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Strategisches
und operatives
Logistikmanagement:
Prozesse
4. Auflage
Strategisches und operatives
Logistikmanagement: Prozesse
Rainer Lasch
Springer Gabler
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2014, 2018, 2021, 2023
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Vorwort zur 4. Auflage
Das vorliegende Lehrbuch hat erfreulicherweise bei Lehrenden und Lernenden eine
sehr gute Aufnahme gefunden. Das vielseitige, sehr positive Feedback und die große
Akzeptanz haben mich veranlasst, die vierte Auflage des Buches „Strategisches und
operatives Logistikmanagement: Prozesse“ in einer erweiterten und überarbeiteten
Form vorzulegen. Dazu wurde Kapitel 2 um die wichtigen Unterkapitel Supply Chain
Governance sowie Sustainability Governance ergänzt. Supply Chain Governance be‐
fasst sich mit den evolutionären Aspekten der Lieferkette und mit der Kontrolle der
Handlungen aller Partner. Innerhalb der Supply Chain Governance werden formelle
und informelle Governance‐Mechanismen zur aktiven Beeinflussung des Verhaltens
der Partner verwendet. Mit der Sustainability Governance wird ein Regelwerk für die
Koordinierung und Gestaltung sowohl der internen als auch externen Unternehmens‐
beziehungen zur Verfügung gestellt, um die ökologischen, ökonomischen und sozia‐
len Nachhaltigkeitsziele umzusetzen. Bei der Erstellung der vierten Auflage wurde
auch die Möglichkeit genutzt, kleinere Fehler zu beseitigen.
Ein herzlicher Dank im Rahmen der Überarbeitung und Erweiterung gilt meinem
Mitarbeiter, Herrn Jakob Keller. Insbesondere bedanke ich mich bei Frau Susanne
Kramer und dem Springer Gabler Verlag für die stets reibungslose und gute Zusam‐
menarbeit.
V
Vorwort zur 1. Auflage
Das vorliegende Lehrbuch widmet sich dem strategischen und operativen Logistik‐
management als Führungsfunktion, wobei der Fokus auf eine ganzheitliche Betrach‐
tung und Optimierung logistischer Prozesse gelegt wird. Im Vordergrund stehen ins‐
besondere Logistikstrategien, eine moderne Logistikkonzeption, das Management
logistischer Prozessketten, Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer
Prozesse, Strategien und Konzepte für die Instandhaltungs‐ und Ersatzteillogistik
sowie Aspekte der Entsorgungslogistik. Die Ausführungen werden durch zahlreiche
Beispiele, Tabellen und Abbildungen verdeutlicht. Die behandelten Konzepte und
Methoden erheben nicht den Anspruch, die aktuellsten Forschungsergebnisse zu prä‐
sentieren, sondern sollen dem Leser praxistaugliche Konzepte und Methoden zur
Lösung der vorgestellten Probleme im Bereich des strategischen und operativen Lo‐
gistikmanagements aufzeigen.
VII
Vorwort zur 1. Auflage
Ein herzlicher Dank für die Gestaltung des vorliegenden Buches geht an Frau Tamara
Mittelbach, Frau Dr. Sophia Keil, Herrn Dr. Roy Fritzsche und Frau M.Sc. Marie Derno
sowie dem studentischen Tutor Herrn Philipp Schurig. Danken möchte ich ebenso
Frau Susanne Kramer und dem Verlag Springer Gabler für die wiederum sehr gute
und verständnisvolle Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt meiner Ehefrau
Birgit, die auch dieses Buch mit großem Interesse stets motivierend und verständnis‐
voll unterstützt hat.
VIII
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ..................................................................................................................................... V
Abbildungsverzeichnis .........................................................................................................XV
2 Logistikkonzeption ....................................................................................................... 29
IX
Inhaltsverzeichnis
X
Inhaltsverzeichnis
XI
Inhaltsverzeichnis
5.5.1 Auswirkungen des Terrorismus auf globale Supply Chains ........... 365
5.5.2 Maßnahmen zur Stärkung der Supply Chain Security .................... 367
6.1 After Sales Management und After Sales Services ........................................ 384
XII
Inhaltsverzeichnis
XIII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 3‐4 Vergleichende Darstellung zwischen EPK, VKN und VPN .............. 122
XV
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 4‐8 Mögliche Entkopplungspunkte (OPP) in der logistischen Kette ...... 259
XVI
Abbildungsverzeichnis
XVII
Abbildungsverzeichnis
XVIII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 6‐3 Prognose mit dem Verfahren von CROSTON und dessen
Modifikationen .............................................................................................. 431
XIX
Tabellenverzeichnis
XX
Abkürzungsverzeichnis
AL Auslieferungslager
bzgl. bezüglich
bzw. beziehungsweise
ca. circa
CR Croston
d. h. das heißt
XXI
Abkürzungsverzeichnis
etc. et cetera
evtl. eventuell
ggf. gegebenenfalls
i. A. im Allgemeinen
i. d. R. in der Regel
IS Informationssysteme
IT Informationstechnologie
i. w. S. im weiteren Sinn
KrWG Kreislaufwirtschaftsgesetz
LEOS Low‐Earth‐Orbiting‐Satellite‐System
LS Levén/Segerstedt
XXII
Abkürzungsverzeichnis
PM Process Mining
RL Regionallager
SB Syntetos/Boylan
SC Supply Chain
SCR Supply‐Chain‐Resilienz
SY Syntetos
u. a. unter anderem
u. U. unter Umständen
VKN Vorgangsknotennetz
XXIII
Abkürzungsverzeichnis
VPN Vorgangspfeilnetz
z. B. zum Beispiel
ZE Zeiteinheiten
ZL Zentrallager
XXIV
Symbolverzeichnis
0,1 Glättungsparameter
E Einheitsmatrix
et yt yˆ t Prognosefehler in Periode t
f t Dichtefunktion
F (t ) Verteilungsfunktion
LD Lebensdauer
IN Menge der natürlichen Zahlen
P ( pij ) n ,n Übergangsmatrix
pij Zeitunabhängige Übergangswahrscheinlichkeit
p(t )T Zustandverteilung
Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden Perioden mit
pt
positivem Bedarf
Prognostizierte Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden
p̂t
Perioden mit positivem Bedarf
q (t ) Ausfallrate
R(t ) Zuverlässigkeitsfunktion
t Zeitpunkt
yt Beobachteter Bedarf in Periode t
ŷt Prognostizierter Bedarf in Periode t
Prognostizierte Höhe des in Periode t auftretenden positiven
ẑ t
Bedarfs
XXV
1 Grundlagen der Logistik
Die Logistik stellt einen der wichtigsten Erfolgsfaktoren heutiger Unternehmen dar, da
eine exzellente Logistik neben der Reduzierung der Kosten und der Realisierung von
Zeitvorteilen wesentlich die Kundenzufriedenheit und damit die Erlösseite der Unter‐
nehmen verbessert. Eine umfassende Entfaltung logistischer Erfolgspotenziale in der
Unternehmens‐ und Netzwerkpraxis setzt u. a. eine exzellente Logistik‐ und Manage‐
mentkompetenz in den phasenspezifischen Subsystemen der Logistik voraus. In die‐
sem einführenden Kapitel erfolgen zunächst eine Begriffsbestimmung sowie eine
Darstellung der Entwicklungsphasen der Logistik. Anschließend werden verschiedene
operative und strategische Aufgaben der Subsysteme der Ver‐ und Entsorgungs‐
logistik vorgestellt.
Lernziele:
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 1
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_1
Grundlagen der Logistik
1
In den fünfziger Jahren wurden in den USA die aus dem militärischen Bereich gewon‐
nenen logistischen Erkenntnisse auf den wirtschaftlichen Bereich übertragen. Mit dem
Begriff der Unternehmenslogistik („business logistics“) wurden sämtliche Transport‐,
Lager‐ und Umschlagvorgänge von Gütern in und zwischen Unternehmen bezeichnet.
Der entscheidende Impuls für die Übertragung der Militärlogistik auf Industrieunter‐
nehmen wird allgemein in dem von MORGENSTERN veröffentlichten Beitrag in der
Zeitschrift „Naval Research Logistics Quarterly“ gesehen3. Diese Publikation stellt den
ersten fundierten Beitrag zur Formulierung einer Theorie der Logistik dar. Im
deutschsprachigen Raum fand der Begriff Logistik erst Anfang der siebziger Jahre
Eingang in die Betriebswirtschaftslehre. Das erste umfassende, in deutscher Sprache
geschriebene Lehrbuch über die betriebswirtschaftliche Logistik wurde im Jahre 1973
von KIRSCH veröffentlicht4.
2
1.1
Definitionsansätze der Logistik
Eine sehr pragmatische Charakterisierung der Logistik, die Anforderungen bzw. Ziele
von Integrations‐ und Koordinationsaktivitäten im Wirtschaftsprozess in den Mittel‐
punkt stellt, kann anhand der sieben „r“ vorgenommen werden. Die Logistik hat dafür
Sorge zur tragen, dass die richtigen Objekte, in der richtigen Menge, zur richtigen Zeit,
am richtigen Ort, in der richtigen Qualität, zu den richtigen Kosten und mit den rich‐
ten Informationen verfügbar sind. Diese Aufgabenbeschreibung der Logistik betont
vor allem die operativen Leistungen der Logistik wie Transport, Lagerung und Um‐
schlagvorgänge, aber auch Zusatzleistungen wie Kommissionierung, Verpackung
sowie die logistischen Informationsleistungen.
Die in der Literatur verwendeten Logistikbegriffe deuten auf ein differenziertes Ver‐
ständnis über deren Aufgaben und Inhalte hin. In der Literatur besteht Einigkeit dar‐
über, dass als zentraler Begriffsinhalt der Logistik die zielgerichtete Überbrückung von
räumlichen und zeitlichen Disparitäten anzusehen ist. Diese Abgrenzung ist allerdings
ohne eine weitere Konkretisierung inhaltsleer und deckt auch nicht das gesamte Auf‐
gabenspektrum der Logistik ab.
Aufgrund der Tatsache, dass der Begriff Logistik zunächst in der Unternehmenspraxis
Einzug hielt, basieren die wissenschaftstheoretischen Erklärungen zur Logistik zu‐
meist auf einem Bottom‐up‐Ansatz, d. h. der Ausgangspunkt ist in konkreten Proble‐
men der objektiven Realität zu sehen. Die wissenschaftliche Meinung über das Er‐
kenntnisobjekt Logistik lässt sich in zwei Gruppen trennen, wobei stellvertretend für
die erste Gruppe die oben genannte Logistikdefinition von PFOHL und für die zweite
Gruppe die ebenfalls angesprochene Definition von KLAUS herangezogen werden
können11. Die erste Gruppe vertritt das klassische Logistikverständnis, wonach sich
die logistischen Aktivitäten auf das Transportieren, Umschlagen und Lagern be‐
schränken. Hinsichtlich der logistischen Zielsetzung richtet sich der Fokus dieser
Gruppe auf die effiziente Gestaltung dieser operativen Tätigkeiten, wobei die logisti‐
schen Führungsaufgaben auf die Planung, Durchführung, Steuerung und die Kontrol‐
le der Material‐ und Warenflüsse reduziert werden. Im Gegensatz dazu versteht die
zweite Gruppe unter Logistik eine Managementphilosophie mit „Fließsystemcharak‐
ter“, d. h. gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge werden in operative und strategi‐
sche Führungsentscheidungen integriert. Bezüglich der Gestaltung von flussorientier‐
ten Logistiksystemen werden, zusätzlich zu den Managementfunktionen der ersten
Gruppe, die Personalführung, die Organisationsentwicklung sowie die Informations‐
versorgung berücksichtigt.
3
Grundlagen der Logistik
1
Neben den Bottom‐up‐Ansätzen werden in der Literatur auch Top‐down‐Erklärungs‐
ansätze diskutiert12. Zusammenfassend verstehen die Top‐down‐Ansätze unter Logis‐
tik eine spezielle Führungskonzeption, wobei sich der Gegenstandsbereich auf die
Durchsetzung des Flussprinzips im Ausführungssystem des Unternehmens begrenzt
und die ausführenden Transferaktivitäten ausgeklammert werden.
Anhand dieser kurzen Darstellung der Verwendungsvielfalt des Begriffs Logistik kann
die bestehende Definitionsproblematik folgendermaßen zusammengefasst werden:
c) In einigen Definitionen ist die Begriffsfassung der Logistik durch die Breite der
auszuübenden Koordinationsfunktion sicherlich zu weit gefasst. Der daraus resul‐
tierende Anspruch der Logistik kommt dem der gesamten Unternehmensführung
gleich und widerspricht den Intentionen einer auf Erkenntnisfortschritt ausgerich‐
teten theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit dem Logistikbegriff.
Im Folgenden wird auf der Basis einer Synthese der Bottom‐up‐ und Top‐down‐
Ansätze, unter Logistik eine spezielle Führungskonzeption zur nachhaltigen Planung,
Steuerung, Koordination, Abwicklung und Kontrolle aller vorwärts‐ und rückwärtsge‐
richteten Material‐, Waren‐ und Informationsflüsse von den Lieferanten (bzw. Kun‐
den) in das Unternehmen, durch das Unternehmen sowie zu den Kunden (bzw. Liefe‐
ranten) verstanden. Mit dieser Definition soll für die Logistik weder eine Eingrenzung
auf Flüsse im Ausführungssystem, noch auf spezielle Führungsebenen vorgenommen
werden.
12 Als typische Vertreter der Top‐down‐Ansätze sieht GÖPFERT (2005, S. 12ff) die Autoren DIE‐
DERICH (1986), IHDE (1987) und WEBER (1994).
4
1.2
Entwicklungsphasen der Logistik in der Unternehmenspraxis
In ihrer ersten Entwicklungsphase wird die Logistik durch die Etablierung der Marke‐
tingperspektive beeinflusst, die zu einer Verbreiterung des Produktangebots, einer
Ausdehnung von nationalen und internationalen Märkten sowie einer Zunahme des
Wettbewerbsdrucks führt. Die steigende Anzahl der Basisprodukte und der Varianten
hat eine größere Teilevielfalt an Roh‐, Hilfs‐, Betriebsstoffen, komplexere Produkt‐
programme, kleinere Sendungsvolumina und höhere Lager‐ und Transportkosten zur
Folge14. Als Konsequenzen aus der Zunahme der Produktvielfalt resultieren
Herausforderungen in der Beschaffung, Produktion und Distribution. Lager‐, Trans‐
port‐ und Umschlagfunktionen gewinnen an Bedeutung, sie weisen jedoch aufgrund
der organisatorischen Zersplitterung der material‐ und warenbezogenen Dienst‐
leistungen einen deutlichen Rückstand bezüglich des Ausschöpfens etwaiger Speziali‐
sierungsvorteile auf.
5
Grundlagen der Logistik
1
In der ersten Entwicklungsstufe etabliert sich die Logistik als funktionale Speziali‐
sierung von Transport‐, Umschlag‐ und Lagerprozessen. Die Optimierung material‐
und warenflussbezogener Dienstleistungen wurde jeweils innerhalb der einzelnen
Funktionsbereiche, z. B. der Beschaffung, der Produktion oder dem Vertrieb, durchge‐
führt. Die Sichtweise der funktionsbezogenen Spezialisierung wird als Ursprung der
Logistik bezeichnet und ist auch noch heute weit verbreitet15. Damit sollen Speziali‐
sierungsvorteile zum einen durch das Zusammenfassen verschiedener material‐ und
warenflussbezogener Dienstleistungen und zum anderen in der Realisierung von
Erfahrungskurveneffekten innerhalb einzelner Dienstleistungsarten erzielt werden.
Durch die funktionsorientierte Sichtweise der Logistik wird den ineffizienten Schnitt‐
stellen zwischen verschiedenen Funktionsbereichen nur eine geringe Beachtung ge‐
schenkt. Folgen dieser Effizienz mindernden organisatorischen Zersplitterung der
Leistungsbereiche sind zum Teil redundante Arbeitsstrukturen, unwirtschaftliche Teil‐
prozesse, hohe Lagerbestände, verteilte Sicherheitsbestände und lange Auftragsbear‐
beitungszeiten. Diese Schnittstellen führen zu Effizienzverlusten gegenüber der bei
einer Gesamtplanung potenziell erzielbaren Gesamtlösung.
Wesentliche Grundlage für die weitere Verbreitung der Logistik bilden das Verständ‐
nis für ein Gesamtkostendenken sowie die Adaption und die Anwendung der Er‐
kenntnisse aus der allgemeinen Systemtheorie. Das Gesamtkostenkonzept besagt, dass
bei der Beurteilung logistischer Entscheidungen und Systeme die gesamten mit der
betrieblichen Leistungserstellung verbundenen logistischen Kostenkategorien sowie
deren mittelbare und unmittelbare Trade‐offs zu den Kosten anderer Funktions‐
bereiche zu berücksichtigen sind. Als weitere unterstützende Elemente für die Logistik
können aufgrund des Wandels vom Verkäufer‐ zum Käufermarkt die gestiegene
Sensibilität für den Kundenservice und die bewusste Auswahl der Distributionskanäle
angeführt werden. Aus dem Zusammenspiel der genannten Faktoren heraus entsteht
ein Logistikansatz, dessen Schwerpunkt zunächst in der Distribution liegt. Eine
Ausnahme bildet lediglich die Automobilindustrie, in der sich die Anfänge der
Logistik aufgrund der spiegelbildlichen physischen Güterflusskomplexität im Be‐
schaffungsbereich finden.
In der ersten Entwicklungsphase der Logistik in Deutschland Anfang der 70er Jahre
nutzten deutsche Unternehmen die Logistik als einen Ansatz zur Kostenreduzierung
durch Spezialisierung bei der Erbringung von material‐ und warenflussbezogenen
6
1.2
Entwicklungsphasen der Logistik in der Unternehmenspraxis
Für die zweite Entwicklungsphase der Logistik sind zunächst weitere bedeutsame
Kontextveränderungen festzustellen. Die gesamtwirtschaftliche Situation ist zu Beginn
der siebziger Jahre durch die Ölkrise und die damit einhergehenden inflationären
Tendenzen bei gleichzeitiger Stagnation (Stagflation) gekennzeichnet, durch welche
die Perspektive von der Absatz‐ auf die Beschaffungsseite der Unternehmen ver‐
schoben wird. Ein wachsendes Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge sowie
die daraus resultierenden strengeren gesetzlichen Vorschriften führen zu Entwick‐
lungen in der Entsorgungslogistik. Neben diesen sozio‐ökonomischen Veränderungen
heben vor allem die technologischen Entwicklungen den Stellenwert der Logistik.
Wesentlich sind die Entwicklungen, die durch die Verbesserung der Computertechnik
und Automatisierung induziert werden. Insbesondere die informationelle Vernetzung
von Beschaffung, Produktion und Absatz sowie der Zugriff auf eine aktuelle, inte‐
grierte Datenbasis eröffnen Optionen, die das Aufgabenspektrum und die Möglich‐
keiten der Logistik vorantreiben16. Das Ziel der Integration von computerunter‐
stützten Technologien und Produktionsplanungs‐ und ‐steuerungssystemen ist eine
flexible Automatisierung der Produktion. Anstelle der „Economies of Scale“, die durch
eine homogene Massenfertigung und starre Automatisierung gekennzeichnet ist,
treten „Economies of Scope“, die den Konflikt zwischen Kosten und Flexibilität
überwinden, indem sie eine wirtschaftliche Automatisierung bei Mehrprodukt‐
Produktion mit kleinen Losgrößen ermöglichen.
7
Grundlagen der Logistik
1
und betrachtet sie insgesamt. Einheitliche Materialträger, Verpackungs‐ und Identi‐
fikationssysteme, vernetzte Betriebsdatenerfassungssysteme, Software und Datenba‐
sen für integrierte Materialwirtschafts‐, Produktions‐ und Distributionsplanungen
ermöglichen ein durchgängiges Bestands‐, Kapazitäten‐ und Terminmanagement im
Unternehmen. Der Koordinationsgedanke der Logistik breitet sich auch über die Un‐
ternehmensgrenzen hinweg aus. Im Rahmen eng gekoppelter Just‐in‐time Koopera‐
tionen zwischen industriellen Zuliefer‐ und Montagebetrieben werden physische und
datentechnische Integrationsmaßnahmen auch zwischen einzelnen Unternehmen er‐
möglicht. Ressourcen werden erst dann bereitgestellt, wenn sie benötigt werden, so‐
dass die Logistik eine Beeinflussung des Bedarfs an material‐ und warenflussbezo‐
genen Leistungen vornimmt. In der Wissenschaft und Praxis avanciert die Logistik
endgültig zu einer auch marktübergreifenden Querschnittsfunktion und rückt gleich‐
zeitig in der Unternehmenshierarchie auf. Neben einer angestrebten Kostenführer‐
schaft durch Kostensenkung in der gesamten logistischen Kette wird auch eine
Differenzierung durch erhöhten logistischen Leistungsgrad bei Produkten und
Zusatzleistungen angestrebt. Neben den bisher verwendeten Kostengrößen und deren
Interdependenzen werden Leistungsgrößen spezifiziert, die über die Güte der Logistik
Auskunft geben sollen. Für den Distributionsbereich können insbesondere die Liefer‐
zeit, Lieferzuverlässigkeit, Lieferverfügbarkeit, Lieferbeschaffenheit sowie die Liefer‐
flexibilität als beschreibende Indikatoren für den Lieferservice angeführt werden.
Zunächst steigt in den neunziger Jahren die Wettbewerbsintensität weiter an, die sich
in weltweiten Überkapazitäten, einer schnelleren internationalen Angleichung von
Produktqualitäten, verkürzten Innovationszyklen, einer hohen Markttransparenz und
in einer steigenden Individualisierung der Kundenwünsche äußert17. Des Weiteren
kann durch eine zunehmende Know‐how‐Konzentration eine Verringerung der Ferti‐
gungstiefe sowie eine Konzentration auf strategische Kernkompetenzen festgestellt
werden. Die Verringerung der Fertigungstiefe erhöht jedoch die Logistikkomplexität,
da ein, gemessen an der Gesamtleistung der Unternehmung, wachsender Anteil an
Zukäufen notwendig wird.
8
1.2
Entwicklungsphasen der Logistik in der Unternehmenspraxis
Die Durchsetzung des Flussprinzips wird die zentrale Aufgabe für die Logistik und
der Schlüssel für erfolgreiche Unternehmen. Der Fokussierungswandel von einer
Struktur‐ zu einer Prozessorientierung geht mit einer Respezialisierung einher, die
durch das gestiegene material‐ und warenflussbezogene Know‐how ermöglicht wird.
Die Informations‐ und Kommunikationstechnik entwickelt sich zu einem wesentlichen
Treiber der Logistik. Ganzheitliches Denken und Handeln ermöglichen die Reali‐
sierung von teilsystemübergreifenden Optimierungspotenzialen. Die Logistik wird als
querschnittsorientierte Grundhaltung zur zeiteffizienten, kunden‐ und prozessorien‐
tierten Gestaltung von Wertschöpfungsaktivitäten aufgefasst. Dieses Logistikverständ‐
nis impliziert ein logistisches Denken und Handeln in sämtlichen Unternehmensein‐
heiten und Hierarchiestufen. In ihrer dritten Entwicklungsphase wandelt sich die
Logistik von einer Dienstleistungsfunktion zu einer strategischen Führungsfunktion,
die das Ziel verfolgt, das Leistungssystem der Unternehmung flussorientiert auszuge‐
stalten18.
Parallel zur Verringerung der Wertschöpfungstiefe kann eine Tendenz zur Globali‐
sierung von Unternehmensaktivitäten festgestellt werden. Neben dem Ausnutzen von
regionalen Kosten‐ und Infrastrukturvorteilen werden durch die zunehmende Globa‐
lisierung eine weltweite Marktversorgung und Wettbewerbspräsenz gewährleistet.
Zur Umsetzung der Globalisierung ist eine leistungsfähige Logistik erforderlich, da
nicht nur die beschaffungsseitigen Versorgungswege länger, sondern auch die Infor‐
mationsflüsse zwischen allen Beteiligten komplexer werden. Der hohe Wettbewerbs‐
druck fordert weitere Effizienz‐ und Effektivitätsgewinne, die eine engere Zusammen‐
arbeit der Unternehmen innerhalb einer Wertschöpfungskette erfordern. In der dritten
Entwicklungsphase der Logistik erfolgte zunächst die Optimierung von Prozessketten
häufig nur für ein einzelnes Unternehmen. Als Folge entstanden Probleme und
Ineffizienzen für andere Akteure in der Wertschöpfungskette, die zu Leistungsein‐
bußen und zusätzlichen Kosten für das gesamte System führten. Die ganzheitliche Be‐
trachtung und Verbesserung dieser suboptimalen Einzellösungen integriert die Funk‐
tionen zu Prozessketten und die Unternehmen zu Wertschöpfungsketten.
Die vierte und derzeit höchste Entwicklungsstufe der Logistik unterscheidet sich von
ihrer Vorstufe durch die unternehmensübergreifende Durchsetzung der Flussorien‐
tierung und wird auch als Supply Chain Management (SCM) bezeichnet. SCM ist die
9
Grundlagen der Logistik
1
Koordination einer strategischen und langfristigen Zusammenarbeit von Partnern im
gesamten Logistiknetzwerk zur Entwicklung und Produktion von Produkten und
Dienstleistungen. Die Zusammenarbeit bezieht sich sowohl auf die Produktion und
Beschaffung, aber auch auf die Produkt‐ und Prozessinnovation, wobei jeder Partner
auf seinen Kernkompetenzen tätig ist19. Führende Unternehmen erweitern ihren Blick
über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus und kooperieren mit ihren
Wertschöpfungspartnern mit dem Ziel, die gesamte Wertschöpfungskette vom Zulie‐
ferer bis zum Endkunden zu optimieren.
Mit dem Konzept des Supply Chain Managements wurden das Prozessdenken und
die konsequente Kundenorientierung zum neuen Paradigma. Das Prozessketten‐
management kommt über die gesamte Wertschöpfungskette zur Anwendung, wobei
der Kunde im Mittelpunkt steht. Durch frühzeitige gegenseitige Informationen in der
unternehmensübergreifenden Wertschöpfungskette wird eine schnelle und durch‐
gängige Reaktion auf Kundenwünsche und eine enge und abgestimmte Planung
ermöglicht, die zu Vorteilen gegenüber unkoordinierten Wettbewerbern führen.
Neben der Informationstransparenz wird auch die Kompatibilität von Steuerungs‐
systemen und ‐strukturen in der Wertschöpfungskette angestrebt.
10
1.3
Logistiksysteme
1970
Logistik als material‐ und warenflussbezogene Dienstleistung
Phase 1
Transport Transport
Beschaffung Umschlag Produktion Umschlag Distribution
Lagerung Lagerung
Funktionale Spezialisierung
1980
Logistik als Koordinationsfunktion
Kunde
Phase 2
Transport Transport
Beschaffung Umschlag Produktion Umschlag Distribution
Lagerung Lagerung
Funktionsübergreifende Logistikketten
1990
Logistik als Flussorientierung im Unternehmen
Lieferanten
Phase 3
Beschaffung Produktion Distribution
Kunde
Entsorgung
Management der Prozessorientierung im Unternehmen
2000
Logistik als unternehmensübergreifende Flussorientierung
Lieferanten
Phase 4
Rohstoff‐, Teile‐, Groß‐, Einzelhandel,
Endproduktehersteller Kunde
Komponentenlieferant Distributionszentrum
1.3 Logistiksysteme
Die Trennung von Güterbereitstellung und Güterverwendung hat vielfältige zeitliche
und räumliche Überbrückungsbedarfe zur Folge. Die Verknüpfung zwischen der
Güterbereitstellung und der ‐verwendung bildet die Güterverteilung, die sich durch
räumliche und zeitliche Transformationsprozesse vollzieht. Unter Logistiksystemen
werden spezielle Leistungssysteme zur raum‐zeitlichen Transformation von Logisti‐
kobjekten (Waren, Materialien, Informationen) verstanden. Im Hinblick auf die Unter‐
schiede in den Aufgaben, Zielen und Problemen, die sich bei der Gestaltung eines
Logistiksystems ergeben, ist eine Differenzierung verschiedener Logistiksysteme not‐
wendig21.
11
Grundlagen der Logistik
1
1.3.1 Abgrenzung von Logistiksystemen
In Abhängigkeit von der jeweiligen Betrachtungsebene lassen sich institutionell mak‐
ro‐, mikro‐ und metalogistische Systeme unterscheiden22.
Systeme der Meta‐Logistik werden auf einer Ebene zwischen der Mikro‐ und Makro‐
Logistik betrachtet. Metalogistische Systeme sind interorganisatorische Systeme, d. h.
sie gehen über die rechtlichen Grenzen von Einzelorganisationen hinaus und beinhal‐
ten eine Kooperation mehrerer Organisationen, die sich beispielsweise durch die Kon‐
zentration auf die Kernkompetenzen ergeben. Die Meta‐Logistik bezieht sich im We‐
sentlichen auf die Waren‐, Material‐ und Informationsströme in und zwischen den
Industrieunternehmen, Lieferanten und Kunden sowie zu Handels‐ und Dienstleis‐
tungsunternehmen. Beispiele für metalogistische Systeme sind Kooperationen unter
Unternehmen der verladenden Wirtschaft, Kooperationen zwischen Logistikunter‐
nehmen sowie Kooperationen zwischen Logistikunternehmen und der verladenden
Wirtschaft.
Durch die ganzheitliche Denkweise der Logistik erscheint eine Abgrenzung in Makro‐,
Meta‐ und Mikro‐Logistik fraglich. Gerade bei strategischen Kooperationen in der
Logistik werden die mikrologistischen Systeme der betroffenen Einzelwirtschaften
miteinander verschmolzen. Eine exakte Unterscheidung der einzelnen Mikro‐Logisti‐
ken, aber auch eine Trennung in Mikro‐ und Meta‐Logistik erscheint somit kaum reali‐
sierbar.
12
1.3
Logistiksysteme
den physischen Güterfluss von den Lieferanten bis zum Unternehmen, innerhalb
des Unternehmens und vom Unternehmen zum Kunden einschließlich der umge‐
kehrt verlaufenden Flüsse zur kreislauforientierten Rückführung von Konsumti‐
onsrückständen sowie den
Obwohl eine Abgrenzung dieser beiden Teilsysteme dem Gedanken der Querschnitts‐
funktion und funktionsübergreifenden Koordinationsfunktion widerspricht, hilft sie
jedoch bei einer thematischen Zuordnung von einzelnen Problemstellungen und Prob‐
lemlösungsansätzen zu Aufgabenfeldern im Rahmen der Unternehmenslogistik. Im
Rahmen der Aufgabenzuordnung muss berücksichtigt werden, dass es die richtige
Abgrenzung der Logistiksysteme nicht gibt. Aufgrund spezieller Konstellationen
können Zuordnungen, wie sie im Folgenden vorgenommen werden, nicht den Unter‐
nehmenszielen entsprechen.
Bei einer funktionsorientierten Betrachtung lässt sich die Versorgungslogistik, die für
die raum‐zeitliche Gütertransformation vom Beschaffungsmarkt zum Absatzmarkt
zuständig ist, in die logistischen Subsysteme Beschaffungs‐, Produktions‐, Distributi‐
ons‐ und Ersatzteillogistik unterteilen. Durch einen umweltschonenden Umgang mit
den zur Verfügung stehenden Ressourcen wird das Ziel verfolgt, die bei der Beschaf‐
fung, Produktion, Distribution und Ersatzteilversorgung entstehenden Rückstände im
Wirtschaftskreislauf zu berücksichtigen. Aufgabe der Entsorgungslogistik, die sich in
die Subsysteme Redistributions‐, Aufbereitungs‐ und Wiedereinsatzlogistik untertei‐
len lässt, ist die effektive und effiziente Gestaltung des logistischen Rückstandflusses
von den verschiedenen Rückstandsquellen. Falls ein Recycling unter Berücksichtigung
ökonomischer, ökologischer und technischer Faktoren umsetzbar ist, dann bilden die
Versorgungs‐ und Entsorgungslogistik im Idealfall einen geschlossenen Materialkreis‐
lauf25.
13
Grundlagen der Logistik
1
Abbildung 1‐2 Unternehmenslogistik
Unternehmenslogistik
Versorgungslogistik
Beschaffungs‐ Produktions‐ Distributions‐
logistik
Beschaffungslager logistik logistik
Zulieferungslager
Zwischenlager
Fertigwaren‐
Produktions‐
lager
prozesse
Retouren
logistik
Sekundärrohstoffe
Ersatzteillager
Kunden
Ersatzteillogistik
Recycling‐
Auslieferungs‐ prozesse Sammellager
lager Zwischenlager Inspektion
Entsorgungslogistik
Informationsfluss (auslösend)
Informationsfluss (begleitend)
Güter‐/Materialfluss
1.3.2.1 Beschaffungslogistik
Zur Beschaffungslogistik gehören die Planung, Steuerung, Koordination, Kontrolle
und physische Behandlung des Material‐ und Kaufteileflusses von den Lieferanten bis
zur Bereitstellung für die Produktion einschließlich des dazu erforderlichen Informa‐
tionsflusses zur zielgerechten Versorgung der Produktion. Der Zuständigkeitsbereich
der Beschaffungslogistik erstreckt sich vom Warenausgang der Lieferanten am Be‐
schaffungsmarkt bis zum Eingangslager oder aber auch bis zur Bereitstellung für die
Produktion des abnehmenden Unternehmens, wobei das richtige Material in der rich‐
tigen Qualität zur Aufrechterhaltung der Produktion zur richtigen Zeit, am richtigen
Ort und in der richtigen Menge bereitzustellen ist. Die Beschaffungslogistik bildet
somit die Schnittstelle zwischen den Beschaffungsmärkten und dem Unternehmen
und hat strategische und operative Aufgaben zu erfüllen.
Zum besseren Verständnis soll die Beschaffungslogistik zunächst von den Bereichen
Beschaffung und Einkauf abgegrenzt werden. Zur Beschaffung gehören im betriebs‐
wirtschaftlichen Sprachgebrauch alle Aktivitäten zur Versorgung des Unternehmens
mit Produktionsfaktoren. Die Beschaffung umfasst somit neben der Beschaffungs‐
logistik auch die Beschaffungsmarktforschung, das Beschaffungsmarketing und die
Beschaffungspolitik. Mit dem Begriff Einkauf werden in der Literatur die eher opera‐
14
1.3
Logistiksysteme
Ein wichtiges Entscheidungsfeld im Bereich Materialfluss ist die Festlegung der be‐
schaffungsseitigen Transport‐ und Lagerkonzepte. Hier werden insbesondere Ent‐
scheidungen bezüglich der Warenwege, der Verkehrsträger und Transporttechno‐
logien, der Lagerstrategie sowie der Eigenerstellung bzw. dem Fremdbezug logisti‐
scher Beschaffungsleistungen getroffen. Die Auswahl der Verkehrsträger und
Transporttechnologien erfolgt beispielsweise anhand der Kriterien Transport‐
geschwindigkeit, Umschlagerfordernisse, Transportmenge pro Zeiteinheit und Trans‐
portpreis. Die Lagerhaltungsstrategie (z. B. fallweise Beschaffung, Vorratsbeschaffung,
produktionssynchrone Beschaffung) und die Bestellstrategie (z. B. Bestellrhythmus‐,
Bestellpunktverfahren) sollte unter anderem in Abhängigkeit der Nachfragestruktur,
der Wiederbeschaffungszeit und unter Berücksichtigung der Lagerhaltungskosten
bestimmt werden29.
Die Gestaltung einer effizienten Beschaffungslogistik, die sich durch niedrige Durch‐
laufzeiten und hohe Flexibilität auszeichnet, erfordert neben der sinnvollen Gestaltung
15
Grundlagen der Logistik
1
des Materialflusses auch einen abgestimmten Informationsaustausch. Der Grad der
Synchronisation als Messgrößen der zeitlichen Abstimmung zwischen Information
und Material unterscheidet einen dem Güterfluss vorauseilenden, zeitgleichen oder
nacheilenden Informationsfluss. Informationsflussaktivitäten können grundsätzlich in
operativ‐verwaltende und strategisch‐gestaltende Aufgaben differenziert werden. Zu
den operativ‐verwaltenden Funktionen gehören alle Tätigkeiten, die der Aufrechter‐
haltung des Materialflusses zwischen Lieferant und Abnehmer dienen, z. B. die Auf‐
gaben der Bestellentscheidung und der Bestellüberwachung. Die Variation von Stell‐
größen, die eine strukturelle Veränderung innerhalb der materiellen und informatori‐
schen Verbindung zwischen Lieferant und Abnehmer zur Folge hat, ist Gegenstand
der strategisch gestaltenden Aufgaben.
1.3.2.2 Produktionslogistik
Im Fertigungs‐ bzw. Produktionsbereich werden die von den Beschaffungsmärkten
bezogenen materiellen Produktionsgüter (z. B. Rohstoffe, Halbfertigprodukte, Zukauf‐
teile) durch Herstell‐ und Montageprozesse zu Absatzprodukten umgewandelt. Ent‐
sprechend der Gliederung der Unternehmenslogistik nach den Phasen des Güterflus‐
ses ist die Produktionslogistik zwischen der Beschaffungs‐ und Distributionslogistik
angeordnet. Die Schnittstelle zur Beschaffungslogistik wird durch die Warenannahme
mit oder ohne Eingangslager bzw. durch die Bereitstellung der Einsatzgüter an der
ersten Produktionsstufe unmittelbar durch den Lieferanten gebildet30. Die entspre‐
chende Schnittstelle zur Distributionslogistik ist durch die Übergabe der Fertiger‐
zeugnisse an das Absatzlager bzw. den Versand gegeben. Der Aufgabenbereich der
Produktionslogistik befasst sich mit allen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem
Material‐ und Informationsfluss von Einsatzgütern (z. B. Roh‐, Hilfs‐, Betriebsstoffe)
vom Rohmateriallager zur Produktion sowie von Halbfabrikaten und Zukaufteilen
durch die Stufen des Produktionsprozesses, einschließlich aller Zwischenlagerungen,
über die Montage bis zum Fertigwarenlager31. Somit werden also auch innerhalb der
Produktionslogistik Lager‐, Transport‐ und Umschlagleistungen sowie logistische
Informationsleistungen erbracht.
Diese Beschreibung der Produktionslogistik macht bereits deutlich, dass zur betrieb‐
lichen Grundfunktion Produktion Abgrenzungsbedarf besteht. Zur Produktion gehö‐
ren alle mittelbar oder unmittelbar der Herstellung von Produkten dienenden Vor‐
gänge und Tätigkeiten, wie beispielsweise die Planung und Bestimmung von Ferti‐
16
1.3
Logistiksysteme
17
Grundlagen der Logistik
1
1.3.2.3 Distributionslogistik
Die Distributionslogistik gehört zum außenmarktorientierten Bereich der Logistik,
sodass sich ihr Zuständigkeitsbereich in zeitlicher Hinsicht von der Fertigstellung der
Endprodukte bis zur Bereitstellung beim Kunden und räumlich gesehen entsprechend
vom Fertigwarenlager respektive der Produktion bis zum Abnahmeort erstreckt. Das
Ziel der Distributionslogistik ist die marktgerechte Erfüllung der geforderten Lo‐
gistikleistungen. Somit muss die Distributionslogistik Strategien entwickeln, die ein
optimales Verhältnis zwischen Lieferservice und Logistikkosten ermöglichen. Dazu
gehören die Planung, Steuerung, Ausführung und Überwachung des physischen Wa‐
renflusses sowie des damit verbundenen Informationsflusses zwischen Produktions‐
und Handelsunternehmen und den jeweiligen Abnehmern.
Im Bereich der Distributionslogistik stellt sich vor allem die Frage nach der Abgren‐
zung zum Absatz‐ oder Vertriebsbereich eines Unternehmens. Aufgabe des Absatzes
ist es, Kundenkapazitäten zur Verfügung zu stellen, vorhandene Kundenkapazitäten
zu pflegen und zukünftige Kundenkapazitäten zu entwickeln33. Darüber hinaus ge‐
hört es zum Aufgabenbereich des Absatzes, zukünftige Kundenbedürfnisse zu erken‐
nen. Gerade im Hinblick auf neue Produkte ergibt sich für den Absatz eine enge Be‐
ziehung mit dem Forschungs‐ und Entwicklungsbereich. Die Distributionslogistik hat
dagegen die Aufgabe, diese vorhandenen Kundenkapazitäten mit Gütern physisch zu
versorgen.
Zu den strategischen Aufgaben gehören unter anderem die Ausgestaltung des Ver‐
triebsnetzes durch die Festlegung der horizontalen und vertikalen Distributions‐
struktur und geeigneter Lieferstrategien (z. B. Direktlieferung, mehrgliedrige Trans‐
portkette). Damit verbunden sind weitere Entscheidungen über die geographischen
Lagerstandorte der verschiedenen Lagerarten (z. B. Werks,‐ Zentral‐, Regional‐, Aus‐
lieferungslager, bestandslose Umschlagpunkte) sowie die Auswahl entsprechender
Verkehrsträger (wie z. B. Straße, Schiene, Wasser‐ und Luftweg). Zu den operativen
Aufgaben im Bereich der Distributionslogistik sind alle Transport‐, Umschlag‐ und
Lageraktivitäten zu zählen, die zur Warenverteilung und Belieferung der Kunden
notwendig sind. Um die anfallenden Transportkosten zu reduzieren, kommen intelli‐
gente Informations‐ und Kommunikationssysteme zum Einsatz (z. B. Verkehrs‐
telematik), die zur effizienten Transport‐, Rundreise‐ und Tourenplanung optimale
Routen mit kürzesten Wegen der Güter zum Kunden ermitteln.
18
1.3
Logistiksysteme
Für die Durchführung der distributionslogistischen Aufgaben lassen sich die Funktio‐
nen Auftragsabwicklung, Lagerhaltung, Transport und Point‐of‐use‐Serviceleistungen
unterscheiden35. Zu den Aufgaben der Auftragsabwicklung gehören die Annahme,
Aufbereitung, Umsetzung, Weitergabe und Dokumentation von Auftragsdaten sowie
die Kommunikation mit Kunden und betriebsinternen Stellen36. Somit werden durch
die Auftragsabwicklung wichtige Informationen für die Distributionslogistik bereitge‐
stellt.
Die Aufgabe der Lagerhaltung besteht vor allem bei der Produktion für unbestimmte
Marktbedarfe in einem Mengen‐, Zeit‐ und Sortimentsausgleich. Im Rahmen der La‐
gerhaltungsfunktion hat das Bestandsmanagement die Verfügbarkeit der Produkte im
Lager sicherzustellen und leistet dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechter‐
haltung eines bestimmten Lieferbereitschaftsgrades. Zusätzlich sollen die beeinfluss‐
baren Kosten, die im Wesentlichen Kapitalbindungskosten darstellen, so niedrig wie
möglich gehalten werden. Zur Lagerhaltung gehört neben der eigentlichen Lagerfunk‐
tion auch eine interne Bewegungsfunktion, wobei die relative Bedeutung dieser beiden
Funktionen von der Lagerart abhängt37.
Aufgabe der Funktion Transport ist die räumliche Transformation der Güter mit Hilfe
von Transportmitteln. Die Zielsetzung bei der Transportdurchführung besteht darin,
die Waren schnell und zuverlässig bei möglichst geringen Kosten zum Abnehmer zu
transportieren. Wesentliche Teilaufgaben stellen in diesem Zusammenhang die Dispo‐
sition und Tourenplanung dar. Aufgabe der Tourenplanung ist die kostenminimale
Erfüllung der Transportaufträge mit den vorhandenen Ressourcen (z. B. Personal,
Fahrzeuge). Dabei zu beachtende Daten umfassen Entfernungen und Fahrzeiten, Auf‐
tragsdaten sowie Fuhrparkdaten. Zur Tourenplanung existiert eine Vielzahl von heu‐
ristischen Verfahren, die in Eröffnungs‐ und Verbesserungsverfahren unterschieden
werden. Für kleinere und einfache Tourenplanungsprobleme werden in jüngster Zeit
auch exakt optimierende Verfahren angeboten38.
19
Grundlagen der Logistik
1
1.3.2.4 Ersatzteillogistik
Ersatzteile stellen Teile, Bauelemente, Teilsysteme, Funktionseinheiten oder Systeme
zum Ersatz einer entsprechenden Einheit dar, um die ursprünglich geforderte Funkti‐
on der Einheit zu erhalten. Ersatzteile lassen sich in Verschleiß‐ und Reserveteile un‐
tergliedern. Verschleißteile unterliegen einer betriebsbedingten Abnutzung, sodass
deren Ausfall annähernd zeit‐ und mengenmäßig planbar und somit prognostizierbar
ist. Im Gegensatz dazu sind Reserveteile durch einen zufallsbedingten Ausfall ge‐
kennzeichnet und weisen einen sporadischen, schlecht prognostizierbaren Verlauf auf.
Aufgabe der Ersatzteillogistik ist die zeitgerechte Planung, Steuerung, Kontrolle und
effiziente Abwicklung der für die Instandhaltung benötigten Ersatzteile in der erfor‐
derlichen Menge und Art beim entsprechenden Instandhaltungsobjekt. Zu den Aufga‐
ben der Ersatzteillogistik gehören die Auftragsabwicklung, das Bestandsmanagement,
die Ersatzteilbeschaffung und die Ersatzteildistribution39.
Aufgrund der Dringlichkeit eines Ersatzteilbedarfs ist eine schnelle und unverzügliche
Auftragsabwicklung notwendig. Die Auftragsabwicklung umfasst die Teilprozesse
Auftragsübermittlung, Auftragsaufbereitung, Auftragsumsetzung, Auftragszusam‐
menstellung, Versand und Fakturierung40. Das Ziel besteht in der Realisierung eines
durchgängigen und standardisierten Auftragsdurchlaufs. Allerdings behindert oft‐
mals die Notwendigkeit einer fachkundigen Beratung oder Sonderabwicklungen die
schnelle Umsetzung einer Ersatzteilbestellung.
Das Bestandsmanagement hat die Aufgabe der Planung, Steuerung und Kontrolle der
für die Ersatzteilversorgung notwendigen Lagerbestände. Dazu gehören die Prognose
des Nachfrageverlaufs nach Ersatzteilen, die Bestimmung der Bestandshöhe und der
Bestandsergänzungspolitik sowie die Aufteilung der Ersatzteilbestände auf die ver‐
schiedenen Lager in Abhängigkeit der Distributionsstruktur41. Die Nachfrageprognose
nach Ersatzteilen wird durch das Primärprodukt (z. B. Bestand, Planverkauf, Alters‐
struktur und Nutzungsintensität), durch das Ersatzteil selbst (z. B. Verschleiß‐
verhalten, Einsatzbedingungen), durch die Instandhaltung (z. B. Instandhaltungs‐
strategie) und durch externe Faktoren (z. B. gesetzliche Vorgaben, neue Technologien)
beeinflusst42.
20
1.3
Logistiksysteme
nen43. Als Beschaffungsmethode kommt vor allem die Vorratsbeschaffung zur An‐
wendung, bei der eine Lagerauffüllung ohne Zeitdruck erfolgt.
Die Aufgabe der Ersatzteildistribution ist die zeitlich, mengenmäßig und räumlich
abgestimmte Zusammenführung der Ersatzteile mit den instand zuhaltenden Primär‐
produkten. Dazu muss im Rahmen der Standortwahl die horizontale und vertikale
Distributionsstruktur festgelegt werden. Aufgrund des hohen Teilesortiments und der
Heterogenität der Kundenaufträge kommt der Wegeoptimierung im Rahmen der
Kommissionierung eine besondere Bedeutung zu. Außerdem sind spezifische Anfor‐
derungen (z. B. Schutz vor mechanischen und chemisch‐physikalischen Einflüssen,
Informationsfunktion) an die Verpackung zu beachten44. Beim Transport der Ersatztei‐
le wird zwischen einer Regelabwicklung bei geplanten Kundenaufträgen oder La‐
gerergänzungsaufträgen und einer Eillieferung (z. B. durch Express‐ und Kurierdiens‐
te) unterschieden45. Da der Bedarfsverlauf bei Ersatzteilen stark schwankend ist, führt
eine zu hohe Bevorratung zu erheblichen Kapitalbindungskosten. Mit geeigneten
Pooling‐Strategien können hohe Lagerbestände unter Beibehaltung einer gleichblei‐
benden Lieferzeit durch erhöhte Flexibilität und Verfügbarkeit der Ersatzteile redu‐
ziert werden46.
1.3.2.5 Entsorgungslogistik
Die Prozesskette der Entsorgungslogistik schließt sich an die Versorgungslogistik an,
wobei die Flussrichtung der logistischen Objekte denen der Versorgungslogistik genau
entgegengesetzt ist, d. h. vom Kunden über die Redistribution, Wiederaufarbeitung
und den Wiedereinsatz zurück zum Unternehmen. Unter der Entsorgung werden alle
planenden und ausführenden Tätigkeiten der umweltgerechten Verwendung, Verwer‐
tung und geordneten Beseitigung von Rückständen verstanden, sodass entsorgungs‐
logistische Konzepte auf die Effizienz eines durchgängigen Logistikkreislaufs fokus‐
sieren. Das wachsende Umweltbewusstsein der Bevölkerung, gesetzliche Grundlagen
zur Entsorgungspflicht (z. B. das Kreislaufwirtschaftsgesetz), die Verknappung von
Primärrohstoffen sowie steigende Entsorgungskosten haben zur Folge, dass die Ent‐
sorgung und daraus abgeleitet die Entsorgungslogistik an Wichtigkeit zunimmt.
21
Grundlagen der Logistik
1
Minimierung der Kosten der Entsorgungslogistik sowie die Gewährleistung eines
attraktiven Entsorgungslogistikniveaus bzgl. Entsorgungszeit, Termintreue und Flexi‐
bilität. Die ökologischen Ziele resultieren aus den Umweltschutzzielen und beinhalten
auf der Inputseite die Ressourcenschonung und auf der Outputseite die Emissionsre‐
duzierung.
22
1.4
Megatrends in der Logistik
52 Für weitere Erklärungen zur Entsorgungslogistik wird auf Kapitel 6.4 verwiesen.
53 Vgl. PFLAUM (2016).
23
Grundlagen der Logistik
1
b) Digitalisierung
Seit Anfang des 21. Jahrhunderts stehen disruptive Technologien und innovative
Geschäftsmodelle sowie Autonomisierung, Flexibilisierung und Individuali‐
sierung in der Digitalisierung im Vordergrund und münden in die vierte industri‐
elle Revolution. Die digitale Transformation eröffnet dabei große Chancen für re‐
volutionäre Geschäftsmodelle und effizienteres Wirtschaften. Der digitale Wandel
sorgt nicht nur für neue digitalisierte Produkte und datengetriebene Dienstleis‐
tungen, sondern auch für einen Umbruch tradierter Marktlogiken. Im Rahmen
der Digitalisierung können die Daten von Kunden, Distributoren, Produzenten
und Lieferanten in Echtzeit integriert werden, um somit die Effizienz von Produk‐
ten und Prozessen zu verbessern. Während die vertikale Digitalisierung sämtliche
Abteilungen, vom Vertrieb bis zur Logistik, miteinander verknüpft zielt die hori‐
zontale Digitalisierung auf die Anbindung der Partner in der Wertschöpfungsket‐
te ab. Die Digitalisierung wird auch das prognosebasierte Push‐Prinzip mehr und
mehr durch das Pull‐Prinzip ersetzen, sodass Güter künftig vermehrt nur auf
Nachfrage produziert und ausgeliefert werden. Das fordert von der Logistik eine
ungleich höhere Flexibilität, die nur mittels weiterer Digitalisierungsschritte er‐
reicht werden kann. Die Digitalisierung wird auch die Globalisierung vorantrei‐
ben und die Kommunikationswege weiter verkürzen. Durch den Zuwachs digita‐
ler Datenmengen, die aus unterschiedlichen Quellen in unterschiedlichen Daten‐
strukturen von einer stetig ansteigenden Anzahl von Nutzern, Sensoren,
Prozessen und weiteren Quellen erzeugt werden, spielen auch die Methoden aus
Big Data Analytics eine entscheidende Rolle, um einen Mehrwert zu generieren.
c) Additive Fertigungsverfahren
Bereits Mitte der 1980er‐Jahre begann die Entwicklung von additiven Fertigungs‐
technologien. Während die ersten Verfahren ausschließlich für den Prototypbau
konzipiert und entwickelt wurden, können heute bereits Produkte in Serienpro‐
duktion mit additiven Fertigungsverfahren (3D‐Druck) produziert werden. Addi‐
tive Fertigungsverfahren bieten gegenüber traditionellen Fertigungsverfahren ei‐
ne höhere Gestaltungfreiheit und Flexibilität, sodass individuelle Produkte auch
mit einer Losgröße eins wirtschaftlich gefertigt werden können. Zudem braucht
ein 3D‐Drucker keine unterschiedlichen Werkzeuge für verschiedene Produkte,
sodass verschiedene Produkte unmittelbar hintereinander oder sogar zeitgleich
gefertigt werden können. Neben der Reduktion von Rüstzeiten und ‐kosten durch
den Wegfall von Werkzeugen, wird mit additiven Fertigungsverfahren auch eine
deutlich höhere Materialeffizienz gegenüber herkömmlichen Verfahren erreicht.
Ein hohes Innovationspotenzial wird zukünftig Produkte, Prozesse und Ge‐
schäftsmodelle nachhaltig verändern.
24
1.4
Megatrends in der Logistik
d) E‐Commerce
Die Effizienz des Internets hat die Vorgänge in der Logistik deutlich beschleunigt
und effizienter gestaltet. Die E‐Commerce‐Logistik umfasst sämtliche Waren‐, In‐
formations‐, Beleg‐, und Geldströme für die Zustellung, Zahlungsabwicklung und
das Retouren‐Management. Die Umsätze im Onlinehandel sind in den letzten Jah‐
ren stets zweistellig gewachsen. Dies hat zu einer Verdoppelung der Warenströme
geführt, insbesondere auch verursacht durch die Tatsache, dass ca. 60% der be‐
stellten Güter auch wieder zurückgeschickt werden. Einen großen Anteil am On‐
linehandel hat das mobile Shopping, das es den Händlern ermöglicht die Kunden
überall zu erreichen. Damit werden die Bereiche Lagerhaltung, Kommissionie‐
rung und Transportplanung weiterhin an Bedeutung zunehmen. Der Trend zur
Lieferfähigkeit von Onlineshops innerhalb von 24 Stunden führt zu einer Be‐
schleunigung der Logistikprozesse. Auch werden in Zukunft Roboter im Lager
oder Drohnen und autonome Transportsysteme den Warenaustausch zwischen
Hersteller und Verbraucher gestalten. Wenn zukünftig Roboter immer stärker in
den Warenumschlag eingebunden werden, dann hat das auch enorme Auswir‐
kungen auf die bisher eingesetzten Hilfskräfte.
Die Zukunft wird durch individualisierte Produkte und Dienstleistungen für be‐
stimmte Märkte geprägt. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz werden Händler Kun‐
denbedürfnisse vorhersagen können. Die Grundlage dafür bilden die Daten in ei‐
nem CRM‐System, das eine gezielte und personalisierte Kundenpflege ermög‐
licht. Diese Daten werden in Verbindung mit Social Media zu einer neuen Form
der Kundenansprache führen. Diese Individualisierungen führen zu einer Erhö‐
hung der Produktvielfalt. Mit ausgeweiteten Produktprogrammen werden jedoch
auch die logistischen Aufgaben komplexer, da damit steigende Herausforderun‐
gen an die Auftragsabwicklung, die Kommissionierung und Verpackung sowie
den Transport verbunden sind. Verbunden mit einer zunehmenden Variantenviel‐
falt sind tendenziell sinkende Umschlagshäufigkeiten, häufiger notwendige Wert‐
berichtigungen auf Bestände, steigende Kommissionierungskosten und eine sin‐
kende Auslastung von Transportgefäßen.
f) Nachhaltigkeit
Unternehmen sollten im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung die Ziele der öko‐
nomischen, ökologischen und sozialen Dimension ausbalancieren. Logistische Ak‐
tivitäten müssen sich im Schnittpunkt der ökonomischen, ökologischen und sozia‐
len Dimension der Nachhaltigkeit nicht nur positiv auf die Umwelt und die Ge‐
sellschaft auswirken, sondern auch langfristige ökonomische Gewinne und
Wettbewerbsvorteile nach sich ziehen. Kunden fragen zunehmend nachhaltige
Produkte und Dienstleistungen nach, sodass auch die Logistik neue Nachhaltig‐
keitsstrategien entwickeln muss. Alle logistischen Aufgaben, begonnen bei der
25
Grundlagen der Logistik
1
Fertigung über die Kommissionierung bis zum Transport müssen auch unter Be‐
zug auf deren Nachhaltigkeit betrachtet werden. Somit müssen z. B. im internati‐
onalen Handel die einzelnen Verkehrsträger auf ihre Umweltverträglichkeit ge‐
prüft werden.
g) Servitization
Der Wandel von einer Industrie‐ zu einer Servicegesellschaft hat zur Folge, dass
dem Kunden neben dem Produkt verstärkt auch die mit dem Produkt verbunde‐
nen Dienstleistungen verkauft werden, um die Kundenbindung zu erhöhen. Ser‐
vitization bedeutet somit den Wandel eines Unternehmens von einem reinen Pro‐
dukthersteller hin zu einer Kombination aus Produkthersteller und Dienstleister.
Beispielsweise kann dem Kunden zusätzlich zur reinen Produktbereitstellung
auch ein Ersatzteilservice angeboten werden. Eine andere Realisierung kann darin
bestehen, dass dem Kunden nicht mehr das Produkt, sondern die Leistung, die
mit diesem Produkt erbracht werden soll, verkauft wird. So kann dem Kunden
beispielsweise über einen längeren Zeitraum eine vereinbarte und garantierte
Transport‐ oder Hebeleistung verkauft werden. Servitization ist mit großen und
weitreichenden Änderungen verbunden, denn es müssen individuelle Kunden‐
bedarfe erkannt und in neue Geschäftsmodelle und Vertriebskonzepte transferiert
werden. Somit müssen Logistikunternehmen zukünftig die Potenziale und Her‐
ausforderungen einer serviceorientierten Logistik erkennen und in nachhaltige
Wettbewerbsvorteile umsetzen.
h) Demografischer Wandel
26
1.5
Literaturhinweise
1.5 Literaturhinweise
Baumbach, M. (2004): After‐Sales‐Management im Maschinen‐ und Anlagenbau,
Transfer Verlag.
Baumgarten H. (2008): Das Beste der Logistik – auf dem Weg zu logistischer Exzel‐
lenz, in: Baumgarten, H. (Hrsg.): Das Beste der Logistik, Springer, S. 14‐19.
Ihde, G. (1987): Stand und Entwicklung der Logistik, Die Betriebswirtschaft, 47. Jg.,
S. 703‐716.
27
Grundlagen der Logistik
1
Loukmidis, G.; Luczak, H. (2006): Lebenszyklusorientierte Planungsstrategien für
den Ersatzteilbedarf, in: Barkawi et al. (Hrsg.): Erfolgreich mit After Sales Services
– Geschäftsstrategien für Servicemanagement und Ersatzteillogistik, Springer,
S. 251‐270.
Pflaum, A. (2016): Trends erkennen, Logistik Heute, Heft 6, 38. Jahrgang, S. 58.
Rupper, P. (1991): Logistik – Eine neue Unternehmensdimension, in: Rupper, P.
(Hrsg.): Unternehmenslogistik – Ein Handbuch für Einführung und Ausbau der
Logistik im Unternehmen, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage; Verlag Indus‐
trielle Organisation, S. 1‐23.
Shapiro, R. D.; Heskett, J. L. (1985): Logistics Strategy – Cases and Concepts, West
Publishing Company.
Weber, J (1996): Logistik, in: Kern, W. et al. (Hrsg.): Handwörterbuch der Produkti‐
onswirtschaft, 2. Auflage, Schäffer‐Poeschel, Sp. 1096‐1110.
28
2 Logistikkonzeption
Das normative Logistikmanagement baut auf einer Logistikkonzeption auf, die den
Rahmen für das strategische und operative Logistikmanagement vorgibt. Diese Lo‐
gistikkonzeption kann als spezifischer systemischer Ansatz verstanden werden, der
sich auf die Wechselwirkungen zwischen den Elementen und dem Gesamtsystem der
Logistik konzentriert. Das daraus resultierende Logistikdenken ist mit einem Paradig‐
menwechsel von einer funktional ausgerichteten Logistik hin zu einer flussorien‐
tierten, integrativen und systemübergreifenden Führungsfunktion verbunden.
Lernziele:
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 29
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_2
Logistikkonzeption
2
die höchste Stufe der Entwicklungsphasen des Logistikmanagements erreicht wer‐
den54.
Normatives
Logistik‐
management
Visionen, Normen, Werte,
Prinzipien
Logistikkonzeption
Ganzheitlichkeit, Flussorientierung,
Marktorientierung, Zeitorientierung
Strategisches Logistikmanagement
Ziele, Strategien, Strukturen, Ressourcen, Konzepte
Operatives Logistikmanagement
Maßnahmen, Methoden, Umsetzung
Operative Planung, Steuerung, Kontrolle und Koordination der Material‐, Waren‐ und Infor‐
mationsflüsse
Das normative Logistikmanagement beinhaltet den Beitrag der Logistik zur Beantwor‐
tung der Wertfragen des unternehmerischen Handelns, den Normen, Visionen, Leitli‐
nien, Prinzipien, Verhaltensregeln und die Stellung in Beziehung zu den anderen
betrieblichen Funktionsbereichen. Weiterhin sind die Interessen der Stakeholder zu
beachten. Unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit werden soziale, ökologische und
ökonomische Werte, die durch die Logistik beeinflusst werden, für die Stakeholder
festgelegt. Insbesondere bei der Unternehmensgrenzen überschreitenden Betrachtung
des Logistikmanagements trifft man auf unterschiedliche Wertvorstellungen, sodass
ein gemeinsames, partnerübergreifendes Normensystem entwickelt werden muss, das
in eine gemeinsame Logistikkonzeption mündet. Die Logistikkonzeption bzw. das
Logistikdenken ist mit einem Paradigmenwechsel verbunden, der tiefgreifende Struk‐
tur‐ und Verhaltensänderungen impliziert und zu neuen Lösungs‐ und Methodenan‐
sätzen sowohl im strategischen Management von unternehmensübergreifenden Wert‐
schöpfungsketten als auch in der operativen Planung und Gestaltung der Waren‐,
Material‐ und Informationsflüsse führt. Dieser Paradigmenwechsel basiert auf den
vier Gestaltungsprinzipien „Ganzheitlichkeit“, „Flussorientierung“, „Marktorientie‐
30
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik
rung“ und „Zeitorientierung“, die ihre gesamte Wirkungskraft erst durch Bündelung
in einem logistischen Denken und Handeln entfalten.
2.1.1 Ganzheitlichkeit
Dem Prinzip der Ganzheitlichkeit in der Logistik liegt das Systemdenken zugrunde.
Das Systemdenken geht davon aus, dass Elemente eines Logistiksystems nicht ohne
Auswirkung auf andere Elemente verändert werden können, und dass nur durch
ihren Verbund Synergieeffekte zu erzielen sind. Der wissenschaftliche Bezugsrahmen
des Systemdenkens wird in der Systemtheorie56 behandelt.
31
Logistikkonzeption
2
durch den Austausch von materiellen und/oder immateriellen Objekten, wie bei‐
spielsweise Energie, Materie und Information. Die Menge der Beziehungen, welche
die Elemente miteinander verbinden, bildet die Struktur des Systems. Der Beziehungs‐
reichtum eines Systems repräsentiert dessen Komplexität60.
In der Systemtheorie wird von der These ausgegangen, dass ein linear‐analytischer
Theorieansatz, der eine einseitig atomistische Erkenntnisperspektive einnimmt und
Komplexität durch ceterus‐paribus‐Modelle zu reduzieren versucht, einer ständig
zunehmenden Umweltdynamik mit der Tendenz zu wachsender Unvorhersehbarkeit
und Vernetztheit der Problemstrukturen nicht mehr gerecht wird61. Notwendig wird
ein umfassendes systemisches Denken, das ein gedankliches Wechselspiel zwischen
Teil und Ganzheit, das Einordnen von Teilerkenntnissen in Gesamtkonzepte sowie ein
wechselseitiges Denken auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen erlaubt. Es wird in
zirkulären Verknüpfungen ohne Anfang und Ende gedacht, und statt nach ewig
gleichbleibenden, materiellen Strukturen der Dinge zu suchen, richtet man den Blick
auf die Dynamik des Geschehens und sucht nach dem Ordnungsmuster solcher Pro‐
zesse62. Kennzeichnend für das Systemdenken sind also eine ganzheitliche Betrach‐
tungsweise sowie die Erkenntnis, dass für die Erklärung der Ganzheit die Erklärung
ihrer Elemente nicht ausreicht. Zur theoretischen Fundierung der Logistikkonzeption
können dem Systemansatz die folgenden Funktionen zugeschrieben werden:
Terminologische Funktion
Die Systemtheorie liefert eine allgemeingültige, einheitliche Terminologie, die ei‐
ne Beschreibung, Erklärung und Analyse verschiedener Logistiksysteme ermög‐
licht.
60 Vgl. zur Abgrenzung der Begriffe komplex und kompliziert auch Gomez/Probst (1995, S. 19ff).
61 Vgl. ULRICH/PROBST (1990, S. 11ff).
62 Vgl. ULRICH/PROBST (1990, S. 18).
32
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik
Integrierende Funktion
Die Systemtheorie stellt die Sicht auf Ganzheiten in den Vordergrund, d. h. es
wird der Mehrdimensionalität der Unternehmenslogistik Rechnung getragen.
Suboptimale Lösungen sollen durch Berücksichtigung von Ressourcen‐ und Pro‐
zessinterdependenzen vermieden und optimale Gesamtlösungen angestrebt wer‐
den.
Pragmatische Funktion
Die Systemtheorie bedient sich der modellistischen Abstraktion, um komplexe
Ganzheitssysteme zu präzisieren. Systemvorstellungen werden dabei als Modelle
entworfen, die in Abhängigkeit von systeminternen und systemexternen Kontext‐
konstellationen gestaltet, analysiert und beurteilt werden können.
2.1.2 Flussorientierung
Das Prinzip der Flussorientierung beinhaltet die Betrachtung des Material‐, Waren‐
und Informationsflusses in der gesamten Logistikkette zwischen Lieferant und Kunde
und zielt darauf ab, die Wertschöpfungsaktivitäten stärker auf die unternehmerische
Marktleistung auszurichten. Es soll ein möglichst nicht unterbrochener Güterfluss
zwischen Anfang und Ende der Logistikkette angestrebt werden, wobei deren Ab‐
schnitte informatorisch miteinander verknüpft werden. In vom Flussdenken geprägten
33
Logistikkonzeption
2
Logistikkonzepten werden Bestände als unerwünschte Unterbrechung des Material‐
flusses angesehen, die zu einer Verlängerung der Durchlaufzeiten führen. Bestände
verdecken störanfällige Prozesse, unabgestimmte Kapazitäten, mangelnde Flexibilität
und Liefertreue und sollten nur noch dort geplant werden, wo es für die gesamte
Logistikkette am kostengünstigsten ist.
Voraussetzung für eine konsequente Anwendung des Fließgedankens ist eine Berück‐
sichtigung des Gesamtsystems und die in ihm bestehenden Interdependenzen. Die
flussgerechte Gestaltung des Geschäftssystems versetzt ein Unternehmen in die Lage,
die hohe Komplexität des Absatz‐, Produktions‐ und Beschaffungsprogramms ebenso
zu bewältigen wie die gestiegenen Anforderungen hinsichtlich Bedienungs‐ und Reak‐
tionszeiten. Die Ausrichtung auf die unternehmerische Gesamtleistung bedeutet eine
Abkehr von der übermäßigen Betonung der Funktionsorientierung vertikaler Organi‐
sationskonzepte.
2.1.3 Marktorientierung
Das Prinzip der Marktorientierung bedeutet ein Denken in Kundenvorteilen, d. h alle
logistischen Aufgaben werden an den Kundenanforderungen ausgerichtet. Der Ver‐
antwortungsträger entlang der logistischen Kette orientiert sich bei jeder seiner Ent‐
34
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik
Kunde
Preis/Nutzen Preis/Nutzen
Wettbewerbsvorteil
Unternehmen Wettbewerb
Nur wenn diese drei Anforderungen gleichzeitig erfüllt werden, liegt ein strategischer
Wettbewerbsvorteil vor. Als dauerhaft kann ein Wettbewerbsvorteil nur dann bezeich‐
net werden, wenn es den Konkurrenten nicht gelingt, diese überlegene Leistung in‐
nerhalb kurzer Zeit zu imitieren. Bezüglich der Kunden ist zu beachten, dass diese
Leistungskomponente auch längerfristig von entscheidender Bedeutung für deren
Nutzenwahrnehmung ist. Wettbewerbsvorteile aus Logistikstrategien sind in der Re‐
gel nachhaltig verteidigbar, da sie nicht über partielle Anpassungen des Geschäftssys‐
tems nachahmbar sind. Die drei Dimensionen der Marktorientierung sind die Kun‐
den‐ und die Wettbewerbsorientierung sowie die Dissemination der Kunden‐ und
Wettbewerbsorientierung im Unternehmen.
35
Logistikkonzeption
2
vor, während und nach dem Herstellungsprozess hat Einfluss auf den Kundennutzen.
Zur Kundenorientierung gehört neben der Erfassung der gegenwärtigen Kundenwün‐
sche auch die Antizipation der Bedarfswandlungen der Kunden. In immer mehr
Marktsegmenten treten ausschließlich preisorientierte Nutzenkriterien in den Hinter‐
grund, sodass der Kundennutzen vielmehr durch die Bereitstellung kundenindividu‐
eller Problemlösungen determiniert wird. Bei diesen Marktanforderungen kommt der
Logistikleistung, d. h. der Fähigkeit des Unternehmens, die Kunden schnell, präzise,
zuverlässig, fehlerfrei und flexibel zu bedienen, eine wachsende Bedeutung zu. Über‐
durchschnittliche Logistikleistungen und wettbewerbsgerechte Logistikkosten bieten
die Möglichkeit zu einer individuellen Befriedigung der Nachfrage und binden die
Kunden stärker an das Unternehmen. Die Kundenorientierung darf sich jedoch nicht
nur auf externe Kunden beziehen, sondern darüber hinaus auch auf die internen Kun‐
den‐Lieferantenbeziehungen zwischen den Unternehmensprozessen. Jeder Organisa‐
tionsbereich in der Logistikkette muss so handeln, als wäre er Kunde der vorgelager‐
ten Stelle und Lieferant der nachfolgenden Stelle. Durch dieses Selbstverständnis wird
ein besonderes Verantwortungsbewusstsein unter den Mitarbeitern gefördert, das
sukzessiv zu einer Umsetzung des Prozessmanagements führt. Eine der wichtigsten
Aufgaben des Prozessmanagements besteht in der Übersetzung der externen Kunden‐
anforderungen in Outputspezifikationen der einzelnen Logistikprozesse. Die internen
Kunden‐Lieferanten‐Beziehungen wiederum dienen der Realisierung dieses Ziels.
Die Dissemination der Marktorientierung hat die Durchdringung der Kunden‐ und
Wettbewerbsorientierung im Unternehmen zum Ziel. Die Kundenanforderungen und
die Wettbewerbsposition sind bei sämtlichen logistischen Handlungen explizit zu
berücksichtigen. Da effiziente und effektive Logistiksysteme einen hohen Imitations‐
schutz gewähren, können sie zur nachhaltigen Differenzierung gegenüber dem Wett‐
bewerb genutzt werden.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass das Prinzip der Marktorientierung auf die
strategischen Dimensionen logistischen Denkens und Handelns abzielt. Logistisches
Denken beinhaltet, dass die Unternehmung als ganzheitliches, komplexes System zu
36
2.1
Gestaltungsprinzipien der Logistik
2.1.4 Zeitorientierung
Der Faktor Zeit mit seinen Ausprägungen Geschwindigkeit, Pünktlichkeit und Reakti‐
onsschnelligkeit wird neben den Kosten und der Qualität als gleich gewichteter strate‐
gischer Erfolgsfaktor betrachtet, da er für die Gewinnung von Marktanteilen, die Kapi‐
talbindung in der logistischen Kette, die Geschwindigkeit und Flexibilität bei der Um‐
setzung von Kundenwünschen in marktfähige Produkte, die Kundenbelieferung
sowie für die Wirtschaftlichkeit und Rentabilität einer Unternehmung verantwortlich
ist. Die Bestrebungen zur Zeitrationalisierung konzentrierten sich in der Vergangen‐
heit auf die Verkürzung der direkten Fertigungszeit, sodass die Zeit‐ und Kostensche‐
re zwischen direkten und indirekten Wertschöpfungsaktivitäten deutlich auseinan‐
dergegangen ist. Betrachtet man die Durchlaufzeit, die sich aus Bearbeitungs‐ und
Liegezeit zusammensetzt, dann beträgt die reine Bearbeitungszeit häufig lediglich 10%
der Gesamtdurchlaufzeit, während der überwiegende Anteil der Durchlaufzeit durch
Warte‐ und Liegezeiten entsteht64.
37
Logistikkonzeption
2
denorientierung ermöglicht, da kurze Durchlaufzeiten die Distanz der Unternehmung
zum Kunden verringern. Zur Durchlaufzeitverkürzung werden die Material‐, Waren‐
und Informationsflüsse synchronisiert sowie die Schnittstellen nach dem Fließprinzip
organisiert. Die vom Kunden gewünschten Lieferzeiten stellen dabei das anzustreben‐
de Zeitlimit für die Abwicklung der notwendigen Waren‐, Material‐ und Informations‐
flussdurchlaufzeiten dar.
Die Logistikphilosophie basiert auf Prinzipien, die gegensätzlich zum Denken in funk‐
tionalen Organisationseinheiten stehen. Gerade die Logistik ist aufgrund ihres Quer‐
schnittscharakters prozessorientiert auszurichten. Der prozessorientierte Grundansatz
der Logistik lässt sich sowohl aus dem Ganzheitlichkeitsprinzip als auch aus dem
Prinzip der Flussorientierung ableiten. Eine prozessorientierte Sichtweise des Wert‐
schöpfungssystems industrieller Unternehmen betrachtet die betriebliche Leistungser‐
stellung als strukturiertes Netzwerk dynamischer Prozesse und nicht als Konglomerat
statischer Funktionen.
38
2.2
Logistikprozesse und -ziele
Waren‐/Materialflussprozesse Informationsflussprozesse
Wareneingang Planung
Warenannahme und Prüfung Materialbedarf, Bestandsvolumen
Entladen und Auspacken Produktions‐, Absatz‐, Lieferpro‐
Umpacken in Lager‐ und Transport‐ gramm
einheiten Kapazitätsplanung für Fertigung
Lagerung und Logistik
Lagerverwaltung Disposition
Lagerflächen bereitstellen Liefer‐, Fertigungs‐, Bestellmengen
Lagern Mindestbestände, Bestandsreichwei‐
Kommissionieren ten
Transport Bestell‐, Fertigungsaufträge
Transporteinrichtungen bereitstellen Steuerung
Transportaufträge bearbeiten Fertigungsaufträge einplanen
Transportieren Material, Erzeugnisse abrufen
Versand Terminverfolgung
Lieferunterlagen erstellen Kapazitätsauslastung steuern
Verpacken Auftragsüberwachung
Beladen Kundenauftragsbearbeitung
Entsorgung Aufträge
Reststoffe trennen, sammeln, lagern o annehmen, bestätigen, einplanen
Verpacken, bereitstellen zum Recyc‐ o an Auslieferung, Disposition,
ling / zur Entsorgung Fertigungssteuerung übergeben
Liefertermine überwachen, koordi‐
nieren
39
Logistikkonzeption
2
Stellen gestaltet wird. Zu den Teilprozessen des logistischen Informationsflusses gehö‐
ren alle Informations‐, Kommunikations‐ und Koordinationsprozesse, die zur Pla‐
nung, Disposition und Steuerung von Gütern sowie zur Auftragsabwicklung notwen‐
dig sind (vgl. Tabelle 2‐1).
Unterstützungsprozesse
Logistikmanagement Logistikforschung und ‐entwicklung
Logistikstrategie festlegen Waren‐, Material‐ und Informations‐
Leistungs‐, Kostenziele vorgeben flusskonzepte entwickeln
Effektivität, Effizienz sichern Logistiktechnologien entwickeln
Mitarbeiterführung und ‐beurteilung Logistikaus‐ und ‐weiterbildung
Logistik‐Controlling Übergreifende Koordination
Logistikleistungen, ‐kosten planen Mitwirkung bei
und kontrollieren o Neuprodukteinführung
Wirtschaftlichkeitsrechnungen o Produktions‐, Informationstech‐
Budgets und Berichte erstellen nologien
o Qualitätsmanagement
40
2.2
Logistikprozesse und -ziele
Logistikziele dürfen somit nicht isoliert betrachtet werden, sie müssen vielmehr aus
der Gesamtzielkonzeption abgeleitet werden, um zur Erreichung der übergeordneten
Unternehmensziele beizutragen. Dabei ist zu beachten, dass bei betriebswirtschaft‐
lichen Entscheidungen zwischen indifferenten, komplementären und konkurrierenden
Zielen unterschieden wird. Die Erreichung logistischer Ziele erfordert das Erbringen
einer marktgerechten Logistikleistung (Effektivität) bei minimalen Logistikkosten
(Effizienz)68.
2.2.2.1 Logistikleistung
Aufgrund der Querschnittsfunktion der Logistik werden logistische Leistungen über
das gesamte Unternehmen hinweg erbracht. Die Logistikleistung ist ein immaterielles
Ergebnis logistischer Transformationsprozesse und wird deshalb auch als Dienstleis‐
tung bezeichnet. Aufgrund ihres immateriellen Dienstleistungscharakters sind Lo‐
gistikleistungen gegenüber Sachleistungen schwerer zu operationalisieren und quanti‐
fizieren. In der Literatur herrscht aufgrund von Abgrenzungsproblemen Uneinigkeit
darüber, inwieweit operative, dispositive und administrative Leistungen der Logistik
zugerechnet werden können. Logistische Tätigkeiten werden oft in Verbindung mit
anderen Tätigkeiten unter Mitnutzung gemeinsamer Potenzialfaktoren vollzogen, so‐
dass Abgrenzungsprobleme aufgrund von unauflöslichen Verkettungen oder Über‐
schneidungen der Logistik mit anderen Leistungsarten resultieren. Derartige Abgren‐
zungsprobleme der Logistikleistung gegenüber Beschaffungs‐, Produktions‐ und Ab‐
satzleistungen lassen sich nicht „richtig“ im Sinne von theoretisch eindeutig lösen,
sondern es müssen jeweils unternehmensindividuelle Lösungen gefunden werden.
68 Die Effektivität bezeichnet die grundsätzliche Eignung einer Maßnahme im Hinblick auf ein
angestrebtes Ziel und kann als „die richtigen Dinge tun“ interpretiert werden. Die Effizienz
kann mit der Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit gleichgesetzt werden und bedeutet „die
Dinge richtig tun“.
69 Vgl. Weber (2002, S. 118ff).
41
Logistikkonzeption
2
Auskunft über den Auftragsstand zu erteilen, bzw. bei mangelnder, bereits erfolg‐
ter Lieferung sofort einen Nachbesserungstermin nennen zu können. Die Verfüg‐
barkeit der Ressourcen ergibt sich aus deren qualitativer und quantitativer Eig‐
nung sowie aus der Technologie‐ und Personalauslastung. Durch die wirkungs‐
bezogene Leistungsebene wird die Verantwortung der Logistik für die zeit‐ und
mengengerechte Versorgung des Unternehmens mit den notwendigen Inputfak‐
toren betont.
Sicherstellung logistischer Leistungsbereitschaft
Diese faktorbezogene Leistungsebene bezieht sich auf das Leistungsvermögen des
Logistiksystems, das sich in den Leistungselementen Zeit und Flexibilität wider‐
spiegelt. Die Lieferzeit ist die Zeitspanne von der Erteilung eines Auftrags durch
den Kunden bis zum Zeitpunkt der Verfügbarkeit der Ware beim Kunden. Bei la‐
germäßig vorhandenen Waren setzt sie sich aus den Komponenten Auftragsbear‐
beitungszeit, Auslagerungs‐ und Kommissionierzeit sowie der Verpackungs‐, Ver‐
lade‐ und Versandzeit zusammen. Müssen die bestellten Waren erst noch produ‐
ziert werden, sind zu diesen Zeiten noch die Produktionsdurchlauf‐ und
gegebenenfalls die Wiederbeschaffungszeit der Einsatzmittel hinzuzurechnen. Die
Lieferzeit zeigt auf, mit welcher Geschwindigkeit das logistische System Kunden‐
aufträge in marktfähigen Output umsetzt. Die Lieferflexibilität ist die Fähigkeit,
auf Kundenwunschänderungen hinsichtlich Spezifikation, Menge und Termin
einzugehen. Sie kann als Markterfolgsfaktor insbesondere dort eingesetzt werden,
wo auf Kundenseite aufgrund einer dynamischen Umwelt mit häufigen Kunden‐
wunschänderungen zu rechnen ist.
42
2.2
Logistikprozesse und -ziele
Insgesamt verdeutlichen die auf den verschiedenen Ebenen dargestellten Ziele der
Logistikleistung dessen hohe Marketingbedeutung. Bei der Auswahl und Festlegung
dieser Leistungsziele sind neben den Anforderungen der unterschiedlichen Kunden‐
gruppen, Marktsegmente sowie Versorgungskanäle die Wechselbeziehungen zwi‐
schen den einzelnen Leistungsgrößen und vor allem die Kostenreagibilität unter‐
schiedlich hoher Leistungsziele zu beachten.
2.2.2.2 Logistikkosten
Durch die Erbringung logistischer Leistungen entstehen Kosten, die als Logistikkosten
bezeichnet werden. Ein zunehmendes Interesse an logistischen Kosten ist in der Ver‐
schiebung der Kostenstrukturen industrieller Unternehmen70 und der Höhe der Logis‐
tikkosten begründet. Aufgrund der Abgrenzungsprobleme bei logistischen Leistungen
bestehen auch über die Zusammensetzung der Logistikkosten unterschiedliche Auf‐
fassungen. Die Verkettung und Überlagerung verschiedener Leistungsarten macht es
unmöglich, sämtliche Logistikkosten zu separieren und auf einzelne Leistungsarten zu
verrechnen. Eine Erfassung und Verrechnung von Logistikkosten ist immer dann
gerechtfertigt, wenn zur Gestaltung und Steuerung logistischer Prozesse noch Frei‐
heitsgrade existieren und die entscheidungsrelevanten Kosten entsprechende Rationa‐
lisierungspotenziale erkennen lassen. Betroffen sind davon nicht nur der operative
Bereich, sondern wegen der Querschnittsfunktion der Logistik auch die dispositiven
Abstimmungsprozesse zwischen den Leistungsbereichen eines Unternehmens.
Logistische Kosten lassen sich unter dem Aspekt ihrer Zurechenbarkeit zur Logistik in
folgende fünf Kostenkategorien unterteilen:
70 In vielen Unternehmen kann man einen steigenden Anteil von Gemeinkosten in sogenannten
„indirekten“ Leistungsbereichen feststellen, d. h vorbereitende, planende, steuernde, überwa‐
chende und koordinierende Tätigkeiten gewinnen insbesondere auch in der Logistik immer
mehr an Gewicht.
43
Logistikkonzeption
2
Kosten des Informationsflusses
Unter dieser Kategorie werden die Kosten der Planung, Gestaltung und Kontrolle
logistischer Objekte und Ressourcen sowie die Kosten der Disposition und Auf‐
tragsabwicklung subsumiert.
Managementkosten
Zu dieser Kostenkategorie zählen die Kosten für die Logistikleistung, der logisti‐
schen Forschung und Entwicklung, des Logistik‐Controllings sowie der Aus‐ und
Weiterbildung.
Bevorratungskosten
Hierunter fallen die Kapitalbindungskosten sämtlicher in der Logistikkette ge‐
bundenen Vorräte und die Kosten für Bestandsrisiken.
