige Eintrittswahrscheinlichkeiten treffen auf hohe Schadenspotenziale.

 Existenzbedrohende Beeinträchtigung der Funktions‐ und Leistungsfähigkeit der


Supply Chain.

 Klassische Methoden des Risikomanagements zur Risikoidentifikation und ‐bewer‐


tung sind aufgrund mangelnder historischer Ereignisse nicht ausreichend.

Für die Anfälligkeit bezüglich Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken können verschiedene


begünstigende Faktoren identifiziert werden. So werden insbesondere die Globalisie‐
rung der Supply‐Chain‐Operationen, der hohe Spezialisierungsgrad von Produktions‐
stätten, die zentralisierte Distribution, eine verstärkte Auslagerung der Wertschöp‐
fung, die Reduktion der Lieferantenbasis, die steigende Volatilität der Nachfrage,
technologische Innovationen und Lean‐Management‐Konzepte als wesentliche Ursa‐
chen identifiziert500.

Die Gefahr von Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken erhöht sich mit zunehmendem Ver‐


knüpfungsgrad der Prozesse und sinkt mit zunehmender Anzahl der an der gemein‐
samen Risikohandhabung beteiligten Unternehmen. Es bedarf also der Konzeption
und Ausgestaltung eines ganzheitlichen Supply‐Chain‐Risikomanagements, um un‐
vorhergesehenen Situationen besser begegnen zu können. Supply‐Chain‐Disruption‐
Risiken lassen sich in vom Menschen verursachte Katastrophen (unnatürliche Risiken)
und Naturkatastrophen (natürliche Risiken) unterteilen501.

Bei den von Menschen verursachten Katastrophen wird zwischen bewussten Hand‐
lungen und Unfällen unterschieden. Zu nicht‐terroristischen bewussten Handlungen
zählen z. B. Streiks, Veränderungen der Staatsausgaben, wirtschaftliche Rezessionen,
feindliche Gesellschaftsübernahmen, Veränderungen der Produkttechnologie, die
Änderungen des Lebensstils und Probleme im Management, die zu schwerwiegenden
wirtschaftlichen Problemen führen können. Vor allem ein Streik kann die Versorgung
vieler abhängiger Supply‐Chain‐Partner langfristig unterbrechen und massiv schädi‐
gen. Beispielsweise kam es im Jahr 2002 während einer zehntägigen Blockade von 29
Häfen an der Westküste der USA aufgrund ausgebliebener Lieferungen zur Einstel‐
lung des Betriebes des Toyota Werkes in Fremont. Die nachträgliche Verteilung der
liegengebliebenen Fracht wurde von der Pacific Maritim Association auf acht bis zehn
Wochen geschätzt502. Bei bewussten terroristischen Handlungen liegt das Ziel in der
Zerstörung und es müssen aus ökonomischer Sicht die Auswirkungen des Terrors
insbesondere auf den Welthandel und den Tourismus betrachtet werden. Nach den
Anschlägen auf das World Trade Center im Jahr 2001 waren ca. 14.500 New Yorker
Unternehmen stark beeinträchtigt und es konnten unmittelbare wirtschaftliche Aus‐
wirkungen in Höhe von 83 Milliarden US $ festgestellt werden503.

500 Vgl. PETTIT ET AL. (2010, S. 2).


501 Vgl. STECKE/KUMAR (2009).
502 Vgl. STECKE/KUMAR (2009, S. 4).
503 Vgl. HILL /FORD (2005, S. 11).

328
5.2
Supply-Chain-Disruption-Risiken

Bei Unfällen handelt es sich um von Menschen hervorgerufene, jedoch unbeabsichtigte


Handlungen, die zu einer Störung in der Supply Chain führen. Mit Ausnahme von
Transportunfällen treten Unfälle meistens in Industrieunternehmen auf. Beispiele
hierfür sind große industrielle Katastrophen wie Tschernobyl im Jahr 1986 oder die
Katastrophe von Bhopal des Chemieunternehmens Union Carbide504.

Zu den Naturkatastrophen als natürlich verursachte Katastrophen zählen Wirbel‐


stürme, Tsunamis, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Epidemien, aber auch extreme Hitze
und Feuer sowie Dürren. Im Jahr 2016 richteten zwei Erdbeben in Japan mit 30 Milli‐
arden Euro, Überschwemmungen in China mit 20 Milliarden Euro sowie der Hurrikan
ʹMatthewʹ auf Haiti und an der US‐Ostküste mit knapp 10 Milliarden Euro besonders
schwere wirtschaftliche Schäden an. Abbildung 5‐1 verdeutlicht den steigenden Trend
bzgl. der Gesamtkosten der Naturkatastrophen.

Abbildung 5‐1 Schäden durch Naturkatastrophen 1970-2019505

Supply Chain Disruptions (SCD) können auf der Prozessebene, der Strukturebene, der
funktionalen Ebene sowie der institutionellen Ebene betrachtet werden506. Auf der
Prozessebene beeinflussen SCD alle Material‐, Waren‐, Informations‐ und Geldflüsse,
welche in Verbindung mit der Transformation einer vorher definierten Spezifikation in
ein lieferbares Produkt stehen. Auf der strukturellen Ebene besteht eine Supply Chain
aus organisatorischen Einheiten (Knoten), welche über Pfeile miteinander in Bezie‐
hung stehen. SCD können auf Knoten‐, Pfeil‐ oder Netzwerkebene auftreten. SCD auf

504 Vgl. STECKE/KUMAR (2009, S. 7).


505 EM‐DAT, The International Disaster Database, www.emdat.be
506 Vgl. BRENNER (2015, S. 39 ff.).

329
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Knoten‐ bzw. Pfeilebene führen nur in bestimmten Fällen zu einer Störung des gesam‐
ten Netzwerks. SCD auf Netzwerkebene liegen dann vor, wenn aufgrund einer Stö‐
rung auf Knoten‐ bzw. Pfeilebene keine durchgängige Verbindung zwischen den Quel‐
len und den Senken im Netzwerk vorliegt. Der Einfluss von SCD auf die Zielerrei‐
chung im Sinne eines strategischen Wettbewerbsvorteils wird auf der funktionellen
Ebene untersucht. Betrachtet man zur Erhöhung der Profitabilität die Kostenführer‐
schafts‐ und die Differenzierungsstrategie, dann können SCD zum einen zu einer
Abweichung von der Kosteneffizienz von Prozessen führen und zum anderen eine
Nichtrealisierung von Differenzierungsmerkmalen, bspw. in Form von unerwarteten
Verzögerungen bei der Lieferzeit, zur Folge haben. Innerhalb der institutionellen Ebe‐
ne werden SCD als Abweichungen von regulatorischen, rechtlichen oder organisa‐
torischen Anforderungen betrachtet. Auf dieser Ebene können SCDs aufgrund fehlen‐
der unternehmensweiter Standards sowie fehlender Investitionen in die Sicherheit von
Supply Chains entstehen.

Abbildung 5‐2 Bewältigungsphasen von Supply-Chain-Disruptions

Eine Bewältigung von Supply Chain Disruptions erfolgt in vier Phasen (vgl. Abbil‐
dung 5‐2)507. Die Leistungsfähigkeit einer Supply Chain kann anhand der Kriterien
Kundenservice (z. B. Lagerreichweite), Marktanteil oder finanzielle Leistungsfähigkeit
(z. B. Profitabilität, operative Erträge, Shareholder Value) gemessen werden. In der
Bereitschaftsphase werden Maßnahmen getroffen, welche die Wahrscheinlichkeit des
Auftretens von SCD reduzieren bzw. mögliche negative Einflüsse auf die Supply

507 Vgl. HOHENSTEIN ET AL. (2015, S. 96).

330
5.3
Supply-Chain-Resilienz

Chain absorbieren können. Sobald SCD eingetreten sind, beginnt die Reaktionsphase.
Es wird dahingehend unterschieden, ob sich eine Störung sofort oder verzögert auf
eine Reduktion der Leistungsfähigkeit der Supply Chain auswirkt. Das Ziel in der
Reaktionsphase ist es, die Situation unter Kontrolle zu bringen und Kollateralschäden
zu vermeiden. Je kürzer die Reaktionszeit, desto schneller kann die Leistungsfähigkeit
der Supply Chain wieder verbessert werden. In der Erholungsphase wird das Ziel
verfolgt, den Ausgangszustand bzgl. der Leistungsfähigkeit der Supply Chain z. B.
durch Kapazitätserhöhungen, Überstunden oder eine höhere Produktionsauslastung
schnellstmöglich wieder zu erreichen. Die vorbereitenden Aktivitäten hierfür begin‐
nen bereits in der Bereitschafts‐ und in der Reaktionsphase und werden in Form von
Notfallplänen für die Reaktionsphase festgehalten. Die abschließende Wachstumspha‐
se geht über die Erholungsphase hinaus, da sie auf eine verbesserte Leistungsfähigkeit
der Supply Chain im Vergleich zur Ausgangssituation abzielt.

5.3 Supply-Chain-Resilienz
Das traditionelle Risikomanagement beruht auf Annahmen für die Eintrittswahr‐
scheinlichkeit eines Ereignisses, sodass es nicht mit unvorhersehbaren Ereignissen wie
Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken umgehen kann. Als effektive Maßnahme zur Bewäl‐
tigung von Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken gilt die Schaffung von Resilienz in der
Supply Chain, da sie von einer Einzelbewertung jeder möglichen Ursache für Supply‐
Chain‐Disruption‐Risiken absieht. Unternehmen entwickeln in resilienten Supply
Chains Fähigkeiten, mit denen sie sich auf SCD vorbereiten, auf sie reagieren und sich
von ihnen erholen können. Der Begriff Resilienz wird von dem lateinischen Wort
„resilire“ abgeleitet und bedeutet zurückspringen oder abprallen. Resilienz beschreibt
die Fähigkeit eines Systems, nach einer unerwarteten Störung den ursprünglichen
Zustand wiederherzustellen bzw. einen neuen, verbesserten Zustand zu erreichen508.

Supply‐Chain‐Resilienz (SCR) bezeichnet somit die Fähigkeit einer Supply Chain


entsprechende Vorbereitungen zu treffen, um die Wahrscheinlichkeit des Eintretens
bzw. den negativen Einfluss von vorhersehbaren und unvorhersehbaren SCD zu ver‐
ringern und schnellstmöglich geeignete Maßnahmen zu treffen, um sich schneller als
die Konkurrenz von SCD zu erholen und anschließend die bisherige oder sogar eine
verbesserte Wettbewerbssituation einzunehmen. Resiliente Supply Chains weisen
somit eine hohe Widerstandsfähigkeit (Resistance Capacity) und eine gute Wiederher‐
stellungskapazität (Recovery Capacity) auf. Unter der Widerstandsfähigkeit wird die
Fähigkeit eines Systems verstanden, die Auswirkungen einer Störung zu minimieren,
indem es einer Störung vollständig ausweicht (Vermeidung) oder die Zeit zwischen
dem Eintreten der Störung und dem Beginn der Wiederherstellung nach dieser Stö‐
rung minimiert. Mit der Wiederherstellungskapazität wird die Fähigkeit eines Systems

508 Vgl. CHRISTOPHER/PECK (2004, S. 4); PECK (2005, S. 211).

331
Risikomanagement in der Supply Chain
5
bezeichnet, nach dem Auftreten einer Störung zur Funktionalität zurückzukehren,
sodass nach einer kurzen Stabilisierungsphase wieder eine Rückkehr in einen stabilen
oder besseren Leistungszustand angestrebt werden kann.

Abbildung 5‐3 Erfolgsfaktoren einer resilienten Supply Chain

Zur Gestaltung resilienter Supply Chains können verschiedene Erfolgsfaktoren heran‐


gezogen werden. Erfolgsfaktoren haben einen signifikanten Einfluss sowohl auf den
Erfolg als auch auf den Misserfolg betrieblicher Aktivitäten und werden durch das
Unternehmen sowie dessen Umfeld geprägt. Im Folgenden werden verschiedene
beeinflussbare Erfolgsfaktoren vorgestellt, mit denen ein nachhaltiger und länger‐
fristiger positiver Einfluss auf die Resilienz einer Supply Chain in unsicheren und
volatilen Bedingungen genommen werden kann. Die Erfolgsfaktoren zur Stärkung der
Resilienz von Wertschöpfungsketten können in die direkt wirkenden Faktoren Agilität
und Robustheit und in die indirekt wirkenden Faktoren Flexibilität, Redundanz, Kol‐
laboration, Organisationskultur, Dezentralität, Lean Management, digitale Tech‐
nologien sowie permanenter Lernprozess unterteilt werden. Während die direkt wir‐
kenden Erfolgsfaktoren einen unmittelbaren Einfluss auf die SCR haben, beeinflussen
die übrigen Erfolgsfaktoren nur indirekt über die Faktoren Agilität und Robustheit die
SCR (vgl. Abbildung 5‐3).

332
5.3
Supply-Chain-Resilienz

a) Agilität

Die Agilität einer Supply Chain wird wesentlich von der Flexibilität, Erkenntnis‐
fähigkeit und Umsetzungsgeschwindigkeit eines Unternehmens bestimmt. Die
Erkenntnisfähigkeit beschreibt die Tatsache, dass ein Unternehmen in der Lage
ist, Handlungsbedarfe aufgrund interner als auch externer Veränderungen ausrei‐
chend früh zu identifizieren. Somit unterstützt die Erkenntnisfähigkeit neben re‐
aktivem auch proaktives Handeln, da auch zukünftige Anforderungen frühzeitig
in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden können. Flexibilität be‐
schreibt die Fähigkeit identifizierte Bedürfnisse schnell zu bewerten und geeigne‐
te Maßnahmen zur Anpassung bereitzustellen. Sie ermöglicht es, auch kurzfristig
Änderungen vorzunehmen, die Gefahr von Unterbrechungen in der Supply
Chain zu mindern und die Nachfrage in Quantität und Qualität zu befriedigen.
Die Umsetzungsgeschwindigkeit zielt auf eine möglichst schnelle Befriedigung
neuer Bedürfnisse ab. Sie kann z. B. durch Verschlanken der Prozesse oder eine
Verkürzung der Lieferzeit erhöht werden. Diese drei Faktoren der Agilität sind
immer gemeinsam zu betrachten. Während die Fähigkeiten, Änderungsbedarfe
zu erkennen und flexibel darauf zu reagieren, notwendige Voraussetzungen für
agiles Verhalten darstellen, ist eine Differenzierung gegenüber Wettbewerbern
vorrangig durch schnelle Anpassungen möglich. Somit erklärt die Umsetzungs‐
geschwindigkeit folglich den größten Teil der Agilität509. Zur Erreichung agiler
Supply Chains lassen sich Maßnahmen in folgenden Einflussbereichen identifizie‐
ren510:

 Sowohl Lieferanten als auch Abnehmer sollten sich für eine erfolgreiche Zu‐
sammenarbeit einsetzen, denn Unsicherheiten und mangelhafte Lieferungen
wirken sich nicht nur auf die Fähigkeit aus, Änderungen flexibel umzusetzen,
sondern beeinflussen auch die dafür benötigte Zeit.

 Eine vorausschauende Beschaffungsplanung, basierend auf einer langfristigen


Bedarfssicherung, kann die Verfügbarkeit der richtigen Materialien – auch bei
unvorhergesehenen Ereignissen – zum Bedarfszeitpunkt gewährleisten.

 Eine enge Zusammenarbeit mit dem Hauptlieferanten bei der Entwicklung


von neuen Produkten und Dienstleistungen ermöglicht die Berücksichtigung
dessen Fähigkeiten und Kapazitäten und schafft damit rechtzeitig die Voraus‐
setzungen für eine kurzfristige Anpassung.

 Eine schnelle Prozessabwicklung bei Anpassungsbedarfen wird durch einen


angemessen hohen Personalbestand beim Lieferanten und Abnehmer begüns‐
tigt. Des Weiteren unterstützt ein ausgewogenes Kompetenzportfolio auch bei
unvorhergesehenen Ereignissen den Rückgriff auf benötigtes Fachwissen.

509 Vgl. TUKAMUHABWA ET AL. (2015, S. 5605).


510 Vgl. HENKE ET AL. (2012, S. 12).

333
Risikomanagement in der Supply Chain
5
 Die unternehmensinterne Kommunikation und der Wissensaustausch mit Lie‐
feranten fördert die Agilität, da Best Practices der Geschäftspartner über‐
nommen und unternehmensübergreifende Prozesse optimiert werden können.
Eine reibungslose Kommunikation zwischen Geschäftspartnern wird erst
durch kompatible IT‐Infrastrukturen möglich. Für eine schnelle Prozessab‐
wicklung sind auch die Transparenz der Information sowie die Qualität der
Daten wesentlich.

Als Beispiel für ein agiles Verhalten kann das Unternehmen DELL herangezogen
werden. Ein schweres Erdbeben in Taiwan im Jahr 1999 verursachte den Ausfall
von wichtigen Computerkomponenten über einen längeren Zeitraum, sodass vie‐
le Computerhersteller große Schwierigkeiten hatten, ihre Kunden zu beliefern.
DELL konnte agiler als andere Hersteller auf die neue Situation reagieren, da
DELL sich schnell Transparenz über die kritischen Komponenten und die damit
verbundenen Endgeräte verschaffen konnte. Mit Hilfe dieser Transparenz reagier‐
te DELL auf der Nachfrageseite, indem Preise für Geräte mit kritischen Kompo‐
nenten angehoben und Preise für Geräte mit verfügbaren Komponenten gesenkt
wurden. Damit konnte die Nachfrage umgelenkt werden und DELL konnte
gleichzeitig seinen Marktanteil steigern511.

b) Robustheit

Die Robustheit bezeichnet die Fähigkeit einer Lieferkette SCD zu widerstehen,


ohne ihre anfänglich stabile Konfiguration anzupassen. Demzufolge wird die Ro‐
bustheit einer Supply Chain vorwiegend durch die Supply‐Chain‐Struktur be‐
stimmt. Eine robuste Lieferkette bleibt vor und nach dem Auftreten von Störun‐
gen unverändert und sie ist unempfindlich gegenüber Störfaktoren. Im Gegensatz
zu robusten Supply Chains können resiliente Supply Chains den Einfluss von
SCD verringern, sich anpassen, schnellstmöglich erholen und so eine neue und
verbesserte Situation einnehmen. Die Robustheit einer Supply Chain lässt sich z.B.
durch ein Multiple Sourcing erhöhen, da der Materialfluss auch dann aufrecht‐
erhalten wird, wenn eine Störung bei einem Lieferanten eintritt. Global Sourcing
bedeutet, dass Unternehmen Materialien, Vorprodukte und auch Dienstleistungen
auf dem internationalen Markt beschaffen und hat zur Folge, dass sich die Reakti‐
onszeit auf SCD in einer globalen Supply Chain deutlich verlängert. Um die Ro‐
bustheit zu erhöhen, sollten anstelle einer globalen Supply Chain mehrere regio‐
nale Supply Chains aufgebaut werden, die auf lokale und regionale Partner zu‐
rückgreifen. Die Komplexität der Supply Chain wird durch die Anzahl an
organisationalen Einheiten wie Zulieferer, Produzenten und Kunden, sowie durch
deren Interaktionsgrad ausgedrückt. Eine höhere Supply‐Chain‐Komplexität ver‐
stärkt die negativen Folgen von SCD512. Ist die Quelle der Komplexität die hohe
Anzahl an Partnern in der Supply Chain, dann sollte der Scope of Control, d. h.

511 Vgl. LEE (2004, S. 106); TANG (2006, S. 43).


512 Vgl. CRAIGHEAD ET AL. (2007, S. 141).

334
5.3
Supply-Chain-Resilienz

die direkte oder indirekte Kontrolle der Partner durch das fokale Unternehmen
verringert werden. Entsteht die Komplexität jedoch aufgrund eines hohen Inter‐
aktionsgrads zwischen den Supply‐Chain‐Partnern, dann sollte der Scope of Con‐
trol erhöht werden513. Eine weitere Maßnahme zur Verbesserung der Robustheit
besteht in dem Verstärken des physischen Schutzes von Produktionsgebäuden
oder Lagerhallen.

c) Flexibilität

Zur Sicherstellung der Flexibilität werden diejenigen Ressourcen berücksichtigt,


die durch den Aufbau von Redundanz in der Bereitschaftsphase geschaffen wur‐
den. Bei der Flexibilität kann zwischen reaktiver und zukunftsgerichteter Flexi‐
bilität unterschieden werden. Im Rahmen der reaktiven Flexibilität reagiert ein
Unternehmen auf der Basis der aktuellen Situation, ohne dass im Vorfeld eine sys‐
tematische Ausrichtung auf potenzielle Veränderungen stattgefunden hat. Bei‐
spielsweise würde ein Unternehmen bei einer Single‐Sourcing‐Strategie erst nach
Eintreten eines Risikos mit der Suche nach geeigneten Alternativlieferanten be‐
ginnen. Bei einer zukunftsgerichteten Flexibilität werden Handlungsalternativen
für potenzielle Umweltsituationen geplant, die einen möglichst großen Freiheits‐
grad beim Auftreten von SCD erlauben. Bei Anwendung einer Single‐Sourcing‐
Strategie werden alternative Lieferanten im Vorfeld identifiziert, um tragfähige
Beziehungen aufzubauen und den Wechsel im Krisenfall in Notfallpläne vorzuse‐
hen. Zur Unterstützung der Flexibilität können neben flexiblen Sourcing‐
Strategien auch eine flexible Kapazitätsauslastung über mehrere horizontal mitei‐
nander verbundene Produktionsstandorte, eine Erhöhung der Mitarbeiterquali‐
fikation, Responsive Pricing zur Steuerung der Nachfrageseite sowie eine Postpo‐
nement‐Strategie zur Verschiebung des Variantenbestimmungspunkts eines Pro‐
duktes in möglichst späte Wertschöpfungsstufen eingesetzt werden. Zu beachten
ist, dass der Grenznutzen zusätzlicher Flexibilität schnell erreicht ist, da der größ‐
te Teil des Nutzens bereits bei relativ geringen Flexibilitätsgraden erzielt wird. Ab
einem bestimmten Flexibilitätsgrad deckt die marginale Reduktion der Störung
nicht mehr den steigenden Aufwand, der beispielsweise durch die Pflege mehre‐
rer Lieferanten oder die Ausbildung von Mitarbeitern an verschiedenen Standor‐
ten entsteht514.

d) Redundanz

Redundanz bedeutet, dass Ressourcen zur Risikovorsorge vorgehalten werden,


die unter reinen Effizienzbetrachtungen bzw. unter weitgehender Negierung von
Unsicherheit überflüssig wären. Somit können in der Reaktionsphase die unmit‐
telbaren Auswirkungen von SCD verringert werden. Redundanz in den Unter‐
nehmen kann unter anderem durch den Aufbau von Sicherheitsbeständen sowie

513 Vgl. GIANNOCCARO ET AL. (2018, S. 646).


514 Vgl. TANG /TOMLIN (2008, S. 15ff).

335
Risikomanagement in der Supply Chain
5
einem Risikominderungsbestand, durch zusätzliche Lagerstandorte, durch Über‐
kapazitäten in der Produktion an verschiedenen Standorten, durch eine Mehrlie‐
ferantenstrategie, Reservierung von Produkten bei Ersatzlieferanten und durch
verschiedene Transportwege mit unterschiedlichen Logistikpartnern erzeugt
werden515. Mit dem Vorhalten redundanter Ressourcen wird die Erwartung ver‐
bunden, dass Störimpulse durch den Rückgriff auf diese Ressourcen gedämpft
werden können. Redundanz kann aber auch als Quelle von Flexibilität angesehen
werden. Geht man beispielsweise von einem Single Sourcing aus, dann könnte die
Umstellung auf ein Dual Sourcing die Flexibilität beim Auftreten von Supply
Chain Disruptions deutlich erhöhen, da im Krisenfall auf den zweiten Lieferanten
ausgewichen werden kann.

e) Kollaboration

Bei einer Kollaboration arbeiten alle Partner in der Supply Chain parallel gemein‐
sam an einem Teil des Endergebnisses. Je stärker die Partner in einer Supply
Chain miteinander kollaborieren, desto besser können die Auswirkungen von
SCD abgeschwächt werden. Die Kollaboration sollte sowohl auf vertikaler als
auch auf horizontaler Ebene erfolgen und setzt einen unternehmensübergreifen‐
den Informationsaustausch voraus. Ein gemeinsames Wissensmanagement und
eine partnerschaftliche Nutzung der Ressourcen können dazu beitragen, die Zu‐
sammenarbeit der Supply‐Chain‐Partner gezielt auszugestalten516. Kollaborative
Supply‐Chain‐Partner fühlen sich verantwortlich für das Risikomanagement der
gesamten Supply Chain und unterstützen sich gegenseitig beim Antizipieren po‐
tenzieller Risiken. Das Stärken von Vertrauen zwischen den Partnern, insbesonde‐
re das interorganisationale Vertrauen, ist eine wichtige Maßnahme für eine be‐
ständige und erfolgreiche Zusammenarbeit.

f) Organisationskultur
Die Organisationskultur beschreibt die Entstehung und Entwicklung gemeinsam
geteilter Muster des Denkens, Fühlens und Handelns sowie der sie vermittelnden
Normen, Werte und Symbole innerhalb einer Organisation. Es besteht ein positi‐
ver Einfluss von der Einbindung von Mitarbeitern in strategische Ziele und Werte
(Entwicklungskultur), von dem Fokus auf gemeinsame Anstrengungen (Grup‐
penkultur) und von der Verwendung von Belohnungssystemen (rationale Kultur)
auf die SCR. Die Technologieorientierung kann diese positiven Effekte verstärken.
Dagegen hat der Fokus auf Kontrolle und Kooperation durch Ränge (hierarchi‐
sche Kultur) einen negativen Effekt auf die SCR517. Auch das soziale Kapital, mit
seiner strukturellen, kognitiven und relationalen Dimension, beeinflusst die

515 Vgl. ZSIDISIN/WAGNER (2010, S. 3ff); MARLEY (2006, S. 51).


516 Vgl. SCHOLTEN/SCHILDER (2015, S. 473).
517 Vgl. MANDAL (2017).

336
5.3
Supply-Chain-Resilienz

SCR518. Auf struktureller Ebene ermöglicht eine Kombination aus stark aus‐
geprägten vertikalen Strukturen in Verbindung mit schwach ausgeprägten hori‐
zontalen Strukturen eine schnelle Bereitstellung von Ressourcen. Im Rahmen der
kognitiven Dimension spielen eine geteilte Vision sowie gemeinsame Werte eine
große Rolle, um die Zusammenarbeit unter den Supply‐Chain‐Partnern zu stär‐
ken. Auf der relationalen Ebene helfen Normen und Pflichten, um ein Bewusst‐
sein innerhalb der Supply Chain für die etablierten Prozesse zu generieren. Ein
organisatorischer Wandel ist nur durch die Unterstützung der Unternehmensfüh‐
rung in den einzelnen Unternehmen möglich. Um ein ausgeprägtes Bewusstsein
für Risikomanagement in den Unternehmen zu etablieren, muss die Unterneh‐
mensführung dieses Thema in den Fokus stellen.

g) Dezentralität

Dezentralität entkoppelt Steuerungsprozesse und erhöht damit die Autonomie


und Innovationsfähigkeit einzelner Produktions‐ und Lagerstandorte, sodass eine
schnelle Änderung von Wettbewerbsstrategien in Unternehmen unterstützt wird.
Die gemeinsame dezentralisierte Forschung und Entwicklung mit den Lieferanten
sowie dezentralisierte Einkaufsentscheidungen in lokalen Tochterunternehmen
haben einen positiven Einfluss auf die Milderung der Auswirkungen von SCD.
Notwendig dafür ist, dass Mitarbeiter dazu ermutigt werden, eigenverantwortlich
Entscheidungen zu treffen, evtl. auch ohne vorherige Konsultation mit ihren Vor‐
gesetzten519. Dezentralität findet sich ebenso in der räumlichen Verteilung der
Lieferantenstruktur wieder, die Grundvoraussetzung für eine mögliche Vermei‐
dung von Auswirkungen regionaler Störungen ist. Darüber hinaus betrifft De‐
zentralität auch den Umgang mit Informationen. Ein transparenter und schneller
Informationsfluss mit allen Netzwerkpartnern der Wertschöpfungskette wird be‐
nötigt, um Marktveränderungen frühzeitig zu identifizieren, entsprechende Prob‐
lemlösungen einzuleiten und damit negativen Auswirkungen, wie z. B. dem so‐
genannten Bullwhip Effekt, entgegenzuwirken.

h) Lean Management
Lean Management ist ein Ansatz zur kontinuierlichen Prozessoptimierung und
umfasst die effiziente Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette. Sämtliche
Prozesse und Aktivitäten sollten so aufeinander abgestimmt werden, dass jegliche
Art von Verschwendung entlang der Wertschöpfungskette vermieden wird. Des
Weiteren wird darauf abgezielt, nicht wertschöpfende Aktivitäten zu reduzieren
und wertschöpfende Aktivitäten zu optimieren. Schlanke Prozesse sind gekenn‐
zeichnet durch wenig oder gar keine Verschwendung in Bezug auf Aufwände,
Ressourcen und Durchlaufzeiten, sodass sie als sehr effizient gelten520.

518 Vgl. JOHNSON ET AL. (2013, S. 332 f.).


519 Vgl. TREIBLMAIER (2018, S. 447 ff.).
520 Vgl. PURVIS ET AL. (2016, S. 581).

337
Risikomanagement in der Supply Chain
5
i) Digitale Technologien

Die Digitalisierung erfolgt durch die Computerisierung, d.h. den isolierten Ein‐
satz von Informationstechnologie zum Digitalisieren von Prozessen und das
Schaffen von Konnektivität durch eine Verknüpfung der IT‐Systeme zwischen den
Unternehmen der Supply Chain. Konkrete Anwendungsgebiete digitaler Techno‐
logien im Rahmen von Industrie 4.0 stellen Big Data Analytics (BDA), Cyberphy‐
sische Systeme (CPS), Additive Fertigung und die Advanced Tracking and Tracing
Technologie (ATTT) dar. Die Analyse großer strukturierter, teil‐ oder unstruktu‐
rierter Datenmengen wird als BDA bezeichnet. Durch den Einsatz von BDA wird
die Prognosegenauigkeit erhöht und die Transparenz in der Supply Chain verbes‐
sert. Somit können SCD, die aufgrund von Informationsstörungen in der Supply
Chain oder potenziellen Veränderungen des Nachfrageverhaltens der Endkunden
entstehen, besser antizipiert werden. Werden in die physischen Objekte des Pro‐
duktionssystems ID‐Technologien, Sensoren, Stell‐ und Prozesskontrolleinheiten,
Kommunikationsgeräte, eingebettete Computer und Mensch‐Maschine‐Schnitt‐
stellen integriert, dann werden sie zu cyberphysischen Systemen (CPS), die über
das Internet der Dinge und Services miteinander kommunizieren können. CPS
ermöglichen jederzeit verfügbare Produktionsdaten, sodass dadurch die Transpa‐
renz in der Fertigung erhöht wird und somit flexibler auf Störungen reagiert wer‐
den kann. Bei der additiven Fertigung werden Materialien durch das schichtweise
Auftragen und Verbinden von Ebenen auf Basis eines digitalen Datenmodells ver‐
arbeitet. Die Additive Fertigung ermöglicht eine flexiblere Produktion sowie kür‐
zere Durchlaufzeiten, sodass Auswirkungen von SCD, die aufgrund von Verände‐
rungen auf der Seite der Endkunden entstehen, reduziert werden können. ATTT
besitzt neben der Rückverfolgung von Produkten auf allen Wertschöpfungsstufen
zusätzliche Möglichkeiten, um Abweichungen von geplanten Prozessen in Supply
Chains zu identifizieren, Benachrichtigungen zu versenden und angemessene Lö‐
sungen zu generieren. Mit dieser Technologie können potenzielle SCD aufgrund
von Informationsstörungen in der Supply Chain oder aufgrund von Veränderun‐
gen bei Lieferanten schneller antizipiert und verringert werden521.

j) Permanenter Lernprozess

Ein permanenter Lernprozess kann durch Nutzung von Erfahrungen der ver‐
schiedenen Mitarbeiter eines Unternehmens ermöglicht werden522. Eine entspre‐
chende Ausbildung und Schulung insbesondere der Supply‐Chain‐Manager ist
notwendig, um ihnen entsprechende Kenntnisse für den Umgang mit SCD zu
vermitteln. Des Weiteren können verschiedene Aus‐ und Weiterbildungskonzepte
zur Steigerung der Flexibilität, Förderung bereichsübergreifender Tätigkeiten so‐
wie zur Erhöhung der Mitarbeitermotivation eingesetzt werden. Im Kontext von
SCR spielen das prozessuale, antizipative, situative, kollaborative, erfahrungsbe‐

521 Vgl. IVANOV ET AL. (2019, S. 836f).


522 Vgl. PONOMAROV/HOLCOMB (2009, S. 129).

338
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

zogene und stellvertretende Lernen eine wichtige Rolle.523 Unternehmen, die aus
den vergangenen SCD lernen, sind besser auf zukünftige SCD vorbereitet.

Eine „optimale“ Resilienz zeichnet sich als Balance zwischen Risikovorsorge und Pro‐
fitabilität aus. Neben den Kosten‐/Nutzen‐Überlegungen ist es für ein Unternehmen
essenziell, auf die strategische Kompatibilität der Erfolgsfaktoren im Risikomanage‐
ment zu achten524. Wenn das fokale Unternehmen bspw. den Fokus auf Kostenführer‐
schaft und gleichzeitig auf kurze Innovationszyklen legt, dann sind Überkapazitäten
und hohe Sicherheitsbestände kontraproduktiv. Für diesen Fall sind kurzfristige kun‐
denseitige Maßnahmen zur Umlenkung der Nachfrage auf nicht betroffene Produkte
eher kompatibel mit der Unternehmensstrategie.

Des Weiteren müssen auch die Interdependenzen zwischen den Risiken und die Ab‐
hängigkeiten der Supply‐Chain‐Partner berücksichtigt werden. Es bedarf Techniken,
die ein proaktives Management solcher Risiken ermöglichen und Auswirkungen in‐
nerhalb der gesamten Supply Chain prognostizieren können.

5.4 Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Der Supply‐Chain‐Risikomanagementprozess muss als Regelkreis verstanden werden,
bei dem die erfassten Chancen und Risiken sowie die hierauf bezogenen Maßnahmen
laufend überwacht werden. In der Literatur werden verschiedene Ansätzen zum Risi‐
komanagementprozess diskutiert, die sich vor allem in Bezug auf den Detaillierungs‐
grad der einzelnen Prozessschritte unterscheiden. Sich ständig verändernde Chancen
und Risiken bedingen, dass die fünf Schritte des Supply‐Chain‐Risikomanagement‐
prozesses nicht einmalig, sondern als kontinuierlicher Prozess ausgeführt werden (vgl.
Abbildung 5‐4).
Auf Grundlage der Risikostrategie von Unternehmen wird der Handlungsrahmen für
den weiteren Risikomanagementprozess zur Identifikation, Bewertung, Steuerung,
Kontrolle sowie Berichterstattung und Dokumentation von Supply‐Chain‐Risiken
festgelegt. Die einzelnen Prozessschritte des Supply‐Chain‐Risikomanagements erfol‐
gen damit zwar analog zum klassischen Risikomanagement, jedoch mit dem Fokus
auf eine ganzheitliche, unternehmensübergreifende Sichtweise.

Bei der Entwicklung und Implementierung des Supply‐Chain‐Risikomanagements im


Unternehmen muss bestimmt werden, wie die Beteiligung der unterschiedlichen Ebe‐
nen und Bereiche im Unternehmen geregelt werden soll. Zur Definition der Verant‐
wortlichkeiten gehört die Festlegung, ob das Risikomanagement zentral oder dezen‐

523 Vgl. SCHOLTEN ET AL. (2019, S. 436).


524 Vgl. TANG (2006, S. 42f).

339
Risikomanagement in der Supply Chain
5
tral gesteuert und ob es in die bestehende Organisationsstruktur eingebunden oder
separat aufgebaut werden soll525.

Abbildung 5‐4 Phasen des Supply-Chain-Risikomanagementprozesses

Risiko‐

Risikokontrolle/
‐überwachung,
Risikoberichterstattung/
‐dokumentation

Risikosteuerung

strategie

Bei einem zentralen Ansatz übernimmt eine Stabsabteilung die Identifikation und
Bewertung der Risiken, um daraus Maßnahmen abzuleiten. Weiterhin könnte die
Umsetzung durch ein Team begleitet werden, das parallel zur Linienorganisation
arbeitet. Der Vorteil einer solchen Organisation ist, dass das Risikomanagement zent‐
ral an der Unternehmensstrategie ausgerichtet wird und die dedizierten Teams spezi‐
ell für das Risikomanagement qualifiziert wären. Als nachteilig zeigt sich jedoch, dass
die direkte und schnelle Einbindung in die operativen Prozesse nicht automatisch
gewährleistet ist und Lernprozesse auf der operativen Ebene zu wenig Berück‐
sichtigung finden.

Der dezentrale Ansatz verankert das Risikomanagement in den Fachabteilungen. Eine


Einbeziehung der Prozessebenen und die frühzeitige Berücksichtigung operativer
Risiken mit ihren Besonderheiten in den Fachbereichen erweist sich als vorteilhaft. Die
Delegation von Aufgaben in untere Hierarchieebenen führt außerdem zu einer Moti‐
vationssteigerung, die zu einer effizienteren Arbeitsweise führen kann. Zu den Nach‐

525 Vgl. BÖGER (2010, S. 67ff).

340
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

teilen zählen die mangelhafte Identifikation und Bewertung von prozessübergreifen‐


den Supply‐Chain‐Risiken, was eine eher punktuelle und nicht umfassende Risikobe‐
wältigung zur Folge hat. Weitere Schwächen werden in der fehlenden Ausrichtung auf
übergreifende Strategien sowie in den sich teilweise widersprechenden dezentralen
Maßnahmen in den operativen Prozessen gesehen.

Für die Praxis werden somit hybride Ansätze empfohlen, welche die Vorteile des zent‐
ralen und dezentralen Vorgehens kombinieren. Die strategische Ausrichtung des Risi‐
komanagements erfolgt zentral, aber die Umsetzung wird dezentral im Rahmen der
Linienverantwortung vorgenommen. Das Unternehmen befindet sich in einem per‐
manenten Lern‐ und Anpassungsprozess bei dem die operativen Erfahrungen mit den
strategischen Anforderungen und umgekehrt abgestimmt werden. Das implizite Wis‐
sen der operativen Ebene kann genutzt werden, um die negativen Effekte von Supply‐
Chain‐Risiken zu reduzieren. Mit Hilfe eines formalen Monitorings, das verstreute
Informationen systematisch sammelt, auswertet und dem Unternehmensmanagement
als Frühindikator zur Verfügung stellt, kann das Wissen in die Entwicklung unter‐
nehmensweiter Strukturen für das Risikomanagement einfließen. Empfehlenswert ist
eine Einbindung des Risikomanagements in die bestehende Organisation und in die
existierenden Geschäftsprozesse. Jeder Arbeitnehmer muss in seine Sachentschei‐
dungen Risikoüberlegungen einbeziehen und trägt die Verantwortung für eine Teil‐
aufgabe des Risikomanagements. Ein wesentlicher Vorteil sind potenzielle Synergieef‐
fekte zwischen Risiko‐ und Sachentscheidungen, die sich gegenseitig unterstützen und
den administrativen Aufwand verringern.

5.4.1 Festlegung der Risikostrategie


Die Risikostrategie eines Unternehmens beschreibt unter Berücksichtigung unterneh‐
mensspezifischer Rahmenbedingungen die grundsätzliche Einstellung eines Unter‐
nehmens zum Umgang mit Risiken und muss auf die jeweilige Unternehmensstrategie
abgestimmt sein. Um ein einheitliches Verständnis für Risiken und Chancen sowie ein
unternehmensübergreifendes Management zu etablieren, ist von der Unternehmens‐
leitung eine Auswahl von Wertschöpfungspartnern zu treffen, die in Zusammenarbeit
risikorelevante Themen untereinander abstimmen und in einem Risikokatalog festhal‐
ten. Besonders in internationalen Supply Chains ist ein einheitliches Risikoverständnis
unumgänglich, um trotz der Unterschiede in Kultur, Sprache sowie im Risiko‐
bewusstsein und ‐verhalten den Erfolg des Supply‐Chain‐Risikomanagements zu
garantieren. Eine klar definierte und kommunizierte Risikostrategie stellt sicher, dass
alle Akteure in die gleiche Richtung denken und agieren und somit das Risikoma‐
nagement die Ziele der Unternehmensstrategie unterstützt. Die Risikostrategie ist
damit ein Verbindungsglied zwischen der Unternehmensstrategie, den strategischen
Zielen sowie den damit verbundenen Risiken und Chancen. Des Weiteren ist eine gute
Dokumentation in Form einer Risikostrategie wichtig für eine dauerhafte und perso‐
nenunabhängige Funktionsfähigkeit des Risikomanagements.

341
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Grundlage für die Formulierung einer Risikostrategie sind risikopolitische Grundsätze
zur Handhabung von Risiken, die das Risikobewusstsein im Unternehmen verbessern
und den Umgang mit Risiken konzernübergreifend vereinheitlichen sollen. Risikopoli‐
tische Grundsätze beschreiben lediglich Verhaltensregeln zur Handhabung von Risi‐
ken, sodass eine Operationalisierung der Risikostrategie durch konkrete risikosteu‐
ernde Maßnahmen notwendig ist. Für die Auswahl geeigneter Maßnahmen ist das
Ausmaß der Risikoübernahme von Unternehmen wesentlich, das sich in entsprechen‐
den Risikostrategien widerspiegelt. Liegt eine risikofreudige Strategie vor, dann gehen
Unternehmen für einen großen unternehmerischen Erfolg auch entsprechend große
Risiken ein. Bei einer risikoaversen Strategie messen Unternehmen den Risiken im
Vergleich zu den Chancen eine höhere Bedeutung zu. Das angestrebte hohe Maß an
Sicherheit ist dabei mit erheblichen Kosten für den Einsatz risikoreduzierender Maß‐
nahmen verbunden. Verfolgt ein Unternehmen eine risikoneutrale Strategie, dann
versucht es die eigene Marktposition mit einer ausgewogenen Anwendung risikopoli‐
tischer Instrumente langfristig zu sichern526. Im Rahmen des Supply‐Chain‐Risiko‐
managements muss zwischen der zu Beginn des Prozesses formulierten Risikostrate‐
gie und der in Folge des Regelkreislaufes notwendigen überarbeiteten Risikostrategie
unterschieden werden. Eine Überarbeitung der Risikostrategie ist dann notwendig,
wenn Abweichungen zwischen der tatsächlichen Risikosituation eines Unternehmens
und den geplanten Zielvorgaben vorliegen527. Dazu sollte ein definierter Prozess zur
regelmäßigen jährlichen Überprüfung der Risikostrategie im Unternehmen etabliert
werden.

Für die Identifikation von kritischen Partnern in der Supply Chain, z. B. Lieferanten
mit Monopolstellung oder Kunden mit großen Umsatzvolumina, erfolgt eine Visuali‐
sierung der Lieferkette. Im Rahmen eines Risiko‐Chancen‐Profils werden Standards
festgelegt, die den Umgang mit Risiken und Chancen in der Supply Chain durch eine
maximal tragbare Risikoobergrenze verbindlich für alle Partner einschränken. Grund‐
sätzlich sollte zwar jeder risikobewusst handeln, eine eindeutige Regelung sorgt aber
für eine bessere Übersichtlichkeit und ist ein wichtiger Erfolgsfaktor des Supply‐
Chain‐Risikomanagements. Weiterhin ist zu klären, welche Personen oder Abteilun‐
gen die regelmäßige Identifikation, Bewertung, Steuerung und Umsetzung von Supp‐
ly‐Chain‐Risiken übernehmen. Um die Zuständigkeiten festzuhalten, bietet sich eine
Verantwortlichkeitsmatrix an, die der internen Aufgabenverteilung des Risikomana‐
gements und der Festlegung von Ansprechpartnern für externe Akteure zur Weiterga‐
be von Risikoinformationen dient.

Eine wesentliche Grundlage für das Supply‐Chain‐Risikomanagement eines Unter‐


nehmens und damit auch für die Risikostrategie stellt das Risikohandbuch dar, das
den grundsätzlichen Aufbau sowie den Ablauf des Risikomanagements beschreibt. Im
Risikohandbuch werden grundlegende Aussagen zum Risiko und Risikomanagement
getroffen, welche sich für Informations‐ und Koordinationszwecke eignen. Somit soll‐

526 Vgl. KAJÜTER (2012, S. 115ff).


527 Vgl. HENKE (2009, S. 103ff).

342
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

ten sich im Risikohandbuch Aussagen zur Risikodefinition, zur Bedeutung des Risikos
für die Unternehmung, zur Risikoeinstellung und zur Funktion und Notwendigkeit
des Risikomanagements finden. Weiterhin sollten Aussagen zu den risikobezogenen
Zielen (Zielarten und Zielgrößen, Zielbeziehungen und Zielgewichtungen, gewünsch‐
te Zielausprägungen), über grundlegende risikobezogene Verhaltensweisen und Po‐
tenziale sowie über das risikobezogene Verhalten gegenüber den Anspruchsgruppen
getroffen werden528. Im Rahmen der Organisation müssen Aufbau‐ und Ablauforgani‐
sation, Aufgabenbereiche und Risikoverantwortliche konkretisiert werden. Eindeutige
Verantwortlichkeiten sind von besonderer Bedeutung, da risikorelevante Entschei‐
dungen auf der richtigen Unternehmensebene getroffen und umgesetzt werden müs‐
sen. Zudem wird so gesichert, dass – im Falle einer Überschreitung festgelegter
Schwellenwerte für existenzgefährdende bzw. wesentliche Risiken oder im Falle einer
Nichteinhaltung der Obergrenze für den Gesamtumfang der Risiken – eine Verlage‐
rung der Entscheidung aus dem unmittelbaren Verantwortungsbereich auf die nächst‐
höhere Ebene erfolgt.

Zum Management von Risiken können Unternehmen auch eine Software einsetzen,
deren Handhabung zusätzlich im Risikohandbuch beschrieben werden muss. Grund‐
sätzlich ist eine Software empfehlenswert, die mit verschiedenen Modulkomponenten
alle Funktionsbereiche eines Unternehmens umfasst, um so mögliche Probleme an den
Schnittstellen zu vermeiden. Die Software sollte den gesamten Risikomanagementpro‐
zess eines Unternehmens abbilden und die für ein Frühwarnsystem notwendige Dar‐
stellung von Risikoprognosen ermöglichen. Zur Gewährleistung eines flexiblen Daten‐
imports und ‐exports muss die Software über entsprechende Schnittstellen zu allen
Aufgabenbereichen eines Unternehmens verfügen. Weiterhin sollte dem Management
eine notwendige Eingriffsmöglichkeit durch eine einfache Darstellung über Ampelsys‐
teme (grün, gelb, rot) aufgezeigt werden. Beim Einsatz von Standardsoftware, die mit
einem großen individuellen Anpassungsaufwand verbunden ist, wird oftmals auf
einfache Tabellenkalkulationssysteme (z. B. Microsoft Excel) oder Datenbank‐Lösun‐
gen (z. B. Microsoft Access) zurückgegriffen, die eine strukturierte Erfassung und Aus‐
wertung von Risiken ermöglichen. Ergänzend können Simulationsprogramme (z. B.
Risk Kit) zur Aggregation der Risiken eingesetzt werden. Weiterhin können standardi‐
sierte Spezialprogramme als Stand‐alone‐Lösungen eingesetzt werden, die bereits auf
spezifische Anforderungen im Rahmen des Risikomanagements ausgerichtet sind. Im
Gegensatz dazu ermöglichen integrierte Business‐Intelligence‐Lösungen (z. B.
Risk2value von avedos, R2C der Schleupen AG oder CRISAM der Calpana Business
Consulting GmbH) ein breites Leistungsspektrum für das Risikomanagement von
Unternehmen529.

528 Vgl. HOITSCH ET AL. (2005, S. 128).


529 Vgl. ROMEIKE/HUTH (2016, S. 102f).

343
Risikomanagement in der Supply Chain
5
5.4.2 Identifikation von Supply-Chain-Risiken
Nach der Festlegung der Risikostrategie im strategischen Management beginnt mit der
Risikoidentifikation die erste operative Phase im Risikomanagementprozess. Da nur
einige häufig auftretende Unsicherheiten aus der Phase der Risikostrategie bereits
bekannt sind, beschäftigt sich die Risikoidentifikation mit einer kontinuierlichen, sys‐
tematischen, einheitlichen und möglichst vollständigen Erfassung und Kategori‐
sierung aller aktuellen sowie zukünftigen Störpotenziale und Gefahrenquellen auf
Unternehmens‐ und Supply‐Chain‐Ebene, welche die Unternehmensziele negativ
beeinflussen könnten. Diese erste Phase im Risikomanagementprozess ist besonders
wichtig, da nur identifizierte Risiken quantifiziert und gesteuert werden können. Eine
vollständige Identifikation von Supply‐Chain‐Risiken ist aufgrund der Unterschiede in
der Ausgestaltung einzelner Wertschöpfungsketten, branchenspezifischer und diver‐
ser situativer Faktoren sowie aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich und sinn‐
voll. Die Güte der Identifikation hängt dabei wesentlich von der Qualität der Informa‐
tionsbeschaffung sowie von der Bereitschaft der Partner in der Supply Chain ab, ihre
internen Risiken offenzulegen. Zur Wahrung der Transparenz in Wert‐
schöpfungsketten sind die Risiken und Chancen möglichst gemeinsam zuerst auf den
Unternehmensebenen und danach im Kontext der Supply Chain zu identifizieren und
zu klassifizieren.

Um aus dem komplexen Umfeld und der Vielzahl von Faktoren die relevanten Risiken
herauszufiltern, bedarf es eines systematischen Vorgehens und geeigneter Werkzeuge.
Zur Identifikation von Risiken kann eine progressive oder retrograde Vorgehensweise
gewählt werden. Während bei der progressiven Methode die Auswirkungen nicht
weiter differenzierbarer Risikoursachen auf das unternehmerische Zielsystem unter‐
sucht werden, verfolgt der retrograde Ansatz ausgehend von Zielen die Aufdeckung
möglicher Risikoquellen. Beide Verfahren sollten durch den Einsatz geeigneter In‐
strumente der Informationsbeschaffung unterstützt werden. Häufig wird zwischen
Kollektionsmethoden und Suchmethoden unterschieden. Letztere können darüber
hinaus in analytische Methoden und Kreativitätsmethoden unterteilt werden530. Kol‐
lektionsmethoden werden vor allem zur Identifikation vorhandener Risiken ange‐
wendet (reaktives Risikomanagement). Bei Suchmethoden liegt der Fokus dagegen
durch die Identifikation bisher unbekannter Risiken auf einem proaktiven Risikoma‐
nagement. Weiterhin können spezielle Instrumente zur Identifikation von Supply‐
Chain‐Risiken eingesetzt werden531. Die Tabelle 5‐3 enthält ausgewählte Instrumente
zur Identifikation von Risiken.

530 Vgl. SIEBRANDT (2010, S. 29f).


531 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 37).

344
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

Tabelle 5‐3 Instrumente der Risikoidentifikation532

Suchmethoden Instrumente mit


Kollektions‐
Analytische Kreativitäts‐ Supply‐Chain‐
methoden
Methoden methoden Charakter
Checkliste Fragenkatalog Stress‐Test
Produktlebens‐ Input‐Output‐Analysen
Brainstorming
SWOT‐Analyse zyklus‐ und Portfoli‐ zwischen Supply‐Chain‐
oanalyse Partnern
Statistiken (z. B.
Fehlermöglichkeits‐
über Unfälle, Brainwriting Netzplantechnik
und Einflussanalyse
Schäden)
Befragung von Qualitative und Prozessablaufdiagramme
Experten, Mitar‐ quantitative Social Media zwischen Supply‐Chain‐
beitern Prognoseverfahren Partnern
Betriebliches
Simulationsverfahren
Vorschlagswesen Supply Chain
Synektik
Dokumenten‐ Fehlerbaum‐ und Risk Map
analyse Ereignisanalyse
Morphologische
Begehung Betriebsbesichtigungen
Verfahren
Delphi‐Methode bei Supply‐Chain‐
Kritischer‐Pfad‐
Pareto‐Methode Partnern
Methode
Lieferanten‐ Frühwarnung, ‐er‐
audits kennung, ‐aufklärung Beanspruchungs‐ und
Szenariotechnik
Wettbewerbsana‐ Belastbarkeitsportfolio
Prozessanalyse
lyse

Im Folgenden werden exemplarisch ausgewählte Verfahren zur Risikoidentifikation


vorgestellt. Durch Anwendung einer SWOT‐Analyse können aus der Unternehmens‐
und Umfeldanalyse interne Stärken und Schwächen sowie externe Chancen und Risi‐
ken von Unternehmen ermittelt werden. Die Analyse ergibt ein Gesamtbild des Ist‐
Zustands, aus dem dann Maßnahmen zur Risikohandhabung abgeleitet werden kön‐
nen (vgl. Tabelle 5‐4).

532 Vgl. ROMEIKE/HUTH (2016, S. 74); SIEBRANDT (2010, S. 29f); PFOHL ET AL. (2008a, S. 37),
WILDEMANN (2006, S. 142).

345
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Tabelle 5‐4 SWOT-Analyse

Unternehmensanalyse
Stärken (Strengths) Schwächen (Weaknesses)
Umfeldanalyse Auflistung der Stärken Auflistung der Schwächen
Chancen
SO‐Strategien WO‐Strategien
(Opportunities)
Überwindung der eigenen
Auflistung der Einsatz der Stärken zur
Schwächen durch Ausnutzung
Chancen Ausnutzung der Chancen
der Chancen
Risiken (Threats) ST‐Strategien WT‐Strategien
Minimierung der eigenen
Einsatz der Stärken zur
Auflistung der Risiken Schwächen und Vermeidung
Minimierung der Risiken
von Risiken

Neben der SWOT‐Analyse gehört auch die Befragung von Experten und Mitarbeitern
zur Kategorie der Kollektionsmethoden. Die Qualität der Informationsgewinnung
hängt dabei wesentlich von der Erfahrung und Kompetenz der teilnehmenden Perso‐
nen ab. Der Vorteil von Checklisten zur Risikoidentifikation liegt in der schnellen,
einfachen und kostengünstigen Handhabung. Jedoch ist die Anwendung dieser Me‐
thode auf die Risikoidentifikation beschränkt, da ein Einsatz bei anderen Phasen des
Risikomanagementprozesses kaum möglich ist. Bei zu detaillierten Checklisten ist die
Problemanalyse mit einem hohen Aufwand verbunden. Außerdem fehlt bislang eine
allgemeine Systematik für die Erstellung von Checklisten, sodass Erfahrung und
Kompetenz des Erstellers ausschlaggebend für die Qualität der Checkliste sind. Ein
weiterer Nachteil zeigt sich im hohen Aggregationsgrad von Checklisten, der keine
Aussagen über Einzelrisiken und entsprechende Wechselwirkungen zulässt. Aus die‐
sem Grund können Checklisten lediglich einen Ausgangspunkt für die Identifikation
von Risiken darstellen533.

Ein wichtiges Instrument im Rahmen der analytischen Suchmethoden stellen Systeme


zur Frühwarnung, ‐erkennung und ‐aufklärung dar, die seit 1998 gemäß KonTraG
vorgeschrieben sind (vgl. Abbildung 5‐5). Während Frühwarnsysteme sich nur auf
negative Faktoren konzentrieren, berücksichtigen Früherkennungssysteme ebenfalls
Chancen534. Beide dienen zur rechtzeitigen Erkennung und Abwehr von Risiken, in‐
dem sie anhand von bestimmten internen (z. B. Fluktuation im Management) und
externen (z. B. Zinssätze, Konjunkturindizes) Frühwarnindikatoren, Soll‐Ist‐ und Soll‐
Wird‐Vergleichen sowie Planungshochrechnungen versteckte Risiken durch das Er‐
greifen geeigneter Maßnahmen reduzieren oder ganz vermeiden. Frühwarn‐ und
Früherkennungssysteme werden im operativen Bereich eingesetzt, wohingegen sich

533 Vgl. ROMEIKE/HAGER (2013, S. 105f).


534 Vgl. PFOHL ET AL. (2008b, S. 40).

346
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

die Frühaufklärungssysteme auch für den strategischen Einsatz eignen. Frühaufklä‐


rungssysteme weisen zusätzlich bereits Strategien zur Chancennutzung bzw. zur Ab‐
wehr von Risiken auf. Grundsätzlich kann zwischen drei Generationen von Frühauf‐
klärungssystemen differenziert werden. Die erste Generation beschreibt kennzahlen‐
und hochrechnungsorientierte Frühaufklärungssysteme. Bei der zweiten Generation
handelt es sich um indikatororientierte Frühaufklärungssysteme. Durch den Einsatz
von Frühwarnindikatoren kann bei Unter‐ bzw. Überschreiten festgelegter Grenzen
eine frühzeitige Identifikation potenzieller Supply‐Chain‐Risiken sichergestellt wer‐
den. Im Beschaffungsbereich könnten z. B. eine sinkende Lieferperformance, veränder‐
te Wachstumsprognosen, veränderte Qualität, ein schlechter Zustand der Produkti‐
onsstätte oder eine hohe Fluktuation des Schlüsselpersonals als Frühwarnindikatoren
herangezogen werden. Strategische Frühaufklärungssysteme gelten als dritte Genera‐
tion und ermöglichen die frühzeitige Identifikation latenter Chancen und Risiken in
bisher unbekannten Bereichen. Der Fokus dieser strategischen Frühaufklärungssyste‐
me liegt auf der Identifikation und Einschätzung strategisch bedeutender Informatio‐
nen. Unternehmensindividuelle Frühaufklärungssysteme bilden oftmals den Aus‐
gangspunkt für die Umsetzung unternehmensübergreifender Frühaufklärungssyste‐
me.

Abbildung 5‐5 Frühwarnung, -erkennung und -aufklärung535

Frühaufklärung
Frühzeitige Ortung
von latenten
Risiken und
Chancen
Früherkennung
sowie
Frühzeitige
Ortung von Sicherstellung der
Risiken und Einleitung von
Frühwarnung Strategien und
Chancen
Maßnahmen
Frühzeitige Ortung von
Risiken

Bisherige Methoden zur strategischen Frühaufklärung basieren auf dem Ansoff´schen


Konzept der schwachen Signale, d. h. Diskontinuitäten im technologischen, ökonomi‐
schen, sozialen und politischen Bereich treten nicht zufällig und plötzlich auf, sondern
zeichnen sich durch schwache Signale im Vorfeld ab. Hierbei handelt es sich um un‐
scharf strukturierte, schlecht definierte Informationen, die mit geringer werdender

535 In Anlehnung an KRYSTEK/MÜLLER‐STEWENS (1993, S. 21).

347
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Entfernung des Ist‐Zeitpunktes zum Zeitpunkt des vermuteten Risikoeintritts immer
stärker werden und somit den Handlungsspielraum des Unternehmens tendenziell
einengen. Schwache Signale werden häufig als ein Gefühl empfunden, das auf Bedro‐
hungen oder Chancen hinweist, aber für das Unternehmen nicht direkt feststellbar ist.
Dies können beispielsweise Tendenzen der Rechtsprechung und Gesetzgebung oder
die Verbreitung von neuartigen Ideen sein. Die Herausforderung für Unternehmen
besteht dementsprechend in der frühzeitigen Wahrnehmung solcher Signale, um un‐
mittelbar nach Eintritt von Diskontinuitäten strategische Maßnahmen einleiten zu
können536.

Die Fehlerbaumanalyse ist eine Top‐Down‐Methode, bei der für ein vorgegebenes,
unerwünschtes Primärereignis in Form einer Baumstruktur alle Möglichkeiten in
Form von Sekundärereignissen untersucht werden, die zu diesem primären Störereig‐
nis führen können. Dieser Prozess wird wiederholt und dabei werden alle sekundären
Störereignisse als primäre Störereignisse aufgefasst, sodass eine weitergehende Auf‐
spaltung erfolgt. Diese Vorgehensweise wird solange wiederholt, bis keine weitere
Differenzierung bezüglich neuer Störereignisse möglich ist. Die kausalen Zusammen‐
hänge zwischen Kombinationen von Ereignissen werden dabei mit Hilfe von logischen
Verknüpfungen ausgedrückt. Bei der ODER‐Verknüpfung tritt das Ausgangsereignis
ein, sobald mindestens ein Eingangsereignis vorliegt. Der Ausgang der UND‐
Verknüpfung ist genau dann wahr, wenn alle seine Eingangsereignisse wahr sind. Zu
beachten ist, dass das initiale Störereignis nicht zu allgemein gewählt wird, da dann
die Fehlerbaumanalyse schnell sehr komplex werden kann. Ist hingegen das initiale
Störereignis zu speziell gewählt worden, dann können wichtige Fehlerquellen überse‐
hen werden. Weiterhin bleibt bei der Fehlerbaumanalyse die Quantifizierung der Ein‐
trittswahrscheinlichkeit für das primäre Störereignis oftmals ungenau, da die Wahr‐
scheinlichkeiten für die sekundären Störereignisse nur sehr unsicher geschätzt werden
können. Auch ist der personelle Aufwand als sehr hoch einzuschätzen.
Im Bereich der Kreativitätsmethoden in der Kategorie der Suchmethoden werden
Brainstorming, Synektik, Delphi‐Methode und Social Media vorgestellt. Beim Brain‐
storming, als älteste und bekannteste Technik zur Ideenfindung im Team, steht die
freie Ideenäußerung einer Gruppe von Teilnehmern im Fokus. Brainstorming sollte
mit vier bis maximal zehn Teilnehmern durchgeführt werden. Wesentliches Kennzei‐
chen von Brainstorming ist die assoziative und nicht bewertete Sammlung von mög‐
lichst vielen, spontanen Äußerungen zu möglichen Risiken. Die Vermeidung unnöti‐
ger Diskussionen, die Ausschaltung gedanklicher Blockaden sowie die Ausgrenzung
restriktiver Äußerungen tragen wesentlich zur Qualität der Ergebnisse bei. Wichtig ist,
dass beim Brainstorming keine Kritik ausgesprochen werden darf, da es sich um das
wertungsfreie Sammeln möglicher Risiken handelt. Die Vorteile des Brainstormings
liegen neben der einfachen und kostengünstigen Umsetzbarkeit auch in der Generie‐
rung neuer Lösungsmöglichkeiten. Allerdings ist die Selektion geeigneter Ideen häufig
mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden. Das Ergebnis der Methode wird zu‐

536 Vgl. KRYSTEK (2015, S. 341f).

348
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

dem maßgeblich von der heterogenen Zusammensetzung der Teilnehmer beeinflusst.


Als nachteilig kann sich die eventuell zu schnelle Fokussierung der Gruppe auf einen
bestimmten Risikobereich erweisen.

Bei der Synektik handelt es sich um ein Instrument zur Risikoidentifikation, bei der
scheinbar zusammenhangslose und irrelevante Elemente in den Prozess eingebracht
werden. Nachdem im ersten Schritt das Problem definiert und analysiert wurde, er‐
folgt anschließend die Eruierung von spontanen Lösungsvorschlägen, mit denen Ana‐
logien gebildet und auf das Problem übertragen werden. Somit erfolgt eine schrittwei‐
se Verfremdung der ursprünglichen Problemstellung durch Bildung von Analogien.
Durch die sachliche Distanz zu bereits bekannten Problemlösungen bewirkt die Sy‐
nektik eine Überwindung herkömmlicher Denkstrukturen, sodass neue Lösungsansät‐
ze entwickelt werden können537.

Die Delphi‐Methode basiert auf einem mehrstufigen Befragungsverfahren, bei dem


der individuelle Wissensstand ausgewählter Experten im Rahmen wiederholender
Durchläufe durch Fragebögen anonym erhoben wird. Durch die anonyme Befragung
werden störende Einflüsse, wie z. B. Gruppendruck und die subjektive Beeinflussung
besonders dominanter Teilnehmer vermieden. Ferner entfällt der Aufwand für die
Koordination der verschiedenen Experten über gemeinsame Arbeitstreffen durch die
schriftliche Bearbeitung des Fragebogens. Die Auswertung der Fragebögen jedes
Durchgangs erfolgt mit Hilfe von statistischen Verfahren und wird zu Beginn des
folgenden Durchgangs jedem der beteiligten Experten mitgeteilt. Die Rückmeldung
der Ergebnisse der einzelnen Befragungsrunden an die Teilnehmer erlaubt den Exper‐
ten eine Modifikation ihrer bisherigen Einschätzungen im Rahmen nachfolgender
Befragungsrunden. Eine Wiederholung des Rückkopplungsprozesses findet so lange
statt, bis ein gemeinsamer Konsens zwischen den Experten bzw. ein zuvor definiertes
Abbruchkriterium erreicht wird538. Dieser mehrstufige Erhebungsprozess ist mit ei‐
nem erheblichen Zeitaufwand verbunden, der sich gleichzeitig auch negativ auf die
Motivation der Teilnehmer auswirken kann. Ein weiterer Nachteil der Delphi‐
Methode besteht darin, dass sich beim Prozess der Konsensbildung die Einschätzun‐
gen der Experten durchsetzen, die besonders stark von ihrer Aussage überzeugt sind.
Auch lässt sich nicht verhindern, dass Experten unter Umständen ihre wahre Ein‐
schätzung nicht preisgeben, um nicht den anderen Teilnehmern zu einem Vorteil zu
verhelfen.

Mit Social Media wird eine Vielfalt digitaler Medien und Plattformen bezeichnet, die
einen Austausch von Nutzern ermöglichen, um mediale Inhalte einzeln oder in Ge‐
meinschaft zu gestalten. Social‐Media‐Plattformen wie Xing, Twitter oder Facebook
beherrschen zunehmend die Medienberichterstattung und sind einflussreiche Foren
der digitalen Welt, die das Verhältnis von Verbraucher zu Produkt und Unternehmen
definieren. Unternehmen sollten sich stets darüber informieren, was im Internet über

537 Vgl. ROMEIKE/HUTH (2016, S. 77).


538 Vgl. WATERS (2011, S. 116f).

349
Risikomanagement in der Supply Chain
5
sie und ihre Unternehmensumwelt berichtet wird. Somit ist ein Überblick über bran‐
chenrelevante Bewertungsportale und Foren unverzichtbar. Der Einsatz von Social
Media als eine neue Form der Echtzeit‐Informationsbeschaffung stellt einen wesentli‐
chen Beitrag zur Verbesserung der Risikoidentifikation dar. Das Potenzial von Social
Media lässt sich bzgl. der Funktionen Informationsmanagement (schnelles Finden,
Sammeln, Veröffentlichen und Verteilen von Informationen, Wissensmanagement),
Beziehungsmanagement (Pflege aktueller und Aufbau neuer Kontakte, Aufbau von
Vertrauen) und Interaktion (schnelle Kommunikation und Abstimmung) ermitteln539.
Insbesondere wird das Informationsmanagement für solche Risiken verbessert, die i.
d. R. nicht leicht beschaffbar sind. Auch ermöglicht das Beziehungsmanagement den
Zugang zu Informationen bzgl. Risikoformen, die ohne den Einsatz von Social Media
nicht zu beschaffen sind. Eine schnelle und kosteneffiziente Kommunikation unter‐
stützt auch die Risikoberichterstattung als letzte Phase des Supply‐Chain‐Risiko‐
managementprozesses. Durch eine zunehmende Verfügbarkeit von Echtzeitdaten ist
die Einführung umfangreicherer Frühwarnsysteme ebenfalls denkbar. Mittels intelli‐
genter Mining‐Techniken lassen sich auch große Datenmengen erfassen und für Tie‐
fenanalysen strukturieren. Somit lassen sich Themenfelder, Meinungsäußerungen und
generell die Reputation im zeitlichen Verlauf genau beobachten.

Bei den Instrumenten mit Supply‐Chain‐Charakter wird näher auf den Stress‐Test und
Prozessablaufdiagramme eingegangen. Mit dem Stress‐Test können Unternehmen
Supply‐Chain‐Risiken besser verstehen und nach ihrer Priorität strukturieren. Zu‐
nächst erfolgt eine Identifikation von Schlüssellieferanten und ‐kunden, Lager‐ und
Transportkapazitäten, Standorten der Distributionszentren sowie verwendeten Ver‐
kehrsnetzen. Anschließend werden durch Anwendung der Szenariofragetechnik
(„Was wäre, wenn …“) die Auswirkungen der einzelnen Risikoquellen auf die gesamte
Supply Chain untersucht. Somit kann auch der Grad der Vorbereitung von Unterneh‐
men zur Bewältigung von Supply‐Chain‐Risiken ermittelt werden540. Mit Prozessab‐
laufdiagrammen erfolgt eine Abbildung der Prozesse zwischen den verschiedenen
Supply‐Chain‐Partnern mit standardisierten Symbolen. Die Darstellung der Abhän‐
gigkeiten und Austauschbeziehungen zwischen den Unternehmen erleichtert damit
die Identifikation möglicher Risikoquellen.

Das Ergebnis der Risikoidentifikation stellt ein Risikoinventar dar, welches eine berei‐
nigte, komprimierte Zusammenfassung aller im Verlauf der Risikoanalyse identifizier‐
ten Risiken in der Supply Chain liefert und in Abhängigkeit diverser Kriterien unter‐
schiedlich ausfallen kann (vgl. Tabelle 5‐5). Dieses Risikoinventar wird in der folgen‐
den Phase des Risikomanagementprozesses um eine Risikobewertung ergänzt, um
anschließend Maßnahmen zur Steuerung der Risiken ergreifen zu können.

539 Vgl. HOFFMANN/ROLAND (2013, S. 238).


540 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 38).

350
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

Tabelle 5‐5 Risikoinventar

Kriterium Risikoarten
Entstehungsort der Ressourcenrisiken, Prozess‐ und Steuerungsrisiken,
Risikoquelle Nachfragerisiken, Umfeldrisiken
Umgang mit Risiken Geschäftsrisiken, Ereignisrisiken, Prozessrisiken
Arbeitsrisiken, Personalrisiken, Betriebsmittelrisiken,
Ressource
Werkstoffrisiken, Kapitalrisiken
Planungsrisiken, Beschaffungsrisiken, Herstellungsri‐
Prozessart siken, Lieferrisiken, Entsorgungsrisiken, Risiken des
Befähigens
Beschaffungsrisiken, Produktionsrisiken, Absatzrisi‐
Funktionsbereich
ken, Prozessrisiken, Kontrollrisiken
Logistische Verrich‐ Auftragsabwicklungsrisiken, Lagerhaltungsrisiken,
tung Verpackungsrisiken, Transportrisiken
Materialflussrisiken, Finanzflussrisiken, Informations‐
Flussrisiken
flussrisiken
Versicherbarkeit Versicherbare Risiken, nicht versicherbare Risiken
Normative Risiken, strategische Risiken, taktische
Entscheidungsebene
Risiken, operative Risiken
Richtung möglicher
Reine Risiken, spekulative Risiken
Zielabweichung
Kumulative Risiken, additive Risiken, singuläre Risi‐
Art der Risikowirkung
ken
Ausmaß der Bagatellrisiken, kleine Risiken, mittlere Risiken, große
Konsequenzen Risiken, Katastrophenrisiken
Messbarkeit Messbare Risiken, nicht messbare Risiken

5.4.3 Bewertung von Supply-Chain-Risiken


Die Aufgabe der Risikobewertung ist die Bewertung der Ursachen und Auswirkungen
der gesammelten Risiken sowie ihrer Wirkungszusammenhänge, um die von ihnen
ausgehende Gefahr für die Zielerreichung auf der Ebene des Unternehmens und der
Supply Chain einzuschätzen. Grundsätzlich werden an die Risikobewertung gewisse
Anforderungen gestellt. Dazu gehören Aktualität, Wirtschaftlichkeit, Objektivität
sowie Interpretierbarkeit. Demnach sollte die Risikobewertung regelmäßig in einem
angemessenen Kosten‐Nutzen‐Verhältnis und nach Möglichkeit ohne subjektive Ein‐
schätzungen erfolgen. Außerdem ist eine sinnvolle Interpretierbarkeit der Risikomaße
zu gewährleisten.

351
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Bei der Bewertung von Risiken ist zunächst eine Analyse der Interdependenzen zwi‐
schen Risikoursache und Zielerreichung notwendig. Im Rahmen der Ursachenanalyse
werden einzelne Risikoursachen ermittelt und auf ihre Beeinflussbarkeit durch die
Supply Chain untersucht. Im Hinblick auf mögliche direkte bzw. indirekte Wirkungen
der Risiken auf die Zielerreichung muss die isolierte Wirkung einzelner Risikoursa‐
chen ebenso betrachtet werden wie die aggregierte Wirkung mehrerer Risikoursachen.
Ferner müssen die Auswirkungen von Supply‐Chain‐Risiken auf die Zielerreichung
sowohl einzelner Unternehmen als auch der gesamten Wertschöpfungskette berück‐
sichtigt werden. Somit müssen bezüglich der Wirkung risikofördernder Faktoren
unterschiedliche Reichweiten in Betracht gezogen werden. Darüber hinaus ist zu be‐
achten, dass risikofördernde Faktoren innerhalb der Wertschöpfungskette ihren Ur‐
sprung in verschiedenen Unternehmen haben können. Entsprechend ist die Wir‐
kungsweise zwischen den verschiedenen Risiken zu überprüfen, d. h. es muss zwi‐
schen singulären, additiven oder kumulativen Risiken unterschieden werden. Eine
gründliche Analyse der Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen schafft Transparenz über die
Risikosituation und bildet die Grundlage für eine präzise Bewertung der Risiken541.

Abbildung 5‐6 Risikoportfolio auf Unternehmensebene

… A ‐ Risiko
… B ‐ Risiko

sehr … C ‐ Risiko
Eintrittswahrscheinlichkeit in %

hoch … bewertetes Risiko

hoch

mittel

gering

sehr
gering
Schadensausmaß in €
unbe‐ gering mittel schwer‐ existenz‐
deutend wiegend bedro‐
hend

Die Ansätze zur Bewertung berücksichtigen die Eintrittswahrscheinlichkeit und die


Schadenshöhe der Risiken in Unternehmen und der Supply Chain. Im Hinblick auf die
letztendliche Steuerung der Risiken ist diese Quantifizierung notwendig. Während
finanzwirtschaftliche Größen relativ leicht messbar sind, ist dies für leistungswirt‐
schaftliche Größen häufig nicht der Fall. Mangelt es zur Quantifizierung an messbaren
Größen, können sowohl die Erwartungswerte als auch die Schadenshöhe anhand
qualitativer verbaler Abstufungen subjektiv geschätzt werden. Um den Einfluss indi‐
vidueller Risikomaßstäbe zu senken, werden Risikoworkshops mit möglichst vielen

541 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 42f).

352
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

Mitarbeitern empfohlen. Die identifizierten Risiken können nach dem Gefährdungspo‐


tenzial geordnet und in einem Risikoportfolio abgebildet werden (vgl. Abbildung 5‐6).
Jedes Risiko wird darin als Koordinatenpunkt aus seiner normierten Bewertung von
Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe dargestellt. Somit kann eine Priorisie‐
rung der Risiken mit der Zielsetzung erfolgen, den Aufwand der Risikosteuerung der
Bedeutung des jeweiligen Risikos anzupassen. Die einzelnen Risiken werden nach
ihrer Priorität in A‐, B‐ und C‐Risiken eingeteilt. A‐Risiken stellen für die Berichterstat‐
tung relevante Risiken dar, die in der Steuerungsverantwortung des Top Manage‐
ments liegen und einen sofortigen Handlungsbedarf auslösen. Bei B‐Risiken handelt es
sich um für die Berichterstattung eventuell relevante Risiken, die in der Steuerungs‐
verantwortung der operativen Geschäftseinheiten liegen. Eine weitere Informationsbe‐
schaffung zur Entscheidung für Handlungen ist somit notwendig. Kein unmittelbarer
Handlungsbedarf und keine Berichtspflicht besteht bei C‐Risiken, jedoch erfolgt eine
weitere Beobachtung der Risikoentwicklung durch die verantwortliche organisatori‐
sche Einheit.

Zu Beginn werden Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß der Risiken von


Experten geschätzt. Um eine Entscheidungshilfe zu geben und eine Vergleichbarkeit
zwischen Unternehmen zu gewährleisten, wird in Tabelle 5‐6 ein einheitlicher Bewer‐
tungsmaßstab für Risiken festgelegt. Zwischen Risiken bestehen Wechselwirkungen.
Deshalb sollten bei der Bewertung der Gesamtrisikoposition eines Unternehmens
Korrelationen erfasst werden. Bei der Aggregation von Risiken bietet es sich an, ihre
Abhängigkeiten mithilfe einer Interdependenzanalyse zu berücksichtigen.

Tabelle 5‐6 Bewertungsmaßstäbe für Risiken

Eintrittswahrscheinlichkeit Schadensausmaß

Risiko bisher nicht Bagatellrisiko, Risikoeintritt ohne


1 = sehr
eingetreten, aber nicht 1 = unbedeutend Auswirkungen auf Unterneh‐
gering
auszuschließen menswert

Seltener Eintritt (inner‐ Der Eintritt des Kleinrisikos


2 = gering halb von 8 Jahren zu 2 = gering zwingt zur Änderung von Mit‐
erwarten) teln und Wegen

Möglicher Eintritt Risikoeintritt erzwingt mittelfris‐


3 = mittel (innerhalb von 3 Jahren 3 = mittel tige Änderung der Unterneh‐
zu erwarten) mensziele

Häufiger Eintritt (in‐ Eintritt des Großrisikos erzwingt


4 = schwer‐
4 = hoch nerhalb eines Jahres zu kurzfristige Änderung der Un‐
wiegend
erwarten) ternehmensziele

Sehr häufiger Eintritt


5 = sehr 5 = existenz‐ Unternehmensexistenz ist ge‐
(innerhalb eines halben
hoch bedrohend fährdet
Jahres zu erwarten)

353
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Mit zunehmender Digitalisierung der Wertschöpfungskette und der damit zusammen‐
hängenden Vernetzung und Automatisierung resultiert eine erhöhte Datenver‐
fügbarkeit, sodass eine genauere Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit und
Schadenshöhe von Supply‐Chain‐Risiken möglich ist. Außerdem erlauben zunehmend
umfassendere technologische Möglichkeiten eine effiziente Auswertung von Big Data
und können auf diese Weise zur Verbesserung der Bewertung von Supply‐Chain‐Risi‐
ken beitragen.

Für die Auswahl der für die Risikobewertung relevanten Supply‐Chain‐Risiken müs‐
sen Wesentlichkeitsgrenzen festgelegt werden, die eine Klassifizierung dieser Risiken
hinsichtlich ihres Risikogrades ermöglichen. Bei Ermittlung der gesamten Risikotrag‐
fähigkeit aller an der Supply Chain beteiligten Unternehmen sind Unterschiede der
einzelnen Akteure bezüglich ihrer Risikotragfähigkeit und ‐bereitschaft zu berücksich‐
tigen. Weiterhin ist zu beachten, dass mit einer zunehmenden Anzahl der an der Wert‐
schöpfungskette beteiligten Partner aufgrund ausreichender Alternativen im Scha‐
densfall die Bedeutung der jeweiligen Risikotragfähigkeit einzelner Unternehmen
verringert wird. Die abgestimmte Wesentlichkeitsgrenze und maximale Risikotragfä‐
higkeit auf Supply‐Chain‐Ebene sollten die Grundlage für Unternehmen zur Festle‐
gung der individuellen Wesentlichkeitsgrenze in ihrem jeweiligen Risikoportfolio
bilden. Dadurch könnten individuelle Risiken der Unternehmen vor gemeinsamer
Betrachtung auf Supply‐Chain‐Ebene bereits hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die
gesamte Wertschöpfungskette bewertet werden542.

Bei der Bewertung von Supply‐Chain‐Risiken kann zwischen einer Risikobewertung


mit Supply‐Chain‐Orientierung, einer Risikobewertung in der Supply Chain sowie
einer netzwerkweiten Risikobewertung unterschieden werden (vgl. Tabelle 5‐2). Die
Risikobewertung mit Supply‐Chain‐Orientierung konzentriert sich lediglich auf die
Risikobewertung im eigenen Unternehmen, sodass nur unternehmensübergreifende
Risiken in den Katalog potenzieller Risiken mitaufgenommen werden. Auf diese Wei‐
se ist für Unternehmen eine umfassendere Berücksichtigung von Risiken möglich,
ohne dabei Anpassungen des eigenen Risikobewertungsprozesses vornehmen zu
müssen. Jedoch verursacht diese Form der Bewertung, bei der keine anderen Unter‐
nehmen einbezogen werden, höhere Informationsasymmetrien sowie einen höheren
Aufwand bei der Beschaffung notwendiger Informationen.

Eine auf gegenseitigen Informationsaustausch basierende Zusammenarbeit mit dem


jeweiligen Partnerunternehmen, bei dem Informationsasymmetrien reduziert werden
können, führt zu einer Risikobewertung in der Supply Chain. Beide Partner‐
unternehmen sollten gemeinsam diejenigen Risiken festlegen, die zu einer bestands‐
gefährdenden Situation für die Supply Chain führen könnten und aus diesem Grund
eine genauere Betrachtung erfordern. Ebenso sollte eine gemeinsame Wesentlich‐
keitsgrenze ermittelt werden. Im Gegensatz zu einer gemeinsamen Bewertung erfolgt
bei einer Risikobewertung mit dualem Bewertungsprozess eine separate Bewertung

542 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 46).

354
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

der festgelegten Risiken, jedoch liegen den Bewertungen deutlich umfangreichere


Informationen zugrunde als bei einer Risikobewertung mit Supply‐Chain‐Orien‐
tierung.

Durch eine gemeinsame Aggregation der Risiken auf Supply‐Chain‐Ebene kann auch
die relative Bedeutung der Einzelrisiken unter Berücksichtigung von Wechsel‐
wirkungen ermittelt werden. Wird eine Aggregation der Risiken zunächst nur im
jeweiligen Unternehmen und anschließend unternehmensübergreifend vorgenommen,
dann kann zwar die Risikoposition der Partnerunternehmen im Supply‐Chain‐Kontext
ermittelt werden, jedoch ist die Berücksichtigung von Supply‐Chain‐Wechsel‐
wirkungen nur durch erneute Betrachtung der Einzelrisiken möglich. Die Vorteile
einer Risikobewertung mit dualem Bewertungsprozess liegen in der gegenseitigen
Kontrolle der beiden Unternehmen und in der Berücksichtigung von Risiken, die erst
im Supply‐Chain‐Kontext eine relevante Bedrohung für das eigene Unternehmen
darstellen können. Nachteile ergeben sich durch eine separate Risikobewertung in den
Unternehmen sowie durch einen erheblichen Kommunikationsaufwand. Bei der Risi‐
kobewertung mit einem Bewertungsprozess legen die Partnerunternehmen den Fokus
auf eine gemeinsame Vorselektion, Bewertung und Aggregation der Risiken. Dabei
sollte für den Zeitraum der Zusammenarbeit ein festes Team aus Mitarbeitern beider
Unternehmen eingerichtet werden, das von Beginn an Wechselwirkungen bei den
Risiken in die Bewertung einbezieht und durch einen ständigen Informationsaus‐
tausch die Reduzierung von Informationsasymmetrien ermöglicht. Bei mehr als zwei
Unternehmen muss die Betrachtung der Risikobewertung auf das gesamte Wertschöp‐
fungsnetzwerk ausgedehnt werden. Grundsätzlich kommen für den Ablauf der Be‐
wertungsprozesse dieselben Überlegungen zum Tragen wie im obigen Fall, wobei
durch die zunehmende Anzahl beteiligter Unternehmen höhere Transaktionskosten
und steigender Koordinationsaufwand berücksichtigt werden müssen. Die netzwerk‐
weite Risikobewertung erfordert daher nicht nur den Einsatz einer übergeordneten
Instanz zur Steuerung und Kontrolle des gesamten Prozesses, sondern auch vertrau‐
ensaufbauende Maßnahmen zur Förderung eines weitestgehend offenen Datenaustau‐
sches zwischen den Partnern in der Supply Chain543.

Während der Risikobewertung müssen kumulative, additive und singuläre Effekte


berücksichtigt werden, die bei der Aggregation von Einzelrisiken zu Gesamtrisiken
auftreten. Unter kumulativen Effekten sind negative Verstärkungen von isoliert be‐
trachteten Risiken zu verstehen, die zu einem stärkeren Schadenspotenzial führen.
Anfänglich als nebensächlich identifizierte Risiken können so ggf. zu einer existenz‐
bedrohenden Gefahr werden, z. B. indem der Ausfall einer Betriebseinrichtung beim
Lieferanten erhebliche Lieferausfälle beim betrachteten Unternehmen nach sich zieht.
Additive Risiken können nur gemeinsam schwere Schäden verursachen, da sie alleine
im Normalfall keinen negativen Einfluss auf das Unternehmen haben. Die singulären
Effekte beziehen sich auf Risiken mit lokal begrenztem Wirkungsbereich und sind in

543 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 47‐50); GÖTZE/MIKUS (2015, S. 46).

355
Risikomanagement in der Supply Chain
5
der Supply Chain daher von geringer Bedeutung544. Allgemein ist die Risikoaggrega‐
tion für identische Risikofaktoren (z. B. Vergleich von Rohölpreisen) unproblematisch
und kann durch reine Addition der Risikowerte erfolgen. Bei unterschiedlichen Risiko‐
faktoren (z. B. Vergleich Rohöl und Kupfer) ist eine Risikoaggregation nicht so einfach
möglich. Unter Zuhilfenahme der Monte‐Carlo‐Simulation kann speziell für solche
Fälle die Gesamtrisikoposition unter Beachtung der Wirkungszusammenhänge der
Einzelrisiken bestimmt werden. Die durch Zufallszahlen generierten Risikoparameter
basieren auf historischen Daten oder auf theoretisch abgeleiteten Verteilungsannah‐
men. Unter Umständen wird somit der Fehler begangen, dass Vergangenheitswerte
extrapoliert werden, was mit dem unsicheren Charakter von Risiken in Konflikt steht.

Die Methoden zur Risikobewertung lassen sich in qualitative, semi‐quantitative und


quantitative Ansätze unterteilen. Bei qualitativen Methoden werden zur Bewertung
von Risiken subjektive Einschätzungen herangezogen. Semi‐quantitative Methoden
können sowohl für die qualitative als auch für die quantitative Risikobewertung ein‐
gesetzt werden (vgl. Tabelle 5‐7). Dagegen werden bei den quantitativen Methoden
zur Risikobewertung statistisch erhobene Daten zugrunde gelegt. Die Kombination
mehrerer Methoden ist häufig sinnvoll, wobei insbesondere bei einer Risikobewertung
in der Supply Chain gleiche Risikoarten mit gleichen Messmethoden und Kennzahlen
zu analysieren sind.

Tabelle 5‐7 Methoden der Risikobewertung545

Semi‐Quantitative
Qualitative Methoden Quantitative Methoden
Methoden
Schätzungen Fehlermöglichkeits‐ und
Expertenbefragungen Einflussanalyse Value at Risk
Delphi‐Methode Fehlerbaumanalyse
Klassifizierung Ereignisbaumanalyse
Risikosimulation
Risikoportfolios Entscheidungsbaumanalyse
Szenarioanalyse Scoring Modelle
Sensitivitätsanalyse
Ishikawa‐Diagramm Analytic Hierarchy Process

Im Bereich der qualitativen Methoden kommen in der Praxis häufig Risikoportfolios


zum Einsatz. Obwohl sich die Anwendung von Risikoportfolios in der Unternehmens‐
praxis bewährt hat, verhindern Unterschiede hinsichtlich der Risikotragfähigkeit zwi‐
schen den beteiligten Unternehmen und die damit einhergehende fehlende Möglich‐
keit der Festlegung einer einheitlichen Wesentlichkeitsgrenze eine analoge Anwen‐

544 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 23).


545 In Anlehnung an PFOHL ET AL. (2008a, S. 51).

356
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

dung auf Supply‐Chain‐Ebene. KAJÜTER regt daher an, Risikoportfolios auf der Unter‐
nehmensebene (vgl. Abbildung 5‐6) zu erstellen und anschließend die Ergebnisse auf
der Supply‐Chain‐Ebene in ein Portfolio mit den Achsen „Unternehmensrisiko“ und
„Einfluss auf die Netzwerkpartner“ zu übertragen546. Der Einfluss einzelner Unter‐
nehmensrisiken auf die Netzwerkpartner muss im Rahmen einer gemeinsamen Analy‐
se von den an der Supply Chain beteiligten Unternehmen ermittelt werden. Dieses
Risikoportfolio auf Supply‐Chain‐Ebene soll dazu beitragen, die Bedeutung der in den
Unternehmen individuell ermittelten Risiken aus unternehmensübergreifender Sicht‐
weise zu bewerten und gleichzeitig einen Überblick über die für die Supply Chain
relevanten Risiken zu schaffen (vgl. Abbildung 5‐7). Ausgehend von einer standardi‐
sierten Risikobewertung auf Unternehmensebene berücksichtigt das Supply‐Chain‐
Risikoportfolio zwar die kumulativen Effekte der Risiken, jedoch bleiben Wechselwir‐
kungen zwischen den verschiedenen Supply‐Chain‐Risiken im Portfolio unberücksich‐
tigt. Eine Berücksichtigung ist jedoch erforderlich, wenn die Gesamtwirkung mehrerer
Risikoursachen ermittelt werden soll. Für diese komplexe Aufgabe kann z. B. die auf‐
wändige Risikosimulation aus dem Bereich der quantitativen Methoden herangezogen
werden.

Abbildung 5‐7 Risikoportfolio auf Supply-Chain-Ebene


Einfluss auf die Netzwerkpartner

… hohe Relevanz
hoch
(A‐ Risiken) … mittlere Relevanz

mittel … geringe Relevanz


(B‐ Risiken) … Risiken der
Netzwerkpartner
gering
(C‐ Risiken)
Unternehmensrisiken
C‐ B‐ A‐
Risiken Risiken Risiken

Die Scoring‐Modelle aus der Kategorie der semi‐quantitativen Methoden gehören zu


den Punktbewertungsverfahren, die eine Gewichtung der Auswahlkriterien gemäß
ihrer jeweiligen Bedeutung für den Entscheidungsträger ermöglichen. Somit kann eine
aggregierte Bewertung unterschiedlicher Einzelrisiken vorgenommen werden. Bei‐
spielsweise können die mit einem Partner in der Supply Chain verbundenen Risiken
bzgl. Liefertreue, Qualität oder finanzieller Stabilität mit Punkten bewertet werden.
Gemäß der Bedeutung für den Abnehmer wird jedes Auswahlkriterium mit einem
objektivierten Gewicht (z. B. zwischen 0 und 1) versehen, das mit dem Punktwert

546 Vgl. KAJÜTER (2003, S. 121).

357
Risikomanagement in der Supply Chain
5
multipliziert wird. Durch Addition der gewichteten Punktwerte ergibt sich ein Sco‐
ring‐Index, der als Entscheidungsgrundlage dient.

Als quantitative Methoden können zur Bewertung von Supply‐Chain‐Risiken z. B. die


Monte‐Carlo‐Simulation oder der Value at Risk verwendet werden. Die häufig einge‐
setzte Monte‐Carlo‐Simulation greift dabei auf speziell für die Simulation generierte
Zufallszahlen zurück, um die zukünftige Entwicklung der Risikofaktoren zu ermitteln.
In der Unternehmenspraxis werden Monte‐Carlo‐Simulationen sowohl mit speziellen
Softwarelösungen wie Opture, Strategie Navigator oder Crisam als auch in MS Excel
durch entsprechende Add‐Ins wie Crystall Ball oder @Risk durchgeführt547. Mit dem
Value at Risk erfolgt die Angabe der Schadenshöhe (ökonomischer Höchstschaden),
die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (z. B. 99%) innerhalb eines Zeitraums
nicht überschritten wird. Es kann sich z. B. um den potenziellen Verlust durch das
vom betrachteten Partner in der Supply Chain ausgehende Finanzrisiko handeln,
welches mit einer vorgegebenen Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres nicht über‐
schritten wird. Ein wesentlicher Nachteil dieses Risikomaßes besteht darin, dass nur
die Ausfall‐ bzw. Verlustwahrscheinlichkeit in die Risikomessung eingeht und nicht
die Ausfall‐ bzw. Verlusthöhe.

5.4.4 Steuerung von Supply-Chain-Risiken


Im Prozessschritt Risikosteuerung, der aus der Generierung, Auswahl und Implemen‐
tierung geeigneter Risikohandhabungsstrategien und risikopolitischer Maßnahmen
besteht, werden die bereits identifizierten und bewerteten Risiken aktiv beeinflusst,
um das Gesamtrisiko der Wertschöpfungskette zu begrenzen und ein ausgewogenes
Risiko‐Chancen‐Verhältnis zu erhalten. Unter einer Strategie wird im Folgenden die
grobe Stoßrichtung einer geplanten Intervention verstanden. Maßnahmen, die sowohl
strategischen als auch taktisch‐operativen Charakter haben können, stellen dagegen
konkrete Risikosteuerungsinstrumente dar, die sowohl mittel‐ als auch unmittelbar
zur Umsetzung einer solchen Strategie dienen. Sie bewirken die Risikoreduktion mit‐
tels festgesetzter Verantwortlichkeiten und Termine. Eine entscheidende Rolle spielt
außerdem erneut die Risikostrategie von Unternehmen, mit der die risikopolitischen
Maßnahmen im Einklang stehen müssen.

547 Vgl. KAMARÁS/WOLFRUM (2017, S. 293).

358
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

Abbildung 5‐8 Risikosteuerungsstrategien

Vermeidung
Verminderung
EW Verminderung
SH
Diversifikation
Übertragung
Übernahme

Rest‐
risiko

Ursachenbezogen:
Reduzierung der Wirkungsbezogen:
Eintrittswahr‐ Reduzierung der Schadenshöhe (SH)
scheinlichkeit (EW)

Die verschiedenen Strategien zum Risikomanagement lassen sich in ursachen‐ und


wirkungsbezogene Ansätze unterscheiden (vgl. Abbildung 5‐8)548. Die ursachen‐
bezogenen Strategien Risikovermeidung und ‐verminderung zielen darauf ab, die
Eintrittswahrscheinlichkeit einer Störung zu verringern oder zu eliminieren und set‐
zen somit am Entstehungsprozess des Risikos an. Die wirkungsbezogenen Strategien
Risikoverminderung, ‐überwälzung, ‐diversifikation und ‐übernahme versuchen die
Schäden und Verluste in Folge eines eingetretenen Ereignisses im Vorfeld zu minimie‐
ren, d. h. die Verfehlung der Unternehmens‐ bzw. Supply‐Chain‐Ziele so gering wie
möglich zu halten.

Durch einen zunehmenden Autonomiegrad der Produktionsressourcen ist eine de‐


zentrale und proaktive Einleitung effektiver Maßnahmen zur Steuerung von Supply‐
Chain‐Risiken möglich. Die Optimierung der Maßnahmenauswahl ergibt sich auch
aus dem mit der zunehmenden Vernetzung der Unternehmen einhergehenden Infor‐
mationsaustausch zwischen den Supply‐Chain‐Partnern. Weiterhin stehen den Unter‐
nehmen durch die digitale Transformation und zielgerichtete Auswertung von Daten
neue Maßnahmen zur Risikosteuerung zur Verfügung. So könnte eine auf objektive
Daten gestützte Einschätzung der Risikolage von Unternehmen die bislang sehr hohen
Kosten für Versicherungsleistungen zur Abdeckung spezifischer Supply‐Chain‐Risi‐
ken senken und damit Unternehmen entsprechende Versicherungsleistungen besser
zugänglich machen549.

548 Vgl. MEIERBECK (2010, S. 34).


549 Vgl. KERSTEN ET AL. (2017, S. 67).

359
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Abbildung 5‐9 Einordnung der Lieferantenauswahl und -bewertung in die
Risikosteuerung550

strategisch taktisch operativ

Vermeidung Lieferantenauswahl permanenter Infor‐


und ‐bewertung mationsaustausch

Lieferantenentwicklung

Verminderung
zeitliche Puffer
Aufbau von Alternativlieferanten in Planung

Sicherheitsbe‐
stände
Übertragung Vertragsstrafe

Notfallplan bei
längerem Ausfall
Übernahme

Eine Maßnahme zur Risikosteuerung kann u. U. mehrere Risiken gleichzeitig steuern,


während umgekehrt auch mehrere Maßnahmen zur Bewältigung eines einzelnen
Risikos in Frage kommen. Wie Abbildung 5‐9 zeigt, werden die Lieferantenauswahl
und ‐bewertung dem strategisch‐taktischen Bereich zugeordnet und dienen in erster
Linie der Vermeidung bzw. Verminderung von Versorgungsrisiken. Die Auswahl
einer effektiven Maßnahmenkombination wird infolgedessen als schwierig erachtet.
Somit bietet sich eine sukzessive Risikosteuerung an, bei der die risikopolitischen
Maßnahmen nacheinander eingesetzt und die verbleibenden Restrisiken jeweils auf
der nachfolgenden Stufe behandelt werden551.

Die Maßnahmen zur Risikovermeidung setzen durch das Vermeiden riskanter Hand‐
lungen auf eine vollständige Beseitigung der Eintrittswahrscheinlichkeiten von Risi‐
koursachen. Diese Strategie kann nur in Bezug auf einzelne Risiken langfristigen Cha‐
rakter besitzen, da andernfalls Unternehmen auch auf jegliche Gewinnchancen ver‐
zichten und in einem Umfeld intensiven Wettbewerbs nicht überleben können.
Beispielsweise könnten auf einem politisch instabilen Absatzmarkt Transportrisiken
mittels Eigenfertigung von Produkten oder Lagerrisiken durch eine produktionssyn‐
chrone Beschaffung vermieden werden. Auch wenn ein erhöhtes Transportrisiko
durch eine räumliche Annäherung von Lieferant und Abnehmer reduziert werden
kann, so kommt eine Vermeidung der Lagerhaltung in einem Unternehmen in der

550 In Anlehnung an LOCKER/GROSSE‐RUYKEN (2015, S. 204).


551 Vgl. MEIERBECK (2010, S. 35).

360
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

Regel nur einer Verlagerung der Lagerhaltung auf andere Stufen der Wertschöpfungs‐
kette gleich. Es wird also deutlich, dass die Vermeidung von Risiken oftmals mit Ein‐
bußen im erwarteten Zielerreichungsgrad einhergehen kann.

Den Maßnahmen zur Risikoverminderung, die auf die Reduzierung der Eintrittswahr‐
scheinlichkeit und der Folgen von Störfaktoren auf ein tragbares Niveau abzielen,
kommt eine weitaus größere Bedeutung zu. Ursachenbezogen können Unternehmen
Sicherungsmaßnahmen, wie z. B. regelmäßige Qualitätskontrollen oder die Inspektion
von Produktionsanlagen anwenden. Auch Ansätze zur Planungsgestaltung, die den
Informationsstand des Entscheiders verbessern, fallen unter diese Strategie, wie z. B.
eine sorgfältige Lieferantenauswahl oder Postponement. Weiterhin können Transport‐
und Lagerrisiken reduziert werden, indem die Auswahl von Transportwegen und
Lagerorten unter Berücksichtigung besonderer Rahmenbedingungen in erster Linie
nach Sicherheitsaspekten erfolgt. Auch der Einsatz von RFID‐Technik trägt durch eine
durchgängige Transparenz der Transport‐ und Lagerprozesse in der Supply Chain
dazu bei, die Eintrittswahrscheinlichkeiten von Transport‐ und Lagerschäden zu ver‐
mindern. Eine Verminderung von Transportausfällen kann beispielsweise durch die
Nutzung geeigneter Verpackungsformen oder eine Verteilung der Güter auf verschie‐
dene Transportmittel erfolgen. Konzepte wie Efficient Consumer Response oder Col‐
laborative Planning Forcasting and Replenishment, die eine partnerschaftliche Zu‐
sammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette unterstützen, können La‐
gerrisiken vermindern552. Wirkungsbezogene Maßnahmen zur Risikoverminderung
reagieren nach dem Risikoeintritt und bestehen im Schaffen von Redundanzen, wie
z. B. durch das Vorhalten von Lagerbeständen oder Pufferzeiten, was allerdings auch
zu höheren Kosten führt. In einem Brandfall könnten auch Sprinkleranlagen den mög‐
lichen Schaden verringern.

Eine Risikodiversifikation bzw. Risikostreuung liegt vor, wenn Diversifikationseffekte


durch die Zerlegung unternehmerischer Aktivitäten in mehrere Teilprozesse ausge‐
nutzt werden. Das Teilen einer unternehmerischen Aktivität in mehrere Bereiche führt
zur Reduktion der Schadenshöhe und Erhöhung der Eintrittswahrscheinlichkeit. Dies
kann durch Ausweitung der Tätigkeiten auf verschiedene Geschäftsfelder, Produkte,
Lagerorte, Dienstleistungen, Lieferanten etc. erfolgen. Folglich eignet sich diese Maß‐
nahme gerade für die Anwendung in Wertschöpfungsnetzwerken, für die eine Auftei‐
lung des Leistungserstellungsprozesses auf die an der Supply Chain beteiligten Un‐
ternehmen charakteristisch ist. Damit erfolgt durch die Festlegung der Lieferanten‐,
Produktions‐ und Lagerstruktur der Supply Chain bereits bei der Gestaltung des
Wertschöpfungsnetzwerkes eine gewisse Form der Risikostreuung. Bei der Entschei‐
dung über die Vergabe von Leistungen an bestimmte Unternehmen sollten daher
potenzielle Risikofaktoren mitberücksichtigt werden. Die Risikostreuung zielt auch
auf eine Aufrechterhaltung loser Beziehungen zu weiteren Lieferanten ab, um im

552 Vgl. SKORNA ET AL. (2012, S. 265).

361
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Fehlmengenfall die kurzfristige Nutzung sekundärer Bezugsquellen zu gewährleis‐
ten553.

Die Risikoübertragung bzw. Risikoüberwälzung dient zur Übertragung der Risiken


auf Versicherungen oder Geschäftspartner, z. B. indem die Verantwortung für das
Management von Lagerbeständen an den Zulieferer transferiert wird. Hierzu zählt
auch die Weitergabe von Risiken durch vertragliche Mechanismen oder engere Zu‐
sammenarbeit. Eine Übertragung von Risiken auf Versicherungsunternehmen setzt die
Versicherbarkeit des betrachteten Risikos voraus, d. h. dass i. d. R. nur reine Risiken
(z. B. Brand, Unfall, Sturm) im Gegensatz zu spekulativen Risiken (z. B. Kapitalmarkt‐
risiken) versicherbar sind. Bei dieser Risikosteuerungsstrategie spielt die Macht‐
position des Unternehmens eine entscheidende Rolle. Eine Übertragung sämtlicher
Risiken auf potenziell schwächere Vertragspartner ist nicht mit dem Grundgedanken
eines ganzheitlichen Supply‐Chain‐Risikomanagementprozesses vereinbar. Dement‐
sprechend sollte unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Risikotragfähigkeit
und ‐bereitschaft einzelner Unternehmen eine Risikoübertragung zwischen den betei‐
ligten Unternehmen in einem Wertschöpfungsnetzwerk erfolgen554. Eine Übertragung
von Risiken kann auch durch sog. Captives erfolgen. Diese speziellen Versicherungs‐
unternehmen, die sowohl von einem einzigen Unternehmen als auch von einer Grup‐
pe von Unternehmen gegründet werden können, übernehmen die Risiken des Unter‐
nehmens bzw. der Gruppe von Unternehmen. Insbesondere bei der Absicherung von
Extremrisiken ist der Einsatz von Captives im Vergleich zu den bestehenden risikopo‐
litischen Maßnahmen der internen Selbstversicherung bzw. Fremdversicherung dann
sinnvoll, wenn entsprechende individuelle Ausgestaltungen der Captives vorgenom‐
men werden555.

Falls die Steuerung eines Risikos mittels der oben genannten Strategien unmöglich
oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht sinnvoll erscheint, kann sich das Unterneh‐
men bewusst für die Risikoübernahme entscheiden. Im Rahmen der Risikoselbsttra‐
gung erfolgt eine bewusste Akzeptanz der Auswirkungen von Supply‐Chain‐Risiken,
wobei zu beachten ist, dass diese keinesfalls die Risikotragfähigkeit des Unternehmens
übersteigt. Die Akzeptanz von Risiken verlangt vom Unternehmen eine Vorhaltung
finanzieller, personeller und güterbezogener Reserven zur Abdeckung von potenziel‐
len Schäden. Dazu zählen unter anderem die Steigerung der Flexibilität, wie z. B. die
Verwendung von Universalmaschinen, der Einsatz leicht zu substituierender Materia‐
lien, eine flexible Gestaltung bzw. Steuerung von Prozessen, der Einsatz flexibler Pro‐
duktionskonzepte, die Weiterbildung von Mitarbeitern sowie ein anpassungsfähiger
Bestell‐ und Lagerhaltungsprozess. Weitere Maßnahmen bestehen in der Erhöhung
des Eigenkapitals sowie die Bildung von Rückstellungen und stillen Reserven als
Möglichkeiten die Risikotragfähigkeit des Unternehmens zu verbessern556.

553 Vgl. GÖTZE/MIKUS (2015, S. 50).


554 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 68).
555 Vgl. BOLTZ ET AL. (2013).
556 Vgl. GÖTZE/MIKUS (2015, S. 51).

362
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess

Unfreiwillig getragene Unsicherheiten bedürfen der Bewältigung durch ein reaktives


Krisenmanagement. Im Gegensatz zum proaktiven Krisenmanagement, das sich mit
der Früherkennung und Vorbeugung von Risiken beschäftigt, beinhaltet ein reaktives
Krisenmanagement die Erstellung von ganzheitlichen und cross‐funktionalen Notfall‐
plänen (Contingency Plans) als Verhaltensanweisungen. Zumeist handelt es sich um
kaum wahrscheinliche, aber sehr folgenschwere Risiken. Bei der Erstellung dieser
taktischen Pläne erfolgt zuerst eine Auswahl weniger besonders kritischer Risiken mit
dem Ziel, die Störung durch eine präzise formulierte Strategie so gut wie möglich
auszugleichen. Eine Selektion zu vieler Risiken hätte die kostenintensive Inanspruch‐
nahme von vielen Mitarbeitern und eine langsamere Reaktionszeit zur Folge. Durch
die Angabe von Indikatoren und Warnsignalen (z. B. stark schwankende Verkaufszah‐
len) werden diese Risiken erkannt und entsprechende Notfallpläne kommen zur An‐
wendung.

5.4.5 Kontrolle und Dokumentation von Supply-Chain-


Risiken
Als letzter Schritt des Risikomanagementprozesses werden in der Risikokontrolle die
Ergebnisse aus der Risikoidentifikation, ‐bewertung und ‐steuerung dokumentiert,
kontrolliert und auf Effizienz und Effektivität bzgl. der gewählten Maßnahmen über‐
prüft. Die regelmäßige Aktualisierung der Daten ist eine Notwendigkeit im dynami‐
schen Umfeld moderner Supply Chains. Dieser letzte Schritt stellt die kontinuierliche
Umsetzung des Risikomanagements in einem Regelkreis sicher. Einerseits steht die
Risikoüberwachung in einem engen Verhältnis zur Risikoidentifikation, andererseits
kann sie ggf. die Wiederholung der Risikobewertung und ‐steuerung anstoßen.

Die Risikokontrolle überwacht die bisher durchgeführten Maßnahmen auf Umsetzung


und Erfolg. Dazu wird die aktuelle Risikoposition den im Vorfeld definierten Risiko‐
zielen gegenübergestellt. Darüber hinaus erfolgt sowohl auf Unternehmensebene als
auch auf Supply‐Chain‐Ebene eine fortlaufende Aktualisierung des Risikoportfolios
und damit eine kontinuierliche Überwachung der Risikoentwicklung. Eine mangelhaf‐
te und inkonsequente Umsetzung der Risikokontrolle birgt die Gefahr, dass Maßnah‐
men in ihrer Wirkung verpuffen, da Umsetzung und Risikowirkung nicht überwacht
werden. Die Risikokontrolle umfasst neben der Überwachung der eingeleiteten Maß‐
nahmen auch die Kontrolle des gesamten Supply‐Chain‐Risikomanagementprozesses.
Dabei erfolgt eine Überwachung der Einhaltung von Terminen und Meldegrenzen.
Entsprechende Meldegrenzen, Verantwortlichkeiten, Überwachungszyklen und die
generelle Vorgehensweise bei der Risikokontrolle werden bereits bei Etablierung des
Supply‐Chain‐Risikomanagementprozesses festgelegt. Die Überwachung und Kon‐

363
Risikomanagement in der Supply Chain
5
trolle des Risikomanagementprozesses erfolgen durch verschiedene interne und ex‐
terne Instanzen wie interne Revision, Aufsichtsrat oder zuständige Abschlussprüfer557.

Neben der Steuerungsfunktion umfasst die Risikokontrolle mit der Lernfunktion die
Generierung von Erfahrungswissen, um eine Verbesserung der Informations‐ und
Entscheidungsgrundlage für zukünftige risikopolitische Maßnahmen zu erreichen.
Durch eine gemeinsame Risikokontrolle können Informationsasymmetrien abgebaut
und Vertrauen geschaffen werden. In Bezug auf die Zusammenarbeit der Partnerun‐
ternehmen bei der Risikokontrolle lassen sich allerdings Unterschiede zwischen den
einzelnen Unternehmen feststellen. Der Grad der Zusammenarbeit schwankt zwischen
einer isolierten Betrachtung über eine informelle Kooperation bis hin zu einem ge‐
meinsamen Prozess der Risikokontrolle zwischen den an der Supply Chain beteiligten
Unternehmen.

Zusätzlich zur Risikokontrolle und ‐überwachung ist im Supply‐Chain‐Risikomanage‐


mentprozess auch eine Dokumentation der getroffenen Maßnahmen sowie eine ent‐
sprechende Risikokommunikation notwendig. Eine Dokumentation erfolgt in erster
Linie zur Gewährleistung der dauerhaften und personenunabhängigen Funktionsfä‐
higkeit sowie zu Archivierungszwecken. Die Risikokommunikation dient der Bericht‐
erstattung an die jeweils zuständigen Entscheidungsträger. Ein Überschreiten der auf
jeder Stufe der Risikokommunikation festgelegten Schwellenwerte führt zu einer un‐
verzüglichen Berichtspflicht dieser Risiken. Bei Eilbedürftigkeit ist zudem die Funkti‐
onsfähigkeit der Ad‐hoc Berichterstattung sicherzustellen, indem durch parallelisierte
Berichtsstrukturen und ‐wege Zeitverzögerungen bei der Übermittlung verhindert
sowie institutionalisierte Kommunikationswege und die Periodizität der Berichterstat‐
tung umgangen werden können. Um die Funktionsfähigkeit und Verlässlichkeit des
gesamten Risikomanagementprozesses zu gewährleisten, ist insbesondere auch die
Dokumentation von den im Vorfeld definierten Zielgrößen, die nicht erreicht werden
konnten, von enormer Bedeutung.