Die Berücksichtigung von Zielkonflikten bei logistischen Entscheidungen, die als Kos‐
ten‐Kosten‐ oder als Kosten‐Leistungs‐Konflikt auftreten können, lässt sich aus dem
die Logistikkonzeption kennzeichnenden Systemdenken ableiten. Um dem Gesamt‐
kostenansatz der Logistik gerecht zu werden, muss man beachten, dass Kosten‐Trade‐
offs nicht nur zwischen unmittelbar aufeinanderfolgenden oder benachbarten Prozes‐
sen bestehen – etwa Lagerhaltung und Transport – oder auf vorgegebene Verantwor‐
tungsbereiche beschränkt sind. Insofern stehen bei der Festlegung logistischer Kosten‐
ziele nicht einzelne Kostenkategorien des Logistiksystems im Vordergrund, sondern
vielmehr die Optimierung der Kosten‐Trade‐offs innerhalb der Innovations‐ und
Wertschöpfungskette.
Bezogen auf Erfolgsfaktoren Kosten, Qualität, Flexibilität und Zeit sind in der Abbil‐
dung 2‐3 mögliche Zielkonflikte dargestellt:
Die Forderung nach kurzen Lieferzeiten bzw. nach einer hohen Lieferbereitschaft
setzt entweder hohe Lagerbestände oder kurze Durchlaufzeiten voraus. Hohe La‐
gerbestände sind jedoch konfliktär zur Senkung der Kapitalbindungskosten und
bergen zudem das Risiko des Werteverlustes der Lagerware bei rückläufiger
Nachfrage. Kurze Durchlaufzeiten können auch zu Qualitätseinbußen sowie zur
Einschränkung der Flexibilität bezogen auf eine zu geringe Variantenvielfalt füh‐
ren.
Zur Senkung der Kosten werden Aufträge mit großen Losgrößen auf den Maschi‐
nen eingelastet. Daraus resultieren einerseits eine hohe Kapazitätsauslastung aber
andererseits auch längere Durchlauf‐ und Lieferzeiten, die wiederum Beschrän‐
kungen bei der Qualität und Flexibilität im Angebot zur Folge haben.
44
2.2
Logistikprozesse und -ziele
Hohe Qualität
Mögliche
Zielprofile
Niedrige Erwartungsgemäße
Kosten Lieferung
Hohe
Flexibilität
Zur Auflösung des Zielkonfliktes zwischen den Logistikleistungen und den ‐kosten
wird vorgeschlagen, die anzustrebenden Zielgrößen für die Logistikleistungen festzu‐
legen. Diese Zielgrößen müssen sich in der Lieferservicepolitik sowie in der Lo‐
gistikstrategie widerspiegeln. Daran ausgerichtet sind die zur Zielerreichung für die
Logistikleistungen notwendigen Logistikkosten zu minimieren.
45
Logistikkonzeption
2
Aufbau postfordistischer Unternehmensstrukturen, die durch hohe Flexibilitäts‐ und
Innovationsfähigkeit gekennzeichnet sind, stellt die Logistik als Bindeglied zwischen
Lieferanten, Kunden und Fertigungsstätten eine unabdingbare Voraussetzung dar. Mit
zunehmender Konzentration auf die Kernkompetenzen und einer Reduzierung der
Fertigungstiefen steigen die Anforderungen an die zeitliche Abstimmung der Aktivitä‐
ten des Wertschöpfungsprozesses, sodass eine effektive und effiziente Logistik immer
wichtiger wird. Das Ziel jeder logistischen Aktivität ist es daher, die angestrebte Wett‐
bewerbsposition der Unternehmung zu unterstützen und als Markterfolgsfaktor zu
wirken.
Zukunfts‐
sicherung
Wettbewerbs‐
vorteile
Logistik‐
leistung
Effizienz/ Kundennutzen‐
Wirtschaft‐ Effektivität potenziale Kunden‐
lichkeit zufriedenheit
Auf der Grundlage der Wirkzusammenhänge im strategischen Dreieck72 lässt sich ein
Erfolgstripel der Logistik, bestehend aus Wirtschaftlichkeit, Kundenzufriedenheit und
Zukunftssicherung ableiten, das durch die Logistikleistung beeinflusst wird (vgl. Ab‐
bildung 2‐4)73. Ein wichtiges Oberziel ist die Zukunfts‐ bzw. nachhaltige Existenzsi‐
cherung. Dieses Ziel wird ausgehend von der Logistikleistung über die Erlangung von
Wettbewerbsvorteilen angestrebt. Dabei können Unternehmen verschiedene Erfolgs‐
strategien verfolgen, um Wettbewerbsvorteile durch die Logistik zu erlangen. Gemäß
PORTER können Unternehmen Wettbewerbsvorteile durch eine Kostenführerschafts‐
strategie, durch ein einzigartiges Leistungsangebot, welches sie von der Konkurrenz
abhebt (Differenzierung) oder durch die Konzentration auf einen Teilmarkt (Ni‐
schenstrategie) erreichen74.
46
2.2
Logistikprozesse und -ziele
Werttreiber Strategieempfehlungen
Kostenführerschaft Differenzierung
Umsatzwachstum Sicherung konkurrenzfä‐ Marktorientierte Preisge‐
higer Preise staltung
Ausnutzung von Skalener‐ Hoher Service
trägen zum Erhalt von
Marktanteilen
Gewinnmarge Ausnutzung von Skalener‐ Kosteneffiziente Differen‐
trägen zierungsstrategien
Standardisierung
Senkung der Overhead‐
Kosten
Investitionen Minimierung von Lagerbe‐ Minimierung des Kassen‐
ständen, bestands
Kassenbestand, Debitoren Optimierung der Lagerbe‐
Erhöhung des Nutzungs‐ stände, Debitoren und An‐
grades der Aktiva lagebestände unter Beach‐
tung der Notwendigkeit der
Differenzierungsstrategie
Kapitalkosten Optimale Gestaltung der Optimale Gestaltung der
Kapitalstruktur Kapitalstruktur
Minimierung der Eigen‐ Minimierung der Eigen‐
und Fremdkapitalkosten und Fremdkapitalkosten
Reduktion der Geschäftsri‐ Differenzierung zur Risiko‐
siken reduktion
47
Logistikkonzeption
2
knüpfung zwischen diesen beiden Wettbewerbsstrategien. Insbesondere kann eine
effektive und effiziente Logistik zur Unterstützung einer Kostenführerschafts‐ o‐
der/und einer Differenzierungsstrategie für die Erzielung von Wettbewerbsvorteilen
eingesetzt werden.
Betriebliche Lieferservice
Erträge
Operativer Cash Flow Transportkosten
vor Zinsen nach Steuern ‐
(NOPAT)
IT‐Kosten
Betriebliche
Aufwendungen
Fehlerkosten
Handlingkosten
EVA ‐
Bestände Umschlag
Umlauf‐
vermögen
Offene Forderungen
Kapitalver‐
Kapital‐ x
kosten
= zinsung + Fuhrpark
(WACC)
Anlage‐
Lagerinfrastruktur
vermögen
Auslastungsgrad
NOPAT = Net Operating Profit After Taxes
76 Der Economic Value Added (EVA) ist ein eingetragenes Warenzeichen der Unternehmens‐
beratung Stern, Stewart & Co.
48
2.2
Logistikprozesse und -ziele
Anlage‐ und Umlaufvermögen. Ein Abbau der Lagerbestände reduziert das Umlauf‐
vermögen sowie die Kapitalbindung und führt zu einem höheren Kapitalumschlag
und damit zu einer Verbesserung der Kapitalrentabilität. Durch eine Reduzierung des
Fuhrparks und der Lagerinfrastruktur sowie durch eine Erhöhung des Auslastungs‐
grades können das Anlagevermögen reduziert werden.
Marktwert
Finanz‐ Intellektuelles
kapital Kapital
Finanzanlagen
Materielle
Vermögensgegenstände
Partner‐/
Humankapital Kundenkapital Strukturkapital Prozesskapital
Allianzkapital
Der Marktwert eines Unternehmens wird durch die Komponenten Finanzkapital und
intellektuelles Kapital bestimmt, denen verschiedene materielle und immaterielle
Vermögensgegenstände zugeordnet werden können. Deshalb ist eine ausschließliche
Berücksichtigung monetärer Aspekte für eine Wertorientierung des Logistikmanage‐
ments nicht ausreichend. Immaterielle Werttreiber wie das intellektuelle Kapital
(„Intangibles“) sind für eine nachhaltige Steigerung des Unternehmenswerts von gro‐
ßer Bedeutung, da monetäre Erlöse das Ergebnis der Nutzung des intellektuellen
Kapitals wie z. B. des Prozess‐, Struktur‐, Beziehungs‐ oder Humankapitals sind. So‐
mit stellt die Entwicklung dieses intellektuellen Kapitals eine wesentliche Voraus‐
setzung für zukünftige monetäre Erlöse dar. Wichtiger als die konkrete Messung die‐
ses Wertes ist das Verständnis der Zusammenhänge zwischen dem intellektuellen
Kapital und dem Unternehmenswert, sodass die Aufmerksamkeit auf die Beein‐
flussungsmöglichkeiten des intellektuellen Kapitals durch das Logistikmanagement
gerichtet sein sollte. Die Abbildung 2‐6 zeigt mögliche Einflüsse des Logistik‐
managements auf das intellektuelle Kapital. Dabei lassen sich sowohl die Auswirkun‐
gen der logistischen Gestaltungsprinzipien Ganzheitlichkeit, Markt‐, Zeit‐ und Fluss‐
49
Logistikkonzeption
2
orientierung finden, als auch die Logistikkonzeption selbst als ein wesentlicher Be‐
standteil des intellektuellen Kapitals erkennen.
Logistische Erfolgsfaktoren sind Werttreiber für die meisten in der Abbildung 2‐6
dargestellten Felder des intellektuellen Kapitals. Durch die Analyse der Erfolgs‐
faktoren, das Aufdecken ihrer Zusammenhänge und ihrer Beeinflussungsmöglich‐
keiten werden auch Ansätze zur Gestaltung und Entwicklung des intellektuellen Kapi‐
tals deutlich.
50
2.3
Organisation der Logistik
xen zusammen, dass sie sinnvoll organisatorischen Einheiten (z. B. Abteilungen, Stel‐
len etc.) zugeordnet werden können.
Die Ablauforganisation der Logistik umfasst die räumliche, zeitliche sowie sachliche
Strukturierung von lückenlos aufeinander abgestimmten Arbeitsgängen und Arbeits‐
folgen in und zwischen den Organisationseinheiten, die im Rahmen der Aufbauorga‐
nisation festgelegt wurden. Für die Logistik ergeben sich als Zielstellung beispielswei‐
se kurze Auftragsdurchlaufzeiten, eine hohe Lieferbereitschaft, kurze Lieferzeiten,
eine hohe Liefertreue und ‐flexibilität und geringe Logistikkosten.
Eine Einbindung der Logistik in die Gesamtorganisation sowie die Innenstruktur der
Logistik können funktional, divisional oder mit einer Matrix‐Organisation umgesetzt
werden79. Im Folgenden werden verschiedene Grundmodelle dieser Organisations‐
möglichkeiten vorgestellt.
51
Logistikkonzeption
2
bauorganisation findet man häufig in Einproduktunternehmen oder in Unternehmen
mit einer homogenen Produktstruktur. Für die Einbindung der Logistik in eine funkti‐
onale Gesamtorganisation können die folgenden drei Grundmodelle verwendet wer‐
den (vgl. Abbildung 2‐7).
Unternehmensleitung (Modell 3)
52
2.3
Organisation der Logistik
Durch die Bildung eines zu den anderen funktionalen Bereichen gleichwertigen Zen‐
tralbereichs für die Logistik im Modell 3 werden die logistischen Aufgaben nicht mehr
dezentral von den einzelnen Funktionsbereichen koordiniert. Durch die nun mögliche
zentrale Steuerung sämtlicher logistischer Prozesse gelingt eine ganzheitliche Koordi‐
nation und Steuerung sämtlicher logistischer Aufgaben. Dadurch lassen sich Redun‐
danzen vermeiden, aber andererseits wird auch auf gewisse Spezialisierungsvorteile
verzichtet. Mit diesem Modell eines gesonderten Funktionsbereichs wird der besonde‐
re Stellenwert der Logistik im Unternehmen verdeutlicht. Um eine effektive und effi‐
ziente Logistikleistung für die anderen funktionalen Bereiche erbringen zu können, ist
jedoch eine eindeutige Aufgaben‐ und Kompetenzabgrenzung notwendig. Nur somit
kann sichergestellt werden, dass die Logistik über die Bedürfnisse der anderen Funk‐
tionsbereiche informiert wird.
53
Logistikkonzeption
2
Abbildung 2‐8 Logistik in einer objektorientierten Organisation82
Logistik
Logistik
Logistik Logistik Koordination
Unternehmensleitung (Modell 6)
54
2.3
Organisation der Logistik
Division 1
Division 2
Division 3
Die Vorteile der Matrix‐Organisation sind in der großen Flexibilität bei der Anpassung
an sich verändernde Umweltbedingungen zu sehen. Probleme ergeben sich jedoch aus
der Unübersichtlichkeit der resultierenden Komplexität der zweidimensionalen Struk‐
tur. Aufgrund der Überschneidung von objekt‐ und funktionsbezogenen Kompeten‐
zen können Konflikte zwischen Produkt‐ und Funktionsmanagern entstehen. Somit
werden deshalb hohe Ansprüche an die Kompromissfähigkeit der Verantwortlichen
gestellt.
Eine Matrix‐Organisation eignet sich umso besser, je größer ein Unternehmen und je
heterogener seine Produktstruktur ist. Somit kommt diese Organisationsform bevor‐
zugt in Großunternehmen zur Anwendung.
55
Logistikkonzeption
2
Abbildung 2‐10 Grundmodelle zur Innenorganisation der Logistik84
Objektdimension
O1
Kernprozesse (K) Unterstützungs‐ Objekte (O)
‐ Transport prozesse (U) ‐ Produkte/Produktgruppen
‐ Lagerung ‐ Logistik‐ ‐ Kunden/Kundengruppen O2
‐ Versand controlling ‐ Werke
‐ Entsorgung ‐ Logistik F & E ‐ Märkte/Marktsegmente
‐ Planung ‐ Personalent‐
‐ Disposition wicklung On
‐ Steuerung
‐ Auftragsabwicklung
‐ Verrichtungsorientierte Gliederung der ‐ Objektorientierte Gliederung der Logistik ‐ Kombination aus objektorientierter und
Logistik ‐ Organisation wird durch Objekteigenschaf‐ funktionaler Organisation
‐ Organisation wird von Art und Ablauf der ten bestimmt ‐ Ausgleich zwischen Funktions‐ und Objekt‐
Funktionen bestimmt ‐ Organisatorische Einheiten sind spezialisiert interessen durch duales Kompetenzsystem
‐ Organisatorische Einheiten sind spezialisiert auf das jeweilige Bezugsobjekt; sie nehmen
auf ihre Teilfunktionen; sie betreuen sämt‐ alle erforderlichen Logistikfunktionen wahr
liche Objekte ‐ Ausgleich zwischen Funktionsinteressen
‐ Ausgleich zwischen Funktionsinteressen findet innerhalb Objektbereich statt
durch Logistikleitung
Bei der funktionalen Logistikorganisation erfolgt die Arbeitsteilung nach dem Verrich‐
tungsprinzip, wobei eine Trennung in Kern‐ und Unterstützungsprozesse erfolgt85.
Die funktionale Logistikorganisation zielt auf verrichtungsgebundene Spezialisie‐
rungsvorteile ab, erfordert einen hohen Koordinationsaufwand und entspricht nur
bedingt den Gestaltungsprinzipien Ganzheitlichkeit, Kunden‐ und Flussorientierung.
Aufgabe der Logistikleitung ist es, die Interessenskonflikte zwischen den funktionalen
Teileinheiten zu lösen. Insbesondere die vielen Schnittstellen zwischen den verschie‐
denen funktionalen Einheiten erschweren eine Umsetzung der Prozessorientierung.
56
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
2.4 Wertschöpfungsnetzwerke
Durch die Konzentration auf die Kernkompetenzen und die damit einhergehende
Reduktion der Fertigungstiefe erfolgt die Wertschöpfung in einem Netzwerk von
Organisationen, die in Richtung der Lieferanten sowie in Richtung der Kunden in den
verschiedenen Prozessen involviert sind, um für den Kunden einen Wert in Form von
Produkten und Dienstleistungen zu generieren. Somit wird die unternehmensinterne
Wertkette auf die unternehmensexterne Lieferanten‐ und Kundenkette bis hin zum
Endkunden oder sogar zur Entsorgungskette ausgeweitet. Wertschöpfungsnetzwerke
sind dadurch gekennzeichnet, dass formal unabhängige Unternehmen deutlich koope‐
rativer zusammenarbeiten, als es für rein marktlich koordinierte Austausch‐
beziehungen charakteristisch ist86. Für die Einbindung von Unternehmen in Wert‐
schöpfungsnetzwerke können die folgenden Ursachen bezogen auf die strategischen
Erfolgsfaktoren Qualität, Kosten, Zeit und Flexibilität angeführt werden87:
Die vom Kunden geforderte Qualität für Prozesse oder Technologien liegt im
Unternehmen nicht ausreichend vor, sodass es zu Effektivitätsproblemen kommt.
57
Logistikkonzeption
2
Darüber hinaus stellen Wertschöpfungsnetzwerke bei hohem Innovationsdruck und
Risikopotenzial eine geeignete Organisationsform dar. Auch die Zunahme der Arbeits‐
teilung, der Übergang zur Systembeschaffung, die Reduzierung von Kontroll‐ und
Koordinationskosten sowie die Bündelung von Ressourcen sind Rahmenfaktoren,
welche die Entstehung von Wertschöpfungsnetzwerken vorantreiben.
Bezogen auf die Kooperationsformen können die dyadische Ebene, die Supply‐Chain‐
Ebene und die Netzwerkebene unterschieden werden. Die dyadische Ebene, die auch
als zwischenbetriebliche Kooperation bezeichnet wird, umfasst nur die Beziehung von
zwei Partnerunternehmen, z. B. die Beziehung zwischen Lieferant und Hersteller oder
zwischen Hersteller und Händler. Somit können die beiden Partnerunternehmen fest‐
legen, wie in einer spezifischen Zulieferer‐Abnehmer‐Beziehung miteinander zusam‐
mengearbeitet wird und auf das Verhalten des Partners kann direkt reagiert werden.
Eine Supply Chain berücksichtigt mehrere bilaterale Beziehungen zwischen den Part‐
nerunternehmen. Während zu einer Basic Supply Chain drei Partner gehören, beste‐
hend aus dem Unternehmen, dem direkten Lieferanten sowie dem direkten Kunden,
umfasst die eigentliche Supply Chain alle Beteiligten vom Rohstofflieferanten bis zum
Konsumenten. Somit werden sämtliche Schritte von der Rohstoffgewinnung über die
Produktion bis hin zu den nachgelagerten After‐Sales‐Aktivitäten einbezogen.
Auf der Netzwerkebene werden mehrere Supply Chains, oder Bestandteile dieser,
durch eine vertikale, horizontale oder diagonale (bzw. laterale) Kooperation verbun‐
den. Bei horizontalen Kooperationen erfolgt die Zusammenarbeit von Unternehmen
aus unterschiedlichen Lieferketten auf gleicher Wertschöpfungsstufe. Beispielsweise
kooperiert ein Produzent aus Kapazitätsgründen mit einem anderen Produzenten,
oder ein Händler arbeitet mit einem anderen Händler zusammen, sodass sie Mengen‐
rabatte realisieren können. Bei horizontalen Kooperationen mit Wettbewerbern spricht
man auch von strategischen Allianzen. Im Rahmen einer strategischen Allianz könnten
z. B. Autohersteller gemeinsam Motoren entwickeln und fertigen, die dann in den
Autos der beteiligten Partner eingebaut werden, um die Entwicklungs‐ und Herstel‐
lungskosten für alle zu senken. Liegen horizontale Kooperationen mit Komplementa‐
toren vor, d. h. mit Partnern, welche die Leistungen des eigenen Unternehmens ergän‐
zen, dann spricht man auch von virtuellen Netzwerken. Im Gegensatz dazu kooperie‐
ren Unternehmen vertikal, wenn sie in unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen, meist
innerhalb der gleichen Lieferkette, agieren. Beispiele wären Kooperationen zwischen
einem Händler und seinen Lieferanten, oder zwischen einem Produzenten und seinen
Zulieferern. Aus einer Kombination von horizontaler und vertikaler Kooperation
ergibt sich eine diagonale bzw. laterale Kooperation. Eine diagonale Kooperation liegt
somit dann vor, wenn beide Unternehmen aus verschiedenen Branchen stammen und
trotzdem zusammenarbeiten. Beispielsweise könnte ein Autohersteller mit einem
Hersteller digitaler Karten zusammenarbeiten, um seine Fahrzeuge mit einem Naviga‐
tionsgerät auszustatten. Neben dem Merkmal Kooperation können Wertschöpfungs‐
netzwerke durch die Merkmale Wettbewerb, rechtliche Selbstständigkeit, Interdepen‐
denz, Polyzentriertheit, relative Stabilität sowie Flexibilität gekennzeichnet werden:
58
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
59
Logistikkonzeption
2
menhang, dass nur eine partielle Systembeherrschung möglich ist, da die Gefahr eines
Kompetenzverlusts besteht und gegenseitige Abhängigkeiten geschaffen werden. Des
Weiteren führt er die erschwerte strategische Steuerung, den Verlust strategischer
Autonomie, eine Steigerung der Koordinationskosten und den unkontrollierten Ab‐
fluss von Wissen als mögliche Risiken an92.
Unternehmen, die eine führende Marktstellung einnehmen, haben erkannt, dass der
Wettbewerb Wertschöpfungsnetzwerk gegen Wertschöpfungsnetzwerk lautet und
nicht Unternehmen gegen Unternehmen. Indirekte Unternehmensaktivitäten wie die
Logistik werden vollständig in diese Wertschöpfungsnetzwerke einbezogen und als
gleichberechtigte Wertaktivitäten angesehen, die einen originären Beitrag zur Steige‐
rung des Kundennutzens und zur Senkung der Kosten leisten können. Die Aufgaben
der Logistik entlang dieser integrierten Wertschöpfungsnetzwerke bestehen in der
Überbrückung von räumlichen und zeitlichen Disparitäten, der Überwindung von
Hierarchie‐ und Funktionsgrenzen sowie der Koordination von inner‐ und zwischen‐
betrieblichen Prozessen.
Die zweite Dimension, zeitliche Stabilität, unterscheidet zwischen stabilen und dyna‐
mischen Wertschöpfungsnetzwerken. Stabile Netzwerke bilden sich vor allem in gut
prognostizierbaren Märkten meist um ein fokales Unternehmen heraus und sind lang‐
fristig angelegt. Dynamische Netzwerke entstehen dagegen in Märkten mit hohen
Veränderungsgeschwindigkeiten und Diskontinuitäten. Da sie zumeist auf ein Projekt
60
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
beschränkt sind, bilden sich im Idealfall aus einem Pool potenzieller Partner immer
wieder auftragsbezogen zeitlich begrenzte Wertschöpfungsnetzwerke heraus.
Anhand der beiden Dimensionen Steuerung und zeitliche Stabilität, die als kontinuier‐
liche und nicht als dichotome Größen zu verstehen sind, lassen sich folgende vier
Wertschöpfungsnetzwerktypen identifizieren: strategische, regionale, projektbezogene
sowie virtuelle Wertschöpfungsnetzwerke (vgl. Abbildung 2‐11). In diese Typologie
lassen sich im Hinblick auf das Netzwerkmanagement wichtige Typenklassen einord‐
nen.
hierarchisch
strategische
Projekt‐
Netzwerke
netzwerke
virtuelle
Netzwerke
regionale
Netzwerke
heterarchisch
stabil dynamisch
61
Logistikkonzeption
2
endverbrauchernahen Großunternehmen, also oft beim Endprodukthersteller oder
Handelsunternehmen, die den zu bearbeitenden Markt, die notwendigen Strategien
und Technologien sowie die Ausgestaltung der Netzwerkorganisation bestimmen.
Weiterhin sind in diesen strategischen Wertschöpfungsnetzwerken explizit formulierte
Ziele sowie formale Strukturen mit formalen Rollenzuweisungen zu finden. Die Koor‐
dination erfolgt durch gemeinsame Planungen und Programme und ist vertraglich
geregelt. Strategische Wertschöpfungsnetzwerke sind in gut prognostizierbaren, ver‐
gleichsweise stabilen Märkten zu finden, da sich somit relativ stabile Beziehungen mit
gut strukturierten Aufgaben und einer hohen Wiederholungshäufigkeit der Transakti‐
onen entwickeln können. Als Beispiele für strategische Wertschöpfungsnetzwerke
können die Automobilindustrie, die Biotechnologie und die Telekommunikation ge‐
nannt werden. Vorteile strategischer Wertschöpfungsnetzwerke sind Effizienzsteige‐
rungen und langfristige Prozessverbesserungen sowie die Entwicklung einer gemein‐
samen Kooperationskultur. Als nachteilig erweist sich die Einschränkung der Flexibili‐
tät, die sich aus der Stabilität und Langfristigkeit der Netzwerkbeziehung ergibt96.
62
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
ke zeitlich befristet sind und die Dynamik unter den Partnern sehr hoch ist, reichen die
Beziehungen zwischen den Partnern oft über ein einziges Projekt hinaus, um bei neu‐
en Projekten auf die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit ehemaligen Partnern
zurückgreifen zu können. Projektnetzwerke sind beispielsweise in der Baubranche
sowie in der Film‐ und Fernsehindustrie zu finden. Als vorteilhaft werden die gerin‐
gen spezifischen Investitionen gesehen, da vorübergehend auf die Ressourcen und
Kapazitäten der Partner zurückgegriffen werden kann. Die Grenzen projektbezogener
Wertschöpfungsnetzwerke bestehen in einer mangelnden Win‐Win‐Situation, d. h. die
Vorteile kommen nur einseitig einzelnen Partnern zugute. Außerdem besteht in Pro‐
jektnetzwerken die Gefahr, dass Partner das hinzugewonnene Know‐how einsetzen,
um mit ihren ehemaligen Kooperationspartnern zu konkurrieren99. Virtuelle Wert‐
schöpfungsnetzwerke als besondere Form von Projektnetzwerken sind zeitlich befris‐
tete Zusammenschlüsse rechtlich und wirtschaftlich selbstständiger Unternehmen, die
gegenüber Dritten als eine Einheit auftreten. Virtuelle Netzwerke sind durch strategi‐
sche Flexibilitätsvorteile gekennzeichnet, die durch die individuellen Kernkompeten‐
zen der Partner entstehen. Die Koordination erfolgt hierbei durch den Einsatz von
unternehmensübergreifenden Informations‐ und Kommunikationssystemen, wobei
dafür oftmals spezifische Investitionen notwendig sind100. Eine strategische Führung
erfolgt durch einen Broker oder auch ein fokales Unternehmen, wobei meistens dasje‐
nige Unternehmen, das dem Kunden am nächsten steht, die Führung dieses Netz‐
werktyps übernimmt. In virtuellen Wertschöpfungsnetzwerken wird auf eine Institu‐
tionalisierung der Kooperation weitgehend verzichtet, sodass die Zusammenarbeit auf
gegenseitigem Vertrauen und losen Übereinkünften beruht, die jedoch hohe Anforde‐
rungen an die Koordination stellt. Beispiele für virtuelle Netzwerke stellen die sich
schnell entwickelnden High‐Tech‐Industrien wie die Mikroelektronik oder Biotechno‐
logie dar, aber auch in Low‐Tech‐Industrien mit sehr kurzen Produktlebenszyklen wie
der Bekleidungs‐ oder Spielwarenindustrie ist dieser Netzwerktyp zu finden. Als
Nachteile virtueller Netzwerke können rechtliche Probleme bei Urheber‐ oder Eigen‐
tumsrechten, sowie ein zu kleines Geschäftsvolumen genannt werden, das die spezifi‐
schen Investitionen nicht rechtfertigt.
63
Logistikkonzeption
2
ge Informations‐ und Kommunikationstechnologie, in produktionstechnologische und
logistische Ressourcen, eine Umstrukturierung der Aufbau‐ und Ablauforganisation
sowie die Aufgaben‐ und Rollenverteilung entsprechend der Kompetenzen der Part‐
ner. Die Kooperationsvereinbarung kann mündlich per Handschlag, mit einer Ab‐
sichtserklärung (letter of intent) oder mit einem detaillierten schriftlichen Kooperati‐
onsvertrag geregelt werden. In der Betriebsphase erfolgt die Verwendung von Steue‐
rungs‐ und Kontrollinstrumenten zur koordinierten Zusammenarbeit. Wichtig ist
insbesondere die Generierung und Auswertung von Kennzahlen zur Bewertung der
gemeinsamen Kooperationsziele, um bei Abweichungen geeignete Maßnahmen zu
treffen. Die letzte Phase umfasst die Auflösung der Zusammenarbeit, bedingt durch
ökonomische bzw. psychologische Gründe oder durch die Erfüllung des Zwecks der
Kooperation. Wichtig bei der Beendigung einer Kooperation sind die Verteilung ge‐
meinsam getätigter Investitionen, eine Reintegration bisher gemeinschaftlich durchge‐
führter Aufgaben und die Vermeidung des Missbrauchs von Informationen sowie
gemeinsam aufgebauten Know‐hows.
64
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Lieferantennetzwerk Distributionsnetzwerk
Produktionsunternehmen
Rohstoffgewinnung
Endkunden
ung tion bution
…
Entsorgung
Mate rial-/Güterfluss
Ge ldfluss
Der Begriff Supply Chain Management (SCM) wurde in den USA im Jahr 1982 von
Oliver/Webber eingeführt102 und betont den Wandel der klassischen Logistik zu einer
strategischen Managementaufgabe. Es gibt eine Vielzahl betriebswirtschaftlicher Teil‐
disziplinen, wie z. B. Logistik, Marketing, Operations Research, Organisation und
Unternehmensführung, die Einfluss auf die Entwicklung des Supply Chain Manage‐
ments genommen haben103. In der Literatur existiert kein einheitliches Begriffsver‐
ständnis zum Supply Chain Management. Trotz der unterschiedlichen Definitionen
und Ansätze zum Supply Chain Management sind jedoch die folgenden Kernelemente
zu erkennen104:
Supply Chain Management ist geschäftsprozessorientiert und zielt auf die opti‐
male Gestaltung der unternehmensübergreifenden Geschäftsprozesse ab, sodass
die Koordination sowie Integration aller Managementaktivitäten ein wesentliches
Merkmal ist.
Es liegt eine kooperative Zusammenarbeit der Partner vor, die in einem Netzwerk
miteinander verbunden sind, um die Effizienz und Effektivität zu steigern.
65
Logistikkonzeption
2
Den Ausgangspunkt der Steuerung bildet der Endkundenbedarf.
Das Supply Chain Management schließt alle Material‐, Informations‐ und Geld‐
flüsse ein.
Supply Chain Management fordert durch seinen Fokus auf den Endkunden von den
beteiligten Partnern ein Ausrichten der eigenen internen Ziele an den Zielen der Supp‐
ly Chain, eine Integration bestehender Geschäftsprozesse mit denen der Geschäfts‐
partner und den Übergang von konfrontativen zu kooperativen Beziehungen. Für die
normative Ebene, die vom Topmanagement zu prägen ist, gilt es gemeinsame kongru‐
ente Philosophien, Ziele, Werte, Normen und Maßnahmen als Basis für längerfristige
kooperative Beziehungen zu entwickeln. Zur Umsetzung des Supply Chain Manage‐
ments muss, basierend auf dessen Zielen, eine explizite Strategie entworfen werden,
die ohne eine Unterstützung der Unternehmensführung und der Bereichsleitungen
jedoch nicht umsetzbar ist. Diese Strategie muss direkt in die Unternehmensstrategie
eingehen. Aus den Zielen des Supply Chain Managements können für die einzelnen
Teilprozesse und Bereiche jeweils spezifische Teilziele definiert werden.
66
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Auf der strategischen Ebene nimmt das Supply Chain Management die Aufgabe der
Gestaltung der logistischen Netzwerkstruktur wahr. Dazu gehören unter anderem die
Auswahl der Lieferanten und logistischen Dienstleister, die Standortwahl für Produk‐
tions‐ und Lagerstandorte sowie die Gestaltung der Distributionsstruktur. Die Nach‐
frage‐ und Lieferkettenplanung sind Aufgaben der taktischen Ebene. Dabei steht die
Abstimmung der Material‐ und Warenflüsse auf den Endkundenbedarf und eine wirt‐
schaftliche Nutzung der Ressourcen im Vordergrund. Innerhalb der operativen Ebene
obliegt dem Supply Chain Management die inhaltliche, mengenmäßige und zeitliche
Abstimmung der Beschaffungs‐, Produktions‐ und Distributionsmengen sowie die
Überwachung der Prozessdurchführung.
Das übergeordnete Ziel des Supply Chain Managements besteht in der ganzheitlichen
Optimierung des Wertschöpfungsnetzwerks. Darunter fallen insbesondere die Ver‐
besserung der Kundenorientierung (Erhöhung des Serviceniveaus der Endverbrau‐
cher), eine durchgängige Kostensenkung über alle Stufen des Wertschöpfungs‐
prozesses sowie die Flexibilitätssteigerung durch Erhöhung der Anpassungs‐ und
Entwicklungsflexibilität der Supply Chain. Im Einzelnen umfassen diese Ziele die
Optimierung der Produktion synchron zum Bedarf, die Flexibilisierung der Auftrags‐
einplanung und Fertigung, die Minimierung der Bestände, die Verkürzung der Liefer‐
zeiten sowie die Realisierung von Skalen‐ und Verbundeffekten entlang der Supply
Chain. Weitere Ziele sind eine höhere Effizienz und Effektivität durch eine unterneh‐
mensübergreifende Steuerung, die Schaffung von Vertrauen durch die gemeinsame
Entwicklung von Zielen, Strategien und Kulturen sowie eine Erhöhung der Transpa‐
renz durch den Abbau von Informationsasymmetrien.
Zwischen den Zielen des Supply Chain Managements treten allerdings inner‐ und
überbetriebliche Zielkonflikte auf, sodass eine genaue Abwägung der Ziele erfolgen
muss. Innerbetriebliche konträre Ziele sind z. B. eine hohe Termintreue und niedrige
Lagerbestände. Überbetriebliche Zielkonflikte entstehen, wenn zugunsten eines Ge‐
samtoptimums im Wertschöpfungsnetzwerk lokale Optima bei den einzelnen Partnern
aufgegeben werden müssen. Bei der Realisierung des Gesamtoptimums im Wert‐
schöpfungsnetzwerk kann es durchaus passieren, dass ein oder mehrere Partner
schlechter gestellt werden als bei der Umsetzung der individuellen lokalen Optima. In
diesen Fällen sind Kompensationsleistungen notwendig, damit für alle Partner eine
Win‐Win‐Situation und somit für keinen der Partner ein Nachteil aus der kooperativen
Zusammenarbeit entsteht.
67
Logistikkonzeption
2
weiligen Grad der Integration der am Wertschöpfungsprozess beteiligten Partner (vgl.
Abbildung 2‐13).
Akteure
Synchronisation:
Gesamtes Konstrukt eines netzwerkübergreifenden Gesamtoptimums durch neutrale
Netzwerk Steuerung und gemeinsame Datenbasis
Netzwerk‐ Collaboration:
ausschnitte Aktive und konstruktive Zusammenarbeit mit
vereinbarten Prozessen und Regeln
Unternehmen Optimization:
werksübergreifend Interne Supply Chain
Qualität
Simultane Planung Austausch von gemeinsame neutrale Steuerung
Nachrichten Prozesse
In der zweiten Phase werden die unmittelbar angrenzenden Partner, d. h. die Lieferan‐
ten, Dienstleister und Kunden des Unternehmens, in die Supply Chain integriert. Der
Schwerpunkt der Integration liegt meist auf einer reinen Datenintegration, also einem
Austausch von Informationen. Auf technischer Ebene wird der Informationsaustausch
durch moderne Informations‐ und Kommunikationssysteme unterstützt, sodass die
Verknüpfung der jeweiligen Endprozesse der unternehmensinternen Prozessketten
über einen durchgängigen Kommunikationskanal (z. B. EDI) erfolgt. Mit zunehmen‐
der Kooperationsdauer nimmt auch das Vertrauen zwischen den Partnern zu. Als
Versorgungsstrategien werden beispielsweise Just‐in‐Time oder Konsignationslager
verwendet.
Die dritte Entwicklungsphase des Supply Chain Managements beinhaltet die gemein‐
same Gestaltung, Steuerung und Überwachung von Prozessen in Netzwerk‐
ausschnitten, sodass sich die kooperative Zusammenarbeit nun über mehrere Partner
der Supply Chain hinweg erstreckt. Mittels eines besseren und intensiveren Informati‐
68
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Die vierte und letzte Entwicklungsphase ist die theoretisch höchste Evolutionsstufe
des Supply Chain Managements. Sie beinhaltet eine Synchronisation aller Prozesse
über das gesamte Netzwerk hinweg, sodass auf das Erreichen eines netzwerk‐
übergreifenden Gesamtoptimums abgezielt wird. Um eine vollständige Synchronisati‐
on zu erreichen, müssten die beteiligten Partner alle Informationen vollständig offen
legen und für die Steuerung des gesamten Netzwerks wäre eine neutrale Instanz er‐
forderlich. Dafür wäre es notwendig, dass die einzelnen Partner ihre Steuerungsauto‐
nomie weitestgehend aufgeben und die zentral vorgegebenen Pläne umsetzen. Ein
weiteres Problem der Supply Chain Synchronisation besteht in der Überlagerung
einzelner Supply Chains in verschiedenen Wertschöpfungsnetzwerken, da somit die
einzelnen Optimierungsbestrebungen miteinander in Konflikt geraten können. Da
diese ganzheitliche Steuerung für die heute in der Praxis weit verzweigten, globalen
Supply Chains als unrealistisch erscheint, ist diese vierte Entwicklungsphase lediglich
als Vision zu betrachten108. Die aufgezeigten Probleme verdeutlichen, dass eine er‐
reichbare Stufe der Supply Chain Integration die Optimierung von Netzwerkaus‐
schnitten und somit die dritte Entwicklungsphase darstellt.
69
Logistikkonzeption
2
Einen wichtigen Aspekt im Supply Chain Management stellt die gemeinsame Ab‐
stimmung mittels Planung, Steuerung und Kontrolle durch einen intensiven Informa‐
tionsaustausch dar. Sollen in einer Supply Chain vollständige, durch Verträge festge‐
legte formale Abstimmungsmechanismen bestehen, so muss die Komplexität gering
sein und die Handelnden müssen über vollständige Rationalität verfügen. Diese Vo‐
raussetzungen sind in einer realen Supply Chain jedoch nicht gegeben. Neben den
vertraglich geregelten formalen Abstimmungsmechanismen in einer Supply Chain
existieren mit Macht und Vertrauen auch informelle Mechanismen110. Macht mit den
Formen Belohnung, Expertentum oder Bekanntheitsgrad bedeutet die Fähigkeit, das
Verhalten des Partners direkt beeinflussen zu können. Die Ausübung von Macht kann
durch ein dominantes Mitglied der Supply Chain erfolgen. Es besteht jedoch das Risi‐
ko der Benachteiligung der schwächeren Partner, auch wenn für die gesamte Supply
Chain dennoch ein Optimum erzielt wird. Für eine erfolgreiche Supply Chain sollte
jedoch nicht Macht, sondern gegenseitiges, auf der normativen Ebene festgelegtes
Vertrauen die Basis darstellen. In vertrauensvollen Beziehungen können beispielswei‐
se eine Komplexitätsreduktion, die Übernahme von Verantwortung, eine verbesserte
Kommunikation und Kooperation sowie eine Kostensenkung leichter realisiert wer‐
den. Die größte Gefahr für eine auf Vertrauen basierende Beziehung geht vom Poten‐
zial an Opportunismus aus. Opportunismus kann jedoch vermieden werden, indem
die Partner in einer Supply Chain sorgfältig ausgewählt werden, um eine Win‐Win‐
Situation zu erreichen.
70
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Chain Management dar und besteht aus drei Ebenen, die verschiedene Zeithorizonte
umfassen und sich in die Aufgabenbereiche Gestaltung (Supply Chain Design), Pla‐
nung (Supply Chain Planning) und Ausführung (Supply Chain Execution) unter‐
gliedern111 (vgl. Abbildung 2‐14).
Gestaltung:
Die Gestaltungsebene, das Supply Chain Design, beinhaltet die strategische, lang‐
fristige Netzwerkgestaltung ausgerichtet an den Zielen und der Strategie der
Supply Chain. Durch die Auswahl und kapazitative Auslegung von geeigneten
Beschaffungs‐, Produktions‐ und Lagerstandorten soll ein realitätsnahes Modell
der Supply Chain abgebildet werden. Basierend auf der Simulation von „what‐if‐
Szenarien“ und deren Bewertung können Entscheidungen wie beispielsweise zu
Investitionen, der räumlichen Anordnung von Produktionsstätten und Lager‐
standorten, zur Auswahl potenzieller Partnerunternehmen und Informationssy‐
stemen, oder auch zu Funktionsausgliederungen und Kapazitätsentscheidungen
getroffen werden. Diese Ebene stellt die Rahmenbedingungen und Informationen
für die beiden unteren Ebenen bereit.
71
Logistikkonzeption
2
Planung:
Supply Chain Planning (SCP) umfasst die taktische und operative Planungsebene
und befasst sich mit mittelfristigen Entscheidungen für einen zeitlichen Horizont
von einem Vierteljahr bis zu einem Jahr. Ziel ist es, die gesamte Supply Chain in‐
nerhalb der durch das Supply Chain Design vorgegebenen Rahmenbedingungen
zu optimieren. Auf dieser Ebene fallen Entscheidungen, um Produktions‐ und
Logistikaufgaben effektiv den Produktions‐ und Logistikressourcen zuzuordnen.
Die Planungsaufgaben lassen sich in die Teilaufgaben Bedarfs‐, Netzwerk‐, Be‐
schaffungs‐, Produktions‐ und Distributionsplanung, Order Promising, Feinpla‐
nung für Beschaffung, Produktion und Distribution sowie kollaborative Planung
unterteilen.
Aufgabe der Netzwerkplanung (Network Planning) ist die Optimierung der Zu‐
ordnung von Kapazitäten zum existierenden und prognostizierten Bedarf und die
Bestimmung der aus dem Planungsergebnis resultierenden Distributionsanfor‐
derungen. Verantwortlich für diese Koordination ist meist derjenige Partner in der
Supply Chain, welcher den höchsten Wertschöpfungsanteil aufweist oder sich in
unmittelbarer Nähe zum Endkunden befindet. Das Ergebnis der Netzwerk‐
planung ist eine Zuordnung von Produkten und Produktionsvolumina zu einem
Standort und stellt den Input für die detaillierten Planungsaufgaben in der Be‐
schaffung, Produktion und Distribution dar.
72
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Die Beschaffungsfeinplanung (Supply Planning short term) bezieht sich auf die
Minimal‐ und Maximalbestände der übergeordneten Beschaffungsplanung und
setzt diese in die werkseigene Beschaffungsplanung an einem Standort um. Dies
umfasst z. B. eine Planung der Anliefermengen der benötigten Bedarfe auf Stun‐
den‐ oder Tagesbasis, wobei alle internen und externen Restriktionen beachtet
werden müssen, um die Anlieferungen zu optimieren. Die Produktionsfeinpla‐
nung (Production Scheduling short term) nutzt die Ergebnisse aus der überge‐
ordneten Produktionsplanung. Es werden unter Berücksichtigung der Verfügbar‐
keiten von Personal, Maschinenkapazitäten und Material konkrete Fertigungs‐
oder Montageaufträge festgelegt, terminiert und freigegeben. Gegenstand der
73
Logistikkonzeption
2
Distributionsfeinplanung (Distribution Planning short term) ist die Lieferung des
richtigen Produkts, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort, in der richtigen
Menge und in der richtigen Qualität. Dafür werden die Ergebnisse der Distributi‐
onsplanung verfeinert und es erfolgen die optimierte auftragsbezogene Festle‐
gung der Transportmittel, die Bestimmung der Touren und der Beladung zur
termingerechten Kundenbelieferung inkl. einer Exportunterstützung.
Ausführung:
Die Ausführungsebene dient der Prozessabwicklung sowie der Auskunftsfähig‐
keit und stellt die operativ‐exekutive Ebene dar, die nach Abschluss der Planungs‐
aktivitäten folgt. Die Komponenten der Ausführungsebene unterstützen die ope‐
rative Arbeit, sodass die Partner der Supply Chain flexibel und in Echtzeit auf Än‐
derungen externer Rahmenbedingungen reagieren können. Das Supply Chain
Execution setzt dafür Kommunikations‐, Visualisierungs‐, E‐Business und E‐
Commerce‐Lösungen zur Unterstützung der operativen Aufgaben im Hinblick
auf die Disposition und Auftragsabwicklung innerhalb einer Supply Chain ein.
Entscheidungen werden kurzfristig, meistens täglich getroffen und beziehen sich
auf die Auftrags‐, Lager‐, Fertigungs‐ und Transportabwicklung. Dabei werden
zeit‐ und mengengenaue Vorgaben zur Ausführung dieser Prozesse erstellt, wobei
ERP‐ bzw. PPS‐Systeme diese Aufgaben unterstützen.
74
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Die Transportabwicklung ist eng mit der Transportplanung verbunden und er‐
möglicht die flexible Steuerung der überbetrieblichen Transportströme auf der
Beschaffungs‐ als auch auf der Distributionsseite nach unterschiedlichen Ziel‐
kriterien wie beispielsweise Transportkosten oder ‐zeiten. Des Weiteren werden
die Transportdokumente und Lieferscheine erstellt sowie Abholzeitfenster und
die Reihenfolge für die Ver‐ und Entladung festgelegt. Die Transportabwicklung
kann damit Aussagen über Intransit‐Bestände treffen sowie Informationen zum
Transportstatus abgeben.
Das Supply Chain Event Management (SCEM) besteht aus einer durchgängigen
Überwachung aller Aktivitäten innerhalb einer Supply Chain, um durch Früh‐
warnmechanismen Probleme in Echtzeit identifizieren und auch vorhersagen zu
können. Solche Probleme können z. B. Transportengpässe, Produktionsunter‐
brechungen oder ausverkaufte Lager bzw. Verkaufsflächen sein. Das SCEM
schließt die methodische Lücke zwischen der mittel‐ und kurzfristigen Planung
der Supply Chain und der operativen Prozessdurchführung. Die Einführung ei‐
nes wirksamen und erfolgreichen SCEM ist dabei sehr stark gekoppelt an die
Entwicklung der mobilen Vernetzung von Waren und Verkehrsträgern (z. B. Con‐
tainer) über die RFID‐Technologie116. Wichtige Hilfsmittel zur Umsetzung des
SCEM sind das Alert Management, Workflow Management und Tracking and
Tracing. Mit dem Alert Management kann eine frühzeitige Erkennung von Ab‐
weichungen zwischen Ist‐ und Soll‐Werten sichergestellt werden. Workflow Ma‐
nagement‐Systeme dienen der elektronischen Überwachung von Arbeitsabläufen
und mit Tracking‐and‐Tracing‐Systemen erfolgt eine Sendungsverfolgung und es
wird die zeitliche und örtliche Transparenz von Gütern innerhalb eines Trans‐
portprozesses ermöglicht. Events basieren auf von Monitoring‐Systemen zurück‐
gemeldeten Statusinformationen, beispielsweise aus ERP‐ oder Tracking‐and‐
Tracing‐Systemen, und ermöglichen ein schnelles Reagieren auf Ausnahmesitua‐
tionen. Events können Abweichungen von geplanten Soll‐Zuständen und tatsäch‐
lichen Ist‐Zuständen aufzeigen. Dabei werden die entsprechenden Entschei‐
dungsträger selbstständig nur mit solchen Statusinformationen versorgt, die für
den spezifischen Entscheidungskontext relevant sind. Das SCEM unterstützt nicht
nur die Generierung und aktive Mitteilung von Events, sondern auch die not‐
wendigen Steuerungsfunktionen zur proaktiven Steuerung der Supply Chain. Es
75
Logistikkonzeption
2
werden Maßnahmen eingeleitet, um die durch das Event ausgelösten negativen
Konsequenzen zu minimieren oder die Eintrittswahrscheinlichkeit kritischer
Events zu reduzieren.
Ein erfolgreiches SCM setzt die Einführung eines Supply Chain Controllings
(SCC) voraus und somit die Nutzung von Instrumenten zur zielorientierten Steu‐
erung der Supply Chain. Das SCC fokussiert sein Aufgabenfeld über die Unter‐
nehmensgrenzen hinweg auf die gesamte Supply Chain und zielt auf die Koordi‐
nation und Steuerung aller beteiligten Partner zur Erreichung der gewünschten
Kooperationsvorteile. Dazu gehören die konzeptionelle Gestaltung und Koordi‐
nation eines die gesamte Supply Chain umfassenden Informationssystems zur
Schaffung einer einheitlichen Informationsbasis für alle beteiligten Partner sowie
eines transparenten Systems zur Planung und Kontrolle des Leistungs‐
erstellungsprozesses in der Supply Chain. Des Weiteren erfolgt eine Koordination
innerhalb des Planungs‐ und Kontrollsystems.
76
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Die Supply Chain Governance wird in der Literatur nicht immer klar vom Supply
Chain Management abgegrenzt, obwohl hier elementare Unterschiede zu nennen sind.
Das Supply Chain Management umfasst die Organisation der Material‐, Güter‐, In‐
formations‐ und Geldflüsse, konzentriert sich damit auf das operationelle Manage‐
ment sowie die strategische Koordination der Maßnahmen der Partner in der Unter‐
nehmensbeziehung und ist auf einen Wettbewerbsvorteil ausgerichtet. Supply Chain
Governance befasst sich mit den evolutionären Aspekten der Lieferkette und mit der
Kontrolle der Handlungen aller Partner, indem sie die Koordinierung der Abläufe
integriert und sicherstellt, dass die richtigen Strategien umgesetzt und kontrolliert
werden119.
2.4.3.1 Governance-Modi
In der wissenschaftlichen Literatur wird zwischen verschiedenen Ansätzen der
Governance unterschieden, welche Governance‐Modi (im Englischen Governance
Modes) genannt werden. Governance‐Modi beschreiben die Art wie Unternehmen
ihre Unternehmensbeziehungen koordinieren und steuern. Es wird zwischen der
hierarchischen Governance, der marktorientierten Governance und der Netzwerk‐
Governance unterschieden.
Hierarchische Governance
Der hierarchische Governance‐Modus bezieht sich auf ein klar strukturiertes
Governance‐System mit ungleicher Machtverteilung zwischen den Partnern. Der
mächtige Akteur in der Unternehmensbeziehung kann seine Partner durch Beloh‐
nungen und Strafen zu bestimmten Verhaltensweisen bewegen120. Häufig sind
Unternehmensbeziehungen, welche hierarchisch gesteuert werden, bürokratisch
organisiert und haben klare Prozessabläufe. Dabei werden häufig Verträge ver‐
wendet, welche bei der Prozessstrukturierung helfen, Belohnungen und Strafen
definieren und das Machtungleichgewicht verschärfen können121.
Marktorientierte Governance
Im marktorientierten Governance‐Modus orientieren sich die Akteure in ihren
Unternehmensbeziehungen an den sich im Markt entwickelnden Preisen. Die
Machtverhältnisse sind in der marktorientierten Governance ausgeglichen und
die Akteure können sich ohne größere Abhängigkeitsverhältnisse frei am Markt
77
Logistikkonzeption
2
bewegen. Die Unternehmensbeziehungen können daher von relativ kurzer Dauer
sein, da Lieferanten bspw. gewechselt werden, wenn dies aus finanzieller Perspek‐
tive sinnvoll erscheint. Langfristig angelegte Beziehungen sind eher selten und
auch soziale, zwischenmenschliche und zwischenbetriebliche Verbindungen spie‐
len eine untergeordnete Rolle bei der Koordinierung der Unternehmensbeziehun‐
gen122.
Netzwerk‐Governance
Neben dem hierarchischen Governance‐Modus und dem marktorientierten Go‐
vernance‐Modus gibt es noch einen dritten Modus, welcher zunächst als hybride
Form der beiden erstgenannten Modi aufgeführt wurde und sich entsprechend
der individuellen Ausprägung auf dem Hierarchie‐Markt‐Kontinuum bewegte123.
In der Forschung wurde der hybride Governance‐Modus von einem eigenständi‐
gen Governance‐Modus, dem Netzwerk‐Governance‐Modus, abgelöst124. In der
Netzwerk‐Governance werden die Akteure über ihre engen sozialen und persön‐
lichen Kontakte aneinander gebunden und über die sozialen Strukturen auch in
ihrem Verhalten beeinflusst. Die Akteure entwickeln in den langfristig ausgeleg‐
ten Unternehmensbeziehungen ein hohes Vertrauen zueinander und wissen viel
über die Bedürfnisse und die Möglichkeiten der Partnerunternehmen. Dies er‐
möglicht es sich besser auf die Partner einzustellen und ihnen in der Unterneh‐
mensbeziehung mit einer gegenseitigen Kompromissbereitschaft entgegenzu‐
kommen. Im Gegensatz zum marktorientierten Governance‐Modus werden im
Netzwerk‐Governance‐Modus langfristige Gewinne aus der bestehenden Unter‐
nehmensbeziehung über kurzfristige mögliche Profite gestellt125.
78
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
gen und bspw. die erwarteten Preise, Liefertermine und Qualitäts‐ oder Nachhaltig‐
keitsstandards beinhalten. Zudem können Verträge häufig auch Belohnungs‐ und
Bestrafungssysteme bei Übererfüllung bzw. Nichteinhaltung der Verträge umfassen.
Die Umsetzung von Verträgen kann mithilfe der formellen Kontrollmechanismen
überwacht werden. Dabei können bspw. die Produktionsprozesse der Partner dauer‐
haft oder auch mithilfe von Audits stichpunktartig kontrolliert werden. Alternativ
können stetig Wareneingangskontrollen durchgeführt werden, welche bspw. die Qua‐
lität der eintreffenden Waren überprüfen. Dadurch wird der Partner dazu gedrängt
die vereinbarten Qualitätsstandards einzuhalten, da die Ware sonst nicht angenom‐
men wird.127
79
Logistikkonzeption
2
2.4.3.3 Informelle Governance-Mechanismen
Die Koordinierung mithilfe von formellen Governance‐Mechanismen beruht zu gro‐
ßen Teilen auf Verträgen, weshalb sie häufig auch vertragliche Governance genannt
wird. Verträge und auch andere formelle Koordinierungsmechanismen sind jedoch
nicht immer vollständig und können trotz großer Fürsorge bei der Implementierung
Lücken enthalten. Zudem sind formelle Mechanismen relativ unflexibel und starr in
der Koordinierung, wenn Unternehmen und Supply Chains auf unerwartete Ereignis‐
se, wie bspw. Unterbrechungen in der Lieferkette aufgrund von Naturkatastrophen
oder Unfällen, reagieren müssen129.
Alle Mechanismen, welche zur Vertrauensbildung oder zur sozialen Identifikation mit
der Beziehung beitragen, können daher als informell bezeichnet werden132. Im Gegen‐
satz zu formellen Mechanismen müssen und können informelle Mechanismen nicht
vertraglich vereinbart oder offiziell in einer Beziehung eingeführt werden. Stattdessen
entwickeln sie sich mit der Zeit und können sich auch gegenseitig verstärken. Auf‐
grund ihres informellen Charakters ermöglichen informelle Mechanismen schnelle
Reaktionen auf unerwartete Ereignisse und machen die Steuerung und Koordinierung
von Unternehmensbeziehungen generell unkomplizierter, da sie eine selbstregulie‐
rende Wirkweise haben.
80
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
81
Logistikkonzeption
2
Zentralisierung
Liegt ein hoher Zentralisierungsgrad im Wertschöpfungsnetzwerk vor, dann ist
die Entscheidungsgewalt in wenigen Knoten des Netzwerks verankert. Da
zentralisierte Netzwerke bereits formelle Strukturen aufweisen, wird die Anwen‐
dung von formellen Mechanismen vereinfacht. Aufgrund der geringen Anzahl
von Entscheidungsträgern und der kurzen Informationswege wird auch der In‐
formationsaustausch erleichtert. Die Kontrolle und die Beeinflussung des Netz‐
werks durch das Anwenden von stärkeren Machtpositionen verhindern jedoch
den Aufbau von Vertrauen. Dagegen erscheint der Einsatz von informellen
Governance‐Mechanismen bei dezentralen Netzwerken effizienter, da diese auf
Vertrauen und Machtverteilung basieren.
Abhängigkeit
Innerhalb eines Wertschöpfungsnetzwerkes bestehen Abhängigkeiten zwischen
den beteiligten Unternehmen, die durch den unterschiedlichen Zugang zu Res‐
sourcen oder Kapazitäten entstehen. Der Grad, von dem fokale Unternehmen von
ihren Lieferanten abhängig sind, beeinflusst die Wahl des Governance‐Mecha‐
nismus. Falls sowohl Lieferanten als auch Unternehmen die gegenseitigen Ab‐
hängigkeiten nicht wahrnehmen, dann kann dies zu Zielkonflikten, wenig Enga‐
gement und Informationslücken führen. Aus diesem Grund sind der Aufbau von
transparenten Kommunikationskanälen, das Festlegen von gemeinsamen Zielen
und ein gemeinsames Verständnis der Zusammenarbeit insbesondere zu Beginn
der Lieferanten‐Käufer‐Beziehung entscheidende Instrumente, sodass bei hoher
Abhängigkeit des fokalen Unternehmens von den Lieferanten die Anwendung
von informellen Mechanismen empfehlenswert ist.
Diversität
Die Diversität der Supply Chain Partner spiegelt sich durch unterschiedliche Res‐
sourcen, technische Fähigkeiten und Expertise wider. Auch der Zugang zu Infor‐
mationen unterscheidet sich zwischen den Partnern im Wertschöpfungsnetzwerk.
Somit sind informelle Mechanismen wie Wissens‐ und Informationsaustausch
sowie Trainings durch das fokale Unternehmen geeignete Werkzeuge, um allen
Partnern den Zugang zu neuen Fähigkeiten und Ressourcen zu ermöglichen.
Netzwerkkomplexität
Mit steigender Anzahl der Partner und Verbindungen im Wertschöpfungsnetz‐
werk erhöht sich der Koordinations‐ sowie der Kontrollaufwand und somit die
Netzwerkkomplexität für fokale Unternehmen, sodass formelle Governance‐
Mechanismen wie z. B. Audits oder Verträge weniger effektiv sind. Da Lieferanten
unterschiedliche Prozesse und Fähigkeiten aufweisen, erhöht sich der Koordinati‐
onsaufwand bei der Implementierung von Audits und führt zu einer Erhöhung
der Transaktionskosten. Des Weiteren ist auch die Durchsetzung von umfangrei‐
chen Verträgen in unterschiedlichen Rechtssystemen schwer umsetzbar. Dagegen
steigern bei hoher Komplexität informelle Mechanismen die Effizienz, da auf‐
grund der Diversität die Lieferanten eher motiviert sind in informellen Zusam‐
82
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Dynamik
Unternehmen in einem schnell verändernden Marktumfeld weisen wenig Routi‐
nen und sich stetig ändernde Prozesse auf. Bei hoher Dynamik der Umfeldverän‐
derungen agieren Unternehmen eher proaktiv als reaktiv und suchen strategische
Partnerschaften mit Lieferanten, mit welchen langfristig nachhaltige Produkt‐ und
Prozessveränderungen vorgenommen werden können. Um eine enge Zusam‐
menarbeit mit den Lieferanten aufzubauen, eignet sich der Einsatz von informel‐
len Governance‐Mechanismen. Unternehmen, die in einem vorhersehbaren, stabi‐
len Marktumfeld agieren, zeichnen sich durch Routinen aus, welche eine effizien‐
te Ressourcennutzung zum Ziel haben. Hierbei eignet sich die Anwendung von
formellen Mechanismen, wie z. B. eine regelmäßige Überwachung oder Audits.
Stakeholderanforderung
Unternehmen müssen die Einhaltung von Standards auch für Stakeholder entlang
der Supply Chain transparent offenlegen, sodass eine genaue Datenerfassung bei
Partnern erfolgen muss. Hierbei sind formelle Mechanismen wie die Lieferanten‐
bewertung oder Audits effektiv. Darüber hinaus werden auch informelle Mecha‐
nismen benötigt, um Opportunismus und die Zurückhaltung von Daten durch ei‐
ne enge und auf Vertrauen basierte Zusammenarbeit zu vermeiden.
83
Logistikkonzeption
2
Unternehmen und auch zwischen den Unternehmen effizienter zu gestalten136. Im
Folgenden werden die Auswirkungen der Digitalisierung auf Wertschöpfungsnetz‐
werke und ihre Koordination mit Governance‐Mechanismen näher untersucht.
Die Digitalisierung und damit der Einsatz neuer Technologien verändert grundlegend
die Struktur und die Zusammenarbeit in Wertschöpfungsnetzwerken. Unternehmen
und Wertschöpfungsnetzwerke haben die Möglichkeit sich deutlich einfacher global
auszubreiten und können dank neuer Technologien eine rege Kommunikation und
einen umfangreicheren Informationsaustausch aufrechterhalten. Zudem bieten neue
Technologien auch neue Koordinierungsmöglichkeiten, wie bspw. die Governance von
Lieferketten mithilfe der Blockchain‐Technologie137. Generell hat die Digitalisierung
drei Haupteinflüsse auf die Supply Chain Governance: eine erhöhte Transparenz,
bessere Datenanalysen und eine Reduktion der persönlichen Kontakte138.
Transparenz
Die Transparenz in Wertschöpfungsnetzwerken wird aufgrund der Digitalisie‐
rung stark erhöht. Neue Technologien ermöglichen den stetigen und umfangrei‐
chen Austausch von Informationen und Daten. Dazu können bspw. auch Informa‐
tionssysteme von Unternehmen verknüpft werden, um automatisiert Daten aus‐
zutauschen139.
84
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
der Daten verhindern. Dies erfolgt insbesondere dadurch, dass die Partner wei‐
terhin Teil der Beziehung bleiben möchten und nicht das Risiko eingehen möch‐
ten, dass ihre opportunistischen Verhaltensweisen entdeckt werden könnten141.
Datenanalyse
Ein weiterer großer Effekt der Digitalisierung, welcher sich auf die Governance
auswirkt, ist die stark verbesserte Datenanalyse dank Big Data Analytics. Unter‐
nehmen tauschen stetig und teils automatisiert Daten aus, welche analysiert wer‐
den können, um in unternehmensübergreifenden Beziehungen bei Entschei‐
dungsprozessen zu unterstützen142. Die Daten werden nach dem Austausch ge‐
sammelt und strukturiert. Anschließend wird der komplette Datensatz gereinigt,
z. B. durch Löschen von redundanten oder unvollständigen Datensätzen. Der Da‐
tensatz kann danach mithilfe verschiedener Ansätze analysiert werden, um neues
Wissen aus den Datenmengen zu extrahieren. Dieses neu generierte Wissen kann
bspw. bessere Nachfrageprognosen umfassen oder eine frühzeitige Identifikation
von Lieferkettenunterbrechungen oder anderen Herausforderungen ermögli‐
chen143. Mithilfe der Datenanalyse und des so neu generierten Wissens sind bes‐
sere und schnellere Entscheidungsprozesse möglich, welche die Koordinierung
und die Governance von Wertschöpfungsnetzwerken vereinfachen.
Während der automatisierte Austausch von Daten und deren Analyse zur besse‐
ren und schnelleren Entscheidungsfindung einen großen Vorteil bei der Koordi‐
nierung von Unternehmensnetzwerken darstellen, gibt es auch Herausforderun‐
gen, welche dadurch entstehen. Im speziellen Fokus für die Supply Chain Gover‐
nance steht dabei, dass die Mitarbeitenden der einzelnen Unternehmen sich
seltener persönlich austauschen144. Die Grundlage zum effektiven Einsatz infor‐
meller Governance‐Mechanismen ist jedoch eine gute, persönliche und vertrau‐
ensvolle Beziehung der Partner145. Durch automatisierte Datenaustäusche anstatt
von Telefonaten, E‐Mails oder persönlichen Treffen wird dieser persönliche Kon‐
takt reduziert. Zudem sind Entscheidungsprozesse in der Regel von einem inten‐
siven Austausch der Partner geprägt, um für alle Beteiligten eine passende Ent‐
scheidung zu treffen. Diese Entscheidungsprozesse können aufgrund der verbes‐
serten Datenanalyse zunehmend datengetrieben und weniger im persönlichen
Austausch durchgeführt werden.
Persönliche Kontakte
Der reduzierte persönliche Kontakt innerhalb von Unternehmensbeziehung stellt
daher auch den dritten großen Einflussfaktor der Digitalisierung auf die Gover‐
nance dar. Unternehmensübergreifende Transaktionen können dank der Digitali‐
85
Logistikkonzeption
2
sierung deutlich effektiver und effizienter durchgeführt werden. Dabei spielt spe‐
ziell der Einfluss der Digitalisierung auf die veränderte Häufigkeit und die Art
von zwischenmenschlichen Kontakten in Unternehmensbeziehungen eine große
Rolle146. In konventionellen, nicht digitalisierten Unternehmensbeziehungen fin‐
den regelmäßig persönliche Treffen, z. B. im Rahmen von gemeinsamen Meetings,
Geschäftsreisen oder Konferenzen statt. Vor, zwischen und nach den offiziellen
Programmpunkten dieser Veranstaltungen finden auch persönliche, zwischen‐
menschliche Gespräche statt, welche keiner klaren Agenda folgen und einen in‐
formellen Charakter haben. Diese informellen Gespräche können zusätzliche,
nicht offizielle Informationen offenlegen und die tatsächlichen Absichten der Ge‐
schäftspartner offenbaren147. Durch die Digitalisierung entfallen diese informellen
Gespräche teilweise, da die offiziellen zwischenbetrieblichen Veranstaltungen
häufig durch digitale Kommunikation oder einen automatisierten Datenaustausch
ersetzt werden.
Neben Smart Contracts ermöglicht die Digitalisierung auch eine verbesserte Kontrolle
innerhalb von Wertschöpfungsnetzwerken mithilfe digitaler Überwachungsmöglich‐
keiten151. Durch den stetigen, teils automatisierten Austausch von Daten und Informa‐
tionen haben Unternehmen einen besseren Einblick in die Aktivitäten der Partner. Bei
Nicht‐Einhaltung von Vereinbarungen oder Verträgen können Unternehmen leichter
86
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
und schneller die Missstände erkennen und entgegenwirken. Diese verbesserten Kon‐
trollmöglichkeiten können dazu führen, dass Unternehmen sich zuverlässiger an ihre
vertragliche Vereinbarung halten. Durch die verbesserten digitalen, formellen Kon‐
trolloptionen werden daher informelle Mechanismen seltener verwendet, um die Um‐
setzung von Verträgen durchzusetzen.
Während die formellen Mechanismen durch die Automatisierung von Verträgen mit‐
hilfe von Smart Contracts und durch neue Überwachungsmöglichkeiten an Bedeutung
gewinnen, wird die Anwendung informeller Governance‐Mechanismen durch die
Digitalisierung behindert. Der durch neue Informations‐ und Kommunikationstechno‐
logien reduzierte persönliche Kontakt zwischen den Unternehmen erschwert die Ent‐
stehung einer engen und vertrauensvollen Beziehung zwischen den Akteuren152. Die‐
se enge und vertrauensvolle Beziehung stellt die Basis zur Koordination mit informel‐
len Mechanismen dar153.
Ein weiterer Aspekt, der die fortwährende Bedeutung informeller Mechanismen un‐
terstreicht ist die Möglichkeit, die tatsächlichen Intentionen der Partner mit informel‐
len Mechanismen besser erfassen zu können. Während viele Gespräche und Dienstrei‐
sen durch die digitale Kommunikation abgelöst werden können, ist es dennoch not‐
87
Logistikkonzeption
2
wendig mit den Partnern regelmäßig persönlich in Kontakt zu treten. Durch inoffiziel‐
le Gespräche können Inhalte ausgetauscht werden, welche z. B. nicht im E‐Mail‐
Verkehr Platz finden würden. Dabei können durch die nonverbale Kommunikation
auch zusätzlich die tatsächlichen Intentionen der Partner erkannt werden.
Die Digitalisierung hat demnach einen sehr großen Einfluss auf Wertschöpfungsnetz‐
werke und ihre Koordination mit Governance‐Mechanismen. Zusammenfassend lässt
sich eine deutliche Vereinfachung und Verbesserung der Koordinierung mit formellen
Governance‐Mechanismen feststellen. Der Einsatz informeller Mechanismen wird
zwar durch die Digitalisierung erschwert, jedoch ist er dennoch notwendig, um auf
unerwartete Ereignisse flexibel reagieren zu können und die tatsächlichen Intentionen
der Partner besser einschätzen zu können155.
Corporate Social Responsibility präzisiert die Art und Weise, wie Unternehmen ge‐
genüber verschiedenen internen und externen Anspruchsgruppen (Stakeholder) Ver‐
antwortung übernehmen müssen157. Diese Anspruchsgruppen unterscheiden sich
hinsichtlich deren Bedeutung für das Unternehmen, wobei eine gänzliche Befriedi‐
gung der Ansprüche aller Stakeholder jedoch nicht möglich ist, da deren prinzipiell
uneingeschränkten Ansprüchen die Knappheit von Gütern gegenübersteht. Aus die‐
sem Grund sollte die Verteilung der erwirtschafteten Wertschöpfung so erfolgen, dass
die Ressourcenlieferung der Stakeholder auf möglichst wirtschaftliche Weise nachhal‐
tig sichergestellt wird. Insbesondere kann eine Vereinbarung unternehmerischer Ziele
mit Stakeholder‐Interessen zu Win‐win‐Situationen für das Unternehmen und für
seine Stakeholder führen. Unternehmen sollen im Sinne der CSR jedoch nicht nur
Verantwortung für ihre Stakeholder übernehmen, sondern der Befriedigung der Be‐
dürfnisse der Gesellschaft als Ganzes dienen. Somit sollen Unternehmen Verantwor‐
tung für ihr wirtschaftliches Handeln und deren Auswirkung auf die soziale und
ökologische Umwelt übernehmen.
Die soziale Verantwortung bzw. die soziale Nachhaltigkeit beinhaltet die Berücksichti‐
gung der sozialen Wirkungen des wirtschaftlichen Handelns auf die Umwelt. Dazu
88
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
Sustainability Governance ist ein Teilbereich der Governance und stellt ein Regelwerk
für die Koordinierung und Gestaltung sowohl der internen als auch externen Unter‐
nehmensbeziehungen dar, um die ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhal‐
tigkeitsziele umzusetzen160.
2.4.4.1 Nachhaltigkeitsstandards
Nachhaltigkeitsstandards beinhalten einerseits die von Regierungen aufgestellten
minimalen sozialen und ökologischen Standards und umfassen andererseits auch die
von Unternehmen freiwillig aufgestellten, über regulatorische Standards hinausge‐
hende Anforderungen. Unternehmen, welche bestimmte Zertifizierungen vorweisen
können, erhalten die Legitimität für ihr wirtschaftliches Handeln und das Unterneh‐
men wird in der Außenwirkung als nachhaltig repräsentiert. Daraus können wirt‐
schaftliche Vorteile wie z. B. eine höhere Kundenbindung resultieren. Nachhaltigkeits‐
standards tragen auch dazu bei die Unsicherheiten in der Supply Chain zu minimie‐
ren, da insbesondere bei Zertifizierungsstandards die Informationsasymmetrie abge‐
baut und somit die Transparenz erhöht werden161.
89
Logistikkonzeption
2
geprüft. Ein Beispiel für einen Zertifizierungsstandard für soziale Verantwortung ist
die von der Social Accountability International entwickelte Norm Social Accountabili‐
ty 8000 (SA8000), welche Zwangs‐ und Kinderarbeit, Gesundheit und Sicherheit, Ver‐
einigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen, Diskriminierung, Disziplinarmaßnah‐
men, Arbeitszeiten, Lohnniveau und Managementsysteme umfasst. Die Global Re‐
porting Initiative (GRI) repräsentiert Berichterstattungsstandards für die Nachhaltig‐
keitsberichterstattung aller Organisationen, der weltweit Anwendung findet. Dieser
Berichtsrahmen inkl. des Leitfadens (Sustainability Reporting Guidelines) enthält
Prinzipien und Indikatoren, welche die Unternehmen zur Messung ihrer ökonomi‐
schen, ökologischen und sozialen Leistungsfähigkeit nutzen können, unabhängig von
der Branche, Größe oder dem Standort des Unternehmens. Ziel ist die Erstellung eines
Nachhaltigkeitsberichts der umfassend über die ökonomischen, ökologischen und
sozialen Auswirkungen von Organisationen informiert. Es soll der Vergleich der Leis‐
tungsfähigkeit von Organisationen im Kontext der nachhaltigen Entwicklung im Sinne
des Benchmarkings163 ermöglicht werden.
90
2.4
Wertschöpfungsnetzwerke
lend ist auch, dass die sozialen Ziele bisher weniger Beachtung in der Literatur
finden. Die Hauptmotivation von Unternehmen für eine nachhaltige Lieferketten‐
gestaltung resultiert oftmals aus dem Druck der Stakeholder wie Kunden oder
Regierungen. Reputationsschäden, die aus nicht sozialen oder umweltschädlichen
Produktionspraktiken resultieren können, sollen durch die Etablierung von
Nachhaltigkeitsstandards reduziert werden. Einige Partner im Wertschöpfungs‐
netzwerk hingegen fokussieren den Kostenaspekt und richten daran ihr Handeln
aus. Die verschiedenen Zielkonflikte und starres Festhalten an unternehmensei‐
genen Zielen lassen sich jedoch durch eine enge, transparente und vertrauensvolle
Zusammenarbeit reduzieren. Eine enge Kollaboration ermöglicht ein besseres
Verständnis über die Prozesse der Partner, die zu einer wirksameren Abstimmung
innerhalb des Netzwerkes führen kann. Die genaue Auswahl und Bewertung von
möglichen Partnern stellt einen entscheidenden Schritt für die spätere Etablierung
von gemeinsamen Nachhaltigkeitszielen dar und legt die Grundlagen für den
Austausch von Wissen und Technologie. Dabei erfolgt z. B. ein Abgleich der mög‐
lichen Partner mit den unternehmenseigenen Verhaltensrichtlinien, um die Kom‐
patibilität in der späteren Zusammenarbeit zu garantieren. Durch gemeinsame
Entscheidungen und eine ganzheitliche Betrachtung des Wertschöpfungsnetz‐
werks können die verschiedenen Zielsetzungen der Partner berücksichtigt und
harmonisiert werden. Die Überwachung und die Überprüfung der vereinbarten
Ziele kann z. B. über Audits durch das Hauptunternehmen bei den Lieferanten
vorgenommen werden165.
Hohe Investitionskosten
Für eine proaktive Etablierung von Nachhaltigkeitsstandards in Wertschöpfungs‐
netzwerken fallen zunächst hohe Investitionskosten an, die Unternehmen von de‐
ren Umsetzung abhalten können. Die Implementierung von nachhaltigen Struktu‐
ren kann jedoch zu einer Steigerung des Umsatzes führen, da Kunden eine höhere
Zahlungsbereitschaft für nachhaltig produzierte Produkte zeigen. Die damit ver‐
bundenen Investitionskosten werden sich jedoch nur langfristig amortisieren. Ei‐
ne entsprechende Verteilung der anfallenden Kosten und Gewinne muss von An‐
fang an mit berücksichtigt werden. Investitionen in grüne Technologien bei Supp‐
ly Chain Partnern können auch durch die Weiterleitung oder das Aufteilen von
staatlichen Erleichterungen incentiviert werden166.
165 Vgl. SOUNDARARAJAN ET AL. (2021); BEYERS ET AL. (2022), ZAREI ET AL. (2020); NI/ SUN (2018).
166 Vgl. CHOI ET AL. (2018); DING ET AL. (2018); YOUNIS ET AL. (2020); WU (2016); ZAREI ET AL.
(2020).
91
Logistikkonzeption
2
laborativen Mechanismen auf die Nachhaltigkeit in Netzwerken begrenzt ist, so‐
dass regulatorische Maßnahmen und Standards trotzdem erforderlich sind167.
Mit Hilfe einer einfachen Wertschöpfungskette, die nur aus einem Produzenten,
Distributor, Großhändler, Einzelhändler und dem Kunden besteht, konnte FORRESTER
das Problem der Nachfrageverzerrung und ‐aufschaukelung in unternehmensüber‐
greifenden Wertschöpfungsketten nachweisen. Obwohl sich die Kundenbestellmengen
nur gering erhöhen und anschließend einen konstanten Verlauf aufweisen, schaukeln
sich auf jeder weiteren Stufe stromaufwärts der Wertschöpfungskette die Bestell‐
mengen und Lagerbestände überproportional auf (vgl. Abbildung 2‐15).
Der Bullwhip‐Effekt lässt sich mit dem Beergame simulieren, indem den Teilnehmern
eine Rolle innerhalb einer vierstufigen Wertschöpfungskette, bestehend aus Brauerei,
Distributor, Groß‐ und Einzelhändler zugewiesen wird. Die Partner in der
Wertschöpfungskette können frei entscheiden, wie viel sie bestellen bzw. produzieren
wollen. Das Ziel besteht darin, dass in jeder Runde die Bestellmengen der
nachgeordneten Partner möglichst gut erfüllt werden und die Gesamtkosten,
bestehend aus Lagerhaltungs‐ und Fehlmengenkosten, minimiert werden. Den
Partnern in der Wertschöpfungskette sind immer nur diejenigen Bestellmengen
bekannt, die sie selbst betreffen. Die Kommunikation zwischen den Partnern besteht
somit aus der Erteilung von Bestell‐ bzw. Produktionsaufträgen und das Verschicken
von Lieferungen. Allerdings treffen die in einer Runde bestellten Mengen erst nach
einer Verzögerung von zwei Runden ein. Kapazitätsbeschränkungen, unvorher‐
gesehene Produktionsausfälle, Qualitätsprobleme oder Änderungen in den Liefer‐
zeiten werden außer Acht gelassen. Steigt ein relativ konstanter Bedarfsverlauf des
Endkunden nach Bier einmalig auf ein höheres Niveau an, dann ergeben sich
beispielhaft die in der Abbildung 2‐15 angegebenen Ergebnisse eines Spieldurchlaufs
mit 30 Runden.
92
2.5
Der Bullwhip-Effekt
Brauerei Brauerei
Produktionsmenge
120 100
100
Lagerbestand
80 50
60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20 ‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100
Perioden Perioden
Distributor Distributor
120 100
Bestellmenge
100
Lagerbestand
80 50
60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20 ‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100
Perioden Perioden
Großhändler Großhändler
120 100
Bestellmenge
100
Lagerbestand
80 50
60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20 ‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100
Perioden Perioden
Einzelhändler Einzelhändler
120 100
Bestellmenge
100
Lagerbestand
80 50
60
0
40
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
20
‐50
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 ‐100
Perioden Perioden
Kunde
120
Bestellmenge
100
80
60
40
20
0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29
Perioden
93
Logistikkonzeption
2
Folgende drei Verhaltensmuster können in der Supply Chain festgestellt werden:
Die Amplitude und die Varianz in den Bestellungen erhöhen sich stetig vom
Kunden über den Einzelhändler bis zur Brauerei. Die Höchstproduktion der
Brauerei ist sehr viel höher als die Spitzenbestellung des Einzelhändlers.
Die Bestellmengen und die Lagerbestände fluktuieren, es ergibt sich eine Schwin‐
gungskurve mit einer Schwingungsdauer von etwa 20 Wochen.
Beispiel 2.5.1:
Anfang der 1990er Jahre hat der Konsumgüterhersteller Procter & Gamble den Bull‐
whip‐Effekt anhand der Bestellmengen von Pampers‐Windeln erstmals in der Praxis
nachgewiesen. Der Logistikabteilung des Unternehmens ist aufgefallen, dass die Be‐
stellmengen der Großhändler, die von Procter & Gamble beliefert werden, unregelmä‐
ßige Schwankungen aufweisen, obwohl die Marktnachfrage, die durch die Babys aus‐
gelöst wird, konstant ist. Dadurch ist es zu Schwierigkeiten in der Kapazitätsplanung
und zum Aufbau von Beständen bei Procter & Gamble gekommen. Untersuchungen
der Supply Chain haben ergeben, dass die Bestellmengenschwankungen auf der Stufe
der Einzelhändler noch relativ gering sind, sich auf der Stufe der Großhändler vergrö‐
ßern und die Bestellmengen, die Procter & Gamble seinen Zulieferern übermittelt,
noch stärker schwanken. Eine Analyse hat ergeben, dass die Bestellmengen bereits
nach der ersten Stufe, dem Einzelhändler, nicht mehr mit dem ursprünglichen Bedarf
der Babys korrelieren und die Varianz der Nachfrage von Stufe zu Stufe größer
wird169.
94
2.5
Der Bullwhip-Effekt
95
Logistikkonzeption
2
ren zu einer verspäteten Reaktion bzw. Unter‐ oder Überschätzungen von Trends und
Saisoneinflüssen und verstärken somit das Aufschaukeln der Nachfrage entlang der
Wertschöpfungskette. Falls zusätzlich lange Lieferzeiten bestehen, wird die prognosti‐
zierte Menge noch um Sicherheitsbestände erhöht. Die Prognosen verzerren sich im‐
mer stärker, je weiter man sich flussaufwärts in der Lieferkette befindet, denn die
Prognosen der Partner basieren wiederum auf (fehlerhaften) Prognosen seines unmit‐
telbaren Nachfolgers flussabwärts in der Wertschöpfungskette.
Eine Verbesserung der Prognosequalität kann dadurch erzielt werden, indem die
Nachfragedaten am Ende der Wertschöpfungskette allen Partnern zur Verfügung
gestellt werden. Durch diese Transparenz kennt jeder Partner in der Wertschöpfungs‐
kette die tatsächliche Nachfrage beim Endkunden und kann seine Planung darauf
abstimmen. Eine zwischen den Partnern abgestimmte und transparente Prognose
kann beispielsweise mit dem CPFR‐Konzept171 realisiert werden. Dadurch können
genauere Prognosen erstellt, die Lagerbestände gesenkt und Kapazitäten genauer
geplant werden. Es wird vermieden, dass ein Partner innerhalb der Wertschöpfungs‐
stufe etwas prognostizieren muss, was bei einem anderen Partner bereits bekannt ist.
Eine andere Möglichkeit besteht im Direktverkauf an Endkunden, um an die relevan‐
ten Nachfragedaten zu gelangen.
96
2.5
Der Bullwhip-Effekt
ringern. Weiterhin lassen sich geringere Transportkosten durch die Lieferung ganzer
Wagenladungen mit Mischpaletten erzielen. Lieferanten können die Auftragsbünde‐
lungen auch dadurch vermeiden, dass sie auf Mindestbestellmengen verzichten.
Aufträge
Durchschnittliche
Nachfrage
Tatsächliche
Nachfrageschwankung
Induzierte Nachfrage‐
schwankung durch unter‐
schiedliche Bestellperioden
Zeit
2.5.1.5 Preisschwankungen
Hersteller und Distributoren bieten in periodischen Abständen immer wieder beson‐
dere Angebote, wie beispielsweise Preissenkungen, Mengenrabatte, Coupons oder
Boni an, die in Preisschwankungen resultieren. Ebenso werden größere Mengen auf
Vorrat gekauft, wenn man zukünftige Preisanstiege befürchtet. Oft werden daher
Waren nicht bestellt wenn sie benötigt werden, sondern wenn sie gerade günstig zu
erwerben sind. Als Ergebnis ergeben sich erhöhte Bestellmengen, die nicht den aktuel‐
len Bedarf widerspiegeln. Die Nachfrage erhöht sich kurzzeitig, bricht nach der Ver‐
97
Logistikkonzeption
2
kaufsaktion aber in der Regel stark ein und stimmt nicht mehr mit dem eigentlichen
Bedarf überein.
Als geeignete Gegenmaßnahme sollten die Lieferanten fixe Preise festlegen, sodass
überhöhte Bestellmengen durch Preissenkungen oder angekündigte Preiserhöhungen
vermieden werden. Diese Fixpreis‐Strategie wird als Every Day Low Price (EDLP)‐
Strategie bezeichnet und ermöglicht eine stabile Nachfrage. Bei dieser Strategie wer‐
den die Preise anfänglich etwas reduziert und bleiben dann auf diesem niedrigeren
Niveau. Ein Kauf auf Vorrat lohnt sich nun für den Kunden nicht mehr und die Ab‐
verkaufsdaten spiegeln den realen Endkundenbedarf wider. Preisnachlässe sollten
auch so gestaltet sein, dass sie sich nicht nur auf komplette Paletten und Lkw‐
Ladungen, sondern auch auf mehrere Teillieferungen beziehen. Dadurch können Si‐
cherheitsbestände reduziert und eine gleichmäßige Nachfrage gewährleistet werden.