Die Unterscheidung zwischen interner und externer Berichterstattung erfolgt in Ab‐


hängigkeit von der jeweiligen Unternehmensbranche. Gemäß dem KonTraG ist die
externe Risikoberichterstattung für alle Unternehmen verpflichtend. Eine erfolgreiche
interne Risikoberichterstattung erfordert die Integration des Risikomanagement‐
prozesses in das Managementsystem. Dabei muss das Risikomanagement als fester
Bestandteil in der Unternehmensführung etabliert sein und in Interaktion mit allen
anderen Unternehmensprozessen stehen. Die Berichterstattung kann dann bei Bedarf
oder in regelmäßigen Abständen auch mit Unterstützung durch eine entsprechende
Software für Risikomanagement erfolgen.

557 Vgl. PFOHL ET AL. (2008a, S. 75).

364
5.5
Supply Chain Security Management

5.5 Supply Chain Security Management


Im Allgemeinen wird unter dem Begriff Sicherheit ein Zustand des Geschütztseins vor
Gefahr oder Schaden verstanden. In der englischen Sprache erfolgt eine Differen‐
zierung in die Begriffe Safety und Security. Mit Safety wird die Betriebssicherheit be‐
zeichnet, d. h. notwendige Maßnahmen gegen zufällige und nicht vorsätzlich herbei‐
geführte Einwirkungen, wie z. B. Naturkatastrophen oder Betriebs‐ bzw. Arbeitsunfäl‐
le. Safety konzentriert sich somit auf die kontinuierliche Sicherstellung der Geschäfts‐
tätigkeiten auch unter dem Einfluss eines unerwarteten Ereignisses. In Bezug auf
Betriebsunfälle müssen der Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit betrachtet werden.
Es handelt sich um natürliche oder technische Gefährdungen sowie Gefährdungen,
die aus menschlichen Fehlern resultieren und nicht auf kriminellen Absichten beru‐
hen.

Unter Security wird dagegen die Angriffssicherheit verstanden, d. h. alle Maßnahmen


zum Schutz vor willentlich bzw. vorsätzlich und unerlaubt herbeigeführten Auswir‐
kungen auf die Wertschöpfungskette, wie z. B. Diebstahl, Einbruch, Betrug oder terro‐
ristische Angriffe. Der Begriff Security kann weiter in Physical Security und in Digital
Security unterschieden werden. Mit Physical Security wird die Sicherheit aller materi‐
ellen Elemente einer Wertschöpfungskette und deren Schutz vor gezielten, geplanten
und durchgeführten Angriffen verstanden, die zur Schädigung der Supply Chain
führen. Dagegen fokussiert Digital Security die Sicherheit von Informationssystemen
bzw. der enthaltenen Informationen gegen gezielte Attacken (Cyberkriminalität).

Da im Kapitel 5.4.4 verschiedene Strategien und Maßnahmen zur Steuerung der Be‐
triebssicherheit vorgestellt wurden, wird der Fokus in den nachfolgenden Kapiteln auf
Maßnahmen zur Stärkung der Angriffssicherheit gelegt.

5.5.1 Auswirkungen des Terrorismus auf globale Supply


Chains
Der lateinische Begriff „Terror“ besitzt die Bedeutung „Schrecken“ und impliziert,
dass durch die Anwendung oder Androhung von Gewalt, die Angst und Schrecken in
der Bevölkerung erzeugen, ein i. d. R. politisches Ziel erreicht werden soll558. Der
transnationale und strategische Terrorismus zeichnet sich gegenüber den bisherigen
Erscheinungsformen durch folgende drei Aspekte aus:
 Zugang zu besonders gefährlichen Waffen (z. B. ABC‐Waffen).

 Schnelle und flexible Kommunikationswege (z. B. Internet und Mobilfunk).

 Moderne und schnelle weltweite Transportmöglichkeiten (z. B. Flugzeuge, Droh‐


nen).

558 Vgl. CZINKOTA ET AL. (2004, S. 582).

365
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Terrorismus löst direkte und indirekte Effekte aus, wobei die indirekten Folgen in der
Regel deutlich größer ausfallen. Unmittelbare Auswirkungen resultieren aus physi‐
schen Schäden an Gebäuden, aus dem Verlust und der Verletzung von Menschenleben
oder dem Verlust von Anlage‐ und Umlaufvermögen in Unternehmen. Aus wirt‐
schaftlicher Sicht sind jedoch die indirekten und verspätet auftretenden Effekte deut‐
lich gravierender als die kurzfristigen Verluste. Indirekte Folgen von Terrorismus sind
z. B. Nachfrageeinbrüche, Unterbrechungen der Versorgungskette, neue Sicherheitsge‐
setze oder der Rückzug aus risikoreichen Märkten. Diese führen allgemein zu höheren
Kosten und schränken den freien Warenverkehr ein, wodurch die Gewinne der Unter‐
nehmen reduziert werden559.

Als am 11. September 2001 der Angriff auf die beiden Türme des World Trade Centers
in New York erfolgte, konnten verschiedene kurz‐, mittel‐ und langfristige Auswir‐
kungen auf die globale Logistik festgestellt werden, von denen nachfolgend einige
exemplarisch aufgezählt werden560:

 Schließung der Ländergrenzen; z. B. hatte die 12‐tägige Schließung der Häfen an


der US‐Westküste Kosten von 1,7 Mrd. US $ zur Folge.

 Produktionsausfälle; z. B. musste Toyota aufgrund der Schließung der Flughäfen


und fehlender Zulieferteile aus Deutschland schon Stunden nach dem Anschlag
seine Produktion in Indiana unterbrechen.

 Verlust an Anlage‐ und Umlaufvermögen von 21 Mrd. US $ (ca. 0,25% des BIP der
USA des Jahres 2000).

 Börsenverluste, z. B. DAX‐Verlust am 11.09.2001: 8%; Dow Jones‐Verlust nach vier


Tagen Handelsunterbrechung am 17.09.2001: 6%.

 Steigende Versicherungsprämien und steigende Logistikkosten; z. B. Risikoauf‐


schläge für Containertransporte.

 Zurückhaltung der Konsumenten aufgrund des Nachfrageschocks.

 Verschärfte Sicherheitsbestimmungen und Zunahme der damit verbundenen


Transaktionskosten sowie Lieferzeiten.

 Psychologische Auswirkungen, wie z. B. Angst vor neuen Anschlägen und Investi‐


tionszurückhaltung.

 Steigende Budgetdefizite von Staaten durch Hilfsprogramme und steigende Aus‐


gaben für Militär und Katastrophenschutz.

Die Ungewissheit über die Art und Auswirkungen zukünftiger terroristischer Unter‐
brechungen bestimmt die Maßnahmen zur Sicherung der Wertschöpfungskette, die im
Folgenden aufgezeigt werden.

559 Vgl. CZINKOTA ET AL. (2004, S. 586ff).


560 Vgl. SHEFFI (2001); ALKAZAZ (2002, S. 53ff); SCHNEIDER/HOFER (2008, S. 135ff).

366
5.5
Supply Chain Security Management

5.5.2 Maßnahmen zur Stärkung der Supply Chain Security


Durch die Zunahme terroristischer Angriffe gewinnen Sicherheitsanforderungen an
globale Wertschöpfungsketten verstärkt an Bedeutung. Diese steigenden Sicherheits‐
anforderungen im globalen Handel münden in Gesetze sowie Regularien und haben
die Erhöhung der Sicherheit in der Wertschöpfungskette und damit eine Verringerung
der Risiken einer Störung durch physische Angriffe wie Terrorismus und kriminellen
Handlungen zum Ziel. Die Maßnahmen zur Herstellung einer erhöhten Sicherheit in
der Wertschöpfungskette lassen sich in die drei Säulen Sicherheitstechnologie, Sicher‐
heitsmanagement und Sicherheitsregime einteilen. Zur besseren Systematisierung
werden die drei Säulen mit den vier Aspekten Gebäude, Transportwege, Güter und
Informationen in Form einer Zwölf‐Felder‐Matrix verknüpft (vgl. Abbildung 5‐10).
Der Aspekt Gebäude stellt in der Systematik des Schemas einen Knoten dar und der
Transportweg eine Kante. Diese Einteilung hat das Ziel, einzelnen Teilbereichen der
Wertschöpfungskette (z. B. Lagerung und Transport) geeignete Maßnahmen zuzuord‐
nen, sodass die Unternehmen die verschiedenen sicherheitsrelevanten Felder struktu‐
riert bearbeiten können 561.

Abbildung 5‐10 Säulen und Aspekte zur Stärkung der Supply Chain Security562

Sicherheits‐ Sicherheits‐ Sicherheits‐


technologie management regime
Knotenpunkt
(Gebäude)

Kante
(Transportweg)

Güter

Informationen

5.5.2.1 Sicherheitstechnologie
Um die gesamte Wertschöpfungskette absichern zu können, ist es notwendig, geeigne‐
te Sicherheitstechnologien für die Teilbereiche Gebäude, Transportwege, Güter und
Informationen zu erfassen. Die Technologien bzw. die Frage, welche zur Verfügung

561 Vgl. BAUMGARTEN/WIELAND (2008, S. 190f).


562 Vgl. BAUMGARTEN/WIELAND (2008, S. 191).

367
Risikomanagement in der Supply Chain
5
stehenden Technologien im Unternehmen Anwendung finden, ist von Unternehmen
zu Unternehmen unterschiedlich und muss individuell entschieden werden. Nachfol‐
gend werden einige ausgewählte Sicherheitstechnologien vorgestellt. Zu beachten ist
hierbei, dass sich die Maßnahmen nicht überschneidungsfrei den vier Teilbereichen
Gebäude, Transportwege, Güter und Informationen zuordnen lassen.

a) Radio Frequency Identification (RFID)

RFID nutzt magnetische oder elektromagnetische Felder für die automatische


Identifikation von Objekten und bietet die Möglichkeit der Zustandsbeschreibung
sowie der Sendungszusammenstellungsüberwachung für Ladungen und Contai‐
ner. In Verbindung mit dem Global Positioning System (GPS) ist somit eine welt‐
weite (Rück‐)Verfolgbarkeit (Tracking and Tracing) des Containers mit seinem In‐
halt gesichert. Dadurch werden insbesondere die langen Überseefahrten der Con‐
tainerschiffe transparenter und die Versorgung planbarer (Shipment Visibility).
Somit kann beim Eintritt einer Störung oder Unterbrechung innerhalb der Supply
Chain eine zusätzliche Bestellung ausgelöst werden. Das System LEOS (Low‐
Earth‐Orbiting‐Satellite‐System) bietet die Möglichkeit einer direkten Verfolgung
der Fracht mit Hilfe der Satellitenkommunikation. Der Einsatz von RFID lässt sich
nicht eindeutig zu einem Teilbereich zuordnen, da die Aspekte Transportwege,
Güter und Informationen in Frage kommen.

b) Containerversiegelung und ‐Scanning

Bei der elektronischen Versiegelung der Container erfolgt eine Kombination aus
mechanischem Siegel und RFID‐Technologie (E‐Seal, ISO 18185). Dadurch wird
ab der Beladung die Unversehrtheit der Ladung sichergestellt und mögliche Ma‐
nipulationen werden erschwert. Das elektronische Siegel speichert auf einem
Transponder Daten, wie z. B. Siegelnummer, Containernummer, Ladung, Route,
Verschluss‐ und Öffnungszeitpunkt des Containers. Da die Norm von einem nicht
wieder verwendbaren Frachtcontainersiegel spricht, bedeutet jede (Kontroll‐
)Öffnung des Containers einen Neueinbau mit den entsprechenden Folgekosten.
Zur Containerversiegelung können auch die im Container angebrachten „Contai‐
ner Security Devices“ verwendet werden, die jede Containeröffnung ab Ver‐
schluss sowie zusätzliche Ladungsdaten, wie z. B. Temperatur oder Erschütte‐
rung, aufzeichnen können. E‐Seal und Container Security Device sind notwendige
Bestandteile von „Smart Containern“, die gegenüber dem mechanischen Siegel
keinen zusätzlichen Schutz bieten, aber die Transparenz und Integrität erhöhen.
Durch Transpondertechnologie können beide Varianten drahtlos mit bestehenden
IT‐Applikationen von Unternehmen oder Regierungsorganisationen kommuni‐
zieren und so in das Sicherheitsmanagement eingebunden werden. Als weitere
Technologie zur Erhöhung der Sicherheit wird vermehrt das portable oder statio‐
näre Container‐Scanning oder ‐Screening angewandt. Dadurch kann die Sicher‐
heit durch die Suche nach Massenvernichtungswaffen oder Sprengstoffen erhöht

368
5.5
Supply Chain Security Management

werden. Mit Röntgenstrahlen werden einzelne Packstücke sichtbar und durch


Gasspürgeräte können unerlaubte Substanzen entdeckt werden.

c) Schutz gegen Cyberkriminalität

Um eine sichere Kommunikation mit Zulieferern sowie einen Schutz der Supply
Chain zu gewährleisten, ist ein mehrschichtiger Sicherheitsansatz notwendig. Da‐
zu müssen Zugangsrechte für verschiedene Bereiche im Unternehmensnetzwerk
festgelegt werden, um den Zugriff von Zulieferern auf Unternehmensressourcen
zu beschränken. Weiterhin sollten Unternehmen über zusätzliche Informationen
bzgl. der IT‐Sicherheitssysteme der Wertschöpfungspartner verfügen und Interak‐
tionsregeln festlegen, die nicht nur der Effizienz und Flexibilität, sondern insbe‐
sondere auch der Sicherheit dienen. Durch die Nutzung von Software, die Unre‐
gelmäßigkeiten in den Datensätzen herausfiltert, sollen Manipulationen an logis‐
tischen Gütern oder Routen schnell erkannt werden.

d) Schutz logistischer Anlagen

Sinnvolle Maßnahmen zur Erhöhung der Angriffssicherheit von logistischen Ge‐


bäuden stellen Einbruchschutz, der Perimeterschutz zur Sicherung des Außenge‐
ländes, Zugangskontrollen und der Einsatz von Einbruchs‐ und Überfallmeldean‐
lagen dar. Auch kann durch die Schulung des Personals die Sicherheit auf logisti‐
schen Geländen erhöht werden. Zur Feststellung der nötigen Sicherheitsstandards
und als Nachweis für die Kunden und Abnehmer ist die Zertifizierung der Si‐
cherheit eine geeignete Maßnahme.

5.5.2.2 Sicherheitsmanagement
Die zweite Säule zur Stärkung der Supply Chain Security umfasst das Sicherheits‐
management. Es hat die Aufgabe den Risiken, Gefahren und Bedrohungen, die auf das
Unternehmen bzw. die Supply Chain einwirken, mit funktionalen, koordinativen und
systematischen Handlungen und Maßnahmen zu begegnen. Dabei ist von entschei‐
dender Bedeutung, dass die Schnittstellen zwischen unternehmensinternen und un‐
ternehmensexternen Sicherheitsmaßnahmen abgesichert werden. Dies bedingt eine
unternehmensübergreifende Abstimmung von Sicherheitsbemühungen, um die Si‐
cherheit in der Wertschöpfungskette lückenlos zu gewährleisten563. Im Folgenden
werden ausgewählte Maßnahmen vorgestellt, die insbesondere auf das Schnittstel‐
lenmanagement zwischen den Partnern in einer Supply Chain abzielen.

a) Aufbau strategischer Partnerschaften

Mit der Etablierung partnerschaftlicher und langfristiger Lieferantenbeziehungen,


insbesondere für Schlüsselprodukte und ‐prozesse sowie für kritische Teile, kann

563 Vgl. BAUMGARTEN/WIELAND (2008, S. 191).

369
Risikomanagement in der Supply Chain
5
die Versorgungssicherheit erhöht werden. Strategische Partner sind in Krisensitu‐
ationen eher bereit sich gegenseitig zu unterstützen, da sich über die Zeit der
Partnerschaft gemeinsame Beziehungsleitbilder entwickelt haben und eine hohe
Kommunikationsbereitschaft zwischen den Partnern besteht. Diese Kommunika‐
tionsbereitschaft und ‐fähigkeit bewirken gegenseitiges Vertrauen sowie ein ge‐
meinsames Problemverständnis und sind eine wesentliche Voraussetzung für ein
funktionierendes unternehmensübergreifendes Schnittstellenmanagement564.
Durch Wissensvernetzung und Informationsweitergabe wird die Transparenz in
der Supply Chain erhöht, sodass mögliche Engpässe in der Wertschöpfungskette
reduziert werden.

b) Wissens‐ und Informationsmanagement

Ein funktionierendes Informations‐ und Wissensmanagement in Verbindung mit


einer Prozesssicherung kann die Folgen des Terrors auf die Wertschöpfungskette
abmildern. Der Ausfall von Mitarbeitern oder IT‐Systemen kann ohne Spiegelung
des Wissens oder der Daten großen Schaden anrichten, weshalb ein Schwerpunkt
auf die Replizierung des Wissens im Unternehmen gelegt werden muss. Sinnvoll
ist es auch für besonders kritische Bereiche Ersatzressourcen vorzuhalten, die bei
Ausfall der Primärquelle einspringen bzw. einen gewissen Zeitraum überbrücken
können. Dazu gehört auch, dass die Prozesse eines Unternehmens aufgenommen
und aktuell gepflegt werden, um sie nach einem Anschlag notfalls weitergeben
und replizieren zu können.

c) Supply Risk Management

Das Supply Risk Management (SRM) befasst sich mit den beschaffungsseitigen
Risiken. Gegenstand von SRM ist das Bestreben einer Beschaffungsorganisation,
die Erwartungswerte und/oder das Ausmaß von beschaffungsseitigen Schaden‐
sereignissen auf das Unternehmen zu reduzieren. Dabei ist es wichtig, dass nicht
nur die eigenen Lieferanten, sondern auch die Lieferanten der Lieferanten und
wiederum deren Lieferanten in das Risikomanagement miteinbezogen werden.
Somit können Lieferantenrisiken frühzeitig identifiziert und analysiert werden
und man erhält detaillierte Informationen über einzelne Risikofaktoren. Durch
diese erhöhte Transparenz können Schwachstellen aufgedeckt und die Lieferkette
nachhaltig sicherer gemacht werden. Des Weiteren kann das SRM bei der Ent‐
scheidung zur Auswahl von Lieferanten und bei Standortentscheidungen unter‐
stützen.

d) Flexible Sourcing‐Strategien

Durch Single Sourcing ergeben sich hohe Risiken in der Versorgung, die auch
durch Terroranschläge oder kriminell motivierte Straftaten hervorgerufen werden

564 Vgl. SHEFFI (2001, S. 2).

370
5.5
Supply Chain Security Management

können. Bei Produkten mit hoher Wertigkeit oder riskanten Transportrouten ist
die Anwendung von Zwei‐ oder Mehrfachlieferantenstrategien zu prüfen, um so
das Risiko eines Ausfalls zu minimieren. Für eine Minimierung des Versorgungs‐
risikos bei internationalen Single‐Source‐Lieferanten sollte eine Local‐Sourcing‐
Strategie bzw. eine mögliche Eigenproduktion als flexible Ergänzung genutzt
werden. Der durch eine Dual‐ oder Multiple‐Sourcing‐Strategie hervorgerufene
Wettbewerbseffekt überwiegt oftmals den Volumeneffekt einer Single‐Sourcing‐
Strategie565. Weiterhin sollten die Produktions‐ und Fertigungsstätten der Liefe‐
ranten weltweit oder zumindest regional gestreut werden, um Ausfallzeiten ein‐
zelner Bereiche ausgleichen zu können.

e) Bestandsmanagement

Die durch terroristische Angriffe hervorgerufenen Produktionseinschränkungen


führen auch zu einer Neubetrachtung der Anlieferkonzepte JiT und JiS. Für Güter
mit einem hohen Versorgungsrisiko halten Unternehmen höhere Pufferbestände
vor, um Lieferunterbrechungen abmildern zu können. Hierbei ist jedoch ein Ver‐
gleich zwischen den erhöhten Kosten für zusätzliche Bestände und der Ausfall‐
wahrscheinlichkeit durch terroristische Angriffe mit den resultierenden Liefer‐
schwierigkeiten vorzunehmen. Es kann auch ein „Strategic Emergency Stock“ an
Materialien mit hohem Versorgungsrisiko vorgehalten werden, der nur im Falle
eines Anschlags genutzt werden darf. Falls doch eine Nutzung außerhalb eines
Anschlags erfolgt, dann muss eine sofortige und zwingende Wiederauffüllung
mit einer (S‐1,S)‐Bestellpunktpolitik erfolgen566.

f) Supply Chain Event Management

Das Ziel von Supply Chain Event Management (SCEM) ist es, Abweichungen in
den Abläufen von Supply‐Chain‐Prozessen zu erkennen und mögliche negative
Folgen zu minimieren, bevor sich diese auf die Kundenzufriedenheit und die Ge‐
schäftseffizienz schädigend auswirken. Aus diesem Grund gilt es, die Verzöge‐
rung zwischen dem Auftreten eines Ereignisses und dem Zeitpunkt, an dem es
der Entscheidungsträger erkennt, zu beseitigen. Anschließend muss die Lücke
zwischen der Wahrnehmung durch den Funktionsbereich und der Ergreifung
zielführender Maßnahmen minimiert werden. Im Rahmen eines SCEM legt ein
Unternehmen für seine Supply Chain strategisch wichtige Punkte fest, an denen
Messpunkte installiert und mit festgelegten Plandaten überwacht werden. Auftre‐
tende Abweichungen werden durch das System erkannt und entsprechend an die
zuständigen Funktionsbereiche weitergeleitet, welche daraufhin korrigierende
Maßnahmen einleiten können. Ein SCEM bietet somit die notwendige Transpa‐
renz, um Schwachstellen und Risiken einer Supply Chain zu managen567.

565 Vgl. SHEFFI (2001, S. 2f).


566 Vgl. SHEFFI (2001, S. 3).
567 Vgl. PECK ET AL. (2003, S. 83).

371
Risikomanagement in der Supply Chain
5
5.5.2.3 Sicherheitsregime
Gegenstand der dritten Säule zur Stärkung der Supply Chain Security sind Regula‐
rien, die sich in Normen, private und staatliche Initiativen sowie Verordnungen und
Gesetze unterteilen, und zu einer erhöhten Sicherheit im globalen Welthandel führen
sollen. Insbesondere nach den Anschlägen von New York am 11. September 2001
wurden die Sicherheitsanforderungen deutlich erhöht. Im Folgenden werden ausge‐
wählte Initiativen und Gesetze zur Terrorbekämpfung vorgestellt.

a) Framework of Standards to Secure and Facilitate Global Trade (SAFE)

Die SAFE‐Rahmenbedingungen wurden 2005 von der Weltzollorganisation


(WZO) veröffentlicht und geben Richtlinien für ein weltweites und modernes Ri‐
sikomanagement vor. Alle Mitglieder des SAFE Frameworks, welche die Min‐
destsicherheitsanforderungen und die Best Practices anwenden, erhalten den Sta‐
tus eines Authorised Economic Operator (AEO ‐ Zugelassener Wirtschafts‐
beteiligter). Das SAFE Framework besteht aus den folgenden vier Kernelementen:

 Harmonisierung der Anforderungen an Advanced‐Electronic‐Cargo‐Infor‐


mation‐Systeme, um die notwendigen elektronischen Vorabinformationen für
Import‐ und Exportgüter sowie für Transitsendungen zu vereinheitlichen.

 Einführung eines einheitlichen Risikomanagements mit dem Ziel der Risiko‐


reduzierung für jedes Land, das dem SAFE Framework beitritt.

 Einsatz moderner Sicherheitstechnik, um Zollkontrollen zu vereinheitlichen.


Alle Risiko‐Container und ‐Waren müssen vor dem Export eine Inspektion
durchlaufen, ohne den Container zu öffnen (Non‐Intrusive Inspection). Diese
Inspektion kann z. B. mittels Röntgengeräten erfolgen.

 Durch eine Unternehmenspartnerschaft werden denjenigen Unternehmen


Vorteile und Vereinfachungen angeboten, die Mindeststandards im Bereich
Supply Chain Security erfüllen.

b) International Organization for Standardization / Publicly Available Specifica‐


tion (ISO/PAS) 28000ff

Die ISO/PAS 28000ff wurden im Jahr 2005 von der International Organization for
Standardization eingeführt und umfassen in mehreren Normen einen Manage‐
mentrahmen für die Lieferkettensicherheit. Das Ziel der Normen ist es, verschie‐
dene Anforderungen zur Gefahrenabwehr nicht für einzelne Akteure, sondern für
die gesamte Lieferkette in einem Standard zu bündeln, um somit die Vielzahl der
international bereits existierenden Regularien, Normen und Initiativen zusam‐
menzufassen. Dadurch sollen Handelsbarrieren abgebaut und der Handel verein‐
facht werden. Durch die Parallelen zu anderen ISO‐Normen wird deren Einfüh‐
rung erleichtert, da in den Unternehmen bzgl. der ISO‐Normen bereits Erfahrun‐
gen vorhanden sind. Die Normen ISO/PAS 28000ff weisen im beschriebenen

372
5.5
Supply Chain Security Management

Ordnungsrahmen auch Schnittstellen mit der Säule Sicherheitsmanagement auf.


Folgende Zertifizierungsaspekte werden betrachtet568:

 Risikostrategie

 Abschätzung und Planung von Sicherheitsrisiken

 Implementierung und Durchführung

 Überprüfung und Korrekturmaßnahmen

 Managementbewertung

Beispielsweise umfasst die ISO 28858 die Sicherheitsbeurteilungen von Seehafen‐


anlagen und die Entwicklung von Sicherheitsplänen. Mit der ISO 28001 werden
Best‐ Practice‐Beispiele für die Sicherheit in der Supply Chain zur Verfügung ge‐
stellt. Die ISO 28004 beinhaltet Durchführungsbestimmungen für Security‐
Management‐ Systeme. Mit dem Antragsverfahren des AEO gibt es zahlreiche
Überschneidungen, die sich vereinfachend auf eine Überprüfung auswirken. Da
die ISO aber kein zwingender Standard ist, bleibt es den Unternehmen selbst
überlassen, ob sie eine Überprüfung und eine damit einhergehende Verbesserung
durchführen.

c) International Ship and Port Facility Security (ISPS) Code

Der ISPS‐Code, der für Deutschland 2004 in Kraft getreten ist, findet Anwendung
u. a. auf Frachtschiffe mit einer Tonnage ab 500 Bruttoraumzahl (BRZ) und Fahr‐
gastschiffe in internationaler Fahrt sowie Hafenanlagen, an denen die genannten
Schiffe abgefertigt werden. Die Ziele bestehen in einer verbesserten Zusammen‐
arbeit zwischen den unterzeichnenden Regierungen, Regierungsorganisationen,
lokalen Verwaltungen, Schiffseignern und Hafenbetrieben sowie in der Umset‐
zung einer einheitlich vorgeschriebenen und standardisierten Sicherheitsbewer‐
tung. Zur Umsetzung des ISPS Codes müssen die Reedereien folgende fünf
Schritte durchführen:

 Risikoanalyse durchführen

 Plan zur Gefahrenabwehr aufstellen

 Plan genehmigen und einführen

 Security System überprüfen lassen

 International Ship Security Certificate (ISSC) ausstellen lassen

568 Vgl. BAUMGARTEN/WIELAND (2008, S. 191).

373
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Die Hafenanlagen können den ISPS Code anhand folgender fünf Schritte einfüh‐
ren:

 Risikoanalyse durchführen

 Risikoanalyse genehmigen

 Plan zur Gefahrenabwehr aufstellen

 Plan genehmigen und einführen

 Erklärung zur Vereinbarkeit aufstellen

Die Verwaltung muss Informationen über Bedrohungslagen sammeln und eine


von drei Sicherheitsstufen festlegen. Auf dem Level 1 erfolgt die Umsetzung eines
Minimums an vorsorglichen Maßnahmen. Level 2 bedeutet eine erhöhte Gefähr‐
dung, sodass weitere vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen sind. Mit dem Level
3 wird eine erhöhte Gefahr angenommen und es sind weitere spezielle Maßnah‐
men zu ergreifen, um Anschläge zu verhindern. Weiterhin ist die Verwaltung
verantwortlich für die Kontrollen, stellt Zeugnisse (ISSC) über die Einhaltung der
Vorschriften aus, benennt verantwortliche Stellen und autorisiert Recognized
Security Organizations. Als Folge des ISPS und seiner Verschärfungen entstehen
Kosten durch den Einsatz zusätzlich benötigter Sicherheitstechnologie und Schu‐
lungsmaßnahmen für das Personal.

d) US Customs 24‐hour Advance Manifest Rule

Diese amerikanische gesetzliche Regelung aus dem Dezember 2002 zwingt Reede‐
reien von Containerschiffen dazu, 24 Stunden vor Beladung die geforderte La‐
dungserklärung elektronisch zu übertragen. Diese Regelung betrifft alle Contai‐
ner, die für einen amerikanischen Hafen bestimmt sind oder über einen US‐
Transithafen weiterverschifft werden sollen. Falls die Daten nicht spätestens 24
Stunden vor dem Beladen im Ladehafen an das amerikanische Zollsystem (Au‐
tomated Manifest System ‐ AMS) übermittelt werden, drohen hohe Zollstrafen.
Die 24‐Stunden‐Regelung gilt sowohl für Ladung, die in einem US Hafen gelöscht
oder umgeladen wird als auch für Ladung, die sich an Bord des Schiffes befindet,
während es einen US‐Hafen anläuft.

e) Container Security Initiative (CSI)

Die CSI ist ein multilaterales Abkommen zwischen den USA und anderen in die
USA exportierenden Staaten. Der amerikanische Zoll inspiziert und versiegelt be‐
reits im Versendehafen im Ausland die für die USA bestimmten Container. Diese
Initiative ist bisher freiwillig und wurde in den größten US‐Containerexporthäfen
eingeführt. Um eine potenzielle Bedrohung frühzeitig, und außerhalb der eigenen
Landesgrenzen zu erkennen, kommen die in Kapitel 5.5.2.1 vorgestellten Sicher‐
heitstechnologien zur Anwendung. Als Folge ergeben sich Verzögerungen in der
Abfertigung mit einer daraus resultierenden Verlängerung der Lieferzeiten. Wei‐

374
5.5
Supply Chain Security Management

terhin sind der Datenschutz und die Weitergabe von Wirtschaftsgeheimnissen als
kritisch zu betrachten, wenn Informationen mit einem solchen zeitlichen Vorlauf
preisgegeben werden müssen. Die CSI wurde mit der „Secure Freight Initiative”
noch einmal verschärft, da ab Ende 2012 für alle Container, die nach Amerika ex‐
portiert werden, bereits in den Verschiffungshäfen ein Screening durchgeführt
werden muss. Als Folge ergeben sich weitere Abfertigungsverzögerungen sowie
ein Platzmangel in vielen Häfen, da spezielle, hochsichere US‐Containerkais benö‐
tigt werden.

f) Customs‐Trade Partnership Against Terrorism (C‐TPAT)

C‐TPAT ist eine freiwillige Initiative der U.S. Customs and Border Protection
Agency, welche durch Informationsaustausch sowie logistische Richtlinien die
Lieferkettensicherheit erhöhen möchte. Der Datenverkehr findet hierbei zwischen
Verladern, Transporteuren und Regierungsstellen statt, wodurch auffällige La‐
dungen, Fehl‐ oder Übermengen schneller entdeckt werden sollen. Die teilneh‐
menden Unternehmen verpflichten sich zur

 Selbstbewertung der Supply‐Chain‐Sicherheit bzgl. Prozesssicherheit, physi‐


scher Sicherheit, personeller Sicherheit, Ausbildung und Training der Mitar‐
beiter, Zugangskontrollen, Umgang mit Manifesten und Transportsicherheit,

 Erstellung und Einreichung eines Supply Chain Security Profiles des Unter‐
nehmens an die Zollbehörde,

 Entwicklung und Umsetzung eines Programms zur Förderung der Sicherheit


in der gesamten Supply Chain in Übereinstimmung mit den C‐TPAT‐Richt‐
linien,

 Kommunikation und Umsetzung der C‐TPAT Sicherheitsrichtlinie innerhalb


der Supply Chain.

Die Vorteile einer erfolgreichen C‐TPAT‐Zertifizierung bestehen in weniger Kon‐


trollen und Inspektionen, in kürzeren Abfertigungszeiten, in der Ausbildung und
Schulung von Mitarbeitern sowie dem Zugang von Best‐Practice‐Unterlagen. Ins‐
besondere für zeitkritische und saisonale Exportgüter in die USA ist eine bevor‐
zugte Abfertigung ein wichtiger Wettbewerbsvorteil.

g) Authorized Economic Operator (AEO)

Seit dem 1. Januar 2008 können sich Unternehmen, die in der EU ansässig sind
und die das Zollrecht betreffende Tätigkeiten ausführen, wie z. B. Logistikdienst‐
leister, Produzenten, Verlader etc., als „Zugelassene Wirtschaftsbeteiligte“ (AEO)
freiwillig zertifizieren lassen. Das Ziel der EU besteht in einer geschlossenen Lie‐
ferkette, in der alle Beteiligten Sicherheitsstandards erfüllen, durch die eine Terr‐
orgefahr vermindert wird. Der AEO besitzt einen besonderen Status und zeichnet
sich nach seiner Sicherheitsüberprüfung durch besondere Zuverlässigkeit und

375
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Vertrauenswürdigkeit aus. Die inhaltlichen Aspekte lassen sich durch die Einhal‐
tung von Sicherheits‐ und Informationsvorschriften mit dem C‐TPAT vergleichen.
Insgesamt können drei Varianten unterschieden werden:

 AEO C: Zollrechtliche Vereinfachungen können in Anspruch genommen wer‐


den

 AEO S: Erleichterungen bei sicherheitsrelevanten Zollkontrollen für Waren,


die in das oder aus dem Zollgebiet gebracht werden

 AEO F: Sicherheitsrelevante (AEO S) als auch zollrechtliche (AEO C) Vereinfa‐


chungen können in Anspruch genommen werden

Die Vorteile des AEO bestehen in einer vereinfachten und schnelleren Zollab‐
fertigung für EU‐Mitgliedstaaten sowie in einem Ausweis eines Qualitätsmerk‐
mals. In Deutschland wurde mit der Einführung des IT‐Verfahrens ATLAS (Au‐
tomatisiertes Tarif‐ und Lokales Zollabwicklungssystem) ab dem 01. Juli 2009 zu‐
sätzlich die elektronische Ausfuhrzollanmeldung für alle Exporteure notwendig.

Die vorgestellten Initiativen und Gesetze zur Lieferkettensicherheit führen einerseits


zu einer Erhöhung der sicherheitsspezifischen Transparenz und resultieren anderer‐
seits in einem langsameren und durch die notwendige Sicherheitstechnologie auch
teureren globalen Welthandel. Schwierigkeiten treten insbesondere dann auf, wenn es
zu Überschneidungen zwischen den einzelnen Initiativen kommt. Weiterhin erweist
sich eine fehlende weltweite Standardisierung als problematisch, sodass regional oder
national mehrere Vorschriften eingehalten werden müssen. Diese Sicherheitsanforde‐
rungen stellen somit zunächst ein Hemmnis dar, allerdings kann deren konsequente
Umsetzung auch einen Wettbewerbsvorteil generieren und die verbesserte Sicherheit
kann für Unternehmen zum Alleinstellungsmerkmal werden.

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381
6 After Sales und Reverse Logistics

Aufgrund des verschärften Wettbewerbs bei der Akquisition von neuen Kunden sowie
bei der langfristigen Bindung bestehender Kunden ist es für Hersteller kaum mehr
möglich, sich allein über das Kernprodukt gegenüber den Konkurrenten zu differen‐
zieren. Zahlreiche Unternehmen konkurrieren mit vielen Wettbewerbern in Märkten
mit geringen Wachstumschancen. Um in diesen Märkten die eigene Position dennoch
erhalten und stärken zu können, müssen Differenzierungspotenziale genutzt werden,
die über produktbezogene Wettbewerbsfaktoren, wie technische Merkmale, Qualität
oder Preis, hinausgehen. Eine solche Differenzierung kann durch die Etablierung eines
kundenorientierten Serviceangebots realisiert werden, dessen Ziel die Pflege der Kun‐
denbeziehung während der Nachkaufphase ist. Da die Zufriedenheit der Kunden eine
besondere Rolle spielt, bieten insbesondere Leistungen wie die Instandhaltung oder
die Ersatzteilversorgung Möglichkeiten zusätzliche Umsätze und Erträge zu erzielen.
Die Reverse Logistics betrachtet die rückwärtsgerichteten Materialflüsse, sodass in
Kombination mit den vorwärtsgerichteten Materialflüssen eine Kreislaufwirtschaft
ermöglicht wird. Aufgrund ökonomischer, ökologischer und rechtlicher Rahmenbe‐
dingungen gewinnt die Reverse Logistics zunehmend an Bedeutung. Wachsende
Kundenansprüche in der Nachkaufphase sowie ein zunehmendes Umweltbewusstsein
erfordern jedoch effektive und effiziente logistische Konzepte.

Lernziele:

 Leistungsebenen, Leistungsangebote und Nutzen von After Sales Services


 Aufgaben des Instandhaltungsmanagements
 Instandhaltungsstrategien und diskrete Instandhaltungsplanung
 Aufgaben und Besonderheiten der Ersatzteillogistik
 Prognose sporadischer Ersatzteilbedarfe
 Versorgungsstrategien in der Nachserienfertigung und Pooling‐Strategien
 Integration von Ersatzteillogistik und Instandhaltung
 Objekte und Motive der Reverse Logistics
 Phasenspezifische Subsysteme der Reverse Logistics und Entsorgungslogistik
 Arten und Probleme von Entsorgungsnetzwerken

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 383
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_6
After Sales und Reverse Logistics
6
6.1 After Sales Management und After Sales
Services
Aufgabe des After Sales Management ist die Gestaltung und Steuerung der After Sales
Services (ASS)569. Dabei setzt das After Sales Management nicht erst in der Nachkauf‐
phase ein, sondern beginnt bereits in der Produktentwicklung, um After Sales Services
bestmöglich auf das Produkt abzustimmen und diese dem Kunden im Vorfeld einer
Kaufentscheidung mitteilen zu können570. Das After Sales Management muss nachhal‐
tig, ganzheitlich und marktorientiert gestaltet werden, sodass bestehende Synergiepo‐
tenziale mit dem Primärproduktgeschäft effizient genutzt werden können.

Um für die After Sales Services eine entsprechende Autonomie, Markt‐ und Kunden‐
nähe sowie Erfolgskontrolle zu ermöglichen empfiehlt es sich, diese Services in einem
eigenständigen Profitcenter zu organisieren571. Für ein erfolgreiches After Sales Ma‐
nagement müssen maßgeschneiderte und kundenindividuelle Services angeboten
werden, sodass ein detailliertes Kundenwissen zur Segmentierung der Märkte und
Kundengruppen Voraussetzung für die Ausschöpfung der Nutzenpotenziale ist. Im
Rahmen des After Sales Marketing sollte somit eine Orientierung an den klassischen
Elementen des Marketing‐Mix wie der Leistungs‐ und Programm‐, der Preis‐ und
Konditionen‐, der Distributions‐ sowie der Kommunikationspolitik erfolgen572. After
Sales Services werden durch die Arbeitsleistungen der Mitarbeiter erbracht, sodass an
das Servicepersonal besonders hohe Anforderungen an die fachliche und soziale
Kompetenz, die Motivation, Höflichkeit, Schnelligkeit und Verlässlichkeit gestellt
werden. Das Servicepersonal kann aber auch eine weitere Fehlerquelle sein. Für die
Gestaltung des After Sales Management spielt deshalb die Qualifikation, Schulung
und Entwicklung der Mitarbeiter im Rahmen des Personalmanagements eine wichtige
Rolle. Im Rahmen eines Qualitätsmanagements müssen die Prozesse und Abläufe zur
Sicherstellung des vereinbarten Servicelevels eingeleitet und überwacht und eine be‐
reichs‐ und unternehmensübergreifende Kommunikation zum vorbeugenden Erken‐
nen von Problemen aufgebaut werden. Wichtig für die Gestaltung des After Sales
Management ist die Einrichtung eines aktiven Beschwerdemanagements mit den
Funktionen Annahme, Bearbeitung, Auswertung und Kontrolle von Beschwerden.
Durch einen angemessenen Umgang mit Beschwerden können eine Abwanderung der
Kunden vermieden und die in Beschwerden enthaltenen Informationen für eine zu‐
künftige Fehlervermeidung genutzt werden.

After Sales Services umfassen die Gesamtheit aller Dienstleistungen, die dem Kunden
in der Nachkaufphase während der Produktnutzungszeit angeboten werden. Mit
diesen Dienstleitungen wird der Gebrauchswert des erworbenen Produktes oder der
erworbenen Leistung sicher‐ bzw. wiederhergestellt oder gesteigert. After Sales Ser‐

569 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 22).


570 Vgl. BAADER ET AL. (2006, S. 9).
571 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 220ff).
572 Vgl. MEFFERT ET AL. (2008, S. 22).

384
6.1
After Sales Management und After Sales Services

vices sind häufig auf ein bestimmtes Produkt abgestimmt, sie können jedoch auch
produktunabhängig offeriert werden. Neben problemlösungsbezogenen und kauf‐
männischen Serviceangeboten, wie beispielsweise der Einräumung eines Umtausch‐
rechts oder der Durchführung von Schulungskursen, umfassen After Sales Services
technische Serviceleistungen wie z. B. die Instandhaltung des Primärproduktes.

Da die vom Hersteller angebotenen Serviceleistungen einen großen Einfluss auf die
Kaufentscheidung von potenziellen Kunden haben, stellt der After Sales Service eine
anspruchsvolle Managementaufgabe dar. Darin kommt dem Ersatzteilmanagement
eine entscheidende Bedeutung zu, denn erst durch die Bereitstellung von Ersatzteilen
kann eine erfolgreiche Instandsetzung erfolgen. Da durch defekte Primärprodukte
meist bereits ein Negativerlebnis beim Kunden ausgelöst wurde, ist eine schnelle und
reibungslose Ersatzteilbereitstellung zu gewährleisten, um Produktionsausfälle oder
eine Abwanderung der Kunden zu vermeiden.

Ein qualifizierter After Sales Service kann durch die Erfüllung folgender Leistungen
charakterisiert werden573:

 verfügbare Servicespezialisten für die verschiedenen Technologien und Produkt‐


bereiche,
 lebenszyklusgerechte und kundenindividuelle Serviceangebote,
 Basisangebote in den Bereichen Ersatzteilversorgung, Reparatur, Anwender‐
schulung und ‐beratung,
 globale Präsenz und regionale Kundennähe.

Ein funktionierendes Ersatzteilgeschäft kann zur Absatz‐ und folglich Umsatz‐


steigerung von Primärprodukten führen, aber auch eigene Umsatz‐ und Ertragsziele
verfolgen. Insbesondere langlebige Primärprodukte sind ohne einen entsprechenden
Ersatzteilservice kaum verkäuflich. Die Tatsache, dass Geschäfte mit Stammkunden
durchschnittlich allein 65 % des Umsatzes generieren, verdeutlicht deren gegen‐
wärtige Marktmacht und die Bedeutung des After Sales Management für den Unter‐
nehmenserfolg574. Einige Primärprodukthersteller sind von den hohen Bruttomargen
des After Sales Service abhängig, die besonders im Maschinen‐ und Anlagenbau er‐
zielt werden können, da die Margen der Kernprodukte zunehmend sinken575. Beim
Ersatzteilgeschäft wird der reine Kostenwettbewerb durch einen Zeit‐ und Qualitäts‐
wettbewerb ersetzt. Mit dem Angebot von After Sales Services werden von den Unter‐
nehmen die in der Tabelle 6‐1 angegebenen Nutzenpotenziale verfolgt576:

573 Vgl. GAREIS (2004, S. 169).


574 Vgl. PEPELS (2007, S. 196).
575 Vgl. BAADER ET AL. (2006, S. 9).
576 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 31ff); BAUMBACH (2004b, S. 14); HILDENBRAND ET AL. (2006, S. 80ff).

385
After Sales und Reverse Logistics
6
Tabelle 6‐1 Nutzenpotenziale von After Sales Services

Gewinnung von Neukunden bzw. von ehemaligen


Akquisitionspotenzial
Kunden der Wettbewerber durch exzellente ASS
Schaffung neuer Arbeitsplätze im After‐Sales‐Markt
Beschäftigungspotenzial bzw. Realisierung eines Beschäftigungsausgleichs bei
stagnierendem Primärproduktgeschäft
Individualisierung standardisierter Sachleistungen
Differenzierungspotenzial durch kundenorientierte ASS, insbesondere bei rela‐
tiv homogenem Primärproduktmarkt
Unterstützung des Primärproduktabsatzes durch
kundenorientierte ASS, die zu einer Verringerung
Diffusionspotenzial
der Kundenskepsis gegenüber service‐ oder erklä‐
rungsbedürftigen Produkten beitragen
Erweiterung des Leistungsangebotes durch den
Diversifikationspotenzial Einstieg in bisher nicht bediente dienstleistungsbe‐
zogene Märkte wie z. B. Beratung
ASS erhöhen die Kundenzufriedenheit und tragen
Imagepotenzial zu einer Erhöhung des Markenwertes des Unter‐
nehmens bei
Gewinnung zusätzlicher Informationen über Pro‐
dukte, Kunden und Wettbewerber zur Servicever‐
Informationspotenzial
besserung oder Entwicklung kundengerechter Pro‐
dukte
Aufbau stabiler und langfristiger Kundenbeziehun‐
Kundenbindungspotenzial gen durch herausragende ASS während der Nach‐
kaufphase
Erzielung zusätzlicher Umsätze und hoher Brutto‐
Marktpotenzial margen durch Vermeidung von Maschinen‐ und
Anlagenausfällen beim Kunden

Diese Nutzenpotenziale, die positiv auf den Unternehmenserfolg wirken, lassen sich
jedoch nur auf der Basis eines nachhaltigen After Sales Management erzielen. Eine
bisher zu geringe Ausschöpfung der genannten Nutzenpotenziale in der Praxis wird
auf die folgenden Aspekte zurückgeführt577:

 ASS können negative Effekte für das Neuproduktgeschäft zur Folge haben, da das
Service‐Geschäft vom Neuproduktgeschäft ablenken und somit zu negativen Um‐
satzeffekten für das Neuproduktgeschäft führen kann.

577 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 2f); ZOLLIKOFER‐SCHWARZ (1999, S. 8).

386
6.1
After Sales Management und After Sales Services

 Firmeninterne Hindernisse hemmen die Entwicklung von ASS, da interne Macht‐


kämpfe um personelle und finanzielle Ressourcen zwischen Primär‐ und Ersatz‐
teilgeschäft bestehen können.
 Wachsende Kundenansprüche, verlängerte Gebrauchs‐ und Garantiezeiten sowie
ein intensiver Wettbewerb erhöhen die Anforderungen an ASS. Auf der anderen
Seite fehlen in den Unternehmen Strategien und das Know‐how zur Umsetzung
und Ausschöpfung des Potenzials im After Sales Management.
 Eine zu geringe Berücksichtigung der Kundenanforderungen führt zur Entwick‐
lung von unattraktiven ASS, die negative Gewinneffekte zur Folge haben.
 Das After‐Sales‐Geschäft weist in vielen Branchen durch andere Primärpro‐
dukthersteller, freie Händler, freie Servicebetriebe oder freie Wiederaufarbeiter
eine höhere Wettbewerbsintensität auf als das Primärproduktgeschäft, sodass ein
hoch integrierter Kundenservice angeboten werden muss.

Die Notwendigkeit von After Sales Services begründet sich neben den genannten
Nutzenpotenzialen auch in den bestehenden gesetzlichen Vorschriften und vertragli‐
chen Verpflichtungen, denen Hersteller von Produkten und Leistungen genügen müs‐
sen578. Zu den gesetzlichen Vorschriften zählen beispielsweise die Ersatzteilbevorra‐
tung und ‐lieferpflicht des Herstellers, Gewährleistungsverpflichtungen im Fall von
Sachfehlern oder ‐mängeln oder die Produkthaftung bei Konstruktions‐, Produktions‐
oder Instruktionsfehlern. Als Beispiel einer vertraglichen Verpflichtung sind Garantie‐
ansprüche zu nennen, die innerhalb einer festgelegten Frist zu einer Mängelbeseiti‐
gung verpflichten.

Abbildung 6‐1 Leistungsebenen im After Sales Service579

Leistungsebene Leistungsumfang
Miete von Primärprodukten,
Betreiberverträge, Schulung, Finanz‐,
Business‐Support
4 Versicherungsdienstleistungen

Produkt‐Support Serviceverträge, Remote Service


3

Austauschmodul‐Service Ersatz durch Austauschmodule,


2 Rückführung der Altteile

Ersatzteil‐Service Distribution von Ersatzteilen,


1 Service Kits

Primärprodukt

578 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 30f).


579 In Anlehnung an BAUMBACH (2004a, S. 103).

387
After Sales und Reverse Logistics
6
Zur Strukturierung der Leistungsgestaltung im After Sales Management unterscheidet
BAUMBACH zwischen den in der Abbildung 6‐1 angegebenen vier Leistungsebenen,
wobei das Primärprodukt den Ausgangspunkt für die Leistungsgestaltung bildet580. Je
größer die Entfernung vom Kern des Primärprodukts ist, desto spezifischer sind die
Leistungen auf die Kunden zugeschnitten, wobei eine übergeordnete Ebene alle Leis‐
tungen der jeweils untergeordneten Ebenen umfasst.

Zum Ersatzteil‐Service auf der ersten Leistungsebene gehören alle Leistungen, die den
Kunden mit Ersatzteilen oder Service Kits versorgen. Somit benötigen die Kunden ein
hohes technisches Know‐how, um mit den bereitgestellten Ersatzteilen ihre Maschinen
und Anlagen selbst instand halten zu können. Auf der zweiten Leistungsebene wird
der Austauschmodul‐Service angeboten. Da während der Instandhaltungsmaßnahme
keine Reparatur einzelner Module, sondern ein Ersatz durch ein Austauschmodul
erfolgt, wird von den Kunden im Vergleich zum Ersatzteilservice ein geringeres tech‐
nisches Know‐how verlangt. Der Leitungsumfang umfasst zusätzlich die Rückführung
und Aufarbeitung der Altmodule. Der Produkt‐Support auf der dritten Leitungsebene
zielt auf eine optimale Instandhaltung der Primärprodukte ab, sodass Effizienz‐ und
Optimierungsaspekte im Vordergrund stehen. Somit werden diejenigen Aufgaben, in
denen nur eine mittlere Kompetenz vorliegt, an externe Dienstleister vergeben, die
Instandhaltungsleistungen einzeln je nach Bedarfsfall, gebündelt über Serviceverträge
oder als Remote Service für Fern‐Instandhaltungen anbieten. Die vierte Leitungsebene
umfasst alle Leistungen, die auf eine optimierte Nutzung der Primärprodukte abzie‐
len. Kunden, die diesen Service wählen, konzentrieren sich auf ihre eigenen Kern‐
kompetenzen und verfügen aufgrund geringer technischer Fähigkeiten und Ressour‐
cen über eine hohe Outsourcing‐Bereitschaft. Der Business‐Support umfasst Leistun‐
gen wie z. B. die Miete von Primärprodukten oder Betreiberverträge, bei denen die
Kunden stark in die Leistungsprozesse des Herstellers eingebunden sind. Des Weite‐
ren gehören dazu Kundenberatung, Schulung von Kundenmitarbeitern, aber auch
Finanz‐ und Versicherungsdienstleistungen, die zur Festigung der Kundenbeziehung
beitragen.

In der folgenden Abbildung 6‐2 werden die Leistungsangebote der After Sales Services
in technische, kaufmännische und problembezogene Aspekte unterteilt. Zu den tech‐
nischen Serviceangeboten gehören die Montage, Installation und Instandhaltung.
Aus ersatzteillogistischer Sicht ist die Instandhaltung von besonderem Interesse, da zu
deren erfolgreicher Durchführung die benötigten Ersatzteile bereitzustellen sind.
Während die kaufmännischen Leistungsangebote die Lieferung, Schulung und den
Umtausch umfassen, stellen die Anlagenverwaltung und die Kundenunterstützung
problembezogene Leistungen des After Sales Service dar.

580 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 127ff); KAERNER/GRÄßLER (2004, S. 39f).

388
6.2
Logistik im After Sales Management

Abbildung 6‐2 Leistungsangebote im After Sales Service581

After Sales Service

technisch kaufm
kaufmännisch problembezogen

Montage Lieferung Anlagen‐


verwaltung
Installation Umtausch
Instandhaltung Schulung Kunden‐
unterstützung

6.2 Logistik im After Sales Management


Die Logistik besitzt im Rahmen der After Sales Services insbesondere bei der Instand‐
haltung – als technischer After Sales Service – einen hohen Stellenwert. Unter der
Instandhaltung werden alle technischen und administrativen Maßnahmen sowie
Maßnahmen des Managements während des Lebenszyklus einer Betrachtungseinheit
verstanden, die zur Erhaltung des funktionsfähigen Zustandes oder der Rückführung
in diesen dienen, sodass sie die geforderte Funktion erfüllen kann582. Der Begriff Af‐
ter‐Sales‐Logistik umfasst sämtliche logistischen Prozesse, die in der Nachkaufphase
im Rahmen der Instandhaltung durchzuführen sind. Zu den Aufgaben der After‐
Sales‐Logistik gehören die ganzheitliche Planung, Steuerung, Koordination und Kon‐
trolle der unternehmensinternen und ‐übergreifenden Material‐, Informations‐ und
Personenflüsse, welche für die Instandhaltung der Anlagen und Systeme der Kunden
notwendig sind. Somit umfasst die After‐Sales‐Logistik auch die Ersatzteillogistik.

6.2.1 Instandhaltung
Die für die Instandhaltung notwendigen Führungs‐, Kern‐ und Unterstützungs‐
prozesse werden durch das strategische und operative Instandhaltungsmanagement
gestaltet583. Im Rahmen der Führungsprozesse werden Ziele und Vorgaben für die
Instandhaltung formuliert und angepasst. Kernprozesse haben einen direkten Einfluss
auf die Erfüllung der Verfügbarkeitsforderungen, wie z. B. die Aufrechterhaltung des
Soll‐Zustands der Anlagen. Mit den Unterstützungsprozessen wird eine Verbesserung

581 In Anlehnung an BAUMBACH (2004a, S. 103).


582 Vgl. DIN 13306 (2001, S. 8f).
583 Vgl. WALD (2003, S. 51f).

389
After Sales und Reverse Logistics
6
der Effizienz der Kernprozesse z. B. durch eine systematische Schwachstellenanalyse
erreicht.

Zu den Aufgaben des strategischen Instandhaltungsmanagements gehören die Formu‐


lierung von Zielen für die Instandhaltung, die Auswahl geeigneter Instandhaltungs‐
strategien und die Schaffung und Anpassung einer entsprechenden Instandhaltungs‐
organisation. Das strategische Instandhaltungsmanagement definiert die Rahmenbe‐
dingungen für das operative Instandhaltungsmanagement, das für die Instand‐
haltungsplanung, ‐steuerung und ‐durchführung zuständig ist. Hierzu zählen Ersatz‐
teilbewirtschaftungsprozesse (z. B. Lieferantenauswahl, Materialdisposition, ‐verwal‐
tung und ‐verschrottung), Serviceprozesse (z. B. Schulung, Schwachstellenanalyse)
und Instandhaltungsmaßnahmen. Bei den Instandhaltungsmaßnahmen lassen sich
Wartung, Inspektion, Instandsetzung und Verbesserung unterscheiden584:

 Eine Wartung umfasst alle Schaden vorbeugenden Maßnahmen zur Verzögerung


des Abbaus des vorhandenen Abnutzungsvorrats, d. h. der Vorratsmenge an
Funktionserfüllungen. Dazu gehören Tätigkeiten wie z. B. Reinigen, Konservie‐
ren, Schmieren, Austauschen und die Ergänzung von Kleinteilen und Hilfsstoffen.
 Bei einer Inspektion erfolgt eine Feststellung und Beurteilung des Ist‐Zustands
einer Betrachtungseinheit einschließlich der Bestimmung der Ursachen der Ab‐
nutzung und dem Ableiten notwendiger Konsequenzen für eine künftige Nut‐
zung. Durch die Verwendung spezieller Überwachungs‐ und Diagnosesysteme
oder durch visuelle oder akustische Prüfung erfolgt ein Prüfen, Messen, Analysie‐
ren, Beurteilen und Auswerten des Ist‐Zustands, um weitere Instand‐
haltungsmaßnahmen zu planen oder durchzuführen.
 Mit einer Instandsetzung erfolgt die Rückführung in den funktionellen Zustand
ohne die Durchführung von Verbesserungen. Eine Instandsetzung kann durch ei‐
nen Austausch (Ersatz der defekten Einheit) oder ein Ausbessern (Bearbeitung der
defekten Einheit) erfolgen, um den Soll‐Zustand bzw. den Abnutzungsvorrat
wiederherzustellen.
 Die Verbesserung (bzw. Modernisierung) umfasst eine Kombination aller techni‐
schen und administrativen Maßnahmen zur Steigerung der Funktionssicherheit,
ohne die von ihr geforderte Funktion zu ändern. Dazu erfolgen eine Beseitigung
der Schwachstellen und eine Erhöhung des Nutzungsvorrats.

Das Ziel der Instandhaltung ist die Gewährleistung der geforderten Verfügbarkeit der
Maschinen und Anlagen sowie der Sicherheit für Mitarbeiter und Umwelt bei minima‐
len Gesamtkosten, um den Gewinn des Unternehmens zu maximieren. Zwischen den
Teilzielen einer hohen Anlagenverfügbarkeit sowie Sicherheit der Mitarbeiter und ei‐
ner Kostenminimierung besteht aufgrund der konträren Kostenverläufe ein Zielkon‐
flikt. Eine Erhöhung der Verfügbarkeit und Sicherheit durch Intensivierung der In‐
standhaltungsmaßnahmen resultiert in steigenden Instandhaltungs‐ und Ersatzteilkos‐

584 Vgl. DIN 31051 (2003, S. 2ff); ALCALDE RASCH (2000, S. 17f).

390
6.2
Logistik im After Sales Management

ten. Andererseits hat eine Verringerung der Instandhaltungsmaßnahmen hohe Kosten


für Anlagenausfälle und Abnutzung beseitigende Maßnahmen zur Folge. Jedes Unter‐
nehmen muss diesen Zielkonflikt lösen und einen optimalen Instandhaltungszyklus
festlegen, der zur Erreichung der geforderten Anlagenverfügbarkeit unter minimalen
Kosten beiträgt. Die Instandhaltungskosten lassen sich in direkte und indirekte Kosten
unterteilen. Während die direkten Instandhaltungskosten i. d. R. als bekannt voraus‐
gesetzt werden, umfassen die indirekten Instandhaltungskosten die Anlagenausfall‐
kosten, die meist nur geschätzt werden können.

Zu den direkten Instandhaltungskosten gehören alle Kosten, die unmittelbar durch


die Instandhaltungsmaßnahme und den damit verbundenen Verbrauch an Einsatzg‐
ütern verursacht werden. Dazu zählen die folgenden Kosten für präventive bzw. ab‐
nutzungshemmende, kurative bzw. abnutzungsbeseitigende und perfekte bzw. anla‐
genverbessernde Instandhaltungsmaßnahmen585:

 Personalkosten: Lohn‐ und Lohnnebenkosten, Werkstattgemeinkosten


 Material‐ und Ersatzteilkosten: Preis, Beschaffungskosten, Lagerhaltungskosten,
Hilfs‐, Betriebsstoffkosten
 Fremdkosten: Fremdleistungen, ‐lieferungen, Verwaltung
 Energiekosten

Indirekte Instandhaltungskosten stellen Opportunitätskosten dar, die durch die Beein‐


trächtigung der Anlagenverfügbarkeit entstehen. Zu ihnen zählen folgende zusätzli‐
che, wirtschaftlich nachteilige Auswirkungen des Anlagenverschleißes:586

 Ausfallkosten: Stillstandskosten, Produktionsausfall, Qualitätsminderung, Roh‐


stoffverlust
 Wertminderung: Lebensdauer, Ausfall infolge von Ausschuss
 Veralterung: Instandhaltungsaufwand, Anlagenleistung, Anlagenzuverlässigkeit

In der Abbildung 6‐3 sind die Kostenverläufe für die direkten und indirekten Instand‐
haltungskosten angegeben. Die optimale Instandhaltungsintensität ist dann erreicht,
wenn die gesamten Instandhaltungskosten, die sich aus der Addition der direkten und
indirekten Instandhaltungskosten ergeben, ihr Minimum annehmen.

585 Vgl. ALCALDE RASCH (2000, S. 46).


586 Vgl. RÖTZEL (2001, S. 99).

391
After Sales und Reverse Logistics
6
Abbildung 6‐3 Kostenverläufe in Abhängigkeit der Instandhaltungsintensität587

Kosten

Gesamt‐Instandhaltungskosten

Minimum

direkte
Instandhaltungskosten
indirekte
Instandhaltungskosten

Instandhaltungs‐
zu niedrig optimal zu hoch intensität

6.2.2 Instandhaltungsstrategien
Eine der wichtigsten Entscheidungen innerhalb der Instandhaltung ist die Wahl einer
geeigneten Instandhaltungsstrategie, da sie sich unmittelbar auf die Erreichung der
Instandhaltungs‐ und Unternehmensziele auswirkt. Somit sollte diese Entscheidung
von der obersten Leitungsebene im Unternehmen festgelegt werden. Unter Instand‐
haltungsstrategien werden Regeln verstanden, die angeben, welche Instand‐
haltungsmaßnahmen inhaltlich, methodisch und wie umfangreich an welchem In‐
standhaltungsobjekt zu welchem Zeitpunkt durchgeführt werden, um eine maximale
Anlagenverfügbarkeit unter Beachtung der Kriterien Wirtschaftlichkeit und Sicherheit
zu erreichen588. Aufgrund der Unterschiede im Ausfallverhalten von Maschinen und
Anlagen oder in den Anforderungen der Produktionsprozesse müssen in Abhängig‐
keit sich verändernder Anforderungen differenzierte Instandhaltungsstrategien aus‐
gewählt und im Zeitablauf angepasst werden. Die Wahl einer Instandhaltungsstrategie
hat z. B. Einfluss auf die Instandhaltungskapazitäten (z. B. Ersatzteillager, Mitarbeiter)
und die Instandhaltungsintervalle. Andererseits wird auch die Instandhaltungsstrate‐
gie von wichtigen Einflussgrößen, wie z. B. von Unternehmenszielen, Produktionsan‐
forderungen, Vorschriften, Instandhaltungsressourcen etc., beeinflusst, wie folgender
Abbildung 6‐4 zu entnehmen ist. Bei der Auswahl einer geeigneten Instandhaltungs‐
strategie kann zwischen reaktiver, präventiver (zeit‐ oder zustandsabhängig) und
vorausschauender Instandhaltung unterschieden werden589.

587 In Anlehnung an RÖTZEL (2001, S. 99).


588 Vgl. DIN 13306 (2001, S. 9).
589 Vgl. MATYAS (2002); MATYAS (2010, S. 114ff); BIEDERMANN (2008, S. 19f).

392
6.2
Logistik im After Sales Management

Abbildung 6‐4 Einflussgrößen auf die Instandhaltungsstrategie590

Unternehmens‐ Produktions‐
ziele anforderungen

Möglichkeit/
Wirtschaftlichkeit
Vorschriften Instandhaltungs‐ der Diagnose
strategie

Auswirkungen des Ressourcen der


Anlagenausfalls Instandhaltung
Art/Prognose‐
möglichkeit des
Schadens

a) Reaktive, ausfall‐ bzw. schadensbedingte Instandhaltung

Bei Anwendung einer reaktiven Instandhaltung wird die Maschine oder Anlage
bis zu einer Störung oder bis zum Ausfall betrieben, wodurch als Instandhal‐
tungsmaßnahme die Instandsetzung notwendig wird. Auf Inspektion und War‐
tung wird bis zum Schadensfall im Allgemeinen verzichtet, sodass der Planungs‐
aufwand und die Verwaltungskosten gering gehalten werden können und der
Nutzungsvorrat vollständig ausgeschöpft werden kann. Der Schadensfall tritt
aufgrund eines zufallsbedingten Ausfallverhaltens von Ausfallteilen sowie dem
betriebsbedingten Verschleiß von Verschleißteilen unvorhersehbar auf. Da eine
vorausschauende Bereitstellung der für die Instandsetzung benötigten Ressourcen
kaum möglich ist und die Fehlersuche oftmals zeitintensiv ist, sind die Still‐
standszeiten i. d. R. länger als bei einer geplanten Instandhaltung. Der stochasti‐
sche Instandhaltungsbedarf führt zu einem geringen Ersatzteilverbrauch, jedoch
sind die Bestände und Lagerhaltungskosten für die Ersatzteile aufgrund der
schlechten Planbarkeit relativ hoch. Durch den Ausfall einzelner Teile kann es zur
Beeinträchtigung oder Überlastung anderer Komponenten kommen, was zu Fol‐
geschäden an weiteren Baugruppen oder Einzelteilen führen kann. Da die In‐
standsetzung oft unter hohem Zeitdruck erfolgt besteht die Gefahr, dass diese
nicht qualitätsgerecht ausgeführt wird. Aufgrund der geringen Reaktionszeit ist
auch eine Fremdvergabe schwierig umsetzbar und es muss evtl. Personal von an‐
deren Bereichen zur Verfügung gestellt werden. Eine reaktive Instandhaltungs‐
strategie bietet sich bei Anlagen mit unbekanntem Ausfall‐ und Verschleißverhal‐
ten oder mit monoton fallenden Ausfallraten sowie bei redundanten, nichtkriti‐
schen Betriebsmitteln an. Die Kosten einer zufälligen Reparatur müssen kleiner

590 In Anlehnung an NEBL/PRÜß (2006, S. 209).

393
After Sales und Reverse Logistics
6
sein als die Kosten einer geplanten Reparatur. Eine reaktive Instandhaltung sollte
nicht zur Anwendung kommen, wenn dadurch eine Gefährdung von Mensch und
Umwelt nicht auszuschließen ist oder wenn durch einen Ausfall der gesamte Pro‐
duktionsablauf unterbrochen wird.

b) Präventive, zeitabhängig periodische Instandhaltung

Eine zeitlich gesteuerte, präventive Instandhaltung tauscht vorbeugend einzelne


Teile zu planmäßig festgelegten Terminen unabhängig vom Pflege‐ und Störungs‐
zustand und weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen obligatorisch aus.
Die Intervalle zwischen den Instandhaltungsmaßnahmen können bei dieser Stra‐
tegie fix oder abhängig von der Betriebsdauer der betrachteten Maschine oder An‐
lage sein. Der Austausch erfolgt unabhängig vom tatsächlichen Zustand, sodass
aufgrund einer Teilausnutzung des Abnutzungsvorrats mehr Ersatzteile als bei
einer ausfallbedingten Instandhaltung benötigt werden. Der Ersatzteilbedarf, der
aufgrund des betriebsbedingten Verschleißes auftritt, ist bei dieser Instandhal‐
tungsstrategie wesentlich besser planbar, da die durchzuführenden Instandhal‐
tungsmaßnahmen zeitlich und inhaltlich bestimmt sind. Somit können zeitpunkt‐
bezogene Bestellungen der Ersatzteile realisiert werden, sodass eine rechtzeitige
Bereitstellung der Ersatzteile gewährleistet ist. Diese Strategie minimiert die in‐
standhaltungsbedingten Stillstandszeiten, stellt die gewünschte Anlagenverfüg‐
barkeit sicher, minimiert die Schadensfolgekosten und führt zu einer besseren
Personalauslastung. Andererseits hat diese Strategie einen höheren Planungsauf‐
wand zur Folge und die Datenermittlung bzgl. des Ausfallverhaltens ist aufwän‐
dig. Weiterhin können häufige Instandhaltungen auch Ausfälle durch Demon‐
tage‐, Montage‐ und Inbetriebnahmefehler zur Folge haben. Die zeitlich präventi‐
ve Instandhaltung kommt bei kritischen Betriebsmitteln mit bekanntem
Verschleißverhalten zur Anwendung, wenn bei einem Betriebsausfall die Gefahr
der Beeinträchtigung der Sicherheit oder der Umwelt besteht oder wenn der Zu‐
stand der Anlage nicht oder erst nach langwierigem Zerlegen erkennbar ist. Die
Kosten der Vorbeugung sollten geringer als die Schadensfolgekosten eines unge‐
planten Ausfalls sein.

c) Präventive, zustandsabhängige Instandhaltung

Die zustandsorientierte Instandhaltung führt Instandhaltungsmaßnahmen zur In‐


standhaltung vorbeugend dann durch, wenn es der betriebsbedingte Zustand der
Maschine oder Anlage erfordert. Da Instandhaltungsmaßnahmen erst bei Errei‐
chen bestimmter und vorher festgelegter Grenzwerte durchgeführt werden, kann
das Instandhaltungsintervall an die jeweiligen Nutzungsbedingungen angepasst
und der Abnutzungsvorrat optimal ausgeschöpft werden. Um den Zustand einer
Maschine oder Anlage zu ermitteln, werden in bestimmten Zeitabständen Inspek‐
tionen durchgeführt, bei denen dann Diagnose‐ und Überwachungsmethoden
zum Einsatz kommen. Bei einer Schwingungsdiagnose erfolgt die Messung der

394
6.2
Logistik im After Sales Management

Schwingungsbeschleunigung der Gehäuseoberfläche von Maschinen, um Verän‐


derungen im Betriebsverhalten, z. B. durch Unwucht oder Lagerschäden, zuver‐
lässig zu erkennen. Mit der Thermographie kann die Wärmeemission von Ma‐
schinen gemessen und somit thermische Verluste oder bestehende Wärmequellen
identifiziert werden. Die Überwachung der Leistungsaufnahme einer Maschine
und die Erfassung von Stromspitzen können über eine Stromaufnahmemessung
erfolgen. Da die für eine zustandsabhängige Instandhaltung benötigten Daten
auch während des Betriebs der Anlage ermittelt werden können, werden Still‐
standszeiten minimiert. Aus den bei einer Inspektion erhobenen Daten können In‐
formationen über den tatsächlichen Verlauf des Abnutzungsvorrats gewonnen
werden, die eine zeit‐, qualitäts‐ sowie kostenoptimale Planung und Durchfüh‐
rung entsprechender Instandhaltungsmaßnahmen ermöglichen. Dies setzt aller‐
dings voraus, dass Schadenswerte bekannt sind und der Anlagenzustand zu jeder
Zeit gemessen werden kann. Für eine effektive Umsetzung der Potenziale einer
zustandsabhängigen Instandhaltung kommen Condition‐Monitoring‐Systeme
zum Einsatz, mit denen die technische Diagnose von Komponenten durch die
Überwachung von Schädigungsverläufen unterstützt wird, um Anlagenausfälle
und Folgeschäden zu verhindern. Zu den häufigsten Verfahren des Condition
Monitoring gehört die Schwingungsdiagnose von Vibrationen. Die Zustands‐
überwachung findet in drei Schritten statt. Die Datenbeschaffung bezieht sich auf
die Aggregation relevanter Informationen über die instand zu haltende Kompo‐
nente. Die folgende Datenverarbeitung baut auf der Datenbeschaffung auf und
analysiert die Menge an Daten. Die nun aufbereiteten Daten stellen die Aus‐
gangsbasis für das Treffen von instandhaltungsbezogenen Entscheidungen dar,
die dem Ziel der Diagnose oder der Prognose des Zustands des Instandhaltungs‐
objektes dienen. Sensoren detektieren durch das Nutzen von physikalischen oder
chemischen Effekten spezifische Eigenschaften ihrer Umgebung und erzeugen
elektrische Signale. Diese Signale sind Grundlage für weitere Verarbeitungsschrit‐
te, z. B. das Filtern von Rauschanteilen, um nutzbare Daten zu erzeugen. Sensoren
stehen somit am Anfang der autonomen Datenverarbeitung und bestimmen die
Qualität und Quantität der verfügbaren Daten. Sensoren messen physikalische
Größen wie Druck, Vibration, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Spannung,
Schall, die Position und Neigung von Körpern im Raum sowie den Durchfluss
von Flüssigkeiten. Damit wird die Fehlerfrühdiagnose, d. h. eine Früherkennung
von Fehlern vor deren Eintreten anhand von Kennwerten, sowie die Aufdeckung
von Fehlern und Störungsursachen unterstützt. Als herausfordernd erweist sich
die Frage, an welchen Bauteilen die Sensorik angebracht werden muss, um eine
tatsächliche Früherkennung von drohenden Ausfällen gewährleisten zu können.
Nachteile der zustandsorientierten Instandhaltung sind die hohen Kosten für Di‐
agnose‐ und Überwachungssysteme und der hohe Inspektionsaufwand, für den
qualifiziertes Personal benötigt wird. Diese Strategie sollte deshalb bei Anlagen
mit ansteigenden Ausfallraten oder bei kritischen Betriebsmitteln mit unvorher‐
sehbaren Ausfallzeitpunkten zur Anwendung kommen.

395
After Sales und Reverse Logistics
6
d) Präventive, voraussagende bzw. prädiktive Instandhaltung

Die voraussagende Instandhaltung, die ein Condition Monitoring voraussetzt, be‐


inhaltet eine Zustandsprognose und hat zum Ziel, die Frage zu klären, wie der
Zustand einer Maschine oder Anlage in der Zukunft sein wird. Sie basiert auf
Analysen von Parametern, an welchen der Abbau des Nutzungsvorrats festge‐
macht wird, sodass eine Vorhersage von Zustandsverschlechterungen ermöglicht
wird. Mit Hilfe der Algorithmen des maschinellen Lernens und gestützt durch
Daten, die mittels Technologien der Industrie 4.0 in Echtzeit an den Anlagen ge‐
sammelt wurden, können vertiefte Kenntnisse über den Zustand einer Anlage
und die Notwendigkeit von Instandhaltungsmaßnahmen gewonnen werden. Die
Prognose hat das Ziel, eine rationale Abschätzung der Restlebensdauer bis zum
Ausfall oder bis zu einer definierten Schadensgrenze anzugeben. Die Abschät‐
zung dieser Restlebensdauer beeinflusst die Planung der Instandhaltung in Bezug
auf Instandhaltungsmaßnahmen, Ersatzteilbestände und die Lebenszykluskosten
der gesamten Anlage. Verfahren zur Restlebensdauerprognose lassen sich in phy‐
sikalisch basierte und datenbasierte Ansätze einteilen. Physikalisch basierte Ver‐
fahren nutzen mathematische Modelle wie Differentialgleichungen, um die Ab‐
nutzungsprozesse einer spezifischen Komponente zu beschreiben. Es wird ver‐
sucht ein präzises Modell des Systemverhaltens zu erstellen und das
Abnutzungsverhalten in Form von Abweichungen des erwarteten Systemzu‐
stands von den realen Messdaten zu erkennen, zu isolieren und zu prognostizie‐
ren. Diese Verfahren weisen eine hohe Spezifität auf und liefern sehr gute Ergeb‐
nisse bei hohem Modellierungsaufwand und Nutzung von Expertenwissen über
Abnutzungsprozesse. Der extreme Aufwand lohnt sich für kapitalintensive Kom‐
ponenten mit weitreichenden Ausfallfolgen. Datenbasierte Verfahren nutzen da‐
gegen statistische Verfahren (z. B. Regressionsanalyse, Gamma‐Prozesse, Markov‐
basierte Verfahren) und Verfahren der künstlichen Intelligenz (z. B. neuronale
Netze). Sie lassen sich komponentenübergreifend anwenden und benötigen kein
spezifisches Wissen über Abnutzungsprozesse. Die Leistungsstärke dieser Ansät‐
ze hängt vor allem von der Verfügbarkeit geeigneter Trainingsdaten ab. Durch
den zunehmenden Trend zur Digitalisierung und Durchdringung der Produktion
mit Sensoren werden zukünftig verstärkt datenbasierte Verfahren eingesetzt.

In der Tabelle 6‐2 werden die Auswirkungen der reaktiven und präventiven Instand‐
haltungsstrategien auf die Erfolgsfaktoren Kosten, Zeit, Qualität und Flexibilität dar‐
gestellt. Die direkten Instandhaltungskosten, insbesondere das Instandhaltungs‐
material einschließlich der Ersatzteile (d. h. Anschaffungs‐ und Kapitalbindungs‐
kosten) und das Instandhaltungspersonal, sowie die indirekten Anlagenausfallkosten
beeinflussen den Faktor Kosten. Bezüglich des Erfolgsfaktors Zeit wirkt sich die In‐
standhaltung vor allem auf die Wartezeit und die Zeit für die Erbringung der Instand‐
haltungsleistung aus. Die Wartezeit umfasst die Zeit zur Feststellung der Störung und
zur Bereitstellung der notwendigen Instandhaltungsressourcen sowie die Zeit für die
Fehlersuche.

396
6.2
Logistik im After Sales Management

Tabelle 6‐2 Auswirkungen der Instandhaltungsstrategien auf Erfolgsfaktoren

Instandhaltungsstrategie
präventiv zustands‐
reaktiv präventiv zeitabhängig
abhängig/voraussagend
Permanente Verfügbarkeit Abstimmung und Auslas‐ Hochqualifiziertes Per‐
Per‐ des Instandhaltungs‐ tung des Personalbedarfs sonal für hohen Inspek‐
so‐ personals notwendig; Perso‐ gemäß geplanter Maßnah‐ tionsaufwand not‐
nal‐ nalbedarfsspitzen einplanen men möglich; Bereit‐ wendig; kostentreiben‐
kos‐ schaftsdienst für stochas‐ de Personalbedarfs‐
ten
tische Ausfälle notwendig spitzen vermeidbar

Hohe Lagerhaltungskosten Geringe Bestandskosten Optimale Ausnutzung


durch Bevorratung; hohe durch bekannte Instand‐ des Abnutzungsvorrats;
Mate‐ Beschaffungskosten durch haltungstermine; hoher optimale Lagerbestand‐
rial‐
notwendige Eillieferungen, Ersatzteilverbrauch durch splanung durch bekann‐
kos‐
geringerer Ersatzteilver‐ geringeren Abnutzungs‐ te Bedarfszeitpunkte
ten
brauch verbrauch basierend auf Inspekti‐
onsergebnissen
Aus‐ Hohe Ausfallkosten auf‐ Minimale Ausfallkosten Minimale Ausfallkosten
fall‐ grund der Unplanbarkeit durch Vermeidung unge‐ durch Vermeidung
kos‐ der Ausfälle planter Ausfälle ungeplanter Ausfälle
ten

Lange Stillstandszeiten und Geringe Ausfallzeiten, da Geringe Ausfallzeiten;


zeitraubende Fehlersuche; benötigte Ressourcen vor‐ keine Wartezeiten, da
lange Bereitstellungszeiten handen; keine lange Feh‐ Ressourcen vorhanden;
Zeit notwendiger Ressourcen; lersuche keine lange Fehlersuche;
längere Produktionsdurch‐ Abstimmung der In‐
laufzeiten standhaltungsmaßnah‐
me mit der Produktion

Geringe zeitliche und quan‐ Hohe zeitliche, qualitative Hohe zeitliche, qualita‐
titative Anpassungsfähigkeit und quantitative Anpas‐ tive und quantitative
Fle‐
der Instandhaltung, hohe sungsfähigkeit Anpassungsfähigkeit
xibi‐
qualitative Anpassungsfä‐
lität
higkeit des Instandhaltungs‐
personals
Hohe Qualitätsmängel Hohe Prozessqualität; Permanente bzw. vo‐
durch Zeitdruck und man‐ durch mehr Instandset‐ rausschauende Überwa‐
Qua‐ gelnde Vorbereitung; Gefahr zungen evtl. mehr Quali‐ chung gewährleistet ho‐
lität von Folgeschäden und vari‐ tätsmängel durch Monta‐ he Qualität der Prozesse
ierende Prozessqualitäten ge‐ oder Inbetriebnahme‐ und Anlagen
fehler

397
After Sales und Reverse Logistics
6
Die Flexibilität einer Instandhaltungsstrategie sagt etwas darüber aus, wie schnell auf
sich ändernde Gegebenheiten reagiert und wie flexibel der Instandhaltungsbedarf
geplant werden kann. Dazu gehören eine hohe qualitative (z. B. Vielseitigkeit und
Anpassbarkeit von Personal und Technologie) und hohe quantitative (z. B. Maß‐
nahmen zur Erhaltung der Anlagenflexibilität) Anpassungsfähigkeit. Der Einfluss
einer Instandhaltungsstrategie auf die Qualität wird vor allem über die Optimierung
der Qualität der Instandhaltungsprozesse und der Wiederherstellung der Anlagen‐
verfügbarkeit sichtbar.

Werden die Auswirkungen der Instandhaltungsstrategien auf die Erfolgsfaktoren


Kosten, Zeit, Flexibilität und Qualität betrachtet, dann lassen sich verschiedene Ziel‐
konflikte identifizieren. Die durch eine präventiv zustandsabhängige Instandhaltungs‐
strategie mögliche hohe Qualität der Prozesse und Anlagen sowie eine hohe qualitati‐
ve und quantitative Flexibilität und kurze Anlagenstillstandsdauer hat potenziell hö‐
here Kosten zur Folge. Die durch eine zeitlich präventive Instandhaltungsmaßnahme
realisierbaren niedrigeren Kosten führen zu Beschränkungen bei der Anlagenstill‐
standszeit und der Qualität. In der Abbildung 6‐5 werden diese Zielkonflikte anhand
der reaktiven, zeitabhängigen, zustandsorientierten und vorausschauenden Instand‐
haltungsstrategie dargestellt.

Abbildung 6‐5 Mögliche Zielkonflikte zwischen Instandhaltungsstrategien

hohe
Qualität

reaktive IH
zeitabhängige IH
zustandsorientierte/
voraussagende IH

niedrige kurze
Kosten Anlagenstillstands‐
zeit

hohe
Flexibilität

398
6.2
Logistik im After Sales Management

6.2.3 Instandhaltungsplanung
Bei der Instandhaltung von Maschinen und Anlagen sind technische und ökono‐
mische Größen zu berücksichtigen. Während die technischen Parameter die Funkti‐
onstüchtigkeit der Maschine oder Anlage während der Nutzungsdauer beschreiben,
wird über ökonomische Parameter die Rentabilität der Maschine oder Anlage erfasst,
wobei hier die Instandhaltungs‐ und Erneuerungskosten wesentlich sind. Die Lebens‐
dauer einer Anlage hängt von ihrem technischen Zustand sowie von den Belastungen
während der Nutzungsdauer ab. Vor dem Hintergrund der meist stochastischen Ei‐
genschaften exogener Kräfte, Einflüsse oder Ereignisse, die zum Ausfall einer Maschi‐
ne oder Anlage führen, erscheint eine ausschließlich deterministische Betrachtungs‐
weise und Modellierung komplexer technischer Systeme als nicht zweckmäßig. Somit
wird die Lebensdauer LD einer Maschine oder einer Anlage als Zufallsvariable dar‐
gestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Lebensdauer LD in einem bestimmten Zeit‐
punkt t endet, kann mit der Dichtefunktion f (t ) erfasst werden. Die zugehörige
Verteilungsfunktion

F (t )  P ( LD  t )
ergibt sich aus der Kumulation der Dichtefunktion und gibt die Wahrscheinlichkeit
an, dass eine Maschine oder Anlage nach t Zeiteinheiten ausgefallen ist. F (t ) wird
als Ausfallwahrscheinlichkeit bezeichnet und hat folgende Eigenschaften:

F (t )  0 für t  0 und lim F (t )  lim P ( LD  t )  1 .


t  t 

Die Überlebenswahrscheinlichkeit ergibt sich als das Komplement der Ausfallwahr‐


scheinlichkeit und wird i. A. als Zuverlässigkeitsfunktion R (t ) bezeichnet. Für die
Zuverlässigkeitsfunktion R (t ) gilt

R (t )  P ( LD  t )  1  P ( LD  t )  1  F (t ) .
Die Zuverlässigkeitsfunktion R (t ) gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass eine Maschine
oder Anlage nach t Zeiteinheiten noch nicht ausgefallen ist. R (t ) stellt eine monoton
fallende Funktion dar, die folgende Eigenschaften besitzt:

R (0)  1 sowie lim R (t )  0 .


t 

Die Ausfallrate q (t ) einer Maschine oder Anlage mit einer stetigen ausfallfreien Ar‐
beitszeit t ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Komponente, die bis zum Zeitpunkt t
überlebt hat, im Intervall (t ; t  dt ) ausfallen wird. Die Ausfallrate q (t ) lässt sich
bestimmen, indem die Dichtefunktion f (t ) durch die Zuverlässigkeitsfunktion R (t )
dividiert wird:
f (t ) f (t )
q (t )  
1  F (t ) R (t )

399
After Sales und Reverse Logistics
6
Mit Hilfe von Lebensdaueruntersuchungen kann ein charakteristisches zeitliches Ver‐
halten der Ausfallrate ermittelt werden. Zur Modellierung konstanter, steigender
sowie fallender Ausfallraten wird in der Praxis die Weibullverteilung verwendet. Eine
stetige, nicht negative Zufallsvariable ist weibull‐verteilt mit den Parametern  und
 , falls für ihre Verteilungsfunktion gilt:

 t
( )
1  e  , falls t  0;   0;   0
F(t)  
0 , falls t  0

Die entsprechende Dichtefunktion lautet:

  t  1  ( t )
 ( ) e  , falls t  0;   0;   0
f (t)    
0 , falls t  0

Der Parameter  stellt einen Formparameter dar, der als Ausfallsteilheit bezeichnet
wird und ein Maß für die Streuung der Ausfallzeiten darstellt. Praktisch lässt sich 
im Rahmen von Lebensdaueruntersuchungen durch 0,25    5 eingrenzen591. Da‐
bei ist für die Modellierung einer fallenden Ausfallrate   1 und für eine steigende
Ausfallrate   1 zu wählen. Für   1 entspricht die Weibullverteilung der Expo‐
nentialverteilung mit einer konstanten Ausfallrate. Der Lageparameter  kann für
die Veränderung der durchschnittlichen Lebensdauer verwendet werden, wobei er i.
A. nicht der durchschnittlichen Lebensdauer entspricht. Die Wahrscheinlichkeit eines
Ausfalls einer Anlage zum Zeitpunkt t   beträgt definitionsgemäß F (t )  63,2 %
und definiert die charakteristische Lebensdauer  .

6.2.3.1 Markovketten
Im Folgenden werden die Zustände einer Maschine oder Anlage für diskrete Zeit‐
punkte betrachtet. Zu jedem Zeitpunkt kann die Maschine jeweils nur eine von end‐
lich vielen Zuständen annehmen. Die zeitliche Entwicklung der Zustände kann über
Markovketten beschrieben werden, wobei folgende Definitionen notwendig sind:

a) Für die Zustände z1 , z 2 ,..., z n im Zustandsraum Z   z1 ,..., z n  wird eine Menge


 X  t  t  0,1, 2, ... von Zufallsvariablen für die diskreten Zeitpunkte t  0,1,2,...
mit der Wahrscheinlichkeitsverteilung P X (t )  z j X (t  1)  zi , ..., X (0)  z k )
als stochastische Kette bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung heißt Über‐
gangswahrscheinlichkeit.

591 Vgl. BECKMANN/MARX (1994, S. 148).

400
6.2
Logistik im After Sales Management

b) Gilt für die Übergangswahrscheinlichkeit P einer stochastischen Kette

P X  t   z j X  t  1  zi , ..., X  0  zk 
 P X  t   z j X  t  1  zi   pij  t  1,

dann liegt eine Markovkette vor. Bei einer Markovkette hängt die Wahrscheinlich‐
keit, dass im Zeitpunkt t der Zustand z j realisiert wird, nur vom vorliegenden
Zustand zi im Zeitpunkt t  1 ab und nicht von den früheren Zuständen.

c) Eine Markovkette mit zeitunabhängigen Übergangswahrscheinlichkeiten


pij  t 1  pij für t  1,2,3,... und i, j  1, ..., n heißt homogene Markovkette.
d) Fasst man die zeitunabhängigen Übergangswahrscheinlichkeiten in einer n  n ‐
Matrix zusammen, dann nennt man diese Matrix Übergangsmatrix

 
P  pij n ,n
.

Da jede Zeile der Übergangsmatrix einer Übergangsverteilung entspricht, muss


für die Zeilensummen gelten:
n
 pij  1 für alle i  1,..., n .
j 1

e) Werden die Wahrscheinlichkeiten pi (t )  P ( X (t )  z i ) , d. h. dass sich die Zu‐


fallsvariable X (t ) zum Zeitpunkt t im Zustand zi befindet, in einem Vektor
p(t )T  ( p1 (t ),..., pn (t )) zusammengefasst, dann entspricht dieser der Zustands‐
verteilung im Zeitpunkt t .

Beispiel 6.2.1:

Für ein technisches Gerät existieren die drei Zustände z1 = intakt, z2 = leichte Mängel
und z 3 = defekt. Die Zufallsvariable X (t ) beschreibt dann den zufallsabhängigen
Zustand des Geräts zum Zeitpunkt t mit Werten im Zustandsraum Z   z1 , z 2 , z3 .
Liegt die folgende Übergangsmatrix vor

z1 z2 z3
z11 1 / 3 1/ 2 1/ 6 
 
P = z22  0 1/ 3 2 / 3 ,
 
z33  1 0 0 

dann kann diese auch in Form eines Übergangs‐ bzw. Transitionsgraphen wie folgt
dargestellt werden.

401
After Sales und Reverse Logistics
6
1/3 1/2 1/3
z1 z2

1/6
2/3
1

z3

Die Knoten des Transitionsgraphen entsprechen den verschiedenen Zuständen, die


Pfeile den Übergängen von einem Zustand in einen anderen und die Pfeilbewertungen
den zeitunabhängigen Übergangswahrscheinlichkeiten. Ausgehend von einem intak‐
ten Zustand bleibt das technische Gerät in der nächsten Periode mit der Wahrschein‐
lichkeit 1/3 intakt, weist mit der Wahrscheinlichkeit 1/2 leichte Mängel auf oder wird
mit der Wahrscheinlichkeit 1/6 defekt (d. h. P X (t )  z3 X (t  1)  z1 )  p13  1 / 6 ).
Ein Gerät mit leichten Mängeln bleibt mit der Wahrscheinlichkeit 1/3 in diesem Zu‐
stand oder wird mit der Wahrscheinlichkeit 2/3 defekt. Ist das Gerät defekt, dann er‐
folgt eine Reparatur, sodass es in der nächsten Periode wieder intakt ist.

Im Rahmen der Instandhaltungsplanung interessiert die Verteilung der Zustände zu


verschiedenen Zeitpunkten, d. h. der Beschreibung des technischen Geräts im Zeitab‐
T
lauf. Ausgehend von der Startverteilung p(0) , d. h. der Zustandsverteilung im Zeit‐
punkt t  0 mit
n
p0   p1 0,..., pn 0 mit pi 0   P  X 0   z i  und  pi 0  1 ,
T

i 1

gelten für die Zustandsverteilung im Zeitpunkt t mit

p t    p1  t , ... , pn  t   mit pi t   P  X t   z i 
T

die folgenden Zusammenhänge:

T T
p1  p 0  P
p2  p1  P  p0  P 2
T T T

T T
p t   p 0   P t für t  1,2,3,... .

402
6.2
Logistik im After Sales Management

Von Interesse sind nun die zeitliche Stabilität sowie das langfristige Verhalten von
Zustandsverteilungen592. Für die weitere Untersuchung der Zusammenhänge zwi‐
schen Start‐ und Zustandsverteilungen sind die folgenden Definitionen notwendig.

Eine Zustandsverteilung p   p1 , ..., pn  heißt stationär, wenn sie sich im Zeitab‐


T
a)
lauf nicht mehr ändert, d. h.
n
pT  pT  P mit  pi  1 bzw.
i 1

pT E  P   0 mit  pi  1 .
n

i 1
Eine Zustandsverteilung p   p1 , ..., pn  heißt Grenzverteilung zur Startvertei‐
T
b)
T
lung p(0) , wenn gilt

p T  lim p t   lim p0   P t .


T T
t  t 

Falls der angegebene Grenzwert existiert, dann wird diese Grenzverteilung unab‐
hängig von der Startverteilung erreicht. Somit ist jede Grenzverteilung eine stati‐
onäre Verteilung.
T
c) Eine Markovkette heißt ergodisch, falls für jede beliebige Startverteilung p(0)
eine Grenzverteilung existiert und alle Grenzverteilungen identisch sind.

Bemerkungen 6.2.1:
a) Eine stationäre Verteilung existiert stets, sie ist jedoch nicht immer eindeutig, da
z. B. für P  E jede beliebige Zustandsverteilung stationär ist.

b) Ist eine Zustandsverteilung stationär, dann ist sie auch Grenzverteilung zu sich
selbst. Jede Grenzverteilung ist eine stationäre Verteilung.
c) Eine Grenzverteilung muss nicht zu jeder Startverteilung existieren. Beispielswei‐
se gilt für die Matrix der Übergangswahrscheinlichkeiten

 0 0 1
 
P   0 1 0
 
1 0 0 
und der Startverteilung p(0)  (1,0,0) für alle ungeraden Zeitpunkte
T

p(1)T  (0,0,1)  p(3)T  p(5)T  .....


und für alle geraden Zeitpunkte
p(2)T  (1,0,0)  p(4)T  p(6)T  ..... .

592 Vgl. HAUKE/OPITZ (2003, S. 162ff).

403
After Sales und Reverse Logistics
6
d) Für die Überprüfung, ob eine ergodische Markovkette vorliegt, genügt es ein
t  IN zu bestimmen, sodass die Übergangsmatrix Pt eine positive Spalte besitzt.
Für eine ergodische Markovkette existiert genau eine stationäre Verteilung, die
auch Grenzverteilung ist.

Beispiel 6.2.2:

Für das technische Gerät aus Beispiel 7.2.1 ist die Startverteilung p(0)  (1, 0, 0)
T

gegeben, d. h. das Gerät ist intakt. Dann lassen sich die Zustandsverteilungen für die
Zeitpunkte t  1,2,3,... wie folgt berechnen:

1 / 3 1 / 2 1 / 6 
 
p (1)  ( 1 ,
T
0, 0 )   0 1 / 3 2 / 3  ( 1 / 3 , 1 / 2 , 1 / 6 )
 
 1 0 0 

1 / 3 1 / 2 1 / 6 
T  
p 2   ( 1 / 3 , 1 / 2 , 1 / 6 )   0 1 / 3 2 / 3   ( 5 / 18 , 1 / 3 , 7 / 18 ) usw.
 
 1 0 0 

Für die Bestimmung der stationären Verteilung ist das folgende Gleichungssystem
zu lösen:

pT E  P   0 mit  pi  1
3

i 1

1 0 0  1 / 3 1 / 2 1 / 6 
( p1, p2 , p3 )   0 1 0    0 1 / 3 2 / 3   ( 0, 0, 0 )
 0 0 1   1 0 0 

 2 / 3 1/ 2 1/ 6 
 
( p1 , p2 , p3 )   0 2 / 3  2 / 3  ( 0 , 0 , 0 )
 
1 0 1 

2 2
(I ) : p1  p3  0  p3  p1
3 3
1 2 3
( II ) :  p1  p2  0  p2  p1
2 3 4
1 2
( III ) :  p1  p2  p3  0
6 3
3 2 12 9 8
p1  p2  p3  1  p1  p1  p1  1  p1  ; p2  ; p3 
4 3 29 29 29
Für die stationäre Verteilung ergibt sich somit p  ( 12 / 29 ; 9 / 29 ; 8 / 29 ) .
T

404
6.2
Logistik im After Sales Management

Diese stationäre Zustandsverteilung entspricht auch der eindeutigen Grenzverteilung,


denn die zugrundeliegende Markovkette ist ergodisch. Ausgehend von der Über‐
2
gangsmatrix P besitzt P eine positive Spalte:

1 / 3 1 / 2 1 / 6   5 / 18 1 / 3 7 / 18 
   
P   0 1 / 3 2 / 3  und P 2   2 / 3 1 / 9 2 / 9 
  1 / 3 1 / 2 1 / 6 
 1 0 0   

Ist diese stationäre Zustandsverteilung einmal erreicht, dann verändert sie sich bei
weiteren Übergängen nicht mehr.

6.2.3.2 Ausfallrate

Die Ausfallrate q(t ) entspricht der Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls einer Maschine
oder Anlage unter der Bedingung, dass die Maschine zum Zeitpunkt t noch nicht
ausgefallen ist. Im Folgenden wird eine Maschine betrachtet, die sich im Zeitpunkt
t  1, 2, ... im Zustand
 1, falls intakt
Z t   
 0, falls defekt

befindet. Im Zeitpunkt t  0 sei die Maschine intakt, d. h. es gilt Z 0   1 als sicher


( P ( Z (0)  1)  1 ). Mit LD wird die zufallsabhängige Lebensdauer der Maschine
bezeichnet. Somit gilt LD  t , falls die Maschine im Zeitpunkt t ausfällt und LD  t ,
falls kein Ausfall bis zum Zeitpunkt t erfolgt (d. h. Z (t )  1 ).

Für die Ausfallrate q(t ) am Ende der Periode t gilt:

q  t   P( Ausfall im Zeitpunkt t| kein Ausfall bis zum Zeitpunkt t  1)


P( LD  t  LD  t  1) P  LD  t 
 P( LD  t| LD  t  1)  
P( LD  t  1) P  LD  t  1

Für die weiteren Betrachtungen wird von einer konstanten Ausfallrate ausgegangen,
d. h. q  q (1)  q ( 2)  ... mit

P  LD  1 P  LD  1
q  P( Ausfall im Zeitpunkt t  1)    P( LD  1) .
P  LD  0  P  Z(0)  1

405
After Sales und Reverse Logistics
6
Des Weiteren gilt:
P ( LD  t )  P ( LD  t  1)  P ( LD  t )
 P ( LD  t  1)  qP ( LD  t  1)  (1  q ) P ( LD  t  1)

und somit

P ( LD  1)  (1  q) P( LD  0)  1  q
P ( LD  2)  (1  q) P( LD  1)  (1  q) 2
⋮
P ( LD  t )  (1  q) t .

Mit P( LD  t )  1  (1  q) folgt
t

P ( LD  t )  P ( LD  t )  P ( LD  t  1)
 1  (1  q) t  1  (1  q ) t 1  (1  q) t 1 (1  (1  q))  q(1  q) t 1.

Für die erwartete Lebensdauer einer Maschine gilt somit unter Ausnutzung des
Grenzwertes der geometrischen Reihe
   q 1
E  LD    t  P( LD  t )   t  q(1  q) t 1  q   t  (1  q) t 1   .
t 1 t 1 t 1 q2 q

Bemerkungen 6.2.2:

a) Bei konstanter Ausfallrate q ist die Instandhaltungsplanung durch eine homoge‐


ne Markovkette mit dem Zustandsraum Z  { z1 , z2 } darstellbar, wobei gilt z1 =
Maschine defekt und z 2 = Maschine intakt. Für die Startverteilung gilt
p(0)T  (0,1) und die Übergangsmatrix hat die Form:
1 0 
P   .
q 1 q
Die Zustandsverteilung lässt sich dann wie folgt berechnen:

 1 0 
p(t ) T  p(0) T  P t  (0 , 1)     (1  (1  q) t , (1  q) t ) .
1  (1  q)
t
(1  q) 
t

b) Bei einer sofortigen Erneuerung der Maschine nach einem Ausfall beträgt die
erwartete Anzahl von Ausfällen und damit von Erneuerungen gleich t  q .

406
6.2
Logistik im After Sales Management

Beispiel 6.2.3:

In einer Werkstatt stehen zwei baugleiche Messgeräte, die unabhängig voneinander


ausfallen können. Die Lebensdauer jedes Messgeräts beträgt vier Perioden. Die Aus‐
fallwahrscheinlichkeit sei unabhängig davon, wann die Geräte zuletzt repariert wur‐
den. Bei Ausfall eines Gerätes in einer Periode wird das Gerät sofort repariert, so dass
es zu Beginn der nächsten Periode wieder eingesetzt werden kann, unabhängig davon,
was die Ausfallursache war und ob noch ein weiteres Messgerät repariert werden
muss. Die Kapazität der Instandhaltungsabteilung ist so bemessen, dass bei Bedarf
höchstens ein Messgerät repariert werden kann.
Die Situation kann durch eine homogene Markovkette mit dem Zustandsraum
Z  {z1 , z 2 , z3 } abgebildet werden. Der Zustand z1 repräsentiert kein defektes Mess‐
gerät, der Zustand z 2 repräsentiert ein defektes Messgerät und der Zustand z3 reprä‐
sentiert zwei defekte Messgeräte. Da die erwartete Lebensdauer einer Bohrmaschine
E ( LD )  1 / q  4 Perioden beträgt, gilt für die Ausfallrate q  1 / 4 . Die Übergangs‐
wahrscheinlichkeit pij kann nun als diejenige Wahrscheinlichkeit interpretiert wer‐
den, dass in der Periode t  1 genau j Messgeräte defekt sind, wenn in der Periode t
genau i Messgeräte ( i, j  0,1,2 ) defekt waren.
Somit gilt für p11  0,75  2  0,75  0,25  0,9375 , da in der Periode t kein oder ein
2

Messgerät ausfallen kann, damit in der Periode t  1 aufgrund der sofortigen Repara‐
tur wieder zwei Messgeräte intakt sind. Des Weiteren gilt p12  0,25  0,0625 , da
2

beide Messgeräte in der Periode t ausgefallen sind und nur eines davon repariert
werden konnte. Ist in einer Periode ein Messgerät in Reparatur und das andere fällt
aus, dann gilt für p 22  0,25 . Insgesamt ergibt sich aus diesen Überlegungen die
folgende homogene Übergangsmatrix:
z1 z2 z3

z1  0,9375 0,0625 0
 
P = z2  0,75 0,25 0
z3  0 1 0 

Ist zu Beginn des Prozesses ein Messgerät defekt, dann gilt für die Startverteilung
p(0)T  (0,1, 0) . Mit Hilfe der Übergangsmatrix kann nun berechnet werden, mit
welchen Wahrscheinlichkeiten für die Periode t  2 kein bzw. höchstens ein Messge‐
rät defekt ist.

407
After Sales und Reverse Logistics
6
Es gilt zunächst

 0,9375 0,0625 0 
 
p(1)  (0 ,
T
1, 0)   0,75 0,25 0   (0,75; 0,25; 0)
 
 0 1 0

 0,9375 0,0625 0 
T  
p 2  (0,75; 0,25; 0)   0,75 0,25 0   (0,891; 0,109; 0).
 
 0 1 0

In der Periode t  2 beträgt die Wahrscheinlichkeit für kein defektes Messgerät 0,891,
und die Wahrscheinlichkeit für höchstens ein defektes Messgerät 0,891+0,109 = 1.

Da die homogene Markovkette ergodisch ist (zweite Spalte von P ist positiv), können
auch die Wahrscheinlichkeiten für das langfristige Verhalten, dass für eine Periode
kein bzw. genau ein Messgerät defekt ist, berechnet werden. Die Grenzverteilung kann
ausgehend von der Startverteilung p(0)  (1, 0, 0) mit der stationären Verteilung
T

bestimmt werden:

pT E  P   0 mit  pi  1
3

i 1

1 0 0   0,9375 0,0625 0 


   
( p1 , p2 , p3 )   0 1 0    0,75 0,25 0   ( 0 , 0 , 0 )
   
 0 0 1  0 1 0 

 0,0625  0,0625 0 
 
( p1 , p 2 , p 3 )    0,75 0,75 0  ( 0 , 0 , 0 )
 0 1 1 

(I ) : 0,0625 p1  0,75 p2  0  p1  12 p2

( II ) :  0,0625 p1  0,75 p2  p3  0

1 12
( I )  ( II )  p3  0; p1  p2  p3  1  13 p2  1  p2  ; p1 
13 13
Somit ergibt sich langfristig eine Wahrscheinlichkeit von 0,923 für kein defektes und
eine Wahrscheinlichkeit von 0,077 für ein defektes Messgerät.

408
6.3
Instandhaltungslogistik

6.3 Instandhaltungslogistik
Die Instandhaltungslogistik umfasst die nachhaltige, marktorientierte, ganzheitliche
Planung, Gestaltung, Steuerung und Koordination der räumlichen und zeitlichen
Transformation logistischer Objekte zur individuellen Sicherstellung der Verfügbarkeit
von Produktivfaktoren in der Wertschöpfungskette. Die Aufgaben der Instand‐
haltungslogistik können in eine operative und eine strategische Ebene unterteilt wer‐
den593. Auf der strategischen Ebene finden die Planung, Gestaltung, Steuerung und
Kontrolle der instandhaltungslogistischen Prozesse statt. Einflussfaktoren auf diese
Prozesse bilden die Instandhaltungsstrategien und die Vertragsgestaltung. Die opera‐
tive Ebene beinhaltet den Hauptprozess der Auftragsabwicklung, der durch einen
diagnostizierten Fehler, einen Maschinenausfall oder eine präventive Instandhal‐
tungsmaßnahme ausgelöst wird. Zur Auftragsabwicklung gehören die Auftragsgene‐
rierung, die Auftragsausführung sowie Berichts‐ und Rückmeldetätigkeiten. Des Wei‐
teren umfasst die operative Ebene die Teilprozesse Ersatzteillogistik, Tool‐Logistik,
Human Resource‐Logistik, die Kombination der Instandhaltungsressourcen mit den
‐objekten sowie die Entsorgungslogistik. Die Ersatzteillogistik hat die Aufgabe, die
benötigten Ersatzteile bereitzustellen, und die Tool‐Logistik ist für den Versand von
Werkzeugen und Vorrichtungen (z. B. Mess‐ und Prüfgeräte, Montagewerkzeuge,
Reinigungsgeräte, Leitern und Hebebühnen, technische Dokumentationen, Schmier‐
oder Reinigungsmittel) zuständig, welche für die Instandhaltung benötigt werden.
Aufgabe der Ersatzteil‐ und der Toollogistik ist neben der Distribution auch das Be‐
schaffungs‐ und Bestandsmanagement.

Abbildung 6‐6 Aufgaben der Instandhaltungslogistik

System der Instandhaltungslogistik

Strategische Ebene
Planung, Steuerung und Kontrolle der Instandhaltungslogistik

Operative Ebene

Auftragsabwicklung
Auftragsabwicklung Instandhaltung
Instandhaltung

Ersatzteillogistik
Ersatzteillogistik Vor‐
Vor‐ und
und
Endkombination
Endkombination der der
Instandhaltungs‐
Instandhaltungs‐
Tool‐Logistik
Tool‐Logistik ressourcen Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
ressourcenmitmitden
den
Instandhaltungs‐
Instandhaltungs‐
objekten
objekten
Human‐Resource‐
Human‐Resource‐
Logistik
Logistik

593 Vgl. SCHIECK (2003, S. 34f); HAUSLADEN (2004, S. 527ff).

409
After Sales und Reverse Logistics
6
Im Rahmen der Human‐Resource‐Logistik findet die Zuordnung der Mitarbeiter unter
Beachtung ihrer Qualifikationen und Kapazitäten zu den Instandhaltungsaufträgen
statt. Anschließend erfolgen die Vorkombination der Instandhaltungsressourcen und
deren nachfolgende Endkombination mit den Instandhaltungsobjekten. Nach Beendi‐
gung der Kernaufgaben der Instandhaltung sind diese Endkombinationen wieder
aufzulösen. Die Entsorgungslogistik im Rahmen der Instandhaltung umfasst Sammel‐
und Sortierprozesse sowie Umschlag, Transport und Lagerung von zu recycelnden
Objekten, wobei nur ein Teilbereich der Entsorgungslogistik vom Instandhaltungs‐
personal übernommen wird. Abbildung 6‐6 fasst die Aufgaben der Instandhaltungs‐
logistik zusammen.

Die Instandhaltungslogistik unterstützt die Instandhaltung bei der Erreichung ihrer


Ziele, sodass zum Aufgabenbereich der Instandhaltungslogistik die Sicherstellung der

 Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal zur Erfüllung der Instandhaltungs‐


aufgaben,
 Verfügbarkeit der erforderlichen Informationen wie z. B. Störungsmeldungen,
Ersatzteilbestellung, Ferndiagnose,
 Verfügbarkeit von Material, d. h. Ersatzteilbeschaffung, ‐bereitstellung und ‐trans‐
port und die
 optimale Allokation von Objekten und Ressourcen

gehören594.

Die verschiedenen operativen und strategischen Aufgaben der Instandhaltungslogistik


verdeutlichen, dass diese alle Subsysteme der Logistik tangieren. Für eine Versorgung
der Kunden mit instandhaltungslogistischen Leistungen sind Beschaffungsprozesse,
im Rahmen der Ersatzteillogistik auch Produktionsprozesse sowie Distributions‐
prozesse und entsorgungslogistische Prozesse notwendig. Da sich die Instand‐
haltungslogistik somit nicht in ein bestehendes logistisches Subsystem einordnen lässt,
verläuft sie parallel zur Versorgungslogistik. Neben den logistischen Prozessen im
Zusammenhang mit der Beschaffung, der Produktion und der Distribution von Pri‐
märprodukten existieren somit Güter‐, Informations‐ und Personenflüsse, welche für
die Erbringung von Instandhaltungsleistungen erforderlich sind.

Allerdings dürfen die Leistungen der Instandhaltungslogistik nicht losgelöst von der
Versorgungslogistik betrachtet werden. Da die Bereitstellung der Ersatzteile bereits bei
Verkaufsstart des Primärproduktes zu gewährleisten ist, können sowohl in der Be‐
schaffung als auch in der Produktion Synergieeffekte genutzt werden. Um Synergien
zwischen der Versorgungs‐ und der Instandhaltungslogistik realisieren zu können,
sind die Teilprozesse in enger Abstimmung miteinander zu gestalten. Die Prozesse der
Distributionslogistik im Rahmen der Instandhaltungslogistik sind zeitlich den Distri‐
butionsprozessen der Versorgungslogistik nachgeschaltet, da Instandhaltungs‐
leistungen erst notwendig werden, wenn sich die Primärprodukte des Herstellers

594 Vgl. WILDEMANN/HAUSLADEN (2005, S. 36).

410
6.3
Instandhaltungslogistik

beim Kunden befinden und dort zum Einsatz kommen. Die Abbildung 6‐7 zeigt die
Einordnung der Instandhaltungslogistik in die Unternehmenslogistik.