2.5.1.6 Mengenkontingentierung
Übersteigt die Nachfrage das Angebot eines Lieferanten, dann rationiert der Lieferant
die Bestellmengen (shortage gaming, rationing) i. d. R. im Verhältnis zu den bestellten
Mengen. Vermutet ein Kunde eine Mengenrationierung, dann wird dieser seine Be‐
stellmengen soweit erhöhen, bis er unter Berücksichtigung der Kontingentierung seine
benötigte Bestellmenge erhält. Beim Lieferanten entsteht dadurch der Eindruck einer
höheren Nachfrage, die er bei seiner zukünftigen Planung fälschlicherweise berück‐
sichtigt. Wenn sich die Angebotslage wieder entspannt hat, dann fallen plötzlich die
Bestellmengen wieder zurück oder Bestellungen werden sogar storniert.
98
2.5
Der Bullwhip-Effekt
aufgrund des konstanten Bedarfs des Endkunden für die Prognose des zukünftigen
Bedarfs dˆt 1 das Verfahren der gleitenden Durchschnitte – ausgehend von der Periode
t für die letzten n Perioden – verwendet:
t
di
dˆt 1 i t n 1
n
Unter Berücksichtigung der Lieferzeit L gilt für die vom Einzelhändler geschätzte
Kundennachfrage dˆt 1 L dˆt 1 .
L
der Lieferzeit L und k der vom ‐Servicegrad abhängige Sicherheitsfaktor. Für das
Verhältnis der Varianzen gilt nun173
Var (q) 2 L 2 L2
1 2
Var (d ) n n
Es ist deutlich zu erkennen, dass eine längere Lieferzeit L zu einer Erhöhung der rela‐
tiven Varianz führt und somit eine wesentliche Ursache für den Bullwhip‐Effekt dar‐
stellt. Die relative Varianz lässt sich mit einer größeren Anzahl n an Beobachtungen
reduzieren. Dies hat allerdings zur Folge, dass immer weiter in der Vergangenheit
liegende Verbrauchswerte in die Schätzung der zukünftigen Kundennachfrage einbe‐
zogen werden und somit die Prognose nicht dem aktuellen Bedarf entspricht.
Eine zentrale bzw. dezentrale Bereitstellung der Bedarfsinformation hat ebenfalls Aus‐
wirkungen auf die Erhöhung der Varianz. Werden die Bedarfsinformationen z. B. mit
Hilfe des CPFR‐Konzepts zentral bereitgestellt, dann verfügen alle Partner in der
Wertschöpfungskette über eine zwischen den Partnern abgestimmte und transparente
Bestellprognose des Einzelhändlers. Für die Varianz der Bestellmengen der Stufe j der
Wertschöpfungsstufe im Verhältnis zur Varianz der Kundennachfrage gilt dann174:
j j
j 2 Li 2( Li ) 2
Var (q ) i 1 i 1
1
Var ( d ) n n2
99
Logistikkonzeption
2
Mit Li wird die Lieferzeit zwischen den Stufen i und i+1 bezeichnet. Die Varianz der
Bestellmengen einer Stufe j in der Wertschöpfungskette ist somit eine mit der Summe
der Lieferzeiten zwischen dem Einzelhändler und der Stufe j ansteigende Funktion.
Var (q j ) j 2 L 2 L2
(1 i 2i )
Var ( d ) i 1 n n
Auch in diesem Fall entspricht Li der Lieferzeit zwischen den Stufen i und i+1. Es ist
ersichtlich, dass sich auf jeder Stufe j der Wertschöpfungskette die relative Varianz bei
der dezentralen Bedarfsinformation multiplikativ erhöht und somit deutlich höher an‐
steigt als bei einer zentralen Bedarfsinformation.
Beispiel 2.5.2:
100
2.6
Literaturhinweise
2.6 Literaturhinweise
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107
3 Prozessketten in der Logistik
Das Denken in Prozessen löst die durch starre Hierarchiemuster geprägte Aufbau‐
organisation durch eine an bereichsübergreifenden Prozessen ausgerichtete Ablauf‐
organisation ab. Die Prozessorientierung ist im Gegensatz zur Ablauforganisation
nicht auf Stellen oder Abteilungen beschränkt, sondern zielt auf die ganzheitliche
Optimierung des gesamten Wertschöpfungsprozesses ab. Das heutige Prozess‐
verständnis ist gerade von dem Gedanken einer übergreifenden Sichtweise gekenn‐
zeichnet, d. h Prozesse werden unabhängig von organisatorischen und funktionalen
Bereichen betrachtet. Ein Unternehmen lässt sich somit als komplexes, offenes System
von Prozessen darstellen, die in vielfältigen Wechselbeziehungen zu internen und
externen Kunden sowie Lieferanten stehen. Das Konzept der prozessorientierten Mo‐
dellbildung logistischer Abläufe bietet einen geeigneten Ansatz, um Verbesserungs‐
potenziale aufzeigen zu können. Auf der Basis von Prozessketten wird die notwendige
Transparenz für logistische Abläufe geschaffen und somit das Prozessverständnis und
die Prozessbeherrschung gefördert176.
Lernziele:
176 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen LASCH (1998, S. 51ff) entnommen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 109
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_3
Prozessketten in der Logistik
3
die gleiche Bedeutung wie Bestandselementen zu177. Sein Prinzip der Aufgabengliede‐
rung nach dem Prozess der Leistung ist sogar als Primat der Prozessorganisation in‐
terpretierbar178. NORDSIECK’S ablaufmäßige Betrachtung der Betriebsaufgaben lenkt
die Aufmerksamkeit auf die
und nimmt somit aktuelle Prozesskettenstrukturen vorweg, die heute Hilfsmittel lo‐
gistischer Gestaltungs‐ und Rationalisierungsbemühungen sind. Typisch für die neuen
Beiträge zur Prozessorganisation ist die Betonung der Rolle der modernen Informa‐
tions‐ und Kommunikationstechnik als Katalysator bei der Optimierung von Ge‐
schäftsprozessen, die Ausrichtung an den Kundenbedürfnissen und die konsequent
betriebene Umsetzung der Prozessorientierung.
Der Begriff „Prozess“ hat seinen etymologischen Ursprung in dem lateinischen Wort
“procedere“, das so viel wie vorangehen oder vorgehen bedeutet. In der betriebswirt‐
schaftlichen Literatur sind je nach der spezifischen Sichtweise unterschiedliche Bedeu‐
tungen und Definitionsversuche für den Begriff Prozess zu finden, wobei die Termini
Geschäfts‐, Unternehmens‐ oder Leistungsprozess synonym verwendet werden. Die
Managementliteratur versucht unter den Stichwörtern wie „Prozessperspektive“,
„Business Reengineering“ oder „Business Process Redesign“ den Unternehmen ein
höheres Maß an Prozessorientierung zu verleihen. Die Prozessorientierung dient zur
Überwindung der kaum noch aufrechthaltbaren Dichotomie zwischen direkten wert‐
schöpfenden und indirekten Unternehmensbereichen. Ziel dieser radikalen Änderun‐
gen der Organisation sind substantielle Verbesserungen der Leistungsfähigkeit einer
Unternehmung179. Geschäftsprozesse bestehen aus der funktionsüberschreitenden
Verkettung wertschöpfender Aktivitäten, die von Kunden erwartete Leistungen er‐
zeugen und deren Ergebnisse strategische Bedeutung für das Unternehmen haben. Sie
können sich über Unternehmensgrenzen hinweg erstrecken und Aktivitäten von Kun‐
den und Lieferanten einbinden180. Geschäftsprozesse stellen eine zusammenhängende
abgeschlossene Folge von Tätigkeiten dar, die von Aufgabenträgern in organisatori‐
schen Einheiten unter Nutzung der benötigten Produktionsfaktoren geleistet werden.
Unterstützt wird die Abwicklung der Geschäftsprozesse durch betriebliche Informa‐
tions‐ und Kommunikationssysteme.
110
3.1
Der Prozessbegriff
Aufgrund der Tatsache, dass die Abgrenzung des Prozessbegriffs in der Literatur
unterschiedlich vorgenommen wird, soll im Folgenden eine Darstellung der wesentli‐
chen Kriterien und Elemente, die einen Prozess ausmachen, in Form von konstitutiven
und klassifizierenden Merkmalen vorgenommen werden183.
Ein Prozess muss aus einer Folge von Aktivitäten, also mindestens zwei Aktivitäten
bestehen. Anstelle des Begriffs Aktivität werden synonym die Termini Aufgaben, Ver‐
richtungen und Tätigkeiten verwendet. Unter einer Aktivität soll ein zielgerichteter
Einzelvorgang in einem Unternehmen verstanden werden, für den eine weitere Unter‐
111
Prozessketten in der Logistik
3
teilung nicht mehr sinnvoll ist. Als Kriterien dafür können die geschlossene Bearbei‐
tung an einem Arbeitsplatz oder eine festgelegte Ablaufstruktur ohne Bearbeitungsal‐
ternativen angeführt werden184. In diesem Sinne stellen Aktivitäten die Grundbaustei‐
ne der Unternehmenstätigkeit dar, wobei der Detaillierungsgrad der Betrachtung vom
Untersuchungszweck und der Pragmatik abhängt. Wichtigstes Merkmal einer Aktivi‐
tät ist also die Ausrichtung auf ein Ziel. Beispiele für Aktivitäten sind elementare logis‐
tische Transferaktivitäten wie beispielsweise transportieren, lagern, umschlagen,
kommissionieren oder nicht‐logistische Transformationsaktivitäten wie z. B. umfor‐
men, schneiden, montieren.
Jeder Prozess muss einen messbaren Input besitzen. Unter Input sollen diejenigen
Objekte verstanden werden, an denen im Prozess die Aufgaben verrichtet werden und
die im Prozess eine Änderung erfahren. Inputobjekte lassen sich in physische und
immaterielle Objekte unterteilen. Beispiele für physische Objekte sind Materialien
(z. B. Rohmaterial, Zukaufteile, Halb‐, Fertigerzeugnisse) oder aber auch Dokumente
(z. B. Aufträge, Pläne). Zu den immateriellen Objekten zählen Dienstleistungen, Ar‐
beitsleistungen, Informationen und Rechte. In der Regel wird der Input aus einer
Kombination aus physischen und immateriellen Objekten bestehen. Resultat der
Durchführung eines Prozesses ist ein messbarer Output. Analog zu den Inputobjekten
können auch hier materielle und immaterielle Outputobjekte unterschieden werden.
Der Output eines vorgelagerten Prozesses stellt jeweils den Input eines nachfolgenden
Prozesses dar, sodass sich entlang der Prozesse Objektströme identifizieren lassen.
Innerhalb eines Prozesses erfolgt die Transformation des Inputs in den Output, wobei
eine bewusste Zustandsänderung der Inputobjekte vorgenommen wird. Die Trans‐
formation umfasst neben Bearbeitungsschritten auch logistische Aktivitäten wie lie‐
gen, lagern oder transportieren. Die Zustandsänderung wird von Potenzialelementen
durchgeführt, die ein bestimmtes qualitatives und quantitatives Potenzial aufweisen
und in Personen und Betriebs‐ sowie Arbeitsmittel unterschieden werden können. In
vielen Fällen wird die Transformation auch von beiden Potenzialtypen gemeinsam
durchgeführt.
Mit dem Merkmal Determiniertheit soll die Zielorientierung eines Prozesses, d. h ein
gewollter und geplanter Prozessablauf sichergestellt werden. Von einem Prozess wird
somit verlangt, dass er einen eindeutigen Beginn und ein eindeutiges Ende hat. Um
eine durchgängige Marktorientierung der Prozesse zu schaffen, gehört zu einem Pro‐
zess ein Denken in Lieferanten‐Kunden‐Beziehungen. Jeder am Prozess Beteiligte ist
Kunde vorgelagerter Prozesse und Lieferant für nachgelagerte Prozesse. Diese Bezie‐
hung kann unternehmensintern zwischen Abteilungen bestehen, die am gleichen
Prozess beteiligt sind oder unternehmensextern zwischen dem eigenen Unternehmen
und Kunden bzw. Lieferanten. Nach Bedarf werden zwischen den für den Prozess
verantwortlichen Aktivitäten und den Kunden und Lieferanten Geschäftsprozess‐
vereinbarungen (service level agreements) getroffen. In diesen Vereinbarungen wird
112
3.1
Der Prozessbegriff
u. a. fixiert, wer zu welchem Zeitpunkt welche Leistung erbringt und wie diese Leis‐
tungen zu kontrollieren sind. Dadurch werden dem liefernden Prozess eindeutige
Leistungsanforderungen vorgegeben, und die Qualität der Prozessleistung kann an‐
hand fixierter Kriterien beurteilt werden.
113
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐1 Prozesshierarchie
Geschäftspro‐
zessebene
Subprozess
1. Ebene
…
…
Subprozess
n. Ebene
Ebene der
Aktivitäten
114
3.2
Prozessmodellierung
Unter die Kategorie der nicht wertschöpfenden Prozesse fallen jene Prozesse, die
überhaupt keinen Bezug zum Kunden aufweisen. Solche Prozesse existieren eigentlich
für diejenigen Autoren nicht, die Wertschöpfung als konstituierendes Merkmal eines
Prozesses ansehen. Allerdings wird im Rahmen von Reorganisationsprojekten gefor‐
dert, dass Prozesse ohne positiven Beitrag zur Wertschöpfung wie z. B. Reklamatio‐
nen, Nacharbeiten, Doppelarbeiten oder Liegen bzw. Warten identifiziert und elimi‐
niert werden. Zu betonen ist, dass eine Kategorisierung nach der Wertschöpfung ei‐
nerseits nicht trennscharf und andererseits auch stets zeitpunktbezogen ist. Aufgrund
geänderter Marktanforderungen können sich mittelbar wertschöpfende Prozesse zu
unmittelbar wertschöpfenden Prozessen ändern. Als Beispiel sei die Qualitätssiche‐
rung genannt, die im Rahmen von Null‐Fehler‐Lieferungen, unter der Voraussetzung
konstanter Vorleistungen, zu höheren Umsatzerlösen des Zulieferers aufgrund höhe‐
rer erzielbarer Preise führt.
Bezüglich des Merkmals Reichweite können Prozesse nach der Prozessgrenze klassifi‐
ziert werden. Prozesse lassen sich danach differenzieren, ob sie Abteilungs‐, Funkti‐
ons‐ oder Unternehmensgrenzen durchschneiden187. Da die Lieferanten‐Kunden‐Be‐
ziehungen mit ihren Leistungsanforderungen zu den konstitutiven Prozessmerkmalen
zählen, steigt der Koordinationsaufwand mit wachsender Prozessreichweite an. Über‐
schreiten Prozesse die Unternehmensgrenze, dann gibt es mindestens einen externen
Kunden oder Lieferanten, in dessen Verantwortung ein Subprozess des unterneh‐
mensübergreifenden Hauptprozesses fällt und der bei Reorganisationsmaßnahmen
mit einbezogen werden muss. Je geringer die Reichweite einzelner Prozesse festgelegt
wird, umso größer wird die Zahl der Prozesse, die im Rahmen von Reorganisations‐
vorhaben zu berücksichtigen sind.
3.2 Prozessmodellierung
Prozesskettenmodelle in der Logistik beschreiben Abläufe als eine Menge von ver‐
knüpften Prozessen und dienen der Darstellung von Material‐, Waren‐ und Informati‐
onsflüssen. Entscheidendes Kriterium für die Bildung von Prozessketten ist neben der
115
Prozessketten in der Logistik
3
gemeinsamen Zugehörigkeit zu demselben betrieblichen Ablauf vor allem die strikte
Ausrichtung am Kunden‐Lieferanten‐Prinzip, d. h vorgelagerte Prozesse werden stets
als Lieferanten und nachgelagerte Prozesse als Kunden angesehen. Das Unternehmen
wird nicht mehr als Summe einzelner Teilfunktionen gesehen, sondern als System
untereinander vernetzter Prozessketten. Ziel des Prozesskettenmanagements ist es,
nicht mehr einzelne Bereiche isoliert zu verbessern, sondern ein Optimum bezüglich
der relevanten Zielgrößen Kosten, Qualität, Zeit und Flexibilität entlang der gesamten
logistischen Kette anzustreben. Eine Optimierung muss dabei über Funktions‐ und
Unternehmensgrenzen hinausgehen.
Die Gestaltung logistischer Prozesse basiert auf den Grundprinzipien und Methoden
der Prozessmodellierung. Unter Prozessmodellierung wird die Visualisierung, Be‐
schreibung und Detaillierung logistischer Prozessketten auf der Basis einer Prozess‐
struktur‐ und Prozessleistungstransparenz zur ganzheitlichen Analyse von Geschäfts‐
prozessen verstanden188. Die Verwendung von Modellen dient der bewussten Reduk‐
tion von Komplexität durch Isolation und Abstraktion. Dabei werden nur diejenigen
Aspekte in das Prozessmodell aufgenommen, die für die Beschreibung und Analyse
sowie das Verständnis des Prozesses notwendig sind. Da in ein Prozessmodell somit
auch subjektive Elemente einfließen, kann das konstruierte Prozessmodell nur im
Hinblick auf die Zweckmäßigkeit für eine bestimmte Problemstellung, nicht jedoch
dessen Richtigkeit bewertet werden.
3.2.1 Prozessstrukturtransparenz
Unter der Prozessstruktur ist die hierarchische Darstellung aller im Prozess vorkom‐
menden Aktivitäten zu verstehen, wobei jede Ebene ihren eigenen spezifischen Detail‐
lierungsgrad besitzt. Das primäre Ziel der Prozessstrukturtransparenz ist die Visuali‐
sierung der Prozessabläufe, sodass die jeweils relevanten Prozesse sowohl den betei‐
ligten Managementebenen als auch den unmittelbar von der Prozessgestaltung
betroffenen Mitarbeitern transparent gemacht werden.
Die Prozessgestaltung kann Top‐down oder Bottom‐up erfolgen189. Bei der Top‐down‐
Vorgehensweise werden zunächst die Hauptprozesse einer Unternehmung grob aus‐
gegrenzt, die anschließend in Subprozesse respektive Aktivitäten weiter zerlegt sowie
in Raum und Zeit angeordnet werden. Der Bottom‐up‐Ansatz fügt dagegen Aktivitä‐
ten synthetisch zu Subprozessen und Hauptprozessen zusammen.
Ein Prozessmodell, welches die Qualität von Prozessketten in der Logistik bewerten
und Verbesserungspotenziale aufdecken will, muss die dem Prozess zugrunde‐
liegenden Kunden‐Lieferanten‐Beziehungen beschreiben. Ausgehend vom systemisch‐
en Ansatz und in Anlehnung an das Modell der logistischen Wertkette von KLÖPPER
wird im Folgenden ein selbstähnliches Prozessmodell zur Beschreibung von Logistik‐
116
3.2
Prozessmodellierung
prozessen definiert190. Dieses Modell basiert auf Prozesskettenelementen, die sich aus
den fünf Strukturelementen Input, Output, Lenkung, Potenzialfaktoren und Trans‐
formation zusammensetzen (vgl. Abbildung 3‐2).
Lenkung
Potenzialfaktoren
3.2.1.2 Potenzialfaktoren
Die logistischen Potenzialfaktoren umfassen das Logistikpersonal und die Logistik‐
technologien. Personal und Technologien bewirken durch Potenzialfreisetzung die
Transformation von Inputobjekten in den Prozessen. Die menschlichen Ressourcen
werden heute nicht mehr als die zu optimierende Residualgröße, sondern als kriti‐
scher Erfolgsfaktor angesehen, der eine nachhaltige Differenzierung gegenüber dem
Wettbewerb erlaubt. Die Leistungsfähigkeit des logistischen Gesamtsystems wird
wesentlich durch die Fähigkeiten, das Wissen und das Verhalten des Logistikpersonals
bestimmt. Durch die wachsenden wettbewerbsbedingten Anforderungen an die Logis‐
tik wird von den Mitarbeitern eine zunehmende logistische Kompetenz und Lernbe‐
reitschaft gefordert. Eine hohe logistische Kompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass
117
Prozessketten in der Logistik
3
neben solidem Logistikfachwissen die Fähigkeit zur Analyse und Strukturierung von
vernetzten Problemstrukturen und ganzheitliches Planungsvermögen vorhanden ist.
Gerade die Logistik erfordert aufgrund ihrer interdisziplinären Grundkonzeption ein
hohes Maß an Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, um den zukünftigen Anforderun‐
gen gerecht zu werden.
In vielen Fällen können Aktivitäten alternativ durch Personal oder Technologien aus‐
geführt werden. Das Verhältnis von Technologie‐ zu Personaleinsatz bei der Prozess‐
ausführung bestimmt den Automatisierungsgrad. Ein hoher Automatisierungsgrad
bewirkt allerdings nicht per se eine hohe Leistungsfähigkeit des Prozesses, sodass ein
optimales Verhältnis zwischen Personal und eingesetzter Technologie angestrebt wer‐
den sollte.
3.2.1.3 Transformation
Die Transformation besteht aus den vier Basistransformationen bearbeiten, transpor‐
tieren, prüfen und lagern192. Darüber hinaus wird auf der Transformationsebene der
vertikale Detaillierungsgrad des Prozesskettenelements vorgenommen. Dies bedeutet,
dass die Transformation wieder einen Subprozess in Form einer internen Prozesskette
beinhalten kann, die einen höheren Auflösungsgrad besitzt und somit eine neue Ebene
innerhalb der Prozesshierarchie definiert. Bei Bedarf kann eine vertikale Detaillierung
bis auf die Ebene der Aktivitäten vorgenommen werden. Wesentlich ist nun die selbst‐
ähnliche Modellierung dieser internen Prozesskette, d. h deren Prozesskettenelemente
setzen sich wieder aus den fünf Strukturelementen Input, Output, Lenkung, Potenzial‐
faktoren und Transformation zusammen. Selbstähnlichkeit bedeutet demnach die
Wiederholung dieser fünf Strukturelemente auf immer kleineren Skalen. Aufgrund
der Selbstähnlichkeit können auf allen Ebenen der Prozesshierarchie grundsätzlich
gleichartige Beeinflussungsmöglichkeiten genutzt werden193.
118
3.2
Prozessmodellierung
Kommis‐
Warenan‐ Kommis‐ Kontrol‐ Verpacken/
sonier‐ Versenden
nahme sionieren lieren Ettiketieren
lager
Komissionier‐ Waren
Weitergabe
auftrag zusammen‐
an Kontrolle
annehmen stellen
119
Prozessketten in der Logistik
3
3.2.1.4 Lenkung
Lenkung bezeichnet die Fähigkeit eines Systems, sich selbst unter Kontrolle zu halten
und besteht aus den Grundkomponenten der Steuerung und Regelung194. Hierzu
gehört im Wesentlichen die Steuerung und Regelung der wertschöpfenden Material‐,
Waren‐ und Informationsflussprozesse. Während bei der Steuerung versucht wird,
einen festgelegten Wert einer Prozessregelgröße durch Elimination oder Kompen‐
sation der Störung beizubehalten, vergleicht die Regelung kontinuierlich den Soll‐ und
den Ist‐Wert einer Prozessregelgröße. Tritt eine Abweichung auf, dann korrigiert der
Regler eine Stellgröße, bis der Ist‐Wert dem vorgegebenen Soll‐Wert der Prozessregel‐
größe entspricht. Die Prozessregelgrößen sind so zu bestimmen, dass sie die Lenkung
des Prozesses ermöglichen und gleichzeitig das Prozessverhalten beschreiben195. Pro‐
zessregelgrößen lassen sich nach der zu messenden Dimension des Prozessverhaltens
in Kosten‐, Qualitäts‐, Flexibilitäts‐ und Zeitgrößen unterteilen. Der Detaillierungsgrad
der Prozessregelgrößen ist dabei der Prozessebene anzupassen, d. h die Lenkung eines
Hauptprozesses basiert auf aggregierteren Regelgrößen als die eines Subprozesses.
Für die ausgewählten Prozessregelgrößen müssen entsprechende Soll‐Werte festgelegt
werden.
Die Lenkungsebene ist für die vertikale Strukturierung der Prozesskettenelemente und
deren Verbindung zu benachbarten Prozesskettenelementen verantwortlich. Die Pro‐
zesslenkung sollte aber nicht als Aufgabe des Prozessverantwortlichen, sondern aller
Prozessbeteiligten betrachtet werden. Dabei genügt es nicht, nur die Anforderungen
des nachfolgenden Prozesskettenelements zu erfüllen, vielmehr muss jedes Prozess‐
kettenelement den letztendlichen Kundennutzen des zu bearbeitenden Prozesses ken‐
nen. An den einzelnen Mitarbeiter wird somit ein höheres Maß an Verantwortung
120
3.2
Prozessmodellierung
übertragen, was wiederum einen positiven Einfluss auf die Arbeitsergebnisse des
Mitarbeiters im jeweiligen Tätigkeitsfeld haben kann.
Bei Vorgangspfeilnetzen (VPN) werden Aktivitäten bzw. Vorgänge durch Pfeile und
Ereignisse durch Knoten dargestellt. Wenn alle einmündenden Vorgänge abge‐
schlossen sind, kann ein Ereignis eintreten (logische Und‐Bedingung). Die Einführung
von sogenannten Scheinvorgängen ist für die Vermeidung von parallelen Vorgängen
und eindeutigen Vorgänger‐Nachfolger‐Beziehungen notwendig. In einem Vorgangs‐
pfeilnetz ist ein Zyklus ein logischer Widerspruch, da die Bedingung für den Beginn
einer Aktivität der eigene Abschluss ist197.
121
Prozessketten in der Logistik
3
Bedingungen unterliegen) verwendet. Dabei können drei Operatoren unterschieden
werden:
Exklusives Oder (XOr): Genau eine Funktion muss erfüllt sein bzw. ein Ereignis
muss eintreten.
Oder (Or): Mindestens eine der Funktionen muss erfüllt sein bzw. mindestens
eines der Ereignisse muss eintreten.
Und (And): Es müssen alle Funktionen erfüllt sein bzw. alle Ereignisse eintreten.
Weiterhin ist zu beachten, dass sich Funktionen und Ereignisse immer gegenseitig
ablösen. In der seriellen Folge von Aktivitäten und Ereignissen ist die Abfolge von
Aktivitäten eindeutig festgelegt und der Graph enthält keine logischen Operatoren.
Die Verknüpfung von Funktionen und Ereignissen wird in der Regel durch gestrichel‐
te Pfeillinien wiedergegeben. Unterschieden werden erweiterte und einfache EPKs,
wobei bei letztgenannten nur Vorgänge und Ereignisse und keine Organisations‐
einheiten bzw. Informationsobjekte berücksichtigt werden200.
E1 E1 E1
A1
A2
A1 A2 A1 A2 E*
E2
E2
A3 Legende:
A3 A3
E : Ereignis
A : Aktivität
S : Scheinvorgang
E3 E3 E3 : Und‐Bedingung
122
3.2
Prozessmodellierung
Die Abbildung 3‐4 stellt den Vergleich einer einfachen EPK mit einem Vorgangskno‐
tennetz und einem Vorgangspfeilnetz dar. Vorteilhaft beim Vorgangsknotennetz ist,
dass bis auf das Anfangs‐ und Endereignis die anderen Ereignisse und die logischen
Operatoren entfallen, da es sich um einheitliche Und‐Bedingungen handelt. Somit
enthält es nur die drei Vorgangsknoten. Beim Vorgangspfeilnetz bleiben die Ereignisse
der EPK‐Darstellung erhalten und die Pfeile repräsentieren die Vorgänge. Auch hier
entfallen die Operatoren, es muss jedoch ein Scheinvorgang und ein zusätzliches Er‐
eignis eingefügt werden, um parallele Vorgänge zu vermeiden.
Bei der Darstellung als Wertschöpfungskette repräsentiert jedes Element eine inhalt‐
lich zusammengehörige EPK bzw. allgemein eine Prozesskette. Die Elemente sind
linear angeordnet und stellen damit die repräsentierten Prozessketten in Beziehung.
Wertschöpfungsketten geben den verdichteten Ablauf wieder und können, ausgehend
von der Geschäftsprozessebene, über die Teilprozessebene und die Prozess‐
schrittebene bis auf die Ebene der Arbeitsschritte bzw. Aktivitäten zerlegt werden (vgl.
Abbildung 3‐3).
Für die Modellierung, Darstellung und Analyse von Prozessen sind verschiedene
Software‐Tools entwickelt worden, die Referenzmodelle bzw. generische Prozesse zur
Verfügung stellen. Unter Referenzmodellen oder generischen Prozessen sind Pro‐
zessmuster zu verstehen, die branchen‐ oder unternehmensspezifisch zu konkretisie‐
ren sind. Die bekannteste Modellierungssoftware stellt das „ARIS‐Toolset“ dar202.
Speziell für die Logistik wurde vom Fraunhofer‐Institut für Materialfluss und Logistik
das Software‐Tool „LogiChain“ entwickelt, mit dem Prozessketten rechnerunterstützt
abgebildet, analysiert und simuliert werden können. Einen Ansatz zur Standardisie‐
rung unternehmensübergreifender Prozessketten stellt das Supply‐Chain‐Operations
Reference‐Modell (SCOR‐Modell) dar203.
123
Prozessketten in der Logistik
3
und Prozessen ausgerichtet sind, basieren auf einer Betrachtung des Unternehmens im
Zeitablauf. Als Kriterien für die Gestaltung der Prozessketten werden die Effizienz
und Effektivität herangezogen. Das bedeutet, dass die Anordnung der Strukturele‐
mente möglichst so festzulegen ist, dass sie einen zeit‐ und ressourcengünstigen Ab‐
lauf gewährleisten. Gestaltungsoptionen, die am Stellhebel der Aktivitäten und Pro‐
zesskettenelemente ansetzen, zielen auf eine Veränderung der Struktur durch deren
Reihenfolgeänderung, Parallelisierung, Integration, Erweiterung und Eliminierung ab
(vgl. Abbildung 3‐5).
Reihenfolgeänderung: P1 P2 P3 P1 P3 P2
P2
Parallelisierung: P1 P2 P3 P1
P3
Integration: P1 P2 P3 P1 P2/3
Erweiterung: P1 P2 P3 P1 P2 P3 P4
Eliminierung: P1 P2 P3 P1 P2
124
3.2
Prozessmodellierung
Process Mining (PM) stellt vor dem Hintergrund komplexer Prozessumgebungen mit
hohem Datenaufkommen einen fortgeschrittenen Analytics‐Ansatz dar. Im Vergleich
zu den klassischen Methoden der Wissensakquisition ist das PM eine noch junge Dis‐
ziplin und erste Publikationen zu diesem Thema erschienen Ende der 1990er Jahre209.
Bei PM handelt es sich um einen induktiven Ansatz, der das in den IS implizit vor‐
handene Prozesswissen extrahiert, sodass explorativ und hypothesenfrei der in den
Unternehmen gelebte Prozessverlauf in Form von Prozessmodellen rekonstruiert
wird. Diese Prozesserkennung basiert auf den digitalen Spuren aus Informations‐
verarbeitungssystemen, welche als Ereignisprotokolldatei zusammengefasst werden.
Während der Abwicklung von Prozessen durch IS wird deren Ausführung kontinuier‐
lich in realen Ereignislogdateien festgehalten und protokolliert. Unter Nutzung von
Process‐Mining‐Methoden kann das implizit vorhandene Prozesswissen automatisch
aus den Ereignislogs extrahiert und als Basis zur Erstellung von Prozessmodellen
genutzt werden210. Demnach werden durch PM IST‐Prozessmodelle bottom‐up auf
125
Prozessketten in der Logistik
3
Basis von realen Verlaufsdaten vergangener Prozessausführungen erstellt und es wird
nicht auf eine subjektive Modellvorstellung durch Methoden der klassischen Ge‐
schäftsprozessmodellierung zurückgegriffen. Auch wenn der bereits gelebte Prozess
in Form von ex‐post Ereignisdaten extrahiert wird, ist PM nicht auf eine offline‐
Analyse beschränkt. Vielmehr können die Erkenntnisse auch auf laufende Fälle ange‐
wendet und in Form von a‐priori Analysen zur operativen Unterstützung genutzt
werden. Process Mining visualisiert Prozesse end‐to‐end und in Echtzeit, sodass An‐
wender eine transparente Sicht in einer bisher nicht vorhandenen Detailtiefe auf die
Logistikprozesse erlangen. Mit Process Mining lassen sich große Nutzenpotenziale
realisieren. Durch erfolgreiche PM‐Projekte können Durchlaufzeiten um 37% redu‐
ziert, 25% mehr Einsparpotenziale realisiert und eine Effizienzsteigerung des unter‐
suchten Prozesses um 30% erzielt werden211.
126
3.2
Prozessmodellierung
Da PM auf der Annahme beruht, das verborgene Wissen auf Basis der in Ereignispro‐
tokolldateien überführten IST‐Daten der tatsächlichen Prozessvorgänge zu extra‐
hieren, wird der Prozess nicht modelliert, sondern mit Hilfe der Software entdeckt.
Demnach zielt PM darauf ab, den „to-be“‐Zustand des Prozessablaufs in Form von
Modellen zu rekonstruieren. Die klassischen Methoden der Geschäftsprozessmodellie‐
rung sind demnach also nicht in der Lage, den tatsächlich gelebten Prozessablauf zu
modellieren.
127
Prozessketten in der Logistik
3
nungen zu finden. Neben einem Namen können Ereignisse auch mehrere andere At‐
tribute haben, um beispielsweise durch einen spezifischen Zeitstempel den Ursprung
des Ereignisses anzuzeigen. Spuren repräsentieren chronologische Sammlungen von
Ereignissen, die zu der selben Prozessausführung gehören.
Tabelle 3‐1 veranschaulicht den Aufbau eines Ereignislogs am Beispiel eines Kunden‐
auftragsbearbeitungsprozesses. Alle aufgezeichneten Daten der Auftragsannahme und
‐bearbeitung im Kundenauftrag können eine Spur darstellen. Verschiedene Spuren im
Ereignisprotokoll entsprechen dann verschiedenen Aufträgen, für die der Prozess
ausgeführt wurde. Um Erkenntnisse für einen Prozess gewinnen zu können, müssen je
Prozess der konkrete Vorgang (Case, hier Kundenbestellung) sowie die Aktivitäten
(Events) zum jeweiligen Vorgang mit Zeitstempel und Referenz der Ressource, welche
die Aktivität durchführt, aufgeführt werden217. Grundsätzlich kann ein Ereignislog
aus einer potentiell unendlichen Anzahl an Ereignissen zu einem gegebenen Prozess
bestehen. Die wichtigsten Komponenten eines Ereignislogs sind die auftretenden
Verbindungen und Abfolgen, da PM auf diese Relationen fokussiert, um ein Prozess‐
modell zu erstellen. Im Idealfall bildet ein Ereignislog eine Tabelle, die Ereignisse
anhand ihrer Instanznummer (CASE‐ID) und ihres Zeitstempels chronologisch nach
deren Eintreten aufzeichnet.
Kunden‐
Aktivität Zeitstempel Status Ressource
bestellung
Bestellung
SO1‐CustA 2012‐09‐28 9:50 vollständig User 3544
ausgelöst
Bestellung
SO1‐CustA 2012‐10‐01 8:15 vollständig User 3544
geliefert
Rechnung ver‐
SO1‐CustA 2012‐10‐01 10:31 vollständig User 1282
sandt
Bestellung
SO2‐CustA 2012‐9‐30 11:05 vollständig User 3544
ausgelöst
Informationen
SO2‐CustA 2012‐10‐04 10:20 vollständig User 6759
angefordert
Bestellung
SO2‐CustB 2012‐10‐02 10:25 vollständig User 3544
ausgelöst
Als Speicherformat wird der XML‐basierende Standard XES (eXtensible Event Stream)
verwendet. Die Vorteile dieses Formats sind die Einfachheit des Speicherns und Le‐
128
3.2
Prozessmodellierung
sens, die Flexibilität hinsichtlich der Datenherkunft sowie dessen unkomplizierte Er‐
weiterbarkeit und die hohe Ausdrucksstärke, die Informationsverluste verhindert219.
Anpassung
IST Prozessmodell zum Übereinstimmungs- und
Geschäftsprozess überprüfung Erweiterung
Extract-Transform-Load
Process Enhancement
Conformance Checking
Nachdem das Prozessmodell mit einem PM‐Algorithmus erstellt worden ist, wird es
im Rahmen des Conformance Checkings den zugehörigen Ereignislogs gegenüber‐
129
Prozessketten in der Logistik
3
gestellt, um die bestmögliche Güte des reproduzierten Prozessmodells im Vergleich
zum Ereignislog zu gewährleisten. Des Weiteren können verschiedene Prozessmodelle
miteinander verglichen werden und auch die tatsächliche, in Ereignislogs dokumen‐
tierte Realität anhand von Prozessmodellen überprüft werden. Dadurch lassen sich
mögliche Abweichungen zwischen dem protokollierten und dem modellierten Verhal‐
ten identifizieren, visualisieren und messen222.
Da Ereignislogs weitere Attribute, d. h. Daten aus der Organisations‐, Zeit‐, oder Fall‐
perspektive mit zusätzlichen Informationen besitzen (s. Tabelle 3‐1 „Ressource“ oder
„Status“), können im Rahmen des Process Enhancements bestehende a‐priori Prozess‐
modelle durch Berücksichtigung dieser entweder korrigiert, verbessert oder weiter‐
entwickelt werden. Anhand dieser zusätzlichen Informationen können beispielsweise
Prozessleistungen oder Durchlaufzeiten extrahiert und somit grundlegende Unter‐
suchungen bzgl. der Performance durchgeführt werden223.
Durch den verstärkten kommerziellen Einsatz von PM sowie des technischen Fort‐
schritts von prozessorientierten IS, besteht ein weiteres Aufgabengebiet in der operati‐
ven Unterstützung IT‐basierter Systeme (Operational Support). Diese erlaubt es bei
der Abwicklung eines Prozesses auf Erkenntnisse vergangener Ereignisdaten zurück‐
zugreifen und sie in Form von Informationen und Hinweisen als Echtzeithilfe bei der
Vorgangsbearbeitung zur Verfügung zu stellen224.
Der PM‐Ansatz zeichnet sich neben der Diversität von Aufgabenfeldern auch durch
eine Multiperspektivität aus. Insgesamt lassen sich eine Kontrollfluss‐Perspektive, eine
organisatorische und zeitliche Perspektive sowie eine Fall‐Perspektive unterscheiden.
Die Kontrollfluss‐Perspektive betrachtet die Extraktion von ablaufbezogenen Struk‐
turen, d. h. die Reihenfolge, in der Aktivitäten ausgeführt werden. Es werden die ver‐
schiedenen Möglichkeiten der Ausführung eines Geschäftsprozesses untersucht und
die Entscheidungen in Form von Prozessmodellen repräsentiert. Somit beantwortet
die Kontrollfluss‐Perspektive folgende Fragen: Wie werden die Prozessinstanzen225
ausgeführt? Welches ist der häufigste oder der kritische Weg durch das Geschäfts‐
prozessmodell? Die organisatorische Perspektive betrachtet diejenigen Ressourcen, die
aus den Ereignisdaten extrahiert werden können und rekonstruiert somit das Verhal‐
ten der Parteien über die Art ihrer Beteiligung oder Interaktion. Diese Perspektive
liefert Antworten für folgende verhaltensorientierte Fragestellungen: Welche Rollen
gibt es? Wie sehen die Kommunikationsstruktur und die Abhängigkeiten zwischen
den Parteien aus? Wie viele Mitarbeiter arbeiten an einer Instanz? Anhand der zeitli‐
chen Perspektive können Durchführungszeiten und Ereignisfrequenzen betrachtet
130
3.2
Prozessmodellierung
131
Prozessketten in der Logistik
3
Mental‐kulturelle Faktoren
Durch die Unterstützung des Top Managements wird sichergestellt, dass wert‐
volle organisatorische Ressourcen und das notwendige Budget zur Verfügung ge‐
stellt werden sowie die Akzeptanz bei den Mitarbeitern erhöht wird. Im Rahmen
der Unternehmenskultur spielen die Innovationsfreudigkeit eines Unternehmens
und die Aufgeschlossenheit der Unternehmensleitung gegenüber einem Wandel
eine wichtige Rolle. Um die Implementierung einer neuen Technologie zu ge‐
währleisten, muss der Umgang mit Neuem geschult werden, sodass sich die An‐
wendung eines Change‐Managements empfiehlt. Bei der Zusammensetzung des
Projektteams muss die Bildung eines heterogenen Teams mit interdisziplinären
Fähigkeiten sichergestellt werden. Geschäftsnähe und Domänenwissen sollten
ebenso vertreten sein wie technisches Verständnis für Prozessabläufe und Daten‐
verarbeitung. Auch wirkt sich das Vorhandensein eines Projekt‐Champions, der
genügend Macht, Ansehen sowie formale und informale Netzwerke besitzt um
das Projekt voranzutreiben, positiv auf den Erfolg eines Projekts aus. Ebenso sind
ein Wissensmanagement im Sinne der Integration von Stakeholdern, Endbenut‐
zern und Prozessspezialisten sowie deren Kommunikationsstrategie von Bedeu‐
tung, damit die Projektergebnisse auch nachhaltig in die betriebliche Realität
transferiert werden.
Projektspezifische Faktoren
Durch eine Budget‐ und Ressourcenplanung werden die mittel‐ bis langfristige
Planbarkeit determiniert und es wird verhindert, dass ein PM‐Projekt aufgrund
von Konflikten um Ressourcen oder Kapital scheitert. Die Lizenzkosten für eine
PM‐Software und die Kosten für die Datenermittlung und ‐bereitstellung müssen
in die Budgetplanung integriert werden. Des Weiteren soll im Rahmen eines Pro‐
jektmanagements eine genaue Überwachung und Kontrolle sowie eine Überprü‐
fung des Projektumfangs erfolgen. Durch eine Zielplanung müssen die Erwartun‐
gen an das PM kommuniziert und die Übereinstimmung mit den strategischen
Zielen der Unternehmung sichergestellt werden. Eine präzise Definition von Ziel‐
vorgaben und des Zwecks sind unabdingbar. Der Zweck setzt ein klares Ver‐
ständnis dessen voraus, wofür PM eingesetzt werden soll, d. h. welcher konkrete
Anwendungsfall untersucht werden soll. Weiterhin sollte ein Vorgehensmodell
entwickelt und berücksichtigt werden, damit bei PM‐Projekten iterativ vorgegan‐
gen wird, diese aber auch wiederholt und gegenseitig vergleichbar gemacht wer‐
den können.
Informationstechnologische Faktoren
Als Methode zur Analyse von Geschäftsprozessen in datenintensiven Umge‐
bungen spielen die Datenbereitstellung sowie die Datenvorverarbeitung eine
wichtige Rolle. Somit müssen eine größere Anzahl an IT‐Systemen zur Verfügung
stehen, aus denen Vorgangsdaten extrahiert werden können. Für die Daten‐
extraktion bietet sich die Nutzung eines Data Warehouse an. Auch die Art der IT‐
Systeme hat großen Einfluss auf den Erfolg von PM‐Projekten. Insbesondere das
Zusammenführen von Daten aus unterschiedlichen IS oder aus IS mit fehlender
132
3.2
Prozessmodellierung
PM‐spezifische Faktoren
Die Wahl der PM‐Software und das Vorhandensein von PM‐Expertise werden als
erfolgskritisch eingestuft. Im Vordergrund steht jedoch nicht die Anwendung des
bestmöglichen Tools, sondern die passende Lösung für die zu untersuchenden
Prozesse zu finden. Häufig bedeutet dies, unterschiedliche Tools zu kombinieren,
um bessere Modelle oder exaktere Analysen zu erhalten. Insbesondere sind struk‐
turierte und unstrukturierte Prozesse mit unterschiedlichen Methoden und Tools
zu analysieren. PM sollte an Prozessen mit einem hohen Abstraktionsgrad durch‐
geführt werden, um heterogene Muster von Prozessinstanzen besser verstehen
und verwalten zu können, die mit der Prozessüberwachung und ‐steuerung zu‐
sammenhängen. Weiterhin wird empfohlen das PM‐Projekt mit einer Testinstanz
zu beginnen, die für ein erstes Minimum Viable Product sorgt, das einen An‐
fangswert zeigt und neben Begeisterung auch Bewusstsein für PM im Unterneh‐
men schafft. Für einen langfristigen Einsatz von PM ist die Visualisierung der ge‐
samten Prozesslandschaft in Form von End‐to‐End Prozessen hilfreich. Eine breite
Anwendung von PM sollte nicht an bestimmten Prozesscharakteristika wie bei‐
spielsweise den Grad der Prozessstrukturierung (wenig strukturiert), des Pro‐
zessverlaufs (gleichzeitig, parallel) oder der Anzahl an Prozessvarianten scheitern.
133
Prozessketten in der Logistik
3
Die Interpretation der Ergebnisse muss aus der Unternehmensperspektive erfol‐
gen. Je mehr Experten in die Bewertungsphase integriert werden, desto umfas‐
sender kann die Analyse erfolgen. Eine domänenspezifische Ergebnisevaluierung
sollte jedoch nicht nur zum Projektabschluss durchgeführt werden, sondern in
Form von regelmäßigen Feedbackgesprächen soll eine kontinuierliche domänen‐
spezifische Evaluierung von jedem Ergebnisschritt erfolgen. Je mehr Informatio‐
nen von den Experten zur Verfügung gestellt werden, desto umfangreicher wird
das Wissen über den analysierten Prozess. Wichtig ist auch die Notwendigkeit des
Transfers der PM‐Ergebnisse in die betriebliche Realität in Form von Prozessver‐
besserungen. Demnach ist eine erfolgreiche PM‐Implementierung auch unmittel‐
bar mit Anpassungen des untersuchten Geschäftsprozesses in Form von Business
Process Reengineering verbunden.
3.2.3 Prozessleistungstransparenz
Prozessketten beschreiben Abläufe als eine Menge von verknüpften Prozessketten‐
elementen. Wesentlich ist jedoch, dass für die Erfassung der Prozessleistung jedes
Prozesskettenelement neben der informellen Beschreibung durch Kennzahlen parame‐
trisiert wird. Wichtige Kennzahlen sind dabei die Prozesskosten, die Prozesszeiten, die
Prozessqualität und die Prozessflexibilität. Diese Prozesskennzahlen dürfen jedoch
nicht isoliert betrachtet werden, sondern deren Wechselwirkungen sind zu beachten.
134
3.2
Prozessmodellierung
Damit Kennzahlen die oben genannten Funktionen erfüllen können, sind an die Kenn‐
zahlenbildung bestimmte Anforderungen zu stellen. Kennzahlen sollen die betriebli‐
chen Tatbestände und Prozesse so realistisch und aktuell wie möglich abbilden, d. h.
dass die entscheidenden Größen eines quantifizierbaren Prozesses oder Zustands in
der Kennzahl zum Ausdruck kommen müssen. Außerdem sollte eine Kennzahl aus‐
schließlich entscheidungsrelevante Informationen abbilden. Eine inner‐ und zwi‐
schenbetriebliche Vergleichbarkeit sowie ein Vergleich zu verschiedenen Zeitpunkten
sollten durch Kennzahlen gewährleistet sein. Aus der Vorgabefunktion ergibt sich die
Anforderung, dass die durch die Kennzahl dargestellte Zielgröße für die entsprechen‐
den Handlungsträger voll beeinflussbar sein muss. Aus Kosten‐ und Nutzenüberle‐
gungen sollten die Kennzahlen soweit wie möglich aus dem betrieblichen Informati‐
onssystem gebildet werden können. Kennzahlen müssen auch zueinander kompatibel
sein, um den späteren Aufbau von Kennzahlensystemen oder ihre Vergleichbarkeit
miteinander zu ermöglichen.
3.2.3.1 Prozesszeit
Die Prozesszeit ist ein leistungsdifferenzierender Wettbewerbsfaktor, da kürzere Pro‐
zesszeiten die Reaktionsfähigkeit und die Termintreue erhöhen sowie die Kapitalbin‐
dung und somit die Kosten reduzieren. Kürzere Prozesszeiten erhöhen auch die Pro‐
zessqualität, da Rückkoppelungen schneller stattfinden und somit die Lernkurve stei‐
ler verläuft. Des Weiteren haben kurze Prozesszeiten eine Erhöhung der Prognose‐
sicherheit und Verringerung des Prognoseaufwands zur Folge. Die Prozesszeit eines
Geschäftsprozesses setzt sich aus den Prozesszeiten der Teilprozesse zusammen, wo‐
bei für die Messung der Prozesszeit von Teilprozessen eine genaue Bestimmung der
Transformation, welche der Messung zugrunde gelegt wird, vorausgesetzt wird. Für
die Erfassung der Prozesszeiten können Laufzettel, Selbstaufschreibungen oder Auf‐
tragsbegleitkarten ausgewertet werden. Auch können Daten aus der Betriebsdatener‐
fassung genutzt werden, falls dort die Messpunkte der zu untersuchenden Prozesse
richtig eingegrenzt werden können. Prozesszeiten werden als Durchlaufzeit oder Zyk‐
luszeit gemessen229.
Die Durchlaufzeit ist die Zeitstrecke vom Anfang bis zum Ende der Transformation im
Prozesskettenelement. Sie ergibt sich aus der Summe der zeitbestimmenden Aktivitä‐
ten einer Transformation, wobei zeitparallele Aktivitäten nicht berücksichtigt werden.
Im Gegensatz zur Durchlaufzeit berechnet sich die Zykluszeit aus der Summe der
zeitbestimmenden Aktivitäten einer Transformation, wobei auch zeitparallele Aktivitä‐
135
Prozessketten in der Logistik
3
ten addiert werden. Somit ist im Fall parallel ablaufender Aktivitäten die Zykluszeit
länger als die Durchlaufzeit. Da die Zykluszeit die Zeitdauer der Ressourcenbindung
misst, erhöht eine Verkürzung der Zykluszeit die Prozesseffizienz.
Die Prozesszeit setzt sich aus der wertschöpfenden Bearbeitungszeit sowie der nicht‐
wertschöpfenden Transfer‐ und Liege‐ bzw. Wartezeit zusammen. Die Bearbeitungs‐
zeit umfasst diejenigen Zeitanteile, die unmittelbar zur Erstellung des Prozessoutputs
beitragen. Die Transferzeit setzt sich aus Zeiten für die Weitergabe von Zwischen‐ und
Endergebnissen zusammen. Zeiten, in denen die Bearbeitung oder der Transfer ruht,
weil z. B. benötigte Inputs oder Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, werden als
Liege‐ bzw. Wartezeit bezeichnet. Transfer‐ und Liegezeiten liefern somit keinen Bei‐
trag zur Wertschöpfung, da sie keinen Mehrwert im Sinne eines zusätzlichen Kunden‐
nutzens erzeugen. Untersuchungen zeigen, dass die Zeitanteile der Liege‐ und Trans‐
ferzeiten ca. 90% der Durchlaufzeit betragen und somit ein erhebliches Rationalisie‐
rungspotenzial darstellen230. Die Zeiteffizienz wird als Verhältnis aus der Summe der
Bearbeitungszeiten und der Durchlaufzeit bzw. der Zykluszeit berechnet. Zeitineffizi‐
enzen treten aufgrund nicht abgestimmter Aktivitäten, unterschiedlichen Bearbei‐
tungsprioritäten und fehlenden oder unzureichenden Informationen zwischen ver‐
schiedenen Bereichen auf.
3.2.3.2 Prozessqualität
Unter Prozessqualität wird das Vermögen einer Gesamtheit inhärenter Merkmale
eines Prozesses zur Erfüllung der Anforderungen von Kunden oder anderen interes‐
sierten Parteien verstanden. Die Prozessqualität wird anhand von Fehlern gemessen,
d. h. ein Prozessergebnis stimmt nicht mit den an den Prozess gestellten Anforderun‐
gen überein. Eine hohe Prozessqualität wird erreicht, wenn Prozesse beherrscht wer‐
den, d. h. es werden keine Fehler angenommen, keine Fehler gemacht und keine Feh‐
ler weitergegeben. Somit ist die präventive Qualitätssicherung ein wichtiges Instru‐
ment zur Verbesserung der Prozessqualität. Eine Beherrschung der Geschäftsprozesse
wirkt sich positiv auf die Kundenzufriedenheit und die Effizienz aus, da durch ver‐
miedene Fehler keine Zeiten, Ressourcen und Kosten zur Fehlerentdeckung, ‐analyse,
‐behebung und ‐vermeidung anfallen. Die Prozessqualität kann z. B. über Qualitäts‐
kosten, First Pass Yield oder Fehlerraten gemessen werden231.
136
3.2
Prozessmodellierung
kosten mit Hilfe einer Prozesskostenrechnung232 ermittelt werden, da sie mit einer
traditionellen Kostenrechnung nicht oder nur ungenau erfasst werden.
Mit der Kennzahl First Pass Yield (FPY) wird derjenige Prozentsatz des Prozessout‐
puts bezeichnet, der nach dem ersten Prozessdurchlauf fehlerfrei ist. Der FPY steht in
reziproker Beziehung zu den Fehlleistungskosten, d. h. eine Erhöhung der Kennzahl
FPY reduziert die Fehlleistungskosten und steigert die Kundenzufriedenheit. Im Ge‐
gensatz zur Kennzahl FPY wird mit der Kennzahl Final Yield die Prozessoutputmenge
nach Durchlauf aller Prozessschritte bezeichnet und durch Multiplikation der FPYs
aller Teilprozesse ermittelt.
Die Fehlerrate eines Prozesses wird ermittelt, indem die nach einem Prozessdurchlauf
aufgetretene Anzahl von Fehlern durch die Gesamtsumme der Prozessergebnisse
dividiert wird. Diese Kennzahl wird in Fehler pro Million Möglichkeiten angegeben
(ppm). Die Prozessstreuung wird mit der Standardabweichung gemessen. Durch
eine Verringerung der Prozessstreuung kann die Prozessqualität verbessert werden.
Ein Prozess weist eine ausgezeichnete Qualität auf (99,99966% Prozessqualität bzw. six
sigma‐Prozess), wenn bei seinen aus Kundensicht kritischen Merkmalen nicht mehr
als 3,4 Fehler pro Million Möglichkeiten auftreten.
3.2.3.3 Prozessflexibilität
Mit der Prozessflexibilität wird die Eigenschaft eines Prozesses bezeichnet, proaktive
oder reaktive sowie zielgerichtete Änderungen eines Prozesses zu ermöglichen, um
veränderte Marktanforderungen oder Umweltbedingungen zu erfüllen. Flexible Pro‐
zesse ermöglichen zum einen, dass sie trotz leicht veränderter Aufgabenstellungen
den für den Prozess definierten Output bringen. Zum anderen müssen sich Prozesse
auch an neue Anforderungen anpassen und einen veränderten Output bringen kön‐
nen, wenn dies aufgrund neuer Anforderungen notwendig ist. Eine hohe Prozessflexi‐
bilität bedeutet, dass einerseits bereits bestehende Prozesse bzw. deren Prozessmodell
schnell an neue Gegebenheiten angepasst werden können und andererseits die schnel‐
le Implementierung von neuen, robust und flexibel ausführbaren Prozessen.
Die Prozessflexibilität ist eng mit der Prozesszeit verbunden, da die grundlegenden
Elemente der Prozessflexibilität sowohl die Anpassung an veränderte Umwelt‐
anforderungen oder Marktanforderungen, als auch die Geschwindigkeit zur Anpass‐
ung sind233. Mit einer hohen Prozessflexibilität sichern Unternehmen langfristig ihre
Existenz, da sie Unternehmen ermöglicht in einem turbulenten Umfeld mit wechseln‐
den Bedingungen Chancen zu nutzen und Risiken abzuwenden. Eine Voraussetzung
zur Anpassung an neue Bedingungen sind klar strukturierte Prozesse, da dadurch
Teilprozesse verändert werden können, ohne dass der Gesamtzusammenhang verlo‐
ren geht. Die Messung der Prozessflexibilität kann z. B. als Verhältnis aus der in der
geforderten Zeit realisierten Prozessanpassungen bzw. ‐implementierungen und der
137
Prozessketten in der Logistik
3
Gesamtanzahl der geforderten Prozessanpassungen bzw. ‐implementierungen berech‐
net werden.
3.2.3.4 Prozesskosten
Mit Kosten erfolgt eine monetäre Bewertung des Verzehrs von Gütern und Diensten
zur Erstellung betrieblicher Leistungen, wobei die Aussagekraft der Kosten wesentlich
vom angewandten Kostenrechnungssystem abhängt. Ein wesentlicher Mangel der
traditionellen Kostenrechnungssysteme besteht darin, dass nur die Einzelkosten direkt
und die Gemeinkosten durch Zuschlagssatzbildung, d. h. nicht verursachungsgerecht,
den Kostenträgern zugerechnet werden. Gerade durch die Zunahme der planerischen,
überwachenden und dispositiven Aktivitäten in den Unternehmen ergibt sich heute
ein Übergewicht der Gemeinkosten gegenüber den Einzelkosten. Diese Verschiebung
in der Kostenstruktur wird durch die traditionelle Zuschlagskalkulation, die Gemein‐
kosten auf Basis einer wertabhängigen Bezugsgröße verrechnet, nicht berücksichtigt,
sodass die Zuschlagskalkulation zu falschen Ergebnissen führt. So werden beispiels‐
weise komplexe Produkte mit vielen Varianten, die wenig nachgefragt werden, mit zu
niedrigen Kosten und andererseits einfache, variantenarme Produkte mit zu hohen
Kosten kalkuliert. Die Zuschlagskalkulation berücksichtigt somit nicht, dass die Kos‐
tenstellen durch einfache und komplexe Produkte sehr unterschiedlich beansprucht
werden.
Die Prozesskostenrechnung versucht diesen Mangel zu beseitigen, indem sie die Ge‐
meinkosten bestimmter Kostenstellen zunächst den in diesen Kostenstellen erbrachten
Leistungen zuordnet. Anschließend bestimmt die Anzahl der vom Kostenträger ver‐
brauchten Leistungen die Höhe der diesem Kostenträger zuzurechnenden Gemeinkos‐
ten.
3.2.4 Prozesskostenrechnung
Zur Quantifizierung und Steuerung der Wertschöpfungsaktivitäten sollte ein prozess‐
orientiertes Kostenrechnungssystem zum Einsatz kommen. Die Prozesskosten‐
rechnung betont die Bedeutung von Prozessen und deren Zusammengehörigkeit über
mehrere Kostenstellen hinweg, woraus sich die Eignung dieses Ansatzes zur kosten‐
und leistungsmäßigen Abbildung logistischer Prozesse ergibt. Die Prozesskosten‐
rechnung geht auf das amerikanische System des „Activity Based Costing“ zurück234.
Sie stellt kein neues Kostenrechnungssystem dar, sondern bedient sich der traditionel‐
len Kostenarten‐ und Kostenstellenrechnung. Die Prozesskostenrechnung wurde in
ihrer ursprünglichen Form als Vollkostenrechnung konzipiert, d. h. es wird keine
Trennung in fixe und variable Kosten vorgenommen.
138
3.2
Prozessmodellierung
Verursachungsgerechte Produktkalkulation:
Ein möglichst hoher Anteil der entstandenen Gemeinkosten soll verursachungs‐
gerecht auf die Produkte zugerechnet werden. Zur Vermeidung von strategischen
Fehlentscheidungen ist eine Vollkostenrechnung erforderlich, die auch die als fix
betrachteten „sunk costs“ berücksichtigt.
139
Prozessketten in der Logistik
3
3.2.4.1 Ablauf der Prozesskostenrechnung
Grundlage der Prozesskostenrechnung bildet die Erfassung der in den einzelnen Kos‐
tenstellen durchgeführten Tätigkeiten, wobei sachlich zusammenhängende Tätigkei‐
ten zu Subprozessen verdichtet werden. Neben der Zuordnung von Subprozessen zu
Kostenstellen erfolgt darüber hinaus eine Zusammenfassung zu übergeordneten
Hauptprozessen, wodurch erst der kostenstellen‐ bzw. abteilungsübergreifende Cha‐
rakter von Prozessen abgebildet wird. Die Aggregation zu Hauptprozessen dient ins‐
besondere dazu, wenige wichtige gemeinkostentreibende Faktoren zu identifizieren,
und soll die Gemeinkostenverrechnung auf die Produkte ermöglichen.
140
3.2
Prozessmodellierung
Planprozesskosten Input 1
Prozesskostensatz
Planprozessmenge Output Produktivität
Eine Produktivitätsbetrachtung unterstützt ein Funktionscontrolling in den
verschiedenen Wertschöpfungsstufen. Produktivitätskennzahlen über die
Zeit betrachtet zeigen einerseits Rationalisierungspotenziale auf und geben
andererseits Hinweise ob und wie schnell produktivitätssteigernde Prozess‐
verbesserungen bereits erreicht wurden.
Prozesskosten(lmn)
Umlage
Prozesskosten(lmi)
Der Umlagesatz der prozessmengenunabhängigen Kosten ergibt sich durch
Multiplikation des Prozesskostensatzes mit der Umlage:
236 Zur analytischen Kostenplanung sei auf KILGER ET AL. (2012, S. 289ff) verwiesen.
237 Die Problematik der Proportionalisierung von fixen Gemeinkosten kann durch eine Unter‐
scheidung der Prozesskosten in variable und fixe Kostenbestandteile gelöst werden, vgl.
KLOOCK (1992, S. 241ff).
141
Prozessketten in der Logistik
3
satz des kostenstellenübergreifenden Hauptprozesses erhält man durch Ad‐
dition der Kostensätze seiner Subprozesse (vgl. Abbildung 3‐9).
Logistik‐
Geschäfts‐ Produkt‐
Einkauf manage‐
prozesse management
ment
Kostentreiber Anzahl Artikel Anzahl Warenein‐ Anzahl Anzahl internat. Anzahl internat.
gangspositionen Distributionen Standorte Distributionen
142
3.2
Prozessmodellierung
Beispiel 3.2.1:
Das Unternehmen Mont Black bietet neben hochwertigen Schreibgeräten auch Leder‐
waren an, die in Handarbeit gefertigt werden. Derzeit sind hohe Kosten für die Lei‐
tung der Qualitätssicherungsabteilung sowie die Schulung der Mitarbeiter im Waren‐
eingang zu verzeichnen. Diese sollen den am Standort Meissen gefertigten Produkten
verursachungsgerecht zugeordnet werden. Für die Durchführung einer Prozesskos‐
tenrechnung für den Prozess „Qualitätssicherung Wareneingang“ werden die not‐
wendigen Daten vom Leiter der Controlling‐Abteilung in der angegebenen Tabelle
bereitgestellt.
Die Kosten für die Leitung der Abteilung sowie für die Schulung der Mitarbeiter stel‐
len die leistungsmengenneutralen Kosten dar.
Damen‐
Prozess ʺQualitätssiche‐ Brieftasche Organizer Etui Mau‐
handtasche Summe
rung Wareneingangʺ Karl L. Boheme ritius
Gloria
Planprozessmenge (ME) 5000 3000 4100 8000
Material beschaffen
Plankosten Prüfen des
Leders auf Unebenheiten
55000 33200 42000 80000
und Aussortieren
schlechter Leder (Euro)
Plankosten Transport der
Leder zum Fertigungsbe‐ 22000 10900 9900 27000
reich (Euro)
Plankosten Leitung der
60000
Abteilung (Euro)
Plankosten Schulung der
10000
Mitarbeiter (Euro)
143
Prozessketten in der Logistik
3
Für die Umlage der leistungsmengenneutralen Prozesskosten gilt:
144
3.2
Prozessmodellierung
und fördert somit Effizienzsteigerungen in den indirekten Bereichen. Bei der Anwen‐
dung auf den Dienstleistungsbereich sind die logistischen Leistungen, die die Abneh‐
mer in Anspruch nehmen, als Produktfunktionen im weiteren Sinn zu sehen. Voraus‐
setzung für seine Anwendung ist, dass die Dienstleistung oder der Prozess einen ho‐
hen Wiederholungsgrad haben und somit die getroffene Entscheidung eine nach‐
haltige Wirkung auf die langfristige Entwicklung des Unternehmens hat. Andernfalls
wäre der relativ hohe Aufwand nicht gerechtfertigt.
Mit Target Costing werden folgende Zielsetzungen angestrebt239:
Target Costing für die Entwicklung neuer Produkte oder Prozesse wird in folgenden
Schritten durchgeführt:
145
Prozessketten in der Logistik
3
Management geforderte Umsatzrendite reduziert wird. Werden die zulässi‐
gen Kosten aus den Produktionskosten bzw. Prozesskosten der Wettbewer‐
ber abgeleitet, z. B. im Rahmen eines wettbewerbsorientierten Benchmar‐
king241, dann wählt man den „out of competitor“‐Ansatz. Bei diesem Ansatz
kann man jedoch nur höchstens Zweitbester werden. In den zulässigen Kos‐
ten sind alle Kosten enthalten, die während des gesamten Lebenszyklus ei‐
nes Produktes bzw. Prozesses entstehen dürfen und sind somit als schärfstes
Kostenziel zu betrachten. Die resultierenden zulässigen Kosten werden nun
noch um diejenigen Kosten (z. B. Kosten für Forschung, Marketing, Verwal‐
tung) reduziert, die nicht auf einzelne Produkt‐ oder Prozesskomponenten
heruntergebrochen werden können.
Schritt 3: Kostenspaltung
Die zulässigen Kosten aus Schritt 2 sind als Gesamtkosten für die geplante
Stückzahl vorgegeben. Um allerdings Kostenvorgaben für einzelne Kompo‐
nenten eines Produktes oder eines Prozesses zu erhalten, ist der Kostenblock
noch auf einzelne Komponenten aufzuspalten. Diese Kostenspaltung wird
anhand der Gewichtung der Produkt‐ bzw. Prozessmerkmale aus Kunden‐
sicht vorgenommen. Das Target Costing basiert auf der Grundannahme,
dass die Teilnutzenwerte der Produkt‐ oder Prozesskomponenten durch
analoge Kostenanteile realisiert werden, d. h. Komponenten, die stärker
zum Kundennutzen beitragen, dürfen auch mehr kosten. Das durch den
Kunden definierte Leistungsprofil wird auf Produkt‐ oder Prozesskompo‐
nenten übertragen und es wird geprüft, inwieweit die einzelnen Komponen‐
ten die von den Kunden geforderten Merkmale erfüllen.
146
3.2
Prozessmodellierung
prozentualer Nutzenanteil
Zielkostenindex
prozentualer Kostenanteil
Ergibt sich ein Zielkostenindex von 1, so hat diese Komponente den richti‐
gen Kostenanteil gemäß der Forderung der Kunden bereits erreicht. Liegt
der Wert dagegen über 1, so ist die Komponente aus Sicht der Kunden ver‐
mutlich „zu einfach“ und bei einem Wert kleiner als 1 „zu aufwändig“. Die
Zielkostenindizes lassen sich in einem Zielkostenkontrolldiagramm darstel‐
len (vgl. Abbildung 3‐10). Im Zielkostendiagramm werden für die Kompo‐
nenten auf der x‐Achse die Nutzenanteile (ui) in Prozent und auf der y‐
Achse die entsprechenden Kostenanteile (ci) in Prozent angetragen. Ein idea‐
les Kosten‐Nutzen‐Verhältnis wird durch die Diagonale repräsentiert. Kom‐
ponenten, die oberhalb der Diagonale liegen sind zu aufwändig und erfül‐
len Funktionen, die der Kunde nicht honoriert. Bei diesen Komponenten
lässt sich Handlungsbedarf für eine Kostensenkung ableiten. Komponenten
unterhalb der Diagonale sind zu einfach, sodass Nachbesserungen notwen‐
dig sind, falls der gewünschte Komponentennutzen nicht bereits mit einfa‐
chen Mitteln realisiert werden konnte.
50
45 zu aufwändig
40
Kostenanteil in % (c)
35 P2
30
25 P4
P3
20 q=15
15
10 q=10 P1 zu einfach
q=15
5
q=10
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50
Nutzenanteilgewichte in % (u)
Da das ideale Kosten‐Nutzen‐Verhältnis meist nicht erreichbar ist, wird ein Zielkorri‐
dor festgelegt. Dieser Zielkorridor gibt denjenigen Bereich an, in dem Abweichungen
der kalkulierten Komponentenkosten von den Zielkosten toleriert werden, solange die
gesamten Produkt‐ bzw. Prozesszielkosten eingehalten werden. Für Komponenten mit
hohen Kosten oder Nutzen ist die Einhaltung des idealen Kosten‐Nutzen‐Verhält‐
147
Prozessketten in der Logistik
3
nisses wichtiger als für Komponenten mit niedrigem Nutzen oder Kosten, d. h. der
Zielkostenkorridor verjüngt sich mit steigenden Kosten‐/Nutzenwerten. Die obere
Begrenzungslinie des Zielkorridors wird durch die Funktion yo u q und die
2 2
Beispiel 3.2.2:
148
3.2
Prozessmodellierung
Kundenwünsche Gewichte
elegantes Design 25%
leichter Schuh 20%
schmutzabweisende Oberfläche 10%
hoher Komfort 35%
lange Haltbarkeit 5%
nicht sichtbare Verschlusstechnik 5%
Der Kundenwunsch elegantes Design wird somit zu 30% vom Obermaterial, zu 15%
vom Innenmaterial, zu 35% von der Sohle und jeweils zu 10% von der Schnürung bzw.
der Verbindung Sohle/Obermaterial beeinflusst. Unter Berücksichtigung der momen‐
tanen Abläufe und Technologien im Unternehmen ergeben sich für die Produktkom‐
ponenten die folgenden drifting cost:
Bei einem Marktpreis von 250 €/Stück und einer Absatzmenge von 1.000.000 Stück
ergibt sich ein erwarteter Umsatz von 250.000.000 €. Unter Verwendung des „market
into company“‐Ansatzes ergeben sich durch Subtraktion der Umsatzrendite vom
Umsatz die folgenden allowable costs:
allowable costs = 250.000.000 € ‐ 50.000 € = 200.000.000 €
Diese allowable costs müssen vor der Kostenspaltung noch um die Forschungskosten,
die Kosten für Marketing und Vertrieb sowie für die Verwaltung verringert werden,
da diese nicht auf einzelne Produktkomponenten heruntergebrochen werden können.
Somit ergeben sich die folgenden allowable costs i. e. S.:
allowable costs i. e. S. = 200.000.000 € ‐ 7.500.000 € ‐ 12.500.000 €– 5.000.000 € =
175.000.000 €
Pro Stück resultieren allowable costs i. e. S. von 175 €. Der Teilnutzenwert der Pro‐
duktkomponenten berechnet sich aus dem Beitrag zur Erfüllung des Kundenwun‐
sches, gewichtet mit der Bedeutung des Kundenwunsches. Somit beträgt der Teilnut‐
zenwert des Obermaterials
0,25 30 0,20 30 0,10 100 0,35 20 0,05 30 0,05 0 32% .
Da die Teilnutzenwerte der Produktkomponenten durch analoge Kostenanteile der
allowable costs i. e. S. realisiert werden, ergeben sich für das Obermaterial erlaubte
Kosten in Höhe von 175 € 0,32 = 56 €.
149
Prozessketten in der Logistik
3
In der folgenden Tabelle werden die Teilnutzenwerte, die allowable costs sowie die
Zielkostenindizes angegeben:
Produktkomponenten
Verbindung
Ober‐ Innen‐ Schnü‐
Sohle Sohle/Ober‐
material material rung
Kundenwünsche Gewichte material
elegantes Design 0,25 30 15 35 10 10
leichter Schuh 0,2 30 20 35 10 5
schmutzabweisende
0,1 100 0 0 0 0
Oberfläche
hoher Komfort 0,35 20 10 60 5 5
lange Haltbarkeit 0,05 30 10 30 0 30
nicht sichtbare Ver‐
0,05 0 0 0 100 0
schlusstechnik
Teilnutzen in % 32 11,75 38,25 11,25 6,75
allowable costs i. e. S.
56,00 20,56 66,94 19,69 11,81
(€/Stck)
drifting costs (€/Stck) 69 35 60 19,5 11,8
Kostenanteil in % 39,43 20,00 34,29 11,14 6,74
Zielkostenindex 0,81 0,59 1,12 1,01 1,00
Aufgrund der resultierenden Zielkostenindizes haben die Schnürung und die Verbin‐
dung Sohle/Obermaterial die richtigen Kostenanteile. Das Innenmaterial und das
Obermaterial werden zu aufwändig und die Sohle wird etwas zu einfach hergestellt.
Beispiel 3.2.3:
150
3.2
Prozessmodellierung
Prozesskomponenten
Material Material‐ Material Material‐
ein‐ zugang kommis‐ abgang
Kundenwünsche Gewichte lagern erfassen sionieren erfassen
Termintreue 0,40 20 15 50 15
Lieferzeit 0,30 20 10 60 10
Lieferqualität 0,20 30 0 70 0
Lieferkosten 0,10 50 25 20 5
drifting costs (€) 6,25 2,08 11,45 1,42
Der Teilnutzenwert der Prozesskomponenten berechnet sich aus dem Beitrag zur
Erfüllung der Kundenwünsche, gewichtet mit der Bedeutung der Kundenwünsche.
Somit beträgt der Teilnutzenwert für die Prozesskomponente „Material einlagern“
0,40 20 0,30 20 0,30 30 0,10 50 25% .
Da die Teilnutzenwerte der Prozesskomponenten durch analoge Kostenanteile der
allowable costs realisiert werden, ergibt sich für die Prozesskomponente „Material
einlagern“ ein erlaubter Prozesskostensatz in Höhe von 17,69 € 0,25 4,42 € .
In der folgenden Tabelle werden die Teilnutzenwerte für die Prozesskomponenten, die
erlaubten Prozesskostensätze sowie die Zielkostenindizes angegeben. Aufgrund der
resultierenden Zielkostenindizes sind im Vergleich zum Benchmarking‐Partner die
Prozesskostensätze für die Prozesskomponenten „Material einlagern“ und „Material
kommissionieren“ zu hoch. Da die Produktivität in diesen Prozessen verglichen mit
dem Benchmarking‐Partner zu gering ist, sollten diese Teilprozesse vorrangig verbes‐
sert werden. Der Teilprozess „Materialzugang erfassen“ hat im Vergleich zum Bench‐
marking‐Partner den richtigen Prozesskostensatz und der Teilprozess „Material‐
abgang erfassen“ weist einen geringeren Prozesskostensatz als der Benchmarking‐
Partner auf.
Prozesskomponenten
Material Material‐ Material Material‐
ein‐ zugang kommis‐ abgang
Kundenwünsche Gewichte lagern erfassen sionieren erfassen
Termintreue 0,40 20 15 50 15
Lieferzeit 0,30 20 10 60 10
Lieferqualität 0,20 30 0 70 0
Lieferkosten 0,10 50 25 20 5
Teilnutzen in % 25 11,5 54 9,5
allowable costs. (€) 4,42 2,03 9,55 1,68
drifting costs (€) 6,25 2,08 11,45 1,42
Kostenanteil in % 35,33 11,76 64,73 8,03
Zielkostenindex 0,71 0,98 0,83 1,18
151
Prozessketten in der Logistik
3
3.2.5.2 Würdigung des Target Costing
Das Target Costing muss als Instrument des strategischen Managements auch zu‐
kunftsbezogen angewendet werden, um Produkte, Dienstleistungen oder Prozesse
anzubieten, welche die vom Kunden gewünschten Merkmale erfüllen und zu Preisen
angeboten werden, die den am Markt geforderten Bedingungen entsprechen. Kritisch
anzumerken ist jedoch, ob bereits in der Phase der Entwicklung von Produkten,
Dienstleistungen oder Prozessen zuverlässige Daten über Zielpreise und potenzielle
Umsätze vorliegen. Da diese Größen mit großen Unsicherheiten behaftet sind, emp‐
fiehlt es sich Durchschnittsgrößen über die gesamte Lebensdauer zu verwenden. Fer‐
ner ist bei großen Zeitspannen zwischen der Konzeption und der Markteinführung in
dynamischen Märkten zu beachten, dass Kundenpräferenzen und Zielpreise sich
ändern und angepasst werden müssen. Somit müssen Änderungen in der Ausgangssi‐
tuation beim Target Costing berücksichtigt werden, sodass für die Durchführung des
Target Costing ein erheblicher Aufwand notwendig ist. Auch wird keine Trennung
zwischen fixen und variablen Kosten durchgeführt und somit haben Fehler bei der
Prognose des Preises und der Menge Auswirkungen auf die zulässigen Kosten je
Stück. Als Renditemaß wird die Umsatzrendite herangezogen, wobei hier zu hinter‐
fragen ist, ob nicht die Kapitalrendite Return on Assets (RoA) eine geeignetere Kenn‐
größe zur Ermittlung des Gewinnabschlags beim Target Costing darstellt243. Auch die
Behandlung der Gemeinkosten (Verwaltung etc.) ist kritisch zu betrachten, da sie als
gegeben betrachtet und abgezogen werden. Somit wird dieser Kostenblock nicht im
Sinne des Target Costing analysiert. Zu überprüfen ist ebenso, ob die Kosten wirklich
proportional im Verhältnis zum Nutzenbeitrag stehen. In einigen Fällen kann der
Kunde eine Komponente als weniger nützlich einstufen, aber ohne diese Komponente
wäre das Produkt nicht marktfähig. Analog dazu ist es denkbar, dass durch eine über‐
durchschnittliche Kompetenz des Unternehmens eine Komponente mit hohem Nut‐
zenbeitrag ohne Qualitätsabstriche preiswert angeboten werden kann. In einem sol‐
chen Fall kann der Zielkostenindex in die falsche Richtung weisen.
Die Durchführung des Target Costing selbst führt noch zu keinerlei Kosten‐
einsparungen bzw. sinnvollen Verschiebungen der Kosten. Das Aufzeigen der Ausma‐
ße verschiedener Kosten anhand ihres Nutzens für den Kunden gibt jedoch eine Rich‐
tung für konkrete Maßnahmen vor. Außerdem wird durch das Target Costing ein
gewisser Kostendruck aufgebaut, ohne den sich keine Änderungen ergeben. Weiterhin
ist zu beachten, dass die Maßnahmen zur Kostenreduzierung nicht immer zu den am
Markt zulässigen Kosten führen müssen. Die einzelnen Komponenten, ihre Materia‐
lien und Fertigungsprozesse müssen einer genauen Kostenanalyse unterzogen wer‐
den. Nur so ist festzustellen, ob es überhaupt möglich ist, die Komponente zu geringe‐
ren Kosten herzustellen und dennoch die geforderte Qualität zu erzielen.
152
3.2
Prozessmodellierung
Relevanz: Die Relevanz fordert, dass das Kennzahlensystem brauchbar für die
Entscheidungsträger und somit leicht verständlich, einfach und nicht zu komplex
ist.
153
Prozessketten in der Logistik
3
zu Lasten anderer wichtiger Zielsetzungen, eine zu starke Ausrichtung auf monetäre
Größen sowie eine zu starke Vergangenheitsorientierung.
Die erwähnten Kritikpunkte veranlassten KAPLAN und NORTON zu Beginn der neunzi‐
ger Jahre das Forschungsprojekt „Performance Measurement in Unternehmen der
Zukunft“ durchzuführen, an dem sich zwölf amerikanische Unternehmen aus den
unterschiedlichsten Branchen beteiligten244. Als Ergebnis entstand als Kennzahlensys‐
tem eine Balanced Scorecard (BSC), die eine Ausgewogenheit zwischen monetären
und nicht‐monetären Kennzahlen, kurzfristigen und langfristigen Zielen, Früh‐ und
Spätindikatoren, sach‐, formal‐ und sozialzielorientierten Kennzahlen sowie internen
und externen Performance‐Perspektiven bietet. Weiterhin berücksichtigt die BSC, dass
der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmens nicht nur auf die Finanzebene begrenzt
ist, sondern zusätzlich um Kundenbeziehungen, Geschäftsprozesse und Mitarbeiter
bzw. Innovationskraft erweitert werden muss.
154
3.2
Prozessmodellierung
Finanzperspektive
men
len
en
nzah
nah
gab
Ziele
Ma ß
Ken
Vor
Wie sollen wir
gegenüber Teil‐
habern auftreten,
um finanziellen
Erfolg zu haben?
Kundenperspektive Perspektive interner
men
men
len
hlen
en
en
Geschäftsprozesse
nzah
nah
nah
gab
nza
gab
Ziele
Ziele
M aß
M aß
In welchen Ge‐
Ken
Ken
Vor
Vor
Vision schäftsprozessen
Wie sollen wir und müssen wir die
gegenüber unseren Strategie besten sein, um
Kunden auftreten, unsere Teilhaber
um unsere Vision und Kunden zu
zu verwirklichen? befriedigen?
Lernen‐ & Entwick‐
men
len
en
lungsperspektive nzah
nah
g ab
Ziele
Ma ß
Wie können wir
Ken
Vor
unsere Verände‐
rungs‐ und Wachs‐
tumspotenziale
fördern, um unsere
Vision zu verwirk‐
lichen?
a) Finanzperspektive
Obwohl von vier gleichgewichtigen Perspektiven gesprochen wird, gilt die finan‐
zielle Perspektive nach wie vor als die Wichtigste. Die Finanzperspektive liefert
eine Übersicht über die wirtschaftlichen Konsequenzen der durchgeführten Akti‐
vitäten und zeigt auf, ob die Implementierung der Unternehmensstrategie grund‐
sätzlich eine Ergebnisverbesserung bewirkt. Die finanziellen Ziele und Kennzah‐
len definieren einerseits die finanzielle Leistung, die mittels der Strategie realisiert
werden soll und andererseits dienen sie als Oberziele für die strategischen Ziele
und Kennzahlen der drei anderen Perspektiven246. Da die finanzielle Situation
des Unternehmens ausschlaggebend für dessen Fortbestand ist und somit die ge‐
sonderte Stellung der Finanzperspektive hervorhebt, münden alle nicht‐mone‐
tären Ziele und Messgrößen in diese Perspektive. Um durch eine Rückverfolgung
der Beziehungen eine Ursachenforschung für die finanzielle Entwicklung zu er‐
möglichen, müssen sämtliche Kennzahlen der Kunden‐, Prozess‐ sowie Lern‐ und
Entwicklungsperspektive grundsätzlich über Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen mit
mindestens einem finanziellen Ziel verbunden sein. Typische Größen der Finanz‐
perspektive sind Umsatz, Gewinn, Cash Flow und Return on Investment, die Spä‐
tindikatoren darstellen. Zur Ableitung logistischer Kennzahlen ist die Identifika‐
tion logistischer Einflussgrößen erforderlich. Beispielsweise werden die Gesamt‐
kosten des Unternehmens durch Materialkosten, die Kapitalbindung durch Lager‐
155
Prozessketten in der Logistik
3
bestände bzw. Umsatzsteigerungen durch verbesserte Logistikleistungen verän‐
dert.
b) Kundenperspektive
Ausgehend von der Identifikation der Kunden‐ und Marktsegmente, in denen das
Unternehmen Erfolg verzeichnen will, sind entsprechende Kennzahlen zu defi‐
nieren, welche die Leistung der Geschäftseinheit in diesen Segmenten messen247.
Die Kundenperspektive beinhaltet Früh‐ und Spätindikatoren. Typische Ergeb‐
nismessgrößen sind Kundentreue, ‐zufriedenheit, ‐rentabilität, und ‐akquisition
sowie die Gewinn‐ und Marktanteile in den Zielsegmenten. Die Leistungstreiber
sollen die Frage beantworten, welches Wertangebot bezüglich der Produkt‐ und
Serviceeigenschaften, der Kundenbeziehungen sowie der Reputation und des
Image das Unternehmen seinen Kunden unterbreiten muss, um die Ergebnis‐
kennzahlen positiv zu beeinflussen248. Beispielsweise können die Kundenzufrie‐
denheit und ‐treue durch eine Verbesserung der logistischen Größen Lieferzeit
und Liefertreue erhöht werden.