Abbildung 6‐7 Einordnung der Instandhaltungslogistik

Während des Verkaufs / der Produktion des Primärprodukts

Versorgungslogistik
Versorgungslogistik

Beschaffungs‐
Beschaffungs‐ Produktions‐
Produktions‐ Distributions‐
Distributions‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik

Synergien

Beschaffungs‐
Beschaffungs‐ Produktions‐
Produktions‐ Distributions‐
Distributions‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik

Instandhaltungslogistik
Instandhaltungslogistik
Solange der vorhandene Primärproduktbestand mit Ersatzteilen versorgt werden soll

Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik

Redistributions‐
Redistributions‐ Aufbereitungs‐
Aufbereitungs‐ Wiedereinsatz‐
Wiedereinsatz‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik

6.3.1 Ersatzteillogistik
Ersatzteile sind Teile (z. B. auch Einzelteile), Gruppen (z. B. auch Baugruppen und
Teilegruppen) oder vollständige Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind, beschädigte,
verschlissene oder fehlende Teile, Gruppen oder Erzeugnisse zu ersetzen595. Ersatztei‐
le können wie folgt unterschieden werden596:

 Verschleißteile unterliegen einer betriebsbedingten Abnutzung, sodass die Le‐


bensdauer auf Basis ihrer Beschaffenheit und der Nutzungsbedingungen gut vor‐
hergesagt werden kann. Der Bedarf an Verschleißteilen hängt von der Anzahl der
in Betrieb befindlichen Primärprodukte, sowie von deren Nutzung und Alter ab.
Die Bedarfsermittlung von Verschleißteilen wird als weniger schwierig erachtet,
da deren Bedarf kontinuierlich sowie bzgl. der Mengen als auch der Zeitpunkte

595 Vgl. DIN 24420 (1976, S. 1); KOCH (2004, S. 12).


596 Vgl. DOMBROWSKI/BOTHE (2001, S. 793); GRAF (2005, S. 23); KOCH (2004, S. 13f).

411
After Sales und Reverse Logistics
6
vorhersehbar ist, auch wenn das spezifische Nutzungsverhalten des Kunden nicht
zwangsläufig bekannt ist.
 Reserveteile sind durch einen sporadischen Bedarfsverlauf gekennzeichnet, da
deren technische Lebensdauer der des Gesamtprodukts entspricht und Ausfälle
lediglich zufallsbedingt auftreten. Reserveteile oder sog. Ausfallteile sind wäh‐
rend der Nutzungsdauer des Primärproduktes weder verschleißbedingt noch al‐
tersbedingt auszutauschen. Diese zufallsbedingten Ausfälle (z. B. von elektroni‐
schen Steuergeräten) können verschiedene Ursachen haben, wie beispielsweise
Qualitätsschwankungen im Fertigungsprozess oder in den eingesetzten Materia‐
lien. Reserveteile werden mit dem Ziel der schnellen Instandhaltung im Schadens‐
fall bereitgehalten, um die Ausfallkosten zu minimieren und sind durch niedrige
Bestände sowie hohe Bestandswerte charakterisiert.
 Kleinteile zeichnen sich durch hohe Bestandsmengen bei niedrigem Bestands‐
wert aus, wobei die Bestandsaufnahme i. d. R. nicht exakt, sondern durch Schät‐
zung erfolgt. Typische Kleinteile sind Normteile wie z. B. Schrauben oder Mut‐
tern.

Ersatzteile sind somit keine selbstständigen Bestandteile eines Systems, sondern nur
Teil des Primärproduktes, in das sie zu dessen Instandhaltung eingesetzt werden. Eine
weitere Unterteilung der Ersatzteile kann nach ihrer Herkunft vorgenommen wer‐
den597:

 Originalersatzteile sind entweder vom Primärprodukthersteller selbst gefertigte


Teile (d. h. Eigen(fertigungs)teile) oder fremdbezogene und unter seinem Namen
vertriebene Teile (d. h. Zulieferteile).
 Fremdersatzteile sind unter einem anderen Label als das des Primärprodukther‐
stellers vertriebene Teile, wobei zwischen Identteilen und Nachbauteilen unter‐
schieden wird. Da Identteile aus der gleichen Produktion wie das Originalteil
stammen, sind sie bau‐ und funktionsgleich, sie werden jedoch unter dem Label
des Original Equipment Manufacturer (OEM)‐Lieferanten verkauft. Nachbauteile
kommen aus einer anderen Produktion als das Originalteil und zwar unabhängig
davon, ob sie vom OEM‐Lieferanten oder einem anderen Herstellers stammen.
 Gebraucht‐ bzw. Austauschteile sind instand gesetzte Bauteile (d. h. Reparatur‐
teile) oder aus Altanlagen ausgebaute, funktionsfähige Teile (d. h. Altteile).

Die Ersatzteillogistik umfasst die zeitgerechte ganzheitliche Planung, Steuerung, Kon‐


trolle und effiziente Abwicklung der für die Instandhaltung benötigten Ersatzteile in
der erforderlichen Menge und Art beim entsprechenden Instandhaltungsobjekt. Die
Ersatzteillogistik ist für das Zusammenführen von benötigten Ersatzteilen und defek‐
tem Primärprodukt zuständig, sodass eine zeitliche, räumliche und mengenmäßige
Abstimmung notwendig ist.

597 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 128); BIEDERMANN (2008, S. 3f); KLUG (2010, S. 450).

412
6.3
Instandhaltungslogistik

Es kann zwischen der Ersatzteillogistik des Herstellers (Ersatzteildistribution) und der


Ersatzteillogistik des Betreibers (Ersatzteilbeschaffung) unterschieden werden598. Die
Betrachtung von Ersatzteildistribution und Ersatzteilbeschaffung als Organisations‐
einheiten unterschiedlicher Unternehmen lässt sich darauf zurückführen, dass vor
allem im Maschinen‐ und Anlagengeschäft eine enge Bindung zwischen Ersatz‐
teilkunden und ‐hersteller besteht. Alle Instandhaltungsmaßnahmen sind genau zu
planen, da sonst betroffene Maschinen nicht zur Verfügung stehen, was zu Kapazitäts‐
engpässen in der Fertigung führt und die Fertigungsplanung des Anlagenbetreibers
beeinflussen kann. Primäre Zielsetzung der Ersatzteillogistik des Betreibers ist die
Gewährleistung einer hohen Verfügbarkeit der von ihm betriebenen Primärprodukte.
Somit müssen entsprechende Ersatzteilbestände vorgehalten werden, die zu erhöhten
Lagerungs‐ und Kapitalbindungskosten führen. Daraus ergibt sich ein Zielkonflikt
zwischen der Erreichung eines maximalen Servicegrades bei minimalen Kosten. Die
Hauptaufgabe der Ersatzteillogistik des Herstellers besteht in der Planung, Steuerung
und Kontrolle der Ersatzteilversorgung des Kunden. Allerdings ist auch beim Herstel‐
ler die Beschaffung Bestandteil der Ersatzteillogistik, da er bereitzustellende Ersatztei‐
le beschaffen oder produzieren muss, um im Bedarfsfall Kunden damit versorgen zu
können.

Bei der Art der Steuerung, Planung und Durchführung der Ersatzteillogistik spielt
insbesondere die Beziehung des Ersatzteilwesens zum Primärproduktgeschäft eine
entscheidende Rolle. Es liegt eine vollständige Integration vor, wenn die Ersatz‐
teillogistik in einen anderen Unternehmensbereich eingegliedert ist und Anlagen,
Lagerflächen etc. einer gemeinsamen Nutzung und Planung unterliegen. Im Fall einer
vollständigen Autarkie wird die Ersatzteillogistik vom Primärproduktgeschäft losge‐
löst betrachtet, d. h. alle logistischen und planerischen Prozesse von der Beschaffung
bis zur Distribution erfolgen ohne Betrachtung von Synergien. Durch eine Integration
können Ressourcen gemeinsam genutzt, Aufgaben gebündelt und Leistungsverflech‐
tungen berücksichtigt werden. Ein autarker Bereich für das Ersatzteilwesen bietet sich
hingegen an, wenn sich dessen Anforderungen zu sehr von denen des Primärpro‐
duktgeschäftes unterscheiden und eine Integration zur Störung der Serienprozesse
führen würde. Zwischen vollständiger Integration und vollständiger Autarkie können
aber auch verschiedene Mischformen existieren599. Um der Prozessorientierung und
dem ganzheitlichen Charakter der Ersatzteillogistik Rechnung zu tragen, empfiehlt
sich eine Matrixorganisation. Im Rahmen einer Matrixorganisation wird die Ersatzteil‐
logistik autark gegenüber der Primärproduktlogistik behandelt, entlang der Prozess‐
kette erfolgt jedoch eine Diffusion in die Teilbereiche Beschaffung, Produktion und
Distribution, um Synergien entsprechend nutzen zu können.

598 Vgl. PFOHL (2010, S. 210ff).


599 Vgl. FRESE/HEPPNER (1995, S. 58ff).

413
After Sales und Reverse Logistics
6
6.3.2 Besonderheiten der Ersatzteillogistik
Die Ersatzteillogistik lässt sich im Vergleich zur Versorgungslogistik für Primärpro‐
dukte durch charakteristische Merkmale abgrenzen, sodass die Prozesse und Metho‐
den der Versorgungslogistik nicht ohne Weiteres auf die Ersatzteillogistik übertragbar
sind. Im Vergleich zur Versorgungslogistik für Primärprodukte weist die Ersatzteillo‐
gistik die folgenden Unterscheidungsmerkmale und Anforderungen auf600:

a) Großes, umfangreiches, inhomogenes, erklärungsbedürftiges Teilesortiment

Die Verkürzung der Produktlebenszyklen und Entwicklungszeiten für neue Pri‐


märprodukte sowie die Verlängerung der Produktnutzungsdauern beim Kunden
haben zur Folge, dass sich eine große Anzahl von Produktgenerationen auf dem
Markt befindet. Des Weiteren dehnen sich durch steigende Ersatzteil‐
garantiedauern die Versorgungszeiträume vor allem in der Nachserienphase aus.
Der Trend zu kundenindividuellen Problemlösungen führt auch zu einer Erhö‐
hung der Variantenvielfalt. Weiterhin sind aufgrund der Inhomogenität der Er‐
satzteile (z. B. sperrig, schwer, groß, klein oder zerbrechlich) verschiedene Hand‐
habungen erforderlich. Ersatzteile sind auch in starkem Maße erklärungs‐
bedürftig, sodass Informationen zu technischen Funktionen und Montage‐
hinweisen vorliegen und transferiert werden müssen.

b) Derivative, unerwartete und sporadische Nachfrage

Die Nachfrage nach Ersatzteilen hängt von der Anzahl der verkauften Primärpro‐
dukte, deren Lebenszyklus sowie deren Ausfallverhalten ab. Insbesondere bei Re‐
serveteilen liegt eine unerwartete und sporadische Nachfrage der Kunden vor.

c) Niedrige Einzelbedarfe mit schlechter Prognostizierbarkeit

Ersatzteile mit einer unsicheren Nachfrage, gekennzeichnet durch niedrige Ein‐


zelbedarfe pro Nachfrage, sind schwierig zu prognostizieren. Da zukünftig der
Anteil an spontan ausfallenden Reserveteilen zunimmt, wird dadurch das Prog‐
noseproblem noch verstärkt.

d) Eilbedürftigkeit der Versorgung

Im Rahmen der Instandhaltung von Maschinen und Anlagen wird eine ununter‐
brochene Verfügbarkeit des betrachteten Primärproduktes und somit eine unmit‐
telbare Ersatzteilversorgung gefordert. Somit wird der Erfolgsfaktor Zeit bei ge‐
ringer werdenden Zeitbudgets für Ersatzteillieferungen und steigenden Ausfall‐
kosten betrieblich eingesetzter Anlagen immer kritischer. Nicht selten werden
vom Kunden Lieferzeiten für Ersatzteile unter 24 Stunden erwartet, sodass insbe‐
sondere bei international ausgerichteter Ersatzteilversorgung komplexe Distribu‐

600 Vgl. KOCH (2004, S. 20ff); GRAF (2005, S. 25ff); VOß (2006, S. 55f); VAHRENKAMP (2007, S. 163).

414
6.3
Instandhaltungslogistik

tionsstrukturen notwendig sind, um eine permanente Verfügbarkeit der entspre‐


chenden Ersatzteile zu ermöglichen.

e) Hohe Kundenanforderungen an die Lieferzuverlässigkeit

Eine hohe Lieferzuverlässigkeit ist insbesondere dann wichtig, wenn eine In‐
standhaltungsmaßnahme nur zu bestimmten Zeiten, z. B. während der Maschi‐
nen‐ oder Anlagenstillstandszeiten vorgenommen werden kann.

f) Permanente Verfügbarkeit der Ersatzteile

Die Ersatzteilverfügbarkeit ist ab Verkaufsstart des jeweiligen Primärprodukts bis


über das Ende der Serienfertigung hinaus sicherzustellen, da Primärprodukte
auch nach Auslauf der Serienproduktion noch verkauft und entsprechend ihrer
Nutzungsdauer betrieben werden. Die sporadische Nachfrage hat jedoch niedrige
Lagerumschlagshäufigkeiten zur Folge, die zu erhöhten Kapitalkosten führen.

g) Integration in Instandhaltungsmaßnahmen und Recyclingkreisläufe

Eine Möglichkeit zur Sicherstellung der Ersatzteilversorgung besteht auch in der


Wiederverwendung von gebrauchten Teilen, deren Funktionsfähigkeit durch Re‐
cyclingkreisläufe wieder hergestellt werden kann. Des Weiteren wird die Ersatz‐
teilversorgung auch von den verschiedenen Instandhaltungsmaßnahmen wie z. B.
Wartung, Inspektion, Instandsetzung und Verbesserung beeinflusst.

h) Rechtliche Lieferverpflichtungen

Eine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung zur Bevorratung mit Ersatzteilen be‐


steht nicht, eine Verpflichtung zur Ersatzteilbevorratung kann sich jedoch aus
dem Gesetz oder aus vertraglichen Vereinbarungen ergeben601. Hersteller sind
gesetzlich im Rahmen des Gewährleistungszeitraumes zur Bereitstellung von Er‐
satzteilen verpflichtet. Nach Ablauf der Gewährleistungspflicht bestehen keine
gesetzlichen Regelungen, die konkrete Zeiträume für die Bevorratung von Ersatz‐
teilen festlegen. Hersteller garantieren zum Teil vertraglich die Verfügbarkeit von
Ersatzteilen, jedoch meist nur bei Großaufträgen oder Wartungsverträgen im ge‐
werblichen Bereich mit entsprechend hohem Finanzierungsaufwand602. Aus den
gesetzlichen Gewährleistungsregeln und ‐fristen oder einer individuell ausge‐
sprochenen Garantie resultiert die Notwendigkeit zur Ersatzteilversorgung. Ver‐
tragliche Regelungen werden meist zwischen Herstellern und Abnehmern von
Industriegütern getroffen, wobei diese durch Regelungen im Kaufvertrag, durch
individuelle Wartungsverträge oder durch Konsignationsabreden realisiert wer‐
den können. Für den Schadensfall existieren umfassendere gesetzliche Bestim‐
mungen. Insbesondere hat der zur Gewährleistung Verpflichtete sicherzustellen,

601 Vgl. ZDARSKY (1996, S. 5).


602 Vgl. BOTHE (2003, S. 43).

415
After Sales und Reverse Logistics
6
dass die zur Schadensbehebung benötigten Teile oder Vorprodukte beschafft
werden. Vor allem für Unternehmen mit geringer Wertschöpfungstiefe ist es des‐
halb wichtig, die Haftungsansprüche für Schadensfälle zu definieren.

Die aufgezeigten Besonderheiten der Ersatzteillogistik verdeutlichen, dass die Versor‐


gung mit Ersatzteilen ein komplexes Aufgabengebiet darstellt, welches sich in seinen
Anforderungen zum Teil deutlich von der Versorgungslogistik für Primärprodukte
unterscheidet. Diese Besonderheiten verlangen nicht nur von der Produktionstechnik
eine hohe Flexibilität, sondern auch von allen involvierten logistischen Prozessen des
ASS, um den meist dringlichen Bedarf aufgrund der vorausgehenden Störung des
Primärproduktes zu befriedigen.

6.3.3 Akteure in der Ersatzteilversorgung


Eine Ersatzteilversorgung erfolgt nicht nur durch den Hersteller der Primärprodukte,
sondern der Primärproduktbesitzer kann aus dem Angebot verschiedener Ersatzteil‐
anbieter wählen. Dieses Wettbewerbsumfeld auf dem grundsätzlich attraktiven Markt
der Ersatzteilversorgung hat der Primärprodukthersteller bei der Abschätzung des
Ersatzteilbedarfs zu beachten, da dadurch sein Ersatzteilabsatz unter dem am gesam‐
ten Markt vorhandenen Ersatzteilbedarf liegen kann. Im Rahmen der Ersatzteilversor‐
gung können die folgenden Akteure unterschieden werden603:

a) Hersteller der Primärprodukte

Aus den gesetzlichen Gewährleistungsregeln und ‐fristen oder durch individuell


ausgesprochene Garantieleistungen ergibt sich für den Hersteller von Primärpro‐
dukten die Notwendigkeit zur Ersatzteilversorgung. Somit sind Primärpro‐
dukthersteller in der Wahl des angebotenen Ersatzteilsortiments weniger frei, da
sie sich nicht nur auf Ersatzteile mit einem hohen Umschlag je Zeiteinheit be‐
schränken können, sondern auch Ersatzteile anbieten müssen, die aufgrund einer
seltenen Nachfrage möglicherweise nicht gewinnbringend verkauft werden kön‐
nen. Die Herausforderung für den Primärprodukthersteller besteht darin, qualita‐
tive Unterschiede zwischen den von ihm angebotenen und als Originalteile ver‐
markteten Ersatzteilen und den günstigeren Ersatzteilen von Drittanbietern her‐
vorzuheben, um den Marktanteil bei den wirtschaftlich attraktiven Ersatzteilen
auszubauen.

603 Vgl. VOß (2006, S. 11ff).

416
6.3
Instandhaltungslogistik

b) Lieferanten der Hersteller

Aufgrund der abnehmenden Fertigungstiefe werden vom Hersteller immer mehr


Leistungen an Lieferanten vergeben. Aus diesem Grund kommt den Lieferanten
bei der Sicherstellung der Ersatzteilversorgung eine wichtige Rolle zu. Sofern sich
die Lieferanten gegenüber dem Primärprodukthersteller mittels langfristiger Ver‐
träge zuverlässig zur weiteren Lieferung benötigter Ersatzteile auch nach Ende
der Produktion der Primärprodukte verpflichten, kann der Hersteller von Pri‐
märprodukten seine notwendigen Lagerbestände reduzieren. Lieferanten können
aber auch als Konkurrenten bei der Ersatzteilversorgung auftreten, indem sie eine
kosteneffiziente und schnelle Ersatzteilversorgung anbieten.

c) Aufarbeitende Unternehmen

Aufarbeitende Unternehmen, wie z. B. Gebrauchtmaschinenhändler, sind darauf


spezialisiert, ganze Maschinen und Anlagen am Ende der Nutzungszeit von ei‐
nem Anlagenbetreiber zu beziehen. Diese arbeiten bzw. bereiten sie je nach Auf‐
tragsart und potenzieller Verkaufschance mit Hilfe entsprechender Ersatzteile
und Komponenten auf, um die Maschinen und Anlagen – teilweise verbunden
mit einem zusätzlichen Service – anschließend zu einem möglichst hohen Gewinn
wieder abzusetzen. Hierbei kann das Unternehmen entweder zur Gruppe des
Herstellers gehören, womit das Produktportfolio von vornherein festgelegt ist,
oder unabhängig davon Anlagen mehrerer Hersteller anbieten, weshalb die Mit‐
arbeiter eine breite fachliche Kompetenz aufweisen sollten604. Oftmals werden
auch Gebrauchtteile aufgearbeitet und vertrieben.

d) Drittanbieter

Drittanbieter übernehmen gewisse Dienstleistungen, wie Beschaffung, Instand‐


haltung und Aufbereitung und können sich somit vom Hersteller differenzieren.
Insbesondere bei Abkündigungen und am Ende des Lebenszyklus‘ einer Anlage
kann dies für den Betreiber von besonderer Wichtigkeit sein605. Drittanbieter stel‐
len ihr Ersatzteilsortiment häufig nach wirtschaftlichen Kriterien zusammen, in‐
dem sie insbesondere Ersatzteile mit hohem Gewinn in ihr Angebot aufnehmen.
Da diese Ersatzteile meist zu niedrigeren Preisen als diejenigen der Primär‐
produkthersteller angeboten werden, kann dies zu einem Rückgang des Ersatz‐
teilgeschäfts des Primärproduktherstellers führen. Drittanbieter haben den Vor‐
teil, dass sie die Verfügbarkeit weder für alle Teile noch über die gesamte Lebens‐
dauer der Primärprodukte hinweg sicherstellen müssen. Sie können Ersatzteile
und Instandhaltungsleistungen häufig zu geringeren und besseren Konditionen
bzw. Umfängen anbieten606.

604 Vgl. SCHUH ET AL. (2013, S. 168).


605 Vgl. BEHFARD ET AL. (2015, S. 498).
606 Vgl. BAUMBACH (2004, S. 58).

417
After Sales und Reverse Logistics
6
e) Ersatzteilpiraten

Diese Unternehmen bauen Ersatzteile nach Vorlage eines Teils der anderen Ak‐
teure nach und verstoßen dabei gegen geltendes Recht (z. B. Patente). Ersatzteilpi‐
raten bieten Ersatzteile häufig mit minderer Qualität aber zu vergleichsweise
günstigen Preisen an.

Das aufgezeigte Wettbewerbsumfeld im Ersatzteilgeschäft stellt die Primärprodukt‐


hersteller vor große Herausforderungen. Im Maschinenbau werden beispielsweise nur
25% des gesamten Umsatzpotenzials für Ersatzteile durch Primärprodukthersteller
erbracht, sodass 75% von konkurrierenden Anbietern realisiert werden607. Eine Mög‐
lichkeit zur Verteidigung bzw. zur Verbesserung des Umsatzanteils der Primärpro‐
dukthersteller besteht im Aufbau einer effizienten und effektiven Ersatzteillogistik.

6.3.4 Phasen und Verlauf des Ersatzteilbedarfs


Für die Beschreibung der Entwicklung des Ersatzteilbedarfs ist der Produktlebens‐
zyklus des mit Ersatzteilen zu versorgenden Primärproduktes von zentraler Bedeu‐
tung. Der klassische Produktlebenszyklus kann in eine Einführungs‐, Konsolidie‐
rungs‐ und Degenerationsphase unterteilt werden. Nach der Entwicklung und Erpro‐
bung kommt ein Produkt auf den Markt und befindet sich dann in der
Einführungsphase, wobei sich der Markterfolg i. d. R. zunächst nur zögernd einstellt.
Wenn sich das Produkt am Markt durchsetzt, dann steigen die Verkaufszahlen bis
zum ersten Wendepunkt der Produktlebensfunktion an und es beginnt die Konsolidie‐
rungsphase. Das Absatzvolumen nimmt zunächst noch zu, allerdings verringern sich
die Zuwachsraten bis zum maximalen Absatz je Zeiteinheit und werden anschließend
negativ. Der nun folgende Wendepunkt bestimmt die Degenerationsphase, wobei der
Absatz weiter zurückgeht, bis das Produkt schließlich vom Markt genommen wird.

607 Vgl. SCHULZ (2003, S. 7).

418
6.3
Instandhaltungslogistik

Abbildung 6‐8 Lebenszyklus des Ersatzteilbedarfs608

Entwicklung Serienphase Nachserienphase

Anzahl

SOP I EOP EOS Zeit


II III
Einführung Konsolidierung Degeneration

Marktzyklus

Servicezyklus

Primärproduktabsatz Bedarf Verschleißteile

Primärproduktbestand Bedarf Reserveteile

Obwohl während der Entwicklungsphase des Primärprodukts noch kein Ersatzteil‐


bedarf besteht, sollten bereits Aspekte des späteren Ersatzteilgeschäftes berücksichtigt
werden. Beispielsweise kann durch die Entwicklung kompatibler Teile im Rahmen
einer Gleichteileverwendung oder eines Plattformkonzepts das Ersatzteilsortiment
reduziert werden. Der tatsächliche Ersatzteilbedarf findet erst in der nachfolgenden
Serien‐ und Nachserienphase statt (vgl. Abbildung 6‐8). Analog zum Produkt‐
lebenszyklus lässt sich auch der Zyklus der Ersatzteilversorgung in drei Phasen unter‐
teilen. Die erste Phase (I) umfasst die Markteinführung des Primärproduktes und
beginnt mit dem Start der Serienproduktion (SOP). Von Beginn an muss die Versor‐
gung des Ersatzteilerstbedarfs sichergestellt werden, der bei Neuprodukten aufgrund
von anfänglich mangelhafter Konstruktion oder Fertigung von Teilen verhältnismäßig
hoch ist. In dieser Phase liegen noch keine ausreichenden Vergangenheitsdaten vor,
auf deren Basis eine Abschätzung des Ersatzteilbedarfs möglich wäre. Die Prognosen
basieren deshalb auf Erfahrungswerten der Marketing‐ oder Entwicklungsabteilun‐
gen, beispielsweise mit Hilfe der Ausfallraten analoger Teile. Da in diesem Stadium
des Primärprodukt‐Lebenszyklus noch keine oder wenige Altteile zur Verfügung
stehen, ist eine Nachfragedeckung durch die Verwendung von Altteilen nicht möglich.

Mit der erfolgreichen Etablierung des Primärproduktes am Markt und dem Anstieg
der Verkaufszahlen beginnt die zweite Phase (II). Aus der Nutzung verkaufter Pri‐

608 In Anlehnung an QUANTSCHNIG (2010, S. 46); SCHRÖTER (2006, S. 105); KOCH (2004, S. 38).

419
After Sales und Reverse Logistics
6
märprodukte liegen nun verwertbare Informationen über das Ausfallverhalten vor, die
eine Bedarfsprognose auf der Basis von Ausfallraten für Verschleißteile mit zuneh‐
mender Datenmenge vereinfachen. Die Reserveteile weisen einen stark sporadischen,
nicht vorhersehbaren Bedarf an Ersatzteilen auf. Die Kurve des kumulierten Bedarfs
an Verschleiß‐ und Reserveteilen steigt aufgrund des zunehmenden Bestandes an
Primärprodukten stetig an. Da die Fertigung der notwendigen Ersatzteile in der zwei‐
ten Phase (II) meist in die Serienfertigung integriert wird, besteht für den Primärpro‐
dukthersteller aufgrund der geringen Herstellkosten kein wirtschaftlicher Anreiz zur
Integration eines zusätzlichen Prozesses für das Produktrecycling609.

Der Beginn der dritten Phase (III) stellt die Einstellung der Serienproduktion (EOP)
dar, zu dessen Zeitpunkt sich der höchste Bestand an Primärprodukten auf dem Markt
befindet. Dieser gesamte Primärproduktbestand bleibt solange konstant, bis zuneh‐
mend mehr Primärprodukte ihre maximale Nutzungsdauer erreichen und anschlie‐
ßend aus dem Markt ausscheiden. Somit liegt der Höchstbedarf an Ersatzteilen meist
kurz nach dem EOP, da durch Alterung und Verschleiß der auf dem Markt verblei‐
benden Primärprodukte mit einem steigenden Ausfall an Teilen zu rechnen ist. Die
zunehmende Verringerung des Primärproduktbestandes führt zu einem langsamen
und kontinuierlichem Abwärtstrend bei der Nachfrage nach Ersatzteilen. Da sich der
Bestand an Altteilen durch das Ausscheiden der Primärprodukte in dieser Phase ge‐
nau entgegengesetzt entwickelt und eine Ersatzteilfertigung wenig rentabel ist, greifen
die Ersatzteilhersteller mit zunehmendem Abstand zum EOP verstärkt auf die Wie‐
derverwendung von Altteilen zurück.

Mit zunehmender Entfernung vom EOP wird die maximale Nutzungsdauer der kurz
vor dem EOP verkauften Primärprodukte erreicht und das Ende der Ersatzteil‐
bereitstellung (EOS) rückt immer näher. Zu diesem Zeitpunkt sollte sich der Hersteller
der Primärprodukte folglich mit der Frage auseinandersetzen, wie lange er die Ersatz‐
teilversorgung aufrecht erhalten möchte. In diesem Zusammenhang muss auch eine
Entscheidung über eine Ersatzteilsortimentsbereinigung getroffen werden. Dabei
müssen insbesondere rechtliche Verpflichtungen zur Lieferung von Ersatzteilen und
die angestrebte Kundenzufriedenheit beachtet werden. Nach dem EOS noch vorhan‐
dene Ersatzteile können entweder mit Hilfe einer Bearbeitung einer weiteren Verwen‐
dung zugeführt oder müssen verschrottet werden.

Die vom Kunden geforderten sehr kurzen Lieferzeiten für Ersatzteile lassen sich nicht
durch eine bedarfssynchrone Ersatzteilbeschaffung bzw. Ersatzteilproduktion reali‐
sieren, da die Wiederbeschaffungszeit die geforderte Lieferzeit für Ersatzteile über‐
steigt. Aufgrund der dadurch entstehenden Durchlaufzeit‐Lücke (vgl. Abbildung 6‐9)
ist eine Pull‐Strategie nicht umsetzbar, sodass auf eine Lagerhaltung für Ersatzteile
nicht verzichtet werden kann610. Die Lagerhaltung ist ebenso unausweichlich auf‐
grund der großen Variabilität der Ersatzteilnachfrage im After‐Sales‐Geschäft sowie

609 Vgl. SCHRÖTER (2006, S. 106).


610 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 165ff); LOUKMIDIS/LUCZAK (2006, S. 252).

420
6.3
Instandhaltungslogistik

der aus wirtschaftlichen Kalkulationen abweichenden Losgrößen in der von Beschaf‐


fung, Produktion und Distribution von Ersatzteilen.

Abbildung 6‐9 Durchlaufzeit-Lücke611

Wiederbe‐
0 1 2 3 4 5 schaffungszeit
[Wochen]

Beschaf‐ Teilefer‐ Vormon‐ Endmon‐ Distri‐


fung tigung tage tage bution

Durchlaufzeit‐Lücke Lieferzeit

6.3.5 Prognoseverfahren für sporadische Ersatzteilbedarfe


Im Unterschied zum Primärproduktgeschäft hängt der Ersatzteilbedarf von vielen
Einflussfaktoren ab, welche die Komplexität der Nachfrageprognose erhöhen. Bei den
Einflüssen auf die Ersatzteilprognose können Faktoren bezogen auf das Primär‐
produkt, auf das Ersatzteil, auf die Instandhaltung und den Ersatzteilmarkt unter‐
schieden werden (vgl. Abbildung 6‐10)612.

Da während der Serienphase der Ersatzteilbedarf meist aus der Serienproduktion


entnommen wird, ist die Bedarfsprognose in dieser Phase von geringerer Bedeutung
als in der Nachserienphase. Die Genauigkeit der Ersatzteilprognose bestimmt maßgeb‐
lich die Höhe der zu lagernden Bestände. Die Prognose des zukünftigen Ersatzteilbe‐
darfs wird sowohl durch die hohe Volatilität als auch durch das sporadische Auftreten
des Ersatzteilbedarfs erschwert. Eine weitere Herausforderung besteht in dem oftmals
sehr langen Prognosezeitraum, da eine Ersatzteilversorgung z. B. in der Automobil‐
industrie über mehr als 15 Jahre nach Auslauf der Serienfertigung zugesagt wird.

Verfahren zur Bedarfsprognose lassen sich in programmorientierte (bzw. determinis‐


tische), kausale, subjektive und verbrauchsorientierte (bzw. stochastische oder zeitrei‐
henanalytische) Verfahren unterteilen. Bei den programmorientierten Verfahren wer‐
den vorliegende Kundenaufträge zur Ermittlung des Ersatzteilbedarfs herangezogen.
Da im Ersatzteilservice i. d. R. keine frühzeitigen Kundenaufträge bzw. Informationen
über das Auftreten eines Ersatzteilbedarfs vorliegen und eine Ersatzteilversorgung
antizipativ sicherzustellen ist, können programmorientierte Verfahren nur dann ein‐
gesetzt werden, wenn die Beschaffungszeit bzw. Durchlaufzeit der Ersatzteile kleiner
als die vom Anwender tolerierte Lieferzeit ist. Dies wird in der Regel nur dann ge‐
währleistet, wenn der Ersatzteilbedarf vor dem Ausfall bzw. vor dem Beginn der In‐

611 In Anlehnung an BAUMBACH (2004a, S. 167).


612 Vgl. LOUKMIDIS/LUCZAK (2006, S. 255ff).

421
After Sales und Reverse Logistics
6
standhaltungsmaßnahme des betroffenen Primärprodukts durch eine zeitlich präven‐
tive Instandhaltungsmaßnahme geplant werden kann. Bei Anwendung einer reakti‐
ven, zustandsorientierten oder vorausschauenden Instandhaltung ist der Einsatz pro‐
grammorientierter Verfahren nicht sinnvoll.

Abbildung 6‐10 Einflussfaktoren des zukünftigen Ersatzteilbedarfs613

• Vergangenheitsnachfrage des ET‐Bedarfs


• ET Lebensdauer (Verschleißverhalten,
Nutzungsintensität, Einsatzbedingungen etc.)
• ET‐Sortiment (Kompatibilität)

• Nutzungsintensität und
• ‐bedingungen Ersatzteil (ET)
• Frühinformationen zu
• Verschleißerscheinungen
• (z.B. durch Inspektionen,
• On‐Line‐Diagnose)

Bedarfsprognose von
Primärprodukt (PP) Extern – Markt & Umfeld
Ersatzteilen

• Aktueller PP‐Bestand • Entwicklung des Ersatzteil‐


• Zukünftiger Planverlauf marktes (Nicht‐Originalan‐
• Produktausfallkurven bieter)
(ähnliche Produkte, Ver‐ • Gesetzliche Vorschriften
gangenheitserfahrung) Instandhaltung • Neue Technologien

• Instandhaltungsstrategien
des Nutzers
• Instandhaltungsmaßnahmen
(Wartung, Inspektion, Instand‐
setzung, Verbesserung)

Kausale Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie den zukünftigen Ersatzteil‐
bedarf durch die Annahme bzw. modellhafte Abbildung von Beziehungen zwischen
verschiedenen Einflussgrößen prognostizieren. In der Regel basieren kausale Modelle
zur Bestimmung der Ersatzteilnachfrage auf zuverlässigkeitstheoretischen Über‐
legungen, die sich am Ausfallverhalten der Ersatzteile bzw. der Primärprodukte orien‐
tieren. Die quantifizierte Darstellung dieser teilweise auch unbekannten Einflüsse
erschwert jedoch die Modellierung und führt zu komplizierten mathematischen Mo‐
dellen614. Der Aufwand für die Ermittlung der bekannten Einflussfaktoren ist zudem
unverhältnismäßig hoch, sodass sich gerade vor dem Hintergrund der enormen Teile‐
vielfalt im Ersatzteilbereich die Anwendung kausalanalytischer Verfahren in der Pra‐
xis nicht besonders eignet. Darüber hinaus verbessert sich die Prognosegenauigkeit
nicht zwangsläufig mit steigender Verfahrenskomplexität.

613 In Anlehnung an LOUKMIDIS/LUCZAK (2006, S. 256).


614 Vgl. SCHUPPERT (1994, S. 44).

422
6.3
Instandhaltungslogistik

Abbildung 6‐11 Prognoseverfahren in Abhängigkeit des Bedarfsverlaufes615

Zeitreihenanalytische
Verfahren

Konstanter Trendmäßiger Saisonaler Sporadischer


Bedarfsverlauf Bedarfsverlauf Bedarfsverlauf Bedarfsverlauf
116 170 170 116
115 160 160 115
114 150 150 114
113 140 140 113
112 130 130 112
111 120 111
120
110 110 110 110
109 100 109
100
108 90 108
90
107 80 107
80
106 70 106
70
105 60 105
60

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 18 19
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 17

Gleitender Exponentielle Phasendurch‐ Exponentielle


Durchschnitt Glättung zwei‐ schnittsme‐ Glättung erster
ter Ordnung thode Ordnung
Exponentielle
Glättung erster Verfahren von Saisonbereini‐ Verfahren von
Ordnung Holt gung mit glei‐ Croston
tenden Durch‐
Verfahren von schnitten Modifikation
Smith des Verfahrens
Verfahren von von Croston
Winters
Bootstrapping
Verfahren

Bei subjektiven Verfahren erfolgt die Prognose nicht aufgrund der Vergangen‐
heitsdaten der betrachteten Zeitreihe sondern basiert auf Überlegungen mit qualita‐
tivem Charakter, sodass der Mensch mit seinem Urteilsvermögen und nicht ein ma‐
thematisches Modell im Mittelpunkt steht. Vor allem beim Verkaufsstart von Produkt‐
neuentwicklungen sind subjektive Verfahren geeignet, da keine Vergangenheitsdaten
vorliegen und jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt die Ersatzteilverfügbarkeit zu si‐
chern ist. Subjektive Verfahren basieren auf Erfahrung und Intuition sowie dem Ur‐
teilsvermögen und Meinungen von Personen. Im Rahmen der subjektiven Verfahren
werden Analogieverfahren oder das Wissen von Experten eingesetzt616. Bei Analogie‐
verfahren werden Vergangenheitsdaten vergleichbarer Objekte, z. B. Primärprodukte
oder Ersatzteile älterer Baureihen für eine Zeitreihenanalyse herangezogen. Zu beach‐
ten ist jedoch, dass sich die Nachfrage der Ersatzteile bei einem neuen Primärprodukt
anders als bei dem Referenzobjekt verhalten kann. Beim Einsatz von Expertenwissen
werden Bedarfsprognosen unabhängig von verschiedenen Experten eingeholt, um
anschließend einen Konsens, z. B. durch Bildung des Mittelwertes der einzelnen
Schätzungen, zu finden. Die Anwendung subjektiver Verfahren ist oftmals mit einem

615 In Anlehnung an LOUKMIDIS/LUCZAK (2006, S. 256).


616 Vgl. LOUKMIDIS/LUCZAK (2006, S. 259).

423
After Sales und Reverse Logistics
6
hohen oder sogar noch höheren Aufwand wie die Anwendung kausaler Verfahren
verbunden und die Vorhersagequalität kann als gering eingestuft werden617.
Verbrauchsorientierte bzw. zeitreihenanalytische Verfahren gehören zu den univari‐
aten Verfahren, da sie für den zukünftigen Bedarf auf Basis von beobachteten Nach‐
fragemustern aus der Vergangenheit ausschließlich die Zeit als Erklärungsvariable
verwenden. Aus den in der Vergangenheit beobachteten Daten muss somit zunächst
ein Modell für die Prognose der zukünftigen Bedarfe entwickelt werden. Je nach Art
des in der Vergangenheit beobachteten Bedarfs können verschiedene zeitreihenanaly‐
tische Verfahren angewendet werden. Abbildung 6‐11 zeigt in Abhängigkeit des Be‐
darfsverlaufes jeweils beispielhaft ausgewählte Prognoseverfahren, die in der Praxis
häufig zur Anwendung kommen618.

Die Bedarfsverläufe lassen sich auch nach der Regelmäßigkeit und der Unterbrechung
des Bedarfsverlaufs unterscheiden (vgl. Abbildung 6‐12). Die Regelmäßigkeit des
Bedarfs wird mit dem quadratischen Koeffizienten der Nachfragevariation (Coefficient
of Variation / CV2) und damit der Sprunghaftigkeit der Nachfrage gemessen. Die Un‐
terbrechung des Bedarfsverlaufs wird mit dem mittleren Intervall zwischen zwei Be‐
darfen (Average Inter‐Demand‐Interval / ADI) ausgedrückt. Je nach Ausprägung die‐
ser beiden Werte lassen sich Ersatzteile in unterschiedliche Kategorien einteilen. Als
Übergangswerte haben sich die Werte CV2 = 0,49 und ADI = 1,32 etabliert.

Abbildung 6‐12 Bedarfsklassifikation gemäß Regelmäßigkeit und Unterbrechung619

617 Vgl. DELURGIO (1998, S. 628f).


618 Vgl. TEMPELMEIER (2008, S. 31ff); CROSTON (1972); SYNTETOS/BOYLAN (2001); LEVÉN/SEGER‐
STEDT (2004); TEUNTER/SANI (2009).
619 In Anlehnung GHOBBAR/FRIEND (2002, S. 227).

424
6.3
Instandhaltungslogistik

Reserve‐ bzw. Ausfallteile sind durch eine hohe Sporadizität, d. h. durch einen sprung‐
haft und unterbrochenen Bedarfsverlauf gekennzeichnet, sodass im Folgenden Prog‐
noseverfahren vorgestellt werden, die unter Berücksichtigung sporadischer Bedarfs‐
verläufe entwickelt wurden. In der Abbildung 6‐13 ist der sporadische Bedarfsverlauf
eines Steuergerätes aus der Automobilindustrie für 41 Perioden dargestellt.

Abbildung 6‐13 Bedarfsverlauf eines elektronischen Steuergerätes eines Automobilherstellers

0
Se 11
Se 10

N t 10

N t 11
D 11
D 10

Se 12

N t 12
D 12
M r 11
Ju 11
Ju 11

13
M r 10
Ju 10
Ju 10

M r 12
Ju 12
Ju 12
A l 11
A l 10

A l 12
A 11

A 13
A 10

A 12
F e 11

F e 13
F e 10

F e 12
Ja 10

Ja 12
Ja 11

M 13
O 10

M 11

O 11
M 10

M 12

O 12
ov
ov

ov
ug
ug

ug

pr
n
n

n
ai
ai

rz

ai

rz
rz

rz
n

n
n

n
ez

ez
ez
p
p

p
b

b
b

b
k
k

k
p
p

p
Ja

Für die Verfahren zur Prognose sporadischer Bedarfe werden die folgenden Variablen
verwendet:

yt : Beobachteter Bedarf in Periode t

ŷt : Prognostizierter Bedarf in Periode t

et  yt  yˆ t : Prognosefehler in Periode t
pt : Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden Perioden mit positi‐
vem Bedarf

p̂t : Prognostizierte Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden Peri‐
oden mit positivem Bedarf

ẑ t : Prognostizierte Höhe des in Periode t auftretenden positiven Bedarfs

  0,1 : Glättungsparameter

425
After Sales und Reverse Logistics
6
a) Verfahren von CROSTON (CR)

Für sporadische Bedarfe entwickelte CROSTON620 ein Verfahren, das auf der expo‐
nentiellen Glättung erster Ordnung basiert und als Standardmethode für die
Prognose sporadischer Bedarfsverläufe angesehen wird. CROSTON betrachtet die
auftretenden Bedarfsmengen als unabhängig und identisch verteilte Zufallsvari‐
ablen einer Normalverteilung. Mit dieser Annahme kann das Auftreten bzw.
Nicht‐Auftreten eines positiven Bedarfs in einer Periode als ein Bernoulliprozess
angesehen werden und die Zeitintervalle zwischen dem Auftreten von zwei auf‐
einander folgenden Bedarfsmengen folgen daher unabhängig und identisch ver‐
teilten Zufallsvariablen einer Geometrischen Verteilung. Als Voraussetzung für
die Anwendung des Verfahrens von CROSTON gilt die stochastische Unabhängig‐
keit sowohl für aufeinander folgende Bedarfsmengen als auch für die Längen auf‐
einander folgender Zeitintervalle ohne Auftreten eines Bedarfs. Für die Prognose
der Bedarfshöhe ẑt und der Anzahl der Perioden p̂t zwischen den letzten beiden
Perioden mit positivem Bedarf schlägt CROSTON bei Vorliegen eines positiven Be‐
darfs yt die exponentielle Glättung erster Ordnung mit dem Glättungsparameter
 vor, wobei CROSTON für  Werte zwischen 0,05 und 0,3 empfiehlt.
Das Verfahren von CROSTON basiert auf vier Schritten und kann wie folgt
formuliert werden:

Schritt 1) Initialisierung:
Es werden die ersten n Perioden (z. B. n  4 ) betrachtet. Berechne
n

p
n

y t
t 1
t

ẑn 1  t 1 ; p̂n 1 
Anzahl der Perioden mit yt  0 Anzahl der Perioden mit pt  0

Schritt 2) Prognose der Bedarfshöhe zˆ t 1 :

Falls y t  0 : zˆt 1    yt  (1   )  zˆt

Falls y t  0 : zˆt 1  zˆt

Schritt 3) Prognose des zeitlichen Abstands pˆ t 1 , zu dem ein positiver Bedarf


auftritt:

Falls y t  0 : pˆ t 1    pt  (1   )  pˆ t

Falls y t  0 : pˆ t 1  pˆ t

620 Vgl. CROSTON (1972).

426
6.3
Instandhaltungslogistik

Schritt 4) Prognose des Bedarfs yˆ t 1 für die Periode t  1 :

zˆt 1
yˆ t 1 
pˆ t 1

Falls in allen Perioden positive Bedarfe auftreten, dann gilt pˆ t  1 für alle t und
das Verfahren von CROSTON entspricht dem Verfahren der exponentiellen Glät‐
tung erster Ordnung:
zˆt 1 zˆt 1
yˆ t 1    zˆt 1    yt  (1   )  zˆt    yt  (1   )  yˆ t
pˆ t 1 1 zˆt  yˆ t

Der einzige Unterschied zwischen den Prognosewerten mit dem Verfahren von
CROSTON und der exponentiellen Glättung erster Ordnung besteht in der unter‐
schiedlichen Berechnung der Startwerte.

b) Modifikation von SYNTETOS und BOYLAN (SB)

SYNTETOS und BOYLAN621 weisen darauf hin, dass das Verfahren von CROSTON,
insbesondere für Werte von   0,5 , zu einer systematischen Über‐ oder Unter‐
schätzung der tatsächlichen Beobachtungswerte führt. Aufgrund dieser systema‐
tischen Verzerrung entwickeln SYNTETOS/BOYLAN622 ein modifiziertes Verfahren,
das sich im Vergleich zu dem Verfahren von CROSTON nur durch einen zusätzli‐
chen Term in Schritt 4) unterscheidet.

Schritt 4) Prognose des Bedarfs yˆ t 1 für die Periode t  1 :

 zˆt 1
yˆ t 1  (1  )
2 pˆ t 1

Analog zum Verfahren von CROSTON erfolgt eine Aktualisierung der Prognose‐
werte nur bei Vorliegen eines positiven Bedarfs. Empirische Untersuchungen zei‐
gen eine tendenzielle Verbesserung der Prognosegüte und ‐stabilität gegenüber
dem Vorgehen von CROSTON623. Allerdings konnte auch gezeigt werden, dass das
Verfahren von CROSTON bei Bedarfsverläufen mit wenigen Perioden mit Nullbe‐
darf durchschnittlich eine geringere Verzerrung gegenüber der Modifikation von
SYNTETOS/BOYLAN aufweist624.

621 Vgl. SYNTETOS/BOYLAN (2001, S. 462f).


622 Vgl. SYNTETOS/BOYLAN (2005, S. 304).
623 Vgl. SYNTETOS/BOYLAN (2005, S. 310ff).
624 Vgl. TEUNTER/ SANI (2006, S. 5).

427
After Sales und Reverse Logistics
6
c) Modifikation von LEVÉN und SEGERSTEDT (LS)

Eine weitere Modifikation des Verfahrens von CROSTON wurde von LEVÉN/SEGER‐
STEDT625 vorgeschlagen, mit der neben sporadisch nachgefragten Bedarfsmengen
auch regelmäßig nachgefragte Bedarfe prognostiziert werden können. Das Ziel
dieses Ansatzes ist eine Beschränkung auf unbedingt notwendige Parameter, so‐
dass eine Prognose mit wenig Aufwand möglich ist. Des Weiteren behaupten die
Autoren, dass mit ihrem Verfahren auch die mögliche systematische Über‐ oder
Unterschätzung bei dem Verfahren von CROSTON vermieden werden kann. Die
vorgeschlagene Modifikation von LEVÉN/SEGERSTEDT basiert ebenfalls auf der ex‐
ponentiellen Glättung erster Ordnung, allerdings wird auf eine getrennte Progno‐
se von Bedarfshöhe und ‐zeitpunkt verzichtet. Nach der Initialisierung in Schritt
1) werden die Schritte 2) und 3) beim Verfahren von LEVÉN/SEGERSTEDT nicht
durchgeführt und als neuer Schritt 4) wird die folgende Prognosefunktion ver‐
wendet:

Schritt 4) Prognose des Bedarfs yˆ t 1 für die Periode t  1 :


yt
yˆ t 1     (1   )  yˆ t
pt
Analog zum Verfahren von CROSTON erfolgt eine Aktualisierung der Prognose‐
werte nur bei Vorliegen eines positiven Bedarfs yt .

d) Modifikation von SYNTETOS (SY)


TEUNTER und SANI626 haben 2006 eine weitere Modifikation des Verfahrens von
CROSTON vorgestellt. In einer späteren Veröffentlichung wiesen sie jedoch darauf
hin, dass diese Modifikation bereits von SYNTETOS vorgeschlagen wurde, der sie
dann aber nicht weiter verfolgte627. Mit dieser Modifikation soll die zu starke
Kompensierung der positiven Verzerrung, die bei dem Verfahren von SYNTE‐
TOS/BOYLAN auftritt und zu einer negativen Verzerrung führt, vermieden werden.
Auch zeigen TEUNTER und SANI628, dass die Modifikation von LEVÉN/SEGERSTEDT –
entgegen deren Behauptung – ebenfalls eine Verzerrung aufweist, die sogar
schwerwiegender als die der anderen Verfahren ist. Zur Vermeidung dieser star‐
ken Kompensierung wird ein dämpfender Effekt auf die Verzerrung eingeführt.
Die Vorgehensweise des Verfahrens von CROSTON mit einer getrennten Prognose
für die Bedarfshöhe und den Bedarfszeitpunkt wird beibehalten. In Schritt 4) wird
zur Dämpfung der Verzerrung folgende Prognosefunktion verwendet:

625 Vgl. LEVÉN/SEGERSTEDT (2004).


626 Vgl. TEUNTER/ SANI (2006, S. 5f).
627 Vgl. TEUNTER/ SANI (2009).
628 Vgl. TEUNTER/ SANI (2009, S. 180f).

428
6.3
Instandhaltungslogistik

Schritt 4) Prognose des Bedarfs yˆ t 1 für die Periode t  1 :

 zˆt 1
yˆ t 1  (1  )
2 
pˆ t 1 
2

Analog zum Verfahren von CROSTON erfolgt eine Aktualisierung der Prognose‐
werte nur bei Vorliegen eines positiven Bedarfs yt .

e) Bootstrapping‐Verfahren

Eine weitere Methode zur Prognose zukünftiger Bedarfe stellen Bootstrapping‐


Verfahren dar, mit denen statistische Größen wie z. B. der Mittelwert oder die Va‐
rianz direkt aus den bisherigen Bedarfswerten abgeleitet werden können. Insbe‐
sondere kann auch der Bedarf des jeweiligen Ersatzteils geschätzt werden, der
beim Hersteller während seiner eigenen Wiederbeschaffungszeit auftritt.
Bootstrapping‐Verfahren bieten sich vor allem dann an, wenn Vergangenheitswer‐
te nur in geringem Umfang zur Verfügung stehen. Dazu werden die bisher aufge‐
tretenen Bedarfswerte als Stichprobe betrachtet, aus der die Verteilungsfunktion
für den Bedarfsverlauf geschätzt wird629. Für eine verlässliche Schätzung der Ver‐
teilung der Bedarfswerte während der Wiederbeschaffungszeit werden wieder‐
holt Stichproben mit Zurücklegen gezogen, wobei die Stichprobenanzahl mindes‐
tens 1.000 betragen soll.

Im Folgenden wird das Bootstrapping‐Verfahren von TEUNTER und DUNCAN vorge‐


stellt630. Bei diesem Verfahren zur Prognose des Bedarfsverlaufs während der Wieder‐
beschaffungszeit ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines positiven Bedarfs
dabei unabhängig vom Bedarf in der vorangegangenen Periode, sodass eine gegebe‐
nenfalls vorhandene Autokorrelation vernachlässigt wird. TEUNTER und DUNCAN ha‐
ben die Qualität verschiedener Prognoseverfahren für sporadische Bedarfsverläufe an‐
hand von Ersatzteilbedarfsmengen der UK Royal Air Force verglichen. Dafür haben
sie die Verteilung der Ersatzteilbedarfe in der Wiederbeschaffungszeit zunächst durch
10.000‐faches „Ziehen mit Zurücklegen“ aus den Bedarfsmengen während der Wie‐
derbeschaffungszeit in der Vergangenheit geschätzt. Die Zahl von 10.000 begründen
die Autoren dabei pauschal durch eine sich dann einstellende Konstanz der Progno‐
seergebnisse.

629 Vgl. REIMER (2009, S. 528).


630 Vgl. TEUNTER/DUNCAN (2009).

429
After Sales und Reverse Logistics
6
Beispiel 6.3.1:

Für den sporadischen Bedarfsverlauf des elektronischen Steuergerätes in Abbildung


6‐13 werden im Folgenden eine Bedarfsprognose mit dem Verfahren von CROSTON
und seinen Modifikationen durchgeführt. Für den Glättungsparameter wird   0,1
gewählt. Zunächst erfolgt im ersten Schritt die Initialisierung der Bedarfshöhe und des
Bedarfszeitpunkts, wobei hierfür mit n  4 die ersten vier Perioden herangezogen
werden:
4 4
 yt 7  pt 4
Schritt 1) zˆ5  t 1
  2,33 und pˆ 5  t 1
  1,33
3 3 3 3
Da das Verfahren von LS für die Prognose von yˆ t 1 den Prognosewert aus der Vorpe‐
4
riode ŷ t benötigt, wird für yˆ   y / 3  7 / 3  2,33 gesetzt und die Prognose be‐
5 t
t 1
ginnt bei diesem Verfahren in Periode t  6 . Für die Prognose in t  5 gilt dann für
die verschiedenen Verfahren:

CR SB LS SY
0,1 2,33
2,33 0,1 2,33 yˆ 5  (1  )   1,73
yˆ 5   1,75 yˆ 5  (1  )  1,66 yˆ 5  2,33 2 1,33  0,1
1,33 2 1,33
2

Da in den Perioden t  6 bis t  8 positive Bedarfe vorliegen, erfolgt jeweils eine


Aktualisierung der Prognosewerte. Beispielsweise gilt für die Periode t  6 :

2,60
CR: zˆ 6  0,1  5  0,9  2,33  2,60 ; pˆ 6  0,1 1  0,9  1,33  1,30 ; yˆ 6  2
1,30

0,1 2,60
SB: yˆ 6  (1  )  1,90
2 1,30

5
LS: yˆ 6  0,1   (1  0,1)  2,33  2,60
1
0,1 2,60
SY: yˆ 6  (1  )  1,98
2 1,30  0,1
2

430
6.3
Instandhaltungslogistik

Tabelle 6‐3 Prognose mit dem Verfahren von CROSTON und dessen Modifikationen

Periode Bedarfshöhe Bedarfsabstand Prognostizierter Bedarf


beob. prog. beob. prog. CR SB LS SY
t yt ẑ t pt p̂t ŷ t ŷ t ŷ t ŷ t
1 1
2 1 1
3 0 1
4 5 2
5 5 2,33 1 1,33 1,75 1,66 2,33 1,73
6 1 2,60 1 1,30 2,00 1,90 2,60 1,98
7 8 2,44 1 1,27 1,92 1,83 2,44 1,90
8 3 3,00 1 1,24 2,41 2,29 3,00 2,39
9 0 3,00 1,22 2,46 2,34 3,00 2,44
10 0 3,00 1,22 2,46 2,34 3,00 2,44
11 1 3,00 3 1,22 2,46 2,34 3,00 2,44
12 2 2,80 1 1,40 2,00 1,90 2,73 1,97
13 0 2,72 1,36 2,00 1,90 2,66 1,97
14 3 2,72 2 1,36 2,00 1,90 2,66 1,97
15 0 2,75 1,42 1,93 1,83 2,54 1,90
16 0 2,75 1,42 1,93 1,83 2,54 1,90
17 0 2,75 1,42 1,93 1,83 2,54 1,90
18 3 2,75 4 1,42 1,93 1,83 2,54 1,90
19 3 2,77 1 1,68 1,65 1,57 2,36 1,62
20 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
21 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
22 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
23 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
24 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
25 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
26 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
27 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
28 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
29 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
30 0 2,79 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
31 6 2,79 12 1,61 1,73 1,65 2,43 1,70
32 0 3,11 2,65 1,18 1,12 2,23 1,14
33 0 3,11 2,65 1,18 1,12 2,23 1,14
34 0 3,11 2,65 1,18 1,12 2,23 1,14
35 0 3,11 2,65 1,18 1,12 2,23 1,14
36 3 3,11 5 2,65 1,18 1,12 2,23 1,14
37 4 3,10 1 2,89 1,08 1,02 2,07 1,04
38 0 3,19 2,70 1,18 1,12 2,26 1,15
39 0 3,19 2,70 1,18 1,12 2,26 1,15
40 0 3,19 2,70 1,18 1,12 2,26 1,15
41 0 3,19 … 2,70 1,18 1,12 2,26 1,15
42 … 3,19 ... 2,70 1,18 1,12 2,26 1,15
43 … 3,19 ... 2,70 1,18 1,12 2,26 1,15

431
After Sales und Reverse Logistics
6
Da in den Perioden t  9, 10 jeweils ein Nullbedarf vorliegt, erfolgt keine Aktualisie‐
rung der Prognosewerte und es werden in den Perioden t  10, 11 die Prognosewerte
aus der Periode t  9 übernommen.

Für die verschiedenen Verfahren sind die Prognosewerte für den Ersatzteilbedarf in
der Tabelle 6‐3 angegeben.

Basierend auf den Daten in der Abbildung 6‐13 wird im Folgenden das Bootstrapping‐
Verfahren von TEUNTER/DUNCAN angewendet. Durch 10.000‐faches Ziehen mit Zu‐
rücklegen wird die Verteilung des Ersatzteilbedarfs während der Wiederbeschaf‐
fungszeit von zwei Perioden geschätzt. Daher werden je Wiederbeschaffungszeit zwei
Bedarfsmengen „gezogen“, um eine Verteilung zu erhalten, die auf den Beobach‐
tungswerten basiert. In der Tabelle 6‐4 ist die resultierende Häufigkeitsverteilung
angegeben.

Tabelle 6‐4 Häufigkeitsverteilung beim Bootstrapping-Verfahren von TEUNTER/DUNCAN

Bedarf während der Beobachtete Prozentuale Kumulierter


Wiederbeschaffung Häufigkeit Häufigkeit Anteil
0 4.366 43,66% 43,66%
1 782 7,82% 51,48%
2 477 4,77% 56,25%
3 1.554 15,54% 71,79%
4 615 6,15% 77,94%
5 704 7,04% 84,98%
6 564 5,64% 90,62%
7 154 1,54% 92,16%
8 434 4,34% 96,50%
9 154 1,54% 98,04%
10 50 0,50% 98,54%
11 92 0,92% 99,46%
12 12 0,12% 99,58%
13 33 0,33% 99,91%
14 5 0,05% 99,96%
15 0 0,00% 99,96%
16 4 0,04% 100,00%
Summe 10.000 100% 100,00%

In 51,48 % der Fälle tritt während der Wiederbeschaffungszeit eine Nachfrage nach
dem elektronischen Steuergerät von kleiner zwei Stück auf. Mit Hilfe der Daten kann
nun der Erwartungswert der Nachfrage während der Wiederbeschaffungszeit von
zwei Perioden wie folgt berechnet werden:

0  4.366  1  782  
…  15  0  16  4
E ( y)   2,3917
10.000

432
6.3
Instandhaltungslogistik

Der durchschnittliche Periodenbedarf beträgt somit 2,3917/2 = 1,19585 Stück. Werden


die zur Verfügung stehenden Vergangenheitswerte der 41 Perioden als Grundlage
genommen, dann erhält man einen durchschnittlichen Periodenbedarf von 1,19512
Stück. Bei diesem Verfahren ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines positi‐
ven Bedarfs dabei unabhängig vom Bedarf in der vorangegangenen Periode, sodass
eine gegebenenfalls vorhandene Autokorrelation vernachlässigt wird.

6.3.6 Strategien zur Ersatzteilversorgung


Eine Beschaffung von Ersatzteilen ist dann notwendig, wenn die Ersatzteilbestände
des Herstellers niedriger sind als die prognostizierten Ersatzteilnachfragen. Grund‐
sätzlich kann bei der Beschaffung von Ersatzteilen zwischen der Bereitstellung von
Eigenteilen und der Fremdteilbeschaffung von externen Lieferanten unterschieden
werden631. Des Weiteren kann eine Ersatzteilbeschaffung während der Serienfertigung
oder in der Nachserienphase notwendig sein.

Während der Serienproduktion kann eine Ersatzteilversorgung entweder autark auf


eigenen Fertigungsanlagen im Rahmen einer Parallelfertigung oder in die Primärpro‐
duktfertigung integriert als Simultanfertigung erfolgen. Eine Integration der Ersatz‐
teilproduktion in die Serienfertigung ermöglicht Synergiepotenziale durch economies
of scale und economies of scope, beispielsweise durch die Nutzung von Kapazitäts‐
puffern der Primärproduktproduktion zur Fertigung von Ersatzteilen. Weiterhin kön‐
nen bestehende Produktionsanlagen genutzt und somit erneute finanzielle Aufwen‐
dungen vermieden sowie eine einheitliche Fertigungsplanung und ‐steuerung umge‐
setzt werden. Allerdings wird die Ersatzteilfertigung gegenüber der Primärprodukt‐
produktion häufig nur zweitrangig behandelt, da die mit i. d. R. kleinen Auftrags‐
volumen verbundenen Ersatzteilaufträge als Störung der effizient gestalteten Produk‐
tionsabläufe der Primärprodukte angesehen werden. Als Resultat ergeben sich oftmals
unwirtschaftlich große Produktionslose für die Ersatzeile, um somit größere Zeitab‐
stände überbrücken zu können. Aus den zusätzlichen Produktionsmengen für den
Ersatzteilbedarf können aber auch Kannibalisierungseffekte zu Ungunsten der Pri‐
märproduktherstellung resultieren, besonders bei hohen Bedarfsschwankungen an
Ersatzteilen. Für eine Simultanfertigung eigenen sich Ersatzteile mit relativ konstan‐
tem Bedarf, da dadurch der Aufwand für die Fertigungsplanung vermindert wird632.

Die bei einer Simultanproduktion möglichen Kannibalisierungseffekte können durch


eine Parallelfertigung vermieden werden. In einer Ersatzteilwerkstatt kann eine sepa‐
rate Einzel‐ und Kleinserienfertigung realisiert werden633. Eine Parallelproduktion
kann sowohl in einer Produktionsabteilung oder einem gesonderten Betrieb des Un‐
ternehmens umgesetzt werden als auch durch Fremdvergabe bei einem Zulieferer

631 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 208); VAHRENKAMP (2007, S. 167).


632 Vgl. KOCH (2004, S. 54); BAUMBACH (2004a, S. 209); VAHRENKAMP (2007, S. 167).
633 Vgl. GRAF (2005, S. 29).

433
After Sales und Reverse Logistics
6
erfolgen. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in der Flexibilität, mit der auf Nachfrage‐
schwankungen reagiert werden kann. Eine Parallelproduktion hat jedoch hohe Investi‐
tionen in weitere Produktionstechnik sowie in den zusätzlichen laufenden Kosten zur
Bewirtschaftung zur Folge. Diese können nur über enorm hohe Verkaufszahlen oder
Deckungsbeiträge der Ersatzteile kompensiert werden634.

Die anhaltende Tendenz zur Verringerung der Fertigungstiefe führt dazu, dass ein
entsprechend großer Anteil an Ersatzteilen von Zulieferern beschafft werden muss. Im
Gegensatz zum Primärproduktgeschäft stellt die Ersatzteilversorgung jedoch andere
Anforderungen an die Beschaffung. Die Ersatzteilbeschaffung ist auf langfristige Ver‐
träge mit zuverlässigen Lieferanten ausgerichtet, um kleine Beschaffungslose in kur‐
zen Lieferzeiten mit einer hohen Lieferzuverlässigkeit zu beziehen. Aus diesem Grund
erfolgt häufig eine organisatorische Trennung der beiden Beschaffungsbereiche, die
jedoch eine enge Abstimmung notwendig macht, um Synergiepotenziale bei der Be‐
schaffung nutzen zu können635.

Im Gegensatz zur Serienproduktion stellt die Versorgung mit Ersatzteilen in der


Nachserienphase eine große Herausforderung dar. In der Nachserienphase streben die
Primärprodukthersteller weiterhin eine hohe Versorgungssicherheit bei gleichzeitiger
Wirtschaftlichkeit des Ersatzteilgeschäftes an. Dieses Ziel zu erreichen ist jedoch auf‐
grund der komplexen Rahmenbedingungen wesentlich schwieriger als während der
Serienproduktion. In der Nachserienfertigung steigen die Produktionskosten für die
Ersatzteilfertigung durch zunehmende Rüstkosten und gleichzeitig abnehmender
Produktionserfahrung stark an. Es kann auch der Fall eintreten, dass eine Nachferti‐
gung aufgrund fehlender Fertigungstechnologien und Fertigungsmittel gar nicht mehr
möglich ist636. Die Primärprodukthersteller müssen ebenfalls mit Bauteilabkündigun‐
gen der Lieferanten rechnen, sodass Lieferanten ihre Bauelemente frühzeitig vom
Markt nehmen und diese somit nicht mehr zur Verfügung stehen. Dieses Problem
trifft häufig bei Ersatzteilen mit sehr kurzen Produktlebenszyklen auf, z. B. bei elekt‐
ronischen Bauelementen637. Neben einer Produktion von Neuteilen, unabhängig ob
intern oder extern, können alternativ Altteile verwendet werden. Die Möglichkeit der
Altteileverwendung findet in der Praxis durch die Problematik verknappender Res‐
sourcen und eine Konzentration auf Nachhaltigkeitsaspekte zunehmend Anwendung.
Problematisch gestaltet sich in diesem Fall die Planung der Qualität sowie Quantität
der Rückflüsse, da das Altproduktaufkommen vom Bestand, der Nutzungsintensität
und der Lebensdauer des Primärproduktes abhängig ist. Somit besteht auch bei der
Verwendung von Altteilen das Problem der Prognosegenauigkeit. Zusätzlich spielt die
Gestaltung der Rückführungsprozesse, z. B. durch Anreize für die Kunden zur Rück‐
gabe gebrauchter Produkte, eine wichtige Rolle.

634 Vgl. KOCH (2004, S. 55).


635 Vgl. KOCH (2004, S. 55); BAUMBACH (2004a, S. 211).
636 Vgl. DOMBROWSKI/BOTHE (2001, S. 792).
637 Vgl. GRAF (2005, S. 26).

434
6.3
Instandhaltungslogistik

Für die Nachserienphase stehen die in der Abbildung 6‐14 angegebenen Versorgungs‐
strategien zur Verfügung.

Abbildung 6‐14 Versorgungsstrategien in der Nachserienphase638

Versorgungsstrategien in der Nachserienphase

Produktion von Neuteilen Altteileverwendung

Kontinuierliche Nachserienfertigung Reparatur


Serienabschlusslos Wiederverwendung
Additive Fertigung
Outsourcing

a) Kontinuierliche Nachserienfertigung

Während in der Serienproduktion relativ konstante Mengen nachgefragt werden,


sinkt im Verlauf der Nachserienphase der Bedarf nach Ersatzteilen mit zuneh‐
mender Entfernung vom EOP. Dies hat zur Folge, dass die Materialeinzelkosten
entweder durch erhöhte Lagerkosten im Fall einer Produktion größerer Losgrö‐
ßen oder durch steigende Fixkostenanteile bei kleinen Losgrößen ansteigen wer‐
den. Falls die Ersatzteile von Lieferanten bezogen werden, dann fordern diese
aufgrund der Kombination von geringen Mengen bei immer seltener vorkom‐
menden Bestellungen entsprechend genaue Bedarfsvorhersagen oder sie lassen
sich relativ lange Lieferzeiträume garantieren639. Eine kontinuierliche Nachserien‐
fertigung eignet sich, wenn eine relativ große Nachfrage, eine schlechte Prognos‐
tizierbarkeit des Bedarfs und sehr hohe Lagerkosten für Ersatzeile vorliegen.

Zur Lösung der mit einer Nachserienfertigung verbundenen Probleme werden in


der Praxis vermehrt Gleichteile eingesetzt, sodass die Herstellungsprozesse von
Ersatzteil und entsprechendem Teil der Nachfolgegeneration kompatibel sind.
Obwohl die Produktionsanlagen hauptsächlich für die Fertigung von Nachfolge‐
produkten zur Verfügung stehen, können Ersatzteile losweise gefertigt und der
entsprechende Ersatzteilbestand gering gehalten werden. Allerdings verstärken
sich dadurch die Kannibalisierungseffekte, da neben den Produktions‐ zusätzlich
Umrüstzeiten entstehen. Ebenso steigt der Planungsaufwand erheblich an, da die
Bestimmung optimaler Losgrößen, Häufigkeiten und Zeitpunkte der Ersatzteil‐
aufträge aufgrund der notwendigen Umrüstvorgänge in Abstimmung mit den Se‐

638 In Anlehnung an BOTHE (2003, S. 49).


639 Vgl. VAHRENKAMP (2007, S. 163).

435
After Sales und Reverse Logistics
6
rienaufträgen erfolgen muss. Des Weiteren wird die Modernisierung der Produk‐
tionsanlagen erschwert, da die Fertigung der Ersatzteile und somit ausgelaufener
Modelle über Jahre gesichert werden muss.640 Eine veraltete Produktionstechno‐
logie ist ineffizient und mindert die potenzielle Ausbringungsrate neuer Primär‐
produkte. Da mit zunehmendem Betrachtungshorizont die Varianz der herzustel‐
lenden Ersatzteile stark ansteigt, ist insbesondere bei erhöhter Ersatzteil‐ und
Primärproduktnachfrage mit Kapazitätsengpässen zu rechnen641.

Alternativ zur Integration der Ersatzteilproduktion in die Folgeserie kann analog


zur Serienproduktion auch parallel eine autarke Nachserienfertigung in einer Er‐
satzteilwerkstatt erfolgen. In dieser Ersatzteilwerkstatt können nicht mehr benö‐
tigte Betriebsmittel aus der bisherigen Serienproduktion weiterverwendet und
gegebenenfalls an die Anforderungen der Ersatzteilproduktion angepasst werden.
Für diese Variante muss allerdings die Eignung der Betriebsmittel für eine Ersatz‐
teilfertigung überprüft werden, da die Ersatzteilfertigung eine hohe Flexibilität
benötigt642. Nachteile einer Ersatzteilwerkstatt sind die aus der Vielzahl an Serien‐
anlagen und der abnehmenden Produktionsmengen resultierenden hohen Fixkos‐
ten und ein zu großer Flächenbedarf.

b) Serienabschlusslos

Um die mit einer kontinuierlichen Nachfertigung verbundenen Probleme zu ver‐


meiden, kann die Versorgung mit Ersatzteilen auch über die Fertigung eines Se‐
rienabschlussloses sichergestellt werden643. Als Serienabschlusslos wird das letzte
Produktionslos der Serie bezeichnet, das zur Befriedigung des erwarteten Ersatz‐
teilbedarfs über den verbleibenden Versorgungszeitraum eingelagert wird. Ein
Unternehmen wird diese Versorgungsstrategie wählen, wenn die notwendigen
Produktionsanlagen nicht mehr zur Verfügung stehen oder sich eine kontinuierli‐
che Nachserienfertigung als unwirtschaftlich herausstellt. Als Vorteile dieser Stra‐
tegie zeigen sich die Vermeidung von Investitionen sowie eine Minimierung der
Herstellkosten, da die Ersatzeile in einem Los zu Bedingungen einer Serienpro‐
duktion hergestellt werden können. Durch diese Versorgungsstrategie können
Fertigungsanlagen ausgemustert oder durch Umrüsten für die Fertigung anderer
Teile eingesetzt werden.

Diese Versorgungsstrategie birgt die Gefahr von Fehlmengen oder Überbeständen


verbunden mit hohen Kapitalbindungskosten, die sich aus der Unsicherheit des
langen Prognosehorizonts ergeben können. Bei der Überdimensionierung muss
zum Zeitpunkt des EOS über den Verbleib des Restbestandes entschieden werden,
der in der Regel entsorgt wird, falls keine andere Verwendung möglich ist. Falls
Fehlmengen auftreten, muss eine meist kostenintensive Alternative (z. B. Nachfer‐

640 Vgl. SCHRÖTER (2006, S. 111).


641 Vgl. KOCH (2004, S. 54).
642 Vgl. BOTHE (2003, S. 59).
643 Vgl. DOMBROWSKI/BOTHE (2001, S. 792); GRAF (2005, S. 28); SCHRÖTER (2006, S. 108).

436
6.3
Instandhaltungslogistik

tigung, alternatives Ersatzteil) gesucht werden. Um eine Unter‐ oder Überdimen‐


sionierung eines Serienabschlussloses frühzeitig zu erkennen, ist eine kontinuier‐
liche Überwachung der Bedarfs‐ und Bestandsentwicklung notwendig. Diese Stra‐
tegie der Endbevorratung ist auch nur für lagerfähige und nicht alternde Ersatz‐
teile geeignet. Beispielsweise sind diverse elektronische Bauteile nur begrenzt
lagerfähig, benötigen ein Schutzmedium oder eine spezielle Behandlung, um nach
der Lagerung wieder verwendet werden zu können644.

c) Additive Fertigung

Eine interessante Alternative zur kontinuierlichen Nachserienfertigung bzw. zum


Serienabschlusslos stellen additive Fertigungstechnologien dar, die bereits Mitte
der 1980er Jahre entwickelt wurden. Umgangssprachlich unter dem Begriff 3D‐
Druck zusammengefasst, hat sich international der Begriff Additive Manufac‐
turing (AM) für die industrielle additive Fertigung durchgesetzt. Additive Ferti‐
gungstechnologien beinhalten eine Vielzahl verschiedener Verfahren, bei denen
ein physisches Teil durch den schichtweisen Auftrag von Material hergestellt
wird. Den Ausgangspunkt für jedes additiv gefertigte Produkt bildet eine digitale
Datei, die entweder mithilfe eines CAD‐Programms oder eines 3D‐Scanners er‐
stellt werden kann. Mit einer Software wird dieses Model anschließend in Schich‐
ten zerschnitten, die eine AM‐Technologie dann iterativ abarbeiten kann. AM‐
Verfahren unterstützen bereits eine Vielzahl verschiedener Materialien. Neben Po‐
lymeren und Metallen gibt es bereits erste Anwendungen mit Verbundwerkstof‐
fen, Keramiken und Beton.

Additive Fertigungsverfahren ermöglichen eine Flexibilisierung der Produktion,


sodass sich auch kleine Losgrößen bis hin zur Losgröße eins ökonomisch umset‐
zen lassen. Weiterhin benötigt ein 3D‐Drucker keine unterschiedlichen Werkzeuge
für verschiedene Produkte, wodurch die Möglichkeit geschaffen wird, unmittel‐
bar hintereinander oder sogar zeitgleich verschiedene Ersatzteile zu fertigen.
Durch den Wegfall von Werkzeugen werden die Rüstzeiten und ‐kosten reduziert.
Des Weiteren kann durch die flexible Ersatzteilproduktion on demand auf eine
Bevorratung und Lagerung von Ersatzteilen verzichtet werden. Zur Bedarfsprog‐
nose kann auch eine prädiktive Instandhaltung eingebunden werden, wodurch
autonome, reaktionsstarke Ersatzteilfertigungen geschaffen werden645. Wird AM
im eigenen Unternehmen zur Herstellung von Ersatzteilen eingesetzt, dann muss
der Einkauf für die operative Ersatzteilbeschaffung nicht mehr involviert werden.
Im Rahmen einer AM‐Ersatzteilversorgung können langfristigere Versorgungs‐
verträge angeboten werden. Beispielsweise setzt Siemens Mobility für die Ersatz‐
teillieferung an die SWU Verkehr GmbH in Ulm 3D‐Drucker für die Nachferti‐
gung der Steuerungsarmlehne und der Frontverkleidung von Straßenbahnen ein.

644 Vgl. DOMBROWSKI/BOTHE (2001, S. 792).


645 Vgl. VARWIG ET AL. (2017, S. 134f).

437
After Sales und Reverse Logistics
6
Somit konnte die Lieferzeit für Ersatzteile von einigen Wochen auf wenige Tage
reduziert werden. Ebenso konnte auf eine Mindestbestellmenge verzichtet wer‐
den, sodass dem Kunden eine größere Flexibilität gewährt werden kann646.

d) Outsourcing

Durch ein Outsoucing der Ersatzteilversorgung versuchen Primärprodukther‐


steller den hohen organisatorischen und kostenintensiven Aufwand, der mit der
Anpassung der Prozesse und Fertigungseinrichtungen auf das von der Serie stark
abweichende Ersatzteilgeschäft verbunden ist, zu vermeiden647. Somit wird die
Planungsunsicherheit bzgl. der benötigten Ersatzteilbedarfe auf Unternehmen
verlagert, welche die zu vergebenden Tätigkeiten wirtschaftlich effizienter und
qualitativ hochwertiger durchführen können. Der Primärprodukthersteller kann
sich somit auf die eigenen Ressourcen und Kompetenzen seines Kerngeschäfts
konzentrieren, das i. d. R. nicht in der operativen Abwicklung der Ersatzteil‐
versorgung liegt. Die Outsourcing‐Partner können durch die Bündelung mehrerer
Kundennachfragen Mengendegressionseffekte erzielen und investieren auch öfter
in die Modernisierung der Produktionstechnik. Des Weiteren können beim Out‐
sourcing‐Partner die hohen Investitionen, beispielsweise beim Aufbau IT‐gestütz‐
ter Planungssysteme für die Ersatzteillogistik, auf mehrere Primärprodukt‐
hersteller verteilt und somit eine Kostenreduktion und Synergieeffekte realisiert
werden.

Neben den genannten Vorteilen sind mit einer Outsourcing‐Entscheidung auch


Risiken verbunden. Durch die Fremdvergabe entsteht für den Primärprodukt‐
hersteller eine Abhängigkeit, die dessen unternehmerische Gestaltungsfreiheit
einschränkt. Beispielsweise wandert spezifisches Know‐how über Produkte und
Fertigungsverfahren an den Outsourcing‐Partner. Es dürfen auf keinen Fall solche
Betriebsgeheimnisse weitergegeben werden, die für die strategische Positionie‐
rung des Unternehmens am Markt, z. B. in Form eines Alleinstellungsmerkmals,
entscheidend sind. Um Streitfragen im Produkthaftungsfall auszuschließen, müs‐
sen im Vorfeld auch eindeutige Regelungen bzgl. der Verantwortlichkeit für Qua‐
litätsprüfungen und Abnahmen getroffen werden648. Ein Outsourcing der Ersatz‐
teilversorgung sollte nur unter sorgfältigem Abwägen der kurz‐ bis langfristigen
Folgen gewählt werden, da diese Entscheidung nur sehr schwierig und mit hohen
Kosten wieder rückgängig zu machen ist.

e) Reparatur

Im Rahmen einer Reparatur von Altteilen erfolgt deren Wiederinstandsetzung.


Durch eine Reparatur können gebrauchte Teile auf das qualitative Niveau von
neu produzierten Teilen gebracht und als qualitativ gleichwertige, aber günstigere

646 Vgl. STRATASYS (2017).


647 Vgl. DOMBROWSKI/BOTHE (2001, S. 795).
648 Vgl. BOTHE (2003, S. 59).

438
6.3
Instandhaltungslogistik

Alternative zum Originalersatzteil angeboten werden. In diesem Fall ist ein


Nachweis über deren Funktionalität zu erbringen. Bei dieser Versorgungsstrategie
werden als Ersatzteile nicht komplette Baugruppen, sondern nur die für eine Re‐
paratur erforderlichen Bauteile vorgehalten, sodass sich dadurch eine Volumen‐
reduktion erzielen lässt. Als problematisch erweist sich jedoch die wirtschaftliche
Umsetzbarkeit individueller Reparaturen649.

f) Wiederverwendung

Unter der Wiederverwendung wird die Verwendung voll funktionsfähiger Ge‐


brauchtteile ohne weitere Behandlung verstanden. Hierzu erfolgt ein systemati‐
scher Rückkauf alter Produkte, die zur Gewinnung von Ersatzteilen ausgeschlach‐
tet werden. Diese Strategie ermöglicht die Verringerung der Höhe der Abschluss‐
lose, die Vermeidung einer kostspieligen Nachserienfertigung von Ersatzteilen
und ein preisgünstigeres Angebot an Ersatzteilen. Aufgrund der hohen Anforde‐
rungen im Bereich der Bauteilprüfung und den sich aus der Produkthaftung im
Schadensfall ergebenden Problemen wird bei sicherheitsrelevanten Teilen von der
Wiederverwendung von Altteilen oft abgesehen650.

Der Einsatz nur einer Versorgungsstrategie kann die Ersatzteilversorgung über den
gesamten Versorgungszeitraum nach Ende der Serienproduktion nicht sicherstellen.
Eine zuverlässige Ersatzteilversorgung ist somit nur durch eine Kombination der ge‐
nannten Strategien zu einem Versorgungsszenario gegeben. Beispielsweise kann kurz
nach Ende der Serienproduktion zunächst eine interne kontinuierliche Nachfertigung
durchgeführt werden, die dann nach einer gewissen Zeit mit einem Serienabschlusslos
kombiniert wird. In Zukunft werden jedoch die additiven Fertigungsverfahren zur
Ersatzteilversorgung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Ersatzteile oder Kompo‐
nenten werden erst bei Bedarf und möglichst nah am Ort der Nutzung produziert,
sodass Lager‐ und Versandkosten ebenso wie Lieferzeiten entfallen.

6.3.7 Pooling-Strategien im Rahmen der Ersatzteil-


distribution
Ziel der Ersatzteildistribution ist die zeitlich, mengenmäßig und räumlich abge‐
stimmte Zusammenführung der Ersatzteile mit den instand zu haltenden Primärpro‐
dukten der Kunden. Da in der Ersatzteillogistik kurze Reaktions‐ und Lieferzeiten
gefordert werden, ist die Strukturierung des Distributionssystems von entscheidender
Bedeutung. Mit der vertikalen Distributionsstruktur wird die Anzahl der Lagerstufen
und mit der horizontalen Distributionsstruktur die Anzahl der Lager pro Lagerstufe
bestimmt651. Die gewählte Distributionsstruktur wirkt sich direkt auf die Lager‐ und

649 Vgl. DOMBROWSKI/BOTHE (2001, S. 795).


650 Vgl. DOMBROWSKI/BOTHE (2001, S. 795).
651 Vgl. LASCH (2020, S. 180ff).

439
After Sales und Reverse Logistics
6
Transportkosten, sowie auf die Lieferzeit und den vom Kunden wahrgenommenen
Service in der Nachkaufphase aus. Für eine optimale Ersatzteildistribution ist ein
Netzwerk aus zentralen Lagern sowie dezentralen Lagern (z. B. Regionallager, Auslie‐
ferungslager oder mobile Lager) einzurichten. Falls eine zeitgerechte Belieferung der
Kunden durch ein Zentrallager nicht sichergestellt werden kann, dann sind in der
Nähe der Kunden zusätzliche Lager vorzusehen. Um die entsprechende Nachfrage‐
menge dem Kunden in der geforderten Lieferzeit bereitzustellen und damit eine hohe
Verfügbarkeit des Primärprodukts zu gewährleisten, sind große Mengen der entspre‐
chenden Ersatzteile dezentral in Kundennähe zu bevorraten.

Im Rahmen der Lagerhaltung erfolgt neben der Gestaltung der Lagerausstattung und
des Layouts auch die Festlegung der Bestandshöhen und der Bestellzyklen. Im Gegen‐
satz zu Fertigwarenlager, die in einen kontinuierlichen Produktionsprozess integriert
sind, müssen Ersatzteillager ganz besonders für unregelmäßige und häufig ereignisge‐
steuerte Ansprüche konzipiert werden. Somit muss die Lagertechnik eine hohe Flexi‐
bilität aufweisen, um dringliche Aufträge schnell abwickeln sowie eine große Anzahl
unterschiedlicher Ersatzteile anforderungsgerecht handhaben zu können. Beim Trans‐
port der Ersatzteile wird zwischen einer Regelabwicklung und einer Eillieferung un‐
terschieden. Eine Regelabwicklung umfasst geplante Kundenaufträge und Lagerer‐
gänzungslieferungen. Da die Lagerergänzungslieferungen zeitlich unkritisch sind,
können diese gebündelt werden, um Kostenvorteile durch höhere Transportvolumina
zu erzielen. Im Gegensatz dazu sind Eillieferungen mit sehr kurzen Lieferzeiten ver‐
bunden, da die Kunden einen dringenden Bedarf an Ersatzteilen haben. Besonders
kritisch sind diejenigen Fälle, bei denen keine regionalen Auslieferungslager in Kun‐
dennähe vorhanden sind oder kundennahe Lager Fehlbestände aufweisen und so
Transporte aus übergeordneten Lagerstufen über längere Distanzen erforderlich wer‐
den. Für die Abwicklung von Eilaufträgen sind schnelle Transportdienste wie bei‐
spielsweise Express‐ und Kurierdienste notwendig, die mit hohen Transportkosten
verbunden sind. Des Weiteren ist der Transport von Ersatzteilen dadurch geprägt,
dass sehr geringe Mengen zu sehr vielen Bedarfspunkten versendet werden müssen,
sodass Hersteller aufgrund einer mangelnden Fahrzeugauslastung die Ersatzteiltrans‐
porte an Logistikdienstleister auslagern.

Da der Bedarfsverlauf bei Ersatzteilen einer großen Volatilität unterliegt und bei Re‐
serveteilen zudem von hoher Sporadizität gekennzeichnet ist, führt eine Bevorratung
zu erheblichen Kapitalbindungskosten. Mit Hilfe geeigneter Pooling‐Strategien kön‐
nen diese hohen Lagerbestände unter Beibehaltung einer gleichbleibenden Lieferzeit
durch erhöhte Flexibilität und Verfügbarkeit der Ersatzteile reduziert werden, indem
die am Pooling beteiligten Partner sich gegenseitig im Bedarfsfall die benötigten Er‐
satzteile zur Verfügung stellen. Während bei reparierbaren Ersatzteilen auch die In‐
standhaltung und Rückführung von Ersatzteilen in den Pool zu berücksichtigen ist,
werden nicht reparierbare Ersatzteile entsorgt bzw. zerlegt und ausgeschlachtet.

Ersatzteil‐Pooling ist nicht nur eine alternative Form der Bedarfsdeckung, sondern
stellt eine Möglichkeit dar, mit der die vielfach benötigte Notfallflexibilität effizient

440
6.3
Instandhaltungslogistik

umgesetzt werden kann. Durch Umlagerung ausgewählter Ersatzteile kann sowohl


vorbeugend potenzieller Fehlmengenbestand vermieden als auch reaktiv auf aktuellen
Lieferrückstand mit der Durchführung von Notfalltransporten reagiert werden. Kon‐
stituierende Merkmale des Pooling sind der Interessens‐, der Bereitstellungs‐, der
Gemeinschafts‐ sowie der Vertragsaspekt. Der Interessensaspekt umfasst vertragliche
Vereinbarungen sowie das gemeinschaftliche Ziel der Minimierung der Kapitalbin‐
dungskosten aller Vertragspartner bei gleicher Leistungsfähigkeit des logistischen
Systems. Der Bereitstellungsaspekt beinhaltet die gegenseitige Bereitstellung von Er‐
satzteilen im Bedarfsfall über verschiedene logistische Ketten. Der Gemeinschaftsas‐
pekt des Pooling ist durch eine bedarfsorientierte Entnahme der benötigten Ersatzteile
aus einem Pool, deren Rückführung oder gegebenenfalls deren Neubeschaffung ge‐
kennzeichnet. Zum Vertragsaspekt gehören beispielsweise die Verteilung von Mehr‐
kosten bzw. Einsparungen, die Preisgestaltung (z. B. Höhe des Transferpreises, Höhe
der Prozesskosten), die Kontrolle der Pooling‐Partner und die Höhe der Vertragsstra‐
fen bei opportunistischem Verhalten einzelner Pooling‐Partner. Des Weiteren ist fest‐
zulegen, ob sämtliche Bestände dem Pooling unterliegen oder ob Mindestbestände
einzelner Lager für zukünftigen Bedarf zurückgehalten werden. Aufgrund der unter‐
schiedlichen Zusammensetzung der beteiligten Pooling‐Partner lassen sich vertikales,
laterales und horizontales Pooling unterscheiden.

a) Vertikales Pooling

Beim vertikalen Pooling sind mehrere Lagerstufen beteiligt, zwischen denen Lie‐
ferbeziehungen bestehen. In der Abbildung 6‐15 werden lokale Auslieferungsla‐
ger, ein Regional‐ und ein Zentrallager in den Pool einbezogen.

Abbildung 6‐15 Vertikales Pooling (ZL: Zentral-, RL: Regional-, AL: Auslieferungslager)

ZL

RL RL

AL AL AL AL AL AL

441
After Sales und Reverse Logistics
6
Die lokalen Lager versorgen eine endliche Anzahl von Betriebsmitteln und befin‐
den sich in unmittelbarer Umgebung lokaler Werkstätten. Die Ersatzteile sind als
Module, Komponenten, Subsysteme und Teile dieser Betriebsmittel aufzufassen.
Die lokalen Auslieferungslager werden jeweils von einem Regionallager und das
Regionallager von einem Zentrallager versorgt.

Um einen auftretenden Bedarf bei Lieferrückstand des dezentralen Auslieferungs‐


lagers zu decken, erfolgt eine Eillieferung von einer vorgelagerten Lagerstufe (Re‐
gional‐ oder Zentrallager). Handelt es sich dabei um reparierbare Ersatzteile,
werden diese von der Empfangsstelle zur Instandhaltung versandt und nach der
Reparatur in den Pool zurückgeführt. Bei nichtreparierbaren Ersatzteilen erfolgt
die Entsorgung bzw. Zerlegung und Ausschlachtung der defekten Ersatzteile.

b) Horizontales Pooling

Das horizontale Pooling umfasst mehrere dezentrale Lager derselben Lagerstufe,


zwischen denen Ersatzteile transportiert und umgelagert werden (vgl. Abbildung
6‐16). Insbesondere bei kurzen Distanzen zwischen den am Pooling beteiligten
Lagerstandorten lassen sich aufgrund kurzer Transportzeiten deutliche Rationali‐
sierungspotenziale erschließen.

Abbildung 6‐16 Horizontales Pooling (ZL: Zentral-, RL: Regional-, AL: Auslieferungslager)

ZL

RL RL

AL AL AL AL AL AL

Beim horizontalen Pooling sind die Transportkosten i. d. R. kostengünstiger als


Notfalltransporte aus dem Zentrallager und aufgrund der räumlichen Nähe
schneller realisierbar. Die erhebliche Kostenreduzierung wird erreicht, da beteilig‐
te Pooling‐Partner selten nachgefragte und hochwertige Ersatzteile nicht selbst an
allen Standorten lagern müssen. Anstelle einer Umlagerung von benötigten Er‐
satzteilen zwischen verschiedenen Lagerstandorten kann der Kunde auch direkt
von einem anderen Lagerstandort beliefert werden. Durch das Auslieferungslager
wird ein entsprechender Nachschubauftrag an das versorgende Lager ausgelöst.

442
6.3
Instandhaltungslogistik

Handelt es sich um reparierbare Ersatzteile, werden diese von der Empfangsstelle


zur Instandhaltung versandt und nach der Reparatur in den Pool zurückgeführt.

c) Laterales Pooling

Beim lateralen Pooling werden im Notfall Ersatzteile zwischen Standorten unter‐


schiedlicher Distributionsstufen transportiert, wobei die dezentralen Lager der
unteren Distributionsstufe i. d. R. nicht von der übergeordneten Lagerstufe belie‐
fert werden. Der Grund dafür liegt in zu langen Transportzeiten und zu hohen
Transportkosten. Abbildung 6‐17 verdeutlicht ein laterales Pooling, bei welchem
die Versorgung von einem Regionallager der zweiten Stufe an Auslieferungslager
der dritten Stufe erfolgt.

Abbildung 6‐17 Laterales Pooling (ZL: Zentral-, RL: Regional-, AL: Auslieferungslager)

ZL

RL RL

AL AL AL AL AL AL

Pooling‐Strategien eignen sich vor allem bei selten nachgefragten und hochwertigen
Ersatzteilen, da die Kosten für Notfalltransporte geringer sind als diejenigen Kosten,
die bei der Lagerhaltung großer Mengen oder bei etwaigen Lieferrückständen anfal‐
len. Durch die Möglichkeit von Notfalltransporten können die Lagerbestände durch
niedrigere Sicherheitsbestände gesenkt und somit sowohl Lagerkosten als auch Fehl‐
mengenkosten reduziert werden. Generell erhöhen sich die Rationalisierungs‐
potenziale von Pooling‐Strategien mit der Anzahl der am Pooling beteiligten Lager.

443
After Sales und Reverse Logistics
6
6.4 Integrative Sichtweisen und Kooperationen
Die integrative Sichtweise im Bereich des After Sales Service, der Instandhaltung und
der Ersatzteillogistik zeichnet sich durch eine schnittstellenübergreifende Prozess‐
betrachtung und ‐optimierung aus, welche die Effizienz der Güterflüsse sicherzu‐
stellen hat. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der strategischen Ebene, die einen
Rahmen für die zukünftig reibungslos durchzuführende operative Planung bildet.
Abbildung 6‐18 verdeutlicht den Sachverhalt der Kooperation und Integration bezo‐
gen auf die in Kapitel 6.3.3 benannten Akteure. Aufgrund ihres unrechtmäßigen Agie‐
rens sind Ersatzteilpiraten von dieser Betrachtung auszuschließen und nicht als Teil
der Drittanbieter zu verstehen. Drittanbieter im hier betrachteten Kontext sind dem‐
nach Hersteller, Servicedienstleister und Lizenznehmer, die ein Bindeglied zwischen
Primärproduktherstellern und Abnehmern bzw. Betreibern einer Anlage bilden652.

Abbildung 6‐18 Kooperation und Integration zwischen den Akteuren der


Ersatzteilversorgung

Hersteller / Original Equipment


Kunden und Anlagenbetreiber
Manufacturer
Kooperation

Integration

Drittanbieter und
Aufarbeitende Unternehmen
Servicedienstleister

Materialfluss & Dienstleistungen


Informationsfluss

Die betriebswirtschaftlich motivierte Ersatzteillogistik und die technische Instand‐


haltung werden sowohl in der Praxis als auch in der Theorie noch zu häufig getrennt
gesehen, weshalb es zu nicht gelösten Zielkonflikten und Diskrepanzen zwischen den
Abteilungen kommen kann. Die übergreifende Zusammenarbeit von Ersatzteillogistik
und Instandhaltung wird dabei bedingt durch ihre gegenseitige Abhängigkeit. So sind
Instandhaltungsmaßnahmen nur dann durchzuführen, wenn die zur Instandsetzung
benötigten Ersatzteile verfügbar sind. Wiederum bestimmen die Instandhaltungs‐
konzeption und ‐strategie, in welchem Rahmen die Vorhaltung der Ersatzteile erfolgt.
Außerdem zwingen lange Beschaffungszeiten beim Lieferanten und die nach wie vor

652 Vgl. LIU/LYONS (2011, S. 547).

444
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen

bestehende Relevanz reaktiver Instandhaltungsmaßnahmen den Betreiber oftmals


dazu, eigene Ersatzteilbestände aufzubauen653. Die Lagerung in Form von Vendor
Managed Inventory und Konsignation kommt häufig nicht infrage, denn diese werden
vom Hersteller aufgrund des Risikos des Nichtgebrauchs von Ersatzteilen nicht favo‐
risiert. Die interne Integration aufseiten der Betreiber der Anlagen ist infolgedessen
die Voraussetzung für die unternehmensübergreifende Kooperation im After Sales
Service.

Der Hersteller bzw. Original Equipment Manufacturer (OEM) ist nicht nur darauf
angewiesen, dass unternehmensinterne Abteilungen effektiv zusammenarbeiten, son‐
dern zur zuverlässigen Gestaltung der Ersatzteillogistik zählt auch die Kooperation
mit den Kunden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kundenstruktur und das
Ersatzteilsortiment eine hohe Heterogenität aufweisen. Die Zusammenarbeit mit dem
Betreiber ist daher insbesondere für Hersteller sonderverbauter Komponenten und
Sondermaschinen von signifikanter Wichtigkeit, da – bedingt durch die Teilevielfalt –
nicht jedes Ersatzteil ins Lager aufgenommen werden kann. Die Unternehmen sind
deshalb auf die Kritikalitätseinschätzung der Kunden angewiesen. Hersteller von
Standardprodukten haben es hier häufig leichter, da eine bessere Skalierbarkeit von
Nachfragequantitäten und durchzuführenden Leistungen vorliegt.

Mit zunehmender Spezifität und bedingt durch die kurzen Produktlebenszyklen von
Komponenten sinkt die Wahrscheinlichkeit, auf einen etablierten Drittanbietermarkt
zu treffen, womit gerade im Elektronikbereich die Lieferantenmacht steigt654. Da sich
mit Standardteilen aufgrund der geringen Markteintrittsbarrieren jedoch evtl. weniger
Gewinne erzielen lassen, streben einige Drittanbieter auch in investitionsintensiven
Branchen danach, Kunden spezifische Ersatzteile jenseits des Punktes des End of Ser‐
vice oder des End of Production anzubieten, um Gewinne zu erzielen. Auch der wach‐
sende Trend des Outsourcings von Servicedienstleistungen lässt Kooperationen mit
Drittanbietern in ihrer Bedeutung steigen.

Die nachfolgenden Kapitel vertiefen die eben genannten Aspekte. Anschließend wird
aufgezeigt, wo nach wie vor die größten Hemmnisse bei der Etablierung unter‐
nehmensinterner und ‐übergreifender Integration bestehen.

6.4.1 Integration von Instandhaltung und Ersatzteillogistik


Erforderlich für die funktionierende Integration von Instandhaltung und Ersatzteil‐
logistik sind stimmige Stamm‐ und Bewegungsdaten. Mit den daraus gewonnenen
Informationen muss permanent gearbeitet werden, deshalb sind sie stets aktuell zu
halten. Stammdaten zum Instandhaltungsobjekt beinhalten beispielsweise das An‐
schaffungsdatum und die Identifikationsnummer der Anlage, sämtliche technische
Daten inklusive Zeichnungen, außerdem vorhandene Wartungs‐ und Instandsetzung‐

653 Vgl. SCHUH ET AL. (2013, S. 181).


654 Vgl. VAHRENKAMP/KOTZAB (2012, S. 169).

445
After Sales und Reverse Logistics
6
spläne bei präventiver Wartung sowie eine Liste der verbauten Teile nebst deren Teile‐
nummern, Bezeichnungen und Lagerorten655. Bei vorhandener Kategorisierung ist
diese ebenfalls in den Stammdaten der Ersatzteile zu hinterlegen. Neben den Stamm‐
daten sind konsequent auch Bewegungsdaten während der Instandhaltung zu erfas‐
sen, bspw. welche Maßnahmen an dem Objekt durchgeführt wurden, warum ein Aus‐
fall erfolgte und zu welcher Stillstandzeit dieser führte656. Bei Ersatzteilen wiederum
ist die Historie der Entnahmen gemeinsam mit Entnahmegründen Voraussetzung für
eine valide Prognose und angepasste Lagerhaltung. Bei der Lieferantenauswahl als
strategische Entscheidung der Ersatzteilbeschaffung ist es von Bedeutung, auf zuver‐
lässige Stamm‐ und Bewegungsdaten sowie Erfahrungen von Technikmitarbeitern
bezüglich der Qualität extern erworbener Komponenten zuzugreifen, um Lieferanten
entweder auszuschließen oder als Toplieferanten in das System aufzunehmen.

Im Zentrum der Instandhaltung steht die Sicherstellung der Anlagenverfügbarkeit


und ‐zuverlässigkeit. Somit ergeben sich folgende für die Integration maßgebliche
Zielkonflikte, die eine gemeinsame Optimierung von Instandsetzungsmaßnahmen
und Ersatzteilbeständen erschweren:

 Eine kontinuierliche präventiv zeitabhängige Instandhaltung, welche die bessere


Planbarkeit von Ersatzteilbedarfen zur Folge hätte, ist davon abhängig, ob und in
welchem Umfang Anlagen zu Hauptreparaturzeiten aus dem Produktionsprozess
genommen werden können. Dies weitet sich auf die Ersatzteillogistik aus, da Puf‐
ferbestände mit einer bedarfssynchronen Bestellung abzuwägen sind657.

 Bewirken Maschinenausfälle aufgrund geringer Redundanzen in der Produktions‐


linie einen mit hohen Kosten verbundenen Kapazitätsverlust, geht eine hohe Anla‐
genverfügbarkeit mit gleichfalls hohen Ersatzteilbeständen als Notfallreserve ein‐
her. Die Pufferfunktion des Ersatzteillagers wird so unter Umständen überstrapa‐
ziert.
 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der präventiv zustandsabhängigen In‐
standhaltung mit festgesetzten Inspektionsintervallen. Die Inspektion und Zu‐
standsermittlung erfolgt nicht kontinuierlich, sondern es ist unsicher, ob eine
Komponente zum Zeitpunkt der Inspektion getauscht wird oder nicht. Somit liegt
die Unsicherheit vor, ob ein Bedarf überhaupt entsteht. Daher sollte der Verlauf
von Inspektionsmaßnahmen zur besseren Abschätzung des Abnutzungsvorrats
unbedingt dokumentiert werden.

Sind Wartungszyklen und das Abnutzungsverhalten bekannt bzw. über Vergangen‐


heitsdaten möglichst zuverlässig zu prognostizieren, ist eine bedarfssynchrone Bestel‐
lung denkbar, was gleichzeitig Sicherheits‐ und Maximalbestände verringert. Vor
allem für teure, aber unkritische Teile, die eine hohe Kapitalbindung bedeuten, ist dies
von Vorteil, da somit eine deterministische Lagerhaltung realisiert wird.

655 Vgl. PAWELLEK (2016, S. 223).


656 Vgl. PAWELLEK (2016, S. 223f).
657 Vgl. PAWELLEK (2016, S. 293).

446
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen

Inwieweit eine bedarfssynchrone Bestellung zur Umsetzung kommt, ist von verschie‐
denen Umständen und Einflussfaktoren abhängig:

a) Anbindung der Ersatzteillogistik

Bei der Anbindung der Ersatzteillogistik an die Unternehmensstruktur ergeben


sich verschiedene Möglichkeiten. Tabelle 6‐5 beinhaltet daher nur eine repräsenta‐
tive Auswahl. Der klassischen Sicht der Materialwirtschaft folgend, kann die Er‐
satzteillogistik als Teil des Einkaufs gesehen werden. Somit optimiert sich die In‐
standhaltung rein abteilungsbezogen und übermittelt Bedarfsanforderungen an
den Einkauf, der diese Anforderungen unter beschaffungsrelevanten Gesichts‐
punkten umsetzt. Eine strategisch ausgelegte ganzheitliche Optimierung ist so
nur sehr schwer zu erreichen. Wird die Ersatzteillogistik der Instandhaltung un‐
tergeordnet, kommt es zwar zur Förderung der ganzheitlichen Sicht, möglicher‐
weise werden Zielgrößen und Optimierungspotenziale innerhalb der Ersatzteillo‐
gistik jedoch vernachlässigt, weil der Zielkonflikt über hohe Bestände gelöst wird.
Darüber hinaus besteht die Option, das Ersatzteilmanagement als eigene Abtei‐
lung mit Schnittstellen zum Instandhaltungsmanagement, dem Einkauf bzw. der
Disposition und der Produktion zu organisieren. Eine übergreifende und ganz‐
heitliche Optimierung und die effektive Beschäftigung mit den Zielkonflikten
auch auf höherer Managementebene lassen sich durch dieses Konzept am ehesten
realisieren.

Tabelle 6‐5 Anbindung der Ersatzteillogistik an die Unternehmensstruktur

Anbindung Optimierungsziele Lösung des


Zielkonflikts

Abhängig von Stärke und


Teil des Optimierung der Instandhal‐
Zielen der Einkaufsabtei‐
Einkaufs tung nach eigenen Zielen
lung

Ganzheitliche Optimierung Anlagenzuverlässigkeit


Teil der In‐
möglich, aber eher zuguns‐ wichtiger als Bestandsop‐
standhaltung
ten der Instandhaltung timierung

Eigene Ganzheitliche Optimierung Ausgleich des Zielkon‐


Abteilung möglich flikts in Absprache

Eine Spezialform der Organisation ist der modulare Aufbau eines produzierenden
Unternehmens, wobei die Instandhaltung als Teil der Produktion zu sehen und
folglich innerhalb der Module durchzuführen ist. Sollten die Modulverantwortli‐
chen auch die Ersatzteilplanung selbst durchführen, ergibt sich eine mit der An‐
gliederung der Ersatzteillogistik an die Instandhaltung vergleichbare Situation.
Fungiert die Ersatzteillogistik hingegen als eigene Abteilung, besteht die Schwie‐

447
After Sales und Reverse Logistics
6
rigkeit darin, mit allen Modulen zu kommunizieren und eine engere Verbindung
aufzubauen.

Sind mehrere Standorte zu versorgen und ist das Unternehmen zentralistisch or‐
ganisiert, kann dies für eine auf die Ersatzteillogistik ausgeweitete Zentraldis‐
position sprechen. Zwar gibt es somit noch Instandhaltungsbereiche und Ersatz‐
teillager, die Ersatzteilbestellung wird aber auf Basis einer stochastischen Lager‐
haltung mit Melde‐ und Maximalbeständen durchgeführt. Erfolgt die Anmeldung
einer Neueinlagerung nach wie vor dezentral, kommt auch den Standorten eine
gewisse Entscheidungsgewalt zu.

b) Einbindung von praktischem bzw. Expertenwissen

Um die Einlagerung von Ersatzteilen nachvollziehbar zu gestalten, ist eine Kate‐


gorisierung insbesondere in Bezug auf die Kritikalität anzustreben. Dies ist eine
Voraussetzung für die Abschätzung der tatsächlichen Relevanz von Komponen‐
ten, was durch klassische ABC‐ und XYZ‐Analysen nur schwierig zu leisten wäre.
Von Vorteil ist es, wenn die Ersatzteilkategorisierung gemeinsam mit der Instand‐
haltung erfolgt, um sowohl die Anlagenverfügbarkeit und Kritikalität aus techni‐
scher als auch aus der betriebswirtschaftlichen Kosten‐ und Kapitalbindungssicht
zu berücksichtigen. Gleichzeitig ist dann der beidseitige Austausch von Know‐
how und Informationen gewährleistet, idealerweise mit Hilfe einer gemeinsamen
systemischen Basis.

Wie bereits eingangs erwähnt, besteht die Herausforderung darin, die Lücke zwi‐
schen der technisch geprägten Instandhaltung und der betriebswirtschaftlich ori‐
entierten Ersatzteillogistik zu überbrücken. Die für die Neueinlagerung maßgebli‐
chen Kritikalitätseinschätzungen sollten dabei nicht allein auf Bauchgefühl und
nicht dokumentiertem praktischem Wissen basieren, sondern auf Vergangen‐
heitsdaten und den in Systemen festgeschriebenen Expertenmeinungen. Infolge‐
dessen ist ein gezieltes Wissensmanagement nicht zu vernachlässigen. Dies wirkt
ebenfalls dem demographischen Wandel entgegen, denn langjährige Mitarbeiter
weisen oft ein tiefgehendes Wissen darüber auf, welche Teile in welchen Abstän‐
den und in welcher Menge benötigt werden. Sollten diese Mitarbeiter das Unter‐
nehmen verlassen, ohne ihr praktisches Know‐how weitergegeben zu haben, kann
sich dies negativ auf die Notfallreserve auswirken.

Auch bei der Interpretation der Sensordaten ist Expertenwissen einzubinden.


Messungen wie ansteigende Temperaturen und Vibrationen lassen sich ohne eine
interpretative Auswertung nur schwerlich auf die Instandhaltungsplanung über‐
tragen. Sollte die Leistungszählung Anwendung finden, das heißt, Sensoren erfas‐
sen die Stückzahlen, welche bereits durch die Anlage liefen, ist über Vergangen‐
heitsdaten in Kombination mit praktischem Wissen die entsprechende maximale
Stückzahl bis zur Inspektion bzw. bis zum Tausch des Ersatzteils abzuschätzen.

448
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen

c) Systemgrundlagen

Eine Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen Instandhaltung und Ersatzteil‐


logistik kann durch entsprechende Systemgrundlagen geschaffen werden. Com‐
puterized Maintenance Management Systems (CMMS), im deutschen Sprach‐
gebrauch auch Instandhaltungsplaner bzw. Instandhaltungsplanungssysteme ge‐
nannt, unterstützen bei der Planung von präventiven Wartungen, wobei Instand‐
haltungspläne erstellt, in das System eingespeist und automatisch ausgelöst
werden. Damit wird gleichzeitig die Verarbeitung von zur Planung der Ersatzteil‐
logistik notwendigen Bewegungsdaten ermöglicht. Davon abzugrenzen sind
Condition Monitoring Systems (CMS) zur kontinuierlichen Überprüfung des Zu‐
stands der Anlagen. Hierbei gilt es, die durch Sensoren erfassten Rohdaten so in
Informationen umzuwandeln, dass diese zur zustandsbasierten und prädiktiven
Instandhaltung zu nutzen sind. Um eine konsequent durchgeführte integrierte
Planung zu realisieren, sind CMS und CMMS untereinander sowie mit dem ERP‐
System zu verbinden658. Dafür ist wichtig, dass Daten, die in das System eingege‐
ben werden, von zuverlässiger Qualität sein müssen, um mit ihnen zu arbeiten. So
sind schlechte Ersatzteilprognosen nicht zwangsläufig auf ein ungeeignetes Prog‐
nosemodell zurückführen, sondern eher auf eine ungenügende Datenqualität.

Basis für die gute Zusammenarbeit stellt außerdem ein mit Abhängigkeiten ver‐
sehenes Kennzahlensystem dar. Dies kann beispielsweise durch die Einführung
einer Balanced Scorecard erreicht werden659. Regelmäßige Abstimmungsrunden
zwischen Vertretern der Bereiche und die Durchdringung eines kontinuierlichen
Verbesserungsprozesses sind Beispiele für Maßnahmen zur konsequenten Umset‐
zung einer funktionierenden Zusammenarbeit von Instandhaltung und Ersatzteil‐
logistik.

6.4.2 Hersteller-Betreiber-Beziehungen
Immer häufiger sind After‐Sales‐Service‐Leistungen auf individuelle Kundenwünsche
zugeschnitten und auf den gesamten Lebenszyklus einer Anlage oder Maschine aus‐
gerichtet. Hier ist es gerade für die Datenerfassung erheblich, ob es sich um Primär‐
produkte für den betrieblichen Gebrauch oder um einen (anonymen) Endkunden‐
markt handelt. Innerhalb von B2B‐Beziehungen ist der Abnehmer meist selbst in der
Lage eine eigene Instandhaltung durchzuführen, weshalb der Austausch von Informa‐
tionen auch in entsprechenden mit dem Kunden zu schließenden Serviceverträgen
festgelegt werden kann.