156
3.2
Prozessmodellierung
Die vierte Perspektive umfasst Ziele und Messgrößen, die eine lernende und
wachsende Organisation fördern sollen und schafft somit die notwendige Infra‐
struktur, um die Ziele der ersten drei Perspektiven zu erreichen und somit lang‐
fristig Verbesserung und Wachstum zu sichern250. Gegenstand dieser Perspektive
sind die Potenziale und Motivation der Mitarbeiter sowie die notwendigen In‐
formationssysteme251. Typische Spätindikatoren zur Messung der Mitarbeiter‐
potenziale sind die Mitarbeitertreue und ‐produktivität, die zusammen die Mitar‐
beiterzufriedenheit beeinflussen. Da sehr gute Kenntnisse über die Prozesse und
Kunden nur über einen längeren Zeitraum anzueignen sind, ist der Aufbau einer
hohen Mitarbeitertreue, gemessen über die Fluktuationsrate, für die Unternehmen
von großem Wert. Mit der Mitarbeiterproduktivität wird der Ertrag pro Mitarbei‐
ter gemessen, der durch Schulungen und Weiterbildungsmaßnahmen gesteigert
werden kann. Motivierte und gut ausgebildete Mitarbeiter fördern auch die Inno‐
vationsfreudigkeit, die sich anhand der Anzahl umgesetzter Verbesserungs‐
vorschläge messen lässt. Die Voraussetzung für den Erfolg der Mitarbeiter bildet
der jederzeitige Zugriff auf alle notwendigen Informationen der Kunden, der in‐
ternen Geschäftsprozesse und der finanziellen Auswirkungen ihrer Entscheidun‐
gen. Als Kennzahl eignet sich beispielsweise die strategische Informationsde‐
ckungsziffer, welche das Verhältnis von erhältlichen Informationen zum benötig‐
ten Informationsbedarf darstellt.
Diese vier Perspektiven stellen lediglich einen Rahmen dar und sollten branchen‐ und
unternehmensspezifisch angepasst werden. Insbesondere für die Logistik bietet es sich
an, als weitere Perspektive auch eine Lieferantenperspektive einzuführen. Des Weite‐
ren sind die in der Balanced Scorecard zu verwendenden Kennzahlen der einzelnen
Perspektiven nicht isoliert zu betrachten, sondern es muss eine Verknüpfung der Ziele
und Kennzahlen der Finanzperspektive mit denen der drei anderen Perspektiven
erfolgen. Dabei werden alle ausgewählten Kennzahlen durch Ursache‐Wirkungs‐
Beziehungen miteinander verbunden, um in der Gesamtheit die Unternehmensstrate‐
gie widerzuspiegeln und deren Steuerung und Bewertung zu ermöglichen. Ursache‐
Wirkungs‐Beziehungen stellen Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den
strategischen Zielen einer Perspektive sowie zwischen den Perspektiven dar und
schaffen somit beim Management ein Bewusstsein über die Zusammenhänge und
Bedeutung der unterschiedlichen Ziele. Des Weiteren verdeutlichen sie gegenseitige
Effekte bei der Zielerreichung, liefern ein Erklärungsmodell für den strategischen
Erfolg, fördern die Zusammenarbeit im Management und der verschiedenen Bereiche
und gestalten die Logik der strategischen Ziele nachvollziehbar und somit kommuni‐
zierbar252. Zur Bildung von Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen werden ausgehend von
den finanziellen Oberzielen schrittweise Unterziele abgeleitet bis man die unterste
157
Prozessketten in der Logistik
3
Ebene erreicht hat. Dabei muss beachtet werden, dass zwischen zwei Kennzahlen
mehrere und durchaus gegensätzliche Verknüpfungen existieren, die zu Fehlinterpre‐
tationen führen können. Obwohl sich die praktische Generierung von Ursache‐
Wirkungs‐Beziehungen als schwierig darstellt, bietet die Balanced Scorecard kaum
eine methodische Hilfestellung dafür an. In der folgenden Abbildung 3‐12 sind bei‐
spielhaft Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen für eine BSC im Logistikbereich angegeben.
Anstelle der Lern‐ und Entwicklungsperspektive wurde bei dieser BSC eine Lieferan‐
tenperspektive aufgenommen.
158
3.2
Prozessmodellierung
zungen konkretisiert und mit Hilfe von entsprechenden Kennzahlen der einzelnen
Perspektiven operationalisiert. KAPLAN und NORTON empfehlen mit den finanziellen
und kundenbezogenen Zielen zu beginnen, um den Fokus auf eine hohe Rentabilität
oder ein hohes Marktwachstum zu legen und die richtigen Kunden‐ und Marktseg‐
mente für die weitere Entwicklung zu identifizieren254. Anschließend werden die
Leistungstreiber der internen Geschäftsprozesse mit Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen
fixiert und mit Kennzahlen untersetzt. Die Ableitung der Ziele und Kennzahlen für die
Lern‐ und Entwicklungsperspektive bildet das letzte notwendige Bindeglied der BSC,
um Aussagen über erforderliche Investitionen in die Personalweiterbildung und in
Informations‐ und Kommunikationssystemen treffen zu können.
159
Prozessketten in der Logistik
3
eine systematische Vorgehensweise, um die Komplexität des Konzeptes zu beherr‐
schen, den Entwicklungsprozess zu beschleunigen sowie die Kommunikation mit
allen Betroffenen zu erleichtern. Im Folgenden wird die Grundstruktur zur Implemen‐
tierung einer BSC anhand des 5‐Phasenmodells von Horváth & Partner vorgestellt
(vgl. Abbildung 3‐13), das eine konkrete Handlungsanweisung darstellt.
• bestimmen • richtung bestimmen • ziehungen aufbauen • te Einheiten herunter‐ • BSC ins Planungssys‐
• gestalten • wicklung integrieren • wählen • BSCs zwischen den • Mitarbeiter mit Hilfe
• Information, Kommu‐ • Zielwerte bestimmen • Einheiten abstimmen • der BSC führen
• nikation und Partizi‐ • Strategische Aktionen • Qualität sichern und • BSC ins Berichtssys‐
• management unter‐
• stützen
• Costing verbinden
Bei der Schaffung des organisatorischen Rahmens für die Implementierung der BSC
geht es zum einen um die Bestimmung der BSC‐Architektur und zum anderen um die
Regeln eines bewährten Projektmanagements257. Bezüglich der Architektur der BSC
ist die Frage zu klären, welche organisatorischen Einheiten der Logistik mit der BSC
gesteuert werden sollen. Wichtige Ziele der oberen Ebene lassen sich besser auf nach‐
folgende Ebenen herunter brechen, wenn mehr logistische Organisationseinheiten
einbezogen werden. Es empfiehlt sich mit einem Pilotprojekt zu starten, um die
Zweckmäßigkeit der BSC zu testen und um später beim Roll Out bereits Erfolge vor‐
weisen zu können. Bezüglich des Projektmanagements gilt es, die Projektorganisation,
den Projektablauf, das Informations‐ und Kommunikationskonzept, die Methoden‐
standards sowie die kritischen Erfolgsfaktoren zu definieren. Für die Einführung der
Balanced Scorecard in der Logistik sind das Logistikmanagement und das Projekt‐
team, bestehend aus mehreren Beteiligten der verschiedenen einbezogenen Organisa‐
tionseinheiten, verantwortlich. Jedes Projektmitglied erhält entsprechende Aufgaben
160
3.2
Prozessmodellierung
Auf Basis der Zielfestlegung wird eine detaillierte Ablaufplanung für die Steuerung
des Pilotprojekts erstellt, wobei sich der Projektablauf an den in Abbildung 3‐13 abge‐
bildeten fünf Phasen orientiert. Neben der eigentlichen Vorgehensweise umfasst der
Ablaufplan u. a. auch den Zeitaufwand, die Ressourcenbeanspruchung sowie das Pro‐
jektbudget.
Da die BSC ein Konzept zur Umsetzung vorhandener Strategien und nicht zur Ent‐
wicklung grundsätzlich neuer Strategien ist, muss zunächst im Management ein ein‐
heitliches Verständnis über die zu verfolgende logistische Stoßrichtung geschaffen
werden258. Hierbei ist zu beachten, dass Versäumnisse bei der Strategiefindung die
Einführung der BSC erschweren. Zur Festlegung der strategischen Stoßrichtung soll‐
ten vorhandene Dokumente analysiert und Interviews mit den Führungskräften über
potenzielle Strategien erfolgen. Anschließend sollten die ermittelten Strategien abge‐
bildet und drängende strategische Probleme diskutiert werden. Im Rahmen eines
Workshops sollten die Ergebnisse zusammengefasst und daraus eine Abstimmung
über die Relevanz der strategischen Stoßrichtungen erfolgen259.
Zunächst erfolgt die Formulierung der strategischen Ziele sowie der Perspektiven.
Den Ausgangspunkt stellen die Mission und Vision dar, die anschließend in die stra‐
tegischen Ziele umgewandelt werden260. Während die Mission eine prägnant formu‐
lierte und einprägsame Aussage über das Image des Unternehmens in der Öffentlich‐
keit darstellt, wird mit der Vision ein Leitbild für die Unternehmens‐ und Führungs‐
grundsätze ausgedrückt. Weiterhin müssen geeignete Perspektiven gewählt werden.
Da es nicht die universell richtigen Perspektiven gibt, müssen diese individuell gemäß
der Schwerpunktsetzung im Pilotprojekt bestimmt werden. Die Mission und Vision
bilden die Basis zur Erarbeitung der Strategie, die anschließend durch die Formulie‐
rung von strategischen Zielen in den einzelnen Perspektiven umgesetzt werden. Dabei
sollte sich die Strategiedefinition bereits auf denjenigen Bereich beziehen, der Gegen‐
stand des BSC‐Projektes ist. Da i. d. R. zu viele strategische Ziele formuliert werden,
müssen diese vom Projektteam hinsichtlich ihres Potenzials zur Umsetzung der Stra‐
tegie selektiert werden.
161
Prozessketten in der Logistik
3
Anschließend erfolgt die Identifizierung und Darstellung von Ursache‐Wirkungs‐
Beziehungen, sodass die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen den strategischen
Zielen innerhalb der einzelnen Perspektiven und vor allem perspektivenübergreifend
abgebildet werden. Ziele der verschiedenen Perspektiven müssen aufeinander auf‐
bauen und sollen letztlich dem Erreichen der finanziellen Ziele dienen. Durch die
Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen werden die gegenseitigen Abhängigkeiten der Teil‐
ziele transparent und somit kann der Erfolg einer Strategie besser gesteuert werden.
Ist mit der Messgröße das Erreichen des gewünschten Ziels ablesbar?
Wie gut bildet die Messgröße das betreffende Ziel ab?
Kann mit der Messgröße das Verhalten der Mitarbeiter in die gewünschte Rich‐
tung beeinflusst werden?
Ist die Eindeutigkeit der Interpretation der Messgröße gewährleistet?
Ist die kontinuierliche Erhebung möglich?
Liegt die Messgröße überwiegend im Einflussbereich der Zielverantwortlichen?
Kann die Messgröße kurzfristig (1 Jahr) oder nur langfristig (mehr als 2 Jahre)
beeinflusst werden?
Erst durch die Festlegung eines Zielwertes ist das strategische Ziel vollständig be‐
schrieben. Es ist darauf zu achten, dass die festgelegten Zielwerte ehrgeizig, aber auch
realistisch und somit erreichbar sind, da zu niedrige Zielwerte nicht anspornen und zu
hohe demotivierend wirken. Für die Festlegung der Zielwerte dienen Vergleichswerte
aus aktuellen oder vergangenen Zielvorgaben, Benchmarks oder Ergebnisse aus Be‐
fragungen. Die Zielwerte sind für die einzelnen Jahre zu bestimmen, wobei der zeitli‐
che Horizont drei bis fünf Jahre beträgt263. Nachdem der Zielwert für das Ende des
strategischen Zeithorizonts festgelegt wurde, muss dieser in Etappenziele pro Pla‐
nungsperiode heruntergebrochen werden. Die Überprüfung der Etappenziele hat die
Aufgabe verhaltenssteuernd zu wirken.
Abschließend erfolgt die Festlegung von strategischen Maßnahmen in Form von Initi‐
ativen, Projekten und anderen Tätigkeiten außerhalb des Tagesgeschäftes, mit denen
die definierten Zielwerte erreicht werden sollen. Typischerweise entstehen im Rahmen
eines Brainstormings mehr Maßnahmenvorschläge als mit der vorhandenen Mitarbei‐
terkapazität und dem verfügbaren Budget zu bewältigen sind. Deshalb sollten nur
162
3.2
Prozessmodellierung
Durch die vierte Phase soll die Anwendung der entwickelten BSC in möglichst vielen
Organisationseinheiten oder sogar unternehmensweit erfolgen264. Somit wird das
Vorgehen der Phase 3 bei allen ausgewählten Organisationseinheiten durchgeführt.
Dazu werden die strategischen Ziele und Aktionen von in der Hierarchie übergeord‐
neten Organisationseinheiten auf die unteren Einheiten heruntergebrochen (vertikale
Zielintegration). Die strategischen Ziele gleich geordneter Ebenen werden durch die
BSC miteinander koordiniert, sodass eine horizontale Zielintegration erfolgt. Durch
diese vertikale und horizontale Zielintegration werden die strategischen Ziele und
Aktionen besser unterstützt und aufeinander abgestimmt.
Eine langfristige Realisierung der in der BSC formulierten Strategie und abgeleiteten
Ziele ist Gegenstand der letzten Phase265. Um die Strategieentwicklung und
‐umsetzung dauerhaft im Unternehmen zu verankern ist es notwendig, dass die BSC
in das Management‐ und Steuerungssystem integriert und im Unternehmen gelebt
wird. Als problematisch erweist sich jedoch, dass die Managementsysteme sich bisher
meist an der hierarchischen und oftmals funktionalen Organisation des Unternehmens
ausrichten. Die Inhalte der BSC hingegen betrachten jedoch mehrere Organisations‐
einheiten gleichzeitig, sodass die Zuordnung von Verantwortlichkeiten für die BSC‐
Ziele nicht einfach aus dem Organigramm ableitbar ist. Auch sind die Führungs‐,
Planungs‐ und Berichtssysteme an der bestehenden Organisationsstruktur ausge‐
richtet. Somit erfordert die Einbindung der BSC in die bestehenden Management‐
systeme ein Controlling, das die konsequente Umsetzung der strategischen Ziele mit
den entsprechenden Maßnahmen überprüft. Des Weiteren müssen die Ziele und
Maßnahmen der BSC sowohl in die strategische und operative Planung eingebunden
und ein BSC‐orientiertes Berichtswesen aufgebaut werden.
Die konkrete Implementierung der BSC muss durch die Entwicklung eines IT‐Systems
unterstützt werden, das die Messgrößen bzw. Kennzahlen mit den bestehenden Da‐
tenbanken und Informationssystemen verknüpft. Auch die Verknüpfungen der BSC
163
Prozessketten in der Logistik
3
mit dem Target Costing, dem Risikomanagement oder dem Konzept des European
Quality Award (EQA) sind vielversprechend.
Mit Abschluss der letzten Phase wirkt die BSC nicht nur als Instrument zur Messung
der Performance eines Unternehmens (Measurementkonzept), sondern auch als Ma‐
nagementkonzept. Durch die Vorgabe von Zielen und Maßnahmen wird die Perfor‐
mance des Unternehmens aktiv beeinflusst und nicht mehr nur passiv gemessen.
3.2.7 Supply-Chain-Operations-Reference-Modell
Aufgrund der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft durch weltweit
agierende Unternehmen und global vernetzte Versorgungsketten werden logistische
Prozesse immer komplexer. Referenzmodelle begegnen dieser Herausforderung mit
der Möglichkeit, die Unternehmensmodellierung auf mehreren Abstraktionsebenen
unterschiedlicher Detaillierungsgrade zu unterstützen und damit die auftretende
Komplexität zu bewältigen. Bei einem Referenzmodell handelt es sich um ein Modell,
das für die Entwicklung anderer Modelle herangezogen werden kann266. Referenz‐
modelle werden somit nicht anhand objektspezifischer Eigenschaften konstruiert,
sondern abstrahieren diese auf eine höhere Ebene. Um mit einem Referenzmodell auf
der Basis einer einheitlichen Terminologie die Erstellung von Modellen vereinfachen
und beschleunigen zu können, sind an Referenzmodelle im Rahmen des Supply Chain
Managements die folgenden Anforderungen zu stellen267:
164
3.2
Prozessmodellierung
165
Prozessketten in der Logistik
3
dem Lieferprozess des Anbieters ergibt sich die Verkettung der Partner innerhalb der
Supply Chain (vgl. Abbildung 3‐14). Die Planung erfolgt unternehmensübergreifend
und sorgt für ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage sowie einen durchgän‐
gigen Warenfluss.
Planung
Planung Planung
Ermöglichen
Lieferant Kunde
Lieferanten intern oder extern Unternehmen Kunde intern oder extern
des Lieferanten des Kunden
Das SCOR‐Modell weist eine hierarchische Struktur auf und beinhaltet vier Modell‐
Ebenen, wobei auf jeder Ebene Ausschnitte der vorangegangenen Ebene konkretisiert
werden (vgl. Abbildung 3‐15). Auf der ersten Ebene wird der Umfang der betrachteten
Supply Chain mit der Auswahl der beteiligten Partner festgelegt. Da dieser Schritt die
Grundlage für die späteren Optimierungs‐ und Reorganisationsmaßnahmen darstellt,
hat die Abgrenzung unter wettbewerbsrelevanten Aspekten zu erfolgen. Dabei wer‐
den die strategisch bedeutenden Partner der Lieferkette und deren Standorte be‐
stimmt, die Prozesse zwischen ihnen durch die sechs Basisprozesse Planen, Beschaf‐
fen, Herstellen, Liefern, Rückliefern und Ermöglichen beschrieben sowie Leistungszie‐
le festgelegt. In der Abbildung 3‐16 sind die grundlegenden Prozesse auf der Ebene 1
zur Planung und Auftragsabwicklung beschrieben272.
166
3.2
Prozessmodellierung
1 Bestimmung des
Umfangs und
Höchste Ebene der beteiligten
(Prozesse) Partner im Netz‐
Netzwerk werk
2 Planen Konfiguration
der Kernprozesse
Abgedeckter Bereich
Abstimmung der
Unternehmens‐
3 D 3.1
Produkt
strategien
kommissio‐
nieren D 3.3 D 3.4
Gestaltungsebene
Ladungen Versandweg
(Prozesselemente) planen festlegen
D 3.2
Transportun‐
ternehmen aus‐
wählen
4 Beschreibung der
Arbeitsabläufe
Nicht im Modell
und Aktivitäten/
enthalten
Implementierungs‐ Arbeitsanwei‐
ebene (Detaillieren sungen
der Prozesselemente)
167
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐16 SCOR-Prozessbeschreibung275
Beschaffungs‐ Markt‐
prognose
14 9 prognose
Planung
Beschaffungs‐ Supply Chain
möglichkeiten
10 13 Möglichkeiten
Liefer‐
12 möglichkeiten
11
Herstell‐
möglichkeiten
Material‐
bereitstellungs‐ Produktions‐
auftrag auftrag
Informationsfluss
Bestellung 4 3 2 1 Kundenauftrag
Rücklieferung Rücklieferung
Materiallieferung 5 6 7 8 Auftragslieferung
Warenfluss
Teile‐ Produkt‐
lieferung lieferung
Die sechs Basisprozesse werden auf der zweiten Ebene des SCOR‐Modells in Prozess‐
kategorien verfeinert und in kontextspezifische Anwendungsbereiche unterteilt. Auf
dieser Ebene wird genauer beschrieben, wie Prozesse geplant, Materialien beschafft,
Produkte hergestellt und geliefert sowie Rücklieferungen organisiert werden. Weiter‐
hin erfolgt auf dieser Ebene die Beschreibung der Infrastruktur, die für die Ausfüh‐
rung der Prozesse notwendig ist.
168
3.2
Prozessmodellierung
Planung
P1 Planung Supply Chain
D2 Auftragsspezi‐
S2 Auftragsspe‐ M2
Lieferanten
Kunden
zifisch hergestellte
dukte liefern
Produkte beschaffen fertigen
D3 Auftragsspezi‐
S3 Auftragsspezi‐ M3
fisch konstruierte
fisch konstruierte Auf Kundenauftrag
Produkte liefern
Produkte beschaffen konstruieren
D0 Infrastruktur
für Lieferung
Ermöglichen E1, E2, E3, E4, E5, E6, E7, E8, E9, E10, E11
Der Planungsprozess besteht aus fünf Kategorien, die nicht nur die einzelnen Ausfüh‐
rungsprozesse Beschaffung, Herstellung, Lieferung und Rückführung planen, sondern
auch die gesamte Supply Chain. Die Basisprozesse Beschaffen, Herstellen und Liefern
werden in verschiedene Prozesskategorien unterteilt, sodass eine Differenzierung in
eine lagerhaltige und kundenauftragsbezogene Produktion sowie in eine auftragsbe‐
zogene Konstruktion ermöglicht wird (vgl. Abbildung 3‐17). Beim Prozess der Rück‐
führung erfolgt eine Unterscheidung zwischen der Rückführung gelieferter Fertigpro‐
dukte vom Absatzmarkt und der Rückführung beschaffter Produkte zum Beschaf‐
169
Prozessketten in der Logistik
3
fungsmarkt. Der Basisprozess „Ermöglichen“ schafft die Voraussetzungen für einen
reibungslosen Ablauf der Supply Chain, d. h. die Aufrechterhaltung, Handhabung
und Regelung von Informationen und Beziehungen, auf denen die Planungs‐ und
Ausführungsprozesse aufbauen.
Der Basisprozess „Beschaffen“ versorgt das Unternehmen mit Produkten und Leis‐
tungen, um die vorhergesagte oder tatsächliche Nachfrage zu erfüllen. Der Beschaf‐
fungsprozess umfasst die Prozesskategorien S1: Zugekauftes Material beschaffen, S2:
Auftragsspezifisch hergestellte Produkte beschaffen und S3: Auftragspezifisch kon‐
struierte Produkte beschaffen. Diese bilden die verschiedenen Arten der Materialbe‐
schaffung ab, abhängig davon, ob die Ware von einem Anbieter bezogen wird, der
diese auf Lager bereithält (S1), oder ob sie von ihm noch hergestellt (S2) bzw. entwi‐
ckelt (S3) werden muss, bevor sie geliefert werden kann. Zum Basisprozess „Beschaf‐
fen“ gehören neben der Eingangsabwicklung der beschafften Materialien und Produk‐
te die Prüfung, Lagerung und Ausgabe der benötigten Materialien, die Pflege der
Lieferantenbeziehungen und das Abschätzen von Beschaffungsrisiken. Das Manage‐
ment der Beschaffungsinfrastruktur (S0) umfasst z. B. die Zertifizierung von Lieferan‐
ten, das Erstellen und Abschließen von Lieferantenverträgen und die Qualitätskontrol‐
le im Wareneingang.
Der Prozess „Herstellen“ beinhaltet alle Prozesse, welche die Güter in ihren Endzu‐
stand überführen, sodass die vorhergesagte bzw. tatsächliche Nachfrage erfüllt wer‐
den kann. Der Herstellungsprozess – an dem sich sämtliche Prozesse des Modells
orientieren – wird in M1: Lagerfertigung, M2: Auftragsfertigung und M3: Individual‐
fertigung unterteilt. Zu den Prozessen gehören die Materialbereitstellung, Fertigung,
170
3.2
Prozessmodellierung
Gegenstand des Basisprozesses „Liefern“ ist die Lieferung von Fertigwaren oder Leis‐
tungen an die Kunden. Die Unterteilung in die verschiedenen Prozesskategorien ori‐
entiert sich wiederum daran, ob das Produkt bei einer Kundenanfrage auf Lager liegt
und sofort ausgeliefert werden kann (D1) oder ob es erst nach Durchlauf eines Her‐
stellprozesses (D2) bzw. Konstruktionsprozesses (D3) ausgeliefert werden kann. Eine
weitere Prozesskategorie behandelt die Auslieferung an den Handel (D4). Lieferpro‐
zesse beinhalten das Auftrags‐, Lager‐ und Transportmanagement sowie die Abschät‐
zung von Risiken. Das Management der Lieferinfrastruktur (D0) umfasst die Verwal‐
tung der Vertriebskanäle.
Der letzte Basisprozess „Ermöglichen“ beschreibt diejenigen Tätigkeiten, die mit dem
reibungslosen Management der Supply Chain in Verbindung gebracht werden. Dazu
gehören die Festlegung und Gestaltung von Regeln (E1), die Leistungsbewertung der
Supply Chain (E2), die Verwaltung von Daten und Informationen (E3), das Manage‐
ment der Humanressourcen (E4) und des Anlagevermögens (E5), die Verwaltung der
Supply‐Chain‐Verträge (E6), das Management des Supply‐Chain‐Netzwerks (E7), die
Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen (E8), das Management der Supply‐Chain‐
Risiken (E9) und der Supply‐Chain‐Beschaffung (E10) sowie der Supply‐Chain‐
Technologien (E11).
In der dritten Ebene wird jede Prozesskategorie durch Prozesselemente, die als Stan‐
dardreferenz branchenspezifisch konfiguriert sind, genau beschrieben. Gegenstand
sind die Geschäftsprozessfestlegung, die Best Practices sowie die Auswahl einzelner
Metriken, welche bei der Abwicklung von Kunden‐, Einkaufs‐, Fertigungs‐ und Wie‐
derbeschaffungsaufträgen, Genehmigungen für Rücklieferungen und Absatzprogno‐
sen zur Anwendung kommen. Jede Prozesskategorie der zweiten Ebene wird auf
dritter Ebene einer separaten Betrachtung unterzogen und erfährt eine einzelne Do‐
kumentation. Die Prozesselemente werden durch Informationsflüsse zu Prozessmo‐
dellen verknüpft, wobei jedes Prozesselement über einen eindeutigen Bezeichner iden‐
tifizierbar ist. Für jedes Element werden Informationsinput und ‐output sowie die
Reihenfolge festgelegt. Auf Grundlage dieser Detaillierung sind Optimierungen und
Vergleiche mit den Leistungen anderer Prozesse möglich. Abbildung 3‐18 zeigt als
Beispiel für die dritte Gestaltungsebene die Prozesskategorie S1 „Zugekauftes Material
171
Prozessketten in der Logistik
3
beschaffen“ mit den drei Prozesselementen „Materiallieferung“, „Material erhalten &
prüfen“ und „Material transferieren“ sowie deren Input‐ und Outputgrößen.
Ausführungsdaten,
Materialbestand, Be‐
Beschaffungspläne, Zugekauftes
Input stand an Halbfertig‐
Wiederauffüllungs‐ Material
und Fertigprodukten
signale
Beschaffungssignal,
Output Eingangsprüfung Bestand
bestelltes Material
Eine vierte Ebene enthält eine Beschreibung der Aktivitäten und Arbeitsabläufe in den
einzelnen Prozessen. Für diese Ebene werden jedoch keine Modellierungselemente
angeboten, da eine Beschreibung dieser Tätigkeiten nicht branchenunabhängig erfol‐
gen kann. Somit ist diese Implementierungsebene nicht mehr Bestandteil des SCOR‐
Modells.
172
3.2
Prozessmodellierung
Die Kennzahlen der ersten Ebene umfassen strategische Kennzahlen zur Leistungs‐
messung der gesamten Supply Chain. Diese Management‐ oder Leistungskennzahlen
ergeben sich als aggregierte Größen der Kennzahlen der zweiten Ebene. Die Mess‐
größen der dritten Ebene sind mit den Prozesselementen verknüpft, sodass es dem
Management möglich ist, eventuelle Abweichungen schnell identifizieren zu können.
Kundenbezogen Unternehmensbezogen
(extern) (intern)
Leistungs‐ Lieferzu‐ Reaktions‐ Flexibilität Lieferketten‐ Kapitalein‐
attribut verlässigkeit fähigkeit kosten satz
Ebene 3 Prozentsatz Dauer für die Verfügbarkeit der Kosten des Alter über‐
korrekt erstellter Einlagerung der Einkaufsmitarbei‐ Risikomanage‐ schüssiger
Messgrößen zur Lieferscheine Waren ter ments Lagerbestände
Ermittlung der Prozentsatz Rechnungs‐ Aktuelles Liefervo‐ Vertriebskosten Wert der
Leistungsfähig‐ fehlerfreier durchlaufzeit lumen Lagerbestände
keit Produkte
173
Prozessketten in der Logistik
3
Ebene vier. Da diese Ebene außerhalb des SCOR‐Modells auf Basis klassischer Pro‐
zesskettenmodelle277 Berücksichtigung findet, wird sie im Folgenden nicht weiter
konkretisiert.
Der erste Schritt „Analyse der Wettbewerbsbasis“ wird auf Grundlage der in der
SCOR‐Ebene 1 angebotenen Metriken umgesetzt. Mit Hilfe dieser Kennzahlen erfolgt
eine Beurteilung der Supply Chain aus Kundensicht und unternehmensintern (vgl.
Tabelle 3‐2). Diese Kennzahlen werden zur Veranschaulichung der Leistungsziele in
eine Supply Chain Scorecard eingetragen, sodass die aktuelle der angestrebten Leis‐
tungsfähigkeit gegenübergestellt wird. Für die „Gestaltung der Supply Chain“ im
zweiten Schritt empfiehlt das Supply Chain Council die folgenden Teilschritte:
174
3.2
Prozessmodellierung
Beispiel 3.2.4:
Ein US‐amerikanisches Unternehmen stellt Desktops und Laptops sowie Monitore her.
Eine geographische Karte der Supply Chain mit den wichtigsten Punkt‐zu‐Punkt
Materialflüssen ist in der Abbildung 3‐19 gegeben, wobei nur die Teilprozesskette
„Laptop“ betrachtet wird. Eine Niederlassung in Taiwan liefert auftragsspezifisch
hergestellte Produkte, die als zugekauftes Material beschafft (S1) werden. Weiterhin
werden Halbleiterelemente von einem Großhändler beschafft (S1), der diese wiede‐
rum von einem Halbleiterhersteller bezieht (S1). Der Halbleiterhersteller fertigt diese
Halbleiter auftragsspezifisch (M2) und liefert diese anschließend aus (D2). Die auf
Lager gefertigten Laptops (M1) werden an einen Laptop‐Großhändler geliefert (D1),
der diese dann an einen Laptop‐Einzelhändler ausliefert (D1). Bei den Händlern treten
nur Beschaffungs‐ und Lieferprozesse und keine Herstellprozesse auf. Die resultieren‐
den Teilprozessketten der Partner sind in der Abbildung 3‐20 dargestellt.
Niederlassung
Taiwan (D2)
Laptop
Produktion
(S1, M1, D1) Desktop
Produktion
(S1, M1, D2)
Laptop
Großhändler
(S1, D1)
Monitor
Desktop
Produktion
Halbleiter Distributions‐
(S1, M1)
Laptop Großhändler zentrum (D1)
Einzelhändler (S1, D1) (S1, D2)
Halbleiter
Hersteller (S1, M2, D2) Distributions‐
Desktop
zentrum Nord‐
Einzelhändler
amerika (D1)
(S1, D1)
Teilprozesskette „Laptop“
175
Prozessketten in der Logistik
3
Zwischen dem Laptop‐Hersteller und dem Laptop‐Großhändler bzw. dem Laptop‐
Großhändler und dem Laptop‐Einzelhändler werden die Lieferprozesse (D1) und
Beschaffungsprozesse (S1) mit dem Prozess Planung Lieferung (P4) verbunden. An‐
schließend werden die Prozesse Planung Beschaffung (P2) beim Großhändler und
Planung Lieferung (P4) zwischen Groß‐ und Einzelhändler zur Planung der Supply
Chain (P1) aggregiert. Führt man diese Vorgehensweise fort, dann ist eine Gesamtpla‐
nung (P1) für die gesamte Supply Chain möglich.
P1
P1 P1
D2 P2 P3 P4 P2 P4 P2
D2 S1 D2 S1 M1 D1 S1 D1 S1 D1
176
3.2
Prozessmodellierung
großer Vorteil, der vor allem für das generische Benchmarking279 genutzt werden
kann. Vor allem Praktiker in den USA wenden das SCOR‐Modell seit Jahren an und
unterstützen mit ihren Erfahrungen dessen stetige Weiterentwicklung. Bei verschie‐
denen SCOR‐Projekten konnten eine Bestandsreduzierung in der Lieferkette von 50‐
80% realisiert, die Liefertreue um durchschnittlich 10‐25% verbessert, der Gesamt‐
ressourceneinsatz um 50% reduziert, Qualitätsmängel nahezu vermieden und die
Fertigungsfläche um 50% reduziert werden280.
Unternehmen, die das SCOR‐Modell anwenden möchten, müssen die eigenen Prozes‐
se sehr gut verstehen und beschreiben können, da das SCOR‐Modell einen hohen
Abstraktionsgrad besitzt. Die vierte Ebene ist nicht Bestandteil des SCOR‐Modells,
sodass es keine Unterstützung für eine detaillierte Modellierung der Supply‐Chain‐
Prozesse bietet. Eine Anwendung des SCOR‐Modells setzt somit voraus, dass die
Partner in der Supply Chain entsprechende Prozesskettenmodelle282 verwenden, um
auch die Teilprozesse und die Aktivitätsebene mit Kennzahlen entsprechend abbilden
zu können. Weiterhin sollte das SCOR‐Modell nur bei stabilen Netzwerken angewen‐
det werden, da es eine gewisse Kontinuität voraussetzt.
Das SCC befindet sich mit dem SCOR‐Modell in dem Dilemma der Referenz‐
modellierung, da eine zu detaillierte Modellierung zwar den Anpassungsbedarf für
die anwendenden Unternehmen verringert, jedoch gleichzeitig den Anwenderkreis
verkleinert. Dagegen sprechen Referenzmodelle mit einem hohen Abstraktionsgrad
177
Prozessketten in der Logistik
3
einen großen Adressatenkreis an, die jedoch mit einem hohen Anpassungsaufwand
konfrontiert werden. Als weiteres Problem erweist sich die ursprüngliche Entwick‐
lungsintention des SCOR‐Modells283. Demnach wurde das Modell für die Elektronik‐
fertigung mit geringer Fertigungstiefe und einfachen zugrunde liegenden Produkti‐
onsprozessen entwickelt, sodass Schwierigkeiten in der Modellierung komplexer Pro‐
duktionsprozesse mit mehreren Produktionsstufen gesehen werden. Die durch das
SCOR‐Modell induzierte Standardisierung der Prozesse und Strukturen kann auch zu
einem Wettbewerbsnachteil in Form einer Individualitätshemmung der Supply Chains
führen. Das SCOR‐Modell forciert den höchsten Grad der Integration der im Wert‐
schöpfungsprozess involvierten Partner im Sinne einer Synchronisation, die das Errei‐
chen eines netzwerkübergreifenden Gesamtoptimums zum Ziel hat284. Das impliziert
jedoch eine vollständige Informationsoffenlegung aller beteiligten Supply‐Chain‐
Partner sowie die Aufgabe ihrer Steuerungsautonomie, um zentrale Pläne umsetzen
zu können. Demnach kann der Anspruch der Ganzheitlichkeit nur bedingt für einen
Ausschnitt des Netzwerkes realisiert werden.
3.2.8 Prozesskettenmanagement
Zur Darstellung der Effektivität und Effizienz der Unternehmenslogistik gehört neben
der Visualisierung der Logistik‐Prozesskette auch die Operationalisierung der Pro‐
zessleistung. Die Ausrichtung und Erarbeitung logistischer Ziele und Strategien orien‐
tiert sich dabei streng am Kundennutzen, d. h. Prozessketten werden immer vom
Kunden ausgehend analysiert. Die konsequente Ausrichtung der Prozessketten am
Kundennutzen führt zu Verbesserungen der Erfolgsfaktoren Kosten, Qualität, Zeit
und Flexibilität. Insbesondere die Zeitoptimierung in logistischen Ketten ermöglicht es
den Unternehmen schneller und flexibler auf Kundenwünsche zu reagieren und führt
damit zu Flexibilitätsverbesserungen. Die Steigerung der Qualität erhöht die Konkur‐
renzfähigkeit des Unternehmens und reduziert durch Vermeidung von Fehlerfolge‐
kosten auch die Kostenbelastung. Für ein kundenorientiertes Prozesskettenmanage‐
ment sind zunächst die logistischen Prozesse zu erfassen und in Prozessketten abzu‐
bilden, um ein Verständnis für die eigenen logistischen Prozesse zu schaffen. Zur
Sicherstellung des Informationsflusses zu anderen Prozessketten müssen die Schnitt‐
stellen über Input‐ und Outputbeziehungen exakt definiert werden. Das Ziel des Pro‐
zesskettenmanagements liegt in der effektiven und effizienten Gestaltung von Pro‐
zessketten, um damit einen wesentlichen Beitrag zum Erreichen der strategischen,
taktischen und operativen Unternehmensziele zu leisten. Für die nachhaltige Leis‐
tungssteigerung von Prozessketten können die Prozesserneuerung (Revolution) und
die Prozessverbesserung (Evolution) herangezogen werden285.
178
3.2
Prozessmodellierung
179
Prozessketten in der Logistik
3
Zunächst erfolgt eine Identifikation und Visualisierung sowie ein Verständnis der
wichtigsten Logistikprozesse, insbesondere bzgl. der Ziele, Strategie und Einfluss‐
faktoren.
Anschließend wird der Logistikprozess radikal umgestaltet und auf die Kunden‐
anforderungen ausgerichtet. Dazu werden ambitionierte Ziele gesetzt. Die Suche
derjenigen Erfolgsfaktoren, die für eine nachhaltige Verbesserung der eigenen
Prozesse verantwortlich sind, kann z. B. auf der Basis eines Benchmarking290 vor‐
genommen werden.
Für die Implementierung des völlig neuen Prozesses werden die erforderlichen
Maßnahmen zur Erreichung der festgelegten Ziele umgesetzt. Die gesamte Um‐
setzung wird durch eine Fortschrittskontrolle begleitet, indem ein Vergleich mit
den Zielgrößen durchgeführt wird.
Das Business Process Reengineering bietet für Unternehmen, die den Prozess‐
gedanken noch nicht konsequent verfolgen, Chancen zu besserer Kundenorientierung
und kann durch eine geeignete Informationstechnologie unterstützt werden. Jedoch
handelt es sich beim Business Process Reengineering um einen innovativen, einmali‐
gen Veränderungsprozess. Somit fehlt die Betrachtung des weiteren Wandels nach
dem Reengineering, da neue Prozesse auch eine ständige Anpassung an Änderungen
erfordern. Auch tendieren radikale Prozessverbesserungen dazu, die Veränderungsfä‐
higkeit des Unternehmens zu überfordern, sodass ein hohes Risiko des Scheiterns
besteht.
180
3.2
Prozessmodellierung
Anschließend werden das Problem und deren Ursachen analysiert und Ziele
gesetzt.
Der dritte Schritt umfasst die Generierung von Lösungen und die Umsetzung der
besten Lösung.
Der den Kreislauf abschließende Schritt umfasst die Einführung der Lösung als
Standard, um anschließend wieder mit Schritt eins zu beginnen.
Das Prinzip der ständigen Verbesserung kann durch einen kontinuierlichen Verbesse‐
rungsprozess (KVP) im Unternehmen etabliert werden, der auch das organisationale
Lernen im Rahmen der Problemlösungskompetenz stärkt. Die Aktivitäten zur Leis‐
tungssteigerung konzentrieren sich dabei vor allem auf die Vermeidung von Ver‐
schwendungen und Fehlern innerhalb eines Prozesses sowie auf die Reduzierung von
Prozesszeiten und der Streuung der Prozessergebnisse. Da es sich bei der Prozesser‐
neuerung im Rahmen des BPR um einmalige, tiefgreifende Prozessveränderungen
handelt, sollte diese anschließend über geeignete Maßnahmen der kontinuierlichen
Verbesserung konsolidiert, stabilisiert und ausgebaut werden294. Somit bietet es sich
an, die Prozesserneuerung mit der Prozessverbesserung zu kombinieren, um eine
nachhaltige Steigerung der Effektivität und Effizienz der Prozesse zu sichern.
181
Prozessketten in der Logistik
3
3.3 Qualitätssicherung logistischer Prozesse
Zufriedene Kunden sind der dominante, strategische Erfolgsfaktor. Somit darf Quali‐
tät nicht nur als objektiver, technisch zu bestimmender Parameter aufgefasst werden,
der unternehmensintern durch einen Soll‐Ist‐Vergleich überprüft wird, sondern Quali‐
tät wird durch die Anforderungen der Kunden, interne Empfänger jeglicher Leistung
eingeschlossen, definiert. Diejenigen Produkt‐ und Dienstleistungsmerkmale, die zur
Kundenzufriedenheit beitragen, müssen Ausgangspunkt für die Gestaltung des Leis‐
tungsangebots eines Unternehmens sein.
Der Qualitätsbegriff hat sich über die Jahre durch einen zeit‐ und umweltbedingten
Einschätzungswandel verändert. In den 50er Jahren bedeutete Qualität – aufgrund der
Konzentration auf den Fertigungsbereich – die Einhaltung von technischen Standards.
Heute hingegen beziehen Kunden und diverse Anspruchsgruppen in die Beurteilung
der Qualität von Produkten neben grundlegenden Produkteigenschaften und ‐funk‐
tionalitäten verstärkt auch den Bedienungskomfort, modernste Technologie, die
Nachhaltigkeit von Produkten und Produktion sowie einen weltweiten Service mit
ein. Auch wirken sich eine hohe Lieferflexibilität und Lieferqualität oder zusätzlich
angebotene Leistungen wie Tracking and Tracing sowie die kostenlose Entsorgung
von Verpackungsmaterialien positiv auf die Wahrnehmung und Bewertung des Kun‐
den aus.
Unter Qualität wird nach der Qualitätsnorm DIN EN ISO 9001:2015 das Vermögen
einer Gesamtheit inhärenter (lat. innewohnender) Merkmale eines Produkts, eines
Systems oder eines Prozesses zur Erfüllung von Forderungen von Kunden und ande‐
ren interessierten Parteien verstanden. Dieses Qualitätsverständnis schließt nicht nur
die Qualität der Produkte und Dienstleistungen ein, sondern bezieht sich ebenfalls auf
die Qualität der kundenbezogenen Prozesse wie z. B. die Kundenbetreuung und im‐
pliziert somit eine strategische Orientierung, die insbesondere eine hohe Kundentreue
in den Mittelpunkt stellt.
182
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
Die Qualitätslenkung, die auch als Qualitätssteuerung oder ‐regelung bezeichnet wird,
basiert auf den Ergebnissen der Qualitätsplanung. Sie beinhaltet die Vorgabe der Pro‐
dukt‐ und Ausführungsanforderungen sowie die Überwachung der Umsetzung dieser
Anforderungen bei der Leistungserstellung. Als weitere Aufgabe umfasst die Quali‐
tätslenkung die Steuerung der Herstellungsprozesse und die Organisation von Pro‐
dukt‐ oder Prozessprüfungen. Unter Verwendung der Ergebnisse der Qualitäts‐
kontrolle können Maßnahmen veranlasst werden, die Störgrößen und Schwachstellen
eliminieren. Darüber hinaus können auch Maßnahmen geplant und veranlasst wer‐
den, die auf eine Änderung der Entwurfsqualität oder der eingesetzten Prozesse und
Verfahren abzielen.
183
Prozessketten in der Logistik
3
3.3.1 Qualität von Logistiksystemen
Unter Logistikqualität wird die Übereinstimmung zwischen Merkmalen und Merk‐
malsausprägungen eines Logistikprozesses und den Anforderungen verstanden, die
von den Kunden an diesen Logistikprozess gestellt werden. Logistikqualität darf nicht
statisch betrachtet werden, da die Bedürfnisse der Kunden wie auch die gesetzlichen
Anforderungen einem Wandel unterworfen sind. Entsprechend muss die Gesamtheit
der Eigenschaften weiterentwickelt werden, um den jeweils maßgebenden Qualitäts‐
ansprüchen gerecht zu werden.
Zustand
Menge
Leistungsstandard
Art
Ort
Zuverlässigkeit
Zeit
Flexibilität
184
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
den, und kann durch die Streuung des realisierten Ergebnisses um die zugesagte Leis‐
tung bestimmt werden. Die Flexibilität umfasst die Anpassungsfähigkeit des Logistik‐
systems bei unveränderter Struktur des Logistiksystems. Die Ableitung der Phasen
der Leistungserstellung erfolgt auf Basis der kundenorientierten Untersuchung der
Dienstleistungsqualität nach DONABEDIAN, der die Komponenten Ergebnis‐, Abwick‐
lungs‐ und Potenzialqualität unterscheidet297.
Die Ergebnisqualität gibt den Grad der Erfüllung der gesetzten Leistungsziele an und
wird durch die Erfüllung aller fünf Ausprägungen der Ressourcenverfügbarkeit – Zeit,
Ort, Menge, Art und Zustand – bewertet. Eine geringe Ergebnisqualität resultiert aus
der Nichteinhaltung der vom Kunden geforderten Logistikleistung bezüglich einer
oder mehrerer dieser fünf Dimensionen. Wie eine hohe Ergebnisqualität erreicht wird,
ist vom Kunden oftmals nicht genau zu beobachten. Beispielsweise kann eine hohe
Termintreue auch durch teure Sonderfahrten erreicht werden. Diese Unzulänglich‐
keiten in der Erstellung logistischer Leistungen müssen innerhalb der Abwicklungs‐
qualität aufgedeckt werden. Zur Messung der Ergebnisqualität eignen sich z. B. Aus‐
wertungen von Kundenreklamationen oder die Ergebnisse von Lieferanten‐
bewertungen externer Kunden298. Des Weiteren können bei Anwendung der Balanced
Scorecard auch Früh‐ bzw. Spätindikatoren der Kundenperspektive, wie z. B. die
Kundentreue oder ‐zufriedenheit herangezogen werden299.
185
Prozessketten in der Logistik
3
eingesetzt werden, mit der Reklamationen via Telefon, E‐Mail, Brief oder Fax erfasst
werden können. Die Eingabe erfolgt entweder von einer zentralen Reklamationsstelle,
vom Kunden selbst oder von jedem Mitarbeiter mit Kundenkontakt strukturiert über
ein Webformular, z. B. im Intranet, über welches auch eingescannte Dokumente (z. B.
Kundenfehlerberichte, Lieferscheine, etc.) erfasst werden können. Weiterhin spielt die
Reklamationsstimulierung eine wichtige Rolle, denn nur wenn Kunden erfolgreich
motiviert werden, sich zu äußern, kann das Unternehmen überhaupt von ihnen profi‐
tieren. Somit erhält das Unternehmen wertvolle Hinweise zu kritischen Schwachstel‐
len im Unternehmen, die es gewinnbringend zur Verbesserung logistischer Leistungen
nutzen kann.
Die Ergebnisqualität logistischer Leistungen kann auch durch eine systematische Lie‐
ferantenbewertung von größeren Abnehmern verbessert werden. Im Rahmen einer
Lieferantenbewertung wird ein Lieferantenanforderungsprofil definiert, das eine Rei‐
he von überschneidungsfreien Kriterien umfasst, anhand derer die Leistungsfähigkeit
der Lieferanten im Zuge eines Mehrfaktorenvergleiches bewertet wird300. Im Gegen‐
satz zum Reklamationsmanagement, das eher einen situativen Charakter aufweist,
erfolgt bei der systematischen Lieferantenbewertung eine kontinuierliche Erfassung
von Leistungsabweichungen eines geforderten Anforderungsprofils. Durch die Bil‐
dung und Verfolgung von Kennzahlen für die fünf Ausprägungen der Ressourcenver‐
fügbarkeit können im Rahmen einer systematischen Lieferantenbewertung umfassen‐
de Aussagen gewonnen werden. Dabei haben die zu bildenden Kennzahlen im We‐
sentlichen die Operationalisierungs‐, Anregungs‐, Vorgabe‐ und Informationsfunktion
zu erfüllen, um Handlungsbedarf für Verbesserungen zu signalisieren301.
186
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
187
Prozessketten in der Logistik
3
thode werden bereits in der Produkt‐ sowie in der Prozessentstehungsphase die Quali‐
tätserwartungen des Kunden sowie die Anforderungen des Marktes bezüglich der
Produkte und Prozesse einbezogen, um Mängel in späteren Produkt‐ und Prozessle‐
bensphasen zu vermeiden und Qualität in jedem Stadium zu garantieren303. Eine
Zusammenführung verschiedener Unternehmensbereiche, wie Marketing, Produkt‐
entwicklung, Fertigung und Qualitätssicherung in einem Team, kann auf Grundlage
der verschiedenen Fachkenntnisse und ‐fertigkeiten zu einer erfolgreichen Realisie‐
rung des QFD führen. Ziel des QFD ist es, die systematisch erfassten Kundenanforde‐
rungen in einzelne Qualitätsmerkmale und effiziente und effektive Prozesse umzuset‐
zen, die eigene Mittelverteilung den Kundenprioritäten entsprechend auszurichten
und somit eine bessere Abstimmung der gebotenen auf die geforderten Qualitätsleis‐
tungen zu erreichen.
5
4
1 2 6 3
7
8
9
Grundlage zur Durchführung des QFD bildet das House of Quality (HoQ), welches
eine Art Formblatt des QFD darstellt und dessen neun Arbeitsfelder wie folgt schritt‐
weise ausgefüllt werden (vgl. Abbildung 3‐22):
2. Auf Basis der Anzahl der Nennungen oder anhand der durch die Befragten be‐
rechneten Priorisierung (z. B. mit Hilfe einer Conjoint‐Analyse) werden die Kun‐
188
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
In der Abbildung 3‐23 ist ein HoQ für die Bearbeitung eines Kundenauftrags darge‐
stellt. Auf das Feld 7, in dem eine Festlegung der Zielgrößen erfolgt, wurde in diesem
Beispiel verzichtet. Dafür wurde ein neues Feld für die Festlegung von Marktzielen
eingefügt.
189
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐23 Bearbeitung eines Kundenauftrags
x x
x x
Auftragsannahme (schriftlich)
Auftragsannahme (mündlich)
Prozesse
Zusammenführung von
EDV‐/Lagerverwaltung
Kommissionierung
Teilkommissionen
Gewichtung
Verpacken
Wettbe‐
werbsbe‐
Anforderungen des wertung Marktziele
Kunden ‐ +
Hoher Kundenservice 5 1 1 ‐ ‐ ‐ ‐
Eilaufträge 4 1 2 3 2 ‐ ‐
Identifizierbarkeit (Artikel) 3 ‐ ‐ ‐ 3 ‐ ‐
Komplette Lieferung 3 ‐ ‐ 3 ‐ 3 ‐
Rangfolge 4 2 5 1 6 3
Mit der Erstellung des ersten House of Quality, welchem gleichzeitig auch die größte
Bedeutung zukommt, ist die erste Phase des QFD‐Verfahrens abgeschlossen. Darauf
aufbauend folgen drei weitere Phasen, deren Ergebnisse wieder jeweils ein komplett
ausgefülltes HoQ darstellen. Die nachfolgenden Häuser bauen dabei stets auf den
Resultaten des jeweils vorhergehenden Hauses auf und dienen vor allem der genaue‐
ren Spezifizierung und Detaillierung der Anforderungen an die unterschiedlichen
Unternehmensbereiche und ‐ebenen. Auf diese Weise können weitere Wechselbezie‐
hungen zwischen den Leistungsmerkmalen identifiziert und in die Qualitätsplanun‐
gen einbezogen werden. Somit kann mittels QFD die ”Stimme des Kunden“ in konkre‐
te Produkt‐, Prozess‐ oder auch Dienstleistungsmerkmale übersetzt werden und ist
damit sowohl für Neuentwicklungen als auch zur Optimierung bereits bestehender
190
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
Prozesse und Leistungen geeignet. In der folgenden Abbildung 3‐24 sind die vier
Phasen des QFD für die Prozessplanung in der Logistik dargestellt304.
Wie?
Was?
Prozess‐
analyse Wie?
Was?
Wieviel? Lenkungs‐
analyse Wie?
Ressourcen‐
Was?
Prozessstrukturen Wieviel?
analyse Wie?
Dyn. Prozessketten
Was?
Wieviel? Struktur‐
analyse
In den vier Häusern des QFD werden die Fragen nach dem „Was?“ (Was will der
Kunde?) den Fragen nach dem „Wie?“ (Wie können diese Anforderungen in Quali‐
tätsmerkmalen realisiert werden?) gegenübergestellt, um daraus das „Wieviel?“ abzu‐
leiten305:
191
Prozessketten in der Logistik
3
3. Haus der Logistik:
Was: Dynamisierte Prozessketten des 2. Hauses
Wie: Vernetzung mit den Ressourcen
Wieviel: Vollständig bewertete und mit Zielen versehene Prozessketten
Wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anwendung des QFD sind verlässli‐
che Kunden‐ und Wettbewerbsdaten, die insbesondere für das Aufstellen des 1. Hau‐
ses notwendig sind. Zu den Stärken des QFD zählt eine konsequente Orientierung an
den Kundenanforderungen inklusive deren Prioritäten, sodass ein Overengineering
von Prozessen bzw. aufwändige nachträgliche Änderungen vermieden werden kön‐
nen. Auch Schnittstellenverluste werden aufgrund der Zusammenarbeit in funktions‐
übergreifenden Teams minimiert und es lassen sich frühzeitig Aussagen über beste‐
hende Zielkonflikte aufdecken. Weitere Vorteile der Methode bestehen in der Förde‐
rung des interdisziplinären und prozessorientierten Denkens sowie in der
transparenten und nachvollziehbaren Dokumentation aller Schritte. Durch die Doku‐
mentation lassen sich die erstellten HoQ bei ähnlichen Fragestellungen wiederver‐
wenden, was den enormen planerischen und personellen Aufwand zur Durchführung
der Methode deutlich verringern kann.
Die Schwächen des QFD sind vor allem in dem hohen zeitlichen und personellen
Aufwand zu sehen. Daher besteht die Aufgabe des Top‐Managements darin, die Mit‐
arbeiter eines Unternehmens zur Anwendung des QFD zu motivieren. Nur wenn im
gesamten Unternehmen der Stellenwert einer Implementierung des QFD erkannt
wird, kann eine Qualitätsverbesserung erfolgreich sein. Hierbei ist die Methoden‐
kenntnis von essentieller Bedeutung, da eine falsche Durchführung des QFD zu suk‐
zessiven Fehlern führt und in der Folge verstärkende negative Effekte besitzt. Weitere
Probleme können außerdem bei starren Organisationsstrukturen sowie einer Vernach‐
lässigung der Dokumentation und Erfahrungssicherung auftreten.
192
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
Für eine erfolgreiche Erstellung einer FMEA ist eine interdisziplinäre Teamarbeit not‐
wendig. Die einzelnen Teammitglieder sollten hierbei Fachkenntnisse über die gängi‐
gen Qualitätstechniken besitzen. Der Ablauf einer FMEA in der Logistik vollzieht sich
in den folgenden fünf Schritten:
1. Vorbereitung
Bevor mit der Durchführung der eigentlichen FMEA begonnen werden kann, muss
eine Auswahl und genaue Abgrenzung der zu untersuchenden Prozesse erfolgen,
da die Durchführung einer FMEA sehr aufwändig ist. Dazu können die wichtigsten
fehleranfälligen Prozesse auf der Basis von Kundenurteilen (z. B. Beschwerde‐
analyse) oder nach den im Unternehmen gesetzten Prioritäten bezüglich logistischer
Zielgrößen (z. B. niedrige Durchlaufzeiten, hohe Termintreue) identifiziert werden.
Unterstützt werden kann die Prozessauswahl beispielsweise auch durch die Ergeb‐
nisse eines im Vorfeld durchgeführten QFD. Weiterhin muss ein leistungsfähiges
und interdisziplinäres Projektteam zusammengestellt werden, das aus denjenigen
Fachleuten besteht, die mit dem zu untersuchenden Prozess konfrontiert sind. Die
genaue Zusammensetzung ist jedoch von Art und Umfang der zu untersuchenden
Prozesse abhängig. Empfehlenswert ist auch der Einsatz eines Moderators, der über
technisches Wissen, Teamfähigkeit, Motivation und Selbstsicherheit verfügen sollte.
2. Fehleranalyse
Im zweiten Schritt werden zunächst alle Fehlermöglichkeiten unabhängig von ihrer
Bedeutung oder Auftrittswahrscheinlichkeit erfasst. Dabei wird auf ein FMEA‐
Formblatt zurückgegriffen (vgl. Abbildung 3‐25). Anschließend werden für jeden
potenziellen Fehler die individuellen Auswirkungen und Ursachen der einzelnen
Fehlermöglichkeiten identifiziert. Für die Identifikation möglicher Fehlerursachen
eignen sich z. B. Fehlerbäume, bei denen durch die Zerlegung einzelner Fehlerursa‐
chen in weitere Untergruppen Baumstrukturen entstehen. Diese Untergliederung
193
Prozessketten in der Logistik
3
erfolgt so lange, bis alle Ursachen des Fehlerbaumes auf Grundereignisse, die nicht
weiter zerlegt werden können oder sollen, zurückgeführt worden sind. Diese Grun‐
dereignisse werden auch als Blätter des Fehlerbaums bezeichnet und dürfen nicht
voneinander abhängig sein.
Verladen der Mangelnde Beschädi‐ Mangelnde Kontrolle 5 10 5 250 Schulung des Personals Schulung des 2 10 3 60
Ware im Ladungs‐ gung der Ausbildung durch Fahrer an Verladun‐
Warenausgang sicherung Ware der und Bereitstellung geeigneter gen beteiligten
Mitarbeiter Verlade‐ Ladungssicherungs‐ Personals
personal möglichkeiten
Kunde Anschaffung
unzufrieden Transport‐ moderner
sicherung Ladungs‐
Reklamation ungeeignet sicherungs‐
technologien
.
.
.
3. Risikobewertung
Das Ziel der Risikobewertung besteht in der Identifikation der wichtigsten Fehler,
die anschließend für die Umsetzung von Verbesserungsmaßnahmen ausgewählt
werden. Dazu werden der Ist‐Zustand bewertet und gleichzeitig aktuelle Kontroll‐
maßnahmen aufgelistet. Um eine Vergleichbarkeit der Fehler untereinander bezüg‐
lich ihrer Wichtigkeit zu ermöglichen, werden alle potenziellen Fehler nach ihrer
Auftrittswahrscheinlichkeit (A), der Bedeutung für den Kunden (B) und der Wahr‐
scheinlichkeit des Entdeckens vor einer Auswirkung auf den Kunden (E) wie folgt
bewertet:
194
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
Wahrscheinlichkeit
Wahrscheinlichkeit Bedeutung für der Entdeckung
des Auftretens den Kunden (vor Auswirkung
beim Kunden)
Kaum
Unwahrscheinlich Hoch 1
wahrnehmbar
Sehr gering Unbedeutend Mäßig 2‐3
Gering Mäßig schwer Gering 4‐6
Mäßig Schwerer Fehler Sehr gering 7‐8
Hoch Äußerst schwer Unwahrscheinlich 9‐10
4. Verbesserungsmaßnahmen
Für die mit der RPZ priorisierten Fehler werden geeignete Verbesserungs‐
maßnahmen erarbeitet, um das fehlerindividuelle Risiko zu verringern. Dazu kön‐
nen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Fehlers reduziert, die möglichen
Auswirkungen des Fehlers minimiert oder aber die Entdeckungswahrscheinlichkeit
deutlich erhöht werden. Jedoch muss beachtet werden, dass zunächst Maßnahmen
zur Fehlervermeidung, dann zur Folgenminimierung und abschließend zur Erhö‐
hung der Entdeckungswahrscheinlichkeit vorgeschlagen werden sollten. Im Rah‐
men der Fehlervermeidung kann zwischen prozessorientierten (z. B. Statistische
Prozessregelung) und mitarbeiterorientierten Maßnahmen (z. B. Poka Yoke) unter‐
schieden werden. Neben der Festlegung von Maßnahmen müssen auch Verantwort‐
liche benannt sowie Ziel‐ und Terminvorgaben gemacht werden.
5. Ergebnisprüfung
Nachdem die empfohlenen Verbesserungsmaßnahmen termingerecht umgesetzt
wurden, erfolgt im letzten Schritt die Überprüfung und Dokumentation der ge‐
troffenen Maßnahmen sowie eine Beschreibung des verbesserten Zustands. Dazu
wird für jeden im vierten Schritt ausgewählten potenziellen Fehler die neue RPZ be‐
rechnet und somit der Erfolg oder Misserfolg der Maßnahmen kontrolliert. Eine
niedrigere RPZ führt zu einem positiven Ergebnis und wird entsprechend als sol‐
ches dokumentiert. Konnte die RPZ mit den getroffenen Maßnahmen nicht verbes‐
sert werden, so müssen der Fehler neu analysiert und alternative Verbesserungs‐
maßnahmen erarbeitet werden.
Die FMEA als präventives und systematisches Verfahren zur Identifikation, Analyse
und Bewertung von Fehlerursachen und ‐folgen fördert die interdisziplinäre Koopera‐
tion und den Informationsaustausch verschiedener Unternehmensbereiche. Die
Durchführung von Präventionsmaßnahmen statt nachträglicher Fehlerkorrektur führt
zu einer erhöhten Kundenzufriedenheit und verbessert die Wettbewerbssituation.
Auch resultiert der frühzeitige Eingriff bei der Feststellung von Fehlern in der Pla‐
nungsphase in einer Kosten‐ und Zeitersparnis. Durch die Dokumentation kann ein
Informationspool durch Anlegen einer FMEA‐Datenbank geschaffen werden, mit
195
Prozessketten in der Logistik
3
deren Hilfe auch Wiederholungsfehler durch die Übertragbarkeit der erarbeiteten
Verbesserungen auf äquivalente Prozesse vermieden werden können.
Eine Durchführung einer FMEA hat einen erheblichen Zeit‐ und Personalaufwand zur
Folge, da zunächst die Motivation und Schulung der Mitarbeiter notwendig ist, um ein
grundlegendes Verständnis für deren Anwendung zu schaffen. Bei komplexen Prozes‐
sen kann eine FMEA sehr unübersichtlich werden. Es besteht auch die Gefahr, dass bei
gleichartigen Problemstellungen ein gewisser Routinecharakter entsteht. Ein weiterer
Kritikpunkt an der FMEA besteht in der subjektiven Bewertung der Risiken und die
damit zusammenhängende Unsicherheit der RPZ. Weitere Nachteile werden in der
Gleichgewichtung der Auftrittswahrscheinlichkeit, Fehlerbedeutung und Entdeck‐
ungswahrscheinlichkeit sowie in der Nicht‐Berücksichtigung der Fehlerfortsetzung
gesehen. Es besteht auch keine Möglichkeit der Darstellung von Ursachen, die nur
gemeinsam zu unerwünschten Fehlern führen. Des Weiteren können auch mögliche
Fehlerursachen durch die Mitarbeiter verschleiert werden, um eigene Fehler in der
Vergangenheit zu verschweigen und somit etwaige negative Folgen zu vermeiden.
1. Problemanalyse
Im Rahmen der Problemanalyse wird geklärt, welche Probleme wo, wann und unter
welchen Umständen auftreten könnten. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob
bereits Fehler aufgetreten oder bekannt sind, sodass Poka‐Yoke‐Maßnahmen auch
präventiv zur Anwendung kommen können. Die Auswahl der Prozesse, die ent‐
sprechend analysiert werden sollen, kann durch Hinweise von Mitarbeitern oder
durch Anwendung von Methoden wie z. B. einer FMEA oder Fehlerbaumanalyse,
erfolgen. Besonders kritische Prozessschritte sollten generell einer Problemanalyse
unterzogen werden.
196
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
Kontaktmethode
Unzulässige Abweichungen der Produkte oder der Arbeitsfolge werden von Sen‐
soren über geometrische Kenngrößen wie z. B. Maße, Gewichte festgestellt und
signalisiert.
Fixmethode
Durch die Festlegung einer bestimmten Anzahl notwendiger Teilarbeitsschritte
können Fehler durch Unterschreitung der Schrittanzahl festgestellt werden.
Schrittfolgenmethode
Durch die Etablierung einer Standardbewegungsabfolge können Abweichungen
von dieser durch eine Vorrichtung erkannt und gemeldet werden.
Mit dem Regulierungsmechanismus können die Fehler beseitigt werden, wobei fol‐
gende zwei Methoden zur Verfügung stehen:
Alarmmethode
Optische oder akustische Signale signalisieren so lange eine Unregelmäßigkeit
oder Abweichung im Prozess, bis diese behoben wurde.
Abschaltmethode
Unmittelbar nach der Feststellung einer Unregelmäßigkeit mithilfe des Detekti‐
ons‐ und Auslösemechanismus wird der Prozess angehalten, um entsprechende
Korrekturmaßnahmen einleiten zu können.
197
Prozessketten in der Logistik
3
3. Umsetzung
Nachdem die Ideen bewertet, priorisiert und schließlich selektiert wurden, findet
die Umsetzung des Poka Yoke statt. Dazu gehört die Schulung der Mitarbeiter, die
Installation von Sensoren und die Dokumentation der Wirkungsweise. Bereits ge‐
machte Erfahrungen können die Umsetzung der einzelnen Maßnahmen dabei we‐
sentlich begünstigen. Die Umsetzung von Poka‐Yoke‐Maßnahmen sollte im Idealfall
in der Phase der Prozessgestaltung berücksichtigt werden.
Für die Logistik bietet sich die Umsetzung von Poka Yoke beispielsweise für die
Kommissionierung oder Distribution an. Der Kommissionierprozess ist i. d. R. wenig
automatisiert und daher sehr anfällig gegenüber menschlichen Fehlern. Aus diesem
Grund wird durch entsprechende Pick‐by‐Light‐ oder Pick‐by‐Voice‐Maßnahmen
versucht den Kommissionierer bei seiner Arbeit zu unterstützen. Bei Pick‐by‐Light
steuert der Kommissionierer das nächste Fach durch eine weithin sichtbare Blickfang‐
leuchte an und über einen Quittierknopf bestätigt er die Entnahme, sodass die Be‐
standsänderung in Echtzeit an das Lagerverwaltungssystem zurückgemeldet werden
kann. Meist besitzen die Fachanzeigen zusätzlich eine numerische oder alphanumeri‐
sche Anzeige, um dem Kommissionierer die Entnahmemenge und gegebenenfalls
zusätzliche Informationen anzuzeigen. Pick‐by‐Voice übermittelt die Kommissionier‐
aufträge vom Lagerverwaltungssystem mittels Funk an das Headset des Kommissio‐
nierers. Dabei umfasst die erste Sprachausgabe das Regal, von dem Waren entnom‐
men werden sollen. Der Kommissionierer übermittelt dann die am Regal angebrachte
Prüfziffer oder einen Prüfbuchstaben womit das System eine Überprüfung vornehmen
kann. Falls die richtige Prüfziffer genannt wurde, wird dem Kommissionierer mitge‐
teilt, wie viele Einheiten er aus dem Fach entnehmen soll. Nach Entnahme quittiert der
Kommissionierer diesen Vorgang mittels Schlüsselwörtern, die vom Lagerverwal‐
tungsrechner mittels Spracherkennung verstanden werden. Durch diese Poka‐Yoke‐
Maßnahmen resultieren eine geringere Fehlerrate, höhere Kommissionierleistungen
und eine nachhaltig verbesserte Ergebnis‐ und Abwicklungsqualität.
Zu den Stärken von Poka Yoke gehören die frühzeitige Erkennung und präventive
Verhinderung von menschlichen Fehlern, geringe Investitions‐ und Umsetzungs‐
kosten bei weichen Poka‐Yoke‐Maßnahmen, eine Erhöhung der Effizienz durch stabile
Prozessabläufe sowie die Umsetzung einer Null‐Fehler‐Strategie.
Für eine erfolgreiche Umsetzung von Poka Yoke ist die Kenntnis der Fehler eine not‐
wendige Voraussetzung, da nur durch ein entsprechendes vorausschauendes Denken
durch System‐ und Prozessingenieure die potenziellen Fehler durch geeignete Mecha‐
nismen verhindert werden können. Somit ist insbesondere bei neuartigen Prozessen
eine Anwendung kritisch zu sehen. Außerdem ist der Erfolg einer Poka‐Yoke‐Maß‐
nahme stets von der Qualität der Problemanalyse abhängig. Falls nur Symptome, nicht
aber die eigentlichen Fehlerursachen bekämpft werden, dann können trotz eigentlich
guter Lösungen hohe Ausschussraten und Nacharbeitskosten auftreten.
198
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
3.3.2.4 Auditierung
Der Begriff Auditierung bzw. Audit beschreibt eine neutrale und prozessunabhängige
Prüfungsmethode, welche durch systematischen Soll‐Ist‐Vergleich Aussagen über den
Umsetzungsgrad und Erfolg von Systemen, Maßnahmen und anderen Sachverhalten
möglich macht. Speziell im Qualitätsmanagement ist die Methode auch als Qualitäts‐
audit bekannt und dient der Kontrolle von qualitätsbezogenen Tätigkeiten und den
damit zusammenhängenden Ergebnissen. Eine Auditierung kann zur Erarbeitung von
Verbesserungsmaßnahmen, aber auch zur Messung des Fortschritts bei der Umset‐
zung eines gesamten Qualitätsmanagementsystems eingesetzt werden. Als Grundlage
für die Auditierung werden Regelwerke, wie die DIN EN ISO 9000 Normenreihe,
angewendet, die branchenweit anerkannte Forderungen und Ansprüche für die Im‐
plementierung von Qualitätsmanagementsystemen in Unternehmen beinhalten309.
Die Auditierung ermittelt zudem die Verhältnismäßigkeit von Nutzen und Aufwand
der Qualitätstätigkeiten. Zum einen werden die Unternehmensziele, wie z. B. die Ge‐
winnmaximierung und zum anderen das Erreichen der von den Kunden geforderten
Ziele, wie z. B. Qualität, Liefertreue und Service, verfolgt. Für die Aufgabe der Audi‐
tierung wird ein Qualitätsmanagementbeauftragter eingesetzt, welcher unabhängig ist
und nicht im direkten Verhältnis zu der zu auditierenden Aktivität steht. Falls die
Auditoren Mitarbeiter des Unternehmens sind, dann spricht man von einem internen
Audit, und bei externen Experten von einem externen Audit.
Das Produktaudit überprüft, meist auf Basis einer Stichprobe, die Übereinstim‐
mung der Produkteigenschaften mit Kundenwünschen sowie die Konsistenz und
Sinnhaftigkeit der dazugehörigen Unterlagen.
Das prozessbezogene Verfahrensaudit befasst sich in erster Linie mit der Wirk‐
samkeit der vorhandenen Richtlinien, Vorschriften und der Erreichung des ange‐
strebten Qualitätsziels bezüglich bereits umgesetzter Maßnahmen.
Der Ablauf eines Audits kann, unabhängig von seiner Art, in folgende drei Phasen
unterteilt werden:
1. Vorbereitungsphase
In der ersten Phase werden die zu untersuchenden Objekte und Sachverhalte sowie
Ziele der Auditierung definiert. Außerdem werden die durchführenden Auditoren
bestimmt und alle relevanten Informationen und Daten bezüglich des zu auditie‐
199
Prozessketten in der Logistik
3
renden Produktes, Prozesses oder Systems zusammengetragen. Darauf aufbauend
wird ein Fragenkatalog erarbeitet, welcher der Feststellung des Erfolgs oder Misser‐
folgs von Qualitätssicherungs‐ und Verbesserungsmaßnahmen dient.
2. Durchführungsphase
In der Durchführungsphase erfolgt die Detailplanung und die Festlegung von Rei‐
henfolge und Schwerpunkten des Audits. Dazu werden Mitarbeiter des jeweiligen
Bereichs gemäß dem Fragenkatalog interviewt, sämtliche relevante Unterlagen kon‐
trolliert und stichprobenartig die richtige Durchführung der festgelegten Verhal‐
tensvorschriften überprüft.
3. Auswertungsphase
In der letzten Phase werden die ermittelten Abläufe sowie Abweichungen im Audi‐
tbericht dokumentiert und bewertet. Es erfolgt eine Formulierung von Defiziten so‐
wie die Ableitung von Verbesserungsvorschlägen. Ein zuvor abgestimmtes Bewer‐
tungsschema ermöglicht einen Vergleich des eigenen Qualitätsmanagementsystems
mit dem anderer Unternehmen. Die Ergebnisse werden anschließend den verant‐
wortlichen Führungskräften vorgestellt, welche gegebenenfalls weitere Maßnahmen
veranlassen, die wiederum bezüglich ihrer Umsetzung überwacht und verfolgt
werden müssen.
Zu den Schwächen zählen der verhältnismäßig hohe Arbeitsaufwand bei der Neuein‐
führung und die damit verbundene erstmalige Erstellung eines Fragenkatalogs. Auch
besteht die Gefahr der Beeinflussung des Auditergebnisses durch eine fehlende Homo‐
genität des Fragenkatalogs. Insbesondere können durch eine Variation der Gewichtung
und Bewertung sowie des Detaillierungsgrads der Fragen unterschiedliche Ergebnisse
in Abhängigkeit der durchführenden Auditierungsinstitution erzielt werden. Weiter‐
200
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
hin repräsentieren Audits lediglich Momentaufnahmen und stellen nur den aktuellen
Zustand bei Durchführung des Audits dar.
Die SPC basiert auf der Grundannahme, dass alle Prozessabläufe gewissen natürlichen
Schwankungen unterliegen, sodass das Resultat eines Prozesses folglich das Ergebnis
der vielen unterschiedlichen Einflüsse auf einen Prozess ist. Diese Prozessvariabilität
führt zu unterschiedlichen Resultaten und unterliegt den Gesetzen der Wahrschein‐
lichkeit. Neben diesen natürlichen und nicht beeinflussbaren Schwankungen existie‐
ren auch nicht‐natürliche Abweichungen, d. h. Schwankungen, die sich aus Fehlern
und Störungen im Prozessablauf ergeben und die natürliche Variabilität überlagern.
Als Folge resultieren deutlich voneinander abweichende Prozessergebnisse mit ent‐
sprechenden Qualitätsabweichungen. Die Einhaltung einer gewissen Prozessstabilität
ist somit eine wichtige Voraussetzung für ein gleichbleibend hohes Qualitätsergebnis.
Die Aufgabe der SPC ist es daher diejenigen Werte, die nicht‐natürliche Einflüsse sig‐
nalisieren, frühzeitig zu identifizieren, um ein rechtzeitiges und angemessenes Ein‐
greifen zu ermöglichen und damit stabile Prozesse zu schaffen310.
Die Prozesse werden mit Stichproben überprüft, was zur Folge hat, dass keine einzel‐
nen Merkmalsträger überprüft werden, sondern es wird die Gesamtheit aller Merk‐
malsträger analysiert. Um zwischen den natürlichen Schwankungen und systematisch
bedingten Veränderungen im Prozess genau differenzieren zu können, werden als
Hilfsmittel verschiedene Qualitätsregelkarten verwendet. Auf diesen Qualitätsregel‐
karten werden die aus den Stichproben resultierenden Ergebnisse grafisch dargestellt,
um auf Prozessstörungen und ‐schäden aufmerksam zu machen und durch die Gestal‐
tung von Regelkreisen eine optimale Prozessführung zu ermöglichen. Eine Qualitäts‐
regelkarte kann durch folgende drei Eigenschaften charakterisiert werden311:
201
Prozessketten in der Logistik
3
Abbildung 3‐26 Qualitätsregelkarte mit Warn- und Eingriffsgrenzen
4,5
4
OEG
3,5
OWG
Stichprobenmittelwerte
3 Prozessmittelwert
2,5 UWG
2 UEG
1,5
0,5
0
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Stichprobennummer
In den Regelkarten werden jeweils eine obere und eine untere Warn‐ (QWG, UWG)
sowie Eingriffsgrenze (OEG, UEG) festgelegt. Bei einem stabilen Prozess schwanken
die Werte gering und zufallsverteilt zwischen diesen Grenzen um einen Mittelwert.
Überschreiten die Werte jedoch diese Eingriffsgrenzen, so ist dies ein Anzeichen für
auf Fehler zurückführbare Einflüsse und es muss entsprechend regulierend in den
Prozessablauf eingegriffen werden (vgl. Abbildung 3‐26). Auf diese Weise können
systematische Störungseinflüsse erkannt und beseitigt sowie stabile, qualitätsfähige
Prozesse geschaffen werden. In der Abbildung 3‐26 werden die obere Eingriffsgrenze
bei den Stichprobennummern 3 und 4 über‐ und die untere Eingriffsgrenze bei den
Stichprobennummern 2, 6, 19 und 20 unterschritten.
202
3.3
Qualitätssicherung logistischer Prozesse
OEG UEG
Cp
6
und das Verhältnis der Streubreite zur Toleranz (OEG‐UEG) angibt. Wenn die Tole‐
ranz dem 6‐fachen der Prozessstreuung entspricht, dann ist der Cp = 1,00. In diesem
Fall liegen 99,73% der Messwerte innerhalb der Toleranz. Der Prozess‐
fähigkeitsindex berücksichtigt nicht die Lage des Prozessmittelwerts und sagt somit
aus, welche Prozessfähigkeit erreicht werden könnte, wenn der Prozess zentriert
wäre. Würde ausschließlich der Cp‐Wert zur Prozessfähigkeitsbewertung verwendet
werden, dann könnte im ungünstigsten Fall ein Prozess völlig außerhalb der Tole‐
ranz liegen und dennoch durch eine relativ kleine Streuung einen hohen Cp‐Wert
haben.
Dagegen verwendet der Cpk‐Wert neben der Prozess‐Streuung auch die Prozess‐
lage μ zur Beurteilung der Prozessfähigkeit. Er wird wie folgt definiert:
UEG OEG
C pk min ;
3 3
Ist für ein Merkmal nur eine Toleranzgrenze UEG oder OEG angegeben, wird aus‐
schließlich der Cpk‐Wert für die Prozessfähigkeit berücksichtigt. Im Allgemeinen
verweisen höhere Cp‐ bzw. Cpk‐Werte auf einen fähigeren Prozess. Niedrigere Werte
geben an, dass der Prozess möglicherweise verbessert werden muss. Gängige Cpk‐
Werte, ab denen man von Prozessfähigkeit spricht, sind 1,33 und 1,67. Diese Werte
entsprechen 8 bzw. 10 zwischen den Toleranzgrenzen und führen zu einer
Fehlerwahrscheinlichkeit von 0,0063% bzw. 0,000057%. Prozesse mit wesentlichem
Anteil an Handarbeit erreichen unter idealen Bedingungen bestenfalls Cpk‐Werte
von 1,0. Erst wenn ein Prozess als stabil gilt, wird mit dem dritten Schritt weiterver‐
fahren.
3. Bestimmung der Eingriffsgrenzen
Im dritten Schritt werden die Eingriffsgrenzen, der Mittelwert sowie gegebenenfalls
die Warngrenzen auf Basis der vorherigen Ergebnisse ermittelt. Je nach Typ der
verwendeten Qualitätsregelkarte können andere Werte als Grenzwerte in Frage
kommen. Generell werden diese Grenzen anhand der aus Stichproben ermittelten
Streuung aus Tabellen bestimmt. Neben der Ermittlung der Grenzen werden im
203
Prozessketten in der Logistik
3
dritten Schritt auch der zukünftige Stichprobenumfang und die Stichprobenfre‐
quenz festgelegt.
Die SPC als Instrument zur Visualisierung und Überwachung von Messwerten ist für
logistische Vorgänge von großem Nutzen. Eine wichtige Voraussetzung für einen
Einsatz der SPC in der Logistik ist das Ziehen von Stichproben und die Vergleich‐
barkeit der Ergebnisse. Daher sollten nur Standardprozesse wie z. B. Auftragsbearbei‐
tungs‐ oder Kommissionierprozesse, welche häufig im Unternehmen auftreten, aus‐
gewählt werden. Für den Einsatz der SPC in der Logistik werden weiterhin mess‐ und
regelbare Prüfgrößen vorausgesetzt, wie z. B. Auftragsdurchlauf‐ und Lieferzeiten,
Terminabweichungen, die Anzahl von Kundenreklamationen oder Fehlteile pro Auf‐
trag sowie der Auslastungsgrad der Transportmittel. Zu beachten ist jedoch, dass eine
kurzfristige Regelung der logistischen Prozessgrößen, wie z. B. die Korrektur der
Terminabweichung, nicht durchführbar ist. Logistische Prozesse sind oftmals vonei‐
nander abhängig, sodass die Analyse der Fehlerursache zu einem Problem in einem
mangelhaften vorgelagerten Prozess führt. Die Regelung dieses Mangels bedarf meist
einer übergeordneten Maßnahme des Managements, wofür ein Mitarbeiter meist keine
Befugnisse besitzt. Aus diesem Grund sind kurzfristig regelbare Prüfmerkmale, wie z.
B. die Lieferzeit, welche direkt durch die Mitarbeiter beeinflusst und geregelt werden
können, besser geeignet.
Zu den Stärken der SPC zählen die Möglichkeit der frühzeitigen Fehler‐ und Kosten‐
vermeidung durch präventive Eingriffe in den Prozess, Zeitvorteile durch rechtzeitige
Signalisierung sich anbahnender negativer Veränderungen vor dem eigentlichen Ein‐
treten und somit die Möglichkeit der kontinuierlichen Steigerung des Prozessniveaus
sowie die guten Kontrollmöglichkeiten.
Schwächen der SPC liegen in dem hohen personellen und zeitlichen Aufwand für die
Schulung der Mitarbeiter zur Vermittlung der statistischen Kompetenzen sowie zur
Erhebung der notwendigen Daten. Weiterhin ist der verzögerte Wirkungseinsatz zu
kritisieren, da ein gewisser Vorlauf benötigt wird, um gesicherte Aussagen treffen zu
können. Auch werden keine Aussagen über mögliche Ursachen der identifizierten
204
3.4
Literaturhinweise
Probleme getroffen, sodass eine separate Analyse erforderlich ist. Ein weiterer Kritik‐
punkt ist die unterstellte Normalverteilung, die in der Praxis nur in seltenen Fällen
gerechtfertigt ist, da eher Mischverteilungen vorzufinden sind313.
3.4 Literaturhinweise
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Prozessketten in der Logistik
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210
4 Konzepte und Methoden zur
Verbesserung logistischer Prozesse
In diesem Kapitel soll zunächst ein Überblick über die Entwicklungsgeschichte des
Benchmarking gegeben werden. Daran anschließend werden auf der Basis ausgewähl‐
ter und in der Literatur vorgestellter Definitionsansätze die grundlegenden Aspekte
dieses Managementwerkzeugs herausgearbeitet.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 211
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_4
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
faktoren erläutert. Weiterhin erfolgt eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Pha‐
sen des Benchmarking‐Zyklus unter Berücksichtigung logistischer Fragestellungen314.
Lernziele:
Xerox wollte 1979 mit Benchmarking ursprünglich nur die Stückkosten in der Ferti‐
gung analysieren. Man erkannte dabei sehr früh, dass eine Stückkostenanalyse durch
314 Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen LASCH (1998, S. 117ff) entnommen.
315 Vgl. GRUNWALD (1995, S. 144ff).
212
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Ein interner Vertriebsfachmann wurde beauftragt, Unternehmen mit den besten Pro‐
zessen im Vertriebsmanagement ausfindig zu machen. Nach dem Studium von Fach‐
zeitschriften und entsprechenden Kontakten mit Branchenverbänden und Unterneh‐
mensberatern konnte der Sportartikelversender L. L. Bean als geeigneter Kandidat für
das Benchmarking ausfindig gemacht werden. Der Vertriebsmann erkannte die für
einen Laien wohl kaum sichtbare Strukturgleichheit zwischen beiden Unternehmen,
nämlich die Entwicklung von Lagerhaltungs‐ und Vertriebssystemen für Produkte
höchst unterschiedlicher Größen, Formen und Gewichte. Bei einem Vergleich der
Leistungsbeurteilungsgrößen „Aufträge pro Manntag“, „Stückzahl pro Manntag“ und
„Gänge pro Manntag“, übertraf L. L. Bean bei der Produktivitätskennzahl „Gänge pro
Manntag“ Xerox um das Dreifache. Als Hauptursache konnte die sehr viel größere
Zahl an computergesteuerten Arbeitsvorgängen bei L. L. Bean identifiziert werden.
Xerox konnte von dem System von L. L. Bean einige der Verfahren erfolgreich für die
Modernisierung der eigenen Lager nutzen. Die positiven Erfahrungen führten zu
Folgeprojekten im Bereich Logistik/Vertrieb, sodass eine Steigerung des jährlichen
Produktivitätszuwachses auf 10% in den Folgejahren erreicht werden konnte. Da der
Benchmarking‐Zyklus immer ein Geben und Nehmen bedeutet, ergaben sich auch für
den Partner L. L. Bean Vorteile. Benchmarking wurde erstmals bei Xerox institutionali‐
siert und systematisch angewandt. Heutzutage wird bei Xerox prozessorientiertes
Benchmarking durchgeführt, d. h. man geht von einem ganzheitlichen Ansatz aus, der
das gesamte Unternehmen und alle Bereiche einbindet.