In einem solchen Vertrag sind vordergründig Leistungen und deren Konditionen


festzuhalten, wozu neben den Preisen für die Dienstleistungen auch Strafen bei Nicht‐
erfüllung zählen. Bevor ein Vertrag zwischen den Akteuren geschlossen werden kann,

658 Vgl. PAWELLEK (2016, S. 163ff).


659 Vgl. Kapitel 3.2.5.

449
After Sales und Reverse Logistics
6
müssen sich die Beteiligten darüber im Klaren sein, welche Vertragsart zu wählen ist.
Eine einfache Klassifizierung stellt die Einteilung in material‐ und leistungsbasierte
Verträge dar. Bei materialbasierten Verträgen wird sich allein auf den Verkauf von
Ersatzteilen und Reparaturdienstleistungen konzentriert, wobei die Kosten und Ge‐
bühren meist festgeschrieben sind und evtl. noch durch Prämien erhöht werden. Da‐
mit strebt der Anbieter dieser Dienstleitungen eher eine Gewinnmaximierung bei
gleichzeitiger Kostenminimierung an. Leistungsorientierte Verträge hingegen fokus‐
sieren sich auf die Qualität der Leistungserfüllung. Hierbei werden im Vertrag Ziel‐
größen festgelegt, wobei der Hersteller selbst entscheidet, wie den Bestimmungen
nachzukommen ist. Es ist darauf zu achten, dass die dafür hinzugezogenen Kennzah‐
len auf beiderseitigem Einverständnis beruhen und anhand der Zielgrößen genau
festgelegt wird, welche Kennzahlen sich zur Kontrolle eignen660. Diese Art der Verträ‐
ge ist dann besonders anwendbar, wenn das Instandhaltungsobjekt eine hohe Zuver‐
lässigkeit und Verfügbarkeit aufzuweisen hat. Als Beispiel ist hier die Luft‐ und Raum‐
fahrt anzuführen661. Leistungsbasierte Verträge haben den Vorteil, dass der Anbieter
seinen Leistungserstellungsprozess offenlegen muss und folglich Transparenz gewähr‐
leistet ist. Zudem ist der Hersteller dazu angehalten, seine Leistungen stetig zu verbes‐
sern, wodurch für ihn die Wahrscheinlichkeit steigt, Kunden an sich zu binden und
auch umfassende, höher bepreiste Servicekonzepte anzubieten. Auf der anderen Seite
steigt das Risiko für den Anbieter, denn seine Verlässlichkeit gelangt in den Fokus der
Aufmerksamkeit beim Leistungsnehmer, wodurch der eigentliche Preis zugunsten der
Leistungsqualität in den Hintergrund rückt. Folglich steigen das Servicebewusstsein
und der Stellenwert des Servicegedankens bei allen Parteien.

Tabelle 6‐6 Eigenschaften der Kundengruppen

Eigenes Informations‐
Kundentyp Leistungen Vertrag
Know‐how austausch

Gering (ledig‐
Selbstinstand‐ Ersatzteile und Materialbasiert,
Hoch lich preisliche
halter Module standardisiert
Festlegungen)

Serviceopti‐ Produkt‐ Material‐ oder


Mittel Mittel bis hoch
mierer Support leistungsbasiert

Nutzenopti‐ Business‐ Hoch bis sehr


Gering Leistungsbasiert
mierer Support hoch

Die konsequente Ausrichtung am Leistungsprinzip stellt die Miete und das Leasing
beinhaltende Servicekonzepte in den Vordergrund. Zukünftig könnten Maschinen
nicht mehr als Wertanlage erworben werden, sondern lediglich die Leistungen um das

660 Vgl. XIANG ET AL. (2017, S. 391ff).


661 Vgl. KIM ET AL. (2007, S. 1844).

450
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen

Serviceobjekt. Damit steigen die Anforderungen an die Vertragsgestaltung. Je höher


außerdem der Anteil an ausgelagerten Instandhaltungstätigkeiten ist, umso schwieri‐
ger fällt es dem Betreiber, die Kontrolle durchzuführen. Um dies zu gewährleisten,
muss abermals die Informationstransparenz gegeben sein, wobei der Betreiber dazu
bereit sein sollte, einen möglichen Know‐how‐Abfluss in Kauf zu nehmen. Sollte er in
der Vergangenheit Wissen und Kompetenzen den Anlagenpark betreffend aufgebaut
haben, wird er dies evtl. nicht als vorteilig ansehen. Folglich hängt der Umfang der
durchgeführten Leistungen primär von der Art des Kunden ab, wobei eine Einteilung
in Selbstinstandhalter, Serviceoptimierer und Nutzenoptimierer vorgenommen wer‐
den kann (vgl. Tabelle 6‐6)662.

Entsprechend nehmen die Hersteller die Rollen des Teileversorgers, Serviceproviders


und Solutionsproviders ein. Ohne flächendeckende Informationen wird es dem Her‐
steller nicht möglich sein, eine bedarfssynchrone Beschaffung, Herstellung und Liefe‐
rung zu leisten. Die Sicherstellung der Flächendeckung ist ein mühsamer Prozess,
sofern mit allen Kunden separate Verträge zu schließen sind. Die Beziehung zwischen
den Akteuren wird hierbei durch die folgenden Sachverhalte maßgeblich bestimmt:

a) Erstausrüstungsangebot

Wie die Ersatzteillogistik beim Betreiber geplant wird, ist häufig abhängig vom
Reifegrad der Anlagen, wobei die Erfahrung, die der Betreiber mit der Anlage
macht, eine maßgebliche Rolle spielt. Wichtig für den Betreiber ist es in diesem
Zusammenhang, dass der Hersteller bereit ist, seine Erfahrungen mit ihm zu tei‐
len. Bei Inbetriebnahme ohne eine Kenntnis darüber, wie der optimale Wartungs‐
zyklus zu erreichen ist und welche Ersatzteile dafür vorgehalten werden sollten,
muss sich auf die Ersatzteilempfehlungsliste des Herstellers (Erstausrüstungsan‐
gebot) berufen werden. Hier sind Vorschläge zur optimalen Bevorratung von Er‐
satzteilen enthalten, womit der Betreiber auf das Wissen des Herstellers angewie‐
sen ist. Will der OEM sicherstellen, dass der Betreiber unter allen Umständen im
Notfall in der Lage ist, die reaktive Instandhaltungsmaßnahme durchzuführen, so
kann er diesem raten, jegliche seiner Meinung nach bedeutenden Komponenten in
entsprechender Stückzahl ins Lager aufzunehmen. Somit ist der Kunde selbst da‐
zu angehalten, sich eine eigene Meinung bezüglich der vorherrschenden Risiken
und deren Prävention zu bilden. Mit zunehmender Erfahrung des Betreibers wird
er die Liste anpassen und Bestellungen variieren. Der Hersteller auf der anderen
Seite besitzt die Chance, das Wissen des Kunden zu nutzen, um die Empfehlungs‐
liste zu verbessern. Sollte die Relevanz gewisser Kundenanfragen erfasst werden,
erhält er bspw. weiterführende Kritikalitätseinschätzungen, womit denkbar ist,
dass neben der reinen Aufstellung von potenziell einzulagernden Komponenten
auch Informationen zu deren Kritikalität und geschätzter Betriebszeit enthalten
sind. Erschwert wird dies durch die Heterogenität der Kundenstruktur, denn je
eher sich die Betreiber in ihren Produktionsumgebungen, Losgrößen, Rüstvor‐

662 In Anlehnung an BAUMBACH (2004a, S. 102ff).

451
After Sales und Reverse Logistics
6
gängen oder auch den technischen Kompetenzen der Mitarbeiter voneinander un‐
terscheiden, desto schwieriger ist es für den Hersteller, eine möglichst zuverlässi‐
ge Prognose zum Verschleiß der Teile abzugeben. Folglich stellt es für ihn ein Ri‐
siko dar die Angaben überhaupt zu tätigen, was zur Entscheidung führen kann,
dem Betreiber eher alles zu empfehlen, um nicht die Kundenzufriedenheit zu ge‐
fährden.

b) Proaktive Zusammenarbeit und Erfassung von Installed Base Data

Eine tiefgehende Bindung zum Kunden kann auch durch eine proaktive Zusam‐
menarbeit erreicht werden663. Kunden erhalten hierzu vor jeder selbst durchzu‐
führenden Instandhaltungsmaßnahme das Angebot eines passenden Teilekits. Die
Wartungsplanung obliegt somit nicht mehr dem Betreiber selbst und stellt damit
eine Wegbereitung für steigende Servicelevel und leistungsbasierte Verträge hin
zum Angebot von Business‐Solutions dar. Falls der Betreiber einen Know‐how‐
Abfluss befürchten sollte, ist er an der Planung zu beteiligen. Ein transparentes
Agieren der Hersteller ist damit unabdingbar, um eine langfristig ausgelegte dau‐
erhafte Beziehung der Akteure zu gewährleisten.

In diesem Zusammenhang ist die Erfassung und Verarbeitung von Installed Base
Data eine Herausforderung. Die Installed Base bezeichnet alle sich im Umlauf be‐
findlichen Systeme und Anlagen, die durch den Hersteller abgesetzt wurden oder
die – je nach Sichtweise – durch einen Dienstleister bedient werden. Bei zuverläs‐
sigen Daten, d. h. stimmigen anlagen‐ und ersatzteilspezifischen Informationen,
ist anzunehmen, dass Serviceprozesse und die Ersatzteilversorgung einfacher zu
planen sind. Als besonders wichtig gelten hierbei die Lage, Umgebungsfaktoren,
Einsatzbedingungen und Wartungszyklen bzw. ‐pläne beim Kunden. Technikmit‐
arbeiter im Außendienst repräsentieren in diesem Zusammenhang eine bedeu‐
tende Informationsquelle. Sie sollten dazu angehalten werden, während der Ser‐
viceeinsätze Daten über die beim Kunden befindlichen Anlagen zu erfassen. Hier‐
zu muss bereits eine ausreichende systemische Grundlage vorliegen, um die
Dateneingabe, z. B. durch Pflichtfelder oder Drop‐down‐Auswahllisten, zu unter‐
stützen.

Eine weitere Option ist die Fernwartung, wobei Remote‐Technologien Produkti‐


onsparameter erfassen. Die Zeiten zum Feststellen der Ursache des Defektes so‐
wie der Diagnose können somit verringert werden, was erfolgreiche Serviceein‐
sätze und minimierte Planungskosten für den Dienstleister impliziert. Dies hat
gerade im Zuge von leistungsbasierten Verträgen das Potential, den After‐Sales‐
Service‐Markt nachhaltig zu verändern. Die Initiative zur Einbindung der dazu
notwendigen Technologien ist hierbei von beiden Seiten aus möglich: Zum einen
kann der Hersteller mit Hilfe angepasster Verträge und neuer Servicekonzepte
dazu beitragen, dass der Betreiber die Technologien in den Anlagen implementie‐

663 Vgl. SCHWEIGER (2011, S. 20).

452
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen

ren will. Da anfallende Kosten aber häufig auf den Kunden umgelegt werden, ist
nicht davon auszugehen, dass sie unter allen Umständen bereit sind, den höheren
Preis zu zahlen. Vorteile aus diesem Agieren sollten dem Betreiber daher mög‐
lichst einfach und verständlich aufbereitet werden. Verfügt der Betreiber über ein
entsprechendes Know‐how, kann das innovative Vorgehen auch von seiner Initia‐
tive aus gestartet werden. Für den Hersteller ist dies insoweit von Vorteil, als dass
er nicht selbst in Technologien investieren muss. Sollte der Betreiber bereit sein,
die erhobenen, am besten bereits verarbeiteten Daten mit dem Hersteller zu teilen,
kann dieser die Lieferung von Ersatzteilen und Austauschmodulen bedarfssyn‐
chron einplanen, womit wiederum ein proaktives Agieren gewährleistet ist.
Cloud‐basierte Technologien wären in diesem Zusammenhang geeignete Instru‐
mente zum Arbeiten mit echtzeitfähigen Daten. Allerdings ist dies heute noch
nicht so weit verbreitet, wie es die technologischen Möglichkeiten realisieren
könnten664.

Generell ist es für den OEM schwierig, den schwankenden Ersatzteilbedarf abzu‐
schätzen. Dies trifft insbesondere auf Komponenten mit hoher Spezifität zu, denn
diese sind in nur wenigen Maschinen verbaut und werden deshalb an eine gerin‐
ge Kundenanzahl ausgeliefert. Obwohl diese Teile nur sehr selten benötigt wer‐
den, sind sie meist besonders wichtig für die Kunden. Maßnahmen, die der Kun‐
de selbst an den Anlagen vornimmt, sind möglichst lückenlos zu erfassen, damit
Teile, die bereits nicht mehr verbaut sind, aus dem Bestand entfernt werden. Zu‐
sätzlich ist das Wissen, in welchem Maße Nicht‐Originalteile während der In‐
standsetzungsmaßnahmen vom Betreiber selbst eingebaut wurden, für den Her‐
steller von Bedeutung. Demnach ist auch die Pflege von Umbauten nicht zu ver‐
nachlässigen, um stets aktuelle Informationen bezüglich des möglicherweise
auftretenden Ersatzteilbedarfs vorliegen zu haben. Je nach Ausgestaltung des Ser‐
vicevertrags und nach Umfang der ausgelagerten Instandhaltungsleistungen beim
Betreiber kann dies auf mehr oder weniger umfassender Basis erfolgen. Meist ist
der OEM auf die Mitarbeit des Kunden und dessen Informationsübermittlung an‐
gewiesen, denn qualitativ hochwertige Daten sind universell wichtig für eine
funktionierende Hersteller‐Betreiber‐Beziehung.

664 Vgl. STICH ET AL. (2015, S. 66f).

453
After Sales und Reverse Logistics
6
6.4.3 Kooperationen auf dem Drittanbietermarkt
Die kooperative Nutzung von Daten und Ressourcen ist auch bei Kooperationen mit
dem Drittanbieter eine Voraussetzung für die gute Zusammenarbeit der Akteure,
insbesondere in Form gemeinsamer Prognosen. Dadurch verkürzen sich Reaktionszei‐
ten und der entsprechende Ersatzteilbestand entlang der Supply Chain sinkt, bspw.
infolge des Ersatzteilpoolings665. Falls der Drittanbieter als Lagerverwalter auftritt,
kann er so seine Marktsicherheit steigern und die Losgrößenplanung verbessern666.
Auf der anderen Seite entsteht eine für ihn schwierige Mittlerrolle, da er sowohl als
Konkurrent als auch als Kooperationspartner des Herstellers auftritt. Sollte der Her‐
steller den Absatz als wichtiger erachten, geraten die Kooperationen in den Hinter‐
grund. Der Drittanbieter ist allerdings oft auf die Kooperationsbereitschaft des OEM
angewiesen, denn die Spezialisierung auf bestimmte Gebiete gelingt häufig nicht ohne
das entsprechende Wissen des Herstellers. Für diesen selbst ist es einfacher, Daten
beim Kunden zu erheben, während Drittanbieter meist nicht dazu in der Lage sind,
diese Informationen abzurufen.

Bei funktionierender Kooperation ist des Weiteren ein gemeinsames Auslaufmanage‐


ment anzustreben. An diesem ist der Hersteller dann beteiligt, wenn er den Service,
den er selbst nicht mehr leisten kann oder will, an den Drittanbieter übergibt. Der
Drittanbieter versorgt den Kunden anschließend mit entsprechenden Dienstleistungen
und Ersatzteilen. Jedoch bedeutet dies einen hohen Anspruch an die Vertrags‐
gestaltung und die entsprechenden Verhandlungen. Der Aufbau eines Bestandes ist
für den Drittanbieter ein Risiko, welches der Hersteller durch diese Art von Koopera‐
tion an ihn abgibt. Auf der anderen Seite kann ein starker Preiswettbewerb auf dem
Markt die Drittanbieter zwingen, auch für sie unvorteilhafte Konditionen zu akzeptie‐
ren.

Als besondere Form der Drittanbieter treten aufarbeitende Unternehmen auf. In der
Aufarbeitung muss stark nach dem Ziel derselben und der Struktur der Unternehmen
differenziert werden. Für die Aufarbeitungsleistung benötigen Unternehmen entwe‐
der die Originalteile vom Hersteller oder erwerben Komponenten auf dem freien
Markt, sodass der Aufarbeiter auf der einen Seite als Drittanbieter fungiert, auf der
anderen Seite aber auch mit diesen zusammenarbeitet. In der Aufarbeitung kann es
vorkommen, dass Teile bereits beim ersten Entstehen eines Bedarfs nicht mehr verfüg‐
bar sind und eine lange Vorlaufzeit aufweisen. Ist dies der Fall, sind im Vorhinein
gesetzte Aufarbeitungszyklen nicht mehr einzuhalten. Dieses Risiko ist kaum zu ver‐
meiden. Es kann jedoch gemindert werden, wenn Lieferanten zur Vorhaltung gewisser
Ersatzteile angehalten werden, sofern eine garantierte Abnahme vorliegt. Längerfristi‐
ge Beziehungen zu Kunden sind für Aufarbeiter ebenfalls ähnlich vielversprechend
wie für Hersteller und Drittanbieter und verhelfen ihnen durch proaktives Kunden‐
einwirken zur Etablierung neuer Geschäftsmodelle. Wie im vorherigen Kapitel ausge‐

665 Vgl. Kapitel 6.3.7.


666 Vgl. SCHUH ET AL. (2013, S. 196f).

454
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen

führt, kann bei Vorliegen entsprechender Informationen schon zeitig abgeschätzt wer‐
den, welche Komponenten der Kunde benötigen wird. Zusätzlich ist von Bedeutung,
ob ein getakteter Prozessablauf vorliegt oder die Aufarbeitungsdauer unerheblich für
den Weiterverkauf ist. Entsprechend wirkt sich dies auf eventuelle Lieferzeiten aus.

6.4.4 Hemmnisse funktionierender Kooperationen


Auch wenn Kooperationen entlang der Ersatzteil‐Supply‐Chain als wichtig angesehen
werden, existieren Hemmnisse, die das Eingehen dieser verlangsamen oder behin‐
dern. Abbildung 6‐19 stellt in diesem Zusammenhang bestehende Ursache‐Wirkungs‐
Beziehungen dar.

Abbildung 6‐19 Hemmnisbezogene Ursache-Wirkungsbeziehungen

Unternehmensebene Planungsebene Abteilungsebene

Informations‐
Unzureichende Schlechte Prognosequalität
politik
Kommunikation

Fehlendes Know‐ Gering ausgeprägter


how Informations‐ Vernachlässigung
austausch proaktives
Kundeneinwirken

Diskontinuierl.
Bedarf Ad‐hoc‐Management Hohe Bestände /
überstrapazierter Puffer

Systemische &
technische Fehlende Fehlendes
Grundlage strategische Planung Obsoleszenzmanagement

Unklare Kaum Investitionen in


Zögern der Akteure
Nutzenaspekte (techn.) Innovationen

Etablierte Inflexibilität bei der Geringer Stellenwert von


Lagerkonzepte Lagerung Poolingkonzepten

Die Unsicherheit bezüglich der Qualität und Verfügbarkeit von Informationen zur
Planung instandhaltungstechnischer und ersatzteillogistischer (Service‐)Prozesse tritt
als zentral auf, da diese die wahrgenommene Relevanz der Integration beeinflusst. So
verursacht bereits ein internes Versäumnis der zuverlässigen Datenerfassung beim
Betreiber, dass auch die auf ihn folgenden Akteure entlang der Supply Chain mit qua‐
litativ unzureichenden Informationen arbeiten müssen. Bei der Informationsunsicher‐

455
After Sales und Reverse Logistics
6
heit ergibt sich somit eine doppelte Kausalität: Kooperationen können aufgrund der
genannten Einflusssphären verhindert werden, weshalb die Informationsunsicherheit
auf der einen Seite als hemmender Faktor auftritt. Auf der anderen Seite trägt eine
enge abteilungs‐ und unternehmensübergreifende Zusammenarbeit jedoch auch dazu
bei, die Informationspolitik zu verbessern. Fehlendes Know‐how der Mitarbeiter, der
schwer einschätzbare diskontinuierliche Bedarf von Ersatzteilen und die oftmals nur
lückenhaft vorliegende systemische und technische Grundlage in den Unternehmen
bedingen zusätzlich, dass sich sowohl die Kommunikation von Mitarbeitern verschie‐
dener Unternehmensbereiche als auch zwischen den Akteuren selbst als großes
Hemmnis der Zusammenarbeit herausstellt. Die Kommunikation nimmt wiederum
Einfluss auf den Informationsaustausch, wobei Lieferanten in ihrer Informationspoli‐
tik zum Teil bewusst intransparent agieren. Kommt eine bereits ausgeprägte Nutzung
von Erfahrungs‐ und Expertenwissen hinzu, wird vor allem beim Betreiber ein Ad‐
hoc‐Management gefördert. Die fehlende strategische Ausrichtung lässt lange Reakti‐
onszeiten entstehen, die verstärkt werden, wenn ein nur geringes (technisches) Ver‐
ständnis bezüglich der Anlagen und benötigten Komponenten sowohl beim Kunden
als auch beim Lieferanten vorliegt.

Als Verdeutlichung gelte das folgende Szenario: Ist der Hersteller oder Drittanbieter –
bspw. aufgrund des stark diversifizierten Angebots – nicht in der Lage, schnell auf die
Kundennachfrage reagieren zu können, ist es zielführend, ihn rechtzeitig auf einen
anstehenden Bedarf vorzubereiten. Dies ist über ein zustandsorientiertes Instand‐
haltungsmanagement beim Kunden zu erreichen. Ist es dem Abnehmer durch Ad‐hoc‐
Kommunikation und eine fehlende vorausschauende Instandhaltungsstrategie aber
nicht möglich, schon rechtzeitig auf die Lieferzeit ausgerichtete Bedarfe auszulösen, ist
der Lieferant bei Gewährleistung eines qualitativ hochwertigen Services dazu ge‐
zwungen, die Komponente trotz eventuell hoher Kapitalbindungskosten selbst vorzu‐
halten, um lieferfähig zu bleiben. Das wiederum kann zum Überstrapazieren der Puf‐
ferfunktion des Lagers führen. Je nach Größenordnung bedeutet dies ein Aufschau‐
keln der Bestände entlang der Lieferkette. Folglich sind insbesondere OEMs und
Drittanbieter von einer schlechten Prognosequalität betroffen667. Das proaktive Ein‐
wirken auf die Kunden sowie das Obsoleszenz‐ und Auslaufmanagement werden
gehemmt. Daher ist es von signifikanter Wichtigkeit, dass sowohl die Instandhaltung
als auch die Ersatzteillogistik bzw. ‐beschaffung sowohl beim Betreiber selbst als auch
unternehmensübergreifend mit der Technik und Ersatzteildisposition des Lieferanten
kommuniziert. Bereits die Einräumung einer Tracing‐Option für bestellte Ersatzteile
und damit die Gewährleistung der Visibility könnten den geschilderten Problemen
entgegenwirken.

Servicedienstleistungen wie Fernwartungen lassen sich nur dann effektiv nutzen,


wenn eine Flächendeckung vorliegt. Wiegen Datensicherheitsbedenken schwerer, ist
dieses Ziel kaum zu erreichen. Der Sachverhalt ist erweiterbar auf innovative Techno‐
logien und Systemgrundlagen, die als Treiber für besser funktionierende Kooperatio‐

667 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 191).

456
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen

nen und fortschrittliche Serviceangebote anzusehen sind668. Ferndiagnose und Einsät‐


ze mit Hilfe von Augmented Reality gelten nach wie vor als Zukunftsvisionen, denn
nicht allen potentiellen Anbietern und Abnehmern sind entsprechende Nutzenaspekte
klar. Eine ungenaue Einschätzung von Amortisationszeitpunkten bei Investitionen
und das Warten auf Signale vom Markt fördert die Vorsichtigkeit der Unternehmen.
Als weiteres Beispiel sind E‐Plattformen bzw. E‐Marketplaces zu nennen. Diese sind
dafür geeignet, schnell Absatz zu generieren und Kunden eine Angebotseinsicht zu
erleichtern, was wiederum die Transparenz sicherstellt. Lieferanten bieten sich hier die
Möglichkeiten einer flächendeckenden Datenerfassung, denn sollten Kunden dazu
angehalten sein, sich mit den Instandhaltungsobjekten auf der Plattform zu registrie‐
ren, können durch Datenakkumulation gesicherte Schlussfolgerungen getroffen wer‐
den. Hemmend wirken vor allem einseitige Partnerschaften, wenn E‐Marketplaces als
reine Bestelltools und nicht als Kooperationsmöglichkeit fungieren.

Ein Hemmnis für das auf organisatorischer Ebene im Netzwerk als bedeutend angese‐
hene Ersatzteilpooling ist die nach wie vor weit verbreitete zentrale Lagerung. Auch
bereits etablierte Netzwerke mit verschiedenen Standorten der Betreiber zum gegen‐
seitigen Aushelfen bei Nichtverfügbarkeit von Ersatzteilen wirken dem Trend entge‐
gen. Mit Zunahme der Komplexität des Ersatzteilmanagements ist allerdings anzu‐
nehmen, dass die Bedeutung von Pooling‐Konzepten weiter steigen wird.

Die Überwindung der angesprochenen Hemmnisse hätte mehrere für alle Akteure
vorteilhafte Entwicklungen zur Folge:

 Einschätzung der Dringlichkeit und schnelle Priorisierung von Kundenanfor‐


derungen.
 Die dynamische Anpassung von Preisen von Komponenten und Dienstleistungen
bei Einschätzung der Zahlungsbereitschaft des Kunden.
 Effektive Anlagenverbesserungen, wenn die Informationen über die Betreiber für
die Forschung und Entwicklung verwertbar sind. Maschinenausfälle während der
Garantiezeit ließen sich somit zukünftig eindämmen.
 Bei Vorliegen von Informationen zum Wissensstand der Techniker beim Kunden
sind Schulungsmaßnahmen zielgerichtet anzupassen.
 Bei vergleichbaren Daten kann Benchmarking als Serviceleistung angeboten wer‐
den.
 Das Vertrauen der Kunden in den Anbieter steigt, was wiederum dazu führen
kann, dass ein umfassenderes Outsourcing von Leistungen betrieben wird.

Die Herstellung einer integrierten Sicht und die Bedeutungszunahme von Kooperatio‐
nen verursachen auf der einen Seite eine Zunahme der Komplexität des After Sales
Service, auf der anderen Seite bergen sie jedoch zahlreiche Potenziale, um eine effizi‐
entere Planung der Instandhaltungs‐ und Ersatzteillogistik zu gewährleisten. Eine

668 Vgl. MEYER ET AL. (2012, S. 69).

457
After Sales und Reverse Logistics
6
notwendige Voraussetzung dafür ist die Schaffung einer nachhaltigen Vertrauensbasis
zwischen allen beteiligten Akteuren, um einen transparenten Austausch der zur Pla‐
nung notwendigen Informationen zu gewährleisten.

6.5 Reverse Logistics


Die von Unternehmen initiierten Stoffströme basierten in der Vergangenheit auf dem
Modell der Durchflusswirtschaft, d. h. Rohstoffe werden von den Unternehmen aus
dem Ökosystem entnommen, in Güter transformiert und nach der Nutzung wieder als
Abfallstoffe an das Ökosystem abgegeben669. Diese vorwärts gerichtete Lieferkette
wird als Forward Supply Chain bezeichnet und ist im Rahmen der Optimierung von
Wertschöpfungsketten in der Literatur intensiv diskutiert worden. Durch den Aufbau
zyklischer Wirtschaftskreisläufe, mit denen Unternehmen Ressourcen intensiver und
länger nutzen können, müssen sich die Unternehmen jedoch auch im Rahmen der
Reverse Supply Chain den rückwärts gerichteten Flüssen und deren effektiven und
effizienten Gestaltung widmen. Unter einer Closed Loop Supply Chain (CLSC) wer‐
den diejenigen Prozesse verstanden, die sich vom Hersteller zum Kunden und von
dort wieder zurück zum Hersteller erstrecken. Eine Open Loop Supply Chain (OLSC)
bezeichnet eine Lieferkette, bei der ein aus einem Recycling von Produkten resultie‐
render Output nicht zum Hersteller des ursprünglichen Produktes fließt, sondern
Eingang in eine andere Supply Chain findet670. Somit beinhalten sowohl eine CLSC als
auch eine OLSC Aktivitäten der Forward als auch der Reverse Supply Chain. Bei der
Gestaltung von Closed bzw. Open Loop Supply Chains müssen strategische Partner
(Lieferanten, Logistik‐ und Recyclingdienstleister) frühzeitig involviert und die zu
tätigenden Investitionen in Standort, Anlagen und Logistik langfristig geplant werden.
Während in einer Forward Supply Chain nur die Nachfrage unbekannt ist, stellt bei
der CLSC und OLSC auch die Versorgerseite eine zusätzliche Unsicherheit dar. Neben
der Menge sind auch die Qualität und der Zeitpunkt des Rückflusses kaum abzu‐
schätzen und schwer zu beeinflussen. Des Weiteren erhöhen die Vielzahl der Beteilig‐
ten und die Planung der diversen Aufgaben die Komplexität der Planung. Als Reverse
Logistics (Rückführ‐, Rückwärts‐ bzw. Retourenlogistik) werden die nachhaltige,
ganzheitliche Planung, Steuerung, Abwicklung und Kontrolle der Rückwärtsflüsse
von Materialien, Verpackungen, Halb‐ und Fertigprodukten und des zugehörigen
Informationsflusses vom Zeitpunkt der Herstellung, Distribution oder Nutzung bis
zum Zeitpunkt der Verwendung, Verwertung oder Beseitigung verstanden. Die Rever‐
se Logistics, zu der alle flussaufwärts gerichteten Materialströme gehören, gewinnt
aufgrund der wachsenden ökologischen und ökonomischen Herausforderungen stetig
an Bedeutung.

669 Vgl. KILIMANN (1996, S. 3).


670 Vgl. SCHRÖTER (2006, S. 8).

458
6.5
Reverse Logistics

Rückstände stellen im jeweiligen Prozess zwangsläufig anfallende Stoffe dar, die nicht
Sachziel der Produktion, der Distribution oder des Konsums sind, und können in
Rückstände zur Beseitigung (Abfälle) sowie in Rückstände zur erneuten Nutzung
(Wertstoffe) unterteilt werden. Rückstände aus Produktionsprozessen sind nicht mehr
verwendbare Roh‐, Hilfs‐, Betriebs‐ und Werkstoffe, Anlagen, Luft‐, Wasser‐ und Bo‐
denemissionen, die aus dem betrieblichen Leistungserstellungsprozess resultieren.
Pack‐, Lade‐ und Fördermittel, beschädigte oder verfallene sowie falsch ausgelieferte
Produkte stellen Rückstände im Distributionsprozess dar. Von dem Konsumenten
nicht mehr gebrauchte bzw. verwendungsfähige Produkte oder Substanzen sind
Rückstände aus Konsumtionsprozessen. Rückstände zur erneuten Nutzung können
einem Recycling zugeführt werden. Großtechnische, industrielle Recyclingprozesse
lassen sich in die Wertschöpfungsstufen Weiter‐ bzw. Wiederverwendung, Aufar‐
beitung sowie werkstoffliche, chemische und thermische Verwertung unterschei‐
den671. Bei einer Wiederverwendung (z. B. Getränkeverpackungen als Mehrweg‐
system) erfolgt eine erneute Verwendung gebrauchter Produkte für den ursprüng‐
lichen Verwendungszweck und bei der Weiterverwendung (z. B. Schlacken im
Bauwesen) werden die gebrauchten Produkte nicht für den ursprünglichen, sondern
für einen davon abweichenden Verwendungszweck eingesetzt. Eine Aufarbeitung
kann durch Remanufacturing, Refurbishing oder eine Reparatur erfolgen672. Beim
Remanufacturing wird das Produkt zunächst vollständig demontiert und inspiziert,
um anschließend defekte Bauteile oder Baugruppen auszutauschen. Nach der Remon‐
tage entspricht das Produkt dem Zustand eines Neuproduktes. Im Rahmen des Refur‐
bishing werden die Produkte ebenfalls demontiert, jedoch nur bis zu einem definierten
Qualitätsniveau unterhalb des Niveaus eines Neuproduktes aufgearbeitet. Da eine
Reparatur meistens nur eine teilweise Demontage umfasst, bei der dann lediglich
defekte Bauteile ausgetauscht werden, liegt sie bzgl. der Qualitätsstufe unterhalb des
Refurbishing. Die Verwertung wird in eine Weiter‐ und Wiederverwertung unterteilt
und kann mechanisch, chemisch oder thermisch erfolgen. Während bei einer Wieder‐
verwertung (z. B. Zerkleinerung von Reifen zur Rohstoffgewinnung) gleiche bzw.
weitgehend gleichwertige Stoffe für einen Wiedereinsatz in der Produktion entstehen,
resultieren aus einer Weiterverwertung (z. B. Herstellung von Stühlen aus verunreinig‐
ten Kunststoffen) Stoffe oder Produkte mit anderen Eigenschaften und/oder anderer
Gestalt für einen anderen Verwendungszweck. Durch eine werkstoffliche Verwertung
werden Werkstoffe auf mechanischem Wege gewonnen. Bei der chemischen Verwer‐
tung stellt der Output Sekundärrohstoffe dar und im Rahmen einer thermischen Ver‐
wertung wird Energie erzeugt. Die höchste Wertschöpfung weist die Primärentsor‐
gung auf, zu der die Weiterverwendung und die Aufarbeitung zählen. Eine niedrigere
Wertschöpfung wird durch eine Sekundärentsorgung erzielt, der eine mechanische,
chemische und thermische Verwertung zuzuordnen sind.

671 Vgl. WEHKING ET AL. (1993, S. 19).


672 Vgl. SCHMID (2009, S. 12).

459
After Sales und Reverse Logistics
6
Die Rückwärtsflüsse im Rahmen der Reverse Logistics können anhand des Produktle‐
benszyklus nach dem zeitlichen Anfall in vier Phasen unterschieden werden673. Die
Rückwärtsflüsse umfassen dabei Rohstoffe, Einzelteile, Komponenten und Fertigpro‐
dukte.

a) Rückwärtsflüsse während des Produktionsprozesses

Während des Produktionsprozesses können Produktionsausschuss, Rohstoff‐


bzw. Materialreste, unerwünschte und nicht verkaufsfähige Kuppelprodukte so‐
wie Halbfertig‐ und Fertigprodukte mit ungenügender Qualität anfallen. Produk‐
tionsrückstände können wieder in den innerbetrieblichen Kreislauf zurückgeführt
werden. Die Rückführung von Produktionsausschuss ist oft notwendig, um die
geforderten Qualitätsziele zu erreichen. Diese Objekte können entweder an vorge‐
lagerte Produktionsstufen zurückgeführt oder zur Gewinnung von Sekundärroh‐
stoffen weitergeleitet werden. Unerwünschte Kuppelprodukte können einer al‐
ternativen Supply Chain oder Entsorgungsunternehmen zum Materialrecycling
zugeführt werden.

b) Rückwärtsflüsse vor der Nutzung durch den Endabnehmer

Zu diesen Objekten gehören Endprodukte, die nicht in der richtigen Art, in der
richtigen Menge, zur richtigen Zeit oder der richtigen Qualität ausgeliefert wur‐
den und deshalb zurückgeführt werden müssen. Eine Rückführung erfolgt auch,
wenn Produkte mit dem Ziel zurückgegeben werden, einen vorangegangenen
Kaufvertrag zu annullieren. Des Weiteren gehören in diese Kategorie auch com‐
mercial product returns, d. h. Produkte, die im Rahmen von Aktionen mit über‐
höhten Mengen an den Handel ausgeliefert wurden. Die nicht verkaufte Ware
wird nach Ablauf der Aktion wieder zurückgenommen. Auch Sortiments‐
umstellungen oder ‐bereinigungen im Handel führen zu entsprechenden Rück‐
flüssen. Falls sich Produkte bereits im Auslieferungslager beim Hersteller oder
Händler befinden und verspätet Mängel oder Risiken festgestellt werden, dann
müssen diese Produkte zurückgeführt, geprüft und evtl. überarbeitet oder ent‐
sorgt werden.

c) Rückwärtsflüsse während der Nutzung durch den Endabnehmer

Weisen Produkte Qualitäts‐, Sicherheitsmängel oder Risiken für die Umwelt auf,
dann erfolgen Rückführungen im Rahmen von Produktrückrufen. Produktrück‐
rufe und Produktwarnungen gehören zu jenen Maßnahmen, zu denen Produkt‐
verantwortliche (z. B. Hersteller, Bevollmächtigte, Importeure, Händler) nach dem
Produktsicherheitsgesetz verpflichtet sind, wenn bekannt geworden ist oder An‐
haltspunkte dafür bestehen, dass die ausgelieferten Produkte eine Gefahr für die
Gesundheit oder die Sicherheit von Dritten darstellen könnte. Ebenso gehören in

673 Vgl. FLEISCHMANN (2001a, S. 22ff); GOBSCH (2007, S. 44ff).

460
6.5
Reverse Logistics

diese Kategorie auch Warenrückgaben aufgrund von Mängeln (§ 437 BGB Rechte
des Käufers bei Mängeln) und Warenrückgaben aufgrund des Widerrufs bei
Haustürgeschäften oder Fernabsatzverträgen (§ 312 BGB). Die Rückführung kann
hierbei innerhalb der vom Gesetzgeber eingeräumten Gewährleistungsfrist, bzw.
der vom Hersteller freiwillig eingeräumten Garantiephase erfolgen oder für die
Dauer eines Servicevertrags. Der Hersteller muss in diesem Fall eine Reparatur
direkt beim Kunden bzw. bei sich durchführen oder für Ersatz sorgen. Ungeachtet
dessen finden in diesem Prozess immer Rückflüsse (z. B. die ausgetauschten
Komponenten) statt. Im Rahmen der Instandhaltungslogistik werden oftmals auf‐
grund unklarer Ursachen verschiedene Ersatzteile ausgeliefert oder gelagert. Die
nicht benötigten Ersatzteile sind nach Abschluss der Instandhaltungsmaßnahme
wieder zurückzuführen.

d) Rückwärtsflüsse nach der Nutzung

Zu den Objekten, die nach ihrer Nutzung zurückgeführt werden, gehören alle
Endprodukte, die bereits genutzt wurden und nun nicht mehr gebraucht werden
können. In diese Kategorie fallen alle mehrwegfähigen Pack‐, Lade‐ bzw. Förder‐
hilfsmittel, wie z. B. Paletten, Kleinladungsträger oder Produktverpackungen, die
nach der Verwendung zurückgeführt und bei gleichbleibender Qualität sofort
bzw. bei geringen Schäden nach einer Reparatur wiederverwendet werden kön‐
nen. Einwegbehälter werden nach der Rückführung dem Recyclingkreislauf zuge‐
führt. Sofern Produkte zurückgeführt werden, die der bisherige Nutzer nach ei‐
nem befristeten Gebrauch nicht mehr benötigt (z. B. Ausstell‐, Miet‐ oder Lea‐
singprodukte), handelt es sich um End‐of‐use‐Rückführungen. Nach der Rück‐
nahme durch den Hersteller werden diese Produkte – ggf. nach einer Wiederauf‐
arbeitung – einem neuen Nutzer zugeführt. Bei End‐of‐Life‐Rückführungen
handelt es sich um Endprodukte, die ihr technisches oder ökonomisches Lebens‐
ende erreicht haben. Aufgrund gesetzlicher Regelungen (z. B. KrWG) können
Nutzer diese Produkte zurückgeben. Falls gebrauchte Endprodukte für den Her‐
steller noch einen Wert darstellen, sodass diese als Ganzes oder in Teilen wieder‐
hergestellt oder recycelt werden können, dann wird der Hersteller diese Produkte
auch freiwillig zurücknehmen. Auch entsprechende Marketingstrategien (z. B.
Alt‐gegen‐Neu‐Aktionen) führen zu dieser Art von Rückflüssen.

Aus der Betrachtung der Objekte ist ersichtlich, dass diese zum Teil auch der Entsor‐
gungslogistik zugeordnet werden können. Die Entsorgungslogistik umfasst die ganz‐
heitliche Planung, Steuerung, Abwicklung und Kontrolle der Abfallströme und den
dazugehörigen Informationsflüssen und beinhaltet sowohl flussabwärts als auch
flussaufwärts gerichtete Materialströme. Da zwischen den beiden logistischen Subsys‐
temen Reverse Logistics und Entsorgungslogistik Unterschiede zwischen der Fließ‐
richtung und den zu behandelnden Objekten vorliegen, stellt die Entsorgungslogistik
kein Teilgebiet der Reverse Logistics dar (vgl. Abbildung 6‐20). Obwohl sich die Ob‐
jektbereiche der beiden Subsysteme stark überschneiden, gibt es auch Objekte, die nur

461
After Sales und Reverse Logistics
6
der Entsorgungslogistik oder der Reverse Logistics zuzuordnen sind. Nur der Entsor‐
gungslogistik werden diejenigen Rückstände zugeordnet, die im Rahmen eines vor‐
wärtsgerichteten Materialflusses an ein Entsorgungsunternehmen zur Beseitigung
übergeben werden. Ausschließlich Gegenstand der Reverse Logistics sind zurückflie‐
ßende Objekte, die keinen Rückstand darstellen, wie z. B. Miet‐ oder Leasingprodukte,
mehrwegfähige Pack‐, Lade‐, Förderhilfsmittel und commercial returns. Beiden Sub‐
systemen können alle Objekte zugeordnet werden, die für ihre ursprüngliche Bestim‐
mung nicht mehr genutzt werden und zu einer weiteren Verwendung, Verwertung
oder Beseitigung zurückgeführt werden674.

Abbildung 6‐20 Forward und Reverse Logistics

Forward
Forward Logistics
Logistics

Absatzmarkt, Händler und


Markt der Primär‐ und

Beschaffungs‐ Produktions‐ Distributions‐


Sekundärrohstoffe

Beschaffungs‐ Produktions‐ Distributions‐


logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik

Kunden
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik

Wiedereinsatz‐
Wiedereinsatz‐ Aufbereitungs‐
Aufbereitungs‐ Redistributions‐
Redistributions‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik

Reverse
Reverse Logistics
Logistics

Beseitigung Beseitigung

Vorwärtsflüsse: Roh‐, Hilfs‐, Betriebsstoffe, Halb‐, Fertigfabrikate, Rückstände


Rückwärtsflüsse: Rohstoffe, Materialien, Komponenten, Produkte, Rückstände

674 Vgl. GOBSCH (2007, S. 53 ff).

462
6.5
Reverse Logistics

6.5.1 Motive für Reverse Logistics


Die wachsende Bedeutung von Reverse Logistics lässt sich auf ökonomische, ökolo‐
gische und gesetzliche Gründe zurückführen.

a) Ökonomische Motive

Bei den ökonomischen Motiven für Reverse Logistics dominieren Kosten‐


einsparungen und erhöhte Umsatzerlöse. Durch den Einsatz von recycelten Pro‐
dukten, Produktkomponenten oder ‐teilen in den Produktionsprozess können
Kosten gesenkt und die Abhängigkeit von Lieferanten reduziert werden. Der
deutliche Preisanstieg in nahezu allen Rohstoffgruppen, der auf die durch das
Wachstum der Schwellenländer induzierten Nachfrage zurückzuführen ist, för‐
dert den verstärkten Einsatz von Sekundärrohstoffen, die aus Recyclingmaß‐
nahmen gewonnen werden können. Recycelte Teile können auch als Ersatzteile im
Rahmen von Reparaturprozessen genutzt werden. Insbesondere in der Elek‐
tronik‐ und Hightech‐Branche, in der sich die Produktlebenszyklen immer weiter
verkürzen, sind viele Komponenten der End‐of‐life‐Produkte noch funktionsfähig
und dadurch wieder verwendbar. Diese Produkte enthalten auch eine Vielzahl
hochwertiger Rohstoffe, die durch den Einsatz moderner Recyclingtechniken ei‐
ner erneuten Nutzung zugeführt werden können. Durch eine höhere Recycling‐
rate lassen sich auch das Müllaufkommen und die Entsorgungskosten senken675.
Im Vergleich zu neuen Produkten können durch den Verkauf recycelter Produkte
somit höhere Gewinne erzielt werden. Ein umweltbewusstes Image durch ent‐
sprechende Recyclingmaßnahmen und Wiederverwendungsraten führt zu Wett‐
bewerbsvorteilen. Insbesondere im Distanzhandel erhöht eine großzügige Rück‐
nahme von Produkten die Kundenzufriedenheit und somit die Kundenbindung.
Des Weiteren können durch ein effizientes und effektives Rückflusssystem not‐
wendige Produktrückrufe effizient und effektiv abgewickelt werden.

b) Ökologische Motive

Durch den Klimawandel nehmen die Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung im


Bewusstsein der Bevölkerung einen immer höheren Stellenwert ein. Diesem im‐
mer größer werdenden Umweltbewusstsein müssen auch die Unternehmen
Rechnung tragen und versuchen deshalb ein ökologisches Produkt‐ und Unter‐
nehmensimage aufzubauen. Ein Großteil der Ressourcen, die als Inputfaktoren
für die Leistungsprozesse im Unternehmen Eingang finden, ist erschöpfbar. Im
Sinne des Ressourcenziels soll eine Minimierung der für die Leistungs‐ und Kon‐
sumprozesse zu entnehmenden Inputfaktoren erfolgen. Die Umwelt nimmt die
bei der Leistungserstellung und der Nutzung von Produkten entstehenden Rück‐
stände auf, die zur Erfüllung des Emissionsziels zu minimieren sind. Verschiede‐
ne Umweltschutzorganisationen wie z. B. Greenpeace veröffentlichen Rankings

675 Vgl. FLEISCHMANN (2001a, S. 17).

463
After Sales und Reverse Logistics
6
über die Umweltverträglichkeit von Produkten (z. B. von Computerherstellern)
und ermahnen einzelne Unternehmen für ihre unzureichenden Recyclingmaß‐
nahmen. Durch eine Erhöhung der Recyclingraten aufgrund entsprechender Pro‐
duktrückführungen und eine geordnete Beseitigung tragen Unternehmen zu ei‐
nem umweltbewussten Wirtschaften im Sinne des Ressourcen‐ und Emissions‐
ziels bei und stärken somit die Kundenzufriedenheit676.

c) Rechtliche Motive

In Deutschland wurde mit dem seit 06.10.1996 in Kraft getretenen Kreislauf‐


wirtschafts‐ und Abfallgesetz (KrW‐/AbfG) den Unternehmen die Produkt‐
verantwortung für die von ihnen entwickelten, hergestellten, be‐ und verarbeite‐
ten und vertriebenen Erzeugnissen zur Erfüllung der Ziele der Kreislaufwirtschaft
auferlegt. Mit dieser Verpflichtung sind die Unternehmen (Hersteller, Handel,
Importeure) für die Rücknahme und Rückführung ihrer Produkte für die Dauer
des gesamten Produktlebenszyklus verantwortlich.

Die Produktverantwortung677 umfasst

 die Entwicklung, Herstellung und das Inverkehrbringen von Erzeugnissen, die


mehrfach verwendbar, technisch langlebig und nach Gebrauch zur ordnungs‐
gemäßen und schadlosen Verwertung und umweltverträglichen Beseitigung
geeignet sind,
 den vorrangigen Einsatz von sekundären Rohstoffen bei der Herstellung von
Erzeugnissen,
 die Kennzeichnung von schadstoffhaltigen Erzeugnissen, um die umweltver‐
trägliche Verwertung oder Beseitigung der nach Gebrauch verbleibenden Ab‐
fälle sicherzustellen,
 den Hinweis auf Rückgabe‐, Wiederverwendungs‐ und Verwertungsmöglich‐
keiten oder ‐pflichten und Pfandregelungen durch Kennzeichnung der Er‐
zeugnisse und
 die Rücknahme der Erzeugnisse und der nach Gebrauch der Erzeugnisse ver‐
bleibenden Abfälle sowie deren nachfolgende Verwertung oder Beseitigung.

Mit der Produktverantwortung wird eine Internalisierung der bisher externalisierten


Entsorgungskosten angestrebt. Somit ist eine Beseitigung nur dann zulässig, wenn
nachgewiesen werden kann, dass keine vertretbaren wirtschaftlichen oder keine tech‐
nologischen Maßnahmen für eine Vermeidung und Verwertung zur Verfügung stehen.
Am 01.06.2012 trat in Deutschland das neue Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) in
Kraft, mit dem das alte Kreislaufwirtschafts‐ und Abfallgesetz (KrW‐/AbfG) ablöst und
das deutsche Abfallrecht umfassend modernisiert wird. Die ehemals zweistufige Ab‐

676 Vgl. BLOEMHOF‐RUWAARD ET AL. (1999, S. 27).


677 Vgl. KRWG § 23.

464
6.5
Reverse Logistics

fallhierarchie (§ 4 Abs. 1 KrW‐/AbfG), die eine Vermeidung vor einer Verwertung


propagiert, wird durch eine fünfstufige Abfallhierarchie (§ 6 Abs. 1 KrWG) ersetzt.
Diese beinhaltet die Vermeidung, die Vorbereitung zur Wiederverwendung, das Re‐
cycling, die sonstige Verwertung (insbesondere die energetische Verwertung und
Verfüllung) sowie die Beseitigung. Nach § 6 Abs. 2 KrWG ist diejenige Maßnahme
vorrangig zu wählen, die Mensch und Umwelt am besten schützt. Weitere Bestim‐
mungen sind, dass die Vermischung gefährlicher Abfälle grundsätzlich unzulässig ist
(§ 9 KrWG) und spätestens ab dem 01.01.2015 eine getrennte Sammlung von Bioabfäl‐
len (§ 11 KrWG) sowie Papier‐, Metall‐, Kunststoff‐ und Glasabfällen (§ 14 KrWG)
erfolgen muss. Das deutsche Abfallrecht enthält auch spezielle Rechtsvorschriften für
verschiedene Abfallarten und Produktgruppen. Dazu gehören die Altholzverordnung
(AltholzV vom 15.08.2002), die Gefahrstoffverordnung (GefStoffV vom 26.11.2010), die
Bioabfallverordnung (BioAbfV vom 21.09.1998), die Biomasseverordnung (BiomasseV
vom 21.06.2001), die Altautoverordnung (AltautoV vom 04. 07.1997), das Altfahrzeug‐
gesetz (AltfahrzeugG vom 21.06.2002), das Batteriegesetz (BattG vom 25.09. 2009) und
das Elektro‐ und Elektronikgesetz (ElektroG vom 16. 03. 2005). Beispielsweise be‐
stimmt das ElektroG, dass sich Unternehmen, die in Deutschland Elektro‐ und Elek‐
tronikaltgeräte erstmalig in den Markt bringen, im Elektro‐Altgeräte‐Register (EAR)
registrieren müssen. Die Anteile eines registrierten Unternehmens an der gesamten
jährlich zu entsorgenden Menge an Altgeräten werden ermittelt und das Unternehmen
erhält dann konkrete Aufträge zur Abholung dieser Anteile bei den öffentlich‐
rechtlichen Entsorgungsträgern, die Altgeräte von den Haushalten sammeln. Bei der
anschließenden Behandlung und Verwertung müssen Quotenvorgaben bezüglich der
stofflichen und energetischen Verwertung eingehalten werden678. Da zukünftig in der
Gesellschaft noch mit einem stärkeren Umweltbewusstsein zu rechnen ist, müssen sich
die Unternehmen schon heute in stärkerem Maße mit der Rückführung von Produkten
beschäftigen.

6.5.2 Subsysteme der Reverse Logistics und Entsorgungs-


logistik
Zur Realisierung einer Kreislaufwirtschaft müssen die in der Produktion, Distribution
und Konsumtion entstandenen Rückstände einer Verwertung und einem Wieder‐
einsatz zugeführt werden. Dazu bedarf es eines Rückflusses der Rückstände zu ent‐
sprechenden Verwertungseinrichtungen, in denen ein Aufarbeitungs‐ und Verwer‐
tungsprozess stattfindet, um je nach möglicher Wertschöpfungsstufe Baugruppen,
Werkstoffe, Rohstoffe oder Energie zurückzugewinnen. Anschließend wird der Out‐
put dieser Verwertungsprozesse durch einen Beschaffungsvorgang zurück zum Her‐
steller transferiert, um dort einen Wiedereinsatz zu ermöglichen. Entsprechend dieser
Phasen können die drei Subsysteme Redistributions‐, Aufbereitungs‐ und Wiederein‐
satzlogistik unterschieden werden (vgl. Abbildung 6‐20).

678 Vgl. SCHMID (2009, S. 27).

465
After Sales und Reverse Logistics
6
6.5.2.1 Redistributionslogistik
Aufgabe der Redistributionslogistik ist die Aufnahme der in der Versorgungslogistik
sowie der beim Endkunden angefallenen Rückstände, um sie dem System der Entsor‐
gungslogistik verfügbar zu machen. Die Redistribution ist der erste Schritt innerhalb
eines Recyclingkonzepts zur Erfassung von Rückständen, die nach einer Sammlung
und Trennung der Verwertung, oder falls dies technisch oder wirtschaftlich nicht
sinnvoll ist, der Beseitigung zugeführt werden. Ziel eines Redistributionssystems ist
die Erfüllung eines zuvor festgelegten Erfassungsgrades der zu sammelnden Rück‐
stände. Hierzu ist die Einhaltung eines Sammelrhythmus notwendig, der ein Nicht‐
überschreiten des Lagerplatzbedarfs der Rückstände gewährleistet und evtl. beste‐
hende Verfallsdaten bzw. Verderblichkeiten beachtet. Weiterhin müssen durch die
Redistribution kontinuierlich hinreichend Rückstände verfügbar sein, um Demontage‐
und Verwertungsanlagen mit einer hohen Auslastung betreiben zu können679.

Eine Verknüpfung von Distributions‐ und Redistributionssystemen stellt eine sehr


komplexe Aufgabe dar, da neue Produkte und Rückstände unterschiedliche logistische
Anforderungen haben. Während bei der Redistribution eine kurzfristige Entsorgung
im Vordergrund steht, dominieren bei der Versorgungslogistik die schnelle Güterver‐
fügbarkeit und eine geringe Kapitalbindung. Ziel muss es sein, Lösungen zu erarbei‐
ten, die durch eine sinnvolle Kopplung von Distribution und Redistribution Auslas‐
tungsgrade steigern und Verkehre minimieren. Dies beinhaltet eine Integration von
Redistributionsverkehren in bestehende Distributionssysteme, aber auch die Einbin‐
dung von Distributionsaufgaben in Redistributionssysteme. Die Hauptaufgaben der
Redistributionslogistik bestehen in der Sammlung, Sortierung, Lagerung, Verpackung
sowie dem Transport und Umschlag.