Seit dem erfolgreichen Einsatz von Benchmarking bei Xerox ist dieses Management‐
tool von namhaften Unternehmen angewandt worden316. Die erste systematische
Darstellung der Benchmarking‐Methodik geht auf CAMP (1989) zurück, die auf prakti‐
schen Erfahrungen aus einer Reihe von Benchmarking‐Projekten gründet. Die Veröf‐
fentlichung dieses bis heute gültigen Standardwerkes führte zu einer explosions‐
artigen Verbreitung von Benchmarking auch jenseits der USA. Für die weitere Verbrei‐
tung von Benchmarking sorgte der Malcolm Baldrige National Quality Award, der
durch den Präsidenten der USA ab 1987 verliehen wird, und eine begehrte Auszeich‐
nung für herausragende Leistungen im Qualitätsmanagement darstellt. Amerikani‐
sche Unternehmen, die den Malcolm Baldrige National Quality Award gewonnen
haben, verpflichten sich, ihre Erfahrungen an andere amerikanische Unternehmen
weiterzugeben. Ziel hierbei ist ein bewusster Wissenstransfer, um die amerikanische
213
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Wirtschaft im internationalen Vergleich zu stärken. Von den Bewerbern für diese be‐
gehrte Auszeichnung mit hohem Prestigewert wird heute eine Anwendung des
Benchmarking verlangt317. Benchmarking als fester Bestandteil der Kriterien für die
Vergabe dieser Auszeichnung verdeutlicht den hohen Stellenwert dieses Management‐
instruments in den USA. Beim European Quality Award, der in Anlehnung an den
Malcolm Baldrige Award in den Bewertungskriterien ebenfalls das Instrument
Benchmarking beinhaltet, wird Benchmarking sogar noch stärker gewichtet.
Benchmarking ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem Produkte, Dienstleistungen und
insbesondere Prozesse und Methoden betrieblicher Funktionen über mehrere Unternehmen
hinweg verglichen werden318.
Benchmarking ist ein externer Blick auf interne Aktivitäten, Funktionen oder Verfahren,
um eine ständige Verbesserung zu erreichen319.
214
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Benchmarking ist die Suche nach den besten Industriepraktiken, die zu Spitzenleistungen
führen321.
In allen genannten Definitionen wird ein Vergleichen, Messen und Beurteilen der
eigenen Leistung im Verhältnis zu der des Benchmarking‐Partners hervorgehoben.
Benchmarking ist ein wirksames Instrument, das den eigenen Standort im Wettbewerb
bestimmt und zugleich Verbesserungspotenziale für die Zukunft aufzeigt. Wesentlich
ist, die Leistungslücke zu anerkannten „Klassenbesten“ nicht nur quantitativ, sondern
vor allem qualitativ zu verstehen. Im Vordergrund steht somit ein „Lernaspekt“, d. h.
das Verständnis der Prozesse und nicht die Ableitung einer quantitativen Kennzahl.
215
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Die Kennzahlen müssen als das Resultat des Verständnisses der besten Praktiken
gesehen werden, nicht als irgendetwas, das zuerst festgelegt und dann verstanden
wird.
a) Marktforschung
216
4.1
Das Benchmarking-Konzept
hat zwar eine wichtige Informationsfunktion, sie kann aber lediglich den Input
von Prozessen ändern und nicht die Realisierung von Prozessen.
b) Wettbewerbsanalyse
Die Wettbewerbsanalyse beschränkt sich in der Regel auf die Untersuchung von
Marktaktivitäten und ‐strategien der Wettbewerber. Das durch eine Wettbewerbs‐
analyse ausgelöste Sammeln von Fakten reicht in der Regel nicht aus, um einen
Veränderungsprozess anzustoßen und aufrechtzuerhalten. Es fehlt hier somit der
direkte Zusammenhang zwischen Analyse und Aktion. Benchmarking kann mit
einer Wettbewerbsanalyse beginnen, geht jedoch weit darüber hinaus und be‐
trachtet die grundlegenden betrieblichen Tätigkeiten und die Führungsfähig‐
keiten, die das Fundament für den Erfolg bilden. Man will in erster Linie nicht
wissen, um wie viel die Konkurrenz besser ist, sondern wie sie es ermöglicht, in
bestimmten Bereichen einen Vorsprung zu haben. Bei der Wettbewerbsanalyse
wird meistens auf Sekundärinformationen zurückgegriffen, eine detaillierte Ana‐
lyse kann nicht erfolgen. Benchmarking baut dagegen auf Primärinformationen
auf, die insbesondere dann leichter zu beschaffen sind, wenn kein Vergleich zu di‐
rekten Konkurrenten erfolgt.
217
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
die Analyse nicht mit einbezogen. Die Vorteile des Reverse Product Engineering
liegen in der vergleichsweise schnellen Kostenreduktion durch Redesign existie‐
render Produkte und in der Berücksichtigung aufgefundener Verbesserungsmög‐
lichkeiten bei einer Neuproduktentwicklung. Durch diese Art der Produktanalyse
ergeben sich zwar oftmals schon Hinweise auf die Effizienz der den Produkten
zugrundeliegenden Prozesse, eine exakte Untersuchung der Praktiken erfolgt
aber noch nicht. Vor diesem Hintergrund kann das Reverse Product Engineering
als Instrument des Benchmarking für Produkte angesehen werden. Benchmarking
ist jedoch nicht nur auf Produkte beschränkt, sondern ist zusätzlich auf Dienstleis‐
tungen, Prozesse, Ressourcen und Strategien anwendbar.
d) Kaizen
e) Betriebsvergleich
Betrachtungs‐ und Vergleichsobjekt des Betriebsvergleichs sind Betriebe sowie
Teile eines Betriebes. Im Gegensatz zum Benchmarking ist beim traditionellen Be‐
triebsvergleich eine starke Ausrichtung an funktionalen Strukturen zu beobach‐
ten. Indirekte Bereiche oder die Betrachtung von Prozessen spielen beim Betriebs‐
vergleich so gut wie keine Rolle. Der Betriebsvergleich beruht im Wesentlichen
auf einem Richtwertevergleich, bei dem Betriebe zu Branchendurchschnitten in
Beziehung gesetzt werden. Da die übergeordneten Ziele des Betriebsvergleichs
monetärer Art sind, werden neben wenigen nicht‐monetären Größen, wie z. B.
Produktivitäten oder Umschlaghäufigkeiten, hauptsächlich monetäre Größen
verwendet. Beim Benchmarking, das sich beim Vergleich nicht nur auf die Bran‐
che beschränkt, sondern vielmehr Gemeinsamkeiten und Analogien zwischen
322 Das japanische Wort Kaizen, das sich aus den beiden japanischen Schriftzeichen Kai (Verän‐
derung, Wandel) und Zen (zum Besseren) zusammensetzt, bedeutet das Streben nach ständi‐
ger, systematischer und schrittweiser Verbesserung.
218
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Vergleichs‐ Vergleichs‐
Ziel Gegenstand Quellen
horizont merkmale
extern, montetär,
Markt‐ Märkte, Markt,
branchen‐ nicht‐ Kunden
forschung Marktsegmente Kundenbedürfnisse
beschränkt monetär
extern, montetär, Analy‐
Wettbewerbs‐ Strategien der
Produkte, Strategien branchen‐ nicht‐ sten,
analyse Wettbewerber
beschränkt monetär Berater
Reverse extern,
Produkt‐ Wettbe‐
Product Produkte branchen‐ montetär
komponenten werber
Engineering beschränkt
Produkte, Dienst‐
nicht wert‐ montetär,
leistungen, Mitar‐
Kaizen schöpfende intern nicht‐
Prozesse, beiter
Tätigkeiten monetär
Resourcen
extern,
Betriebs‐ Wettbe‐
Betriebe Funktionsbereiche branchen‐ montetär
vergleich werber
beschränkt
Produkte, Dienst‐
leistungen, monetär,
Bench‐ Weltklasse‐ intern, extern unbe‐
Prozesse, nicht‐
marking standards unbeschränkt schränkt
Ressourchen, Strate‐ monetär
gien
219
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.1.4 Gründe für Benchmarking
Die Anstrengungen vieler Unternehmen zur Steigerung der Effizienz beruhen oft auf
dem Vergleich der Leistung einzelner interner Bereiche sowie der Gesamtleistung.
Diese nach innen gerichtete Sichtweise neigt dazu, Gefühle der Überlegenheit zu ver‐
stärken und das sogenannte „not‐invented‐here‐Syndrom323“ zu fördern. Darüber
hinaus schirmen sich diejenigen Unternehmen, die ihre Kosten intern weiterbelasten,
von der Konkurrenz ab. Mit Benchmarking, das die fortlaufende Überprüfung und
Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit zum Ziel hat, steht ein Weg offen, die
angesprochenen Nachteile zu überwinden. Dies wird dadurch erreicht, dass jeder
Unternehmensbereich ständig gezwungen wird, seine eigene Leistungsfähigkeit durch
das Vergleichen und Messen mit externen Standards immer wieder unter Beweis zu
stellen. In einer Zeit des immer rascheren Wandels, des immer härteren globalen Wett‐
bewerbs und der sinkenden Toleranz für Ineffektivität und Ineffizienz ist Benchmar‐
king auf jeder Unternehmensebene eine notwendige und keine fakultative Aufgabe.
Ein großer Vorteil des Benchmarkings ergibt sich aus der Tatsache, dass es auch in
Bereichen angewendet werden kann, die aufgrund einer fehlenden Markt‐ und Wett‐
bewerbsnähe nicht den Kräften der Marktwirtschaft ausgesetzt sind. Beispielsweise
können bei Unternehmenseinheiten, die ihre Leistungen für andere Abteilungen er‐
bringen und deshalb nicht direkt am Markt operieren, durch Benchmarking leistungs‐
steigernde Effekte ausgelöst werden. Ein Unternehmen sollte Benchmarking durch‐
führen, um in einer globalen Wirtschaft zu überleben, zu florieren und um eine Kon‐
323 Hierunter wird das Phänomen der Ablehnung externer Entwicklungen durch Mitarbeiter
eines Unternehmens verstanden.
324 Vgl. KARLÖF/ÖSTBLOM (1994, S. 3).
220
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Mit Benchmarking wird ein Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das für die
Prognose wirtschaftlicher Entwicklungen hervorragend geeignet ist. Benchmar‐
king‐Informationen beinhalten oftmals wertvolle Hinweise auf zukünftige Ände‐
rungen des Marktes und der Marktpotenziale. Da die Klassenbesten häufig eine
Vorreiterrolle auf bestimmten Märkten spielen, ermöglicht ihre Auswahl als Bench‐
marking‐Partner nicht selten eine gute Prognose dessen, was das eigene Unter‐
nehmen leisten muss, um im Wettbewerb bestehen zu können. Durch die Kenntnis
möglicher zukünftiger Marktpotenziale leistet Benchmarking auch einen wichtigen
Beitrag zur strategischen Planung. Um die eigene Leistungsfähigkeit langfristig zu
sichern und zu steigern, bedarf es einer strategischen Planung, die auf realistischen
Zukunftserwartungen aufbaut. Voraussetzungen für die strategische Planung sind
umfassende Kenntnisse über den Markt, die Konkurrenten und den Kundenstamm
sowie über die besten verwendeten Praktiken. Diese Informationen können durch
Benchmarking zugänglich gemacht werden, um mit ihrer Hilfe Unternehmensstra‐
tegien in realistische Richtungen zu steuern oder zumindest Risiken einer Ge‐
schäftstätigkeit in bestimmten Märkten zu identifizieren.
Benchmarking ist eine Alternative zum traditionellen Vorgehen, Ziele und Vorga‐
ben zu setzen. Im Gegensatz zur Fortschreibung vergangener Trends und Prakti‐
ken erzwingt Benchmarking regelmäßig den Fokus auf das externe Umfeld. Durch
die Konzentration auf die Klassenbesten wird einerseits eine glaubwürdige Basis
für Ziele geschaffen und andererseits der Zielsetzungsprozess ständig neu vali‐
diert. Von den Klassenbesten können quantifizierbare Leistungsziele für Produkte,
Prozesse, Ressourcen und Strategien gewonnen werden. Als Ergebnis des Bench‐
marking erhält man jedoch nicht nur Zielvorgaben, sondern auch konkrete Hin‐
weise, wie diese realisiert werden können. Klare und überzeugende Zielvorgaben
sowie das schlagkräftige Argument, dass diese von anderen Unternehmen bereits
erreicht werden, wirken motivationsfördernd auf die eigenen Mitarbeiter und un‐
terstützen somit auch die praktische Umsetzung.
221
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Durch die lernintensive Konfrontation mit der weltweiten Realität und dem Zwang
zur Entscheidung für eine wettbewerbsführende Unternehmensposition, trägt
Benchmarking gerade durch den Einsatz aller Mitarbeiter dazu bei, die Existenz
des Unternehmens für die Zukunft erfolgreich zu sichern.
Qualitätsprogramm
Kostensenkung
Verfahrensverbesserungen
222
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Logistik-Benchmarking ist der systematische Prozess der Erhebung und Analyse von Logistik-
daten zur exakten Beschreibung und Erklärung der Stärken und Schwächen der eigenen
Logistik durch Vergleiche mit möglichst leistungsstarker Logistik bzw. leistungsstarken
Logistikbereichen anderer Unternehmen, um Ziele und Maßnahmen zur nachhaltigen Ver-
besserung der eigenen Logistik realisieren zu können327.
Für den Aufbau und den Ausbau nachhaltig wirksamer logistischer Erfolgspotenziale
orientiert sich das Erfolgstripel der Logistik, bestehend aus Wirtschaftlichkeit,
Kundenzufriedenheit und Zukunftssicherung, an internen und externen Erfolgspo‐
tenzialen unter Berücksichtigung ihrer Interdependenzen. Ausgehend von dem logis‐
tischen Erfolgstripel können die Ziele des Logistik‐Benchmarking wie folgt definiert
werden:
Kritische Auseinandersetzung mit der Dynamik und dem Fortschritt der Logistik –
Objektivierung der eigenen Stärken und Schwächen
Umfassende Marktorientierung
Die Logistik ist als zentrale betriebliche Querschnittsfunktion für das Benchmarking
prädestiniert, wobei eine prozessorientierte Betrachtung und die Berücksichtigung
von Integrationsaspekten vielversprechend zu sein scheint. Ein wesentlicher Vorteil
des Bereichs Logistik ist, dass bei der Auswahl geeigneter Benchmarking‐Partner keine
Produkt‐ oder Branchengleichheit erforderlich ist. Eine Strukturgleichheit, die
beispielsweise in einer ähnlichen Kundenstruktur, einer Produktähnlichkeit bezüglich
kosten‐ und leistungsrelevanter Größen oder einer Ähnlichkeit der Warenbezugs‐
struktur zum Ausdruck kommt, ist ausreichend. Gerade für den Funktionsbereich
Logistik ist es sehr wahrscheinlich, dass branchenfremde Unternehmen geeignete
Benchmarking‐Partner darstellen. In Frage kommen vor allem jene Unternehmen, die
Logistikprozesse als Gegenstand der Geschäftstätigkeit, als Existenzgrundlage oder als
Hauptprozess betreiben.
223
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Die Porsche AG, die bezüglich der Struktur einen Klein‐ bis Mittelserienhersteller
darstellt, wählte als Benchmarking‐Objekt den Bereich der Beschaffungslogistik,
insbesondere den Lieferservice, die Lieferantenstruktur sowie die Disposition und
Steuerung328. Die branchenorientierte Sichtweise bei der Suche nach einem
potenziellen Benchmarking‐Partner führte zwangsläufig zu Großserienherstellern,
die sich jedoch strukturell wesentlich von der Porsche AG unterschieden. Erst eine
Loslösung von der gedanklichen Fixierung auf die Automobilbranche führte zu
einem Landmaschinenhersteller als idealen Benchmarking‐Partner, der hinsichtlich
der strukturellen Merkmale produzierte Stückzahl, Variantenvielfalt, Lieferanten‐
struktur und Marktpositionierung große Ähnlichkeiten zur Porsche AG aufwies.
Beide Unternehmen beliefern den Handel und weisen somit ähnliche flächen‐
deckende Lieferstrukturen auf.
Die Hausgeräte und die Paletten mit den Nahrungsmitteln weisen ein
vergleichbares Warengewicht pro m3 und einen vergleichbaren Warenwert je
Volumeneinheit auf.
Grundlage eines Benchmarking‐Projektes ist eine Festlegung der Ziele, die mit Hilfe
eines Benchmarking erreicht werden sollen. Um die Leistungsfähigkeit des Unter‐
nehmens wesentlich zu steigern, können als zielrelevante Erfolgsgrößen eine Redukti‐
on der Kosten oder eine Erhöhung der Qualität oder Flexibilität sowie eine Verbesse‐
rung von Zeitgrößen herangezogen werden. Gleichzeitig können das gesamte Unter‐
nehmen oder Teilbereiche Gegenstand des Projektes sein, wobei sich die Analyse
entweder auf eine aggregierte Gesamtebene beschränkt oder in die Tiefe geht. Unter
224
4.1
Das Benchmarking-Konzept
wettbewerbsorientiert
extern funktional
generisch
unternehmensintern
intern
konzernintern
Kriterium:
Vergleichspartner
Kriterium: Kriterium:
Zielkategorie Benchmarking Vergleichsfokus
Kosten direkt
Qualität Kriterium: indirekt
Objekt
Zeit
Flexibilität Prozesse/Funktionen
Produkte/Dienstleistungen
Strategie
Ressourcen
Bezüglich der Differenzierung hinsichtlich des Vergleichsfokus ist zwischen dem di‐
rekten und dem indirekten Benchmarking zu unterscheiden. Das direkte Benchmar‐
king zeichnet sich durch den direkten Kontakt und das in der Regel vertrauensvolle
Verhältnis der Benchmarking‐Partner aus. Demgegenüber eröffnet das indirekte
Benchmarking die Möglichkeit, Beratungsunternehmen oder Institute, die Benchmar‐
king als Dienstleistung anbieten, als dritte Partei (Clearing‐Stelle) mit der Durchfüh‐
rung der Benchmarking–Studie zu beauftragen, um die Anonymität und Vertraulich‐
keit zu gewährleisten.
225
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Alles, was in einem Unternehmen oder einer Organisation beobachtbar und messbar
ist, kann einem Benchmarking‐Projekt unterzogen werden, wobei der Detaillierungs‐
grad und die Tiefe der Analyse unterschiedlich sein können. Das Spektrum der
Benchmarks kann dabei von relativ einfach beschaffbaren Informationen, wie z. B.
Preisen, Umsatz pro Mitarbeiter oder Lieferzeiten, bis zu Messgrößen reichen, die erst
nach umfangreichen Analyseprozessen gewonnen werden können. Zu den komplexe‐
ren Benchmarks zählen beispielsweise Fehlerquoten oder die sich aufgrund von Ab‐
grenzungsproblemen ergebenden Schwierigkeiten bei verschiedenen Kostengrößen.
Die Ziele des Benchmarking erfordern jedoch stets eine prozessorientierte Betrach‐
tungsweise der Wertschöpfungskette, um so die Erwartungen der Kunden effizient
und effektiv erfüllen zu können. Bei der Auswahl der Benchmarking‐Objekte sollten
potenzialträchtige Hauptprozesse bzw. Produkte des Unternehmens stehen. Prinzipi‐
ell können Strategien, Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Funktionen oder Res‐
sourcen Gegenstand des Benchmarking sein.
a) Internes Benchmarking
226
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Ein Nachteil der rein internen Sichtweise stellt das begrenzte Blickfeld für Verbes‐
serungspotenziale dar, falls keine Spitzenleistungen im Unternehmen vorkom‐
men. Innerbetriebliche, dezentrale Unternehmenseinheiten, die auf den ersten
Blick eine hohe Ähnlichkeit aufweisen, können in der betrieblichen Realität be‐
züglich ihrer grundlegenden Arbeitsinhalte und Informationssysteme starke Un‐
terschiede aufweisen, die eine erfolgreiche Umsetzung erschweren können331. Un‐
ternehmen, die das Instrument Benchmarking einsetzen, beginnen in der Regel
mit einem internen Benchmarking‐Projekt, falls das Benchmarking‐Objekt inner‐
halb des Unternehmens mehr als einmal vorkommt. Die aus einem internen Pro‐
jekt gewonnenen Erkenntnisse können als Grundlagen für die folgenden, weiter‐
führenden Benchmarking‐Arten gesehen werden, die eine externe Sichtweise ein‐
schließen.
b) Wettbewerbsorientiertes Benchmarking
Neben der Sicherstellung der Vergleichbarkeit der Objekte muss auch das nicht
unerhebliche Problem des Informationsaustausches mit dem Konkurrenten richtig
angegangen werden. Es gilt dabei stets das Grundprinzip, diejenigen Unterneh‐
men, mit denen ein Benchmarking angestrebt wird, als echte Partner zu betrach‐
ten. Erfolgversprechend ist hierbei eine offene und ehrliche Kooperation mit dem
227
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Konkurrenten. Nur mit der Bereitschaft, ebenfalls interne Informationen preiszu‐
geben, wird man vom Konkurrenten Interna erfahren, die in eine Steigerung der
eigenen Leistung umzusetzen sind. Beiden Parteien muss bewusst sein, dass die
Analysen schwerpunktmäßig auf „best practices“ ausgerichtet sind – also der
Wunsch nach einem strukturierten Vergleich von Methoden, Verfahren und Pro‐
zessen besteht – und nicht auf strategischen Themen332. Zur Vermeidung von
wettbewerbsrechtlichen Problemen empfiehlt es sich, Wettbewerbs‐Benchmarking
indirekt durchzuführen.
Beim funktionalen Benchmarking erfolgt ein Vergleich mit Unternehmen, die für
bestimmte funktionale Bereiche wie z. B. Logistik, Entwicklung, etc. – unabhängig
von der Branchenzugehörigkeit – absolute Spitzenleistungen erbringen. Diese
funktionalen Bereiche stellen für die ausgewählten Unternehmen eine Kernkom‐
petenz dar. Während beim funktionalen Benchmarking funktionsgleiche Prozesse
verglichen werden, werden beim generischen Benchmarking keine Grenzen durch
Funktionen gesetzt. Generisches Benchmarking liegt schließlich vor, wenn ganze
unternehmensübergreifende Geschäftsprozesse, über die alle Branchen gleicher‐
maßen verfügen, mit den hierbei führenden Unternehmen Gegenstand des
228
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Benchmarking sind. Als Beispiel für generisches Benchmarking wird in der Litera‐
tur der Vergleich der Bodenzeiten der Flugzeuge von South‐West Airlines (Aus‐
stieg von Passagieren, Auftanken, usw.) mit den Boxenstopps bei Formel 1‐
Rennen angeführt333. Die Trennung zwischen funktionalem und generischem
Benchmarking erfolgt in der Literatur jedoch nicht eindeutig.
Ein großer Vorteil des funktionalen bzw. generischen Benchmarking ist darin zu
sehen, dass Lösungsmöglichkeiten aus anderen Branchen bereitwilliger akzeptiert
werden, als solche aus der eigenen Branche. Der Grund dafür liegt darin, dass die
Fixierung auf das Produkt entfällt und somit von Anfang an die Methoden und
Praktiken auf einer objektiveren Basis angegangen werden334. Da bei branchen‐
fremden Unternehmen der Stellenwert des Benchmarking‐Objekts durch Markt‐
und Kundenanforderungen diktiert wird, verfügen sie zwangsläufig über die
notwendige Professionalität. Es gibt auch weniger Probleme mit der Vertraulich‐
keit von Informationen und Daten. Funktionales bzw. generisches Benchmarking
eröffnet ein hohes Potenzial an übertragbaren, innovativen Lösungen und führt
zu einer Vergrößerung des Ideenspektrums der eigenen Mitarbeiter. Aus diesem
Grund erfordert es aber eine hohe Auffassungsfähigkeit, ein genaues sowie abs‐
traktes Verständnis des allgemeinen Prozesses und ein hohes Maß an Kreativität,
um die Erkenntnisse aus der oft zeitaufwändigen und langwierigen Analyse des
Partners in das eigene Unternehmen zu transformieren.
In der Tabelle 4‐2 sind abschließend die oben vorgestellten Benchmarking‐Arten mit
ihren Vor‐ und Nachteilen zusammengefasst.
229
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Tabelle 4‐2 Vergleich ausgewählter Benchmarking-Arten
a) Unternehmensstrategie
Wird Benchmarking auf einer übergeordneten Ebene durchgeführt, dann wird die
eigene Unternehmensstrategie mit derjenigen von Konkurrenten oder Unterneh‐
men mit Spitzenleistungen verglichen. Ein Benchmarking von Strategien, ein so‐
genanntes Makro‐Benchmarking, sollte vor allem dann eingesetzt werden, wenn
komplexe Veränderungen geplant sind, die das gesamte Unternehmen betreffen.
Bei strategischen Fragen besteht das Ziel in der Identifikation derjenigen Fakto‐
ren, die von entscheidender Bedeutung für Wettbewerbsvorteile sind und die De‐
finition von Messkriterien, die diese Faktoren erfassen. Lösungsansätze für die
Messbarkeit der kritischen Erfolgsfaktoren kann beispielsweise das seit den sieb‐
ziger Jahren durchgeführte PIMS (Profit Impact of Market Strategy)‐Programm
liefern. Makro‐Benchmarking ersetzt jedoch in vielen Fällen nicht die genaue Ana‐
lyse von Prozessen, Produkten, Dienstleistungen und Ressourcen, die einer Un‐
ternehmensstrategie zu Grunde liegen.
230
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Die Analyse von Prozessen und Funktionen stellt im Grunde den Kern des
Benchmarking‐Ansatzes dar. Das Problem, wie Spitzenleistungen für Produkte
und Dienstleistungen erreicht werden können, wird erst hier angegangen. Im ei‐
genen Unternehmen wird die Frage nach der Effizienz von Prozessen und Funk‐
tionen gestellt. Beim Benchmarking‐Partner erfolgt dann eine genaue Analyse der
ausgewählten Prozesse und Funktionen, um daraus Zielvorgaben für das eigene
Unternehmen abzuleiten. Das ausgewählte Unternehmen sollte die betrachteten
Prozesse und Funktionen besonders perfektioniert haben. Gerade die Auseinan‐
dersetzung mit exzellenter Leistung eines branchenfremden Unternehmens för‐
dert Innovation und Flexibilität im Denken.
231
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
d) Ressourcen
Die Zielsetzung bei der Betrachtung von Ressourcen ist die Wettbewerbs‐ und
Leistungsfähigkeit eines Unternehmens im Hinblick auf die zur Verfügung ste‐
henden Potenzialfaktoren, wie beispielsweise Personal, Betriebsmittel oder Kapi‐
tal, zu verbessern. In vielen Unternehmen entsprechen heute Käufe und Bezüge
bereits über die Hälfte der Wertschöpfung und stellen deshalb oftmals den größ‐
ten Kostenblock dar. Geringe prozentuale Verbesserungen, z. B. in Bezug auf Ein‐
kaufspreise oder Qualität, können entscheidende Kostenvorteile bringen.
1. Planung
1. Benchmarking‐Objekt festlegen
2. Benchmarking‐Team bilden
3. Benchmarking‐Partner identifizieren
4. Informationsquellen bestimmen
232
4.1
Das Benchmarking-Konzept
In der Logistik erscheint ein mehrstufiges Vorgehen, bei dem zunächst die Wertschöp‐
fungskette prozessorientiert analysiert wird und im Anschluss daran detailliertere
Benchmarking‐Aktivitäten stattfinden, sinnvoll. Durch diese Vorgehensweise wird
offensichtlich, wie die eigenen Wertschöpfungsaktivitäten miteinander verknüpft sind
und wie sie durch weitere unternehmerische Aktivitäten unterstützt werden. Insbe‐
sondere in der Logistik zeigt sich, dass die Betrachtung von funktionsübergreifenden
Prozessen in der Regel hilfreicher sein dürfte als die Konzentration auf einzelne Funk‐
tionen, deren isolierte Optimierung nicht selten zu Suboptima führt oder für den Ge‐
samtprozess sogar kontraproduktiv sein kann.
233
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
ihrer benötigten Kompetenz, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, vom Logistik‐
Management zu beurteilen. Diese Einschätzungen des Managements werden in einer
zweidimensionalen „Competence gap“‐Matrix eingetragen (vgl. Abbildung 4‐3). Als
geeignete Benchmarking‐Objekte kommen nun diejenigen logistischen Faktoren in der
rechten unteren Ecke dieser Matrix in Frage, die eine hohe benötigte Kompetenz zur
Realisierung eines Wettbewerbsvorteils erfordern und bei denen zugleich die aktuelle
logistische Kompetenz niedrig ausgeprägt ist.
hoch Lieferqualität
Informations‐
aktuelle Kompetenz Lieferzeit
bereitschaft
gegenüber
Wettbewerbern
Lieferbereitschaft
Termintreue
niedrig
niedrig hoch
benötigte Kompetenz
für Wettbewerbsvorteil
234
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Kumulierte
Herstellungs‐
kosten
Durchlaufzeit
1 2 3 4 5 6 7 8 9 [Tage]
235
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Abbildung 4‐5 Ursache-Wirkungs-Diagramm
Verminderung reduzierte
Lieferantenanzahl Durchlaufzeiten
Verminderung Verbesserung
Variantenvielfalt Umschlagsprozesse
Logistikkosten
gesenkt
Fuhrpark‐ reduzierte
verkleinerung Transportzeiten
effiziente bessere
Lagerstruktur Tourenplanung
Das Team führt zunächst eine Beurteilung der eigenen Leistung bezüglich des Bench‐
marking‐Objekts durch. Dazu gehört die Strukturierung, das Abbilden und Messen
relevanter Prozesse und die detaillierte Herausarbeitung der Problemfelder und
Schwachstellen. Für die Analyse empfiehlt es sich, auf der Basis einer Prozessstruktur‐
transparenz342 den zu benchmarkenden logistischen Prozess in Subprozesse bzw.
einzelne Aufgaben zu zerlegen, um den Ist‐Prozessablauf sowie den Material‐, Waren‐
236
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Vor dem eigentlichen Start der Informationsbeschaffung sollte man kritische Über‐
legungen über die Qualität der gewünschten Daten, die zur Verfügung stehenden
Geldmittel sowie über den benötigten Zeitaufwand anstellen. Anhand dieser Kriterien
sind die für die Benchmarking‐Studie heranzuziehenden Informationsquellen auszu‐
wählen. Man sollte mit den leicht zugänglichen und kostengünstigen Ressourcen, wie
z. B. unternehmensinternen Fachleuten, Fachzeitschriften, Geschäftsberichten und In‐
House‐Datenbanken beginnen. Erst nachdem diese Quellen vollständig ausgeschöpft
sind, ist eine gezielte Suche in den zeitaufwändigeren und teureren Informations‐
quellen, wie z. B. externe Datenbanken und Berater sowie Kundenbefragungen, durch‐
zuführen.
237
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
a) Unternehmensinterne Quellen
Vor allem größere Unternehmen unterhalten Abteilungen, die für Branchen‐ und
Marktbeobachtungen zuständig sind. Diese Abteilungen führen oft, unabhängig
von Benchmarking‐Projekten, Kunden‐ und Lieferantenbefragungen sowie Pro‐
dukt‐analysen durch (z. B. zur Zielgruppenbestimmung eines neuen Produktes).
Neben den Informationen aus bereits durchgeführten Studien sollte auch die
Möglichkeit genutzt werden, sich an eine geplante Studie mit zusätzlichen Fragen
bezüglich des Benchmarking‐Objekts anzuhängen (Trittbrettstudien). Produktana‐
lysen im Fertigungsbereich, welche Konkurrenzprodukte in den eigenen Labors
analysieren, sind in der Lage, Informationen über Praktiken, Methoden und Pro‐
zesse der Wettbewerber aufzudecken.
Der technische Fortschritt und die steigende Bedeutung von Informationen hat in
vielen Unternehmen zur Einrichtung von In‐House‐Datenbanken und Netzwer‐
ken geführt. In‐House‐Datenbanken beinhalten beispielsweise Verzeichnisse der
Lieferanten und Kunden, Informationen über Wettbewerber und detaillierte fi‐
nanzielle Daten des Unternehmens sowie Informationen über die Auftragsab‐
wicklung. Falls bereits Benchmarking‐Studien durchgeführt wurden, werden Do‐
kumentationen der identifizierten „best practices“ sowie die benutzten Informati‐
onsquellen mit Kontaktadressen und Referenzpersonen in der In‐House‐Daten‐
238
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Unternehmensinterne Unternehmensexterne
Quellen Eigene Forschung
Quellen
Internes Know‐how Publikationen Benchmarking‐Netzwerke
‐ Tageszeitungen ‐ Informationssysteme
‐ Bereichs‐ bzw. prozess‐ ‐ Fachzeitschriften ‐ Seminare
bezogenes Fachwissen ‐ Fachbücher ‐ Treffen
‐ Persönliche Kontakte ‐ Dissertationen
‐ Erfahrungen mit Lieferanten ‐ Geschäfts‐, Jahresberichte Kunden‐, Lieferanten‐
und Kunden ‐ Statistische Jahrbücher Befragungen
‐ Branchenbücher ‐ Fragebogen
Bestehende Geschäftsbezie‐
‐ Telefonumfragen
hungen Öffentliche Stellen und
Verbände
Interne Publikationen ‐ Branchenverbände
‐ Werkszeitungen ‐ Fachverbände
‐ Protokolle über Konferenzen
und Präsentationen Forschungseinrichtungen
‐ Produkt‐ und Lieferanten‐ Veranstaltungen
Kataloge ‐ Seminare
‐ Firmeninterne Richtlinien ‐ Kongresse und Messen
Interne Analysen und ‐ Fachtagungen
Studien ‐ Konferenzen
‐ Trittbrettstudien Auszeichnungen
‐ Produktanalysen
Externe Spezialitäten
In‐House‐Datenbanken ‐ Unternehmensberater,
‐ Bereichsspezifische Daten‐ ‐analytiker
banken ‐ Benchmarking‐Organi‐
‐ EDV‐gestützte Informations‐ sationen
systeme ‐ Martforschungsunter‐
nehmen
Datenbanken
239
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
b) Unternehmensexterne Quellen
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Auszeichnungen und Preisen für hervorra‐
gende Leistungen von Unternehmen auf bestimmten Gebieten. Diese Auszeich‐
nungen werden von Zeitschriften, Organisationen, Wirtschaftsverbänden und
wissenschaftlichen Einrichtungen vergeben. Dazu gehören unter anderem der
Malcolm Baldrige National Quality Award (MBQA), der European Quality Award
(EQA), die Fabrik des Jahres, der deutsche Logistik‐Preis der BVL und der BME‐
Innovationspreis. Diese Auszeichnungen können auf geeignete Benchmarking‐
Partner hinweisen, da in den Veröffentlichungen über die Gewinner auch Infor‐
mationen über deren Prozesse und Methoden enthalten sind.
240
4.1
Das Benchmarking-Konzept
c) Eigene Forschung
Unter einem Benchmarking‐Netzwerk wird eine lose organisierte Anzahl von Un‐
ter‐nehmen bezeichnet, die bestrebt sind, mehr über Benchmarking zu erfahren
oder die bereits Benchmarking‐Projekte durchführen. Die Teilnahme an einem ex‐
ternen Benchmarking‐Netzwerk ermöglicht es dem Unternehmen, sich aktiv am
Aufbau des Netzwerkes zu beteiligen und für die Benchmarking‐Studie relevante
Daten aus dem vorhandenen Informationssystem zu gewinnen. Durch die Mög‐
241
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
lichkeit, direkt mit den Fachleuten, die dem Benchmarking‐Netz angehören, zu
kommunizieren, können benötigte Informationen sehr schnell beschafft werden.
Da sich alle Beteiligten bereits mit dem Thema Benchmarking befasst haben, wird
der Informationsaustausch erheblich erleichtert.
242
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Die Durchführung eines Firmenbesuchs bedarf einer präzisen Vorbereitung. Die Ver‐
sendung eines Fragebogens, der später als Diskussionsleitfaden und Checkliste be‐
nutzt werden kann, ermöglicht es dem Partner, Informationen aus den relevanten
Bereichen einzuholen und sich seinerseits auf das Treffen vorzubereiten. Während des
Firmenbesuchs können durch Gespräche mit Mitarbeitern vor Ort die relevanten Pro‐
zesse noch genauer kennengelernt werden. Im Rahmen der Diskussion besteht dann
erstens die Möglichkeit, Unklarheiten, die sich beim Besuch ergeben haben, zu klären
und zweitens die vorhandenen Datenlücken unter Zuhilfenahme des Fragebogens zu
schließen. Die Diskussion sollte dabei nicht nur die laufenden Praktiken betrachten,
sondern auch für die Zukunft geplante Veränderungen (z. B. weitere Optimierung der
Just‐in‐time‐Anbindung von Lieferanten) ansprechen. Unmittelbar nach dem Firmen‐
besuch sollte eine Nachbesprechung durchgeführt werden, um wesentliche Fakten
und Beobachtungen der Teammitglieder in Übereinstimmung zu bringen und zu be‐
stätigt. Kommt ein Datenaustausch aufgrund einer starken Konkurrenzsituation nicht
zustande, dann kann mit Hilfe eines externen Beraters versucht werden, die benötig‐
ten Daten zu sammeln, zu interpretieren und somit in den Benchmarking‐Zyklus
einzubringen.
Sobald alle benötigten Daten vorhanden sind, sollte das Benchmarking‐Team die er‐
haltenen Informationen strukturieren und einer Qualitätskontrolle unterziehen. Die
Informationsstrukturierung und Qualitätskontrolle soll zum einen gewährleisten, dass
die Entscheidungen über Veränderungen der logistischen Prozesse auf Grundlage
einer soliden Datenbasis getroffen werden, zum anderen ist die Genauigkeit und Qua‐
lität der Information ein wichtiger Aspekt zur Sicherstellung der Akzeptanz der Un‐
tersuchungsergebnisse. Bei der Informationsstrukturierung erfolgt eine Zuordnung
von Benchmarking‐Partnern zu den ermittelten Informationen. Als Hilfsmittel zur
Darstellung quantitativer Logistikdaten bietet sich eine Datenmatrix an, in der zeilen‐
weise die verschiedenen Beurteilungskriterien mit Hilfe von Logistikkennzahlen und
spaltenweise die am Benchmarking‐Projekt beteiligten Firmen eingetragen werden.
Beim Logistik‐Benchmarking ist im Rahmen der Informationsstrukturierung vor allem
darauf zu achten, Unterschiede in der Leistungsmessung oder die unternehmensindi‐
viduelle Ermittlung von Kosten‐ und Effizienzkennzahlen durch entsprechende Hin‐
weise zur Datenerhebung beim Benchmarking‐Partner zu erläutern, damit in der Ana‐
lysephase eine korrekte Beurteilung der Daten ermöglicht wird. Von Vorteil ist hier,
wenn im Rahmen des Benchmarking‐Projekts Vereinbarungen über eine äquivalente
Erhebung von logistischen Kosten‐ und Leistungsdaten getroffen werden. Ergänzend
zu dieser Zusammenstellung von logistischen Kosten‐ und Leistungsgrößen sollten
auch qualitative Erläuterungen und Erkenntnisse über die zugrundeliegenden logisti‐
schen Praktiken angeführt werden.
243
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Gebiet verfügen. Unter Umständen werden die angegebenen Daten einmalig erhoben
oder nur geschätzt. Dies resultiert zum einen sicherlich aus der Tatsache, dass die
Logistikleistungserfassung problembehaftet ist, zum anderen in der fehlenden Ver‐
breitung umfassender Logistikkostenrechnungssysteme. Die geringsten Probleme
bezüglich der Informationsqualität sind bei Unternehmen zu erwarten, die eine Erfas‐
sung logistischer Kosten und Leistungen im betrieblichen Berichtssystem implemen‐
tiert und über Datenblätter genau festgelegt haben, wie, wann und von wem die jewei‐
ligen Kosten‐ und Leistungsdaten zu erheben sind.
244
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Auf Basis der so bereinigten bzw. modifizierten Daten kann die eigentliche Bestim‐
mung der quantitativen Leistungslücke erfolgen. Ausgehend von Kennzahlen, die das
Benchmarking‐Objekt beschreiben, wird die Differenz zwischen eigener Leistung und
der Leistung des Benchmarking‐Partners gebildet. Die Leistungslücke zeigt an, in
welcher Größenordnung Verbesserungspotenziale für die einzelnen Prozesse bzw.
Prozesskomponenten vorliegen. Bei der Quantifizierung der Leistungslücken in der
Logistik sollte dabei systematisch von übergeordneten Logistikkennzahlen, die das
Benchmarking‐Objekt beschreiben, zu detaillierten Kennzahlen für Subprozesse über‐
gegangen werden. Bei einfachen, überschaubaren Sachverhalten können durch diese
Vorgehensweise erste Ursache‐Wirkungs‐Zusammenhänge ermittelt werden, welche
die Bestimmung der qualitativen Leistungslücken im folgenden Analyseschritt verein‐
fachen können. Das Benchmarking‐Team bekommt so einen ersten Überblick, welche
Logistikprozesse bzw. ‐prozesskomponenten vom Benchmarking‐Partner besser
durchgeführt werden. Bei mehreren Benchmarking‐Partnern wird häufig ein fiktiver
„best‐of‐benchmark“‐Partner gebildet, der aus den optimalen Prozessketten der ein‐
zelnen Benchmarking‐Partner abgeleitet wird und somit als anspruchsvollste Zielvor‐
gabe gilt. Es soll an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen wer‐
den, dass eine exakte Bestimmung der quantitativen Leistungsunterschiede in der
Logistik ganz wesentlich davon abhängt, inwiefern die Erhebung der Kennzahlen bei
den am Benchmarking‐Projekt beteiligten Unternehmen abgestimmt wurde. Durch die
bereits mehrfach angesprochene Abgrenzungsproblematik logistischer Kosten und
Leistungen und die daraus resultierenden Unterschiede kostenstellen‐ oder kostenträ‐
gerbezogener Informationen kann eine aufwändige Datenangleichung in manchen
Fällen unumgänglich werden.
245
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.1.6.6 Erkenntnis der Ursachen der Leistungslücke
Nach der quantitativen Bewertung der eigenen Situation gilt es die Ursachen der ge‐
genwärtigen Leistungslücke zu identifizieren. Erst das Verstehen der Ursachen – der
eigentliche Kern des Benchmarking‐Zyklus – ermöglicht es dem Unternehmen, im
Sinne der Prozessorientierung entsprechende Maßnahmen zur Schließung der Leis‐
tungslücke zu ergreifen. Der Fokus dieses Schrittes richtet sich also auf die Prinzipien
und Methoden, nach denen die Prozesse und Abläufe stattfinden. Ziel dieser Fokus‐
sierung ist es, diejenigen Methoden und Verfahren zu erkennen und zu verstehen, die
die Prozesse des Benchmarking‐Partners leistungsfähiger und effektiver gestalten und
dadurch die Leistungslücke maßgeblich beeinflussen349. Analog zur Vorgehensweise
beim Verständnis der eigenen Prozesse müssen auch die identifizierten „best prac‐
tice“‐Prozesse der Partner in Form von hierarchisch gegliederten Prozessketten abge‐
bildet werden. Die Tiefe der abzubildenden Hierarchie hängt von der kleinsten Pro‐
zesskomponente ab, die für den Leistungsunterschied noch von Bedeutung ist.
Durch die Prozessaufspaltung und Gegenüberstellung der eigenen Prozesse mit den
Prozessen des Benchmarking‐Partners können die Subprozesse identifiziert werden,
die einzeln oder im Zusammenspiel mit anderen Prozesskomponenten zu Spitzenleis‐
tungen führen. Dabei ist zu beachten, dass sich aufgrund des Querschnittscharakters
der Logistik Schnittstellen zu anderen Unternehmensbereichen ergeben. Logistische
Spitzenleistungen können darauf beruhen, dass gerade diese Schnittstellen ausge‐
zeichnet organisiert sind. Sie müssen deshalb bei der Ursachenanalyse in die Prozess‐
betrachtung miteinbezogen werden. Beispielsweise kann der ausgezeichnete Liefer‐
service im Distributionsbereich das Ergebnis eines optimierten Informationsflusspro‐
zesses zwischen den Bereichen Verkauf/Marketing, Produktion und Distributions‐
logistik sein.
Die Prognose bildet somit die Grundlage für die Generierung von Benchmarks, die im
Unternehmen künftig anzustreben sind. Hierbei ist zu beachten, dass in der Regel die
Methoden und Praktiken der Benchmarking‐Partner nicht vollständig und absolut
gleichwertig im eigenen Unternehmen umgesetzt werden können. Aus diesem Grund
können die aktuellen Prozessgrößen der Benchmarking‐Partner – soweit überhaupt
246
4.1
Das Benchmarking-Konzept
verfügbar – nur sehr bedingt als Zielgrößen und Benchmarks übernommen werden.
Echte Benchmarks basieren auf Kalkulationen, die eine Integration der „best practices“
in die eigenen Prozesse annehmen. Es gilt also nicht nur, die aktuellen Prozessgrößen
des Spitzenleistungsunternehmens durch die Übertragung auf die eigenen Prozesse zu
modifizieren, sondern auch deren zukünftige Entwicklung zu ermitteln, um so eine
Datengrundlage für die Entwicklung von Aktionsplänen und deren Kommunikation
im Unternehmen zu schaffen.
Die erste Phase des Z‐Diagramms zeigt den linearen Verlauf der internen Kostenre‐
duktion in der Vergangenheit bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Leistungslücke ge‐
messen wurde. Anschließend erfolgt die Darstellung der festgestellten Lücke. In der
dritten Phase wird die projizierte zukünftige Kostenreduktion des Benchmarking‐
Partners abgetragen. Das Z‐Diagramm gibt somit Aufschluss über den wahren Um‐
fang der notwendigen Anstrengungen, die in Zukunft zu erbringen sind, um zu Spit‐
zenleistungen aufschließen zu können. Da eine festgestellte Lücke in der Regel nicht
sprunghaft, sondern nur kontinuierlich durch die schrittweise Implementierung der
Praktiken und Methoden der Benchmarking‐Partner geschlossen werden kann, muss
die notwendige zukünftige interne Kostenreduktion ca. 6,7% pro Jahr betragen und
somit über derjenigen des Benchmarking‐Partners (4% pro Jahr) liegen, um zu einem
angestrebten Zeitpunkt eine Gleichstandsposition zu erreichen.
247
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Abbildung 4‐6 Z-Diagramm für Distributionslogistikkosten / Umsatz
30
Leistungslücke
28
aktuell
Distributions‐ Notwendige Kosten‐
logistikkosten/ 26 Reduktion, um zum
Umsatz [%] Benchmark Zeitpunkt 12/14
24 Gleichstand zu er‐
reichen
22
Kritisch ist allerdings anzumerken, dass CAMP in seinem Z‐Diagramm nur lineare
Modellverläufe unterstellt. Lineare Modelle sind zwar leicht zu verstehen und zu
erklären, ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit muss aber nicht in jedem Fall
gegeben sein. Soweit annähernd gute lineare Trendverläufe für die ausgewählten
Leistungsmessgrößen vorliegen, bietet es sich an, eine Regressionsanalyse zur Progno‐
se des eigenen Leistungsniveaus (ohne Implementierung der Spitzenleistung) und des
Leistungsniveaus des Benchmarking‐Partners mit der Zeit als unabhängige und der
Leistungsmessgröße als abhängige Variable und eine anschließende Trendextrapolati‐
on durchzuführen. Können keine linearen Verläufe unterstellt werden, dann muss auf
komplexere Zeitreihenmodelle zurückgegriffen werden351.
248
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Das Wesen des Benchmarking besteht nicht in der Adoption sondern vielmehr in der
Adaption der identifizierten „best practices“. Die gesetzten Ziele sollten deshalb auf
realistischen Einschätzungen des Managements beruhen und erreichbar sein, damit sie
nicht zu starker Demotivation führen. Sie können sowohl qualitativer (z. B. Stückkos‐
tensenkung durch Minimierung der Durchlaufzeiten) als auch quantitativer Natur
(z. B. Logistikkostensenkung um 1% im Jahr) sein. Aus übergeordneten Logistikzielen
(z. B. Verkürzung der Auftragsdurchlaufzeit) sollten untergeordnete Ziele für die
einzelnen Teilbereiche der Logistik (z. B. Verkürzung der Transportzeiten in der Pro‐
duktion) abgeleitet werden. Ähnlich dem Aufbrechen von unterschiedlichen Kosten‐
und Leistungsschichten sollte eine mit der Logistik‐Organisationsstruktur korrespon‐
dierende Zielhierarchie entstehen, die für jede betroffene Organisationseinheit spezifi‐
sche Vorgaben enthält352. Bei der Vorgabe quantitativer Ziele sollten diese eine gewis‐
se Bandbreite aufweisen. Durch die Verwendung eines Wertebereichs wird deutlich,
dass einerseits eine gewisse Flexibilität bei der Zielerreichung vorhanden ist, und dass
sich andererseits das Ziel selbst durch zukünftige Veränderungen noch ändern
kann353.
249
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Reihenfolgeplanung
Die einzelnen Schritte zur Durchführung der Aufgaben und Teilprojekte sind nach
ihrer Beschreibung in eine logische Reihenfolge zu bringen und nach Prioritäten zu
ordnen.
250
4.1
Das Benchmarking-Konzept
Für die Gesamtkoordination und Durchführung der Implementierung bietet sich die
Bildung eines Projekt‐Teams an. Bei Benchmarking‐Projekten in der Logistik ist es
aufgrund des hohen Koordinations‐ und Kooperationsbedarfs mit anderen Unter‐
nehmensfunktionen und externen Zulieferern bzw. Kunden empfehlenswert, Mitarbei‐
ter aus den Bereichen Beschaffung, Produktion, Absatz oder Marketing sowie extern
Beteiligte in das Projekt‐Team aufzunehmen, um auch an den Schnittstellen eine ziel‐
orientierte und abgestimmte Umsetzung der Aktionspläne zu gewährleisten. Soll
beispielsweise im Bereich der Beschaffungslogistik der Anteil Just‐in‐time angelieferter
Teile erhöht werden, so müssen die entsprechenden Zulieferer spätestens in der Um‐
setzungsphase in das Benchmarking‐Projekt eingebunden werden.
4.1.6.10 Rekalibrierung
Märkte, Prozesse, Kundenanforderungen und Wettbewerbsbedingungen unterliegen
einem stetigen Wandel, sodass auch die Informationsgrundlage des Benchmarking‐
Projekts regelmäßig überprüft werden muss. Bei dieser Rekalibrierung oder Aktuali‐
sierung der Benchmarks wird festgestellt, ob sie noch auf den besten Praktiken und
Methoden basieren, oder ob es aufgrund von externen Änderungen einer Modifikati‐
on der bisher festgelegten Ziele bedarf. Beim Rekalibrierungsprozess sollten alle zehn
Schritte des Benchmarking‐Zyklus (vgl. Abbildung 4‐2) noch einmal durchlaufen
251
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
werden, um mögliche Änderungen in allen Teilschritten zu berücksichtigen357. Durch
die iterative Durchführung der Benchmarking‐Schritte können die Qualität der Infor‐
mationen und der Informationsbeschaffungsprozess selbst deutlich verbessert werden.
Darüber hinaus können langfristige Benchmarking‐Verbindungen mit Spitzenunter‐
nehmen aufgebaut werden. Das Benchmarking‐Team gewinnt bei jedem durchgeführ‐
ten Benchmarking‐Zyklus an Erfahrung und Know‐how, sodass der Prozess auf Dauer
effektiver und auch kostengünstiger gestaltet werden kann358.
In der Logistik geht es bei der Aktualisierung bzw. Rekalibrierung vor allem darum zu
überprüfen, ob unter den gegebenen Bedingungen immer noch dieselben Logistikbe‐
reiche bzw. ‐prozesse als kritisch zu betrachten sind. Änderungen können sich hier
z. B. ergeben, wenn – vom Wettbewerb verursacht – neue Anforderungen an den Lie‐
ferservice gestellt werden, oder wenn sich im Bereich der Produktion neue Technolo‐
gien durchsetzen, welche die Aufgabenerfüllung der Produktionslogistik beeinflussen.
Unter Umständen muss in einem solchen Fall eine komplette Neuausrichtung der
Benchmarking‐Untersuchung erfolgen. Durch den Aktualisierungsprozess können
außerdem Informationslücken, die durch Schwierigkeiten bei der Ermittlung von
Logistikleistungen, Logistikkosten und Effizienzkennzahlen aufgetreten sind, ge‐
schlossen werden. Hier sollten gezielt diejenigen Größen untersucht werden, zu denen
beim Benchmarking‐Partner überhaupt keine Informationen vorlagen bzw. bei denen
eine andere Vorgehensweise bei der Erfassung angewandt wurde.
Über die Häufigkeit, wie oft eine Aktualisierung des Benchmarking‐Zyklus zu erfol‐
gen hat, lassen sich keine generellen Aussagen treffen. Jedes Unternehmen bzw. jeder
Geschäftsbereich sollte auf Basis seiner Informationen und Einschätzungen über die
externen Veränderungspotenziale die Häufigkeit seiner Rekalibrierungsmaßnahmen
bestimmen359. Benchmarking soll kein einmaliges Projekt bleiben, sondern als konti‐
nuierlicher Prozess im Unternehmen implementiert werden. Benchmarking soll letzt‐
endlich als Managementinstrument verstanden werden, das zu einem konstruktiven
Lernen aus den Praktiken und Methoden anderer Unternehmen anregt und nicht
eigene Versäumnisse der Vergangenheit sanktioniert.
4.1.7 Benchmarking-Erfolgsfaktoren
Unternehmen, die Benchmarking erfolgreich praktizieren, betonen immer wieder, dass
das Gelingen eines Benchmarking‐Projekts von der Beachtung einiger Faktoren ab‐
hängt. Eine grundsätzliche Voraussetzung ist das aktive Engagement der Unterneh‐
mensleitung, um somit die notwendige Zeit und die Ressourcen für die anstehenden
Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Erfolgreiches Benchmarking muss die Unterstüt‐
zung des oberen Managements haben, das von Beginn an seine positive Haltung ge‐
252
4.1
Das Benchmarking-Konzept
genüber dem Wandel deutlich macht und Barrieren und Hindernisse auf dem Weg
zum Erfolg überwindet. Benchmarking muss also integrierter Bestandteil der Ge‐
schäftspolitik sein, wobei die konsequente Kundenorientierung im Vordergrund ste‐
hen muss.
Benchmarking kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich die Partner darüber im Kla‐
ren sind, dass diese Managementmethode nicht zu einer systematischen Suche nach
Betriebsgeheimnissen verwendet werden darf. Den ausgewählten Benchmarking‐
Partnern sollten grundsätzlich nur diejenigen Fragen gestellt werden, zu deren Beant‐
wortung man auch selbst bereit wäre. Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt ist die Tatsa‐
che, dass Benchmarking keine einmalige Tätigkeit, sondern ein kontinuierliches Ma‐
nagementinstrument darstellt. Diese Kontinuität hat zur Folge, dass sich Offenheit
und Ehrlichkeit gegenüber den Benchmarking‐Partnern auszahlt. Gerade in den USA,
dem Ursprungsland des Benchmarkings, haben sich sogenannte Clearinghäuser ge‐
bildet, an die jegliche für Benchmarking‐Zwecke interessante Informationen von den
253
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
unterschiedlichsten Unternehmen gegeben werden. Zeigt sich, dass ein Benchmar‐
king‐Partner unehrlich oder nur zum Zweck der einseitigen Vorteilsnahme Benchmar‐
king betreiben will, dann wird dieses Verhalten den Clearinghäusern sicher nicht
verborgen bleiben. Dies könnte zur Folge haben, dass in Zukunft mit diesem Unter‐
nehmen keine Benchmarking‐Kooperation mehr eingegangen wird.
Lernziele:
254
4.2
Das Postponement-Konzept
4.2.1 Postponement-Speculation-Strategie
Bei unregelmäßiger Nachfrage, hoher Variantenvielfalt, vielen bedienten Teilmärkten
und langen Prognosehorizonten nehmen das durch potenzielle Prognosefehler verur‐
sachte Absatzrisiko und die damit verbundenen negativen Kostenwirkungen einer
Überversorgung (Kapitalbindungskosten) oder Unterversorgung (Fehlmengenkosten)
zu. Diese Risiken versucht die Postponement‐Strategie (Aufschiebe‐ oder Verzöge‐
rungsstrategie) zu berücksichtigen, indem der Frage nachgegangen wird, an welcher
Stelle der Wertschöpfungskette die Variantenbildung vorgenommen werden soll. Die
zentrale Idee der Postponement‐Strategie besteht darin, die Bestimmung von Pro‐
duktmerkmalen sowie die räumliche Verteilung von Produkten so lange zu verzögern,
bis sichere (Kunden‐) Informationen vorliegen oder die Nachfrageprognosen nur noch
mit einer geringen Unsicherheit behaftet sind. Das Produkt wird demzufolge mög‐
lichst lange in einem neutralen oder generischen Zustand gehalten und die genaue
Zuordnung zu einem Markt bzw. Kunden wird im Idealfall bis zum Eingang eines
Kundenauftrags aufgeschoben. Somit wird das Risiko reduziert, aufgrund ungenauer
Prognosen Lagerbestände an nicht marktgerechten Varianten herzustellen, die insbe‐
sondere bei kurzen Produktlebenszyklen schnell abgeschrieben werden müssen. Die
Postponement‐Strategie wurde bereits in den 1950er Jahren durch ALDERSON (1950) als
Marketingansatz entwickelt, jedoch erschwerten lange Fertigungsdurchlaufzeiten und
lange Lieferzeiten die Umsetzung in der Praxis. Erst im Jahr 1965 erfuhr diese Strate‐
gie durch BUCKLIN (1965) wieder Beachtung, indem er die Vorteile der Postponement‐
Strategie insbesondere für den Vertriebskanal hervorhob.
255
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Verluste durch nicht verkäufliche Varianten,
Ein Unternehmen kann sowohl im Bereich der Produktion als auch im Bereich der
Distribution zwischen den Strategien Postponement und Speculation wählen (vgl.
Abbildung 4‐7).
Distribution
Speculation Postponement
Dezentrale Zentrale Lager‐
Lagerbestände bestände und
Direktvertrieb
Bei der Strategie Full Speculation werden alle Fertigungsprozesse und die Verteilung
der Endprodukte auf der Grundlage einer prognostizierten Nachfrage durchgeführt.
Die spekulativ hergestellten Enderzeugnisse gelangen innerhalb eines dezentralen
Distributionssystems zum Kunden. Geographic Postponement zeichnet sich dadurch
aus, dass die Zuweisung räumlicher Merkmale zu einem Produkt durch die Feinver‐
teilung der Fertigerzeugnisse in die Fläche aufgeschoben wird. Die in Erwartung zu‐
künftiger Bedarfe hergestellten Fertigerzeugnisse werden somit in einigen wenigen
Zentrallagern vorgehalten, und erst beim Vorliegen relativ sicherer Informationen
256
4.2
Das Postponement-Konzept
erfolgt die Distribution in die Regionallager. Diese Form des Postponements bietet sich
speziell bei Produkten an, die für den anonymen Markt gefertigt werden oder bei
denen die Variantenanzahl gering ist. Durch möglichst langes Aufschieben der Fein‐
verteilung, können die Prognosesicherheit erhöht und zusätzliche Rücktransporte
aufgrund von Fehlmengen sowie die Bestandskosten verringert werden.
Bei Anwendung eines Labeling Postponement wird aus einem neutralen Produkt
erst durch die Etikettierung eine Produktvariante erzeugt. Insbesondere bei Pro‐
dukten, die unter verschiedenen Markennamen vertrieben werden oder die länder‐
spezifisch verschiedensprachige Etiketten benötigen, eignet sich diese Form Post‐
ponement‐Variante.
Beim Assembly Postponement wird ein für viele verschiedene Varianten gemein‐
sames, standardisiertes Basisprodukt unter Ausnutzung von Skaleneffekten herge‐
stellt und die abschließende Montage bis zum Erhalt eines Kundenauftrags her‐
ausgezögert. Dieses Basisprodukt kann durch das Hinzufügen von Komponenten
oder Individualteilen an die kundenspezifischen Wünsche angepasst werden. Ein
typisches Beispiel für Assembly Postponement stellt die Herstellung von Mobiltele‐
fonen als neutrales Basisprodukt dar, bei denen das kundenindividuelle Merkmal
„Farbe“ erst im Geschäft beim Verkauf festgelegt wird. Die in verschiedenen Far‐
ben erhältlichen Abdeckungen werden im Geschäft vorrätig gehalten und durch
257
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
den Verkäufer auf das Mobiltelefon zur kundenindividuellen Variantenbildung
aufgesetzt364.
Full Postponement stellt den höchsten Grad einer Postponement‐Strategie dar. Sowohl
die produktspezifizierenden Fertigungs‐ als auch die Distributionsprozesse werden
erst durch einen Kundenauftrag ausgelöst365. Die Anwendung dieser Strategie bietet
sich insbesondere dann an, wenn kundenindividuelle Produktanforderungen zu erfül‐
len sind und das Erzielen von Skaleneffekten dafür spricht, dass produktmerkmalsbe‐
stimmende Tätigkeiten an einem zentralen Produktionsort durchgeführt werden sol‐
len. Beispielsweise lagert die Konservenindustrie frisches Obst und Gemüse zentral in
neutralen Konserven und die markenspezifische Etikettierung der Konservendosen
wird dann vorgenommen, wenn Kundenaufträge der verschiedenen Lebensmittelkon‐
zerne explizit vorliegen. Die Etikettierung der neutralen Konservendosen erfolgt voll‐
automatisiert, sodass sich Skaleneffekte nur bei einer Durchführung des Etikettie‐
rungsprozesses in einem Zentrallager realisieren lassen. Die beschrifteten Konserven
werden anschließend an die Kunden ausgeliefert366.
258
4.2
Das Postponement-Konzept
Die Frage ist nun, wo der Entkopplungspunkt liegt bzw. liegen sollte, an dem die
antizipativen Prozesse durch reaktive Prozesse abgelöst werden sollen. Im Sinne der
Kundenorientierung ist es erstrebenswert, die individuellen Kundenwünsche bei mög‐
lichst vielen Prozessschritten zu berücksichtigen. Je weiter flussaufwärts sich der OPP
in der logistischen Kette befindet, desto stärker können die kundenindividuellen
Wünsche in den einzelnen Prozessen berücksichtigt werden. Die Möglichkeit, den Ent‐
kopplungspunkt tatsächlich flussaufwärts zu verschieben, hängt jedoch maßgeblich
von der vom Kunden geforderten Lieferzeit und der Auftragsdurchlaufzeit ab. Da die
vom Kunden geforderte Lieferzeit zumeist die Auftragsdurchlaufzeit unterschreitet,
erfolgen die Prozesse bis zum Eingang eines Kundenauftrages prognosebasiert durch
Vorhalten spekulativer Bestände (Push‐Prinzip). Erst danach können die antizipativen
Prozesse durch reaktive Prozesse abgelöst werden (Pull‐Prinzip).
Gemäß YANG ET AL. (2004) soll der Entkopplungspunkt zeitlich gesehen in Richtung
Kunden verschoben werden, um der Forderung nach kurzen Lieferzeiten nachkom‐
259
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
men zu können. In Verbindung mit dem Anspruch möglichst viele Prozesse reaktiv
unter Einbindung der individuellen Kundenwünsche durchzuführen folgt daraus,
dass die Durchlaufzeiten der am Ende der Wertschöpfungskette stattfindenden Pro‐
zesse verkürzt werden müssen. Im besten Fall kann der Entkopplungspunkt vor dem
ersten produktspezifizierenden Fertigungsschritt positioniert werden, sodass der Ort
der Variantenbildung idealerweise mit dem Entkopplungspunkt übereinstimmt.
DLZ
0 1 2 3 4 5 [Wochen]
vom Markt
geforderte Lieferzeit
antizipative
reaktive Prozesse
Prozesse
OPP
vom Markt
geforderte Lieferzeit
Zur Bestimmung des Entkopplungspunktes geht man, angefangen von der Ausliefe‐
rung an den Kunden, im Wertschöpfungsprozess diejenige Zeitspanne zurück, die der
vom Markt geforderten Lieferzeit entspricht. In Abbildung 4‐9 sind zwei konkurrie‐
rende Unternehmen A und B dargestellt, bei denen die vom Markt geforderte Liefer‐
zeit für deren Produkte jeweils zwei Wochen beträgt. Die Auftragsdurchlaufzeit von
Unternehmen A beträgt fünf Wochen, sodass der Entkopplungspunkt in der Endmon‐
tage liegt. Bis zum Entkopplungspunkt basiert der Herstellungsprozess auf prognosti‐
zierten Daten, d. h. lediglich ein Teilbereich der Endmontage und die Distribution
erfolgen auftragsbasiert. Das Konkurrenzunternehmen B benötigt nur eine Durchlauf‐
zeit von 3,5 Wochen, sodass der Entkopplungspunkt bereits vor der Vormontage liegt.
Aufgrund der geringeren Auftragsdurchlaufzeit hat Unternehmen B gegenüber A den
Vorteil, bereits in der Vormontage kundenindividuelle Wünsche zu berücksichtigen.
Die Lagerbestände und die daraus resultierenden Bestandskosten (insb. die Kapital‐
bindungskosten) sind dadurch geringer. Unternehmen A könnte z. B. im Rahmen eines
260
4.2
Das Postponement-Konzept
261
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Betrachtet man die vier Phasen des Produktlebenszyklus, die sich in Einführung,
Wachstum, Reife und Degeneration unterteilen lassen, dann ist eine Postponement‐
Strategie vor allem zum Ende der Wachstums‐ und während der Reifephase empfeh‐
lenswert. Während dieser beiden Phasen steigt die Zahl der Konkurrenten an, die
Variantenanzahl nimmt zu und die Unternehmen sind aufgrund des abnehmenden
Absatzwachstums zu Kostensenkungen gezwungen373. In diesen Phasen ist die mit
der Postponement‐Strategie verbundene Kostenersparnis und die resultierende Re‐
duktion der Variantenvielfalt als besonders hoch einzuschätzen.
Eine notwendige Voraussetzung für die Anwendung von Assembly oder Manufac‐
turing Postponement ist die Produktmodularisierung. Die Modularisierung bezeichnet
eine Produktgestaltungsstrategie zur Beschränkung der Variantenvielfalt, bei der ein
Endprodukt aus kleineren, voneinander unabhängigen Modulen gefertigt wird. Die
Produktmodularisierung ist damit eine notwendige Bedingung, um finale Produkti‐
onsschritte wie z. B. die Endmontage flussabwärts in die Wertschöpfungskette zu
verschieben und somit in einem Auslieferungslager in Kundennähe durchführen zu
können. Werden zusätzlich durch eine Produktstandardisierung sogenannte generi‐
sche Produkte geschaffen, die als Basiskomponenten Eingang in eine kundenindividu‐
elle Produktgestaltung finden, dann lässt sich die unternehmensinterne Produktviel‐
falt reduzieren und die für den Kunden erkennbare Varietät der Produkte maximieren.
Wenn verschiedene Produkte denselben Produktionsprozess durchlaufen, dann kann
die Produktionsplanung verbessert und die Durchlaufzeiten reduziert werden.
Falls Kunden eine hohe Lieferfrequenz bei gleichzeitig kurzer Lieferzeit fordern, kann
eine Full Speculation‐Strategie sinnvoll sein, bei der Produkte zu großen Teilen speku‐
lativ gefertigt und in die Kundenmärkte verteilt werden. Umgekehrt wird die Anwen‐
dung einer Form oder Geographic Postponement‐Strategie insbesondere dann ermög‐
licht, wenn der Kunde bereit ist längere Lieferzeiten in Kauf zu nehmen, um somit ein
speziell auf seine Wünsche zugeschnittenes Produkt zu erhalten. Des Weiteren wird
die Umsetzung einer Postponement‐Strategie erleichtert, wenn die vom Kunden ge‐
forderte Lieferfrequenz für die gewünschten Produkte niedrig ist374.
262
4.2
Das Postponement-Konzept
der Basis antizipativer Prozesse vorgefertigt. Die sich anschließende nach dem Pull‐
Prinzip gesteuerte reaktive Fertigung konfiguriert diese Module zu kundenindividuel‐
len Produkten, wobei die Integration des Kunden in den Leistungserstellungsprozess
ein konstituierendes Merkmal des Mass Customization darstellt. Somit kann eine
größtmögliche Deckungsgleichheit von Kundenbedürfnissen und Produkteigenschaf‐
ten hergestellt und der Kundennutzen maximiert werden375. Die Postponement‐
Strategie stellt eine mögliche Ausprägungsform des Mass Customization dar, bei der
die Konfiguration generischer Produkte zu kundenindividuellen Endprodukten bis
zum spätmöglichsten Zeitpunkt in der Wertschöpfungskette hinausgezögert wird.
Diese späte Variantenbildung führt dazu, dass die Vorteile des Mass Customization
optimal ausgenutzt werden können.
Beispiel 4.2.1:
Ein Unternehmen hält vier kundenspezifische Varianten am Lager vor. Der Sicher‐
heitsbestand wird durch Multiplikation der Standardabweichung des Kundenbe‐
darfs mit einem Sicherheitsfaktor k bestimmt. Unterstellt man einen ‐Servicegrad
von 93,3%, dann ergibt sich ein Sicherheitsfaktor von k = 1,5. In der folgenden Tabelle
263
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
können die einzelnen Sicherheitsbestände sowie die Summe der Sicherheitsbestände
der drei Varianten in Höhe von 58,5 ME entnommen werden.
Wird nun anstelle der vier Varianten ein generisches Produkt auf Lager gehalten,
dann ergibt sich bei Annahme einer unabhängigen Nachfrage der vier Varianten die
Standardabweichung gen der Nachfrage des generischen Produkts aus der
Wurzel der Summe der quadrierten Standardabweichungen der vier Varianten:
gen 82 9 2 10 2 12 2 20 . Unterstellt man den gleichen ‐Servicegrad, dann
muss für das generische Produkt nur ein Sicherheitsbestand von SBgen 20 1,5 30
ME vorgehalten werden. Durch die Lagerung generischer Produkte, die einen geringe‐
ren Wertschöpfungsanteil als Endprodukte haben, können zusätzlich zur Verringe‐
rung des Sicherheitsbestands auch die Kapitalbindungskosten reduziert werden.
Neben den Beständen ist durch die Verfolgung der Postponement‐Strategie auch das
Risiko beim Wegfall einer Variante geringer. Wenn Produkte möglichst lange in einer
neutralen Form vorgehalten werden, reduziert sich das Risiko, dass unverkäufliche
Varianten im Lager zurückbleiben.
264
4.2
Das Postponement-Konzept
265
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Flexibilität garantiert und kurze Lieferzeiten sichergestellt werden können. Somit kann
die Grundlage für innovative Beschaffungskonzepte wie z. B. Just‐in‐Time oder Just‐
in‐Sequence geschaffen werden. Die aufgrund der Umsetzung der Postponement‐
Strategie in der Fertigung verstärkte Produktmodularisierung379 kann sich bis auf den
Beschaffungsprozess auswirken. So werden bereits von Modul‐ bzw. Systemlieferan‐
ten komplexe Baugruppen im Rahmen eines Modular Sourcing bezogen. Durch ein
Modular Sourcing kann zusätzlich die Lieferantenanzahl verringert und somit die
Anzahl der Schnittstellen sowie die Beschaffungsmarktkomplexität reduziert werden.
Entscheidend ist außerdem ein schneller Austausch von Bestellinformationen und
Prognosedaten zwischen Lieferant und Bedarfsträger, z. B. per Electronic Data Inter‐
change.
Beispiel 4.2.2:
Das Unternehmen LUCE, welches sich auf die Produktion und den Vertrieb von
Lichtquellen konzentriert, weist eine sehr hohe Variantenvielfalt auf. Diese große Vari‐
antenvielfalt ist auf Eigenschaften wie Leistung, Spannung, Anzahl unterschiedlicher
Marken und Verpackungsgrößen zurückzuführen. Insbesondere bei den endverpack‐
ten Produkten liegt eine sehr hohe Prognoseunsicherheit vor. Bisher wurden die End‐
produkte auf der Basis von Prognosen auf Lager gefertigt und verpackt. Um den An‐
teil der antizipativen Prozesse und somit den Prognosehorizont zu verringern, musste
eine flexible Anpassung der Fertigungsstruktur an das Nachfrageverhalten des Mark‐
tes umgesetzt werden. Dazu trennte LUCE den Verpackungsprozesses vom Ferti‐
gungsprozess, indem die Verpackung an ein Unternehmen fremdvergeben wurde. Die
Endprodukte werden somit nicht mehr verpackt gelagert, sondern unverpackt in Be‐
hältern zwischengelagert. Durch die Trennung des Verpackungsprozesses vom Ferti‐
gungsprozess konnte die Durchlaufzeit verringert werden. Mit dem Verpackungsliefe‐
ranten wurde eine Just‐in‐Time‐Lieferung vereinbart, die eine möglichst späte Bestel‐
lung ermöglicht und somit die Flexibilität erhöht. Die Umsetzung von Postponement
in der Beschaffung in Verbindung mit dem Form Postponement führte zu einer Ver‐
schiebung des Verpackungsprozesses (vgl. Abbildung 4‐10).
266
4.2
Das Postponement-Konzept
DLZ
0 1 2 3 4 5 [Wochen]
Rohstoffe Produkte
beschaffen fertigen
Produkte Produkte Produkte
Ausgangssituation
verpacken lagern ausliefern
Rohstoffe Verpackungen
beschaffen fertigen
antizipative reaktive
Prozesse Prozesse
Mit Postponement
Verpa‐
ckungen
beschaf‐
fen
antizipative reaktive
Prozesse Prozesse
Beispiel 4.2.3:
Das italienische Textilunternehmen Benetton muss die Ware für eine Saison mit einem
sehr langen Vorlauf von ca. 6‐12 Monaten bestellen. Die richtigen Modetrends so früh
abzuschätzen ist nahezu unmöglich, sodass Verkaufsschlager bereits nach einigen
Monaten ausverkauft und Ladenhüter im Schlussverkauf nur mit Preisrabatten zu
verkaufen waren. Als wesentliches Problem im Herstellungsprozess hat sich die Farb‐
gebung herausgestellt. Traditionell wurde das Garn bei Benetton erst gesponnen und
anschließend eingefärbt. Darauf folgte ein zeitintensiver Prozess, bei dem zunächst
267
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
aus dem gefärbten Garn die Stoffe gewebt werden, um diese anschließend zu ver‐
kaufsfähigen Kleidungsstücken zu verarbeiten.
DLZ
0 1 2 3 4 [Wochen]
antizipative reaktive
Prozesse Prozesse
antizipative reaktive
Prozesse Prozesse
268
4.2
Das Postponement-Konzept
Neben der Produkt‐ und Prozessmodularisierung kann eine Verkürzung der Durch‐
laufzeit auch durch ein verändertes Fertigungslayout erzielt werden. Für die vor dem
Entkopplungspunkt liegenden antizipativen Prozessschritte, mit denen generische
Produkte unter Ausnutzung von Skaleneffekten kostenminimal hergestellt werden,
bietet sich eine Fließfertigung an. Für die nach dem Entkopplungspunkt liegenden
reaktiven Fertigungsprozesse, die sich durch Agilität auszeichnen, empfiehlt sich die
Anwendung einer Fertigungssegmentierung385, mit der die Produktivitätsvorteile
einer Fließfertigung mit den Flexibilitätsvorteilen einer Werkstattfertigung verbunden
werden386. Falls das zu realisierende Produktionsvolumen einzelner Varianten oder
Produktgruppen zu klein und der Wiederholungsgrad bestimmter Fertigungsaktivitä‐
ten zu gering ist, um den beträchtlichen Aufwand und die Kosten einer Reorganisati‐
on im Rahmen der Fertigungssegmentierung zu rechtfertigen, können die reaktiven
Prozesse auch nach dem Prinzip einer Werkstattfertigung organisiert werden.
Für den Bereich der Distribution gilt, dass durch die Realisierung einer Geographic
Postponement‐Strategie die Stufigkeit des Distributionssystems beeinflusst wird.
Durch die Reduzierung der vertikalen und horizontalen Stufigkeit des Distributions‐
systems387 entsteht ein flaches Lagersystem. Ausgehend von einem Zentral‐ oder
Werkslager werden die verschiedenen Auslieferungslager erst nach Eintreffen relativ
sicherer Informationen beliefert. Durch die verringerte Stufigkeit des Distributions‐
systems vergrößert sich jedoch die räumliche Entfernung zwischen Zentrallager bzw.
Auslieferungslager und Kunde. Diese Distanz ist in kürzester Zeit zu überwinden, um
eine für den Kunden noch akzeptable Lieferzeit zu gewährleisten. Deshalb sind die
Transport‐, Kommissionierungs‐ und Umschlagsprozesse als auch der Informations‐
fluss zu beschleunigen. Neben den klassischen Ansätzen wie Express‐Dienste, 24h‐
Services oder dem Einsatz von Gebietsspediteuren unterstützt auch das Konzept der
„rollenden Lager“ flexible und zeitsparende Transporte388. Beim „rollenden Lager“
werden Fertigerzeugnisse, die nicht explizit für das Auffüllen eines Lagers oder für
bestimmte Kunden reserviert sind, auf LKW verladen und während der Fahrt dispo‐
niert. Der Fahrer wird über Satellit in die Informationskette eingebunden und erhält
Echtzeit‐Informationen über den Abladeort und die zu liefernde Menge389. Da die
Routen und Zeitpläne auf der Basis aktueller Informationen über die zu transportie‐
renden Waren immer wieder neu berechnet werden, lässt sich die Ausnutzung der
Fahrzeuge verbessern und Leerfahrten können vermieden werden. Weiterhin tragen
eine Verdichtung kleiner Sendungen in Transitterminals und eine Automatisierung
der Lager zu einer Verringerung der Lieferzeiten bei.
269
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Beispiel 4.2.4:
Der schwedische Werkzeughersteller Atlas Copco Tools AB hatte bisher eine mehrstu‐
fige Distributionsstruktur mit sieben Werkslager, zwei Zentrallager (Finnland und
Schweden), mehrere nationale Lager und einigen Regionallager aufgebaut. Die Regio‐
nallager wurden von den nationalen Lagern beliefert und diese wiederum von einem
der zwei Zentrallager. In den Regionallagern wurde jeweils das gesamte Sortiment
gelagert. Mit dieser mehrstufigen Struktur sollte die Zielsetzung einer geografischen
Nähe zu den Kunden umgesetzt werden. Bei den täglich über 1.000 eingehenden
Kundenaufträgen wurden im Durchschnitt jeweils drei Produkte bestellt, wobei 80 %
dieser Aufträge von europäischen Kunden stammen. Starke Nachfrageschwankungen
führten dazu, dass trotz der Verfügbarkeit aller Produkte nur 70 % der Bestellungen
aus den Regionallagern abgewickelt werden konnten. Obwohl von den Regionallagern
aus eine Lieferzeit von zwei Tagen möglich ist, betrug diese aufgrund der häufig vor‐
kommenden Unterversorgung der Regionallager mit nachgefragten Produkten durch‐
schnittlich zwei Wochen. Um die Lieferzeiten zu verbessern, wurde ein Geographic
Postponement umgesetzt (vgl. Abbildung 4‐12).
antizipative
Prozesse DLZ
Ausgangssituation
DLZ
[Wochen]
antizipative reaktive
Prozesse Prozesse
Rohstoffe Produkte Produkte Produkte ko‐ Produkte an Produkte Produkte ko‐ Produkte an
Mit Postponement
beschaffen fertigen lagern missionieren ZL. liefern lagern missionieren K. liefern
antizipative reaktive
Prozesse Prozesse
vom Markt geforderte
= OPP ZL.. = Zentrallager RL. = Regionallager bzw. akzeptierte
Lieferzeit
NL. = nationales Lager K. = Kunde
270
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Lernziele:
271
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.3.1 Determinanten, Ursachen und Auswirkungen von
Komplexität
In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird der Komplexitätsbegriff u. a. in
der Biologie, der Physik, der Soziologie, der Systemtheorie und den Wirtschaftswis‐
senschaften vielschichtig, mehrdimensional und transdisziplinär diskutiert391. Im
allgemeinen Sprachgebrauch werden mit dem Begriff der Komplexität vornehmlich
komplizierte, undurchschaubare, unverständliche oder unübersichtliche Aspekte ver‐
bunden392. Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften existieren zahlreiche Definiti‐
onsansätze zur Komplexität, die sich jedoch weniger widersprechen, sondern eher
ergänzen393. Im Folgenden wird Komplexität durch die beiden statischen Dimensio‐
nen Vielzahl und Vielfalt sowie die beiden dynamischen Dimensionen Veränderlich‐
keit und Vieldeutigkeit charakterisiert394:
Die Vielzahl gibt die Anzahl der Elemente und Relationen an und spiegelt sich
z. B. in der Anzahl angebotener Produkte und Produktvarianten, der Menge un‐
terschiedlicher Distributionskanäle, der Anzahl zu bedienender Märkte bzw.
Kundengruppen, der Lieferantenanzahl oder der Anzahl zu beschaffender Mate‐
rialien, Baugruppen oder Kaufteile wider395.
Neben der Vielzahl wirkt sich auch die Vielfalt oder Verschiedenartigkeit auf die
Entstehung von Komplexität aus. Somit wird die Komplexität durch den Grad, in
dem sich Elemente und Objekte unterscheiden, determiniert. Beispielsweise erhö‐
hen wenig standardisierte Prozessabläufe sowie viele Schnittstellen die Komplexi‐
tät.
Die Veränderlichkeit bestimmt das Zeitverhalten und somit die Dynamik von
Systemen und zeigt sich in der Häufigkeit sowie der Schnelligkeit mit der sich
Elemente oder Einflussgrößen auf das System verändern. Eine permanente Ände‐
rung von Produkten oder Prozessen erhöht beispielsweise die Komplexität im
Unternehmen.
Ein weiterer ursächlicher dynamischer Faktor für die Entstehung von Komplexität
ist die Vieldeutigkeit, durch die Unsicherheiten und Unbestimmtheiten der Sys‐
temelemente sowie ihre zukünftigen Entwicklungen ausgedrückt werden. So füh‐
ren z. B. unsichere Prognosen oder wenig verlässliche Wiederbeschaffungszeiten
zu erhöhten Sicherheitsbeständen.
Diese vier Dimensionen stellen konstitutive Eigenschaften der Komplexität dar. Dem‐
nach wird Komplexität als eine Systemeigenschaft verstanden, die durch die Anzahl,
272
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Die Ursachen und Auswirkungen von Komplexität sind sehr umfassend, vielfältig
und unternehmensspezifisch zu betrachten. Zudem stehen viele Ursachen in wechsel‐
seitigen Wirkbeziehungen zueinander, sodass eine abschließende Auflistung kaum
möglich ist. Im Folgenden wird eine Unterteilung der Komplexitätsursachen in exoge‐
ne (externe) und endogene (interne) Komplexitätstreiber vorgenommen397. Externe
Komplexitätstreiber beeinflussen das Unternehmen von außen und können in die
Markt‐ und Gesellschaftskomplexität unterteilt werden. Determinanten der Gesell‐
schaftskomplexität sind politische, wirtschaftliche und rechtliche Systeme sowie öko‐
logische und kulturelle Faktoren und können vom Unternehmen nicht gesteuert wer‐
den. Die Marktkomplexität wird durch die Beschaffungs‐ und Absatzmärkte sowie
den Wettbewerb und die Technologie bestimmt und kann vom Unternehmen direkt
oder indirekt beeinflusst werden.
273
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
zesse, eine zunehmende Individualisierung der Produkte beeinflusst andererseits die
Möglichkeiten zur Standardisierung von Prozessen399.
Komplexitätskosten
direkt indirekt
274
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
275
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
dem Wettbewerb überlegenen Kundennutzens durchsetzen lassen.404 Durch die Be‐
rücksichtigung der individuellen, sich schnell ändernden Präferenzen der Konsumen‐
ten kann auch eine hohe Kundenbindung erreicht werden.
Erlöse
Kosten,
Erlöse
Kosten
maximaler
Erfolg
Komplexität
(Variantenvielfalt)
Zu beachten ist jedoch, dass die Komplexitätskosten mit der Variantenvielfalt über‐
proportional und die Erlöse dagegen nur unterproportional ansteigen. Beispielsweise
lassen sich Verbundeffekte nur bedingt umsetzen, da eine parallele Nutzung der Res‐
sourcen kaum möglich ist. Auch ist oftmals eine Realisierung von Synergieeffekten mit
einem nicht unerheblichen Abstimmungsaufwand verbunden, der zu wettbewerbs‐
wirksamen Flexibilitätsverlusten führen kann406. Des Weiteren kann eine zunehmende
Variantenanzahl dazu führen, dass eine Differenzierung für den Kunden immer
schwieriger wird und dieser aufgrund kognitiver Überlastung zum Wettbewerb wech‐
selt. Werden die zeitlich verzögerten Komplexitätskosten vernachlässigt, entstehen die
in Abbildung 4‐14 dargestellten Kosten‐ und Nutzenwirkungen einer steigenden
Komplexität. Gelingt es nicht, den Komplexitätskosten entsprechende zusätzliche
Erlöse gegenüberstellen, dann verschlechtert sich mit steigender Variantenvielfalt die
Erfolgslage und das Unternehmen rutscht in die „Komplexitätsfalle“407. Die Komple‐
xitätsfalle hat zur Folge, dass Unternehmen auf die zusätzlichen Komplexitätskosten
mit einer Preiserhöhung reagieren, die zu einer Verschlechterung der Wettbewerbsfä‐
higkeit führt. Als Ausweg wird oftmals die Erschließung neuer Marktsegmente mit
Nischenprodukten gesehen, die wiederum die Produktvielfalt erhöht, wodurch sich
somit der Kreis zunehmender Komplexität schließt.
276
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Die sich aus einer steigenden Komplexität ergebenden Probleme haben ihre Ursache
in der Intransparenz der resultierenden Komplexitätskosten. Die traditionelle Zu‐
schlagskalkulation verrechnet die komplexitätsbedingten Gemeinkosten nicht verur‐
sachungsgerecht. Somit werden Standardprodukte zu teuer und Exoten zu billig an‐
geboten, da Sondervarianten von den Standardprodukten subventioniert werden. Eine
fundierte Entscheidung für oder gegen die Einführung einer neuen Variante ist mit der
traditionellen Zuschlagskalkulation nicht möglich. Es muss somit ein Kostenrech‐
nungssystem verwendet werden, das komplexitätsbedingte Kosten sowie deren Kos‐
tentreiber aufdeckt und eine verursachungsgerechte Zuordnung der Komplexitätskos‐
ten zu den einzelnen Varianten ermöglicht. Ein solches Kostenrechungssystem stellt z.
B. die Prozesskostenrechnung408 dar.
4.3.2 Komplexitätsstrategien
Das Komplexitätsproblem im Unternehmen wird entweder als Über‐ oder als Unter‐
komplexität wahrgenommen. Zur Feststellung eines Handlungsbedarfes für ein Kom‐
plexitätsmanagement im Unternehmen können folgende allgemeine Warnsignale her‐
angezogen werden, mit denen eine Identifizierung komplexitätsbezogener Schwach‐
stellen im Unternehmen unterstützt werden kann409:
277
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
müssen für die identifizierten Problembereiche die wesentlichen Komplexitätstreiber
und ihre Wirkungen auf Kosten und Erlöse ermittelt werden, um entsprechende
Handlungsmaßnahmen ableiten zu können.
278
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Diese drei Strategien sind jedoch in der Praxis nicht immer eindeutig gegeneinander
abgrenzbar, da Schnittstellen insbesondere zwischen der Komplexitätsbeherrschung
und ‐vermeidung existieren. Für eine zielführende Handhabung der unternehmer‐
ischen Komplexität bedarf es einer systematischen Vorgehensweise im Rahmen eines
ganzheitlichen Komplexitätsmanagements414.
279
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
nander, da mit steigender Variantenanzahl innerhalb eines Unternehmens auch die
Produkt‐ und die Prozesskomplexität zunehmen.
a) Produktstandardisierung
Bei der Standardisierung auf Produktebene werden Bauteile mit identischer Funk‐
tion aber unterschiedlicher Ausführung vereinheitlicht. Mit der Standardisierung
wird das Ziel einer Verringerung der Teile‐ und Baugruppenvielfalt und mithin
eine Erhöhung des Wiederverwendungsgrades verfolgt418. Die dadurch realisier‐
bare Mehrfachverwendung der standardisierten Bauteile ermöglicht größere Ab‐
nahmemengen in der Beschaffung, sodass Mengenrabatte leichter durchsetzbar
280
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
b) Gleichteileverwendung
c) Plattformkonzept
281
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Modul oder aus mehreren zusammengehörigen Modulen. Die Verwendung über
einen größeren Zeithorizont impliziert entsprechend eine zeitliche Stabilität der
jeweiligen Produktplattform. Wesentliche logistische Vorteile des Plattformkon‐
zeptes sind die zu realisierenden Skalen‐ und Erfahrungskurveneffekte entlang
der gesamten Wertschöpfungskette in Kombination mit einer vom Markt gefor‐
derten hohen Produktvarianz. Durch eine Nutzung vorhandener Plattformen bei
Neuentwicklungen werden zudem deutliche Einsparungen im Bereich der Ent‐
wicklungszeiten sowie von Entwicklungs‐, Investitions‐, Material‐, Anlauf‐ und
Qualitätskosten möglich. Die Produktionsplanungen werden durch Verwendung
modellübergreifender Plattformen stabiler, sodass eine auftragsneutrale Disposi‐
tion und somit eine höhere Auftragsflexibilität resultieren. Als nachteilig erweist
sich jedoch eine mangelnde Produktidentifikation betroffener Marken, ein höhe‐
rer Koordinierungsaufwand, unklare Zuständigkeiten entlang der Schnittstellen,
Abhängigkeiten von dem jeweiligen Plattformverantwortlichen sowie eine einge‐
schränkte Innovationsfähigkeit betroffener Bereiche425.
d) Modularisierung
Bei der Modulbauweise setzt sich ein Produkt aus mehreren Modulen zusammen,
die funktional und physisch weitgehend unabhängig voneinander sind426. Die
Module bilden jeweils geschlossene Funktionseinheiten, die nach Konstruktions‐,
Fertigungs‐ und Logistikaspekten determiniert werden und im Idealfall jederzeit
und ohne Einfluss auf andere Module oder Baugruppen aufgrund klar definierter,
standardisierter Schnittstellen ausgetauscht werden können. Die Modularisierung
zielt darauf ab, die Varianz in wenigen Modulen zu konzentrieren und die Modu‐
le zu möglichst beliebigen Produktvarianten zu kombinieren. Ein modularisierter
Produktaufbau ermöglicht damit die Maximierung des Kundennutzens bei
gleichzeitig unternehmensinterner Kostenreduzierung aufgrund der geringeren
Produktkomplexität. Logistische Vorteile der Modulbauweise resultieren u. a. aus
einer Schnittstellen‐ und Aufwandsreduzierung durch Beschaffung kompletter
Module, einer Verlagerung des Variantenentstehungspunktes und einer damit re‐
sultierenden verzögerten Kundenauftragszuordnung sowie einer Verkürzung von
Liefer‐ und Montagezeiten427. Zudem kann auf Marktveränderungen deutlich
schneller und flexibler reagiert werden, da durch eine parallele Fertigung der
Module die Durchlaufzeit reduziert werden kann. Weitere Vorteile resultieren aus
der Nutzung von Skaleneffekten aufgrund geringerer Produktkosten durch den
höheren Standardisierungsgrad, einer Qualitätssteigerung sowie einer effiziente‐
ren Instandhaltung im After‐Sales‐Management428. Vor allem in Zeiten verkürzter
Produktlebenszyklen und zeitbasierter Wettbewerbsvorteile bietet die Modu‐
larisierung die Chance, innovative Produkte mit geringen Entwicklungskosten auf
282
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
e) Baukastenprinzip
283
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
punktes bewirkt, was zu einer Vereinfachung der logistischen Prozesse führt433.
Nachteile der Differentialbauweise resultieren aus einer größeren Anzahl von
Bauteilen, deren Vielfalt es wiederum bei der Beschaffung und Lagerung zu
handhaben gilt. Die Integralbauweise fokussiert eine Reduzierung der Teileviel‐
falt sowie eine Erhöhung der Wiederholhäufigkeit, sodass die sich ergebende Re‐
duktion von Fertigungsschritten zu einer Durchlaufzeitverkürzung führt. Weiter‐
hin ermöglicht eine verringerte Teilevielfalt eine Optimierung der Transport‐,
Umschlag‐ und Lageraktivitäten sowie eine Reduktion der Lieferantenanzahl.
a) Paketbildung
Bei der Paketbildung (bzw. dem Bundling oder Packaging) werden Leistungs‐
bündel durch die Kombination verschiedener Komponenten und Funktionen ge‐
neriert434. Da die in diesen Leistungsbündeln abgebildeten Funktionen und Aus‐
stattungen nicht in anderen Kombinationen auftreten können, werden die Konfi‐
gurationsmöglichkeiten der Produkte bewusst eingeschränkt435. Die physische
Produktstruktur muss nicht modifiziert werden, sodass mit der Paketbildung eine
Reduktion der Produktprogrammkomplexität einfach zu realisieren ist. Als Vor‐
teile ergeben sich ein verminderter Entwicklungs‐ und Dispositionsaufwand, die
Möglichkeit der Standardisierung von Fertigungsabläufen, eine Verringerung der
Anzahl der Schnittstellen sowie ein Abbau der Bestände für Extra‐Ausstattungen.
Somit lassen sich die internen Koordinationskosten und die Gemeinkosten der
Infrastruktur senken. Da Pakete zumeist häufig nachgefragte Zusatzausstattungen
von Produktvarianten kombinieren, kann durch eine Integration selten nachge‐
fragter Zusatzausstattungen deren Prognose verbessert und somit deren Bestand
nachhaltig reduziert werden436. Als Nachteil der Paketbildung zeigt sich jedoch,
dass sich dadurch die interne Komplexität nur marginal verringern lässt437.
b) Sortimentsbereinigung
284
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
c) Kundenbereinigung
285
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
sourceneinsatz ermöglicht441. Die Vorteilhaftigkeit der Standardisierung liegt u. a.
in der Festlegung von logistischen Ablaufregeln und der damit einhergehenden
Vereinfachung der logistischen Prozesse. Als Folge einer Erhöhung des Wiederho‐
lungsgrades werden die Material‐ und Informationsflüsse stabilisiert, Kosten ge‐
senkt und durch unternehmensübergreifende Logistikstandards wird eine schnel‐
le Integration von Lieferanten und Logistikdienstleistern erleichtert. Weiterhin
tragen standardisierte Prozesse wesentlich zur Generierung von Synergien, Lern‐
kurveneffekten und zur Effizienzsteigerung bei442. Diese Vorteile ergeben sich je‐
doch nur, wenn die festgelegten Standards nachhaltig durchgesetzt werden. Die
Standardisierung logistischer Prozesse bedarf allerdings der Bestimmung eines
optimalen Standardisierungsgrades zwischen repetitiven und innovativen Prozes‐
sen, um dynamisch auf Änderungen reagieren zu können.
Neben der Standardisierung von Prozessen besteht auch die Möglichkeit der Pro‐
zessmodularisierung, bei der Prozesse in einzelne modulare Bestandteile zerlegt
werden, um wiederverwendbare Elemente und Standards zu schaffen. Durch den
Austausch einzelner Module können Prozesse flexibilisiert werden. Da die Pro‐
zessänderungen auf einzelne Module beschränkt bleiben, resultiert eine höhere
Prozessstabilität. Eine Prozessmodularisierung unterstützt auch eine Komplexi‐
tätsreduktion, da durch eine Trennung in wenig und häufig zu ändernde modula‐
re Prozessbestandteile zukünftige Komplexitätsanforderungen bei der Prozessge‐
staltung berücksichtigt werden können. Allerdings besteht bei ungenügend spezi‐
fizierten Modulschnittstellen die Gefahr von Koordinationsproblemen443.
b) Fertigungssegmentierung
286
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Produktorientierung
Fertigungssegmente zeichnen sich durch die Konzentration auf ein spezifi‐
sches Produkt und dessen Komplettbearbeitung durch eine geringe Ferti‐
gungsbreite und eine hohe Fertigungstiefe aus, um möglichst viele Synergie‐
und Spezialisierungsvorteile zu erreichen. Zwischen verschiedenen Ferti‐
gungssegmenten sollen möglichst wenige Leistungsverflechtungen bestehen,
sodass der Koordinationsaufwand reduziert werden kann.
Logistikorientierung
In Fertigungssegmenten werden stets mehrere Stufen des Wertschöpfungs‐
prozesses eines Produktes (z. B. Teilefertigung, Vor‐ und Endmontage) reali‐
siert, sodass die Gestaltung der Material‐ und Informationsflüsse einfacher
und transparenter wird. Mit dieser Prozessorientierung wird in den Ferti‐
gungssegmenten insbesondere die Flussorientierung der Logistikkonzeption
berücksichtigt.
287
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
wie einer Erhöhung der Qualität, Produktivität und Flexibilität446. Eine höhere
Flexibilität von autonomen Fertigungssegmenten gewährleistet bei zunehmender
Variantenvielfalt einen geringeren Anstieg der variantenabhängigen Kosten und
ermöglicht eine schnellere Anpassung an sich ändernde Umfeldsituationen wie
Markt‐ oder Technologietrends447. Da die Integration und die Steuerung der logis‐
tischen Prozesse mit einem hohen Aufwand verbunden sind, muss der wirtschaft‐
liche Nutzen von Fertigungssegmenten im Vorfeld einer Implementierung unter‐
sucht werden. Nachteile einer Fertigungssegmentierung bestehen in Zuordnungs‐
und Auslastungsproblemen, die bei Änderungen des Produktprogramms auftre‐
ten können. Des Weiteren besteht das Problem der Vorhaltung redundanter Res‐
sourcen in mehreren Fertigungssegmenten, sodass besonders bei kostenintensiven
Betriebsmitteln technologieorientierte Segmente im Gegensatz zu produktorien‐
tierten Segmenten zu bilden sind. Im konkreten Einzelfall müssen eine Prozessef‐
fizienz und eine niedrigere Steuerungskomplexität gegen eine hohe Ressourcenef‐
fizienz abgewogen werden.
Neben der Segmentierung der Fertigung können auch indirekte Bereiche, wie z.
B. die Auftragsabwicklung, segmentiert und prozess‐ sowie kundenorientiert ge‐
staltet werden448. Analog zu den Fertigungssegmenten erfolgt eine Segmentie‐
rung indirekter Bereiche, indem prozessorientierte Organisationseinheiten gebil‐
det werden, die sachlogisch zusammenhängende Planungs‐, Steuerungs‐ und Re‐
alisationsaufgaben innerhalb einer Prozesskette ganzheitlich und eigenverant‐
wortlich bearbeiten. Da in indirekten Bereichen bis zu 75 % der Netto‐Wert‐
schöpfung als Gemeinkosten anfallen, ca. 60 % der Gesamtauftragsdurchlaufzeit
stattfindet und bis zu 50 % der Beschäftigten tätig sind, bestehen in einer Segmen‐
tierung indirekter Bereiche enorme Potenziale. Beispielsweise zielt eine Segmen‐
tierung der Auftragsabwicklung durch einen Abbau von Organisations‐ und Ko‐
ordinationskomplexität auf eine Reduktion der Gemeinkosten, Durchlaufzeiten
und der Mitarbeiteranzahl ab. Wichtige Gestaltungsprinzipien zur Segmentierung
indirekter Bereiche sind die Wertschöpfungskonzentration, eine durchgängige
Prozessverantwortung mit dezentralen Entscheidungen, ein flexibler Personalein‐
satz und die Selbststeuerung449.
d) Selbststeuernde Regelkreise
288
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
e) Sourcing‐Strategien
Da die Beschaffungskomplexität durch die Festlegung von Art und Umfang der
Beschaffung sowie der Wahl der Lieferanten beeinflusst wird, bestimmt die von
einem Unternehmen gewählte Sourcing Strategie maßgeblich die Leistungsfähig‐
keit der Logistik452. Durch die Wahl einer bestimmten Sourcing Strategie werden
u. a. die Steuerung und Kontrolle des Informations‐ und Warenflusses zwischen
dem Unternehmen und den externen Partnern, die Einkaufskonditionen, die Wie‐
derbeschaffungszeiten, das Qualitätsverständnis, die Kommunikation und die
Währungsrisiken beeinflusst. Sourcing Strategien haben somit wesentliche Aus‐
wirkungen auf die Koordinationskomplexität.
Beim Single Sourcing erfolgt im Gegensatz zum Multiple Sourcing die Beschaf‐
fung einer Materialart ausschließlich über einen Lieferanten, obwohl alternative
Bezugsquellen existieren, und führt zu einer intensiveren Beziehungsgestaltung
zwischen Zulieferer und Abnehmer. Diese Strategie ermöglicht die Erreichung
wirtschaftlicher Losgrößen, eine Vereinfachung der Qualitätssicherung sowie eine
Senkung der Transaktionskosten. Die Reduktion der Lieferantenanzahl, das damit
verbundene hohe Beschaffungsvolumen und die Erhöhung der Umschlagfre‐
quenzen führen zu einer Aufwandssenkung der operativen Materialdisposition
und reduzieren Sicherheitsbestände und die Kapitalbindung sowie den Aufwand
289
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
für logistische Aktivitäten wie Transport, Umschlag und Lagerung453. Als Nach‐
teile des Single Sourcing sind eine starke Abhängigkeit vom Zulieferer, höhere
Wechselbarrieren zu anderen Lieferanten sowie die mangelnde Berücksichtigung
von Preisen und Technologien alternativer Anbieter am Markt zu nennen. Eine
Strategie, welche die Stärken des Single Sourcing nutzt, jedoch dessen Schwächen
reduziert, ist das Double bzw. Dual Sourcing, bei der die Beschaffung von Pro‐
dukten bzw. Produktgruppen über zwei Lieferanten sichergestellt wird.
290
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Abstimmung456. Die Auswahl geeigneter Sourcing Strategien wird von den unter‐
schiedlichen Anforderungsprofilen der Unternehmen beeinflusst, sodass eine
Festlegung grundsätzlich unternehmensindividuell vorgenommen werden muss.
f) Postponement457
291
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.3.4.4 Einzelansätze auf Organisationsebene
a) Entscheidungsdezentralisierung
292
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Eine Standardisierung und Gleichteileverwendung ist auch vor Anwendung der Pa‐
ketbildung zur Reduktion der internen Programmkomplexität sinnvoll. Die damit
erzielbare Verdichtung des Teilespektrums verringert notwendige Bündelungs‐
maßnahmen.
293
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
anzubietende Produktprogramm beeinflusst, sollten beide Ansätze simultan umge‐
setzt werden.
I II III IV
Reduktion der Reduktion der Reduktion der
wahrge‐ Komplexitäts‐
autonomen korrelierten
nommenen beherrschung
Unternehmens‐ Unternehmens‐
komplexität komplexität Marktkomplexität
294
4.3
Management der Komplexität in der Logistik
Die vierte Phase umfasst die Komplexitätsbeherrschung und ist ausschließlich nach
Abschluss der dritten Phase, also unter Kenntnis der verbleibenden, nicht mehr zu
mindernden Restkomplexität, durchführbar. Geeignet sind diejenigen Einzelansätze,
die eine Beherrschung der Unternehmenskomplexität durch eine Differenzierung
unternehmensinterner Strukturen und Prozesse hinsichtlich der verbleibenden Markt‐
leistung ermöglichen. Neben einer Fertigungssegmentierung können eine Segmentie‐
rung der Auftragsabwicklung sowie im Rahmen der Beschaffung das Single oder
Modular Sourcing zur Komplexitätsbeherrschung umgesetzt werden.
Mit den vier aufeinander aufbauenden Phasen wird die Komplexität schrittweise von
innen nach außen unter Berücksichtigung der Abhängigkeiten zwischen den Einzelan‐
sätzen reduziert. Somit kann das 4‐Phasen‐Modell als praktikabler Handlungsleitfa‐
den zur Umsetzung eines ganzheitlichen, integrierten Komplexitätsmanagements
herangezogen werden. Dabei gilt es zu beachten, dass für jeden Einzelfall unterschied‐
liche Einzelansätze in Frage kommen können und diese individuell bewertet werden
müssen.
295
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
4.4 Strategische Allianzen zwischen Industrie-
und Handelsunternehmen
Um auf Märkten mit hoher Dynamik Wettbewerbsvorteile zu generieren besteht die
Notwendigkeit, dass eine Maximierung von isolierten Einzelinteressen durch eine
Optimierung der gesamten Wertschöpfungskette auf der Basis einer intensiven Zu‐
sammenarbeit aller Beteiligten ersetzt wird. Globale und komplexe Wertschöpfungs‐
ketten lassen sich heute nur durch eine unternehmensübergreifende Kooperation und
den Einsatz moderner Informationstechnologien erfolgreich steuern, um Ineffizienzen
in der Warenversorgung zwischen Herstellern, Logistikdienstleistern und Handel
entlang der Wertschöpfungskette zu vermeiden. Bei einer getrennten Betrachtung von
Marketing‐ und Logistikzielen werden die Zielkonflikte bezüglich der Effektivität auf
der Nachfrageseite und der Effizienz auf der Angebotsseite sichtbar. Somit spielt die
Integration von Logistik und Marketing bei der Gestaltung von Wertschöpfungsketten
eine wesentliche Rolle für die Erzielung und Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Die
Konzepte Efficient Consumer Response (ECR) und Collaborative Planning, Forecas‐
ting and Replenishment (CPFR) liefern jeweils prozessorientierte, unternehmensüber‐
greifende Ansätze, um Marketing‐ und Logistikentscheidungen durch die Nutzung
der Potenziale neuer Informationstechnologien und verstärkter Vernetzung besser
aufeinander abzustimmen. Eine wichtige Voraussetzung bildet dabei die Implementie‐
rung umfassender und unternehmensübergreifender Informations‐ und Planungssys‐
teme, die einen Informationsaustausch mit besserer Datenqualität ermöglichen.
Lernziele:
296
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
Die ECR‐Entwicklungen in den USA wurden in Europa mit Interesse verfolgt. Im Jahr
1994 veröffentlichte die Coca Cola Retail Research Group Europe die Studie „Supplier
Retailer Collaboration in Supply Chain Management“, die Effizienzverbesserungen
von 2,5% vom Umsatz durch Optimierung der Kommunikation, des Materialflusses,
der Bestandsführung und der Verwaltung aufzeigt468. Im selben Jahr wurde das „Exe‐
cutive Board of ECR Europe“ mit Sitz in Brüssel gegründet, in welchem führende
Vertreter aus Handel und Industrie paritätisch vertreten sind. In den folgenden Jahren
gründeten sich viele nationale ECR‐Initiativen. Seit dem Jahr 2000 arbeiten die ECR‐
Initiativen der deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und der Schweiz
bei vielen Projekten unter „ECR‐D‐A‐CH“ eng zusammen.
Im Folgenden wird unter ECR ein umfassendes Managementkonzept auf der Basis
einer vertikalen Kooperation zwischen Industrie und Handel verstanden, das ein
297
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Bündel an Strategien, Methoden und Instrumente umfasst, um dem Konsumenten ein
Optimum an Produktvielfalt, Qualität und Service kostenoptimal anbieten zu können.
Der Wandel von Konfrontation hin zu einer Kooperation fordert vom Management die
Bereitschaft, die traditionell konfliktgeprägte Beziehung zwischen Industrie und Han‐
del durch kooperative Beziehungen zu ersetzen, die für beide Partner in einer Win‐
Win‐Situation mündet. Das ECR‐Konzept propagiert ein Abwenden vom Streben nach
möglichst hohen Konditionen‐ und Leistungsanforderungen zwischen Handel und
Hersteller, hin zur Ausrichtung aller Aktivitäten an den Bedürfnissen der Konsumen‐
ten. Somit dominieren beim ECR‐Konzept die Wertschöpfungs‐ und die Kundenorien‐
tierung. Während mit der Wertschöpfungsorientierung ein prozessorientiertes Denken
und Handeln zur ganzheitlichen Optimierung aller Aktivitäten in der Wertschöp‐
fungskette verfolgt wird, zielt die Kundenorientierung auf eine möglichst optimale
Befriedigung der Kundenbedürfnisse ab. Dies erfordert eine ganzheitliche, unterneh‐
mensübergreifende Analyse, d. h. eine Abkehr vom antizipativen, planorientierten
Push‐Prinzip hin zu einem reaktiven, nachfragegesteuerten Pull‐Prinzip. Beim Push‐
Prinzip drückt der Hersteller die Waren durch die nachfolgenden Wertschöpfungsstu‐
fen. Da der Informationsfluss nur jeweils zwischen zwei benachbarten Wertschöp‐
fungsstufen stattfindet, wird der tatsächliche Kundenbedarf beim Hersteller nicht
berücksichtigt. Die resultierenden Teiloptimierungen in jeder einzelnen Wertschöp‐
fungsstufe führen zu Systembrüchen im Waren‐ und Informationsfluss und die beste‐
henden Schnittstellen zwischen den Unternehmen verursachen hohe Gesamtsystem‐
kosten. Beispiele für solche Ineffizienzen sind lange Liegezeiten von Waren, Brüche im
Informationsfluss und unnötige Sicherheitsbestände im Auslieferungslager bei gleich‐
zeitiger Out‐of‐stock‐Situation in der Filiale. Im Gegensatz zum Push‐Prinzip ist beim
Pull‐Prinzip der Kunde Ausgangspunkt aller Aktivitäten und zieht die Ware durch die
Wertschöpfungskette. Das ECR‐Konzept basiert auf dem Pull‐Prinzip, sodass die
Wertschöpfungsstufen lückenlos durch Informationssysteme und Kooperationsverein‐
barungen miteinander verbunden sind. So kann z. B. die Produktion beim Hersteller
auf Basis der aktuellen Abverkaufsdaten vom POS im Handel erfolgen (vgl. Abbil‐
dung 4‐16). Die verstärkte Kundenorientierung soll beim Kunden auch zu einem er‐
höhten Konsum führen, beispielsweise durch eine größere Produktvielfalt oder besse‐
ren Service.
298
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
Hersteller Handel
Hersteller Handel
Logistik‐ Zentral‐
Produktion Distributions‐ POS Konsument
dienstleister lager
lager
Das Hauptziel des ECR‐Konzepts besteht in der Beseitigung von Ineffizienzen inner‐
halb unkoordinierter Bereiche in der Wertschöpfungskette, sodass für Hersteller, Lo‐
gistikdienstleister, Handel und Konsumenten eine Win‐Win‐Situation entsteht. Dieses
Hauptziel lässt sich in Leistungs‐ und Kostenziele durch Optimierung der Logistik
sowie in Rentabilitätsziele durch Marketingverbesserung unterteilen470. Die Leis‐
tungsziele umfassen eine Vermeidung von Out‐of‐Stock‐Situationen in den Filialen
und eine Erhöhung der Termintreue, der Mengentreue sowie der Lieferqualität. Des
Weiteren wird eine auf Automatisierung basierende verbesserte Bereitstellung und
schnellere Übertragung von Abverkaufsinformationen zwischen den Kooperations‐
partnern verfolgt, um somit schneller auf Kundenwünsche reagieren zu können. Zu
den wichtigsten Kostenzielen gehören die Reduktion der Lagerungs‐ und Kapitalbin‐
dungskosten und der Kosten des physischen Materialflusses. Durch die automatisierte
Datenerfassung, ‐verarbeitung und ‐übertragung werden ebenfalls Informations‐ und
Steuerungskosten reduziert. Bei den durch das Marketing verfolgten Rentabilitätszie‐
len wird eine Erhöhung der Umsatzrentabilität verfolgt, die durch eine verbesserte
Nutzung der in den Nachfragedaten enthaltenen Informationen ermöglicht wird.
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung von ECR sind eine Investitionsbe‐
reitschaft in moderne Iuk‐Technologien, die Veränderung der eigenen Prozesse unter
Berücksichtigung der Flussorientierung, der Aufbau von Vertrauen zwischen den
299
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Kooperationspartnern sowie eine uneingeschränkte und zuverlässige Datenweitergabe
und Informationsbereitstellung.
Zur Unterstützung dieser Strategien ist ein offener Informations‐ und Datenaustausch
mittels Electronic Data Interchange (EDI) sicherzustellen. EDI als Befähiger ermöglicht
einen elektronischen Datenaustausch mittels vereinbarter Normen (z. B. EDIFACT)
und dadurch eine auf Prozessoptimierung basierende unternehmensübergreifende
Zusammenarbeit. EDI zielt auf eine Standardisierung der folgenden Geschäftstrans‐
aktionen: Bestellprozess sowie dessen Dokumentation, Dokumentation der Auftrags‐
abwicklung, Versandprozess inkl. vorauseilender Versandmeldung, Rechnungs‐
abwicklung und elektronische Überweisung. Alternativ zu EDI kann auch das kosten‐
günstigere WebEDI‐Verfahren zur Anwendung kommen, mit dem EDI‐Nachrichten
über einen Webbrowser erfasst, versendet und empfangen werden können. Besonders
kleine und mittlere Unternehmen können über WebEDI mit geringem Zusatzaufwand
in die EDI‐Landschaft integriert werden. Während mit einer separaten Betrachtung
der ECR‐Strategien verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt werden
können, lassen sich aber nur durch einen integrierten Ansatz aller Strategien die mit
ECR umsetzbaren Potenziale für den Hersteller, Logistikdienstleister, Händler und
Konsumenten optimal nutzen, um Quantensprünge in der Effektivität der Versor‐
gungskette zu realisieren. Der Erfolg dieser Strategien hängt jedoch stark vom Ver‐
trauensverhältnis und der Qualität der übermittelten Informationen ab.
Das supply‐side ECR umfasst die drei Strategien Efficient Administration, Efficient
Logistics und Efficient Replenishment. Mit Efficient Administration wird eine Effi‐
zienzsteigerung der administrativen Logistikprozesse verfolgt. Dazu gehört eine
schnelle, sichere und kostengünstige Abwicklung der den Warenfluss begleitenden
Informations‐ und Geldflüsse mittels EDI oder WebEDI. Somit können bisher papier‐
gestützte Informationen automatisiert werden, sodass Mehrfacheingaben und somit
auch Fehlerquellen vermieden werden können.
300
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
Hersteller Handel
Supply‐side ECR Demand‐side ECR
• Cross Docking
• Bestandsoptimierung
• Direkte Warenlieferung
• Standardisierte Ladungsträger
• Regaloptimierung
• Optimierte Rollcontainer
• Lager‐ und LKW‐Pooling
Neben dem papierlosen Informationsfluss spielt auch eine effiziente Gestaltung der
Konditionen eine wichtige Rolle, mit denen die leistungswirtschaftlichen und finanzi‐
ellen Beziehungen zwischen Hersteller, Logistikdienstleister und Handel geregelt
werden. Die Konditionsarten umfassen beispielsweise Mengen‐, Umsatz‐, Zeit‐ und
Funktionsrabatte, Zahlungsmodalitäten sowie verschiedene Nebenleistungen (z. B.
Regalpflege, Inventurhilfe,…)472 und führen zu einem sehr hohen administrativen
Aufwand bei der Bearbeitung. Mit Hilfe einer effizienteren Konditionengestaltung
werden diese vielfältigen Konditionsarten durch die Koppelung an Leistungsaspekten
auf ein überschaubares Maß reduziert.
Beispiel 4.4.1:
Die Diephaus Betonwerk GmbH stellt Betonelemente her, die über Baumärkte vertrie‐
ben werden. Durch die Einführung von EDI im Jahr 2007 konnten gemeinsam mit dem
301
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Kooperationspartner OBI Baumarkt Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerungen
realisiert werden. Bisher zeitintensive administrative Tätigkeiten im Rechnungs‐ und
Bestellwesen, in der Lieferabwicklung und im Stammdatenaustausch werden mittels
moderner IuK‐Technologien vollkommen elektronisch durchgeführt und überprüft.
Die Produktdaten werden in einem Stammdatenpool bereitgestellt und sind für alle
Kunden permanent verfügbar. Die Bestellungen werden elektronisch ausgelöst, die
Artikelverfügbarkeit wird automatisch überprüft und das Lieferavis sowie die Rech‐
nungsstellung erfolgen papierlos473.
Die Strategie Efficient Logistics dient der Erhöhung der Effizienz der physischen Pro‐
zesse in der Wertschöpfungskette durch eine branchenübergreifende Zusammenarbeit
von Hersteller und Handel. Ziel ist die ganzheitliche Realisierung eines optimierten
Warenflusses, wobei auf Warenbestände in den einzelnen Stufen des Distributionssys‐
tems weitgehend verzichtet werden soll. Eine Möglichkeit der Bestandsreduzierung
besteht in der Einrichtung von Zentrallagerlösungen, mit denen statistische Ausgleich‐
seffekte realisiert werden können. Weiterhin können auch bestandslose Umschlag‐
punkte in Form von ein‐ oder zweistufigen Cross Docking Konzepten realisiert wer‐
den474. Vorteile bestandsloser Umschlagpunkte ergeben sich aus einer Reduzierung
von Lagerbeständen und ‐kosten, einer Verringerung von Rampenkontakten bei den
Filialen sowie durch eine Erhöhung des Lieferservice. Falls vom Hersteller zu den
Filialen größere Mengen umsatzstarker Artikel oder besonders umschlagempfindliche
Artikel geliefert werden sollen, dann bietet sich auch eine Direktlieferung unter Um‐
gehung aller Zwischenlagerstufen an. Eine Beschleunigung von Umschlagprozessen
kann durch Efficient Unit Load, d. h. eine Standardisierung von Ladungsträgern, ein‐
heitliche Palettenhöhen sowie eine abgestimmte Gestaltung der Transportetiketten
erreicht werden. Unterstützend wirken weiterhin eine Abstimmung von Stapelsche‐
mata und Auslastung, eine durchgängige Identifikation von Produkten, Versandein‐
heiten, Kartons und Paletten mittels Barcode oder RFID sowie eine Planung der An‐
kunftszeiten der Waren mit Zeitfenster. Auch sollten die Rollcontainer durch Roll‐
Cage‐Sequencing für die Filialbelieferung so beladen werden, dass eine aufwandsarme
Übernahme und Einräumung in die Verkaufsregale durch das Verkaufspersonal mög‐
lich ist. Dies erfordert eine Berücksichtigung des Filiallayouts und der Regalbelegung.
Die Umsetzung von Pooling‐Strategien fordert gemeinsame Planungs‐ sowie zusätzli‐
che Zusammenführungs‐ und Verteilprozesse. So können durch ein LKW‐ oder Lager‐
Pooling LKWs, einheitliche Behältersysteme und u. U. auch Lager unternehmensüber‐
greifend genutzt werden. Damit wird das Ziel verfolgt, die Transportkapazitäten bes‐
ser auszunutzen und Leerfahrten zu minimieren bzw. die Gesamtzahl der Lager zu
verringern.
302
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
Ziel des demand‐side ECR sind Kooperationen zwischen Hersteller und Handel im
Bereich des Marketings. Dazu gehören die Strategien Efficient Promotion, Efficient
Assortment und Efficient Product Introduction. Mit der Strategie Efficient Promotion
sollen Verkauf fördernde Maßnahmen zwischen Hersteller und Handel abgestimmt
und unkoordinierte Aktionen vermieden werden. Efficient Promotion ermöglicht dem
Marketing die Wirkung von Werbemaßnahmen auf den Kunden zu überprüfen. Die
strategische Positionierung von Warengruppen und den zugehörigen Artikeln werden
gemeinsam festgelegt, um verschiedene Aktionen mit klaren Schwerpunkten zu pla‐
nen und umzusetzen sowie die Wirksamkeit von Werbemaßnahmen zu untersuchen.
Somit lassen sich bestimmte Sonderaktionen des Handels durch eine gezielte Waren‐
versorgung des Herstellers begleiten, um Fehlmengen zu vermeiden. Andererseits
können auch vom Hersteller geplante Aktionen vom Handel durch die Bereitstellung
von Sonderverkaufsflächen unterstützt werden. Mit der Strategie Every Day Low Price
wird ein Zustand von Dauerniedrigpreisen angestrebt, der auch bei den Kunden
übermäßige Bevorratungskäufe vermeidet. Voraussetzung für Efficient Promotion ist
eine intensive Zusammenarbeit der beteiligten Partner, verbunden mit einem hohen
Informationsaustausch bezüglich der Daten vom POS.
Die Strategie Efficient Assortment zielt auf eine Effizienzsteigerung bei der Zusam‐
mensetzung von Warengruppen, um die Kundennachfrage möglichst exakt zu befrie‐
303
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
digen und die vorhandenen Verkaufsflächen und Regalplätze profitabel zu nutzen.
Durch die zwischen Hersteller und Handel gemeinsam festgelegte Ausrichtung und
Darbietung des Sortiments wird unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede und
des Kaufverhaltens der Konsumenten eine Maximierung der Flächenwertschöpfung in
den Filialen erreicht. Ein somit am Kunden ausgerichtetes Sortimentsangebot erhöht
auch die Kundenbindung. Eine abverkaufsgerechte Platzierung der Waren vermeidet
Bestandslücken und Überbestände und ermöglicht einen gleichmäßigen Regalabver‐
kauf. Unter Effizienzgesichtspunkten kann das gesamte Sortiment gestrafft werden, d.
h. erfolgreiche Produkte mit hoher Umschlaghäufigkeit sind von weniger erfolgrei‐
chen zu trennen, schwache Artikel sind auf ihre Rentabilität hingehend zu prüfen und
gegebenenfalls auszulisten.
Mit der Strategie Efficient Product Introduction wird der Prozess der Einführung und
Entwicklung neuer Produkte gemeinsam zwischen Hersteller und Handel gestaltet
und optimiert. Diese Strategie setzt ein hohes Maß an Offenheit und Vertrauen zwi‐
schen Hersteller und Handel voraus. Der Handel bildet die Schnittstelle zum Konsu‐
menten und hat im Gegensatz zum Hersteller einen direkten Kontakt zum Kunden.
Beim Handel gehen Beschwerden, Reklamationen und Verbesserungsvorschläge der
Konsumenten ein. Auf dieses Wissen sollte der Hersteller bei der Ideensammlung für
Produkte zurückgreifen, um bestehende Produkte zu ändern oder neue Produkte
zielgerichtet entwickeln zu können. Durch eine rechtzeitige Abstimmung zwischen
Hersteller und Handel bei der Produktentwicklung werden die Erfolgsaussichten
eines neuen Produkts verbessert, sodass Flops vermieden werden können. Neben der
Produktentwicklung ist auch die Markteinführung neuer Produkte gemeinsam zu
planen. Dazu gehören die Festlegung der Sortiments‐, Preis‐, Verkaufsförderungs‐ und
Präsentationspolitik sowie die Abstimmung der Medien‐ und Kommunikationspläne.
Vor dem Hintergrund sich ständig verkürzender Produktlebenszyklen und damit
häufigerer Produktneueinführungen kommt Efficient Product Introduction eine be‐
sondere Bedeutung zu. Allerdings wird der Prozess der Produktentwicklung häufig
noch isoliert von der Industrie betrieben, obwohl gerade im Bereich des Handels ein
erhebliches Wissens‐ und Erfahrungspotential vorhanden ist.
304
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
Zu beachten ist, dass bei den im Rahmen von ECR zu bewältigenden Veränderungen
es zu zirka 80% auf den Faktor Mensch und nur zu zirka 20% auf neue Technologien
ankommt475. Bei der Umsetzung ist auch zu beachten, dass der gesamte Realisie‐
rungsprozess sorgfältig überwacht werden muss, um den Erfolg der einzelnen Strate‐
gien zu erkennen. Vergleicht man die Komplexität und den Abstimmungsbedarf der
sechs Basisstrategien, dann bietet sich zuerst eine Umsetzung der leichter realisierba‐
ren Strategien der supply‐side an, da in diesem Bereich lediglich warenflussbezogene
Informationen mit geringer Vertraulichkeit anfallen. Auch lassen sich im Bereich der
supply‐side kurzfristig Gewinne durch Einsparungen und Optimierungen generieren.
Die Erhöhung des Kundennutzens durch kooperative Marketingmaßnahmen gestaltet
sich schwieriger, da die Beziehung zwischen Industrie und Handel auch heute noch
durch Konflikte gekennzeichnet ist. Insbesondere der Austausch sensibler markt‐ und
kundenbezogener Daten (z. B. Wettbewerbsinformationen, Markttrends, Kundenprofi‐
le) führt auf Seiten der demand‐side zu Problemen.
Eine Automatisierung des Bestellwesens beim Händler wird wesentlich von der Um‐
schlaghäufigkeit der Produkte beeinflusst. Es ergibt sich ein umso größeres Rationali‐
sierungspotenzial, je stabiler die Nachfrage und Sortimentszusammensetzung und je
länger die Produktlebenszyklen sind. Das ECR‐Konzept eignet sich somit für Produkte
aus dem Food‐Sortiment sowie für stabile Basissortimente im Bereich der Non‐Food‐
Artikel. Insbesondere Produkte mit einer hohen Umschlaghäufigkeit, geringer Halt‐
barkeit, hoher Substituierbarkeit, hohem Wert sowie kontinuierlicher Verfügbarkeit
eignen sich für ECR‐Projekte. Auf der ersten Konferenz von ECR Europe im Jahr 1995
wurden bei der Präsentation der Ergebnisse die zu erwartenden Kosteneinsparungen
im europäischen Raum mit ca. 6,9% vom Umsatz angegeben. Allerdings zeigten um‐
fangreiche Untersuchungen in der Praxis, dass lediglich Einsparungen von ca. 3,6%
des Umsatzes realisiert wurden476.
Der Erfolg von ECR‐Projekten hängt auch vom Erreichen einer kritischen Masse ab, da
isolierte Kooperationen mit zu wenigen Industrieunternehmen die hohen Investitio‐
nen in moderne IuK‐Technologien und Datenanalysesoftware sowie den Aufwand für
notwendige Reorganisationen nicht rechtfertigen. Auf Seiten des Handels ergeben sich
Vorteile durch niedrigere Kapital‐ und Lagerhaltungskosten, geringere Transportkos‐
ten durch Bündelungseffekte, erhöhte Warenpräsenz und Umsätze durch Vermeidung
von Out‐of‐Stock‐Situationen und einen verringerten Verwaltungsaufwand. Der Her‐
steller profitiert von einer besseren Planungsqualität aufgrund der POS‐Daten, die zu
einer kontinuierlichen Produktionsauslastung, einer Verkürzung der Durchlaufzeiten
sowie einer Senkung der Bestände im Distributionskanal führt. Die wichtigsten Nut‐
zenpotenziale des ECR‐Konzepts bestehen in einer schnelleren Reaktion auf kurzfris‐
tige Markt‐ und Nachfrageveränderungen sowie in einer besseren Ausrichtung der
Sortimentsgestaltung und Produktpositionierung inkl. der Werbeaktivitäten auf die
Kundenwünsche.
305
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Die Umsetzung von ECR‐Projekten ist mit einem enormen Arbeitsaufwand, einer
großen Veränderungsbereitschaft bei den eigenen Prozessen, einer hohen Investitions‐
bereitschaft in moderne IuK‐Technologien und einer uneingeschränkten und zuverläs‐
sigen Datenweitergabe verbunden. Der Austausch von sensiblen, wettbewerbsrelevan‐
ten Daten zwischen den Kooperationspartnern erfordert den Aufbau von Vertrauen.
Ein weiteres Problem bei der Implementierung stellen die Zieldivergenzen zwischen
Handel und Industrie dar, die im ECR‐Konzept wenig Berücksichtigung finden. Wei‐
terhin kann eine Verschiebung der Machtverhältnisse zum Hersteller beobachtet wer‐
den, der somit immer mehr Einfluss auf die Prozessgestaltung des Handels ge‐
winnt477. Auch wird im ECR‐Konzept die Aufteilung von Kosten und Nutzen zwi‐
schen beiden Kooperationspartnern nicht eindeutig geklärt. Die Handelsunternehmen
sollten sich an gewissen Investitionen der Industrie beteiligen oder eine gerechtere
Gewinnverteilung vornehmen. Eine weitere Schwierigkeit bei der Umsetzung ergibt
sich durch die einseitige und nicht transparente Erstellung von Prognosedaten durch
den Handel. Vielmehr sollte auch das Wissen und die Erfahrung der Hersteller in die
Erstellung einer gemeinsamen Nachfrageprognose integriert werden.
CPFR impliziert eine Kooperationsphilosophie, die von der strategischen Planung bis
zur operativen Umsetzung reicht und auf die gesamte Wertschöpfungskette ausgerich‐
tet ist. Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung von CPFR ist ein intensiver,
306
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
Im ersten Schritt werden als Basis der Kooperation die Aufgaben, Regeln, Grundsätze
und Strukturen für eine Zusammenarbeit zwischen Industrie‐ und Handelsunterneh‐
men festgelegt und stellt somit eine Willenserklärung der obersten Führungsebene zur
Kooperation dar. Diese gemeinsam verfasste Rahmenvereinbarung bestimmt die Ziel‐
vorstellungen der beiden Partner, definiert die praktische Ausgestaltung der Partner‐
schaft, identifiziert die Rollen der involvierten Geschäftspartner und legt fest, wie die
Leistung der Partner gemessen werden soll479. Dieser komplexe, als Front‐End Arran‐
gement bezeichnete Prozessschritt umfasst folgende Aspekte:
Wichtig ist, dass dieser erste Prozessschritt gemeinsam von den Partnern entwickelt
wird, um die Basis für eine vertrauensvolle und konstruktive Kooperation zu schaffen.
307
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
Schritt 2: Entwicklung eines gemeinsamen Geschäftsplans
Auf der Basis des im zweiten Schritt entwickelten gemeinsamen Geschäftsplans kön‐
nen die Kooperationspartner die Qualität der Verkaufsprognose und somit die Waren‐
verfügbarkeit in den Filialen verbessern. Unter Nutzung der vergangenheitsbezo‐
genen POS‐Daten, Bestands‐ und Lieferdaten, Veränderungen im Kaufverhalten sowie
der zukunftsbezogenen Daten wie Promotionsaktivitäten wird eine Verkaufsprognose
gebildet. Die Wahrscheinlichkeit für eine exakte Verkaufsprognose ist umso höher, je
mehr vergangenheitsbezogene Daten mit zukunftsbezogenen Informationen von
Handelsunternehmen und Hersteller verknüpft werden können481.
Kritische Abweichungen bei den Verkaufsprognosen liegen dann vor, wenn die in den
Rahmenvereinbarungen festgelegten Toleranzgrenzen über‐ oder unterschritten wer‐
den. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Verkaufsprognose von Hersteller und
Handel oder die Verkaufprognose gegenüber dem Abverkauf zu weit abweichen. Für
das Erkennen und die Dokumentation dieser Ausnahmesituationen sollten die Partner
über geeignete Systeme verfügen.
Dieser Schritt konzentriert sich auf das gemeinsame Bearbeiten der kritischen Abwei‐
chungen, indem diese diskutiert und kooperativ gelöst werden. Zur Lösung der kriti‐
schen Abweichungen wird zwischen den Partnern eine Kommunikation in Echtzeit
durchgeführt, bis die Verkaufsprognose innerhalb des definierten Toleranzbereichs
liegt. Beispielsweise können Kapazitäten angepasst oder zusätzliche Werbemaßnah‐
men getroffen werden. Jede Änderung fließt dabei sofort in die Verkaufsprognose
(Schritt 3) ein, welche entsprechend anzupassen ist. In diesem Schritt zeigt sich insbe‐
sondere die lernende Komponente des CPFR‐Konzepts. Die nun erfolgte Aktualisie‐
308
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
rung der Verkaufsprognose erhöht die Zuverlässigkeit der im nächsten Schritt folgen‐
den Bestellprognose.
Analog zu Schritt 4 erfolgt nun die Identifikation derjenigen Produkte, deren Bestell‐
prognose außerhalb der in den Rahmenvereinbarungen festgelegten Toleranzgrenzen
liegt. Diese Produkte werden in einer Liste zusammengestellt.
Vergleichbar mit Schritt 5 werden die kritischen Abweichungen für die im Schritt 7 in
einer Liste zusammengestellten Produkte zwischen den Partnern in Echtzeit disku‐
tiert. Dabei werden zusätzliche Informationen für eine Neubewertung der Bestell‐
prognose genutzt und die aktualisierten Prognosedaten fließen in die Verkaufsprog‐
nose ein. Somit wird gewährleistet, dass ein kontinuierlicher Abgleich mit dem tat‐
sächlichen Kundenbedarf erfolgt. Das Ergebnis ist eine zwischen den Partnern abge‐
stimmte und transparente Bestellprognose.
309
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
sen für das Aktionsgeschäft können hingegen wenig vergleichbare historische Daten
nutzen und unterliegen zudem dem schlecht bestimmbaren Kundenverhalten, dem
Erfolg der Werbemaßnahmen sowie den Reaktionen der Wettbewerber.
Beispiel 4.4.2:
In einem Pilotprojekt von dm‐Drogeriemarkt und Procter & Gamble im Jahr 2002, das
nach einer gründlichen Vorbereitung mit einer Laufzeit von sechs Monaten durchge‐
führt wurde, konnte die Prognosegenauigkeit sowohl im Basisgeschäft als auch im
Aktionsgeschäft fast verdoppelt werden. Gleichzeitig stieg die Regalverfügbarkeit der
Produkte von Procter & Gamble in den getesteten dm‐Filialen im Bereich des Aktions‐
geschäfts durch CPFR von 92% auf 98%. Selbst im Basisgeschäft konnte eine Erhöhung
der Regalverfügbarkeit von 97% auf 98% und eine Erhöhung des Lieferservicegrads
von 97% auf 99% festgestellt werden. Diese Erfolge der Prozessoptimierung veranlass‐
ten beide Geschäftspartner das CPFR‐Konzept dauerhaft einzusetzen und weitere
Partner einzubeziehen482.
Das CPFR‐Prozessmodell wurde 2004 von VICS überarbeitet und in vier Phasen einge‐
teilt, wobei die nun noch acht verbleibenden Prozessschritte genauer bzgl. Hersteller
und Händler definiert wurden (vgl. Abbildung 4‐18). Für eine Implementierung von
CPFR kann dennoch auf die oben beschriebenen neun Prozessschritte zurückgegriffen
werden.
Kunde
Die Phase Strategie & Planung befasst sich mit der Aufstellung der Grundregeln für
die kollaborative Beziehung, die Ermittlung des Produktmix und dessen Platzierung
sowie die Entwicklung von Ablaufplänen. Die zugehörigen Aufgaben umfassen die
Festlegung der Zusammenarbeit bezüglich Ziele, Umfang, Rollenverteilung usw. so‐
wie die Entwicklung eines gemeinsamen Businessplans. Zur folgenden Phase der
Nachfrage‐ und Angebotsplanung gehören die Prognosen bezüglich der Nachfrage in
den Verkaufsstellen sowie die Bestellplanung und Bestellprognose für die zukünftigen
Produktbestellungen und Lieferanforderungen über den gesamten Planungshorizont.
Die Phase der Durchführung umfasst die Bestellauslösung sowie die Auftragserfül‐
310
4.4
Strategische Allianzen zwischen Industrie- und Handelsunternehmen
lung. Darin sind alle Vorgänge enthalten, die zum Erwerb des Produkts führen, wie z.
B. die Vorbereitung und die Zustellung von Warenlieferungen, die Annahme und die
Lagerung der Produkte in Handelsregalen, die Erfassung der Absatzbewegungen und
des Zahlungsverkehrs. Die Analysephase überwacht die Planungs‐ und Ausführungs‐
vorgänge bezüglich der Ausnahmekriterien, aggregiert die Ergebnisse, berechnet die
relevanten Erfolgskennzahlen, leitet die Erkenntnisse an die Beteiligten weiter und
passt die Pläne an die kontinuierlich aktualisierten Ergebnisse an.
311
Konzepte und Methoden zur Verbesserung logistischer Prozesse
4
ren. Elektronische Marktplätze ermöglichen den permanenten Datenaustausch der
Wertschöpfungspartner unter Einbezug der Bestellgenerierung und ‐abwicklung.
Insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen bieten elektronische
Marktplätze den Vorteil, dass sie die notwendige Technologie im Planungs‐ und Be‐
schaffungsmanagement ohne hohe Investitionen kostengünstig nutzen können.
Beispiel 4.4.3:
Für die Umsetzung des CPFR‐Konzepts entlang der Lieferkette hat Procter & Gamble
verschiedene Handelspartner und Zulieferer einbezogen. Es wurde eine kooperative
Beziehung zwischen den Kundenteams von Procter & Gamble und den Handels‐
unternehmen aufgebaut („Customer CPFR“). Der Schwerpunkt wird hierbei auf die
mit den Werbemaßnahmen verbundenen Geschäftsprozesse gelegt, d. h. es werden
Produkte, Zeitpunkt und Zeitraum sowie Werbeunterstützungen für das Aktions‐
geschäft abgesprochen. Des Weiteren besteht eine kooperative Beziehung zwischen
den Procter & Gamble Kundenteams und dem Demand Planning der Produktionspla‐
nung in den Werken von Procter & Gamble („Internal CPFR“). Die Kundenteams
leiten die gemeinsam mit den Handelsunternehmen erarbeiteten Verkaufsprognosen
an das Demand‐Planning weiter, die anschließend zu einer Gesamtprognose unter
Einbezug von POS‐Daten der Kunden, Lagerbewegungs‐ und Lieferdaten weiterver‐
arbeitet werden. Somit können ca. 80% der Liefermengen sechs Wochen vor der Liefe‐
rung mit einer Prognosegenauigkeit in einer Bandbreite von plus/minus 25% prognos‐
tiziert werden. Die kooperative Beziehung zwischen den Werken von Procter &
Gamble und den Zulieferern („Supplier CPFR“) bezieht sich auf Roh‐ und Verpa‐
ckungsmaterialien. Gemeinsam mit den Zulieferern wird anhand der Abverkaufs‐
prognosen deren Produktion, Lagerhaltung und die Belieferung der Werke gesteuert.
Mit einem Teil der Lieferanten wird Vendor Managed Inventory vereinbart. Die Um‐
setzung des CPFR‐Konzepts erfolgt bei Procter & Gamble in Deutschland mit Hilfe
der elektronischen Marktplätze Global Net Exchange (GNX) und World Wide Retail
Exchange (WWRE)484.
Die sich durch die Umsetzung des CPFR‐Konzepts ergebenden Vorteile lassen sich in
quantitative und qualitative Nutzenpotenziale unterscheiden. Die Tabelle 4‐4 fasst
beide Nutzenpotenziale sowohl für Handels‐ als auch für Herstellerunternehmen
zusammen.
312
4.5
Literaturhinweise
Hersteller Händler
Umsatzsteigerung
Bestandsoptimierung durch bessere Absatzplanung
Verbesserung der Liefertreue
Reduzierung von Eilaufträgen
Reduzierung der Kapitalbindungskosten durch verbesserte Lagerhaltung
Quantitativ
Probleme bei der Umsetzung des CPFR‐Konzepts werden ähnlich zum ECR‐Konzept
in der Überwindung unternehmensinterner Barrieren, den hohen Investitionskosten in
Informations‐ und Kommunikationstechnologien und in dem mangelnden Vertrauen
der Partner gesehen486. Weiterhin wird CPFR als zu anspruchsvoll erachtet, da die
individuelle Prognosegenerierung auf Händler‐ und auf Herstellerseite viele Ressour‐
cen bindet, sowohl finanziell als auch personell.
4.5 Literaturhinweise
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485 Vgl. SHEFFI (2002, S. 8); ENGLER (2003, S. 214f); SEIFERT (2003, S. 272f); CHUNG/LEUNG (2005, S.
571f).
486 Vgl. ZENTES (2004, S. 267).
313
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319
5 Risikomanagement in der Supply
Chain
Lernziele:
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 321
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_5
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Voraussetzung für ein umfassendes Risikomanagement ist die Kenntnis der Risiken,
denen ein Unternehmen bzw. ein Wertschöpfungsnetzwerk ausgesetzt ist. Dazu er‐
folgt zunächst eine Präzisierung des Risikobegriffs. In der Literatur gibt es verschiede‐
ne Definitionen von Risiko, was vor allem mit dessen Behandlung in verschiedenen
akademischen Zusammenhängen begründet werden kann488. Die verschiedenen Be‐
griffserklärungen für Risiko lassen sich jedoch in zwei Gruppen unterscheiden489.
Unter Risiko im Sinne eines kausalen Risikobegriffs wird das Auftreten von Fehlern in
der Informationsstruktur verstanden, z. B. die bewusste Informationsverweigerung
gegenüber Partnern im Wertschöpfungsnetzwerk. Diese ursachenbezogene Risikode‐
finition resultiert aus einem unvollständigen Informationsstand des Entscheidungs‐
trägers über zukünftige Entwicklungen und Ereignisse. Es können dabei Entscheidun‐
gen unter Sicherheit, unter Risiko und unter Unsicherheit unterschieden werden. Für
eine Entscheidung unter Sicherheit benötigt der Entscheidungsträger eine vollkom‐
mene Informationslage. Eine Entscheidung unter Risiko liegt dann vor, wenn den
einzelnen möglichen Zukunftssituationen subjektive oder objektive Wahrscheinlich‐
keiten zugeordnet werden können. Liegen hingegen keine Eintrittswahrscheinlichkei‐
ten für zukünftige Umweltzustände vor, dann spricht man von einer Entscheidung
unter Unsicherheit. Im Sinne der wirkungsbezogenen Definition umfasst Risiko die
Gefahr eines unerwünschten Ereignisses, d. h. im Fokus dieser Sichtweise stehen die
Konsequenzen, die sich durch ein wirksam gewordenes Risiko ergeben können. Ab‐
weichungen von gesetzten Zielen können grundsätzlich sowohl im positiven als auch
im negativen Sinne erfolgen, wodurch Risiko nicht nur als Verlustgefahr, sondern auch
als Chance zum Übertreffen der angestrebten Unternehmensziele interpretiert werden
kann. In diesem Zusammenhang wird zwischen spekulativen und reinen Risiken
unterschieden. Während reine Risiken lediglich die negativen Auswirkungen einer
Entscheidung berücksichtigen (Risiken als Verlustgefahr), bieten spekulative Risiken
auch die Möglichkeit einer positiven Auswirkung490.
322
5.1
Risiko und Risikomanagement
323
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Ansätze zur Klassifikation, diese sind aber nicht immer eindeutig gegeneinander ab‐
grenzbar und überschneiden sich teilweise. In der Tabelle 5‐1 erfolgt eine umfangrei‐
che Klassifikation der Unternehmensrisiken492.
324
5.1
Risiko und Risikomanagement
fungsnetzwerkes, die Analyse der Risikotreiber und die Festlegung geeigneter Steue‐
rungsmaßnahmen anstrebt. Für das Supply‐Chain‐Risikomanagement ergeben sich
aufgrund der unternehmensübergreifenden Ausrichtung im Vergleich zum klassi‐
schen Risikomanagement folgende Besonderheiten495:
Die Risiken in einer Wertschöpfungskette weichen in der Regel von der Summe
der Risiken der an ihr beteiligten Partner ab.
Bedingt durch das globale Umfeld der Wertschöpfungskette ist das Risikoma‐
nagement der Unternehmen unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen ausge‐
setzt.
Die einzelnen Unternehmen entlang der Supply Chain unterscheiden sich im Grad
ihrer Risikobereitschaft und ‐tragfähigkeit.
Die Mitwirkung an vielen Wertschöpfungsketten wirkt sich oftmals negativ auf die
Bereitschaft der Unternehmen zur Adaption an spezielle Richtlinien einer einzel‐
nen Wertschöpfungskette aus.
Um den starken Abhängigkeiten gerecht zu werden, sollten zwischen den Partnern ein
hohes Vertrauen und vor allem eine ständige Abstimmung vorausgesetzt werden, da
selbst kleine Änderungen und Risikomaßnahmen dynamische Auswirkungen auf
andere Supply‐Chain‐Akteure haben können. Opportunismus und Machtmissbrauch
stellen vor allem bei einem netzwerkweiten Risikomanagement ein gewisses Risiko
dar. Die Leistung der Supply Chain kann sich jedoch durch ein effizientes Supply‐
Chain‐Risikomanagement maßgeblich verbessern. Insbesondere können durch ein
einheitliches Informationssystem Risiken bereits in frühen Stadien erkannt und kom‐
muniziert werden. Eine durchgängige Transparenz entlang der Supply Chain führt zu
einem gesteigerten Vertrauen der Partner und zu sinkenden Kosten. Durch eine stabil
325
Risikomanagement in der Supply Chain
5
wirkende Supply Chain können auch Wettbewerbsvorteile realisiert werden, da die
Attraktivität gegenüber potenziellen Partnern und Kunden steigt.
Im Rahmen einer gemeinsamen Risikoanalyse in der Supply Chain findet zwar ein
kooperatives Risikomanagement zwischen einzelnen vor‐ und nachgelagerten Un‐
ternehmen statt, der Fokus des Risikomanagements liegt jedoch hauptsächlich auf
den Auswirkungen auf das eigene Unternehmen. Der Austausch von Risikoinfor‐
mationen erfolgt nur unregelmäßig und informell. In Bezug auf die Phase der
Netzwerkbildung findet eine Intensivierung der partnerschaftlichen Beziehung
zwischen einzelnen Unternehmen statt.
326
5.2
Supply-Chain-Disruption-Risiken
Die folgende Tabelle 5‐2 enthält einen Überblick über die verschiedenen Ansätze zum
Management von Supply‐Chain‐Risiken, die in Abhängigkeit von der Phase der
Netzwerkbildung und Art der Beziehung zwischen den Unternehmen auch gleichzei‐
tig verfolgt werden können498.
5.2 Supply-Chain-Disruption-Risiken
Im Rahmen des Supply‐Chain‐Risikomanagements kommt den Supply‐Chain‐Disrup‐
tion‐Risiken eine besondere Rolle zu. Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken lassen sich
durch folgende Merkmale charakterisieren und von anderen Risiken abgrenzen499:
327
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Niedrige Eintrittswahrscheinlichkeiten treffen auf hohe Schadenspotenziale.
Bei den von Menschen verursachten Katastrophen wird zwischen bewussten Hand‐
lungen und Unfällen unterschieden. Zu nicht‐terroristischen bewussten Handlungen
zählen z. B. Streiks, Veränderungen der Staatsausgaben, wirtschaftliche Rezessionen,
feindliche Gesellschaftsübernahmen, Veränderungen der Produkttechnologie, die
Änderungen des Lebensstils und Probleme im Management, die zu schwerwiegenden
wirtschaftlichen Problemen führen können. Vor allem ein Streik kann die Versorgung
vieler abhängiger Supply‐Chain‐Partner langfristig unterbrechen und massiv schädi‐
gen. Beispielsweise kam es im Jahr 2002 während einer zehntägigen Blockade von 29
Häfen an der Westküste der USA aufgrund ausgebliebener Lieferungen zur Einstel‐
lung des Betriebes des Toyota Werkes in Fremont. Die nachträgliche Verteilung der
liegengebliebenen Fracht wurde von der Pacific Maritim Association auf acht bis zehn
Wochen geschätzt502. Bei bewussten terroristischen Handlungen liegt das Ziel in der
Zerstörung und es müssen aus ökonomischer Sicht die Auswirkungen des Terrors
insbesondere auf den Welthandel und den Tourismus betrachtet werden. Nach den
Anschlägen auf das World Trade Center im Jahr 2001 waren ca. 14.500 New Yorker
Unternehmen stark beeinträchtigt und es konnten unmittelbare wirtschaftliche Aus‐
wirkungen in Höhe von 83 Milliarden US $ festgestellt werden503.
328
5.2
Supply-Chain-Disruption-Risiken
Supply Chain Disruptions (SCD) können auf der Prozessebene, der Strukturebene, der
funktionalen Ebene sowie der institutionellen Ebene betrachtet werden506. Auf der
Prozessebene beeinflussen SCD alle Material‐, Waren‐, Informations‐ und Geldflüsse,
welche in Verbindung mit der Transformation einer vorher definierten Spezifikation in
ein lieferbares Produkt stehen. Auf der strukturellen Ebene besteht eine Supply Chain
aus organisatorischen Einheiten (Knoten), welche über Pfeile miteinander in Bezie‐
hung stehen. SCD können auf Knoten‐, Pfeil‐ oder Netzwerkebene auftreten. SCD auf
329
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Knoten‐ bzw. Pfeilebene führen nur in bestimmten Fällen zu einer Störung des gesam‐
ten Netzwerks. SCD auf Netzwerkebene liegen dann vor, wenn aufgrund einer Stö‐
rung auf Knoten‐ bzw. Pfeilebene keine durchgängige Verbindung zwischen den Quel‐
len und den Senken im Netzwerk vorliegt. Der Einfluss von SCD auf die Zielerrei‐
chung im Sinne eines strategischen Wettbewerbsvorteils wird auf der funktionellen
Ebene untersucht. Betrachtet man zur Erhöhung der Profitabilität die Kostenführer‐
schafts‐ und die Differenzierungsstrategie, dann können SCD zum einen zu einer
Abweichung von der Kosteneffizienz von Prozessen führen und zum anderen eine
Nichtrealisierung von Differenzierungsmerkmalen, bspw. in Form von unerwarteten
Verzögerungen bei der Lieferzeit, zur Folge haben. Innerhalb der institutionellen Ebe‐
ne werden SCD als Abweichungen von regulatorischen, rechtlichen oder organisa‐
torischen Anforderungen betrachtet. Auf dieser Ebene können SCDs aufgrund fehlen‐
der unternehmensweiter Standards sowie fehlender Investitionen in die Sicherheit von
Supply Chains entstehen.
Eine Bewältigung von Supply Chain Disruptions erfolgt in vier Phasen (vgl. Abbil‐
dung 5‐2)507. Die Leistungsfähigkeit einer Supply Chain kann anhand der Kriterien
Kundenservice (z. B. Lagerreichweite), Marktanteil oder finanzielle Leistungsfähigkeit
(z. B. Profitabilität, operative Erträge, Shareholder Value) gemessen werden. In der
Bereitschaftsphase werden Maßnahmen getroffen, welche die Wahrscheinlichkeit des
Auftretens von SCD reduzieren bzw. mögliche negative Einflüsse auf die Supply
330
5.3
Supply-Chain-Resilienz
Chain absorbieren können. Sobald SCD eingetreten sind, beginnt die Reaktionsphase.
Es wird dahingehend unterschieden, ob sich eine Störung sofort oder verzögert auf
eine Reduktion der Leistungsfähigkeit der Supply Chain auswirkt. Das Ziel in der
Reaktionsphase ist es, die Situation unter Kontrolle zu bringen und Kollateralschäden
zu vermeiden. Je kürzer die Reaktionszeit, desto schneller kann die Leistungsfähigkeit
der Supply Chain wieder verbessert werden. In der Erholungsphase wird das Ziel
verfolgt, den Ausgangszustand bzgl. der Leistungsfähigkeit der Supply Chain z. B.
durch Kapazitätserhöhungen, Überstunden oder eine höhere Produktionsauslastung
schnellstmöglich wieder zu erreichen. Die vorbereitenden Aktivitäten hierfür begin‐
nen bereits in der Bereitschafts‐ und in der Reaktionsphase und werden in Form von
Notfallplänen für die Reaktionsphase festgehalten. Die abschließende Wachstumspha‐
se geht über die Erholungsphase hinaus, da sie auf eine verbesserte Leistungsfähigkeit
der Supply Chain im Vergleich zur Ausgangssituation abzielt.
5.3 Supply-Chain-Resilienz
Das traditionelle Risikomanagement beruht auf Annahmen für die Eintrittswahr‐
scheinlichkeit eines Ereignisses, sodass es nicht mit unvorhersehbaren Ereignissen wie
Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken umgehen kann. Als effektive Maßnahme zur Bewäl‐
tigung von Supply‐Chain‐Disruption‐Risiken gilt die Schaffung von Resilienz in der
Supply Chain, da sie von einer Einzelbewertung jeder möglichen Ursache für Supply‐
Chain‐Disruption‐Risiken absieht. Unternehmen entwickeln in resilienten Supply
Chains Fähigkeiten, mit denen sie sich auf SCD vorbereiten, auf sie reagieren und sich
von ihnen erholen können. Der Begriff Resilienz wird von dem lateinischen Wort
„resilire“ abgeleitet und bedeutet zurückspringen oder abprallen. Resilienz beschreibt
die Fähigkeit eines Systems, nach einer unerwarteten Störung den ursprünglichen
Zustand wiederherzustellen bzw. einen neuen, verbesserten Zustand zu erreichen508.
331
Risikomanagement in der Supply Chain
5
bezeichnet, nach dem Auftreten einer Störung zur Funktionalität zurückzukehren,
sodass nach einer kurzen Stabilisierungsphase wieder eine Rückkehr in einen stabilen
oder besseren Leistungszustand angestrebt werden kann.
332
5.3
Supply-Chain-Resilienz
a) Agilität
Die Agilität einer Supply Chain wird wesentlich von der Flexibilität, Erkenntnis‐
fähigkeit und Umsetzungsgeschwindigkeit eines Unternehmens bestimmt. Die
Erkenntnisfähigkeit beschreibt die Tatsache, dass ein Unternehmen in der Lage
ist, Handlungsbedarfe aufgrund interner als auch externer Veränderungen ausrei‐
chend früh zu identifizieren. Somit unterstützt die Erkenntnisfähigkeit neben re‐
aktivem auch proaktives Handeln, da auch zukünftige Anforderungen frühzeitig
in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden können. Flexibilität be‐
schreibt die Fähigkeit identifizierte Bedürfnisse schnell zu bewerten und geeigne‐
te Maßnahmen zur Anpassung bereitzustellen. Sie ermöglicht es, auch kurzfristig
Änderungen vorzunehmen, die Gefahr von Unterbrechungen in der Supply
Chain zu mindern und die Nachfrage in Quantität und Qualität zu befriedigen.
Die Umsetzungsgeschwindigkeit zielt auf eine möglichst schnelle Befriedigung
neuer Bedürfnisse ab. Sie kann z. B. durch Verschlanken der Prozesse oder eine
Verkürzung der Lieferzeit erhöht werden. Diese drei Faktoren der Agilität sind
immer gemeinsam zu betrachten. Während die Fähigkeiten, Änderungsbedarfe
zu erkennen und flexibel darauf zu reagieren, notwendige Voraussetzungen für
agiles Verhalten darstellen, ist eine Differenzierung gegenüber Wettbewerbern
vorrangig durch schnelle Anpassungen möglich. Somit erklärt die Umsetzungs‐
geschwindigkeit folglich den größten Teil der Agilität509. Zur Erreichung agiler
Supply Chains lassen sich Maßnahmen in folgenden Einflussbereichen identifizie‐
ren510:
Sowohl Lieferanten als auch Abnehmer sollten sich für eine erfolgreiche Zu‐
sammenarbeit einsetzen, denn Unsicherheiten und mangelhafte Lieferungen
wirken sich nicht nur auf die Fähigkeit aus, Änderungen flexibel umzusetzen,
sondern beeinflussen auch die dafür benötigte Zeit.
333
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Die unternehmensinterne Kommunikation und der Wissensaustausch mit Lie‐
feranten fördert die Agilität, da Best Practices der Geschäftspartner über‐
nommen und unternehmensübergreifende Prozesse optimiert werden können.
Eine reibungslose Kommunikation zwischen Geschäftspartnern wird erst
durch kompatible IT‐Infrastrukturen möglich. Für eine schnelle Prozessab‐
wicklung sind auch die Transparenz der Information sowie die Qualität der
Daten wesentlich.
Als Beispiel für ein agiles Verhalten kann das Unternehmen DELL herangezogen
werden. Ein schweres Erdbeben in Taiwan im Jahr 1999 verursachte den Ausfall
von wichtigen Computerkomponenten über einen längeren Zeitraum, sodass vie‐
le Computerhersteller große Schwierigkeiten hatten, ihre Kunden zu beliefern.
DELL konnte agiler als andere Hersteller auf die neue Situation reagieren, da
DELL sich schnell Transparenz über die kritischen Komponenten und die damit
verbundenen Endgeräte verschaffen konnte. Mit Hilfe dieser Transparenz reagier‐
te DELL auf der Nachfrageseite, indem Preise für Geräte mit kritischen Kompo‐
nenten angehoben und Preise für Geräte mit verfügbaren Komponenten gesenkt
wurden. Damit konnte die Nachfrage umgelenkt werden und DELL konnte
gleichzeitig seinen Marktanteil steigern511.
b) Robustheit
334
5.3
Supply-Chain-Resilienz
die direkte oder indirekte Kontrolle der Partner durch das fokale Unternehmen
verringert werden. Entsteht die Komplexität jedoch aufgrund eines hohen Inter‐
aktionsgrads zwischen den Supply‐Chain‐Partnern, dann sollte der Scope of Con‐
trol erhöht werden513. Eine weitere Maßnahme zur Verbesserung der Robustheit
besteht in dem Verstärken des physischen Schutzes von Produktionsgebäuden
oder Lagerhallen.
c) Flexibilität
d) Redundanz
335
Risikomanagement in der Supply Chain
5
einem Risikominderungsbestand, durch zusätzliche Lagerstandorte, durch Über‐
kapazitäten in der Produktion an verschiedenen Standorten, durch eine Mehrlie‐
ferantenstrategie, Reservierung von Produkten bei Ersatzlieferanten und durch
verschiedene Transportwege mit unterschiedlichen Logistikpartnern erzeugt
werden515. Mit dem Vorhalten redundanter Ressourcen wird die Erwartung ver‐
bunden, dass Störimpulse durch den Rückgriff auf diese Ressourcen gedämpft
werden können. Redundanz kann aber auch als Quelle von Flexibilität angesehen
werden. Geht man beispielsweise von einem Single Sourcing aus, dann könnte die
Umstellung auf ein Dual Sourcing die Flexibilität beim Auftreten von Supply
Chain Disruptions deutlich erhöhen, da im Krisenfall auf den zweiten Lieferanten
ausgewichen werden kann.
e) Kollaboration
Bei einer Kollaboration arbeiten alle Partner in der Supply Chain parallel gemein‐
sam an einem Teil des Endergebnisses. Je stärker die Partner in einer Supply
Chain miteinander kollaborieren, desto besser können die Auswirkungen von
SCD abgeschwächt werden. Die Kollaboration sollte sowohl auf vertikaler als
auch auf horizontaler Ebene erfolgen und setzt einen unternehmensübergreifen‐
den Informationsaustausch voraus. Ein gemeinsames Wissensmanagement und
eine partnerschaftliche Nutzung der Ressourcen können dazu beitragen, die Zu‐
sammenarbeit der Supply‐Chain‐Partner gezielt auszugestalten516. Kollaborative
Supply‐Chain‐Partner fühlen sich verantwortlich für das Risikomanagement der
gesamten Supply Chain und unterstützen sich gegenseitig beim Antizipieren po‐
tenzieller Risiken. Das Stärken von Vertrauen zwischen den Partnern, insbesonde‐
re das interorganisationale Vertrauen, ist eine wichtige Maßnahme für eine be‐
ständige und erfolgreiche Zusammenarbeit.
f) Organisationskultur
Die Organisationskultur beschreibt die Entstehung und Entwicklung gemeinsam
geteilter Muster des Denkens, Fühlens und Handelns sowie der sie vermittelnden
Normen, Werte und Symbole innerhalb einer Organisation. Es besteht ein positi‐
ver Einfluss von der Einbindung von Mitarbeitern in strategische Ziele und Werte
(Entwicklungskultur), von dem Fokus auf gemeinsame Anstrengungen (Grup‐
penkultur) und von der Verwendung von Belohnungssystemen (rationale Kultur)
auf die SCR. Die Technologieorientierung kann diese positiven Effekte verstärken.
Dagegen hat der Fokus auf Kontrolle und Kooperation durch Ränge (hierarchi‐
sche Kultur) einen negativen Effekt auf die SCR517. Auch das soziale Kapital, mit
seiner strukturellen, kognitiven und relationalen Dimension, beeinflusst die
336
5.3
Supply-Chain-Resilienz
SCR518. Auf struktureller Ebene ermöglicht eine Kombination aus stark aus‐
geprägten vertikalen Strukturen in Verbindung mit schwach ausgeprägten hori‐
zontalen Strukturen eine schnelle Bereitstellung von Ressourcen. Im Rahmen der
kognitiven Dimension spielen eine geteilte Vision sowie gemeinsame Werte eine
große Rolle, um die Zusammenarbeit unter den Supply‐Chain‐Partnern zu stär‐
ken. Auf der relationalen Ebene helfen Normen und Pflichten, um ein Bewusst‐
sein innerhalb der Supply Chain für die etablierten Prozesse zu generieren. Ein
organisatorischer Wandel ist nur durch die Unterstützung der Unternehmensfüh‐
rung in den einzelnen Unternehmen möglich. Um ein ausgeprägtes Bewusstsein
für Risikomanagement in den Unternehmen zu etablieren, muss die Unterneh‐
mensführung dieses Thema in den Fokus stellen.
g) Dezentralität
h) Lean Management
Lean Management ist ein Ansatz zur kontinuierlichen Prozessoptimierung und
umfasst die effiziente Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette. Sämtliche
Prozesse und Aktivitäten sollten so aufeinander abgestimmt werden, dass jegliche
Art von Verschwendung entlang der Wertschöpfungskette vermieden wird. Des
Weiteren wird darauf abgezielt, nicht wertschöpfende Aktivitäten zu reduzieren
und wertschöpfende Aktivitäten zu optimieren. Schlanke Prozesse sind gekenn‐
zeichnet durch wenig oder gar keine Verschwendung in Bezug auf Aufwände,
Ressourcen und Durchlaufzeiten, sodass sie als sehr effizient gelten520.
337
Risikomanagement in der Supply Chain
5
i) Digitale Technologien
Die Digitalisierung erfolgt durch die Computerisierung, d.h. den isolierten Ein‐
satz von Informationstechnologie zum Digitalisieren von Prozessen und das
Schaffen von Konnektivität durch eine Verknüpfung der IT‐Systeme zwischen den
Unternehmen der Supply Chain. Konkrete Anwendungsgebiete digitaler Techno‐
logien im Rahmen von Industrie 4.0 stellen Big Data Analytics (BDA), Cyberphy‐
sische Systeme (CPS), Additive Fertigung und die Advanced Tracking and Tracing
Technologie (ATTT) dar. Die Analyse großer strukturierter, teil‐ oder unstruktu‐
rierter Datenmengen wird als BDA bezeichnet. Durch den Einsatz von BDA wird
die Prognosegenauigkeit erhöht und die Transparenz in der Supply Chain verbes‐
sert. Somit können SCD, die aufgrund von Informationsstörungen in der Supply
Chain oder potenziellen Veränderungen des Nachfrageverhaltens der Endkunden
entstehen, besser antizipiert werden. Werden in die physischen Objekte des Pro‐
duktionssystems ID‐Technologien, Sensoren, Stell‐ und Prozesskontrolleinheiten,
Kommunikationsgeräte, eingebettete Computer und Mensch‐Maschine‐Schnitt‐
stellen integriert, dann werden sie zu cyberphysischen Systemen (CPS), die über
das Internet der Dinge und Services miteinander kommunizieren können. CPS
ermöglichen jederzeit verfügbare Produktionsdaten, sodass dadurch die Transpa‐
renz in der Fertigung erhöht wird und somit flexibler auf Störungen reagiert wer‐
den kann. Bei der additiven Fertigung werden Materialien durch das schichtweise
Auftragen und Verbinden von Ebenen auf Basis eines digitalen Datenmodells ver‐
arbeitet. Die Additive Fertigung ermöglicht eine flexiblere Produktion sowie kür‐
zere Durchlaufzeiten, sodass Auswirkungen von SCD, die aufgrund von Verände‐
rungen auf der Seite der Endkunden entstehen, reduziert werden können. ATTT
besitzt neben der Rückverfolgung von Produkten auf allen Wertschöpfungsstufen
zusätzliche Möglichkeiten, um Abweichungen von geplanten Prozessen in Supply
Chains zu identifizieren, Benachrichtigungen zu versenden und angemessene Lö‐
sungen zu generieren. Mit dieser Technologie können potenzielle SCD aufgrund
von Informationsstörungen in der Supply Chain oder aufgrund von Veränderun‐
gen bei Lieferanten schneller antizipiert und verringert werden521.
j) Permanenter Lernprozess
Ein permanenter Lernprozess kann durch Nutzung von Erfahrungen der ver‐
schiedenen Mitarbeiter eines Unternehmens ermöglicht werden522. Eine entspre‐
chende Ausbildung und Schulung insbesondere der Supply‐Chain‐Manager ist
notwendig, um ihnen entsprechende Kenntnisse für den Umgang mit SCD zu
vermitteln. Des Weiteren können verschiedene Aus‐ und Weiterbildungskonzepte
zur Steigerung der Flexibilität, Förderung bereichsübergreifender Tätigkeiten so‐
wie zur Erhöhung der Mitarbeitermotivation eingesetzt werden. Im Kontext von
SCR spielen das prozessuale, antizipative, situative, kollaborative, erfahrungsbe‐
338
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
zogene und stellvertretende Lernen eine wichtige Rolle.523 Unternehmen, die aus
den vergangenen SCD lernen, sind besser auf zukünftige SCD vorbereitet.
Eine „optimale“ Resilienz zeichnet sich als Balance zwischen Risikovorsorge und Pro‐
fitabilität aus. Neben den Kosten‐/Nutzen‐Überlegungen ist es für ein Unternehmen
essenziell, auf die strategische Kompatibilität der Erfolgsfaktoren im Risikomanage‐
ment zu achten524. Wenn das fokale Unternehmen bspw. den Fokus auf Kostenführer‐
schaft und gleichzeitig auf kurze Innovationszyklen legt, dann sind Überkapazitäten
und hohe Sicherheitsbestände kontraproduktiv. Für diesen Fall sind kurzfristige kun‐
denseitige Maßnahmen zur Umlenkung der Nachfrage auf nicht betroffene Produkte
eher kompatibel mit der Unternehmensstrategie.
Des Weiteren müssen auch die Interdependenzen zwischen den Risiken und die Ab‐
hängigkeiten der Supply‐Chain‐Partner berücksichtigt werden. Es bedarf Techniken,
die ein proaktives Management solcher Risiken ermöglichen und Auswirkungen in‐
nerhalb der gesamten Supply Chain prognostizieren können.
5.4 Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Der Supply‐Chain‐Risikomanagementprozess muss als Regelkreis verstanden werden,
bei dem die erfassten Chancen und Risiken sowie die hierauf bezogenen Maßnahmen
laufend überwacht werden. In der Literatur werden verschiedene Ansätzen zum Risi‐
komanagementprozess diskutiert, die sich vor allem in Bezug auf den Detaillierungs‐
grad der einzelnen Prozessschritte unterscheiden. Sich ständig verändernde Chancen
und Risiken bedingen, dass die fünf Schritte des Supply‐Chain‐Risikomanagement‐
prozesses nicht einmalig, sondern als kontinuierlicher Prozess ausgeführt werden (vgl.
Abbildung 5‐4).
Auf Grundlage der Risikostrategie von Unternehmen wird der Handlungsrahmen für
den weiteren Risikomanagementprozess zur Identifikation, Bewertung, Steuerung,
Kontrolle sowie Berichterstattung und Dokumentation von Supply‐Chain‐Risiken
festgelegt. Die einzelnen Prozessschritte des Supply‐Chain‐Risikomanagements erfol‐
gen damit zwar analog zum klassischen Risikomanagement, jedoch mit dem Fokus
auf eine ganzheitliche, unternehmensübergreifende Sichtweise.
339
Risikomanagement in der Supply Chain
5
tral gesteuert und ob es in die bestehende Organisationsstruktur eingebunden oder
separat aufgebaut werden soll525.
Risiko‐
Risikokontrolle/
‐überwachung,
Risikoberichterstattung/
‐dokumentation
Risikosteuerung
strategie
Bei einem zentralen Ansatz übernimmt eine Stabsabteilung die Identifikation und
Bewertung der Risiken, um daraus Maßnahmen abzuleiten. Weiterhin könnte die
Umsetzung durch ein Team begleitet werden, das parallel zur Linienorganisation
arbeitet. Der Vorteil einer solchen Organisation ist, dass das Risikomanagement zent‐
ral an der Unternehmensstrategie ausgerichtet wird und die dedizierten Teams spezi‐
ell für das Risikomanagement qualifiziert wären. Als nachteilig zeigt sich jedoch, dass
die direkte und schnelle Einbindung in die operativen Prozesse nicht automatisch
gewährleistet ist und Lernprozesse auf der operativen Ebene zu wenig Berück‐
sichtigung finden.