In der Redistributionslogistik werden Rückstände zur Beseitigung oder zur erneuten


Nutzung gesammelt, d.h. materialflusstechnisch an definierten Übergabeorten erfasst
und sortiert. Während dieser Erfassung findet eine Zusammenfassung der Rückstände
zu größeren Transport‐ und Ladeeinheiten statt, wobei der Sammelrhythmus von der
zu sammelnden Menge je Zeiteinheit, den Schwankungen dieser Menge je Zeiteinheit,
der Anzahl der Quellen, der zu sammelnden Menge je Quelle, den Schwankungen der
zu sammelnden Menge je Quelle, den Entfernungen zwischen den Quellen, der örtli‐
chen Verteilung der Quellen, der Anzahl der Senken und von der durchschnittlichen
Entfernung der Quellen von einer Senke abhängig ist680. Die Sammelprinzipien lassen
sich bzgl. der Zeit und dem Sammelrhythmus unterscheiden. Bei einer synchronen
Sammlung erfolgt keine Lagerung an den Anfallstellen, da die Entstehung von Rück‐
ständen sofort eine Sammlung auslöst. Somit ist keine Lagerung an den Anfallstellen
nötig, ein schneller Wiedereinsatz der gewonnenen Sekundärrohstoffe wird ermög‐
licht, Schäden an den Rückständen werden durch einen sofortigen Abtransport ver‐
mindert und Gefahrstoffe können unmittelbar nach ihrer Entstehung abtransportiert

679 Vgl. RINSCHEDE ET AL. (1995, S. 76).


680 Vgl. RINSCHEDE ET AL. (1995, S. 76).

466
6.5
Reverse Logistics

werden. Nachteile ergeben sich durch den hohen Koordinationsaufwand und den
ineffizienten Transport aufgrund der geringen Transportmengen. Die nicht‐synchrone
Sammlung kann regelmäßig oder unregelmäßig durchgeführt werden. Eine regelmä‐
ßige Sammlung ist dann geeignet, wenn an den Quellen der Rückstände ausreichende
Lagermöglichkeiten vorhanden sind, sodass ein Sammelzyklus abgewartet werden
kann. Eine unregelmäßige Sammlung wird dann angestoßen, wenn die Lagerkapazitä‐
ten an den Anfallstellen erschöpft sind oder Wiederaufbereitungsanlagen Rückstände
zur Erzeugung von Sekundärrohstoffen anfordern. Weiterhin lassen sich bei der Art
der Sammlung ein Bring‐ und ein Hol‐Prinzip unterscheiden. Beim Bring‐System
übernimmt der Abfallerzeuger die Anlieferung der Rückstände zur Sammelstelle.
Diese Vorgehensweise eignet sich bei kurzen Transportwegen, einer hohen Anzahl von
Rückstandsquellen oder bei einer geringen Rückstandsmenge pro Quelle. Während
bei einem einstufigen Bring‐System ein direkter Transport zu den Wiederauf‐
bereitungsanlagen erfolgt, ist bei einem mehrstufigen Bring‐System noch ein Lager
zwischengeschaltet, in dem die Rückstände erst gesammelt und anschließend zu den
Wiederaufbereitungsanlagen transportiert werden.

Abbildung 6‐21 Mehrstufige kombinierte Redistributionsstrategien

Hol‐Bring‐System Bring‐Hol‐System

A
A
A Z A A

A Demontage/Aufarbei‐ Demontage/Aufarbei‐
tung/Verwertung tung/Verwertung

A Z
Z
A A
A
A

A: Abfallquelle Z: Zwischenlager

467
After Sales und Reverse Logistics
6
Da bei einer Sammlung nach dem Hol‐Prinzip die Rückstände durch Sammel‐
fahrzeuge abgeholt werden, ist im Vergleich zum Bring‐Prinzip die Rückführungs‐
quote wesentlich höher. Allerdings erhöht sich durch die notwendige mengenmäßige
Erfassung der Rückstände und die anschließende Tourenplanung der Sammelfahr‐
zeuge der Planungsaufwand. Analog zum Bring‐ kann auch das Hol‐Prinzip ein‐ oder
mehrstufig durch Einbeziehung eines Zwischenlagers umgesetzt werden. Mehrstufige
Bring‐ und Hol‐Systeme lassen sich auch kombinieren, sodass zwischen Bring‐Hol‐
Systemen und Hol‐Bring‐Systemen unterschieden werden kann (vgl. Abbildung 6‐21).

Aufgrund von gesetzlichen Bestimmungen ist ein getrenntes Sammeln erforderlich, da


für bestimmte Substanzen Vermischungsverbote existieren oder unterschiedliche Ent‐
sorgungswege vorgeschrieben sind. Mit der Sortierung wird eine Sortenreinheit durch
eine Trennung in diverse Fraktionen erreicht und aufrechterhalten, um Sorten getrennt
zu behandeln und in unterschiedliche Materialflusssysteme einzuspeisen. Die Samm‐
lung und Sortierung können gemeinsam oder getrennt voneinander durchgeführt
werden.

a) Sortenreine Sammlung

Bei der sortenreinen Sammlung werden die Rückstände bereits an der Quelle der
Entstehung getrennt gesammelt. Diese Methode bietet die besten Voraus‐
setzungen für eine hohe Wiedereinsatzquote. Allerdings entsteht ein hoher orga‐
nisatorischer Aufwand, verbunden mit hohen Anforderungen an die Nutzer, und
die unterschiedlichen Sammelbehälter für jede Rückstandsart erhöhen die Kosten
sowie den Platzbedarf. Da ein getrenntes Entleeren der verschiedenartigen Behäl‐
ter notwendig ist, erfolgen Transportprozesse oftmals mit geringen Mengen je
Rückstandsart.

b) Gemischte Sammlung mit nachträglicher Trennung


Erfolgt nach der gemischten Sammlung in einem oder mehreren Behältern an den
Anfallstellen eine anschließende Trennung, dann entsteht bei der Bereitstellung
und Sammlung aufgrund der homogenen Sammelbehälter ein geringer Aufwand.
Auch die Anforderungen an die Nutzer an den Sammelstellen sind geringer als
bei der sortenreinen Sammlung. Als nachteilig zeigt sich jedoch die geringere Sor‐
tenreinheit als bei einer getrennten Sammlung und der mit einer nachträglichen
Trennung verbundene hohe Aufwand, da damit Lager‐, Transport‐ und Um‐
schlagprozesse notwendig sind, die zusätzliche Kapazitäten erfordern.

c) Gemischte Sammlung ohne nachträgliche Trennung

Die Sammlung aller Rückstände erfolgt ohne sortenreine Trennung in einem oder
mehreren Behältern an den Anfallstellen. Da keine nachträgliche Trennung er‐
folgt, wird auf eine Gewinnung von Sekundärrohstoffen verzichtet. Weiterhin
muss mit hohen Entsorgungskosten gerechnet werden, da sie sich nach der Rück‐
standsart mit dem größten Gefährdungspotenzial richten. Als weiterer Nachteil

468
6.5
Reverse Logistics

ist ein möglicher Imageschaden gegenüber Stakeholdern zu beachten. Vorteile er‐


geben sich durch den geringeren Aufwand bei der Bereitstellung der Sammelbe‐
hälter und beim Sammelvorgang, durch den Einsatz homogener Behälter mit ge‐
ringem Platzbedarf sowie die geringen Anforderungen an Nutzer an den Sam‐
melstellen.

Die Lagerung dient der Zeitüberbrückung und somit dem Ausgleich von Mengen‐
schwankungen. Durch eine Zwischenlagerung können wirtschaftliche Transportlos‐
größen ermöglicht, aber auch Demontage‐, Aufarbeitungs‐ und Aufbereitungsanlagen
mit stets hoher Auslastung betrieben werden. Rückstände können in getrennten oder
gemeinsamen Lagerzonen gelagert werden. Durch getrennte Lagerzonen wird ein
Vermischen von Rückständen vermieden, jedoch ein höherer Platzbedarf benötigt. In
einer gemeinsamen Lagerzone werden Rückstände unabhängig ihrer Art gemeinsam,
jedoch in getrennten Behältern gelagert, sodass ein geringerer Platzbedarf entsteht. Bei
der Lagerung von Rückständen sind allgemeine Sicherheitsbestimmungen, wie z. B.
automatische Feuermelder, Vorrichtungen zur Brandbekämpfung, Belüftungen, Gas‐
melder, maximale Lager‐ und Stapelhöhen, Fluchtpläne und die Aufklärung der Mit‐
arbeiter für ein richtiges Handeln im Notfall, zu beachten. Des Weiteren müssen feste,
pastöse und flüssige Rückstände gesondert gelagert werden (Zusammenlagerungs‐
verbote), Rückstände im Lager sollen ein bestimmtes Volumen nicht überschreiten
(Mengenschwellenkontrolle) und im Falle eines Brandes soll verhindert werden, dass
durch das Löschwasser Rückstände in den Boden gelangen und zu Umweltschäden
führen. Rückstände, die als Gefahrstoffe eingestuft werden, d. h. die explosionsgefähr‐
lich, brandfördernd, hochentzündlich, gesundheitsschädlich und umweltgefährlich
sind, müssen als solche gekennzeichnet sein. Die Lagerhaltung kann in Erwartung
steigender Marktpreise für Rückstände oder Sekundärrohstoffe eine Spekulations‐
funktion übernehmen, um diese nach einer Zwischenlagerung später gewinnbringend
zu veräußern. Sicherheitsbestände sind nur dann wichtig, wenn für die gewonnenen
Sekundärrohstoffe eine entsprechende Nachfrage am Markt existiert, sodass deren
Anlieferung im Rahmen der Wiedereinsatzlogistik den Anforderungen der Kunden an
Primärrohstoffe genügt.

Eine Verpackung dient als Hülle für das Packgut und erfüllt die Logistik‐, Kommuni‐
kations‐, Schutz‐ und Conveniencefunktion. Im Rahmen der Logistikfunktion unter‐
stützt die Verpackung die Bildung von logistischen Einheiten, um eine effiziente Ge‐
staltung des Transportprozesses zu ermöglichen. Durch die Kommunikationsfunktion
erfolgt eine Kennzeichnungspflicht, sodass der Inhalt der Verpackungen, insbesondere
bei Gefahrstoffen, eindeutig zu deklarieren ist. Eine Verpackung muss einen wir‐
kungsvollen Schutz für Mensch und Umwelt darstellen, aber auch das Packgut selbst
vor Schäden und Einflüssen aus der Umwelt schützen. Verbessert eine Verpackung die
Handhabbarkeit, wobei gleichzeitig die Umwelt weniger belastet wird, so erfüllt sie
die Conveniencefunktion. Diese Anforderungen erfüllen beispielsweise Mehrwegver‐
packungen. Eine anforderungsgerechte Auswahl der Verpackung hängt von der Art
der Rückstände, vom Aggregatzustand, Gewicht und Umfang, einer möglichen Ge‐

469
After Sales und Reverse Logistics
6
fährdung für Mensch und Umwelt sowie der Anfallhäufigkeit ab. Zur Erfüllung der
Logistik‐ und Schutzfunktion müssen die Verpackungen von den Mitarbeitern sachge‐
recht behandelt werden.

Transportprozesse dienen der Überbrückung der räumlichen Distanz der Rückstände


zwischen Anfallort zum Umschlagpunkt und vom Umschlagpunkt zu den Aufberei‐
tungsanlagen oder zur Beseitigung und verbinden die Teilprozesse der Sammlung,
Trennung und Lagerung. Dazu müssen zunächst geeignete Transport‐ und Ladehilfs‐
mittel (z. B. Container, Gitterboxen, Paletten) ausgewählt werden. Insbesondere die
Auswahl der Ladehilfsmittel beeinflusst maßgeblich die Handhabbarkeit der Trans‐
porteinheiten. Zur Lösung der Transportaufgabe werden mehrgliedrige Transport‐
ketten verwendet681.

Umschlagprozesse stellen Schnittstellen zwischen den Prozessschritten Sammlung


und Trennung, sowie Lagerung, Verpacken und Transport dar. So werden zum Bei‐
spiel Rückstände von kleineren in größere Sammelbehälter und Transportbehälter
zwischen verschiedenen Transportmitteln umgeladen. Umschlagvorgänge können
entweder mit dem Umleerverfahren, bei dem die Rückstände in einen anderen Behäl‐
ter umgefüllt werden, oder mit dem Wechselverfahren, das durch ein Umsetzen der
Behälter gekennzeichnet ist, organisiert werden. Um ein kosten‐ und zeitintensives
Umladen zwischen verschiedenen Behältern zu vermeiden, sollten identische Behälter
über die gesamte Transportkette benutzt werden.

6.5.2.2 Aufbereitungslogistik
Die Aufbereitungslogistik schließt sich als nachfolgendes Subsystem unmittelbar an
die Redistributionslogistik an und umfasst die Planung, Steuerung und Überwachung
der Material‐ und Informationsflüsse sowie der Transformationsprozesse zur Rück‐
gewinnung von Komponenten und Materialien in den Aufbereitungsanlagen682. Die
Transformationsprozesse erfolgen in Form von Demontage‐, Aufbereitungs‐ und Ver‐
wertungsprozessen. Für die erreichbare Qualität aus den Aufbereitungsanlagen muss
bereits in der Entwicklungsphase von Produkten deren Recyclingfähigkeit sicherge‐
stellt werden, um Aufbereitungs‐ und Verwertungsmaßnahmen leichter und kosten‐
günstiger durchführen zu können. Nur so ist ein einfaches Recycling mit einem hohen
Verwertungsgrad am Ende der Produktlebensdauer gewährleistet. Das Recycling lässt
sich in ein Produkt‐ und ein Materialrecycling unterscheiden. Das Produktrecycling
umfasst die Demontage von Altgeräten sowie die Verwendung und Wiedereinsteue‐
rung der gewonnenen Teile zum Zweck der Altteilegewinnung. Werden nach einer
Demontage die Komponenten von Altgeräten nicht verwendet sondern verwertet, so
wird ein Materialrecycling durchgeführt. Ziel des Materialrecyclings ist es, Rückstän‐
de zur weiteren Nutzung in marktfähige Sekundärrohstoffe zu überführen und für
Produktionsprozesse nutzbar zu machen.

681 Vgl. LASCH (2020, S. 242ff).


682 Vgl. KILIMANN (1996, S. 37f).

470
6.5
Reverse Logistics

Die Demontage dient der Trennung von Bauteilen oder Baugruppen mit dem Ziel der
Verwendung bzw. – falls dies nicht möglich ist – der Verwertung dieser Teile und
sollte möglichst ohne zerstörende Aktivitäten durchgeführt werden, um eine hohe
Teilezahl verwenden zu können. Eine Demontage wird immer dann angewendet,
wenn ein Recycling des Produktes im Ganzen nicht möglich ist, weil es beispielsweise
nicht verwertbare Materialien enthält oder aus verschiedenen und getrennt zu behan‐
delnden Stoffen besteht. Durch eine Demontage können Gefahrstoffe von den restli‐
chen Stoffen getrennt und umweltverträglich entsorgt, die Menge der zu beseitigen‐
den Rückstände reduziert und Ersatzteile gewonnen werden. Für die Sortenreinheit
der aufzubereitenden Wertstoffe ist die Tiefe der Demontage ausschlaggebend. Je
größer die Zerlegungstiefe, d. h. je mehr Einzelteile und Materialien isoliert werden,
desto höher kann der Verwertungsgrad des Altgerätes sein. Mit höherem Verwer‐
tungsgrad sinkt die Menge der zu beseitigenden Rückstände. Der Zerlegungsgrad der
Demontage wird durch die Anforderungen der Sekundärfertigung, die eine Aufarbei‐
tung bzw. Verwertung oder eine Beseitigung beinhaltet, bestimmt683. Die Art und
Tiefe der Demontage wird von gesetzlichen Vorschriften, der Nachfrage auf dem Se‐
kundärrohstoffmarkt, dem technischen Know‐how, den eigenen Verwertungszielen
über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus sowie von Kostenaspekten beeinflusst.
Die Demontage ist durch einen hohen Anteil an zeitintensiven und manuellen Arbei‐
ten gekennzeichnet, die gegenüber einer automatischen Demontage eine höhere Flexi‐
bilität besitzt. Bei einer Teil‐ bzw. Vollautomatisierung der Demontage gilt es die Fle‐
xibilität der manuellen Demontage mit den Rationalisierungsmöglichkeiten einer
Automatisierung sinnvoll zu verbinden. Aufgrund der Vielzahl der Produkte und der
oftmals unzureichenden Produktinformationen ist menschlicher Arbeitseinsatz derzeit
unverzichtbar. Zur Umsetzung einer durchlaufzeitoptimalen und bestandsarmen
Sekundärfertigung sind geeignete Materialbereitstellungs‐ und Steuerungskonzepte
sowie logistische Flussstrategien notwendig. Somit sollten Maßnahmen angestrebt
werden, mit denen die Flexibilität der Anlagen erhöht, Rüstzeiten reduziert sowie
Losgrößen und Kapazitäten harmonisiert werden684.

Im Rahmen der Aufarbeitung erfolgt eine Beurteilung hinsichtlich der Demontage‐


tiefe, die Demontage einschließlich Entfernung der Gefahrstoffe, eine Reinigung und
Untersuchung der Einzelteile und Baugruppen, eine Überprüfung der Einzelteile und
Baugruppen für eine Überarbeitung zur Werterhöhung sowie eine stoffliche Verwer‐
tung nicht wiederverwendbarer Teile. Eine Werterhöhung der wiedergewonnenen
Teile kann auch durch eine Verbindung mit neuen Bauteilen erreicht werden. Eine
stoffliche Verwertung kann mit Hilfe biologischer, chemisch‐physikalischer und ther‐
mischer Verfahren durchgeführt werden685. Biologische Verfahren setzen Mikroorga‐
nismen für eine Aufbereitung ein, um Rückstände zur Beseitigung in Biogas, Kompost
oder Faulschlamm umzuwandeln. Eine chemisch‐physikalische Behandlung wandelt
die Rückstände zur Beseitigung stofflich um. Diese Methode wird insbesondere bei

683 Vgl. KILIMANN (1996, S. 39).


684 Vgl. KILIMANN (1996, S. 41).
685 Vgl. ARNOLD ET AL. (2008, S. 511f).

471
After Sales und Reverse Logistics
6
Gefahrstoffen eingesetzt, um ihre Umweltschädlichkeit zu mindern oder gar zu besei‐
tigen. So wird beispielsweise bei Leuchtstoffröhren das Leuchtmittel physikalisch
entfernt, um danach mit chemischen Verfahren das umweltschädigende Quecksilber
abzuscheiden. Falls eine stoffliche Verwertung nicht möglich ist, dann werden im
Rahmen eines thermischen Recycling die Rückstände zur Beseitigung verbrannt und
die freiwerdende Energie zur Erzeugung von Strom, Prozessdampf und Fernwärme
weiter genutzt. Durch ein thermisches Recycling erfolgt eine Volumen‐ und Mengen‐
reduktion, die Möglichkeit der Ablagerung ohne Umweltbeeinträchtigung und die
Verringerung des Schadstoffpotenzials. Abfallverbrennungsanlagen können in Haus‐
müllverbrennungsanlagen zur Beseitigung von Hausmüll und hausmüllähnlichem
Gewerbemüll, in Klärschlammverbrennungsanlagen zur Verbrennung von Klär‐
schlammtrockensubstanzen und in Sonderabfallverbrennungsanlagen zur Verbren‐
nung von Sonderabfällen unterschieden werden. Eine wirtschaftliche Energieerzeu‐
gung wird von der Sortenreinheit der Rückstände zur Beseitigung, von wirtschaftli‐
chen Mindestmengen, einem hohen Nutzungsgrad der Verbrennungsanlage und der
Möglichkeit zur Abgabe nicht benötigter Energie beeinflusst.

Sofern eine Verwertung nicht möglich ist, müssen Rückstände zur Beseitigung vorbe‐
handelt und anschließend deponiert werden. Eine Deponie stellt eine Abfallentsor‐
gungsanlage dar, die zur zeitlich unbegrenzten, geordneten und kontrollierten Abla‐
gerung von Abfällen dient. Verdichtungsdeponien nehmen unbehandelte Siedlungs‐
abfälle und hausmüllähnlichen Gewerbemüll auf, wobei die Abfälle in Schichten von
1,4 bis 2 Meter verdichtet werden. Bei Rottedeponien werden die Rückstände zur Be‐
seitigung zunächst zerkleinert, mit Klärschlamm vermischt und vier bis sechs Wochen
gelagert sowie anschließend verdichtet. Ballendeponien lagern ausschließlich den zu
Ballen gepressten Hausmüll und hausmüllähnlichen Gewerbemüll ein. Monodeponien
nehmen nur eine Abfallart zur Endlagerung auf. Rückstände zur Beseitigung, für die
eine geringe Wahrscheinlichkeit einer Reaktion mit der Umwelt vorliegt (z. B. Bau‐
schutt), können auf Inertdeponien endgelagert werden. Falls bei Rückständen zur
Beseitigung besonders auf die Sicherheit für Mensch und Umwelt zu achten ist, dann
muss eine Einlagerung auf Sonderabfalldeponien erfolgen686.

6.5.2.3 Wiedereinsatzlogistik
Die Prozesskette der Wiedereinsatzlogistik schließt sich direkt an die Aufbereitungs‐
logistik an und ist für die logistischen Vorgänge der Vermarktung der Sekundär‐
rohstoffe verantwortlich. Im Rahmen der Wiedereinsatzlogistik werden die aus der
Aufbereitungslogistik hervorgehenden und aufbereiteten Produkte, Baugruppen,
Einzelteile, Werk‐ und Rohstoffe für eine erneute Verwendung innerhalb des Wirt‐
schaftskreislaufs eingesetzt. Sie stellt das letzte fehlende Bindeglied dar, um den Kreis‐
lauf zwischen Versorgungs‐ und Entsorgungslogistik zu schließen. Sekundärrohstoffe
werden bei den Verwertungsbetrieben abgeholt und anforderungsgerecht dem Her‐

686 Vgl. ARNOLD ET AL. (2008, S. 513).

472
6.5
Reverse Logistics

steller geliefert. Die Anforderungen an diese Transformationsprozesse sind umso


höher, je mehr Primärrohstoffe durch Sekundärrohstoffe ersetzt werden.

Bei der Wiedereinsatzlogistik sind die Schnittstellen zur Aufbereitungslogistik, die als
Beschaffungsmarkt für Sekundärrohstoffe und ‐güter dient, als auch zum Beschaf‐
fungsmarkt für Primärrohstoffe und ‐güter effizient und effektiv zu gestalten687. Die
Wiedereinsatzlogistik ist für die zeit‐ und qualitätsgerechte Versorgung der Primär‐
produktion mit Kreislaufstoffen verantwortlich, sodass zu ihrem Aufgabenumfang die
Organisation und Steuerung des physischen Stoffflusses, die Beschaffungsmarktfor‐
schung, das Lieferantenmanagement sowie Maßnahmen zur Qualitätssicherung gehö‐
ren.

Aufgrund der zunehmenden Knappheit von Primärrohstoffen müssen zunehmend


Sekundärrohstoffe in der Primärproduktion eingesetzt werden. Somit müssen Sekun‐
därrohstoffe kontinuierlich verfügbar sein und qualitativ denjenigen vergleichbarer
Primärrohstoffe entsprechen. Die Preise von Sekundärrohstoffen werden sehr stark
von den zeitintensiven und aufwändigen Aufbereitungsverfahren bestimmt und sind
somit nicht immer deutlich niedriger als diejenigen für Primärrohstoffe. Aufgrund des
steigenden Umweltbewusstseins werden immer häufiger Produkte nachgefragt, die
Sekundärrohstoffe enthalten oder aus ihnen bestehen. Dieser Trend ist beispielsweise
bei Schreibpapier zu beobachten, sodass aufbereitetes Altpapier als Rohstoff für die
Papierindustrie interessant ist. Für den Bereich der Produktionsrückstände existieren
verschiedene Abfallbörsen, über die Kontakte zu Sekundärrohstoffverwertern herge‐
stellt werden können. Neben diesen Börsen sind auch direkte Lieferanten‐Abnehmer‐
Beziehungen möglich.

Die Wiedereinsteuerung ist jedoch auch mit Problemen verbunden. Aufgrund der
immer kürzeren Innovations‐ und Produktlebenszyklen werden Produkte schon nach
kurzer Zeit durch neue ersetzt und die Altgeräte müssen entsprechend recycelt oder
entsorgt werden. Durch die fortschreitende Technik ist eine Wiederverwendung der
einzelnen Bauteile als Sekundärrohstoffe oftmals nur schwer möglich. Die Kunden
fragen die neuesten Technologien nach, sodass der Bedarf an aufbereiteten Bauteilen
gering ist. Ein weiteres Problem stellt der Trend zu sinkenden Preisen auf dem Sekun‐
därrohstoffmarkt dar. Da das Angebot an Sekundärrohstoffen zunehmend steigt, be‐
steht eine Tendenz zu einer Verschlechterung der Wirtschaftlichkeit.

6.5.3 Entsorgungsnetzwerke
Das Aufgabenspektrum der Entsorgungslogistik wird i. A. nicht von einzelnen Unter‐
nehmen, sondern von Entsorgungsnetzwerken übernommen. Unter einem Entsor‐
gungsnetzwerk wird ein Netzwerk verschiedener Unternehmen mit dem Ziel der
Sammlung, Verwendung und Verwertung von Rückständen verstanden. Entsor‐

687 Vgl. KILIMANN (1996, S. 41).

473
After Sales und Reverse Logistics
6
gungsnetzwerke sind Zusammenschlüsse von mehreren Unternehmen, die zumeist
rechtlich selbstständig, aber wirtschaftlich miteinander verbunden sind, um langfristi‐
ge Erfolgspotenziale zu erschließen. Durch Kooperationen mit festen Partnern entste‐
hen transparente Stoffflüsse, die nachhaltig eine kontinuierliche Versorgung des Un‐
ternehmens sicherstellen. Die Partner können horizontal, vertikal oder lateral inte‐
griert sein. In solchen Netzwerkstrukturen ist es möglich, sowohl die Beschaffungs‐ als
auch die Entsorgungskosten dauerhaft und nachhaltig zu senken, da die bei einem
Unternehmen anfallenden Kuppelprodukte und Rückstände wertvolle Rohstoffe für
ein anderes Unternehmen darstellen. Ein Austausch dieser Stoffe zwischen den betref‐
fenden Partnern schafft eine dauerhafte Win‐Win‐Situation. Die Optimalität des Ge‐
samtsystems kann jedoch nur gewährleistet werden, wenn nicht nur Insellösungen
optimiert, sondern vielmehr gesamtoptimale Lösungen angestrebt werden. Somit
sollen Rückstände nicht nur zum alleinigen Nutzen zweier Systemteilnehmer ausge‐
tauscht werden. Es muss die beste Verwendung der Rückstände innerhalb des Ge‐
samtsystems bestimmt werden, um im Sinne der ökologischen Zielstellung die beste
Verwertungsalternative zu realisieren.

Als Akteure in einem Entsorgungsnetzwerk lassen sich gemäß KrWG (§ 3 Abs. 8–13)
Erzeuger, Besitzer, Sammler, Beförderer, Händler und Makler von Abfällen unter‐
scheiden. Hersteller, die aufgrund der Produktverantwortung für ihre Altprodukte
verantwortlich sind, werden als Erzeuger bezeichnet. Als Sammler von Abfällen treten
kommunale oder halbkommunale sowie rein privatwirtschaftliche Recyclingdienst‐
leister auf. Je nach Übernahme von Aufgaben können Recyclingdienstleister auch
Beförderer sein, sowie Makler, welche eine Bewirtschaftung von Abfällen Dritter
übernehmen oder Händler, die in eigener Verantwortung Abfälle erwerben und wei‐
terveräußern. Da Besitzer und Beförderer i. d. R. innerhalb des Prozesses der Bewirt‐
schaftung von Abfällen wechseln, kommen alle oben genannten Akteure in Frage688.
Ein weiterer Akteur von Entsorgungsnetzwerken ist oftmals ein fokales Unternehmen,
das einem Recyclingnetzwerk vorsitzt und die Kontakte zum Hersteller und somit
zum Auftraggeber des Netzwerkes unterhält689. Die Koordination von Entsorgungs‐
netzwerken kann entsprechend den Theorien zur Netzwerkbildung marktlich, d. h.
ohne zentrale Stelle und nur durch Zusammenarbeit der Teilnehmer, oder hierar‐
chisch, d. h. durch eine die Gesamtkoordination übernehmende Stelle, erfolgen.

6.5.3.1 Typen von Entsorgungsnetzwerken


Die Struktur von Entsorgungsnetzwerken wird einerseits vom Treiber des Netzwerkes
und andererseits von den Akteuren beeinflusst. Rechtlich getriebene Netzwerke agie‐
ren aufgrund eines gesetzlichen Zwangs, sodass das Ziel eine möglichst effiziente
Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen ist. Von ökonomisch getriebenen Netzwer‐
ken wird dagegen ein wirtschaftlicher Mehrwert erwartet. Bzgl. der Akteure lassen

688 Vgl. WALTHER (2005, S. 46).


689 Vgl. SCHMID (2009, S. 28).

474
6.5
Reverse Logistics

sich Hersteller von Dritten unterscheiden690. Für die folgende Charakterisierung der
Entsorgungsnetzwerke werden die Kreislaufwirtschaftsoptionen in zwei Gruppen
unterteilt. Die erste Gruppe (D‐A‐V) umfasst die Demontage (D), die mechanische
Aufarbeitung (A) und die stoffliche Verwertung (V) und die zweite Gruppe (R) das
Remanufacturing, Refurbishment und die Reparatur. In der Praxis lassen sich auf‐
grund dieser Einteilung die folgenden Typen unterscheiden:

a) Rechtlich getriebene (D‐A‐V)‐Entsorgungsnetzwerke

Diese Netzwerke, bestehend aus Herstellern und Dritten, führen (D‐A‐V)‐Aktivi‐


täten aufgrund europäischer und nationaler gesetzlicher Vorschriften durch.
Während die Hersteller juristisch und finanziell für die Produktrücknahme und
das Produktrecycling verantwortlich sind, wird die Ausführung der (D‐A‐V)‐
Tätigkeiten an logistische Dienstleister und spezialisierte (D‐A‐V)‐Unternehmen
ausgelagert.

b) Ökonomisch getriebene (D‐A‐V)‐Entsorgungsnetzwerke

Bei dieser Art von Entsorgungsnetzwerken stehen bei der Durchführung von
D‐A‐V‐Aktivitäten wirtschaftliche Gründe im Vordergrund. Die zu erzielenden
Gewinnmargen hängen sehr stark von den zu erzielenden Rohstoffpreisen ab. Da
in Zukunft aufgrund der Knappheit der Rohstoffressourcen mit steigenden Roh‐
stoffpreisen gerechnet werden kann, wird dieser Entsorgungsnetzwerktyp zu‐
künftig an Bedeutung gewinnen.

c) Ökonomisch getriebene, Hersteller‐dominierte (R)‐Entsorgungsnetzwerke

Diese Entsorgungsnetzwerke zeichnen sich dadurch aus, dass die Durchführung


der mit dem Remanufacturing, Refurbishing oder der Reparatur verbundenen
entsorgungslogistischen Aufgaben vom Hersteller selbst übernommen wird. Auf‐
grund des hohen ökonomischen Nutzens wird diesem Netzwerktyp eine hohe
Bedeutung beigemessen. Beispielsweise haben Automobilhersteller Aufarbei‐
tungsprogramme für Motoren eingeführt, um Ersatz‐ bzw. Austauschteile anbie‐
ten zu können691.

d) Ökonomisch getriebene, von Dritten dominierte (R)‐Entsorgungsnetzwerke

Als weitere ökonomisch getriebene Gruppe für Aufarbeitungsmaßnahmen kön‐


nen neben den Herstellern unabhängige dritte Unternehmen genannt werden. In
der Praxis finden sich z. B. Netzwerke für das Aufarbeiten von Mobiltelefonen,
von Automobilen oder von Reifen.

690 Vgl. SCHMID (2009, S. 15ff); FLEISCHMANN (2001b, S. 6ff).


691 Vgl. SCHMID (2009, S. 17).

475
After Sales und Reverse Logistics
6
Beispiele 6.4.1:

a) Die Recyclingpartner e.G. (RPG) ist ein genossenschaftlich organisiertes Entsor‐


gungsnetzwerk in Deutschland, deren 46 bundesweite Mitglieder sozial geförder‐
te Beschäftigungs‐ und Qualifizierungsunternehmen sind. Die RPG mit Ge‐
schäftssitz in Stuttgart wurde 1995 gegründet und ist weitestgehend dezentral or‐
ganisiert. Zum Aufgabengebiet der RPG gehören die Gewinnung sortenreiner,
wiederverwertbarer Rohstoffe durch manuelle Tiefenzerlegung von Elektro‐ und
Elektronikaltgeräten und die Instandsetzung noch gebrauchsfertiger Geräte sowie
Dienstleistungen für das Baugewerbe. Somit handelt es sich um ein rechtlich ge‐
triebenes D‐A‐V‐Entsorgungsnetzwerk.

b) Die Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland GmbH (DSD) wurde 1990 in
Folge der Verpackungsverordnung (VerpackV) gegründet und ist heute ein füh‐
render Anbieter von Rücknahmesystemen. Unter einem dualen Entsorgungs‐
system wird ein zweites von der Wirtschaft getragenes Abfallerfassungssystem
außerhalb der öffentlich‐rechtlichen Abfallentsorgung verstanden. Die angebote‐
nen Dienstleistungen umfassen neben der haushaltsnahen Sammlung und Ver‐
wertung von Verkaufsverpackungen das umweltfreundliche und wirtschaftliche
Recycling von Elektro‐ und Elektronikaltgeräten sowie von Transportverpack‐
ungen, die Standortentsorgung und das Pfandclearing. Die Aufgaben der Samm‐
lung, Sortierung und Verwertung von gebrauchten Verkaufsverpackungen wer‐
den über die Entgelte der am DSD beteiligten Hersteller finanziert. Die zu bezah‐
lenden Entgelte werden proportional zum Gewicht berechnet. Die DSD mit
Verwaltungssitz in Köln verwertet jährlich ca. 2.000.000 Tonnen an Verpackungs‐
abfällen. Aufgrund der angebotenen Dienstleistungen kann die DSD als rechtlich
getriebenes D‐A‐V‐Entsorgungsnetzwerk bezeichnet werden.

c) Im European Recycling Network (RENE) haben sich verschiedene mittel‐


ständische Recyclingunternehmen und Logistikexperten aus 19 europäischen
Ländern zusammengeschlossen. RENE wurde im Jahr 2004 von der Techprotect
GmbH mit einer Koordinationsstelle in Eppishausen/Bayern gegründet. Zum
Dienstleistungsumfang von RENE gehören die Übernahme der gesetzlich gefor‐
derten Pflichten für Hersteller von Elektro‐ und Elektronikaltgeräten sowie admi‐
nistrativer Pflichten, wie z. B. die Registrierung und permanente Meldung von in
Verkehr gebrachten, gesammelten und recycelten Altgeräten. Die im Netzwerk
beteiligten Unternehmen holen die Altgeräte bei kommunalen Sammelstellen ab
und übernehmen anschließend die Demontage und mechanische Aufbereitung.
Eine Verwertung wird von RENE nicht angeboten692. Eine umfassende Qualitäts‐
sicherung wird durch das Bayrische Institut für angewandte Umweltforschung
und ‐technik GmbH mit Sitz in Augsburg gewährleistet, das Zertifizierungen und
laufende Kontrollen durchführt. Aufgrund der angebotenen Dienstleistungen

692 Vgl. SCHMID (2009, S. 7).

476
6.5
Reverse Logistics

kann RENE als ein ökonomisch getriebenes, von Dritten dominiertes (R)‐
Entsorgungsnetzwerke bezeichnet werden.

d) Das European Advanced Recycling Netzwork (EARN) wurde zur Erfüllung der
Waste Electrical and Electronic Equipment (WEEE) Richtline gegründet. Die fünf
am Entsorgungsnetzwerk beteiligten Unternehmen Coolrec BV (Eindhoven), Eco‐
tronics (Wien), Electrocycling GmbH (Goslar), Indumetal Recyclings S. A. (Bilbao)
und Stena Technoworld AB (Göteburg) werden durch das fokale Unternehmen
EARN Elektroaltgeräte GmbH gesteuert. Das Entsorgungsnetzwerk EARN führt
für Elektro‐ und Elektronikaltgeräte eine manuelle Zerlegung, eine mechanische
Aufbereitung, die Ersatzteilversorgung durch die Rückführung von recycelten
Produkten bzw. Materialien, eine Beratung bzgl. einer recyclinggerechten Kon‐
struktion von Neuprodukten und eine Verwertung durch. EARN unterhält dazu
15 Verwertungsanlagen in Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Nieder‐
lande, Belgien, Deutschland, Polen, Österreich, Spanien, Großbritannien und
Frankreich. Durch das angebotene Dienstleistungsspektrum kann EARN als ein
rechtlich getriebenes D‐A‐V‐Entsorgungsnetzwerk typisiert werden.

6.5.3.2 Defizite bei Entsorgungsnetzwerken


Da in Entsorgungsnetzwerken unerwünschte Kuppelprodukte und Rückstände zur
Beseitigung ausgetauscht werden, besteht deren Zielsetzung in der langfristigen Siche‐
rung von Entsorgungsmöglichkeiten sowie der Substitution von Primärrohstoffen
durch Sekundärrohstoffe. Somit unterscheiden sich Entsorgungsnetzwerke von ande‐
ren Netzwerken, bei denen die Konzentration auf Kernkompetenzen im Vordergrund
steht693. Die ökologischen und ökonomischen Zielsetzungen sowie die umweltrechtli‐
chen Rahmenbedingungen führen zu besonderen Anforderungen und Restriktionen,
mit denen folgende Probleme aber auch Potenziale bei der Planung und Steuerung
von Entsorgungsnetzwerken verbunden sind.

a) Fehlende Logistikstrategie

Um Prozesse, Strukturen und Ressourcen zur Erfüllung entsorgungslogistischer


Aufgaben effizient planen, gestalten und steuern zu können, sind in Entsorgungs‐
netzwerken klare strategische Vorgaben erforderlich, um z. B. eine kunden‐
bezogene Leistungserstellung oder eine Minimierung der Kosten zu verfolgen. Al‐
lerdings zeigt sich, dass viele Entsorgungsunternehmen nicht über eine Lo‐
gistikstrategie verfügen, sondern die Logistik lediglich als Funktion bei der
Erbringung von Entsorgungsleistungen und der Belieferung von Verwertern be‐
trachten. Eine fehlende Logistikstrategie ist besonders aufgrund des Umfangs der
Logistikaufgaben in der Abfallwirtschaft und des damit einhergehenden Kosten‐
einflusses sehr kritisch zu betrachten, da wettbewerbsrelevante Wirkungen oder

693 Vgl. KALUZA/BLECKER (1998, S. 278).

477
After Sales und Reverse Logistics
6
die Möglichkeit der Kostensenkung nicht systematisch genutzt werden694.
Dadurch wird das strategische Potenzial der Logistik von vielen Entsorgungs‐
unternehmen zu wenig erkannt oder unterschätzt.

b) Traditionelles Management logistischer Kosten

Durch die Erbringung logistischer Entsorgungsleistungen entstehen Logistikkos‐


ten. Eine verursachungsgerechte Erfassung logistischer Kosten und ihrer Beein‐
flussungsgrößen sind eine Voraussetzung für die Messung und Steuerung der Er‐
folgswirksamkeit der Entsorgungslogistik. Insbesondere ermöglicht ein aktives
prozessorientiertes Logistikkostenmanagement auf der Basis standardisierter und
transparenter Prozesse die Gestaltung der Kosten sowohl im Verlauf als auch in
der Höhe. Die Kenntnis einzelner Prozesskosten ist unabdingbar für die Kosten‐
verrechnung in unternehmensübergreifenden Prozessketten. Mit traditionellen
Kostenrechnungssystemen, basierend auf Kostenstellen und ‐trägern, die bei den
meisten Entsorgungsnetzwerken zum Einsatz kommen, können zwar logistische
Gesamtkosten ermittelt, jedoch nicht in ihrer Zusammensetzung analysiert wer‐
den695. Eine fehlende Logistikkostenrechnung kann besonders in logistikintensi‐
ven Bereichen der Entsorgung zu Fehlentscheidungen und somit zu erhöhten Ab‐
wicklungskosten führen.

c) Fehlendes systematisches Umweltmanagement

Aus den umweltpolitischen Zielen der Kreislaufwirtschaft ergeben sich ökologi‐


sche Ziele für die Entsorgungslogistik sowie zahlreiche Rahmenbedingungen und
Restriktionen für die Planung und Steuerung entsorgungslogistischer Prozesse.
Zur Erfüllung ökologischer Zielvorgaben in der Entsorgungslogistik ist eine sys‐
tematische Berücksichtigung von Umweltaspekten bei allen betrieblichen Planun‐
gen und Entscheidungen erforderlich. Für eine umfassende Abstimmung der Zie‐
le und der damit verbundenen Maßnahmen müssen alle Aktivitäten in ein be‐
triebliches Umweltmanagement eingebunden werden. Viele Entsorgungsunter‐
nehmen betreiben jedoch kein systematisches Umweltmanagement, sondern
beschränken ihre umweltgerichteten Maßnahmen in der Entsorgung vor allem auf
die gesetzlichen Mindestforderungen und gehen bisher selten darüber hinaus696.
Da vor allem wirtschaftliche Überlegungen das Umweltengagement prägen, re‐
duziert sich der betriebliche Umweltschutz oftmals auf die Herstellung und Wah‐
rung der Entsorgungssicherheit bei allen entsorgungslogistischen Aufgaben. Da‐
mit werden jedoch mögliche Wettbewerbsvorteile, die sich aus Umweltschutz‐
maßnahmen ergeben, die über die gesetzlichen Mindestanforderungen
hinausgehen, vernachlässigt. Angesichts eines steigenden Umweltbewusstseins in
der Gesellschaft und einer sich daraus ergebenden zunehmenden Sensibilität be‐

694 Vgl. LEMKE (2004, S. 33).


695 Vgl. LEMKE (2004, S. 41).
696 Vgl. LEMKE (2004, S. 47).

478
6.6
Literaturhinweise

züglich einer umweltfreundlichen Abfallentsorgung kann eine umfassendere


Umweltorientierung langfristig ein Erfolgsfaktor für Entsorgungslogistiknetzwer‐
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6.6 Literaturhinweise
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After Sales und Reverse Logistics
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484
Stichwortverzeichnis

A ‐ Definitionen 214
‐ direktes 225
Abfallverbrennungsanlagen 472 ‐ Entwicklungsgeschichte 212
Abwicklungsqualität 186 ‐ Erfolgsfaktoren 252
Additive Fertigung 24, 437 ‐ externes 225
AEO 375 ‐ funktionales 225, 228
After‐Sales‐Logistik 389 ‐ generisches 225, 228
After Sales Management 384 ‐ Gründe 220
‐ Aufgabe 384 ‐ Implementierung 250
Agilität 333 ‐ indirektes 225
After Sales Service 384 ‐ Informationsquellen 237
‐ Leistungen 385 ‐ internes 225, 226
‐ Leistungsangebote 388 ‐ Konzept 211
‐ Leistungsebenen 388 ‐ Objekt 226, 230, 233
‐ Nutzenpotenziale 385 ‐ Partner 237
Assembly Postponement 257 ‐ Team 236
Auditierung 199 ‐ wettbewerbsorientiertes 225, 227
Aufarbeitung 459, 471 ‐ Zyklus 232
‐ Refurbishing 459 Beschaffungslogistik 14
‐ Remanufacturing 459 Bullwhip‐Effekt 92
‐ Reparatur 459 ‐ Quantifizierung 98
Aufbereitungslogistik 22, 470 ‐ Ursachen 94
Ausfallrate 399, 405
Ausfallwahrscheinlichkeit 399 C

B Code of Conduct 242


Collaborative Planning, Forecasting
Balanced Scorecard 154 and Replenishment 306
‐ Aufbau 154 ‐ Definition 306
‐ Implementierung 159 ‐ Geschäftsprozessmodell 307
‐ Managementkonzept 158 ‐ Nutzenpotenziale 312
‐ Perspektiven 155 ‐ Umsetzung 311
Baukastenprinzip 283 Containerversiegelung 368
Benchmarking 212 Corporate Social Responsibility 88
‐ Abgrenzung 216 CSI 374
‐ Aktionspläne 248 C‐TPAT 375

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 485
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1
Stichwortverzeichnis

D Ersatzteildistribution 439
Ersatzteile 411
‐ Austauschteil 412
Data Mining 126 ‐ Fremdersatzteil 412
Datensammlung 242 ‐ Originalersatzteil 412
Demand Network Management 66 Ersatzteillogistik 20, 411
Demontage 471 ‐ Besonderheiten 414
Deponie 472 ‐ Definition 412
Dezentralität 337 Ersatzteilversorgung 416
Differentialbauweise 283 ‐ Akteure 416
Digitalisierung 24, 338 ‐ Strategien 433
Distributionslogistik 18 Erstausrüstungsangebot 451
Durchlaufzeit‐Lücke 420

E F

E‐Commerce 25 Fehlermöglichkeits‐ und


Economic Value Added 48 Einflussanalyse 192
Efficient Administration 300 Fehlerrate 137
Efficient Assortment 303 Fertigungssegmentierung 286
Efficient Consumer Response 297 First Pass Yield 137
‐ Basisstrategien 300 Flexibilität 335
‐ Definition 297 Flussorientierung 33
‐ Voraussetzungen 299 Form Postponement 257
‐ Ziele 299 Fortschrittskontrolle 250
Efficient Logistics 302 Full Postponement 258
Efficient Product Introduction 304 Full Speculation 256
Efficient Promotion 303
Efficient Replenishment 302 G
Electronic Data Interchange 300
Entkopplungspunkt 258
Entscheidungsdezentralisierung 292 Ganzheitlichkeit 31
Entsorgungslogistik 13, 21, 461 Geographic Postponement 256
‐ Definition 461 Gleichteileverwendung 281
‐ Subsysteme 465 Globalisierung 23
Entsorgungsnetzwerk 473 Governance 76
‐ Potenziale 477 ‐ Digitalisierung 83
‐ Probleme 477 ‐ Supply Chain Governance 76
‐ Typen 474 ‐ Sustainability 88
Ergebnisqualität 185 Governance‐Mechanismen 78
Ersatzteilbedarf 418 ‐ Anwendung 81
‐ Einflussfaktoren 421 ‐ formelle 78
‐ Lebenszyklus 419 ‐ informelle 80

486
Stichwortverzeichnis

Governance‐Modi 77 K
Grenzverteilung 403

Kennzahlen 134
H ‐ Anforderungen 135
‐ Funktionen 134
House of Quality 188 Kennzahlensystem 153
Kleinteile 412
Kollaboration 336
I Komplexität 271
‐ Auswirkungen 274
Informationsbereitschaft 41 ‐ Definition 272
Input 112, 117 ‐ Dimensionen 272
Installed Base Data 452 ‐ Kosten 274
Instandhaltung 389, 390 ‐ Ursachen 273
‐ Integration mit der Komplexitätsbeherrschung 278
Ersatzteillogistik 445 Komplexitätsfalle 276
‐ Ziele 390 Komplexitätskosten 275
Instandhaltungskosten 391 ‐ einmalig 275
‐ direkt 391 ‐ fortlaufend 275
‐ indirekt 391 ‐ irreversible 275
Instandhaltungslogistik 409 Komplexitätsmanagement 278, 279
‐ Aufgaben 410 ‐ 4‐Phasen‐Modell 294
Instandhaltungsmanagement 390 ‐ ganzheitliches 280, 294
‐ Aufgaben 390 ‐ i. e. S. 280
Instandhaltungsmaßnahmen 390 Komplexitätsreduktion 278
‐ Inspektion 390 Komplexitätsstrategien 277, 278
‐ Instandsetzung 390 Komplexitätstreiber 273
‐ Verbesserung 390 ‐ extern 273
‐ Wartung 390 ‐ intern 273
Instandhaltungsplanung 399 Komplexitätsvermeidung 278
Instandhaltungsstrategie 392 Kundenbereinigung 285
‐ reaktiv 393 Kundenorientierung 35
‐ voraussagend 396
‐ zeitabhängig 394 L
‐ zustandsabhängig 394
Integralbauweise 283
ISO/PAS 372 Labeling Postponement 257
ISPS 373 Lagerung 469
Lean Management 337
Leistungslücke 244
‐ Ursachen 246
Leistungsniveau 246

487
Stichwortverzeichnis

Lenkung 120 ‐ Herausforderungen 90


Lernprozess 338 Nachserienfertigung 435
Lieferflexibilität 42
Lieferqualität 42
Lieferzeit 42
O
Lieferzuverlässigkeit 42
Logistik 4 Order Penetration Point 258
‐ Definition 4 Organisation der Logistik 50
‐ Definitionsansätze 1 ‐ funktional 51
‐ Entwicklungsphasen 5 ‐ Innenstruktur 55
‐ Erfolgsfaktor 46 ‐ Matrix‐Organisation 54
Logistik‐Benchmarking 222 ‐ objektorientiert 53
‐ Definition 222 Organisationskultur 336
‐ Ziele 222 Output 112, 117
Logistikkosten 43 Outsourcing 438
Logistikleistung 41
Logistikmanagement 29
Logistikobjekte 38
P
Logistikprozesse 38
Logistikqualität 184 Packaging Postponement 257
Logistiksysteme 11 Paketbildung 284
‐ Abgrenzung 12 Plattformkonzept 281
‐ mikrologistische 13 Poka Yoke 196
Logistikziele 40 Pooling‐Strategien 439
‐ Zielkonflikte 44 ‐ horizontales Pooling 442
‐ laterales Pooling 443, 447
‐ vertikales Pooling 441
M Postponement‐Konzept 254
Postponement‐Strategie 255, 291
Manufacturing Postponement 258 ‐ Risiken 262
Markovkette 401 ‐ Vorteile 262
‐ ergodisch 403 Potenzialfaktor 117
‐ homogen 401 ‐ logistischer 117
Marktorientierung 34 Potenzialqualität 187
Mass Customization 262 Process Mining 125
Megatrends 23 ‐ Aufgabengebiete 129
Modularisierung 282 ‐ Datenbeschaffung 127
‐ Ereignislog 127
‐ Erfolgsfaktoren 131
N ‐ Perspektiven 130
Produktionslogistik 16
Nachhaltigkeit 25, 88 Produktstandardisierung 280
Nachhaltigkeitsstandards 89 Produktverantwortung 464

488
Stichwortverzeichnis

Prognoseverfahren 421 Qualitätsmanagement 182


‐ von Croston 426 Qualitätsplanung 182
‐ von Levén/Segerstedt 428 Qualitätsregelkarten 201
‐ von Syntetos 428 Qualitätsverbesserung 183
‐ von Syntetos/Boylan 427 Quality Function Deployment 187
‐ von Teunter/Duncan 429 Quick Response 297
Prozess 110
‐ Definition 110
‐ Geschäftsprozess 110
R
Prozesserneuerung 178
Prozessflexibilität 137 Recycling 459
Prozesshierarchie 113 ‐ Material 470
Prozesskettenelement 116 ‐ Produkt 470
‐ selbstähnlich 116, 118 Redistributionslogistik 22, 466
Prozesskettenmanagement 178 Redundanz 335
Prozesskosten 138 Referenzmodell 164
Prozesskostenrechnung 138 ‐ Anforderungen 164
‐ Ablauf 140 Regelkreis 267
‐ Ziele 139 ‐ selbststeuernd 267
Prozesslandkarte 121 Rekalibrierung 251
Prozessleistung 134 Reparatur 438
Prozessmerkmal 111 Reserveteile 412
‐ klassifizierend 113 Resilienz 331
‐ konstitutiv 111 ‐ Erfolgsfaktoren 332
Prozessmodell 116 ‐ Supply‐Chain‐Resilienz 331
Prozessmodellierung 116 Reverse Logistics 458
‐ Definition 116 ‐ Definition 458
Prozessmodularisierung 286 ‐ Motive 463
Prozessqualität 136 ‐ ökologisch 463
Prozessstandardisierung 285 ‐ ökonomisch 463
Prozessstruktur 116 ‐ rechtlich 464
Prozessverbesserung 178 ‐ Subsysteme 465
Prozesszeit 135 Reverse Supply Chain 458
Pull‐Prinzip 258, 259, 298 RFID 368
Push‐Prinzip 258, 259, 298 Risiko 322
‐ Definition 322
‐ Disruption Risiken 327
Q ‐ Klassifikation 323
‐ Supply‐Chain‐Risiken 326
Qualität 182 Risikobewertung 351
Qualitätskontrolle 183 ‐ Methoden 356
Qualitätskosten 136, 183 Risikodokumentation 364
Qualitätslenkung 183 Risikohandbuch 342

489
Stichwortverzeichnis

Risikoidentifikation 344 ‐ Single 289


‐ Instrumente 344 Speculation‐Strategie 255
Risikoinventar 350 Statistische Prozessregelung 201
Risikokommunikation 364 Supply Chain 58, 64, 458
Risikokontrolle 363 ‐ Ausführung 74
Risikomanagement 324 ‐ closed 458
‐ Supply‐Chain‐ ‐ forward 458
Risikomanagement 324 ‐ Gestaltung 71
Risikomanagementprozess 339 ‐ open 458
Risikominderung 361 ‐ Planning 72
Risikosteuerung 358 ‐ reverse 458
Risikostrategie 341 Supply Chain Event Management 75,
Risikostreuung 361 371
Risikoübernahme 362 Supply Chain Management 65
Risikoübertragung 362 ‐ Aufgaben 66
Risikovermeidung 360 ‐ Aufgabenmodell 70
Robustheit 334 ‐ Definition 66
Rückstände 459 ‐ Kernelemente 65
Rückwärtsflüsse 460 ‐ Probleme 69
‐ Arten 460 ‐ Umsetzung 67
‐ Ziele 67
Supply Chain Reference‐Modell 164
S ‐ Anwendung 173
‐ Aufbau 165
SAFE 372 ‐ Ebenen 166
Sammlung 466 ‐ Kennzahlensystem 172
‐ gemischt 468 Supply Chain Safety 365
‐ nicht‐synchron 467 Supply Chain Security 365
‐ sortenrein 468 Supply Risk Management 370
‐ synchron 466
Segmentierung indirekter Bereiche 288
selbststeuernde Regelkreise 288
T
Serienabschlusslos 436
Servitization 26 Target Costing 144
Sicherheitsmanagement 369 ‐ Ablauf 145
Sicherheitsregime 372 ‐ Ziele 145
Sicherheitstechnologie 367 Terrorismus 365
Sortierung 468 Transformation 118
Sortimentsbereinigung 284 Transitionsgraph 401
Sourcing Strategien 289 Transport 470
‐ Global 290
‐ Local 290
‐ Modular 290

490
Stichwortverzeichnis

U ‐ biologisch 471
‐ chemisch 459
‐ chemisch‐physikalisch 471
Übergangsmatrix 401 ‐ thermisch 459, 471
Übergangswahrscheinlichkeit 401 ‐ Weiterverwertung 459
Überlebenswahrscheinlichkeit 399 ‐ werkstofflich 459
Umschlag 470 ‐ Wiederverwertung 459
Unternehmenskomplexität 273
‐ autonom 273
‐ korreliert 273 W
Unternehmenslogistik 13
Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen 154 Wertschöpfung 114
Wertschöpfungsnetzwerk 57
V ‐ Merkmale 58
‐ Typologie 60
Wettbewerbsorientierung 36
Variantenentstehungspunkt 291 Wiedereinsatzlogistik 22, 472
Variantenmanagement 279 Wiederverwendung 439
Vendor Managed Inventory 303
Verpackung 469
Verschleißteile 411 Z
Versorgungslogistik 13
Versorgungsstrategien 435 Zeitorientierung 37
Vertrag 449 Zielkostenindex 146
‐ leistungsbasiert 450 Zustandsverteilung 401
‐ materialbasiert 450 ‐ stationär 403
Verwendung 459 Zuverlässigkeitsfunktion 399
‐ Weiterverwendung 459 Z‐Diagramm 247
‐ Wiederverwendung 459
Verwertung 459

491

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