340
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Für die Praxis werden somit hybride Ansätze empfohlen, welche die Vorteile des zent‐
ralen und dezentralen Vorgehens kombinieren. Die strategische Ausrichtung des Risi‐
komanagements erfolgt zentral, aber die Umsetzung wird dezentral im Rahmen der
Linienverantwortung vorgenommen. Das Unternehmen befindet sich in einem per‐
manenten Lern‐ und Anpassungsprozess bei dem die operativen Erfahrungen mit den
strategischen Anforderungen und umgekehrt abgestimmt werden. Das implizite Wis‐
sen der operativen Ebene kann genutzt werden, um die negativen Effekte von Supply‐
Chain‐Risiken zu reduzieren. Mit Hilfe eines formalen Monitorings, das verstreute
Informationen systematisch sammelt, auswertet und dem Unternehmensmanagement
als Frühindikator zur Verfügung stellt, kann das Wissen in die Entwicklung unter‐
nehmensweiter Strukturen für das Risikomanagement einfließen. Empfehlenswert ist
eine Einbindung des Risikomanagements in die bestehende Organisation und in die
existierenden Geschäftsprozesse. Jeder Arbeitnehmer muss in seine Sachentschei‐
dungen Risikoüberlegungen einbeziehen und trägt die Verantwortung für eine Teil‐
aufgabe des Risikomanagements. Ein wesentlicher Vorteil sind potenzielle Synergieef‐
fekte zwischen Risiko‐ und Sachentscheidungen, die sich gegenseitig unterstützen und
den administrativen Aufwand verringern.
341
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Grundlage für die Formulierung einer Risikostrategie sind risikopolitische Grundsätze
zur Handhabung von Risiken, die das Risikobewusstsein im Unternehmen verbessern
und den Umgang mit Risiken konzernübergreifend vereinheitlichen sollen. Risikopoli‐
tische Grundsätze beschreiben lediglich Verhaltensregeln zur Handhabung von Risi‐
ken, sodass eine Operationalisierung der Risikostrategie durch konkrete risikosteu‐
ernde Maßnahmen notwendig ist. Für die Auswahl geeigneter Maßnahmen ist das
Ausmaß der Risikoübernahme von Unternehmen wesentlich, das sich in entsprechen‐
den Risikostrategien widerspiegelt. Liegt eine risikofreudige Strategie vor, dann gehen
Unternehmen für einen großen unternehmerischen Erfolg auch entsprechend große
Risiken ein. Bei einer risikoaversen Strategie messen Unternehmen den Risiken im
Vergleich zu den Chancen eine höhere Bedeutung zu. Das angestrebte hohe Maß an
Sicherheit ist dabei mit erheblichen Kosten für den Einsatz risikoreduzierender Maß‐
nahmen verbunden. Verfolgt ein Unternehmen eine risikoneutrale Strategie, dann
versucht es die eigene Marktposition mit einer ausgewogenen Anwendung risikopoli‐
tischer Instrumente langfristig zu sichern526. Im Rahmen des Supply‐Chain‐Risiko‐
managements muss zwischen der zu Beginn des Prozesses formulierten Risikostrate‐
gie und der in Folge des Regelkreislaufes notwendigen überarbeiteten Risikostrategie
unterschieden werden. Eine Überarbeitung der Risikostrategie ist dann notwendig,
wenn Abweichungen zwischen der tatsächlichen Risikosituation eines Unternehmens
und den geplanten Zielvorgaben vorliegen527. Dazu sollte ein definierter Prozess zur
regelmäßigen jährlichen Überprüfung der Risikostrategie im Unternehmen etabliert
werden.
Für die Identifikation von kritischen Partnern in der Supply Chain, z. B. Lieferanten
mit Monopolstellung oder Kunden mit großen Umsatzvolumina, erfolgt eine Visuali‐
sierung der Lieferkette. Im Rahmen eines Risiko‐Chancen‐Profils werden Standards
festgelegt, die den Umgang mit Risiken und Chancen in der Supply Chain durch eine
maximal tragbare Risikoobergrenze verbindlich für alle Partner einschränken. Grund‐
sätzlich sollte zwar jeder risikobewusst handeln, eine eindeutige Regelung sorgt aber
für eine bessere Übersichtlichkeit und ist ein wichtiger Erfolgsfaktor des Supply‐
Chain‐Risikomanagements. Weiterhin ist zu klären, welche Personen oder Abteilun‐
gen die regelmäßige Identifikation, Bewertung, Steuerung und Umsetzung von Supp‐
ly‐Chain‐Risiken übernehmen. Um die Zuständigkeiten festzuhalten, bietet sich eine
Verantwortlichkeitsmatrix an, die der internen Aufgabenverteilung des Risikomana‐
gements und der Festlegung von Ansprechpartnern für externe Akteure zur Weiterga‐
be von Risikoinformationen dient.
342
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
ten sich im Risikohandbuch Aussagen zur Risikodefinition, zur Bedeutung des Risikos
für die Unternehmung, zur Risikoeinstellung und zur Funktion und Notwendigkeit
des Risikomanagements finden. Weiterhin sollten Aussagen zu den risikobezogenen
Zielen (Zielarten und Zielgrößen, Zielbeziehungen und Zielgewichtungen, gewünsch‐
te Zielausprägungen), über grundlegende risikobezogene Verhaltensweisen und Po‐
tenziale sowie über das risikobezogene Verhalten gegenüber den Anspruchsgruppen
getroffen werden528. Im Rahmen der Organisation müssen Aufbau‐ und Ablauforgani‐
sation, Aufgabenbereiche und Risikoverantwortliche konkretisiert werden. Eindeutige
Verantwortlichkeiten sind von besonderer Bedeutung, da risikorelevante Entschei‐
dungen auf der richtigen Unternehmensebene getroffen und umgesetzt werden müs‐
sen. Zudem wird so gesichert, dass – im Falle einer Überschreitung festgelegter
Schwellenwerte für existenzgefährdende bzw. wesentliche Risiken oder im Falle einer
Nichteinhaltung der Obergrenze für den Gesamtumfang der Risiken – eine Verlage‐
rung der Entscheidung aus dem unmittelbaren Verantwortungsbereich auf die nächst‐
höhere Ebene erfolgt.
Zum Management von Risiken können Unternehmen auch eine Software einsetzen,
deren Handhabung zusätzlich im Risikohandbuch beschrieben werden muss. Grund‐
sätzlich ist eine Software empfehlenswert, die mit verschiedenen Modulkomponenten
alle Funktionsbereiche eines Unternehmens umfasst, um so mögliche Probleme an den
Schnittstellen zu vermeiden. Die Software sollte den gesamten Risikomanagementpro‐
zess eines Unternehmens abbilden und die für ein Frühwarnsystem notwendige Dar‐
stellung von Risikoprognosen ermöglichen. Zur Gewährleistung eines flexiblen Daten‐
imports und ‐exports muss die Software über entsprechende Schnittstellen zu allen
Aufgabenbereichen eines Unternehmens verfügen. Weiterhin sollte dem Management
eine notwendige Eingriffsmöglichkeit durch eine einfache Darstellung über Ampelsys‐
teme (grün, gelb, rot) aufgezeigt werden. Beim Einsatz von Standardsoftware, die mit
einem großen individuellen Anpassungsaufwand verbunden ist, wird oftmals auf
einfache Tabellenkalkulationssysteme (z. B. Microsoft Excel) oder Datenbank‐Lösun‐
gen (z. B. Microsoft Access) zurückgegriffen, die eine strukturierte Erfassung und Aus‐
wertung von Risiken ermöglichen. Ergänzend können Simulationsprogramme (z. B.
Risk Kit) zur Aggregation der Risiken eingesetzt werden. Weiterhin können standardi‐
sierte Spezialprogramme als Stand‐alone‐Lösungen eingesetzt werden, die bereits auf
spezifische Anforderungen im Rahmen des Risikomanagements ausgerichtet sind. Im
Gegensatz dazu ermöglichen integrierte Business‐Intelligence‐Lösungen (z. B.
Risk2value von avedos, R2C der Schleupen AG oder CRISAM der Calpana Business
Consulting GmbH) ein breites Leistungsspektrum für das Risikomanagement von
Unternehmen529.
343
Risikomanagement in der Supply Chain
5
5.4.2 Identifikation von Supply-Chain-Risiken
Nach der Festlegung der Risikostrategie im strategischen Management beginnt mit der
Risikoidentifikation die erste operative Phase im Risikomanagementprozess. Da nur
einige häufig auftretende Unsicherheiten aus der Phase der Risikostrategie bereits
bekannt sind, beschäftigt sich die Risikoidentifikation mit einer kontinuierlichen, sys‐
tematischen, einheitlichen und möglichst vollständigen Erfassung und Kategori‐
sierung aller aktuellen sowie zukünftigen Störpotenziale und Gefahrenquellen auf
Unternehmens‐ und Supply‐Chain‐Ebene, welche die Unternehmensziele negativ
beeinflussen könnten. Diese erste Phase im Risikomanagementprozess ist besonders
wichtig, da nur identifizierte Risiken quantifiziert und gesteuert werden können. Eine
vollständige Identifikation von Supply‐Chain‐Risiken ist aufgrund der Unterschiede in
der Ausgestaltung einzelner Wertschöpfungsketten, branchenspezifischer und diver‐
ser situativer Faktoren sowie aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich und sinn‐
voll. Die Güte der Identifikation hängt dabei wesentlich von der Qualität der Informa‐
tionsbeschaffung sowie von der Bereitschaft der Partner in der Supply Chain ab, ihre
internen Risiken offenzulegen. Zur Wahrung der Transparenz in Wert‐
schöpfungsketten sind die Risiken und Chancen möglichst gemeinsam zuerst auf den
Unternehmensebenen und danach im Kontext der Supply Chain zu identifizieren und
zu klassifizieren.
Um aus dem komplexen Umfeld und der Vielzahl von Faktoren die relevanten Risiken
herauszufiltern, bedarf es eines systematischen Vorgehens und geeigneter Werkzeuge.
Zur Identifikation von Risiken kann eine progressive oder retrograde Vorgehensweise
gewählt werden. Während bei der progressiven Methode die Auswirkungen nicht
weiter differenzierbarer Risikoursachen auf das unternehmerische Zielsystem unter‐
sucht werden, verfolgt der retrograde Ansatz ausgehend von Zielen die Aufdeckung
möglicher Risikoquellen. Beide Verfahren sollten durch den Einsatz geeigneter In‐
strumente der Informationsbeschaffung unterstützt werden. Häufig wird zwischen
Kollektionsmethoden und Suchmethoden unterschieden. Letztere können darüber
hinaus in analytische Methoden und Kreativitätsmethoden unterteilt werden530. Kol‐
lektionsmethoden werden vor allem zur Identifikation vorhandener Risiken ange‐
wendet (reaktives Risikomanagement). Bei Suchmethoden liegt der Fokus dagegen
durch die Identifikation bisher unbekannter Risiken auf einem proaktiven Risikoma‐
nagement. Weiterhin können spezielle Instrumente zur Identifikation von Supply‐
Chain‐Risiken eingesetzt werden531. Die Tabelle 5‐3 enthält ausgewählte Instrumente
zur Identifikation von Risiken.
344
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
532 Vgl. ROMEIKE/HUTH (2016, S. 74); SIEBRANDT (2010, S. 29f); PFOHL ET AL. (2008a, S. 37),
WILDEMANN (2006, S. 142).
345
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Tabelle 5‐4 SWOT-Analyse
Unternehmensanalyse
Stärken (Strengths) Schwächen (Weaknesses)
Umfeldanalyse Auflistung der Stärken Auflistung der Schwächen
Chancen
SO‐Strategien WO‐Strategien
(Opportunities)
Überwindung der eigenen
Auflistung der Einsatz der Stärken zur
Schwächen durch Ausnutzung
Chancen Ausnutzung der Chancen
der Chancen
Risiken (Threats) ST‐Strategien WT‐Strategien
Minimierung der eigenen
Einsatz der Stärken zur
Auflistung der Risiken Schwächen und Vermeidung
Minimierung der Risiken
von Risiken
Neben der SWOT‐Analyse gehört auch die Befragung von Experten und Mitarbeitern
zur Kategorie der Kollektionsmethoden. Die Qualität der Informationsgewinnung
hängt dabei wesentlich von der Erfahrung und Kompetenz der teilnehmenden Perso‐
nen ab. Der Vorteil von Checklisten zur Risikoidentifikation liegt in der schnellen,
einfachen und kostengünstigen Handhabung. Jedoch ist die Anwendung dieser Me‐
thode auf die Risikoidentifikation beschränkt, da ein Einsatz bei anderen Phasen des
Risikomanagementprozesses kaum möglich ist. Bei zu detaillierten Checklisten ist die
Problemanalyse mit einem hohen Aufwand verbunden. Außerdem fehlt bislang eine
allgemeine Systematik für die Erstellung von Checklisten, sodass Erfahrung und
Kompetenz des Erstellers ausschlaggebend für die Qualität der Checkliste sind. Ein
weiterer Nachteil zeigt sich im hohen Aggregationsgrad von Checklisten, der keine
Aussagen über Einzelrisiken und entsprechende Wechselwirkungen zulässt. Aus die‐
sem Grund können Checklisten lediglich einen Ausgangspunkt für die Identifikation
von Risiken darstellen533.
346
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Frühaufklärung
Frühzeitige Ortung
von latenten
Risiken und
Chancen
Früherkennung
sowie
Frühzeitige
Ortung von Sicherstellung der
Risiken und Einleitung von
Frühwarnung Strategien und
Chancen
Maßnahmen
Frühzeitige Ortung von
Risiken
347
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Entfernung des Ist‐Zeitpunktes zum Zeitpunkt des vermuteten Risikoeintritts immer
stärker werden und somit den Handlungsspielraum des Unternehmens tendenziell
einengen. Schwache Signale werden häufig als ein Gefühl empfunden, das auf Bedro‐
hungen oder Chancen hinweist, aber für das Unternehmen nicht direkt feststellbar ist.
Dies können beispielsweise Tendenzen der Rechtsprechung und Gesetzgebung oder
die Verbreitung von neuartigen Ideen sein. Die Herausforderung für Unternehmen
besteht dementsprechend in der frühzeitigen Wahrnehmung solcher Signale, um un‐
mittelbar nach Eintritt von Diskontinuitäten strategische Maßnahmen einleiten zu
können536.
Die Fehlerbaumanalyse ist eine Top‐Down‐Methode, bei der für ein vorgegebenes,
unerwünschtes Primärereignis in Form einer Baumstruktur alle Möglichkeiten in
Form von Sekundärereignissen untersucht werden, die zu diesem primären Störereig‐
nis führen können. Dieser Prozess wird wiederholt und dabei werden alle sekundären
Störereignisse als primäre Störereignisse aufgefasst, sodass eine weitergehende Auf‐
spaltung erfolgt. Diese Vorgehensweise wird solange wiederholt, bis keine weitere
Differenzierung bezüglich neuer Störereignisse möglich ist. Die kausalen Zusammen‐
hänge zwischen Kombinationen von Ereignissen werden dabei mit Hilfe von logischen
Verknüpfungen ausgedrückt. Bei der ODER‐Verknüpfung tritt das Ausgangsereignis
ein, sobald mindestens ein Eingangsereignis vorliegt. Der Ausgang der UND‐
Verknüpfung ist genau dann wahr, wenn alle seine Eingangsereignisse wahr sind. Zu
beachten ist, dass das initiale Störereignis nicht zu allgemein gewählt wird, da dann
die Fehlerbaumanalyse schnell sehr komplex werden kann. Ist hingegen das initiale
Störereignis zu speziell gewählt worden, dann können wichtige Fehlerquellen überse‐
hen werden. Weiterhin bleibt bei der Fehlerbaumanalyse die Quantifizierung der Ein‐
trittswahrscheinlichkeit für das primäre Störereignis oftmals ungenau, da die Wahr‐
scheinlichkeiten für die sekundären Störereignisse nur sehr unsicher geschätzt werden
können. Auch ist der personelle Aufwand als sehr hoch einzuschätzen.
Im Bereich der Kreativitätsmethoden in der Kategorie der Suchmethoden werden
Brainstorming, Synektik, Delphi‐Methode und Social Media vorgestellt. Beim Brain‐
storming, als älteste und bekannteste Technik zur Ideenfindung im Team, steht die
freie Ideenäußerung einer Gruppe von Teilnehmern im Fokus. Brainstorming sollte
mit vier bis maximal zehn Teilnehmern durchgeführt werden. Wesentliches Kennzei‐
chen von Brainstorming ist die assoziative und nicht bewertete Sammlung von mög‐
lichst vielen, spontanen Äußerungen zu möglichen Risiken. Die Vermeidung unnöti‐
ger Diskussionen, die Ausschaltung gedanklicher Blockaden sowie die Ausgrenzung
restriktiver Äußerungen tragen wesentlich zur Qualität der Ergebnisse bei. Wichtig ist,
dass beim Brainstorming keine Kritik ausgesprochen werden darf, da es sich um das
wertungsfreie Sammeln möglicher Risiken handelt. Die Vorteile des Brainstormings
liegen neben der einfachen und kostengünstigen Umsetzbarkeit auch in der Generie‐
rung neuer Lösungsmöglichkeiten. Allerdings ist die Selektion geeigneter Ideen häufig
mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden. Das Ergebnis der Methode wird zu‐
348
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Bei der Synektik handelt es sich um ein Instrument zur Risikoidentifikation, bei der
scheinbar zusammenhangslose und irrelevante Elemente in den Prozess eingebracht
werden. Nachdem im ersten Schritt das Problem definiert und analysiert wurde, er‐
folgt anschließend die Eruierung von spontanen Lösungsvorschlägen, mit denen Ana‐
logien gebildet und auf das Problem übertragen werden. Somit erfolgt eine schrittwei‐
se Verfremdung der ursprünglichen Problemstellung durch Bildung von Analogien.
Durch die sachliche Distanz zu bereits bekannten Problemlösungen bewirkt die Sy‐
nektik eine Überwindung herkömmlicher Denkstrukturen, sodass neue Lösungsansät‐
ze entwickelt werden können537.
Mit Social Media wird eine Vielfalt digitaler Medien und Plattformen bezeichnet, die
einen Austausch von Nutzern ermöglichen, um mediale Inhalte einzeln oder in Ge‐
meinschaft zu gestalten. Social‐Media‐Plattformen wie Xing, Twitter oder Facebook
beherrschen zunehmend die Medienberichterstattung und sind einflussreiche Foren
der digitalen Welt, die das Verhältnis von Verbraucher zu Produkt und Unternehmen
definieren. Unternehmen sollten sich stets darüber informieren, was im Internet über
349
Risikomanagement in der Supply Chain
5
sie und ihre Unternehmensumwelt berichtet wird. Somit ist ein Überblick über bran‐
chenrelevante Bewertungsportale und Foren unverzichtbar. Der Einsatz von Social
Media als eine neue Form der Echtzeit‐Informationsbeschaffung stellt einen wesentli‐
chen Beitrag zur Verbesserung der Risikoidentifikation dar. Das Potenzial von Social
Media lässt sich bzgl. der Funktionen Informationsmanagement (schnelles Finden,
Sammeln, Veröffentlichen und Verteilen von Informationen, Wissensmanagement),
Beziehungsmanagement (Pflege aktueller und Aufbau neuer Kontakte, Aufbau von
Vertrauen) und Interaktion (schnelle Kommunikation und Abstimmung) ermitteln539.
Insbesondere wird das Informationsmanagement für solche Risiken verbessert, die i.
d. R. nicht leicht beschaffbar sind. Auch ermöglicht das Beziehungsmanagement den
Zugang zu Informationen bzgl. Risikoformen, die ohne den Einsatz von Social Media
nicht zu beschaffen sind. Eine schnelle und kosteneffiziente Kommunikation unter‐
stützt auch die Risikoberichterstattung als letzte Phase des Supply‐Chain‐Risiko‐
managementprozesses. Durch eine zunehmende Verfügbarkeit von Echtzeitdaten ist
die Einführung umfangreicherer Frühwarnsysteme ebenfalls denkbar. Mittels intelli‐
genter Mining‐Techniken lassen sich auch große Datenmengen erfassen und für Tie‐
fenanalysen strukturieren. Somit lassen sich Themenfelder, Meinungsäußerungen und
generell die Reputation im zeitlichen Verlauf genau beobachten.
Bei den Instrumenten mit Supply‐Chain‐Charakter wird näher auf den Stress‐Test und
Prozessablaufdiagramme eingegangen. Mit dem Stress‐Test können Unternehmen
Supply‐Chain‐Risiken besser verstehen und nach ihrer Priorität strukturieren. Zu‐
nächst erfolgt eine Identifikation von Schlüssellieferanten und ‐kunden, Lager‐ und
Transportkapazitäten, Standorten der Distributionszentren sowie verwendeten Ver‐
kehrsnetzen. Anschließend werden durch Anwendung der Szenariofragetechnik
(„Was wäre, wenn …“) die Auswirkungen der einzelnen Risikoquellen auf die gesamte
Supply Chain untersucht. Somit kann auch der Grad der Vorbereitung von Unterneh‐
men zur Bewältigung von Supply‐Chain‐Risiken ermittelt werden540. Mit Prozessab‐
laufdiagrammen erfolgt eine Abbildung der Prozesse zwischen den verschiedenen
Supply‐Chain‐Partnern mit standardisierten Symbolen. Die Darstellung der Abhän‐
gigkeiten und Austauschbeziehungen zwischen den Unternehmen erleichtert damit
die Identifikation möglicher Risikoquellen.
Das Ergebnis der Risikoidentifikation stellt ein Risikoinventar dar, welches eine berei‐
nigte, komprimierte Zusammenfassung aller im Verlauf der Risikoanalyse identifizier‐
ten Risiken in der Supply Chain liefert und in Abhängigkeit diverser Kriterien unter‐
schiedlich ausfallen kann (vgl. Tabelle 5‐5). Dieses Risikoinventar wird in der folgen‐
den Phase des Risikomanagementprozesses um eine Risikobewertung ergänzt, um
anschließend Maßnahmen zur Steuerung der Risiken ergreifen zu können.
350
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Kriterium Risikoarten
Entstehungsort der Ressourcenrisiken, Prozess‐ und Steuerungsrisiken,
Risikoquelle Nachfragerisiken, Umfeldrisiken
Umgang mit Risiken Geschäftsrisiken, Ereignisrisiken, Prozessrisiken
Arbeitsrisiken, Personalrisiken, Betriebsmittelrisiken,
Ressource
Werkstoffrisiken, Kapitalrisiken
Planungsrisiken, Beschaffungsrisiken, Herstellungsri‐
Prozessart siken, Lieferrisiken, Entsorgungsrisiken, Risiken des
Befähigens
Beschaffungsrisiken, Produktionsrisiken, Absatzrisi‐
Funktionsbereich
ken, Prozessrisiken, Kontrollrisiken
Logistische Verrich‐ Auftragsabwicklungsrisiken, Lagerhaltungsrisiken,
tung Verpackungsrisiken, Transportrisiken
Materialflussrisiken, Finanzflussrisiken, Informations‐
Flussrisiken
flussrisiken
Versicherbarkeit Versicherbare Risiken, nicht versicherbare Risiken
Normative Risiken, strategische Risiken, taktische
Entscheidungsebene
Risiken, operative Risiken
Richtung möglicher
Reine Risiken, spekulative Risiken
Zielabweichung
Kumulative Risiken, additive Risiken, singuläre Risi‐
Art der Risikowirkung
ken
Ausmaß der Bagatellrisiken, kleine Risiken, mittlere Risiken, große
Konsequenzen Risiken, Katastrophenrisiken
Messbarkeit Messbare Risiken, nicht messbare Risiken
351
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Bei der Bewertung von Risiken ist zunächst eine Analyse der Interdependenzen zwi‐
schen Risikoursache und Zielerreichung notwendig. Im Rahmen der Ursachenanalyse
werden einzelne Risikoursachen ermittelt und auf ihre Beeinflussbarkeit durch die
Supply Chain untersucht. Im Hinblick auf mögliche direkte bzw. indirekte Wirkungen
der Risiken auf die Zielerreichung muss die isolierte Wirkung einzelner Risikoursa‐
chen ebenso betrachtet werden wie die aggregierte Wirkung mehrerer Risikoursachen.
Ferner müssen die Auswirkungen von Supply‐Chain‐Risiken auf die Zielerreichung
sowohl einzelner Unternehmen als auch der gesamten Wertschöpfungskette berück‐
sichtigt werden. Somit müssen bezüglich der Wirkung risikofördernder Faktoren
unterschiedliche Reichweiten in Betracht gezogen werden. Darüber hinaus ist zu be‐
achten, dass risikofördernde Faktoren innerhalb der Wertschöpfungskette ihren Ur‐
sprung in verschiedenen Unternehmen haben können. Entsprechend ist die Wir‐
kungsweise zwischen den verschiedenen Risiken zu überprüfen, d. h. es muss zwi‐
schen singulären, additiven oder kumulativen Risiken unterschieden werden. Eine
gründliche Analyse der Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen schafft Transparenz über die
Risikosituation und bildet die Grundlage für eine präzise Bewertung der Risiken541.
… A ‐ Risiko
… B ‐ Risiko
sehr … C ‐ Risiko
Eintrittswahrscheinlichkeit in %
hoch
mittel
gering
sehr
gering
Schadensausmaß in €
unbe‐ gering mittel schwer‐ existenz‐
deutend wiegend bedro‐
hend
352
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Eintrittswahrscheinlichkeit Schadensausmaß
353
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Mit zunehmender Digitalisierung der Wertschöpfungskette und der damit zusammen‐
hängenden Vernetzung und Automatisierung resultiert eine erhöhte Datenver‐
fügbarkeit, sodass eine genauere Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit und
Schadenshöhe von Supply‐Chain‐Risiken möglich ist. Außerdem erlauben zunehmend
umfassendere technologische Möglichkeiten eine effiziente Auswertung von Big Data
und können auf diese Weise zur Verbesserung der Bewertung von Supply‐Chain‐Risi‐
ken beitragen.
Für die Auswahl der für die Risikobewertung relevanten Supply‐Chain‐Risiken müs‐
sen Wesentlichkeitsgrenzen festgelegt werden, die eine Klassifizierung dieser Risiken
hinsichtlich ihres Risikogrades ermöglichen. Bei Ermittlung der gesamten Risikotrag‐
fähigkeit aller an der Supply Chain beteiligten Unternehmen sind Unterschiede der
einzelnen Akteure bezüglich ihrer Risikotragfähigkeit und ‐bereitschaft zu berücksich‐
tigen. Weiterhin ist zu beachten, dass mit einer zunehmenden Anzahl der an der Wert‐
schöpfungskette beteiligten Partner aufgrund ausreichender Alternativen im Scha‐
densfall die Bedeutung der jeweiligen Risikotragfähigkeit einzelner Unternehmen
verringert wird. Die abgestimmte Wesentlichkeitsgrenze und maximale Risikotragfä‐
higkeit auf Supply‐Chain‐Ebene sollten die Grundlage für Unternehmen zur Festle‐
gung der individuellen Wesentlichkeitsgrenze in ihrem jeweiligen Risikoportfolio
bilden. Dadurch könnten individuelle Risiken der Unternehmen vor gemeinsamer
Betrachtung auf Supply‐Chain‐Ebene bereits hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die
gesamte Wertschöpfungskette bewertet werden542.
354
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Durch eine gemeinsame Aggregation der Risiken auf Supply‐Chain‐Ebene kann auch
die relative Bedeutung der Einzelrisiken unter Berücksichtigung von Wechsel‐
wirkungen ermittelt werden. Wird eine Aggregation der Risiken zunächst nur im
jeweiligen Unternehmen und anschließend unternehmensübergreifend vorgenommen,
dann kann zwar die Risikoposition der Partnerunternehmen im Supply‐Chain‐Kontext
ermittelt werden, jedoch ist die Berücksichtigung von Supply‐Chain‐Wechsel‐
wirkungen nur durch erneute Betrachtung der Einzelrisiken möglich. Die Vorteile
einer Risikobewertung mit dualem Bewertungsprozess liegen in der gegenseitigen
Kontrolle der beiden Unternehmen und in der Berücksichtigung von Risiken, die erst
im Supply‐Chain‐Kontext eine relevante Bedrohung für das eigene Unternehmen
darstellen können. Nachteile ergeben sich durch eine separate Risikobewertung in den
Unternehmen sowie durch einen erheblichen Kommunikationsaufwand. Bei der Risi‐
kobewertung mit einem Bewertungsprozess legen die Partnerunternehmen den Fokus
auf eine gemeinsame Vorselektion, Bewertung und Aggregation der Risiken. Dabei
sollte für den Zeitraum der Zusammenarbeit ein festes Team aus Mitarbeitern beider
Unternehmen eingerichtet werden, das von Beginn an Wechselwirkungen bei den
Risiken in die Bewertung einbezieht und durch einen ständigen Informationsaus‐
tausch die Reduzierung von Informationsasymmetrien ermöglicht. Bei mehr als zwei
Unternehmen muss die Betrachtung der Risikobewertung auf das gesamte Wertschöp‐
fungsnetzwerk ausgedehnt werden. Grundsätzlich kommen für den Ablauf der Be‐
wertungsprozesse dieselben Überlegungen zum Tragen wie im obigen Fall, wobei
durch die zunehmende Anzahl beteiligter Unternehmen höhere Transaktionskosten
und steigender Koordinationsaufwand berücksichtigt werden müssen. Die netzwerk‐
weite Risikobewertung erfordert daher nicht nur den Einsatz einer übergeordneten
Instanz zur Steuerung und Kontrolle des gesamten Prozesses, sondern auch vertrau‐
ensaufbauende Maßnahmen zur Förderung eines weitestgehend offenen Datenaustau‐
sches zwischen den Partnern in der Supply Chain543.
355
Risikomanagement in der Supply Chain
5
der Supply Chain daher von geringer Bedeutung544. Allgemein ist die Risikoaggrega‐
tion für identische Risikofaktoren (z. B. Vergleich von Rohölpreisen) unproblematisch
und kann durch reine Addition der Risikowerte erfolgen. Bei unterschiedlichen Risiko‐
faktoren (z. B. Vergleich Rohöl und Kupfer) ist eine Risikoaggregation nicht so einfach
möglich. Unter Zuhilfenahme der Monte‐Carlo‐Simulation kann speziell für solche
Fälle die Gesamtrisikoposition unter Beachtung der Wirkungszusammenhänge der
Einzelrisiken bestimmt werden. Die durch Zufallszahlen generierten Risikoparameter
basieren auf historischen Daten oder auf theoretisch abgeleiteten Verteilungsannah‐
men. Unter Umständen wird somit der Fehler begangen, dass Vergangenheitswerte
extrapoliert werden, was mit dem unsicheren Charakter von Risiken in Konflikt steht.
Semi‐Quantitative
Qualitative Methoden Quantitative Methoden
Methoden
Schätzungen Fehlermöglichkeits‐ und
Expertenbefragungen Einflussanalyse Value at Risk
Delphi‐Methode Fehlerbaumanalyse
Klassifizierung Ereignisbaumanalyse
Risikosimulation
Risikoportfolios Entscheidungsbaumanalyse
Szenarioanalyse Scoring Modelle
Sensitivitätsanalyse
Ishikawa‐Diagramm Analytic Hierarchy Process
356
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
dung auf Supply‐Chain‐Ebene. KAJÜTER regt daher an, Risikoportfolios auf der Unter‐
nehmensebene (vgl. Abbildung 5‐6) zu erstellen und anschließend die Ergebnisse auf
der Supply‐Chain‐Ebene in ein Portfolio mit den Achsen „Unternehmensrisiko“ und
„Einfluss auf die Netzwerkpartner“ zu übertragen546. Der Einfluss einzelner Unter‐
nehmensrisiken auf die Netzwerkpartner muss im Rahmen einer gemeinsamen Analy‐
se von den an der Supply Chain beteiligten Unternehmen ermittelt werden. Dieses
Risikoportfolio auf Supply‐Chain‐Ebene soll dazu beitragen, die Bedeutung der in den
Unternehmen individuell ermittelten Risiken aus unternehmensübergreifender Sicht‐
weise zu bewerten und gleichzeitig einen Überblick über die für die Supply Chain
relevanten Risiken zu schaffen (vgl. Abbildung 5‐7). Ausgehend von einer standardi‐
sierten Risikobewertung auf Unternehmensebene berücksichtigt das Supply‐Chain‐
Risikoportfolio zwar die kumulativen Effekte der Risiken, jedoch bleiben Wechselwir‐
kungen zwischen den verschiedenen Supply‐Chain‐Risiken im Portfolio unberücksich‐
tigt. Eine Berücksichtigung ist jedoch erforderlich, wenn die Gesamtwirkung mehrerer
Risikoursachen ermittelt werden soll. Für diese komplexe Aufgabe kann z. B. die auf‐
wändige Risikosimulation aus dem Bereich der quantitativen Methoden herangezogen
werden.
… hohe Relevanz
hoch
(A‐ Risiken) … mittlere Relevanz
357
Risikomanagement in der Supply Chain
5
multipliziert wird. Durch Addition der gewichteten Punktwerte ergibt sich ein Sco‐
ring‐Index, der als Entscheidungsgrundlage dient.
358
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Vermeidung
Verminderung
EW Verminderung
SH
Diversifikation
Übertragung
Übernahme
Rest‐
risiko
Ursachenbezogen:
Reduzierung der Wirkungsbezogen:
Eintrittswahr‐ Reduzierung der Schadenshöhe (SH)
scheinlichkeit (EW)
359
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Abbildung 5‐9 Einordnung der Lieferantenauswahl und -bewertung in die
Risikosteuerung550
Lieferantenentwicklung
Verminderung
zeitliche Puffer
Aufbau von Alternativlieferanten in Planung
Sicherheitsbe‐
stände
Übertragung Vertragsstrafe
Notfallplan bei
längerem Ausfall
Übernahme
Die Maßnahmen zur Risikovermeidung setzen durch das Vermeiden riskanter Hand‐
lungen auf eine vollständige Beseitigung der Eintrittswahrscheinlichkeiten von Risi‐
koursachen. Diese Strategie kann nur in Bezug auf einzelne Risiken langfristigen Cha‐
rakter besitzen, da andernfalls Unternehmen auch auf jegliche Gewinnchancen ver‐
zichten und in einem Umfeld intensiven Wettbewerbs nicht überleben können.
Beispielsweise könnten auf einem politisch instabilen Absatzmarkt Transportrisiken
mittels Eigenfertigung von Produkten oder Lagerrisiken durch eine produktionssyn‐
chrone Beschaffung vermieden werden. Auch wenn ein erhöhtes Transportrisiko
durch eine räumliche Annäherung von Lieferant und Abnehmer reduziert werden
kann, so kommt eine Vermeidung der Lagerhaltung in einem Unternehmen in der
360
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
Regel nur einer Verlagerung der Lagerhaltung auf andere Stufen der Wertschöpfungs‐
kette gleich. Es wird also deutlich, dass die Vermeidung von Risiken oftmals mit Ein‐
bußen im erwarteten Zielerreichungsgrad einhergehen kann.
Den Maßnahmen zur Risikoverminderung, die auf die Reduzierung der Eintrittswahr‐
scheinlichkeit und der Folgen von Störfaktoren auf ein tragbares Niveau abzielen,
kommt eine weitaus größere Bedeutung zu. Ursachenbezogen können Unternehmen
Sicherungsmaßnahmen, wie z. B. regelmäßige Qualitätskontrollen oder die Inspektion
von Produktionsanlagen anwenden. Auch Ansätze zur Planungsgestaltung, die den
Informationsstand des Entscheiders verbessern, fallen unter diese Strategie, wie z. B.
eine sorgfältige Lieferantenauswahl oder Postponement. Weiterhin können Transport‐
und Lagerrisiken reduziert werden, indem die Auswahl von Transportwegen und
Lagerorten unter Berücksichtigung besonderer Rahmenbedingungen in erster Linie
nach Sicherheitsaspekten erfolgt. Auch der Einsatz von RFID‐Technik trägt durch eine
durchgängige Transparenz der Transport‐ und Lagerprozesse in der Supply Chain
dazu bei, die Eintrittswahrscheinlichkeiten von Transport‐ und Lagerschäden zu ver‐
mindern. Eine Verminderung von Transportausfällen kann beispielsweise durch die
Nutzung geeigneter Verpackungsformen oder eine Verteilung der Güter auf verschie‐
dene Transportmittel erfolgen. Konzepte wie Efficient Consumer Response oder Col‐
laborative Planning Forcasting and Replenishment, die eine partnerschaftliche Zu‐
sammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette unterstützen, können La‐
gerrisiken vermindern552. Wirkungsbezogene Maßnahmen zur Risikoverminderung
reagieren nach dem Risikoeintritt und bestehen im Schaffen von Redundanzen, wie
z. B. durch das Vorhalten von Lagerbeständen oder Pufferzeiten, was allerdings auch
zu höheren Kosten führt. In einem Brandfall könnten auch Sprinkleranlagen den mög‐
lichen Schaden verringern.
361
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Fehlmengenfall die kurzfristige Nutzung sekundärer Bezugsquellen zu gewährleis‐
ten553.
Falls die Steuerung eines Risikos mittels der oben genannten Strategien unmöglich
oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht sinnvoll erscheint, kann sich das Unterneh‐
men bewusst für die Risikoübernahme entscheiden. Im Rahmen der Risikoselbsttra‐
gung erfolgt eine bewusste Akzeptanz der Auswirkungen von Supply‐Chain‐Risiken,
wobei zu beachten ist, dass diese keinesfalls die Risikotragfähigkeit des Unternehmens
übersteigt. Die Akzeptanz von Risiken verlangt vom Unternehmen eine Vorhaltung
finanzieller, personeller und güterbezogener Reserven zur Abdeckung von potenziel‐
len Schäden. Dazu zählen unter anderem die Steigerung der Flexibilität, wie z. B. die
Verwendung von Universalmaschinen, der Einsatz leicht zu substituierender Materia‐
lien, eine flexible Gestaltung bzw. Steuerung von Prozessen, der Einsatz flexibler Pro‐
duktionskonzepte, die Weiterbildung von Mitarbeitern sowie ein anpassungsfähiger
Bestell‐ und Lagerhaltungsprozess. Weitere Maßnahmen bestehen in der Erhöhung
des Eigenkapitals sowie die Bildung von Rückstellungen und stillen Reserven als
Möglichkeiten die Risikotragfähigkeit des Unternehmens zu verbessern556.
362
5.4
Supply-Chain-Risikomanagementprozess
363
Risikomanagement in der Supply Chain
5
trolle des Risikomanagementprozesses erfolgen durch verschiedene interne und ex‐
terne Instanzen wie interne Revision, Aufsichtsrat oder zuständige Abschlussprüfer557.
Neben der Steuerungsfunktion umfasst die Risikokontrolle mit der Lernfunktion die
Generierung von Erfahrungswissen, um eine Verbesserung der Informations‐ und
Entscheidungsgrundlage für zukünftige risikopolitische Maßnahmen zu erreichen.
Durch eine gemeinsame Risikokontrolle können Informationsasymmetrien abgebaut
und Vertrauen geschaffen werden. In Bezug auf die Zusammenarbeit der Partnerun‐
ternehmen bei der Risikokontrolle lassen sich allerdings Unterschiede zwischen den
einzelnen Unternehmen feststellen. Der Grad der Zusammenarbeit schwankt zwischen
einer isolierten Betrachtung über eine informelle Kooperation bis hin zu einem ge‐
meinsamen Prozess der Risikokontrolle zwischen den an der Supply Chain beteiligten
Unternehmen.
364
5.5
Supply Chain Security Management
Da im Kapitel 5.4.4 verschiedene Strategien und Maßnahmen zur Steuerung der Be‐
triebssicherheit vorgestellt wurden, wird der Fokus in den nachfolgenden Kapiteln auf
Maßnahmen zur Stärkung der Angriffssicherheit gelegt.
365
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Terrorismus löst direkte und indirekte Effekte aus, wobei die indirekten Folgen in der
Regel deutlich größer ausfallen. Unmittelbare Auswirkungen resultieren aus physi‐
schen Schäden an Gebäuden, aus dem Verlust und der Verletzung von Menschenleben
oder dem Verlust von Anlage‐ und Umlaufvermögen in Unternehmen. Aus wirt‐
schaftlicher Sicht sind jedoch die indirekten und verspätet auftretenden Effekte deut‐
lich gravierender als die kurzfristigen Verluste. Indirekte Folgen von Terrorismus sind
z. B. Nachfrageeinbrüche, Unterbrechungen der Versorgungskette, neue Sicherheitsge‐
setze oder der Rückzug aus risikoreichen Märkten. Diese führen allgemein zu höheren
Kosten und schränken den freien Warenverkehr ein, wodurch die Gewinne der Unter‐
nehmen reduziert werden559.
Als am 11. September 2001 der Angriff auf die beiden Türme des World Trade Centers
in New York erfolgte, konnten verschiedene kurz‐, mittel‐ und langfristige Auswir‐
kungen auf die globale Logistik festgestellt werden, von denen nachfolgend einige
exemplarisch aufgezählt werden560:
Verlust an Anlage‐ und Umlaufvermögen von 21 Mrd. US $ (ca. 0,25% des BIP der
USA des Jahres 2000).
Die Ungewissheit über die Art und Auswirkungen zukünftiger terroristischer Unter‐
brechungen bestimmt die Maßnahmen zur Sicherung der Wertschöpfungskette, die im
Folgenden aufgezeigt werden.
366
5.5
Supply Chain Security Management
Abbildung 5‐10 Säulen und Aspekte zur Stärkung der Supply Chain Security562
Kante
(Transportweg)
Güter
Informationen
5.5.2.1 Sicherheitstechnologie
Um die gesamte Wertschöpfungskette absichern zu können, ist es notwendig, geeigne‐
te Sicherheitstechnologien für die Teilbereiche Gebäude, Transportwege, Güter und
Informationen zu erfassen. Die Technologien bzw. die Frage, welche zur Verfügung
367
Risikomanagement in der Supply Chain
5
stehenden Technologien im Unternehmen Anwendung finden, ist von Unternehmen
zu Unternehmen unterschiedlich und muss individuell entschieden werden. Nachfol‐
gend werden einige ausgewählte Sicherheitstechnologien vorgestellt. Zu beachten ist
hierbei, dass sich die Maßnahmen nicht überschneidungsfrei den vier Teilbereichen
Gebäude, Transportwege, Güter und Informationen zuordnen lassen.
Bei der elektronischen Versiegelung der Container erfolgt eine Kombination aus
mechanischem Siegel und RFID‐Technologie (E‐Seal, ISO 18185). Dadurch wird
ab der Beladung die Unversehrtheit der Ladung sichergestellt und mögliche Ma‐
nipulationen werden erschwert. Das elektronische Siegel speichert auf einem
Transponder Daten, wie z. B. Siegelnummer, Containernummer, Ladung, Route,
Verschluss‐ und Öffnungszeitpunkt des Containers. Da die Norm von einem nicht
wieder verwendbaren Frachtcontainersiegel spricht, bedeutet jede (Kontroll‐
)Öffnung des Containers einen Neueinbau mit den entsprechenden Folgekosten.
Zur Containerversiegelung können auch die im Container angebrachten „Contai‐
ner Security Devices“ verwendet werden, die jede Containeröffnung ab Ver‐
schluss sowie zusätzliche Ladungsdaten, wie z. B. Temperatur oder Erschütte‐
rung, aufzeichnen können. E‐Seal und Container Security Device sind notwendige
Bestandteile von „Smart Containern“, die gegenüber dem mechanischen Siegel
keinen zusätzlichen Schutz bieten, aber die Transparenz und Integrität erhöhen.
Durch Transpondertechnologie können beide Varianten drahtlos mit bestehenden
IT‐Applikationen von Unternehmen oder Regierungsorganisationen kommuni‐
zieren und so in das Sicherheitsmanagement eingebunden werden. Als weitere
Technologie zur Erhöhung der Sicherheit wird vermehrt das portable oder statio‐
näre Container‐Scanning oder ‐Screening angewandt. Dadurch kann die Sicher‐
heit durch die Suche nach Massenvernichtungswaffen oder Sprengstoffen erhöht
368
5.5
Supply Chain Security Management
Um eine sichere Kommunikation mit Zulieferern sowie einen Schutz der Supply
Chain zu gewährleisten, ist ein mehrschichtiger Sicherheitsansatz notwendig. Da‐
zu müssen Zugangsrechte für verschiedene Bereiche im Unternehmensnetzwerk
festgelegt werden, um den Zugriff von Zulieferern auf Unternehmensressourcen
zu beschränken. Weiterhin sollten Unternehmen über zusätzliche Informationen
bzgl. der IT‐Sicherheitssysteme der Wertschöpfungspartner verfügen und Interak‐
tionsregeln festlegen, die nicht nur der Effizienz und Flexibilität, sondern insbe‐
sondere auch der Sicherheit dienen. Durch die Nutzung von Software, die Unre‐
gelmäßigkeiten in den Datensätzen herausfiltert, sollen Manipulationen an logis‐
tischen Gütern oder Routen schnell erkannt werden.
5.5.2.2 Sicherheitsmanagement
Die zweite Säule zur Stärkung der Supply Chain Security umfasst das Sicherheits‐
management. Es hat die Aufgabe den Risiken, Gefahren und Bedrohungen, die auf das
Unternehmen bzw. die Supply Chain einwirken, mit funktionalen, koordinativen und
systematischen Handlungen und Maßnahmen zu begegnen. Dabei ist von entschei‐
dender Bedeutung, dass die Schnittstellen zwischen unternehmensinternen und un‐
ternehmensexternen Sicherheitsmaßnahmen abgesichert werden. Dies bedingt eine
unternehmensübergreifende Abstimmung von Sicherheitsbemühungen, um die Si‐
cherheit in der Wertschöpfungskette lückenlos zu gewährleisten563. Im Folgenden
werden ausgewählte Maßnahmen vorgestellt, die insbesondere auf das Schnittstel‐
lenmanagement zwischen den Partnern in einer Supply Chain abzielen.
369
Risikomanagement in der Supply Chain
5
die Versorgungssicherheit erhöht werden. Strategische Partner sind in Krisensitu‐
ationen eher bereit sich gegenseitig zu unterstützen, da sich über die Zeit der
Partnerschaft gemeinsame Beziehungsleitbilder entwickelt haben und eine hohe
Kommunikationsbereitschaft zwischen den Partnern besteht. Diese Kommunika‐
tionsbereitschaft und ‐fähigkeit bewirken gegenseitiges Vertrauen sowie ein ge‐
meinsames Problemverständnis und sind eine wesentliche Voraussetzung für ein
funktionierendes unternehmensübergreifendes Schnittstellenmanagement564.
Durch Wissensvernetzung und Informationsweitergabe wird die Transparenz in
der Supply Chain erhöht, sodass mögliche Engpässe in der Wertschöpfungskette
reduziert werden.
Das Supply Risk Management (SRM) befasst sich mit den beschaffungsseitigen
Risiken. Gegenstand von SRM ist das Bestreben einer Beschaffungsorganisation,
die Erwartungswerte und/oder das Ausmaß von beschaffungsseitigen Schaden‐
sereignissen auf das Unternehmen zu reduzieren. Dabei ist es wichtig, dass nicht
nur die eigenen Lieferanten, sondern auch die Lieferanten der Lieferanten und
wiederum deren Lieferanten in das Risikomanagement miteinbezogen werden.
Somit können Lieferantenrisiken frühzeitig identifiziert und analysiert werden
und man erhält detaillierte Informationen über einzelne Risikofaktoren. Durch
diese erhöhte Transparenz können Schwachstellen aufgedeckt und die Lieferkette
nachhaltig sicherer gemacht werden. Des Weiteren kann das SRM bei der Ent‐
scheidung zur Auswahl von Lieferanten und bei Standortentscheidungen unter‐
stützen.
d) Flexible Sourcing‐Strategien
Durch Single Sourcing ergeben sich hohe Risiken in der Versorgung, die auch
durch Terroranschläge oder kriminell motivierte Straftaten hervorgerufen werden
370
5.5
Supply Chain Security Management
können. Bei Produkten mit hoher Wertigkeit oder riskanten Transportrouten ist
die Anwendung von Zwei‐ oder Mehrfachlieferantenstrategien zu prüfen, um so
das Risiko eines Ausfalls zu minimieren. Für eine Minimierung des Versorgungs‐
risikos bei internationalen Single‐Source‐Lieferanten sollte eine Local‐Sourcing‐
Strategie bzw. eine mögliche Eigenproduktion als flexible Ergänzung genutzt
werden. Der durch eine Dual‐ oder Multiple‐Sourcing‐Strategie hervorgerufene
Wettbewerbseffekt überwiegt oftmals den Volumeneffekt einer Single‐Sourcing‐
Strategie565. Weiterhin sollten die Produktions‐ und Fertigungsstätten der Liefe‐
ranten weltweit oder zumindest regional gestreut werden, um Ausfallzeiten ein‐
zelner Bereiche ausgleichen zu können.
e) Bestandsmanagement
Das Ziel von Supply Chain Event Management (SCEM) ist es, Abweichungen in
den Abläufen von Supply‐Chain‐Prozessen zu erkennen und mögliche negative
Folgen zu minimieren, bevor sich diese auf die Kundenzufriedenheit und die Ge‐
schäftseffizienz schädigend auswirken. Aus diesem Grund gilt es, die Verzöge‐
rung zwischen dem Auftreten eines Ereignisses und dem Zeitpunkt, an dem es
der Entscheidungsträger erkennt, zu beseitigen. Anschließend muss die Lücke
zwischen der Wahrnehmung durch den Funktionsbereich und der Ergreifung
zielführender Maßnahmen minimiert werden. Im Rahmen eines SCEM legt ein
Unternehmen für seine Supply Chain strategisch wichtige Punkte fest, an denen
Messpunkte installiert und mit festgelegten Plandaten überwacht werden. Auftre‐
tende Abweichungen werden durch das System erkannt und entsprechend an die
zuständigen Funktionsbereiche weitergeleitet, welche daraufhin korrigierende
Maßnahmen einleiten können. Ein SCEM bietet somit die notwendige Transpa‐
renz, um Schwachstellen und Risiken einer Supply Chain zu managen567.
371
Risikomanagement in der Supply Chain
5
5.5.2.3 Sicherheitsregime
Gegenstand der dritten Säule zur Stärkung der Supply Chain Security sind Regula‐
rien, die sich in Normen, private und staatliche Initiativen sowie Verordnungen und
Gesetze unterteilen, und zu einer erhöhten Sicherheit im globalen Welthandel führen
sollen. Insbesondere nach den Anschlägen von New York am 11. September 2001
wurden die Sicherheitsanforderungen deutlich erhöht. Im Folgenden werden ausge‐
wählte Initiativen und Gesetze zur Terrorbekämpfung vorgestellt.
Die ISO/PAS 28000ff wurden im Jahr 2005 von der International Organization for
Standardization eingeführt und umfassen in mehreren Normen einen Manage‐
mentrahmen für die Lieferkettensicherheit. Das Ziel der Normen ist es, verschie‐
dene Anforderungen zur Gefahrenabwehr nicht für einzelne Akteure, sondern für
die gesamte Lieferkette in einem Standard zu bündeln, um somit die Vielzahl der
international bereits existierenden Regularien, Normen und Initiativen zusam‐
menzufassen. Dadurch sollen Handelsbarrieren abgebaut und der Handel verein‐
facht werden. Durch die Parallelen zu anderen ISO‐Normen wird deren Einfüh‐
rung erleichtert, da in den Unternehmen bzgl. der ISO‐Normen bereits Erfahrun‐
gen vorhanden sind. Die Normen ISO/PAS 28000ff weisen im beschriebenen
372
5.5
Supply Chain Security Management
Risikostrategie
Managementbewertung
Der ISPS‐Code, der für Deutschland 2004 in Kraft getreten ist, findet Anwendung
u. a. auf Frachtschiffe mit einer Tonnage ab 500 Bruttoraumzahl (BRZ) und Fahr‐
gastschiffe in internationaler Fahrt sowie Hafenanlagen, an denen die genannten
Schiffe abgefertigt werden. Die Ziele bestehen in einer verbesserten Zusammen‐
arbeit zwischen den unterzeichnenden Regierungen, Regierungsorganisationen,
lokalen Verwaltungen, Schiffseignern und Hafenbetrieben sowie in der Umset‐
zung einer einheitlich vorgeschriebenen und standardisierten Sicherheitsbewer‐
tung. Zur Umsetzung des ISPS Codes müssen die Reedereien folgende fünf
Schritte durchführen:
Risikoanalyse durchführen
373
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Die Hafenanlagen können den ISPS Code anhand folgender fünf Schritte einfüh‐
ren:
Risikoanalyse durchführen
Risikoanalyse genehmigen
Diese amerikanische gesetzliche Regelung aus dem Dezember 2002 zwingt Reede‐
reien von Containerschiffen dazu, 24 Stunden vor Beladung die geforderte La‐
dungserklärung elektronisch zu übertragen. Diese Regelung betrifft alle Contai‐
ner, die für einen amerikanischen Hafen bestimmt sind oder über einen US‐
Transithafen weiterverschifft werden sollen. Falls die Daten nicht spätestens 24
Stunden vor dem Beladen im Ladehafen an das amerikanische Zollsystem (Au‐
tomated Manifest System ‐ AMS) übermittelt werden, drohen hohe Zollstrafen.
Die 24‐Stunden‐Regelung gilt sowohl für Ladung, die in einem US Hafen gelöscht
oder umgeladen wird als auch für Ladung, die sich an Bord des Schiffes befindet,
während es einen US‐Hafen anläuft.
Die CSI ist ein multilaterales Abkommen zwischen den USA und anderen in die
USA exportierenden Staaten. Der amerikanische Zoll inspiziert und versiegelt be‐
reits im Versendehafen im Ausland die für die USA bestimmten Container. Diese
Initiative ist bisher freiwillig und wurde in den größten US‐Containerexporthäfen
eingeführt. Um eine potenzielle Bedrohung frühzeitig, und außerhalb der eigenen
Landesgrenzen zu erkennen, kommen die in Kapitel 5.5.2.1 vorgestellten Sicher‐
heitstechnologien zur Anwendung. Als Folge ergeben sich Verzögerungen in der
Abfertigung mit einer daraus resultierenden Verlängerung der Lieferzeiten. Wei‐
374
5.5
Supply Chain Security Management
terhin sind der Datenschutz und die Weitergabe von Wirtschaftsgeheimnissen als
kritisch zu betrachten, wenn Informationen mit einem solchen zeitlichen Vorlauf
preisgegeben werden müssen. Die CSI wurde mit der „Secure Freight Initiative”
noch einmal verschärft, da ab Ende 2012 für alle Container, die nach Amerika ex‐
portiert werden, bereits in den Verschiffungshäfen ein Screening durchgeführt
werden muss. Als Folge ergeben sich weitere Abfertigungsverzögerungen sowie
ein Platzmangel in vielen Häfen, da spezielle, hochsichere US‐Containerkais benö‐
tigt werden.
C‐TPAT ist eine freiwillige Initiative der U.S. Customs and Border Protection
Agency, welche durch Informationsaustausch sowie logistische Richtlinien die
Lieferkettensicherheit erhöhen möchte. Der Datenverkehr findet hierbei zwischen
Verladern, Transporteuren und Regierungsstellen statt, wodurch auffällige La‐
dungen, Fehl‐ oder Übermengen schneller entdeckt werden sollen. Die teilneh‐
menden Unternehmen verpflichten sich zur
Erstellung und Einreichung eines Supply Chain Security Profiles des Unter‐
nehmens an die Zollbehörde,
Seit dem 1. Januar 2008 können sich Unternehmen, die in der EU ansässig sind
und die das Zollrecht betreffende Tätigkeiten ausführen, wie z. B. Logistikdienst‐
leister, Produzenten, Verlader etc., als „Zugelassene Wirtschaftsbeteiligte“ (AEO)
freiwillig zertifizieren lassen. Das Ziel der EU besteht in einer geschlossenen Lie‐
ferkette, in der alle Beteiligten Sicherheitsstandards erfüllen, durch die eine Terr‐
orgefahr vermindert wird. Der AEO besitzt einen besonderen Status und zeichnet
sich nach seiner Sicherheitsüberprüfung durch besondere Zuverlässigkeit und
375
Risikomanagement in der Supply Chain
5
Vertrauenswürdigkeit aus. Die inhaltlichen Aspekte lassen sich durch die Einhal‐
tung von Sicherheits‐ und Informationsvorschriften mit dem C‐TPAT vergleichen.
Insgesamt können drei Varianten unterschieden werden:
Die Vorteile des AEO bestehen in einer vereinfachten und schnelleren Zollab‐
fertigung für EU‐Mitgliedstaaten sowie in einem Ausweis eines Qualitätsmerk‐
mals. In Deutschland wurde mit der Einführung des IT‐Verfahrens ATLAS (Au‐
tomatisiertes Tarif‐ und Lokales Zollabwicklungssystem) ab dem 01. Juli 2009 zu‐
sätzlich die elektronische Ausfuhrzollanmeldung für alle Exporteure notwendig.
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6 After Sales und Reverse Logistics
Aufgrund des verschärften Wettbewerbs bei der Akquisition von neuen Kunden sowie
bei der langfristigen Bindung bestehender Kunden ist es für Hersteller kaum mehr
möglich, sich allein über das Kernprodukt gegenüber den Konkurrenten zu differen‐
zieren. Zahlreiche Unternehmen konkurrieren mit vielen Wettbewerbern in Märkten
mit geringen Wachstumschancen. Um in diesen Märkten die eigene Position dennoch
erhalten und stärken zu können, müssen Differenzierungspotenziale genutzt werden,
die über produktbezogene Wettbewerbsfaktoren, wie technische Merkmale, Qualität
oder Preis, hinausgehen. Eine solche Differenzierung kann durch die Etablierung eines
kundenorientierten Serviceangebots realisiert werden, dessen Ziel die Pflege der Kun‐
denbeziehung während der Nachkaufphase ist. Da die Zufriedenheit der Kunden eine
besondere Rolle spielt, bieten insbesondere Leistungen wie die Instandhaltung oder
die Ersatzteilversorgung Möglichkeiten zusätzliche Umsätze und Erträge zu erzielen.
Die Reverse Logistics betrachtet die rückwärtsgerichteten Materialflüsse, sodass in
Kombination mit den vorwärtsgerichteten Materialflüssen eine Kreislaufwirtschaft
ermöglicht wird. Aufgrund ökonomischer, ökologischer und rechtlicher Rahmenbe‐
dingungen gewinnt die Reverse Logistics zunehmend an Bedeutung. Wachsende
Kundenansprüche in der Nachkaufphase sowie ein zunehmendes Umweltbewusstsein
erfordern jedoch effektive und effiziente logistische Konzepte.
Lernziele:
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 383
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1_6
After Sales und Reverse Logistics
6
6.1 After Sales Management und After Sales
Services
Aufgabe des After Sales Management ist die Gestaltung und Steuerung der After Sales
Services (ASS)569. Dabei setzt das After Sales Management nicht erst in der Nachkauf‐
phase ein, sondern beginnt bereits in der Produktentwicklung, um After Sales Services
bestmöglich auf das Produkt abzustimmen und diese dem Kunden im Vorfeld einer
Kaufentscheidung mitteilen zu können570. Das After Sales Management muss nachhal‐
tig, ganzheitlich und marktorientiert gestaltet werden, sodass bestehende Synergiepo‐
tenziale mit dem Primärproduktgeschäft effizient genutzt werden können.
Um für die After Sales Services eine entsprechende Autonomie, Markt‐ und Kunden‐
nähe sowie Erfolgskontrolle zu ermöglichen empfiehlt es sich, diese Services in einem
eigenständigen Profitcenter zu organisieren571. Für ein erfolgreiches After Sales Ma‐
nagement müssen maßgeschneiderte und kundenindividuelle Services angeboten
werden, sodass ein detailliertes Kundenwissen zur Segmentierung der Märkte und
Kundengruppen Voraussetzung für die Ausschöpfung der Nutzenpotenziale ist. Im
Rahmen des After Sales Marketing sollte somit eine Orientierung an den klassischen
Elementen des Marketing‐Mix wie der Leistungs‐ und Programm‐, der Preis‐ und
Konditionen‐, der Distributions‐ sowie der Kommunikationspolitik erfolgen572. After
Sales Services werden durch die Arbeitsleistungen der Mitarbeiter erbracht, sodass an
das Servicepersonal besonders hohe Anforderungen an die fachliche und soziale
Kompetenz, die Motivation, Höflichkeit, Schnelligkeit und Verlässlichkeit gestellt
werden. Das Servicepersonal kann aber auch eine weitere Fehlerquelle sein. Für die
Gestaltung des After Sales Management spielt deshalb die Qualifikation, Schulung
und Entwicklung der Mitarbeiter im Rahmen des Personalmanagements eine wichtige
Rolle. Im Rahmen eines Qualitätsmanagements müssen die Prozesse und Abläufe zur
Sicherstellung des vereinbarten Servicelevels eingeleitet und überwacht und eine be‐
reichs‐ und unternehmensübergreifende Kommunikation zum vorbeugenden Erken‐
nen von Problemen aufgebaut werden. Wichtig für die Gestaltung des After Sales
Management ist die Einrichtung eines aktiven Beschwerdemanagements mit den
Funktionen Annahme, Bearbeitung, Auswertung und Kontrolle von Beschwerden.
Durch einen angemessenen Umgang mit Beschwerden können eine Abwanderung der
Kunden vermieden und die in Beschwerden enthaltenen Informationen für eine zu‐
künftige Fehlervermeidung genutzt werden.
After Sales Services umfassen die Gesamtheit aller Dienstleistungen, die dem Kunden
in der Nachkaufphase während der Produktnutzungszeit angeboten werden. Mit
diesen Dienstleitungen wird der Gebrauchswert des erworbenen Produktes oder der
erworbenen Leistung sicher‐ bzw. wiederhergestellt oder gesteigert. After Sales Ser‐
384
6.1
After Sales Management und After Sales Services
vices sind häufig auf ein bestimmtes Produkt abgestimmt, sie können jedoch auch
produktunabhängig offeriert werden. Neben problemlösungsbezogenen und kauf‐
männischen Serviceangeboten, wie beispielsweise der Einräumung eines Umtausch‐
rechts oder der Durchführung von Schulungskursen, umfassen After Sales Services
technische Serviceleistungen wie z. B. die Instandhaltung des Primärproduktes.
Da die vom Hersteller angebotenen Serviceleistungen einen großen Einfluss auf die
Kaufentscheidung von potenziellen Kunden haben, stellt der After Sales Service eine
anspruchsvolle Managementaufgabe dar. Darin kommt dem Ersatzteilmanagement
eine entscheidende Bedeutung zu, denn erst durch die Bereitstellung von Ersatzteilen
kann eine erfolgreiche Instandsetzung erfolgen. Da durch defekte Primärprodukte
meist bereits ein Negativerlebnis beim Kunden ausgelöst wurde, ist eine schnelle und
reibungslose Ersatzteilbereitstellung zu gewährleisten, um Produktionsausfälle oder
eine Abwanderung der Kunden zu vermeiden.
Ein qualifizierter After Sales Service kann durch die Erfüllung folgender Leistungen
charakterisiert werden573:
385
After Sales und Reverse Logistics
6
Tabelle 6‐1 Nutzenpotenziale von After Sales Services
Diese Nutzenpotenziale, die positiv auf den Unternehmenserfolg wirken, lassen sich
jedoch nur auf der Basis eines nachhaltigen After Sales Management erzielen. Eine
bisher zu geringe Ausschöpfung der genannten Nutzenpotenziale in der Praxis wird
auf die folgenden Aspekte zurückgeführt577:
ASS können negative Effekte für das Neuproduktgeschäft zur Folge haben, da das
Service‐Geschäft vom Neuproduktgeschäft ablenken und somit zu negativen Um‐
satzeffekten für das Neuproduktgeschäft führen kann.
386
6.1
After Sales Management und After Sales Services
Die Notwendigkeit von After Sales Services begründet sich neben den genannten
Nutzenpotenzialen auch in den bestehenden gesetzlichen Vorschriften und vertragli‐
chen Verpflichtungen, denen Hersteller von Produkten und Leistungen genügen müs‐
sen578. Zu den gesetzlichen Vorschriften zählen beispielsweise die Ersatzteilbevorra‐
tung und ‐lieferpflicht des Herstellers, Gewährleistungsverpflichtungen im Fall von
Sachfehlern oder ‐mängeln oder die Produkthaftung bei Konstruktions‐, Produktions‐
oder Instruktionsfehlern. Als Beispiel einer vertraglichen Verpflichtung sind Garantie‐
ansprüche zu nennen, die innerhalb einer festgelegten Frist zu einer Mängelbeseiti‐
gung verpflichten.
Leistungsebene Leistungsumfang
Miete von Primärprodukten,
Betreiberverträge, Schulung, Finanz‐,
Business‐Support
4 Versicherungsdienstleistungen
Primärprodukt
387
After Sales und Reverse Logistics
6
Zur Strukturierung der Leistungsgestaltung im After Sales Management unterscheidet
BAUMBACH zwischen den in der Abbildung 6‐1 angegebenen vier Leistungsebenen,
wobei das Primärprodukt den Ausgangspunkt für die Leistungsgestaltung bildet580. Je
größer die Entfernung vom Kern des Primärprodukts ist, desto spezifischer sind die
Leistungen auf die Kunden zugeschnitten, wobei eine übergeordnete Ebene alle Leis‐
tungen der jeweils untergeordneten Ebenen umfasst.
Zum Ersatzteil‐Service auf der ersten Leistungsebene gehören alle Leistungen, die den
Kunden mit Ersatzteilen oder Service Kits versorgen. Somit benötigen die Kunden ein
hohes technisches Know‐how, um mit den bereitgestellten Ersatzteilen ihre Maschinen
und Anlagen selbst instand halten zu können. Auf der zweiten Leistungsebene wird
der Austauschmodul‐Service angeboten. Da während der Instandhaltungsmaßnahme
keine Reparatur einzelner Module, sondern ein Ersatz durch ein Austauschmodul
erfolgt, wird von den Kunden im Vergleich zum Ersatzteilservice ein geringeres tech‐
nisches Know‐how verlangt. Der Leitungsumfang umfasst zusätzlich die Rückführung
und Aufarbeitung der Altmodule. Der Produkt‐Support auf der dritten Leitungsebene
zielt auf eine optimale Instandhaltung der Primärprodukte ab, sodass Effizienz‐ und
Optimierungsaspekte im Vordergrund stehen. Somit werden diejenigen Aufgaben, in
denen nur eine mittlere Kompetenz vorliegt, an externe Dienstleister vergeben, die
Instandhaltungsleistungen einzeln je nach Bedarfsfall, gebündelt über Serviceverträge
oder als Remote Service für Fern‐Instandhaltungen anbieten. Die vierte Leitungsebene
umfasst alle Leistungen, die auf eine optimierte Nutzung der Primärprodukte abzie‐
len. Kunden, die diesen Service wählen, konzentrieren sich auf ihre eigenen Kern‐
kompetenzen und verfügen aufgrund geringer technischer Fähigkeiten und Ressour‐
cen über eine hohe Outsourcing‐Bereitschaft. Der Business‐Support umfasst Leistun‐
gen wie z. B. die Miete von Primärprodukten oder Betreiberverträge, bei denen die
Kunden stark in die Leistungsprozesse des Herstellers eingebunden sind. Des Weite‐
ren gehören dazu Kundenberatung, Schulung von Kundenmitarbeitern, aber auch
Finanz‐ und Versicherungsdienstleistungen, die zur Festigung der Kundenbeziehung
beitragen.
In der folgenden Abbildung 6‐2 werden die Leistungsangebote der After Sales Services
in technische, kaufmännische und problembezogene Aspekte unterteilt. Zu den tech‐
nischen Serviceangeboten gehören die Montage, Installation und Instandhaltung.
Aus ersatzteillogistischer Sicht ist die Instandhaltung von besonderem Interesse, da zu
deren erfolgreicher Durchführung die benötigten Ersatzteile bereitzustellen sind.
Während die kaufmännischen Leistungsangebote die Lieferung, Schulung und den
Umtausch umfassen, stellen die Anlagenverwaltung und die Kundenunterstützung
problembezogene Leistungen des After Sales Service dar.
388
6.2
Logistik im After Sales Management
technisch kaufm
kaufmännisch problembezogen
6.2.1 Instandhaltung
Die für die Instandhaltung notwendigen Führungs‐, Kern‐ und Unterstützungs‐
prozesse werden durch das strategische und operative Instandhaltungsmanagement
gestaltet583. Im Rahmen der Führungsprozesse werden Ziele und Vorgaben für die
Instandhaltung formuliert und angepasst. Kernprozesse haben einen direkten Einfluss
auf die Erfüllung der Verfügbarkeitsforderungen, wie z. B. die Aufrechterhaltung des
Soll‐Zustands der Anlagen. Mit den Unterstützungsprozessen wird eine Verbesserung
389
After Sales und Reverse Logistics
6
der Effizienz der Kernprozesse z. B. durch eine systematische Schwachstellenanalyse
erreicht.
Das Ziel der Instandhaltung ist die Gewährleistung der geforderten Verfügbarkeit der
Maschinen und Anlagen sowie der Sicherheit für Mitarbeiter und Umwelt bei minima‐
len Gesamtkosten, um den Gewinn des Unternehmens zu maximieren. Zwischen den
Teilzielen einer hohen Anlagenverfügbarkeit sowie Sicherheit der Mitarbeiter und ei‐
ner Kostenminimierung besteht aufgrund der konträren Kostenverläufe ein Zielkon‐
flikt. Eine Erhöhung der Verfügbarkeit und Sicherheit durch Intensivierung der In‐
standhaltungsmaßnahmen resultiert in steigenden Instandhaltungs‐ und Ersatzteilkos‐
584 Vgl. DIN 31051 (2003, S. 2ff); ALCALDE RASCH (2000, S. 17f).
390
6.2
Logistik im After Sales Management
In der Abbildung 6‐3 sind die Kostenverläufe für die direkten und indirekten Instand‐
haltungskosten angegeben. Die optimale Instandhaltungsintensität ist dann erreicht,
wenn die gesamten Instandhaltungskosten, die sich aus der Addition der direkten und
indirekten Instandhaltungskosten ergeben, ihr Minimum annehmen.
391
After Sales und Reverse Logistics
6
Abbildung 6‐3 Kostenverläufe in Abhängigkeit der Instandhaltungsintensität587
Kosten
Gesamt‐Instandhaltungskosten
Minimum
direkte
Instandhaltungskosten
indirekte
Instandhaltungskosten
Instandhaltungs‐
zu niedrig optimal zu hoch intensität
6.2.2 Instandhaltungsstrategien
Eine der wichtigsten Entscheidungen innerhalb der Instandhaltung ist die Wahl einer
geeigneten Instandhaltungsstrategie, da sie sich unmittelbar auf die Erreichung der
Instandhaltungs‐ und Unternehmensziele auswirkt. Somit sollte diese Entscheidung
von der obersten Leitungsebene im Unternehmen festgelegt werden. Unter Instand‐
haltungsstrategien werden Regeln verstanden, die angeben, welche Instand‐
haltungsmaßnahmen inhaltlich, methodisch und wie umfangreich an welchem In‐
standhaltungsobjekt zu welchem Zeitpunkt durchgeführt werden, um eine maximale
Anlagenverfügbarkeit unter Beachtung der Kriterien Wirtschaftlichkeit und Sicherheit
zu erreichen588. Aufgrund der Unterschiede im Ausfallverhalten von Maschinen und
Anlagen oder in den Anforderungen der Produktionsprozesse müssen in Abhängig‐
keit sich verändernder Anforderungen differenzierte Instandhaltungsstrategien aus‐
gewählt und im Zeitablauf angepasst werden. Die Wahl einer Instandhaltungsstrategie
hat z. B. Einfluss auf die Instandhaltungskapazitäten (z. B. Ersatzteillager, Mitarbeiter)
und die Instandhaltungsintervalle. Andererseits wird auch die Instandhaltungsstrate‐
gie von wichtigen Einflussgrößen, wie z. B. von Unternehmenszielen, Produktionsan‐
forderungen, Vorschriften, Instandhaltungsressourcen etc., beeinflusst, wie folgender
Abbildung 6‐4 zu entnehmen ist. Bei der Auswahl einer geeigneten Instandhaltungs‐
strategie kann zwischen reaktiver, präventiver (zeit‐ oder zustandsabhängig) und
vorausschauender Instandhaltung unterschieden werden589.
392
6.2
Logistik im After Sales Management
Unternehmens‐ Produktions‐
ziele anforderungen
Möglichkeit/
Wirtschaftlichkeit
Vorschriften Instandhaltungs‐ der Diagnose
strategie
Bei Anwendung einer reaktiven Instandhaltung wird die Maschine oder Anlage
bis zu einer Störung oder bis zum Ausfall betrieben, wodurch als Instandhal‐
tungsmaßnahme die Instandsetzung notwendig wird. Auf Inspektion und War‐
tung wird bis zum Schadensfall im Allgemeinen verzichtet, sodass der Planungs‐
aufwand und die Verwaltungskosten gering gehalten werden können und der
Nutzungsvorrat vollständig ausgeschöpft werden kann. Der Schadensfall tritt
aufgrund eines zufallsbedingten Ausfallverhaltens von Ausfallteilen sowie dem
betriebsbedingten Verschleiß von Verschleißteilen unvorhersehbar auf. Da eine
vorausschauende Bereitstellung der für die Instandsetzung benötigten Ressourcen
kaum möglich ist und die Fehlersuche oftmals zeitintensiv ist, sind die Still‐
standszeiten i. d. R. länger als bei einer geplanten Instandhaltung. Der stochasti‐
sche Instandhaltungsbedarf führt zu einem geringen Ersatzteilverbrauch, jedoch
sind die Bestände und Lagerhaltungskosten für die Ersatzteile aufgrund der
schlechten Planbarkeit relativ hoch. Durch den Ausfall einzelner Teile kann es zur
Beeinträchtigung oder Überlastung anderer Komponenten kommen, was zu Fol‐
geschäden an weiteren Baugruppen oder Einzelteilen führen kann. Da die In‐
standsetzung oft unter hohem Zeitdruck erfolgt besteht die Gefahr, dass diese
nicht qualitätsgerecht ausgeführt wird. Aufgrund der geringen Reaktionszeit ist
auch eine Fremdvergabe schwierig umsetzbar und es muss evtl. Personal von an‐
deren Bereichen zur Verfügung gestellt werden. Eine reaktive Instandhaltungs‐
strategie bietet sich bei Anlagen mit unbekanntem Ausfall‐ und Verschleißverhal‐
ten oder mit monoton fallenden Ausfallraten sowie bei redundanten, nichtkriti‐
schen Betriebsmitteln an. Die Kosten einer zufälligen Reparatur müssen kleiner
393
After Sales und Reverse Logistics
6
sein als die Kosten einer geplanten Reparatur. Eine reaktive Instandhaltung sollte
nicht zur Anwendung kommen, wenn dadurch eine Gefährdung von Mensch und
Umwelt nicht auszuschließen ist oder wenn durch einen Ausfall der gesamte Pro‐
duktionsablauf unterbrochen wird.
394
6.2
Logistik im After Sales Management
395
After Sales und Reverse Logistics
6
d) Präventive, voraussagende bzw. prädiktive Instandhaltung
In der Tabelle 6‐2 werden die Auswirkungen der reaktiven und präventiven Instand‐
haltungsstrategien auf die Erfolgsfaktoren Kosten, Zeit, Qualität und Flexibilität dar‐
gestellt. Die direkten Instandhaltungskosten, insbesondere das Instandhaltungs‐
material einschließlich der Ersatzteile (d. h. Anschaffungs‐ und Kapitalbindungs‐
kosten) und das Instandhaltungspersonal, sowie die indirekten Anlagenausfallkosten
beeinflussen den Faktor Kosten. Bezüglich des Erfolgsfaktors Zeit wirkt sich die In‐
standhaltung vor allem auf die Wartezeit und die Zeit für die Erbringung der Instand‐
haltungsleistung aus. Die Wartezeit umfasst die Zeit zur Feststellung der Störung und
zur Bereitstellung der notwendigen Instandhaltungsressourcen sowie die Zeit für die
Fehlersuche.
396
6.2
Logistik im After Sales Management
Instandhaltungsstrategie
präventiv zustands‐
reaktiv präventiv zeitabhängig
abhängig/voraussagend
Permanente Verfügbarkeit Abstimmung und Auslas‐ Hochqualifiziertes Per‐
Per‐ des Instandhaltungs‐ tung des Personalbedarfs sonal für hohen Inspek‐
so‐ personals notwendig; Perso‐ gemäß geplanter Maßnah‐ tionsaufwand not‐
nal‐ nalbedarfsspitzen einplanen men möglich; Bereit‐ wendig; kostentreiben‐
kos‐ schaftsdienst für stochas‐ de Personalbedarfs‐
ten
tische Ausfälle notwendig spitzen vermeidbar
Geringe zeitliche und quan‐ Hohe zeitliche, qualitative Hohe zeitliche, qualita‐
titative Anpassungsfähigkeit und quantitative Anpas‐ tive und quantitative
Fle‐
der Instandhaltung, hohe sungsfähigkeit Anpassungsfähigkeit
xibi‐
qualitative Anpassungsfä‐
lität
higkeit des Instandhaltungs‐
personals
Hohe Qualitätsmängel Hohe Prozessqualität; Permanente bzw. vo‐
durch Zeitdruck und man‐ durch mehr Instandset‐ rausschauende Überwa‐
Qua‐ gelnde Vorbereitung; Gefahr zungen evtl. mehr Quali‐ chung gewährleistet ho‐
lität von Folgeschäden und vari‐ tätsmängel durch Monta‐ he Qualität der Prozesse
ierende Prozessqualitäten ge‐ oder Inbetriebnahme‐ und Anlagen
fehler
397
After Sales und Reverse Logistics
6
Die Flexibilität einer Instandhaltungsstrategie sagt etwas darüber aus, wie schnell auf
sich ändernde Gegebenheiten reagiert und wie flexibel der Instandhaltungsbedarf
geplant werden kann. Dazu gehören eine hohe qualitative (z. B. Vielseitigkeit und
Anpassbarkeit von Personal und Technologie) und hohe quantitative (z. B. Maß‐
nahmen zur Erhaltung der Anlagenflexibilität) Anpassungsfähigkeit. Der Einfluss
einer Instandhaltungsstrategie auf die Qualität wird vor allem über die Optimierung
der Qualität der Instandhaltungsprozesse und der Wiederherstellung der Anlagen‐
verfügbarkeit sichtbar.
hohe
Qualität
reaktive IH
zeitabhängige IH
zustandsorientierte/
voraussagende IH
niedrige kurze
Kosten Anlagenstillstands‐
zeit
hohe
Flexibilität
398
6.2
Logistik im After Sales Management
6.2.3 Instandhaltungsplanung
Bei der Instandhaltung von Maschinen und Anlagen sind technische und ökono‐
mische Größen zu berücksichtigen. Während die technischen Parameter die Funkti‐
onstüchtigkeit der Maschine oder Anlage während der Nutzungsdauer beschreiben,
wird über ökonomische Parameter die Rentabilität der Maschine oder Anlage erfasst,
wobei hier die Instandhaltungs‐ und Erneuerungskosten wesentlich sind. Die Lebens‐
dauer einer Anlage hängt von ihrem technischen Zustand sowie von den Belastungen
während der Nutzungsdauer ab. Vor dem Hintergrund der meist stochastischen Ei‐
genschaften exogener Kräfte, Einflüsse oder Ereignisse, die zum Ausfall einer Maschi‐
ne oder Anlage führen, erscheint eine ausschließlich deterministische Betrachtungs‐
weise und Modellierung komplexer technischer Systeme als nicht zweckmäßig. Somit
wird die Lebensdauer LD einer Maschine oder einer Anlage als Zufallsvariable dar‐
gestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Lebensdauer LD in einem bestimmten Zeit‐
punkt t endet, kann mit der Dichtefunktion f (t ) erfasst werden. Die zugehörige
Verteilungsfunktion
F (t ) P ( LD t )
ergibt sich aus der Kumulation der Dichtefunktion und gibt die Wahrscheinlichkeit
an, dass eine Maschine oder Anlage nach t Zeiteinheiten ausgefallen ist. F (t ) wird
als Ausfallwahrscheinlichkeit bezeichnet und hat folgende Eigenschaften:
R (t ) P ( LD t ) 1 P ( LD t ) 1 F (t ) .
Die Zuverlässigkeitsfunktion R (t ) gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass eine Maschine
oder Anlage nach t Zeiteinheiten noch nicht ausgefallen ist. R (t ) stellt eine monoton
fallende Funktion dar, die folgende Eigenschaften besitzt:
Die Ausfallrate q (t ) einer Maschine oder Anlage mit einer stetigen ausfallfreien Ar‐
beitszeit t ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Komponente, die bis zum Zeitpunkt t
überlebt hat, im Intervall (t ; t dt ) ausfallen wird. Die Ausfallrate q (t ) lässt sich
bestimmen, indem die Dichtefunktion f (t ) durch die Zuverlässigkeitsfunktion R (t )
dividiert wird:
f (t ) f (t )
q (t )
1 F (t ) R (t )
399
After Sales und Reverse Logistics
6
Mit Hilfe von Lebensdaueruntersuchungen kann ein charakteristisches zeitliches Ver‐
halten der Ausfallrate ermittelt werden. Zur Modellierung konstanter, steigender
sowie fallender Ausfallraten wird in der Praxis die Weibullverteilung verwendet. Eine
stetige, nicht negative Zufallsvariable ist weibull‐verteilt mit den Parametern und
, falls für ihre Verteilungsfunktion gilt:
t
( )
1 e , falls t 0; 0; 0
F(t)
0 , falls t 0
t 1 ( t )
( ) e , falls t 0; 0; 0
f (t)
0 , falls t 0
Der Parameter stellt einen Formparameter dar, der als Ausfallsteilheit bezeichnet
wird und ein Maß für die Streuung der Ausfallzeiten darstellt. Praktisch lässt sich
im Rahmen von Lebensdaueruntersuchungen durch 0,25 5 eingrenzen591. Da‐
bei ist für die Modellierung einer fallenden Ausfallrate 1 und für eine steigende
Ausfallrate 1 zu wählen. Für 1 entspricht die Weibullverteilung der Expo‐
nentialverteilung mit einer konstanten Ausfallrate. Der Lageparameter kann für
die Veränderung der durchschnittlichen Lebensdauer verwendet werden, wobei er i.
A. nicht der durchschnittlichen Lebensdauer entspricht. Die Wahrscheinlichkeit eines
Ausfalls einer Anlage zum Zeitpunkt t beträgt definitionsgemäß F (t ) 63,2 %
und definiert die charakteristische Lebensdauer .
6.2.3.1 Markovketten
Im Folgenden werden die Zustände einer Maschine oder Anlage für diskrete Zeit‐
punkte betrachtet. Zu jedem Zeitpunkt kann die Maschine jeweils nur eine von end‐
lich vielen Zuständen annehmen. Die zeitliche Entwicklung der Zustände kann über
Markovketten beschrieben werden, wobei folgende Definitionen notwendig sind:
400
6.2
Logistik im After Sales Management
P X t z j X t 1 zi , ..., X 0 zk
P X t z j X t 1 zi pij t 1,
dann liegt eine Markovkette vor. Bei einer Markovkette hängt die Wahrscheinlich‐
keit, dass im Zeitpunkt t der Zustand z j realisiert wird, nur vom vorliegenden
Zustand zi im Zeitpunkt t 1 ab und nicht von den früheren Zuständen.
P pij n ,n
.
Beispiel 6.2.1:
Für ein technisches Gerät existieren die drei Zustände z1 = intakt, z2 = leichte Mängel
und z 3 = defekt. Die Zufallsvariable X (t ) beschreibt dann den zufallsabhängigen
Zustand des Geräts zum Zeitpunkt t mit Werten im Zustandsraum Z z1 , z 2 , z3 .
Liegt die folgende Übergangsmatrix vor
z1 z2 z3
z11 1 / 3 1/ 2 1/ 6
P = z22 0 1/ 3 2 / 3 ,
z33 1 0 0
dann kann diese auch in Form eines Übergangs‐ bzw. Transitionsgraphen wie folgt
dargestellt werden.
401
After Sales und Reverse Logistics
6
1/3 1/2 1/3
z1 z2
1/6
2/3
1
z3
i 1
p t p1 t , ... , pn t mit pi t P X t z i
T
T T
p1 p 0 P
p2 p1 P p0 P 2
T T T
T T
p t p 0 P t für t 1,2,3,... .
402
6.2
Logistik im After Sales Management
Von Interesse sind nun die zeitliche Stabilität sowie das langfristige Verhalten von
Zustandsverteilungen592. Für die weitere Untersuchung der Zusammenhänge zwi‐
schen Start‐ und Zustandsverteilungen sind die folgenden Definitionen notwendig.
pT E P 0 mit pi 1 .
n
i 1
Eine Zustandsverteilung p p1 , ..., pn heißt Grenzverteilung zur Startvertei‐
T
b)
T
lung p(0) , wenn gilt
Falls der angegebene Grenzwert existiert, dann wird diese Grenzverteilung unab‐
hängig von der Startverteilung erreicht. Somit ist jede Grenzverteilung eine stati‐
onäre Verteilung.
T
c) Eine Markovkette heißt ergodisch, falls für jede beliebige Startverteilung p(0)
eine Grenzverteilung existiert und alle Grenzverteilungen identisch sind.
Bemerkungen 6.2.1:
a) Eine stationäre Verteilung existiert stets, sie ist jedoch nicht immer eindeutig, da
z. B. für P E jede beliebige Zustandsverteilung stationär ist.
b) Ist eine Zustandsverteilung stationär, dann ist sie auch Grenzverteilung zu sich
selbst. Jede Grenzverteilung ist eine stationäre Verteilung.
c) Eine Grenzverteilung muss nicht zu jeder Startverteilung existieren. Beispielswei‐
se gilt für die Matrix der Übergangswahrscheinlichkeiten
0 0 1
P 0 1 0
1 0 0
und der Startverteilung p(0) (1,0,0) für alle ungeraden Zeitpunkte
T
403
After Sales und Reverse Logistics
6
d) Für die Überprüfung, ob eine ergodische Markovkette vorliegt, genügt es ein
t IN zu bestimmen, sodass die Übergangsmatrix Pt eine positive Spalte besitzt.
Für eine ergodische Markovkette existiert genau eine stationäre Verteilung, die
auch Grenzverteilung ist.
Beispiel 6.2.2:
Für das technische Gerät aus Beispiel 7.2.1 ist die Startverteilung p(0) (1, 0, 0)
T
gegeben, d. h. das Gerät ist intakt. Dann lassen sich die Zustandsverteilungen für die
Zeitpunkte t 1,2,3,... wie folgt berechnen:
1 / 3 1 / 2 1 / 6
p (1) ( 1 ,
T
0, 0 ) 0 1 / 3 2 / 3 ( 1 / 3 , 1 / 2 , 1 / 6 )
1 0 0
1 / 3 1 / 2 1 / 6
T
p 2 ( 1 / 3 , 1 / 2 , 1 / 6 ) 0 1 / 3 2 / 3 ( 5 / 18 , 1 / 3 , 7 / 18 ) usw.
1 0 0
Für die Bestimmung der stationären Verteilung ist das folgende Gleichungssystem
zu lösen:
pT E P 0 mit pi 1
3
i 1
1 0 0 1 / 3 1 / 2 1 / 6
( p1, p2 , p3 ) 0 1 0 0 1 / 3 2 / 3 ( 0, 0, 0 )
0 0 1 1 0 0
2 / 3 1/ 2 1/ 6
( p1 , p2 , p3 ) 0 2 / 3 2 / 3 ( 0 , 0 , 0 )
1 0 1
2 2
(I ) : p1 p3 0 p3 p1
3 3
1 2 3
( II ) : p1 p2 0 p2 p1
2 3 4
1 2
( III ) : p1 p2 p3 0
6 3
3 2 12 9 8
p1 p2 p3 1 p1 p1 p1 1 p1 ; p2 ; p3
4 3 29 29 29
Für die stationäre Verteilung ergibt sich somit p ( 12 / 29 ; 9 / 29 ; 8 / 29 ) .
T
404
6.2
Logistik im After Sales Management
1 / 3 1 / 2 1 / 6 5 / 18 1 / 3 7 / 18
P 0 1 / 3 2 / 3 und P 2 2 / 3 1 / 9 2 / 9
1 / 3 1 / 2 1 / 6
1 0 0
Ist diese stationäre Zustandsverteilung einmal erreicht, dann verändert sie sich bei
weiteren Übergängen nicht mehr.
6.2.3.2 Ausfallrate
Die Ausfallrate q(t ) entspricht der Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls einer Maschine
oder Anlage unter der Bedingung, dass die Maschine zum Zeitpunkt t noch nicht
ausgefallen ist. Im Folgenden wird eine Maschine betrachtet, die sich im Zeitpunkt
t 1, 2, ... im Zustand
1, falls intakt
Z t
0, falls defekt
Für die weiteren Betrachtungen wird von einer konstanten Ausfallrate ausgegangen,
d. h. q q (1) q ( 2) ... mit
P LD 1 P LD 1
q P( Ausfall im Zeitpunkt t 1) P( LD 1) .
P LD 0 P Z(0) 1
405
After Sales und Reverse Logistics
6
Des Weiteren gilt:
P ( LD t ) P ( LD t 1) P ( LD t )
P ( LD t 1) qP ( LD t 1) (1 q ) P ( LD t 1)
und somit
P ( LD 1) (1 q) P( LD 0) 1 q
P ( LD 2) (1 q) P( LD 1) (1 q) 2
⋮
P ( LD t ) (1 q) t .
Mit P( LD t ) 1 (1 q) folgt
t
P ( LD t ) P ( LD t ) P ( LD t 1)
1 (1 q) t 1 (1 q ) t 1 (1 q) t 1 (1 (1 q)) q(1 q) t 1.
Für die erwartete Lebensdauer einer Maschine gilt somit unter Ausnutzung des
Grenzwertes der geometrischen Reihe
q 1
E LD t P( LD t ) t q(1 q) t 1 q t (1 q) t 1 .
t 1 t 1 t 1 q2 q
Bemerkungen 6.2.2:
1 0
p(t ) T p(0) T P t (0 , 1) (1 (1 q) t , (1 q) t ) .
1 (1 q)
t
(1 q)
t
b) Bei einer sofortigen Erneuerung der Maschine nach einem Ausfall beträgt die
erwartete Anzahl von Ausfällen und damit von Erneuerungen gleich t q .
406
6.2
Logistik im After Sales Management
Beispiel 6.2.3:
Messgerät ausfallen kann, damit in der Periode t 1 aufgrund der sofortigen Repara‐
tur wieder zwei Messgeräte intakt sind. Des Weiteren gilt p12 0,25 0,0625 , da
2
beide Messgeräte in der Periode t ausgefallen sind und nur eines davon repariert
werden konnte. Ist in einer Periode ein Messgerät in Reparatur und das andere fällt
aus, dann gilt für p 22 0,25 . Insgesamt ergibt sich aus diesen Überlegungen die
folgende homogene Übergangsmatrix:
z1 z2 z3
z1 0,9375 0,0625 0
P = z2 0,75 0,25 0
z3 0 1 0
Ist zu Beginn des Prozesses ein Messgerät defekt, dann gilt für die Startverteilung
p(0)T (0,1, 0) . Mit Hilfe der Übergangsmatrix kann nun berechnet werden, mit
welchen Wahrscheinlichkeiten für die Periode t 2 kein bzw. höchstens ein Messge‐
rät defekt ist.
407
After Sales und Reverse Logistics
6
Es gilt zunächst
0,9375 0,0625 0
p(1) (0 ,
T
1, 0) 0,75 0,25 0 (0,75; 0,25; 0)
0 1 0
0,9375 0,0625 0
T
p 2 (0,75; 0,25; 0) 0,75 0,25 0 (0,891; 0,109; 0).
0 1 0
In der Periode t 2 beträgt die Wahrscheinlichkeit für kein defektes Messgerät 0,891,
und die Wahrscheinlichkeit für höchstens ein defektes Messgerät 0,891+0,109 = 1.
Da die homogene Markovkette ergodisch ist (zweite Spalte von P ist positiv), können
auch die Wahrscheinlichkeiten für das langfristige Verhalten, dass für eine Periode
kein bzw. genau ein Messgerät defekt ist, berechnet werden. Die Grenzverteilung kann
ausgehend von der Startverteilung p(0) (1, 0, 0) mit der stationären Verteilung
T
bestimmt werden:
pT E P 0 mit pi 1
3
i 1
0,0625 0,0625 0
( p1 , p 2 , p 3 ) 0,75 0,75 0 ( 0 , 0 , 0 )
0 1 1
(I ) : 0,0625 p1 0,75 p2 0 p1 12 p2
( II ) : 0,0625 p1 0,75 p2 p3 0
1 12
( I ) ( II ) p3 0; p1 p2 p3 1 13 p2 1 p2 ; p1
13 13
Somit ergibt sich langfristig eine Wahrscheinlichkeit von 0,923 für kein defektes und
eine Wahrscheinlichkeit von 0,077 für ein defektes Messgerät.
408
6.3
Instandhaltungslogistik
6.3 Instandhaltungslogistik
Die Instandhaltungslogistik umfasst die nachhaltige, marktorientierte, ganzheitliche
Planung, Gestaltung, Steuerung und Koordination der räumlichen und zeitlichen
Transformation logistischer Objekte zur individuellen Sicherstellung der Verfügbarkeit
von Produktivfaktoren in der Wertschöpfungskette. Die Aufgaben der Instand‐
haltungslogistik können in eine operative und eine strategische Ebene unterteilt wer‐
den593. Auf der strategischen Ebene finden die Planung, Gestaltung, Steuerung und
Kontrolle der instandhaltungslogistischen Prozesse statt. Einflussfaktoren auf diese
Prozesse bilden die Instandhaltungsstrategien und die Vertragsgestaltung. Die opera‐
tive Ebene beinhaltet den Hauptprozess der Auftragsabwicklung, der durch einen
diagnostizierten Fehler, einen Maschinenausfall oder eine präventive Instandhal‐
tungsmaßnahme ausgelöst wird. Zur Auftragsabwicklung gehören die Auftragsgene‐
rierung, die Auftragsausführung sowie Berichts‐ und Rückmeldetätigkeiten. Des Wei‐
teren umfasst die operative Ebene die Teilprozesse Ersatzteillogistik, Tool‐Logistik,
Human Resource‐Logistik, die Kombination der Instandhaltungsressourcen mit den
‐objekten sowie die Entsorgungslogistik. Die Ersatzteillogistik hat die Aufgabe, die
benötigten Ersatzteile bereitzustellen, und die Tool‐Logistik ist für den Versand von
Werkzeugen und Vorrichtungen (z. B. Mess‐ und Prüfgeräte, Montagewerkzeuge,
Reinigungsgeräte, Leitern und Hebebühnen, technische Dokumentationen, Schmier‐
oder Reinigungsmittel) zuständig, welche für die Instandhaltung benötigt werden.
Aufgabe der Ersatzteil‐ und der Toollogistik ist neben der Distribution auch das Be‐
schaffungs‐ und Bestandsmanagement.
Strategische Ebene
Planung, Steuerung und Kontrolle der Instandhaltungslogistik
Operative Ebene
Auftragsabwicklung
Auftragsabwicklung Instandhaltung
Instandhaltung
Ersatzteillogistik
Ersatzteillogistik Vor‐
Vor‐ und
und
Endkombination
Endkombination der der
Instandhaltungs‐
Instandhaltungs‐
Tool‐Logistik
Tool‐Logistik ressourcen Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
ressourcenmitmitden
den
Instandhaltungs‐
Instandhaltungs‐
objekten
objekten
Human‐Resource‐
Human‐Resource‐
Logistik
Logistik
409
After Sales und Reverse Logistics
6
Im Rahmen der Human‐Resource‐Logistik findet die Zuordnung der Mitarbeiter unter
Beachtung ihrer Qualifikationen und Kapazitäten zu den Instandhaltungsaufträgen
statt. Anschließend erfolgen die Vorkombination der Instandhaltungsressourcen und
deren nachfolgende Endkombination mit den Instandhaltungsobjekten. Nach Beendi‐
gung der Kernaufgaben der Instandhaltung sind diese Endkombinationen wieder
aufzulösen. Die Entsorgungslogistik im Rahmen der Instandhaltung umfasst Sammel‐
und Sortierprozesse sowie Umschlag, Transport und Lagerung von zu recycelnden
Objekten, wobei nur ein Teilbereich der Entsorgungslogistik vom Instandhaltungs‐
personal übernommen wird. Abbildung 6‐6 fasst die Aufgaben der Instandhaltungs‐
logistik zusammen.
gehören594.
Allerdings dürfen die Leistungen der Instandhaltungslogistik nicht losgelöst von der
Versorgungslogistik betrachtet werden. Da die Bereitstellung der Ersatzteile bereits bei
Verkaufsstart des Primärproduktes zu gewährleisten ist, können sowohl in der Be‐
schaffung als auch in der Produktion Synergieeffekte genutzt werden. Um Synergien
zwischen der Versorgungs‐ und der Instandhaltungslogistik realisieren zu können,
sind die Teilprozesse in enger Abstimmung miteinander zu gestalten. Die Prozesse der
Distributionslogistik im Rahmen der Instandhaltungslogistik sind zeitlich den Distri‐
butionsprozessen der Versorgungslogistik nachgeschaltet, da Instandhaltungs‐
leistungen erst notwendig werden, wenn sich die Primärprodukte des Herstellers
410
6.3
Instandhaltungslogistik
beim Kunden befinden und dort zum Einsatz kommen. Die Abbildung 6‐7 zeigt die
Einordnung der Instandhaltungslogistik in die Unternehmenslogistik.
Versorgungslogistik
Versorgungslogistik
Beschaffungs‐
Beschaffungs‐ Produktions‐
Produktions‐ Distributions‐
Distributions‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik
Synergien
Beschaffungs‐
Beschaffungs‐ Produktions‐
Produktions‐ Distributions‐
Distributions‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik
Instandhaltungslogistik
Instandhaltungslogistik
Solange der vorhandene Primärproduktbestand mit Ersatzteilen versorgt werden soll
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Redistributions‐
Redistributions‐ Aufbereitungs‐
Aufbereitungs‐ Wiedereinsatz‐
Wiedereinsatz‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik
6.3.1 Ersatzteillogistik
Ersatzteile sind Teile (z. B. auch Einzelteile), Gruppen (z. B. auch Baugruppen und
Teilegruppen) oder vollständige Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind, beschädigte,
verschlissene oder fehlende Teile, Gruppen oder Erzeugnisse zu ersetzen595. Ersatztei‐
le können wie folgt unterschieden werden596:
411
After Sales und Reverse Logistics
6
vorhersehbar ist, auch wenn das spezifische Nutzungsverhalten des Kunden nicht
zwangsläufig bekannt ist.
Reserveteile sind durch einen sporadischen Bedarfsverlauf gekennzeichnet, da
deren technische Lebensdauer der des Gesamtprodukts entspricht und Ausfälle
lediglich zufallsbedingt auftreten. Reserveteile oder sog. Ausfallteile sind wäh‐
rend der Nutzungsdauer des Primärproduktes weder verschleißbedingt noch al‐
tersbedingt auszutauschen. Diese zufallsbedingten Ausfälle (z. B. von elektroni‐
schen Steuergeräten) können verschiedene Ursachen haben, wie beispielsweise
Qualitätsschwankungen im Fertigungsprozess oder in den eingesetzten Materia‐
lien. Reserveteile werden mit dem Ziel der schnellen Instandhaltung im Schadens‐
fall bereitgehalten, um die Ausfallkosten zu minimieren und sind durch niedrige
Bestände sowie hohe Bestandswerte charakterisiert.
Kleinteile zeichnen sich durch hohe Bestandsmengen bei niedrigem Bestands‐
wert aus, wobei die Bestandsaufnahme i. d. R. nicht exakt, sondern durch Schät‐
zung erfolgt. Typische Kleinteile sind Normteile wie z. B. Schrauben oder Mut‐
tern.
Ersatzteile sind somit keine selbstständigen Bestandteile eines Systems, sondern nur
Teil des Primärproduktes, in das sie zu dessen Instandhaltung eingesetzt werden. Eine
weitere Unterteilung der Ersatzteile kann nach ihrer Herkunft vorgenommen wer‐
den597:
597 Vgl. BAUMBACH (2004a, S. 128); BIEDERMANN (2008, S. 3f); KLUG (2010, S. 450).
412
6.3
Instandhaltungslogistik
Bei der Art der Steuerung, Planung und Durchführung der Ersatzteillogistik spielt
insbesondere die Beziehung des Ersatzteilwesens zum Primärproduktgeschäft eine
entscheidende Rolle. Es liegt eine vollständige Integration vor, wenn die Ersatz‐
teillogistik in einen anderen Unternehmensbereich eingegliedert ist und Anlagen,
Lagerflächen etc. einer gemeinsamen Nutzung und Planung unterliegen. Im Fall einer
vollständigen Autarkie wird die Ersatzteillogistik vom Primärproduktgeschäft losge‐
löst betrachtet, d. h. alle logistischen und planerischen Prozesse von der Beschaffung
bis zur Distribution erfolgen ohne Betrachtung von Synergien. Durch eine Integration
können Ressourcen gemeinsam genutzt, Aufgaben gebündelt und Leistungsverflech‐
tungen berücksichtigt werden. Ein autarker Bereich für das Ersatzteilwesen bietet sich
hingegen an, wenn sich dessen Anforderungen zu sehr von denen des Primärpro‐
duktgeschäftes unterscheiden und eine Integration zur Störung der Serienprozesse
führen würde. Zwischen vollständiger Integration und vollständiger Autarkie können
aber auch verschiedene Mischformen existieren599. Um der Prozessorientierung und
dem ganzheitlichen Charakter der Ersatzteillogistik Rechnung zu tragen, empfiehlt
sich eine Matrixorganisation. Im Rahmen einer Matrixorganisation wird die Ersatzteil‐
logistik autark gegenüber der Primärproduktlogistik behandelt, entlang der Prozess‐
kette erfolgt jedoch eine Diffusion in die Teilbereiche Beschaffung, Produktion und
Distribution, um Synergien entsprechend nutzen zu können.
413
After Sales und Reverse Logistics
6
6.3.2 Besonderheiten der Ersatzteillogistik
Die Ersatzteillogistik lässt sich im Vergleich zur Versorgungslogistik für Primärpro‐
dukte durch charakteristische Merkmale abgrenzen, sodass die Prozesse und Metho‐
den der Versorgungslogistik nicht ohne Weiteres auf die Ersatzteillogistik übertragbar
sind. Im Vergleich zur Versorgungslogistik für Primärprodukte weist die Ersatzteillo‐
gistik die folgenden Unterscheidungsmerkmale und Anforderungen auf600:
Die Nachfrage nach Ersatzteilen hängt von der Anzahl der verkauften Primärpro‐
dukte, deren Lebenszyklus sowie deren Ausfallverhalten ab. Insbesondere bei Re‐
serveteilen liegt eine unerwartete und sporadische Nachfrage der Kunden vor.
Im Rahmen der Instandhaltung von Maschinen und Anlagen wird eine ununter‐
brochene Verfügbarkeit des betrachteten Primärproduktes und somit eine unmit‐
telbare Ersatzteilversorgung gefordert. Somit wird der Erfolgsfaktor Zeit bei ge‐
ringer werdenden Zeitbudgets für Ersatzteillieferungen und steigenden Ausfall‐
kosten betrieblich eingesetzter Anlagen immer kritischer. Nicht selten werden
vom Kunden Lieferzeiten für Ersatzteile unter 24 Stunden erwartet, sodass insbe‐
sondere bei international ausgerichteter Ersatzteilversorgung komplexe Distribu‐
600 Vgl. KOCH (2004, S. 20ff); GRAF (2005, S. 25ff); VOß (2006, S. 55f); VAHRENKAMP (2007, S. 163).
414
6.3
Instandhaltungslogistik
Eine hohe Lieferzuverlässigkeit ist insbesondere dann wichtig, wenn eine In‐
standhaltungsmaßnahme nur zu bestimmten Zeiten, z. B. während der Maschi‐
nen‐ oder Anlagenstillstandszeiten vorgenommen werden kann.
h) Rechtliche Lieferverpflichtungen
415
After Sales und Reverse Logistics
6
dass die zur Schadensbehebung benötigten Teile oder Vorprodukte beschafft
werden. Vor allem für Unternehmen mit geringer Wertschöpfungstiefe ist es des‐
halb wichtig, die Haftungsansprüche für Schadensfälle zu definieren.
416
6.3
Instandhaltungslogistik
c) Aufarbeitende Unternehmen
d) Drittanbieter
417
After Sales und Reverse Logistics
6
e) Ersatzteilpiraten
Diese Unternehmen bauen Ersatzteile nach Vorlage eines Teils der anderen Ak‐
teure nach und verstoßen dabei gegen geltendes Recht (z. B. Patente). Ersatzteilpi‐
raten bieten Ersatzteile häufig mit minderer Qualität aber zu vergleichsweise
günstigen Preisen an.
418
6.3
Instandhaltungslogistik
Anzahl
Marktzyklus
Servicezyklus
Mit der erfolgreichen Etablierung des Primärproduktes am Markt und dem Anstieg
der Verkaufszahlen beginnt die zweite Phase (II). Aus der Nutzung verkaufter Pri‐
608 In Anlehnung an QUANTSCHNIG (2010, S. 46); SCHRÖTER (2006, S. 105); KOCH (2004, S. 38).
419
After Sales und Reverse Logistics
6
märprodukte liegen nun verwertbare Informationen über das Ausfallverhalten vor, die
eine Bedarfsprognose auf der Basis von Ausfallraten für Verschleißteile mit zuneh‐
mender Datenmenge vereinfachen. Die Reserveteile weisen einen stark sporadischen,
nicht vorhersehbaren Bedarf an Ersatzteilen auf. Die Kurve des kumulierten Bedarfs
an Verschleiß‐ und Reserveteilen steigt aufgrund des zunehmenden Bestandes an
Primärprodukten stetig an. Da die Fertigung der notwendigen Ersatzteile in der zwei‐
ten Phase (II) meist in die Serienfertigung integriert wird, besteht für den Primärpro‐
dukthersteller aufgrund der geringen Herstellkosten kein wirtschaftlicher Anreiz zur
Integration eines zusätzlichen Prozesses für das Produktrecycling609.
Der Beginn der dritten Phase (III) stellt die Einstellung der Serienproduktion (EOP)
dar, zu dessen Zeitpunkt sich der höchste Bestand an Primärprodukten auf dem Markt
befindet. Dieser gesamte Primärproduktbestand bleibt solange konstant, bis zuneh‐
mend mehr Primärprodukte ihre maximale Nutzungsdauer erreichen und anschlie‐
ßend aus dem Markt ausscheiden. Somit liegt der Höchstbedarf an Ersatzteilen meist
kurz nach dem EOP, da durch Alterung und Verschleiß der auf dem Markt verblei‐
benden Primärprodukte mit einem steigenden Ausfall an Teilen zu rechnen ist. Die
zunehmende Verringerung des Primärproduktbestandes führt zu einem langsamen
und kontinuierlichem Abwärtstrend bei der Nachfrage nach Ersatzteilen. Da sich der
Bestand an Altteilen durch das Ausscheiden der Primärprodukte in dieser Phase ge‐
nau entgegengesetzt entwickelt und eine Ersatzteilfertigung wenig rentabel ist, greifen
die Ersatzteilhersteller mit zunehmendem Abstand zum EOP verstärkt auf die Wie‐
derverwendung von Altteilen zurück.
Mit zunehmender Entfernung vom EOP wird die maximale Nutzungsdauer der kurz
vor dem EOP verkauften Primärprodukte erreicht und das Ende der Ersatzteil‐
bereitstellung (EOS) rückt immer näher. Zu diesem Zeitpunkt sollte sich der Hersteller
der Primärprodukte folglich mit der Frage auseinandersetzen, wie lange er die Ersatz‐
teilversorgung aufrecht erhalten möchte. In diesem Zusammenhang muss auch eine
Entscheidung über eine Ersatzteilsortimentsbereinigung getroffen werden. Dabei
müssen insbesondere rechtliche Verpflichtungen zur Lieferung von Ersatzteilen und
die angestrebte Kundenzufriedenheit beachtet werden. Nach dem EOS noch vorhan‐
dene Ersatzteile können entweder mit Hilfe einer Bearbeitung einer weiteren Verwen‐
dung zugeführt oder müssen verschrottet werden.
Die vom Kunden geforderten sehr kurzen Lieferzeiten für Ersatzteile lassen sich nicht
durch eine bedarfssynchrone Ersatzteilbeschaffung bzw. Ersatzteilproduktion reali‐
sieren, da die Wiederbeschaffungszeit die geforderte Lieferzeit für Ersatzteile über‐
steigt. Aufgrund der dadurch entstehenden Durchlaufzeit‐Lücke (vgl. Abbildung 6‐9)
ist eine Pull‐Strategie nicht umsetzbar, sodass auf eine Lagerhaltung für Ersatzteile
nicht verzichtet werden kann610. Die Lagerhaltung ist ebenso unausweichlich auf‐
grund der großen Variabilität der Ersatzteilnachfrage im After‐Sales‐Geschäft sowie
420
6.3
Instandhaltungslogistik
Wiederbe‐
0 1 2 3 4 5 schaffungszeit
[Wochen]
Durchlaufzeit‐Lücke Lieferzeit
421
After Sales und Reverse Logistics
6
standhaltungsmaßnahme des betroffenen Primärprodukts durch eine zeitlich präven‐
tive Instandhaltungsmaßnahme geplant werden kann. Bei Anwendung einer reakti‐
ven, zustandsorientierten oder vorausschauenden Instandhaltung ist der Einsatz pro‐
grammorientierter Verfahren nicht sinnvoll.
• Nutzungsintensität und
• ‐bedingungen Ersatzteil (ET)
• Frühinformationen zu
• Verschleißerscheinungen
• (z.B. durch Inspektionen,
• On‐Line‐Diagnose)
Bedarfsprognose von
Primärprodukt (PP) Extern – Markt & Umfeld
Ersatzteilen
• Instandhaltungsstrategien
des Nutzers
• Instandhaltungsmaßnahmen
(Wartung, Inspektion, Instand‐
setzung, Verbesserung)
Kausale Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie den zukünftigen Ersatzteil‐
bedarf durch die Annahme bzw. modellhafte Abbildung von Beziehungen zwischen
verschiedenen Einflussgrößen prognostizieren. In der Regel basieren kausale Modelle
zur Bestimmung der Ersatzteilnachfrage auf zuverlässigkeitstheoretischen Über‐
legungen, die sich am Ausfallverhalten der Ersatzteile bzw. der Primärprodukte orien‐
tieren. Die quantifizierte Darstellung dieser teilweise auch unbekannten Einflüsse
erschwert jedoch die Modellierung und führt zu komplizierten mathematischen Mo‐
dellen614. Der Aufwand für die Ermittlung der bekannten Einflussfaktoren ist zudem
unverhältnismäßig hoch, sodass sich gerade vor dem Hintergrund der enormen Teile‐
vielfalt im Ersatzteilbereich die Anwendung kausalanalytischer Verfahren in der Pra‐
xis nicht besonders eignet. Darüber hinaus verbessert sich die Prognosegenauigkeit
nicht zwangsläufig mit steigender Verfahrenskomplexität.
422
6.3
Instandhaltungslogistik
Zeitreihenanalytische
Verfahren
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 18 19
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 17
Bei subjektiven Verfahren erfolgt die Prognose nicht aufgrund der Vergangen‐
heitsdaten der betrachteten Zeitreihe sondern basiert auf Überlegungen mit qualita‐
tivem Charakter, sodass der Mensch mit seinem Urteilsvermögen und nicht ein ma‐
thematisches Modell im Mittelpunkt steht. Vor allem beim Verkaufsstart von Produkt‐
neuentwicklungen sind subjektive Verfahren geeignet, da keine Vergangenheitsdaten
vorliegen und jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt die Ersatzteilverfügbarkeit zu si‐
chern ist. Subjektive Verfahren basieren auf Erfahrung und Intuition sowie dem Ur‐
teilsvermögen und Meinungen von Personen. Im Rahmen der subjektiven Verfahren
werden Analogieverfahren oder das Wissen von Experten eingesetzt616. Bei Analogie‐
verfahren werden Vergangenheitsdaten vergleichbarer Objekte, z. B. Primärprodukte
oder Ersatzteile älterer Baureihen für eine Zeitreihenanalyse herangezogen. Zu beach‐
ten ist jedoch, dass sich die Nachfrage der Ersatzteile bei einem neuen Primärprodukt
anders als bei dem Referenzobjekt verhalten kann. Beim Einsatz von Expertenwissen
werden Bedarfsprognosen unabhängig von verschiedenen Experten eingeholt, um
anschließend einen Konsens, z. B. durch Bildung des Mittelwertes der einzelnen
Schätzungen, zu finden. Die Anwendung subjektiver Verfahren ist oftmals mit einem
423
After Sales und Reverse Logistics
6
hohen oder sogar noch höheren Aufwand wie die Anwendung kausaler Verfahren
verbunden und die Vorhersagequalität kann als gering eingestuft werden617.
Verbrauchsorientierte bzw. zeitreihenanalytische Verfahren gehören zu den univari‐
aten Verfahren, da sie für den zukünftigen Bedarf auf Basis von beobachteten Nach‐
fragemustern aus der Vergangenheit ausschließlich die Zeit als Erklärungsvariable
verwenden. Aus den in der Vergangenheit beobachteten Daten muss somit zunächst
ein Modell für die Prognose der zukünftigen Bedarfe entwickelt werden. Je nach Art
des in der Vergangenheit beobachteten Bedarfs können verschiedene zeitreihenanaly‐
tische Verfahren angewendet werden. Abbildung 6‐11 zeigt in Abhängigkeit des Be‐
darfsverlaufes jeweils beispielhaft ausgewählte Prognoseverfahren, die in der Praxis
häufig zur Anwendung kommen618.
Die Bedarfsverläufe lassen sich auch nach der Regelmäßigkeit und der Unterbrechung
des Bedarfsverlaufs unterscheiden (vgl. Abbildung 6‐12). Die Regelmäßigkeit des
Bedarfs wird mit dem quadratischen Koeffizienten der Nachfragevariation (Coefficient
of Variation / CV2) und damit der Sprunghaftigkeit der Nachfrage gemessen. Die Un‐
terbrechung des Bedarfsverlaufs wird mit dem mittleren Intervall zwischen zwei Be‐
darfen (Average Inter‐Demand‐Interval / ADI) ausgedrückt. Je nach Ausprägung die‐
ser beiden Werte lassen sich Ersatzteile in unterschiedliche Kategorien einteilen. Als
Übergangswerte haben sich die Werte CV2 = 0,49 und ADI = 1,32 etabliert.
424
6.3
Instandhaltungslogistik
Reserve‐ bzw. Ausfallteile sind durch eine hohe Sporadizität, d. h. durch einen sprung‐
haft und unterbrochenen Bedarfsverlauf gekennzeichnet, sodass im Folgenden Prog‐
noseverfahren vorgestellt werden, die unter Berücksichtigung sporadischer Bedarfs‐
verläufe entwickelt wurden. In der Abbildung 6‐13 ist der sporadische Bedarfsverlauf
eines Steuergerätes aus der Automobilindustrie für 41 Perioden dargestellt.
0
Se 11
Se 10
N t 10
N t 11
D 11
D 10
Se 12
N t 12
D 12
M r 11
Ju 11
Ju 11
13
M r 10
Ju 10
Ju 10
M r 12
Ju 12
Ju 12
A l 11
A l 10
A l 12
A 11
A 13
A 10
A 12
F e 11
F e 13
F e 10
F e 12
Ja 10
Ja 12
Ja 11
M 13
O 10
M 11
O 11
M 10
M 12
O 12
ov
ov
ov
ug
ug
ug
pr
n
n
n
ai
ai
rz
ai
rz
rz
rz
n
n
n
n
ez
ez
ez
p
p
p
b
b
b
b
k
k
k
p
p
p
Ja
Für die Verfahren zur Prognose sporadischer Bedarfe werden die folgenden Variablen
verwendet:
et yt yˆ t : Prognosefehler in Periode t
pt : Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden Perioden mit positi‐
vem Bedarf
p̂t : Prognostizierte Anzahl der Perioden zwischen den letzten beiden Peri‐
oden mit positivem Bedarf
0,1 : Glättungsparameter
425
After Sales und Reverse Logistics
6
a) Verfahren von CROSTON (CR)
Für sporadische Bedarfe entwickelte CROSTON620 ein Verfahren, das auf der expo‐
nentiellen Glättung erster Ordnung basiert und als Standardmethode für die
Prognose sporadischer Bedarfsverläufe angesehen wird. CROSTON betrachtet die
auftretenden Bedarfsmengen als unabhängig und identisch verteilte Zufallsvari‐
ablen einer Normalverteilung. Mit dieser Annahme kann das Auftreten bzw.
Nicht‐Auftreten eines positiven Bedarfs in einer Periode als ein Bernoulliprozess
angesehen werden und die Zeitintervalle zwischen dem Auftreten von zwei auf‐
einander folgenden Bedarfsmengen folgen daher unabhängig und identisch ver‐
teilten Zufallsvariablen einer Geometrischen Verteilung. Als Voraussetzung für
die Anwendung des Verfahrens von CROSTON gilt die stochastische Unabhängig‐
keit sowohl für aufeinander folgende Bedarfsmengen als auch für die Längen auf‐
einander folgender Zeitintervalle ohne Auftreten eines Bedarfs. Für die Prognose
der Bedarfshöhe ẑt und der Anzahl der Perioden p̂t zwischen den letzten beiden
Perioden mit positivem Bedarf schlägt CROSTON bei Vorliegen eines positiven Be‐
darfs yt die exponentielle Glättung erster Ordnung mit dem Glättungsparameter
vor, wobei CROSTON für Werte zwischen 0,05 und 0,3 empfiehlt.
Das Verfahren von CROSTON basiert auf vier Schritten und kann wie folgt
formuliert werden:
Schritt 1) Initialisierung:
Es werden die ersten n Perioden (z. B. n 4 ) betrachtet. Berechne
n
p
n
y t
t 1
t
ẑn 1 t 1 ; p̂n 1
Anzahl der Perioden mit yt 0 Anzahl der Perioden mit pt 0
Falls y t 0 : pˆ t 1 pt (1 ) pˆ t
Falls y t 0 : pˆ t 1 pˆ t
426
6.3
Instandhaltungslogistik
zˆt 1
yˆ t 1
pˆ t 1
Falls in allen Perioden positive Bedarfe auftreten, dann gilt pˆ t 1 für alle t und
das Verfahren von CROSTON entspricht dem Verfahren der exponentiellen Glät‐
tung erster Ordnung:
zˆt 1 zˆt 1
yˆ t 1 zˆt 1 yt (1 ) zˆt yt (1 ) yˆ t
pˆ t 1 1 zˆt yˆ t
Der einzige Unterschied zwischen den Prognosewerten mit dem Verfahren von
CROSTON und der exponentiellen Glättung erster Ordnung besteht in der unter‐
schiedlichen Berechnung der Startwerte.
SYNTETOS und BOYLAN621 weisen darauf hin, dass das Verfahren von CROSTON,
insbesondere für Werte von 0,5 , zu einer systematischen Über‐ oder Unter‐
schätzung der tatsächlichen Beobachtungswerte führt. Aufgrund dieser systema‐
tischen Verzerrung entwickeln SYNTETOS/BOYLAN622 ein modifiziertes Verfahren,
das sich im Vergleich zu dem Verfahren von CROSTON nur durch einen zusätzli‐
chen Term in Schritt 4) unterscheidet.
zˆt 1
yˆ t 1 (1 )
2 pˆ t 1
Analog zum Verfahren von CROSTON erfolgt eine Aktualisierung der Prognose‐
werte nur bei Vorliegen eines positiven Bedarfs. Empirische Untersuchungen zei‐
gen eine tendenzielle Verbesserung der Prognosegüte und ‐stabilität gegenüber
dem Vorgehen von CROSTON623. Allerdings konnte auch gezeigt werden, dass das
Verfahren von CROSTON bei Bedarfsverläufen mit wenigen Perioden mit Nullbe‐
darf durchschnittlich eine geringere Verzerrung gegenüber der Modifikation von
SYNTETOS/BOYLAN aufweist624.
427
After Sales und Reverse Logistics
6
c) Modifikation von LEVÉN und SEGERSTEDT (LS)
Eine weitere Modifikation des Verfahrens von CROSTON wurde von LEVÉN/SEGER‐
STEDT625 vorgeschlagen, mit der neben sporadisch nachgefragten Bedarfsmengen
auch regelmäßig nachgefragte Bedarfe prognostiziert werden können. Das Ziel
dieses Ansatzes ist eine Beschränkung auf unbedingt notwendige Parameter, so‐
dass eine Prognose mit wenig Aufwand möglich ist. Des Weiteren behaupten die
Autoren, dass mit ihrem Verfahren auch die mögliche systematische Über‐ oder
Unterschätzung bei dem Verfahren von CROSTON vermieden werden kann. Die
vorgeschlagene Modifikation von LEVÉN/SEGERSTEDT basiert ebenfalls auf der ex‐
ponentiellen Glättung erster Ordnung, allerdings wird auf eine getrennte Progno‐
se von Bedarfshöhe und ‐zeitpunkt verzichtet. Nach der Initialisierung in Schritt
1) werden die Schritte 2) und 3) beim Verfahren von LEVÉN/SEGERSTEDT nicht
durchgeführt und als neuer Schritt 4) wird die folgende Prognosefunktion ver‐
wendet:
428
6.3
Instandhaltungslogistik
zˆt 1
yˆ t 1 (1 )
2
pˆ t 1
2
Analog zum Verfahren von CROSTON erfolgt eine Aktualisierung der Prognose‐
werte nur bei Vorliegen eines positiven Bedarfs yt .
e) Bootstrapping‐Verfahren
429
After Sales und Reverse Logistics
6
Beispiel 6.3.1:
CR SB LS SY
0,1 2,33
2,33 0,1 2,33 yˆ 5 (1 ) 1,73
yˆ 5 1,75 yˆ 5 (1 ) 1,66 yˆ 5 2,33 2 1,33 0,1
1,33 2 1,33
2
2,60
CR: zˆ 6 0,1 5 0,9 2,33 2,60 ; pˆ 6 0,1 1 0,9 1,33 1,30 ; yˆ 6 2
1,30
0,1 2,60
SB: yˆ 6 (1 ) 1,90
2 1,30
5
LS: yˆ 6 0,1 (1 0,1) 2,33 2,60
1
0,1 2,60
SY: yˆ 6 (1 ) 1,98
2 1,30 0,1
2
430
6.3
Instandhaltungslogistik
Tabelle 6‐3 Prognose mit dem Verfahren von CROSTON und dessen Modifikationen
431
After Sales und Reverse Logistics
6
Da in den Perioden t 9, 10 jeweils ein Nullbedarf vorliegt, erfolgt keine Aktualisie‐
rung der Prognosewerte und es werden in den Perioden t 10, 11 die Prognosewerte
aus der Periode t 9 übernommen.
Für die verschiedenen Verfahren sind die Prognosewerte für den Ersatzteilbedarf in
der Tabelle 6‐3 angegeben.
Basierend auf den Daten in der Abbildung 6‐13 wird im Folgenden das Bootstrapping‐
Verfahren von TEUNTER/DUNCAN angewendet. Durch 10.000‐faches Ziehen mit Zu‐
rücklegen wird die Verteilung des Ersatzteilbedarfs während der Wiederbeschaf‐
fungszeit von zwei Perioden geschätzt. Daher werden je Wiederbeschaffungszeit zwei
Bedarfsmengen „gezogen“, um eine Verteilung zu erhalten, die auf den Beobach‐
tungswerten basiert. In der Tabelle 6‐4 ist die resultierende Häufigkeitsverteilung
angegeben.
In 51,48 % der Fälle tritt während der Wiederbeschaffungszeit eine Nachfrage nach
dem elektronischen Steuergerät von kleiner zwei Stück auf. Mit Hilfe der Daten kann
nun der Erwartungswert der Nachfrage während der Wiederbeschaffungszeit von
zwei Perioden wie folgt berechnet werden:
0 4.366 1 782
… 15 0 16 4
E ( y) 2,3917
10.000
432
6.3
Instandhaltungslogistik
433
After Sales und Reverse Logistics
6
erfolgen. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt in der Flexibilität, mit der auf Nachfrage‐
schwankungen reagiert werden kann. Eine Parallelproduktion hat jedoch hohe Investi‐
tionen in weitere Produktionstechnik sowie in den zusätzlichen laufenden Kosten zur
Bewirtschaftung zur Folge. Diese können nur über enorm hohe Verkaufszahlen oder
Deckungsbeiträge der Ersatzteile kompensiert werden634.
Die anhaltende Tendenz zur Verringerung der Fertigungstiefe führt dazu, dass ein
entsprechend großer Anteil an Ersatzteilen von Zulieferern beschafft werden muss. Im
Gegensatz zum Primärproduktgeschäft stellt die Ersatzteilversorgung jedoch andere
Anforderungen an die Beschaffung. Die Ersatzteilbeschaffung ist auf langfristige Ver‐
träge mit zuverlässigen Lieferanten ausgerichtet, um kleine Beschaffungslose in kur‐
zen Lieferzeiten mit einer hohen Lieferzuverlässigkeit zu beziehen. Aus diesem Grund
erfolgt häufig eine organisatorische Trennung der beiden Beschaffungsbereiche, die
jedoch eine enge Abstimmung notwendig macht, um Synergiepotenziale bei der Be‐
schaffung nutzen zu können635.
434
6.3
Instandhaltungslogistik
Für die Nachserienphase stehen die in der Abbildung 6‐14 angegebenen Versorgungs‐
strategien zur Verfügung.
a) Kontinuierliche Nachserienfertigung
435
After Sales und Reverse Logistics
6
rienaufträgen erfolgen muss. Des Weiteren wird die Modernisierung der Produk‐
tionsanlagen erschwert, da die Fertigung der Ersatzteile und somit ausgelaufener
Modelle über Jahre gesichert werden muss.640 Eine veraltete Produktionstechno‐
logie ist ineffizient und mindert die potenzielle Ausbringungsrate neuer Primär‐
produkte. Da mit zunehmendem Betrachtungshorizont die Varianz der herzustel‐
lenden Ersatzteile stark ansteigt, ist insbesondere bei erhöhter Ersatzteil‐ und
Primärproduktnachfrage mit Kapazitätsengpässen zu rechnen641.
b) Serienabschlusslos
436
6.3
Instandhaltungslogistik
c) Additive Fertigung
437
After Sales und Reverse Logistics
6
Somit konnte die Lieferzeit für Ersatzteile von einigen Wochen auf wenige Tage
reduziert werden. Ebenso konnte auf eine Mindestbestellmenge verzichtet wer‐
den, sodass dem Kunden eine größere Flexibilität gewährt werden kann646.
d) Outsourcing
e) Reparatur
438
6.3
Instandhaltungslogistik
f) Wiederverwendung
Der Einsatz nur einer Versorgungsstrategie kann die Ersatzteilversorgung über den
gesamten Versorgungszeitraum nach Ende der Serienproduktion nicht sicherstellen.
Eine zuverlässige Ersatzteilversorgung ist somit nur durch eine Kombination der ge‐
nannten Strategien zu einem Versorgungsszenario gegeben. Beispielsweise kann kurz
nach Ende der Serienproduktion zunächst eine interne kontinuierliche Nachfertigung
durchgeführt werden, die dann nach einer gewissen Zeit mit einem Serienabschlusslos
kombiniert wird. In Zukunft werden jedoch die additiven Fertigungsverfahren zur
Ersatzteilversorgung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Ersatzteile oder Kompo‐
nenten werden erst bei Bedarf und möglichst nah am Ort der Nutzung produziert,
sodass Lager‐ und Versandkosten ebenso wie Lieferzeiten entfallen.
439
After Sales und Reverse Logistics
6
Transportkosten, sowie auf die Lieferzeit und den vom Kunden wahrgenommenen
Service in der Nachkaufphase aus. Für eine optimale Ersatzteildistribution ist ein
Netzwerk aus zentralen Lagern sowie dezentralen Lagern (z. B. Regionallager, Auslie‐
ferungslager oder mobile Lager) einzurichten. Falls eine zeitgerechte Belieferung der
Kunden durch ein Zentrallager nicht sichergestellt werden kann, dann sind in der
Nähe der Kunden zusätzliche Lager vorzusehen. Um die entsprechende Nachfrage‐
menge dem Kunden in der geforderten Lieferzeit bereitzustellen und damit eine hohe
Verfügbarkeit des Primärprodukts zu gewährleisten, sind große Mengen der entspre‐
chenden Ersatzteile dezentral in Kundennähe zu bevorraten.
Im Rahmen der Lagerhaltung erfolgt neben der Gestaltung der Lagerausstattung und
des Layouts auch die Festlegung der Bestandshöhen und der Bestellzyklen. Im Gegen‐
satz zu Fertigwarenlager, die in einen kontinuierlichen Produktionsprozess integriert
sind, müssen Ersatzteillager ganz besonders für unregelmäßige und häufig ereignisge‐
steuerte Ansprüche konzipiert werden. Somit muss die Lagertechnik eine hohe Flexi‐
bilität aufweisen, um dringliche Aufträge schnell abwickeln sowie eine große Anzahl
unterschiedlicher Ersatzteile anforderungsgerecht handhaben zu können. Beim Trans‐
port der Ersatzteile wird zwischen einer Regelabwicklung und einer Eillieferung un‐
terschieden. Eine Regelabwicklung umfasst geplante Kundenaufträge und Lagerer‐
gänzungslieferungen. Da die Lagerergänzungslieferungen zeitlich unkritisch sind,
können diese gebündelt werden, um Kostenvorteile durch höhere Transportvolumina
zu erzielen. Im Gegensatz dazu sind Eillieferungen mit sehr kurzen Lieferzeiten ver‐
bunden, da die Kunden einen dringenden Bedarf an Ersatzteilen haben. Besonders
kritisch sind diejenigen Fälle, bei denen keine regionalen Auslieferungslager in Kun‐
dennähe vorhanden sind oder kundennahe Lager Fehlbestände aufweisen und so
Transporte aus übergeordneten Lagerstufen über längere Distanzen erforderlich wer‐
den. Für die Abwicklung von Eilaufträgen sind schnelle Transportdienste wie bei‐
spielsweise Express‐ und Kurierdienste notwendig, die mit hohen Transportkosten
verbunden sind. Des Weiteren ist der Transport von Ersatzteilen dadurch geprägt,
dass sehr geringe Mengen zu sehr vielen Bedarfspunkten versendet werden müssen,
sodass Hersteller aufgrund einer mangelnden Fahrzeugauslastung die Ersatzteiltrans‐
porte an Logistikdienstleister auslagern.
Da der Bedarfsverlauf bei Ersatzteilen einer großen Volatilität unterliegt und bei Re‐
serveteilen zudem von hoher Sporadizität gekennzeichnet ist, führt eine Bevorratung
zu erheblichen Kapitalbindungskosten. Mit Hilfe geeigneter Pooling‐Strategien kön‐
nen diese hohen Lagerbestände unter Beibehaltung einer gleichbleibenden Lieferzeit
durch erhöhte Flexibilität und Verfügbarkeit der Ersatzteile reduziert werden, indem
die am Pooling beteiligten Partner sich gegenseitig im Bedarfsfall die benötigten Er‐
satzteile zur Verfügung stellen. Während bei reparierbaren Ersatzteilen auch die In‐
standhaltung und Rückführung von Ersatzteilen in den Pool zu berücksichtigen ist,
werden nicht reparierbare Ersatzteile entsorgt bzw. zerlegt und ausgeschlachtet.
Ersatzteil‐Pooling ist nicht nur eine alternative Form der Bedarfsdeckung, sondern
stellt eine Möglichkeit dar, mit der die vielfach benötigte Notfallflexibilität effizient
440
6.3
Instandhaltungslogistik
a) Vertikales Pooling
Beim vertikalen Pooling sind mehrere Lagerstufen beteiligt, zwischen denen Lie‐
ferbeziehungen bestehen. In der Abbildung 6‐15 werden lokale Auslieferungsla‐
ger, ein Regional‐ und ein Zentrallager in den Pool einbezogen.
Abbildung 6‐15 Vertikales Pooling (ZL: Zentral-, RL: Regional-, AL: Auslieferungslager)
ZL
RL RL
AL AL AL AL AL AL
441
After Sales und Reverse Logistics
6
Die lokalen Lager versorgen eine endliche Anzahl von Betriebsmitteln und befin‐
den sich in unmittelbarer Umgebung lokaler Werkstätten. Die Ersatzteile sind als
Module, Komponenten, Subsysteme und Teile dieser Betriebsmittel aufzufassen.
Die lokalen Auslieferungslager werden jeweils von einem Regionallager und das
Regionallager von einem Zentrallager versorgt.
b) Horizontales Pooling
Abbildung 6‐16 Horizontales Pooling (ZL: Zentral-, RL: Regional-, AL: Auslieferungslager)
ZL
RL RL
AL AL AL AL AL AL
442
6.3
Instandhaltungslogistik
c) Laterales Pooling
Abbildung 6‐17 Laterales Pooling (ZL: Zentral-, RL: Regional-, AL: Auslieferungslager)
ZL
RL RL
AL AL AL AL AL AL
Pooling‐Strategien eignen sich vor allem bei selten nachgefragten und hochwertigen
Ersatzteilen, da die Kosten für Notfalltransporte geringer sind als diejenigen Kosten,
die bei der Lagerhaltung großer Mengen oder bei etwaigen Lieferrückständen anfal‐
len. Durch die Möglichkeit von Notfalltransporten können die Lagerbestände durch
niedrigere Sicherheitsbestände gesenkt und somit sowohl Lagerkosten als auch Fehl‐
mengenkosten reduziert werden. Generell erhöhen sich die Rationalisierungs‐
potenziale von Pooling‐Strategien mit der Anzahl der am Pooling beteiligten Lager.
443
After Sales und Reverse Logistics
6
6.4 Integrative Sichtweisen und Kooperationen
Die integrative Sichtweise im Bereich des After Sales Service, der Instandhaltung und
der Ersatzteillogistik zeichnet sich durch eine schnittstellenübergreifende Prozess‐
betrachtung und ‐optimierung aus, welche die Effizienz der Güterflüsse sicherzu‐
stellen hat. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der strategischen Ebene, die einen
Rahmen für die zukünftig reibungslos durchzuführende operative Planung bildet.
Abbildung 6‐18 verdeutlicht den Sachverhalt der Kooperation und Integration bezo‐
gen auf die in Kapitel 6.3.3 benannten Akteure. Aufgrund ihres unrechtmäßigen Agie‐
rens sind Ersatzteilpiraten von dieser Betrachtung auszuschließen und nicht als Teil
der Drittanbieter zu verstehen. Drittanbieter im hier betrachteten Kontext sind dem‐
nach Hersteller, Servicedienstleister und Lizenznehmer, die ein Bindeglied zwischen
Primärproduktherstellern und Abnehmern bzw. Betreibern einer Anlage bilden652.
Integration
Drittanbieter und
Aufarbeitende Unternehmen
Servicedienstleister
444
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen
Der Hersteller bzw. Original Equipment Manufacturer (OEM) ist nicht nur darauf
angewiesen, dass unternehmensinterne Abteilungen effektiv zusammenarbeiten, son‐
dern zur zuverlässigen Gestaltung der Ersatzteillogistik zählt auch die Kooperation
mit den Kunden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kundenstruktur und das
Ersatzteilsortiment eine hohe Heterogenität aufweisen. Die Zusammenarbeit mit dem
Betreiber ist daher insbesondere für Hersteller sonderverbauter Komponenten und
Sondermaschinen von signifikanter Wichtigkeit, da – bedingt durch die Teilevielfalt –
nicht jedes Ersatzteil ins Lager aufgenommen werden kann. Die Unternehmen sind
deshalb auf die Kritikalitätseinschätzung der Kunden angewiesen. Hersteller von
Standardprodukten haben es hier häufig leichter, da eine bessere Skalierbarkeit von
Nachfragequantitäten und durchzuführenden Leistungen vorliegt.
Mit zunehmender Spezifität und bedingt durch die kurzen Produktlebenszyklen von
Komponenten sinkt die Wahrscheinlichkeit, auf einen etablierten Drittanbietermarkt
zu treffen, womit gerade im Elektronikbereich die Lieferantenmacht steigt654. Da sich
mit Standardteilen aufgrund der geringen Markteintrittsbarrieren jedoch evtl. weniger
Gewinne erzielen lassen, streben einige Drittanbieter auch in investitionsintensiven
Branchen danach, Kunden spezifische Ersatzteile jenseits des Punktes des End of Ser‐
vice oder des End of Production anzubieten, um Gewinne zu erzielen. Auch der wach‐
sende Trend des Outsourcings von Servicedienstleistungen lässt Kooperationen mit
Drittanbietern in ihrer Bedeutung steigen.
Die nachfolgenden Kapitel vertiefen die eben genannten Aspekte. Anschließend wird
aufgezeigt, wo nach wie vor die größten Hemmnisse bei der Etablierung unter‐
nehmensinterner und ‐übergreifender Integration bestehen.
445
After Sales und Reverse Logistics
6
spläne bei präventiver Wartung sowie eine Liste der verbauten Teile nebst deren Teile‐
nummern, Bezeichnungen und Lagerorten655. Bei vorhandener Kategorisierung ist
diese ebenfalls in den Stammdaten der Ersatzteile zu hinterlegen. Neben den Stamm‐
daten sind konsequent auch Bewegungsdaten während der Instandhaltung zu erfas‐
sen, bspw. welche Maßnahmen an dem Objekt durchgeführt wurden, warum ein Aus‐
fall erfolgte und zu welcher Stillstandzeit dieser führte656. Bei Ersatzteilen wiederum
ist die Historie der Entnahmen gemeinsam mit Entnahmegründen Voraussetzung für
eine valide Prognose und angepasste Lagerhaltung. Bei der Lieferantenauswahl als
strategische Entscheidung der Ersatzteilbeschaffung ist es von Bedeutung, auf zuver‐
lässige Stamm‐ und Bewegungsdaten sowie Erfahrungen von Technikmitarbeitern
bezüglich der Qualität extern erworbener Komponenten zuzugreifen, um Lieferanten
entweder auszuschließen oder als Toplieferanten in das System aufzunehmen.
446
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen
Inwieweit eine bedarfssynchrone Bestellung zur Umsetzung kommt, ist von verschie‐
denen Umständen und Einflussfaktoren abhängig:
Eine Spezialform der Organisation ist der modulare Aufbau eines produzierenden
Unternehmens, wobei die Instandhaltung als Teil der Produktion zu sehen und
folglich innerhalb der Module durchzuführen ist. Sollten die Modulverantwortli‐
chen auch die Ersatzteilplanung selbst durchführen, ergibt sich eine mit der An‐
gliederung der Ersatzteillogistik an die Instandhaltung vergleichbare Situation.
Fungiert die Ersatzteillogistik hingegen als eigene Abteilung, besteht die Schwie‐
447
After Sales und Reverse Logistics
6
rigkeit darin, mit allen Modulen zu kommunizieren und eine engere Verbindung
aufzubauen.
Sind mehrere Standorte zu versorgen und ist das Unternehmen zentralistisch or‐
ganisiert, kann dies für eine auf die Ersatzteillogistik ausgeweitete Zentraldis‐
position sprechen. Zwar gibt es somit noch Instandhaltungsbereiche und Ersatz‐
teillager, die Ersatzteilbestellung wird aber auf Basis einer stochastischen Lager‐
haltung mit Melde‐ und Maximalbeständen durchgeführt. Erfolgt die Anmeldung
einer Neueinlagerung nach wie vor dezentral, kommt auch den Standorten eine
gewisse Entscheidungsgewalt zu.
Wie bereits eingangs erwähnt, besteht die Herausforderung darin, die Lücke zwi‐
schen der technisch geprägten Instandhaltung und der betriebswirtschaftlich ori‐
entierten Ersatzteillogistik zu überbrücken. Die für die Neueinlagerung maßgebli‐
chen Kritikalitätseinschätzungen sollten dabei nicht allein auf Bauchgefühl und
nicht dokumentiertem praktischem Wissen basieren, sondern auf Vergangen‐
heitsdaten und den in Systemen festgeschriebenen Expertenmeinungen. Infolge‐
dessen ist ein gezieltes Wissensmanagement nicht zu vernachlässigen. Dies wirkt
ebenfalls dem demographischen Wandel entgegen, denn langjährige Mitarbeiter
weisen oft ein tiefgehendes Wissen darüber auf, welche Teile in welchen Abstän‐
den und in welcher Menge benötigt werden. Sollten diese Mitarbeiter das Unter‐
nehmen verlassen, ohne ihr praktisches Know‐how weitergegeben zu haben, kann
sich dies negativ auf die Notfallreserve auswirken.
448
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen
c) Systemgrundlagen
Basis für die gute Zusammenarbeit stellt außerdem ein mit Abhängigkeiten ver‐
sehenes Kennzahlensystem dar. Dies kann beispielsweise durch die Einführung
einer Balanced Scorecard erreicht werden659. Regelmäßige Abstimmungsrunden
zwischen Vertretern der Bereiche und die Durchdringung eines kontinuierlichen
Verbesserungsprozesses sind Beispiele für Maßnahmen zur konsequenten Umset‐
zung einer funktionierenden Zusammenarbeit von Instandhaltung und Ersatzteil‐
logistik.
6.4.2 Hersteller-Betreiber-Beziehungen
Immer häufiger sind After‐Sales‐Service‐Leistungen auf individuelle Kundenwünsche
zugeschnitten und auf den gesamten Lebenszyklus einer Anlage oder Maschine aus‐
gerichtet. Hier ist es gerade für die Datenerfassung erheblich, ob es sich um Primär‐
produkte für den betrieblichen Gebrauch oder um einen (anonymen) Endkunden‐
markt handelt. Innerhalb von B2B‐Beziehungen ist der Abnehmer meist selbst in der
Lage eine eigene Instandhaltung durchzuführen, weshalb der Austausch von Informa‐
tionen auch in entsprechenden mit dem Kunden zu schließenden Serviceverträgen
festgelegt werden kann.
449
After Sales und Reverse Logistics
6
müssen sich die Beteiligten darüber im Klaren sein, welche Vertragsart zu wählen ist.
Eine einfache Klassifizierung stellt die Einteilung in material‐ und leistungsbasierte
Verträge dar. Bei materialbasierten Verträgen wird sich allein auf den Verkauf von
Ersatzteilen und Reparaturdienstleistungen konzentriert, wobei die Kosten und Ge‐
bühren meist festgeschrieben sind und evtl. noch durch Prämien erhöht werden. Da‐
mit strebt der Anbieter dieser Dienstleitungen eher eine Gewinnmaximierung bei
gleichzeitiger Kostenminimierung an. Leistungsorientierte Verträge hingegen fokus‐
sieren sich auf die Qualität der Leistungserfüllung. Hierbei werden im Vertrag Ziel‐
größen festgelegt, wobei der Hersteller selbst entscheidet, wie den Bestimmungen
nachzukommen ist. Es ist darauf zu achten, dass die dafür hinzugezogenen Kennzah‐
len auf beiderseitigem Einverständnis beruhen und anhand der Zielgrößen genau
festgelegt wird, welche Kennzahlen sich zur Kontrolle eignen660. Diese Art der Verträ‐
ge ist dann besonders anwendbar, wenn das Instandhaltungsobjekt eine hohe Zuver‐
lässigkeit und Verfügbarkeit aufzuweisen hat. Als Beispiel ist hier die Luft‐ und Raum‐
fahrt anzuführen661. Leistungsbasierte Verträge haben den Vorteil, dass der Anbieter
seinen Leistungserstellungsprozess offenlegen muss und folglich Transparenz gewähr‐
leistet ist. Zudem ist der Hersteller dazu angehalten, seine Leistungen stetig zu verbes‐
sern, wodurch für ihn die Wahrscheinlichkeit steigt, Kunden an sich zu binden und
auch umfassende, höher bepreiste Servicekonzepte anzubieten. Auf der anderen Seite
steigt das Risiko für den Anbieter, denn seine Verlässlichkeit gelangt in den Fokus der
Aufmerksamkeit beim Leistungsnehmer, wodurch der eigentliche Preis zugunsten der
Leistungsqualität in den Hintergrund rückt. Folglich steigen das Servicebewusstsein
und der Stellenwert des Servicegedankens bei allen Parteien.
Eigenes Informations‐
Kundentyp Leistungen Vertrag
Know‐how austausch
Gering (ledig‐
Selbstinstand‐ Ersatzteile und Materialbasiert,
Hoch lich preisliche
halter Module standardisiert
Festlegungen)
Die konsequente Ausrichtung am Leistungsprinzip stellt die Miete und das Leasing
beinhaltende Servicekonzepte in den Vordergrund. Zukünftig könnten Maschinen
nicht mehr als Wertanlage erworben werden, sondern lediglich die Leistungen um das
450
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen
a) Erstausrüstungsangebot
Wie die Ersatzteillogistik beim Betreiber geplant wird, ist häufig abhängig vom
Reifegrad der Anlagen, wobei die Erfahrung, die der Betreiber mit der Anlage
macht, eine maßgebliche Rolle spielt. Wichtig für den Betreiber ist es in diesem
Zusammenhang, dass der Hersteller bereit ist, seine Erfahrungen mit ihm zu tei‐
len. Bei Inbetriebnahme ohne eine Kenntnis darüber, wie der optimale Wartungs‐
zyklus zu erreichen ist und welche Ersatzteile dafür vorgehalten werden sollten,
muss sich auf die Ersatzteilempfehlungsliste des Herstellers (Erstausrüstungsan‐
gebot) berufen werden. Hier sind Vorschläge zur optimalen Bevorratung von Er‐
satzteilen enthalten, womit der Betreiber auf das Wissen des Herstellers angewie‐
sen ist. Will der OEM sicherstellen, dass der Betreiber unter allen Umständen im
Notfall in der Lage ist, die reaktive Instandhaltungsmaßnahme durchzuführen, so
kann er diesem raten, jegliche seiner Meinung nach bedeutenden Komponenten in
entsprechender Stückzahl ins Lager aufzunehmen. Somit ist der Kunde selbst da‐
zu angehalten, sich eine eigene Meinung bezüglich der vorherrschenden Risiken
und deren Prävention zu bilden. Mit zunehmender Erfahrung des Betreibers wird
er die Liste anpassen und Bestellungen variieren. Der Hersteller auf der anderen
Seite besitzt die Chance, das Wissen des Kunden zu nutzen, um die Empfehlungs‐
liste zu verbessern. Sollte die Relevanz gewisser Kundenanfragen erfasst werden,
erhält er bspw. weiterführende Kritikalitätseinschätzungen, womit denkbar ist,
dass neben der reinen Aufstellung von potenziell einzulagernden Komponenten
auch Informationen zu deren Kritikalität und geschätzter Betriebszeit enthalten
sind. Erschwert wird dies durch die Heterogenität der Kundenstruktur, denn je
eher sich die Betreiber in ihren Produktionsumgebungen, Losgrößen, Rüstvor‐
451
After Sales und Reverse Logistics
6
gängen oder auch den technischen Kompetenzen der Mitarbeiter voneinander un‐
terscheiden, desto schwieriger ist es für den Hersteller, eine möglichst zuverlässi‐
ge Prognose zum Verschleiß der Teile abzugeben. Folglich stellt es für ihn ein Ri‐
siko dar die Angaben überhaupt zu tätigen, was zur Entscheidung führen kann,
dem Betreiber eher alles zu empfehlen, um nicht die Kundenzufriedenheit zu ge‐
fährden.
Eine tiefgehende Bindung zum Kunden kann auch durch eine proaktive Zusam‐
menarbeit erreicht werden663. Kunden erhalten hierzu vor jeder selbst durchzu‐
führenden Instandhaltungsmaßnahme das Angebot eines passenden Teilekits. Die
Wartungsplanung obliegt somit nicht mehr dem Betreiber selbst und stellt damit
eine Wegbereitung für steigende Servicelevel und leistungsbasierte Verträge hin
zum Angebot von Business‐Solutions dar. Falls der Betreiber einen Know‐how‐
Abfluss befürchten sollte, ist er an der Planung zu beteiligen. Ein transparentes
Agieren der Hersteller ist damit unabdingbar, um eine langfristig ausgelegte dau‐
erhafte Beziehung der Akteure zu gewährleisten.
In diesem Zusammenhang ist die Erfassung und Verarbeitung von Installed Base
Data eine Herausforderung. Die Installed Base bezeichnet alle sich im Umlauf be‐
findlichen Systeme und Anlagen, die durch den Hersteller abgesetzt wurden oder
die – je nach Sichtweise – durch einen Dienstleister bedient werden. Bei zuverläs‐
sigen Daten, d. h. stimmigen anlagen‐ und ersatzteilspezifischen Informationen,
ist anzunehmen, dass Serviceprozesse und die Ersatzteilversorgung einfacher zu
planen sind. Als besonders wichtig gelten hierbei die Lage, Umgebungsfaktoren,
Einsatzbedingungen und Wartungszyklen bzw. ‐pläne beim Kunden. Technikmit‐
arbeiter im Außendienst repräsentieren in diesem Zusammenhang eine bedeu‐
tende Informationsquelle. Sie sollten dazu angehalten werden, während der Ser‐
viceeinsätze Daten über die beim Kunden befindlichen Anlagen zu erfassen. Hier‐
zu muss bereits eine ausreichende systemische Grundlage vorliegen, um die
Dateneingabe, z. B. durch Pflichtfelder oder Drop‐down‐Auswahllisten, zu unter‐
stützen.
452
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen
ren will. Da anfallende Kosten aber häufig auf den Kunden umgelegt werden, ist
nicht davon auszugehen, dass sie unter allen Umständen bereit sind, den höheren
Preis zu zahlen. Vorteile aus diesem Agieren sollten dem Betreiber daher mög‐
lichst einfach und verständlich aufbereitet werden. Verfügt der Betreiber über ein
entsprechendes Know‐how, kann das innovative Vorgehen auch von seiner Initia‐
tive aus gestartet werden. Für den Hersteller ist dies insoweit von Vorteil, als dass
er nicht selbst in Technologien investieren muss. Sollte der Betreiber bereit sein,
die erhobenen, am besten bereits verarbeiteten Daten mit dem Hersteller zu teilen,
kann dieser die Lieferung von Ersatzteilen und Austauschmodulen bedarfssyn‐
chron einplanen, womit wiederum ein proaktives Agieren gewährleistet ist.
Cloud‐basierte Technologien wären in diesem Zusammenhang geeignete Instru‐
mente zum Arbeiten mit echtzeitfähigen Daten. Allerdings ist dies heute noch
nicht so weit verbreitet, wie es die technologischen Möglichkeiten realisieren
könnten664.
Generell ist es für den OEM schwierig, den schwankenden Ersatzteilbedarf abzu‐
schätzen. Dies trifft insbesondere auf Komponenten mit hoher Spezifität zu, denn
diese sind in nur wenigen Maschinen verbaut und werden deshalb an eine gerin‐
ge Kundenanzahl ausgeliefert. Obwohl diese Teile nur sehr selten benötigt wer‐
den, sind sie meist besonders wichtig für die Kunden. Maßnahmen, die der Kun‐
de selbst an den Anlagen vornimmt, sind möglichst lückenlos zu erfassen, damit
Teile, die bereits nicht mehr verbaut sind, aus dem Bestand entfernt werden. Zu‐
sätzlich ist das Wissen, in welchem Maße Nicht‐Originalteile während der In‐
standsetzungsmaßnahmen vom Betreiber selbst eingebaut wurden, für den Her‐
steller von Bedeutung. Demnach ist auch die Pflege von Umbauten nicht zu ver‐
nachlässigen, um stets aktuelle Informationen bezüglich des möglicherweise
auftretenden Ersatzteilbedarfs vorliegen zu haben. Je nach Ausgestaltung des Ser‐
vicevertrags und nach Umfang der ausgelagerten Instandhaltungsleistungen beim
Betreiber kann dies auf mehr oder weniger umfassender Basis erfolgen. Meist ist
der OEM auf die Mitarbeit des Kunden und dessen Informationsübermittlung an‐
gewiesen, denn qualitativ hochwertige Daten sind universell wichtig für eine
funktionierende Hersteller‐Betreiber‐Beziehung.
453
After Sales und Reverse Logistics
6
6.4.3 Kooperationen auf dem Drittanbietermarkt
Die kooperative Nutzung von Daten und Ressourcen ist auch bei Kooperationen mit
dem Drittanbieter eine Voraussetzung für die gute Zusammenarbeit der Akteure,
insbesondere in Form gemeinsamer Prognosen. Dadurch verkürzen sich Reaktionszei‐
ten und der entsprechende Ersatzteilbestand entlang der Supply Chain sinkt, bspw.
infolge des Ersatzteilpoolings665. Falls der Drittanbieter als Lagerverwalter auftritt,
kann er so seine Marktsicherheit steigern und die Losgrößenplanung verbessern666.
Auf der anderen Seite entsteht eine für ihn schwierige Mittlerrolle, da er sowohl als
Konkurrent als auch als Kooperationspartner des Herstellers auftritt. Sollte der Her‐
steller den Absatz als wichtiger erachten, geraten die Kooperationen in den Hinter‐
grund. Der Drittanbieter ist allerdings oft auf die Kooperationsbereitschaft des OEM
angewiesen, denn die Spezialisierung auf bestimmte Gebiete gelingt häufig nicht ohne
das entsprechende Wissen des Herstellers. Für diesen selbst ist es einfacher, Daten
beim Kunden zu erheben, während Drittanbieter meist nicht dazu in der Lage sind,
diese Informationen abzurufen.
Als besondere Form der Drittanbieter treten aufarbeitende Unternehmen auf. In der
Aufarbeitung muss stark nach dem Ziel derselben und der Struktur der Unternehmen
differenziert werden. Für die Aufarbeitungsleistung benötigen Unternehmen entwe‐
der die Originalteile vom Hersteller oder erwerben Komponenten auf dem freien
Markt, sodass der Aufarbeiter auf der einen Seite als Drittanbieter fungiert, auf der
anderen Seite aber auch mit diesen zusammenarbeitet. In der Aufarbeitung kann es
vorkommen, dass Teile bereits beim ersten Entstehen eines Bedarfs nicht mehr verfüg‐
bar sind und eine lange Vorlaufzeit aufweisen. Ist dies der Fall, sind im Vorhinein
gesetzte Aufarbeitungszyklen nicht mehr einzuhalten. Dieses Risiko ist kaum zu ver‐
meiden. Es kann jedoch gemindert werden, wenn Lieferanten zur Vorhaltung gewisser
Ersatzteile angehalten werden, sofern eine garantierte Abnahme vorliegt. Längerfristi‐
ge Beziehungen zu Kunden sind für Aufarbeiter ebenfalls ähnlich vielversprechend
wie für Hersteller und Drittanbieter und verhelfen ihnen durch proaktives Kunden‐
einwirken zur Etablierung neuer Geschäftsmodelle. Wie im vorherigen Kapitel ausge‐
454
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen
führt, kann bei Vorliegen entsprechender Informationen schon zeitig abgeschätzt wer‐
den, welche Komponenten der Kunde benötigen wird. Zusätzlich ist von Bedeutung,
ob ein getakteter Prozessablauf vorliegt oder die Aufarbeitungsdauer unerheblich für
den Weiterverkauf ist. Entsprechend wirkt sich dies auf eventuelle Lieferzeiten aus.
Informations‐
Unzureichende Schlechte Prognosequalität
politik
Kommunikation
Diskontinuierl.
Bedarf Ad‐hoc‐Management Hohe Bestände /
überstrapazierter Puffer
Systemische &
technische Fehlende Fehlendes
Grundlage strategische Planung Obsoleszenzmanagement
Die Unsicherheit bezüglich der Qualität und Verfügbarkeit von Informationen zur
Planung instandhaltungstechnischer und ersatzteillogistischer (Service‐)Prozesse tritt
als zentral auf, da diese die wahrgenommene Relevanz der Integration beeinflusst. So
verursacht bereits ein internes Versäumnis der zuverlässigen Datenerfassung beim
Betreiber, dass auch die auf ihn folgenden Akteure entlang der Supply Chain mit qua‐
litativ unzureichenden Informationen arbeiten müssen. Bei der Informationsunsicher‐
455
After Sales und Reverse Logistics
6
heit ergibt sich somit eine doppelte Kausalität: Kooperationen können aufgrund der
genannten Einflusssphären verhindert werden, weshalb die Informationsunsicherheit
auf der einen Seite als hemmender Faktor auftritt. Auf der anderen Seite trägt eine
enge abteilungs‐ und unternehmensübergreifende Zusammenarbeit jedoch auch dazu
bei, die Informationspolitik zu verbessern. Fehlendes Know‐how der Mitarbeiter, der
schwer einschätzbare diskontinuierliche Bedarf von Ersatzteilen und die oftmals nur
lückenhaft vorliegende systemische und technische Grundlage in den Unternehmen
bedingen zusätzlich, dass sich sowohl die Kommunikation von Mitarbeitern verschie‐
dener Unternehmensbereiche als auch zwischen den Akteuren selbst als großes
Hemmnis der Zusammenarbeit herausstellt. Die Kommunikation nimmt wiederum
Einfluss auf den Informationsaustausch, wobei Lieferanten in ihrer Informationspoli‐
tik zum Teil bewusst intransparent agieren. Kommt eine bereits ausgeprägte Nutzung
von Erfahrungs‐ und Expertenwissen hinzu, wird vor allem beim Betreiber ein Ad‐
hoc‐Management gefördert. Die fehlende strategische Ausrichtung lässt lange Reakti‐
onszeiten entstehen, die verstärkt werden, wenn ein nur geringes (technisches) Ver‐
ständnis bezüglich der Anlagen und benötigten Komponenten sowohl beim Kunden
als auch beim Lieferanten vorliegt.
Als Verdeutlichung gelte das folgende Szenario: Ist der Hersteller oder Drittanbieter –
bspw. aufgrund des stark diversifizierten Angebots – nicht in der Lage, schnell auf die
Kundennachfrage reagieren zu können, ist es zielführend, ihn rechtzeitig auf einen
anstehenden Bedarf vorzubereiten. Dies ist über ein zustandsorientiertes Instand‐
haltungsmanagement beim Kunden zu erreichen. Ist es dem Abnehmer durch Ad‐hoc‐
Kommunikation und eine fehlende vorausschauende Instandhaltungsstrategie aber
nicht möglich, schon rechtzeitig auf die Lieferzeit ausgerichtete Bedarfe auszulösen, ist
der Lieferant bei Gewährleistung eines qualitativ hochwertigen Services dazu ge‐
zwungen, die Komponente trotz eventuell hoher Kapitalbindungskosten selbst vorzu‐
halten, um lieferfähig zu bleiben. Das wiederum kann zum Überstrapazieren der Puf‐
ferfunktion des Lagers führen. Je nach Größenordnung bedeutet dies ein Aufschau‐
keln der Bestände entlang der Lieferkette. Folglich sind insbesondere OEMs und
Drittanbieter von einer schlechten Prognosequalität betroffen667. Das proaktive Ein‐
wirken auf die Kunden sowie das Obsoleszenz‐ und Auslaufmanagement werden
gehemmt. Daher ist es von signifikanter Wichtigkeit, dass sowohl die Instandhaltung
als auch die Ersatzteillogistik bzw. ‐beschaffung sowohl beim Betreiber selbst als auch
unternehmensübergreifend mit der Technik und Ersatzteildisposition des Lieferanten
kommuniziert. Bereits die Einräumung einer Tracing‐Option für bestellte Ersatzteile
und damit die Gewährleistung der Visibility könnten den geschilderten Problemen
entgegenwirken.
456
6.4
Integrative Sichtweisen und Kooperationen
Ein Hemmnis für das auf organisatorischer Ebene im Netzwerk als bedeutend angese‐
hene Ersatzteilpooling ist die nach wie vor weit verbreitete zentrale Lagerung. Auch
bereits etablierte Netzwerke mit verschiedenen Standorten der Betreiber zum gegen‐
seitigen Aushelfen bei Nichtverfügbarkeit von Ersatzteilen wirken dem Trend entge‐
gen. Mit Zunahme der Komplexität des Ersatzteilmanagements ist allerdings anzu‐
nehmen, dass die Bedeutung von Pooling‐Konzepten weiter steigen wird.
Die Überwindung der angesprochenen Hemmnisse hätte mehrere für alle Akteure
vorteilhafte Entwicklungen zur Folge:
Die Herstellung einer integrierten Sicht und die Bedeutungszunahme von Kooperatio‐
nen verursachen auf der einen Seite eine Zunahme der Komplexität des After Sales
Service, auf der anderen Seite bergen sie jedoch zahlreiche Potenziale, um eine effizi‐
entere Planung der Instandhaltungs‐ und Ersatzteillogistik zu gewährleisten. Eine
457
After Sales und Reverse Logistics
6
notwendige Voraussetzung dafür ist die Schaffung einer nachhaltigen Vertrauensbasis
zwischen allen beteiligten Akteuren, um einen transparenten Austausch der zur Pla‐
nung notwendigen Informationen zu gewährleisten.
458
6.5
Reverse Logistics
Rückstände stellen im jeweiligen Prozess zwangsläufig anfallende Stoffe dar, die nicht
Sachziel der Produktion, der Distribution oder des Konsums sind, und können in
Rückstände zur Beseitigung (Abfälle) sowie in Rückstände zur erneuten Nutzung
(Wertstoffe) unterteilt werden. Rückstände aus Produktionsprozessen sind nicht mehr
verwendbare Roh‐, Hilfs‐, Betriebs‐ und Werkstoffe, Anlagen, Luft‐, Wasser‐ und Bo‐
denemissionen, die aus dem betrieblichen Leistungserstellungsprozess resultieren.
Pack‐, Lade‐ und Fördermittel, beschädigte oder verfallene sowie falsch ausgelieferte
Produkte stellen Rückstände im Distributionsprozess dar. Von dem Konsumenten
nicht mehr gebrauchte bzw. verwendungsfähige Produkte oder Substanzen sind
Rückstände aus Konsumtionsprozessen. Rückstände zur erneuten Nutzung können
einem Recycling zugeführt werden. Großtechnische, industrielle Recyclingprozesse
lassen sich in die Wertschöpfungsstufen Weiter‐ bzw. Wiederverwendung, Aufar‐
beitung sowie werkstoffliche, chemische und thermische Verwertung unterschei‐
den671. Bei einer Wiederverwendung (z. B. Getränkeverpackungen als Mehrweg‐
system) erfolgt eine erneute Verwendung gebrauchter Produkte für den ursprüng‐
lichen Verwendungszweck und bei der Weiterverwendung (z. B. Schlacken im
Bauwesen) werden die gebrauchten Produkte nicht für den ursprünglichen, sondern
für einen davon abweichenden Verwendungszweck eingesetzt. Eine Aufarbeitung
kann durch Remanufacturing, Refurbishing oder eine Reparatur erfolgen672. Beim
Remanufacturing wird das Produkt zunächst vollständig demontiert und inspiziert,
um anschließend defekte Bauteile oder Baugruppen auszutauschen. Nach der Remon‐
tage entspricht das Produkt dem Zustand eines Neuproduktes. Im Rahmen des Refur‐
bishing werden die Produkte ebenfalls demontiert, jedoch nur bis zu einem definierten
Qualitätsniveau unterhalb des Niveaus eines Neuproduktes aufgearbeitet. Da eine
Reparatur meistens nur eine teilweise Demontage umfasst, bei der dann lediglich
defekte Bauteile ausgetauscht werden, liegt sie bzgl. der Qualitätsstufe unterhalb des
Refurbishing. Die Verwertung wird in eine Weiter‐ und Wiederverwertung unterteilt
und kann mechanisch, chemisch oder thermisch erfolgen. Während bei einer Wieder‐
verwertung (z. B. Zerkleinerung von Reifen zur Rohstoffgewinnung) gleiche bzw.
weitgehend gleichwertige Stoffe für einen Wiedereinsatz in der Produktion entstehen,
resultieren aus einer Weiterverwertung (z. B. Herstellung von Stühlen aus verunreinig‐
ten Kunststoffen) Stoffe oder Produkte mit anderen Eigenschaften und/oder anderer
Gestalt für einen anderen Verwendungszweck. Durch eine werkstoffliche Verwertung
werden Werkstoffe auf mechanischem Wege gewonnen. Bei der chemischen Verwer‐
tung stellt der Output Sekundärrohstoffe dar und im Rahmen einer thermischen Ver‐
wertung wird Energie erzeugt. Die höchste Wertschöpfung weist die Primärentsor‐
gung auf, zu der die Weiterverwendung und die Aufarbeitung zählen. Eine niedrigere
Wertschöpfung wird durch eine Sekundärentsorgung erzielt, der eine mechanische,
chemische und thermische Verwertung zuzuordnen sind.
459
After Sales und Reverse Logistics
6
Die Rückwärtsflüsse im Rahmen der Reverse Logistics können anhand des Produktle‐
benszyklus nach dem zeitlichen Anfall in vier Phasen unterschieden werden673. Die
Rückwärtsflüsse umfassen dabei Rohstoffe, Einzelteile, Komponenten und Fertigpro‐
dukte.
Zu diesen Objekten gehören Endprodukte, die nicht in der richtigen Art, in der
richtigen Menge, zur richtigen Zeit oder der richtigen Qualität ausgeliefert wur‐
den und deshalb zurückgeführt werden müssen. Eine Rückführung erfolgt auch,
wenn Produkte mit dem Ziel zurückgegeben werden, einen vorangegangenen
Kaufvertrag zu annullieren. Des Weiteren gehören in diese Kategorie auch com‐
mercial product returns, d. h. Produkte, die im Rahmen von Aktionen mit über‐
höhten Mengen an den Handel ausgeliefert wurden. Die nicht verkaufte Ware
wird nach Ablauf der Aktion wieder zurückgenommen. Auch Sortiments‐
umstellungen oder ‐bereinigungen im Handel führen zu entsprechenden Rück‐
flüssen. Falls sich Produkte bereits im Auslieferungslager beim Hersteller oder
Händler befinden und verspätet Mängel oder Risiken festgestellt werden, dann
müssen diese Produkte zurückgeführt, geprüft und evtl. überarbeitet oder ent‐
sorgt werden.
Weisen Produkte Qualitäts‐, Sicherheitsmängel oder Risiken für die Umwelt auf,
dann erfolgen Rückführungen im Rahmen von Produktrückrufen. Produktrück‐
rufe und Produktwarnungen gehören zu jenen Maßnahmen, zu denen Produkt‐
verantwortliche (z. B. Hersteller, Bevollmächtigte, Importeure, Händler) nach dem
Produktsicherheitsgesetz verpflichtet sind, wenn bekannt geworden ist oder An‐
haltspunkte dafür bestehen, dass die ausgelieferten Produkte eine Gefahr für die
Gesundheit oder die Sicherheit von Dritten darstellen könnte. Ebenso gehören in
460
6.5
Reverse Logistics
diese Kategorie auch Warenrückgaben aufgrund von Mängeln (§ 437 BGB Rechte
des Käufers bei Mängeln) und Warenrückgaben aufgrund des Widerrufs bei
Haustürgeschäften oder Fernabsatzverträgen (§ 312 BGB). Die Rückführung kann
hierbei innerhalb der vom Gesetzgeber eingeräumten Gewährleistungsfrist, bzw.
der vom Hersteller freiwillig eingeräumten Garantiephase erfolgen oder für die
Dauer eines Servicevertrags. Der Hersteller muss in diesem Fall eine Reparatur
direkt beim Kunden bzw. bei sich durchführen oder für Ersatz sorgen. Ungeachtet
dessen finden in diesem Prozess immer Rückflüsse (z. B. die ausgetauschten
Komponenten) statt. Im Rahmen der Instandhaltungslogistik werden oftmals auf‐
grund unklarer Ursachen verschiedene Ersatzteile ausgeliefert oder gelagert. Die
nicht benötigten Ersatzteile sind nach Abschluss der Instandhaltungsmaßnahme
wieder zurückzuführen.
Zu den Objekten, die nach ihrer Nutzung zurückgeführt werden, gehören alle
Endprodukte, die bereits genutzt wurden und nun nicht mehr gebraucht werden
können. In diese Kategorie fallen alle mehrwegfähigen Pack‐, Lade‐ bzw. Förder‐
hilfsmittel, wie z. B. Paletten, Kleinladungsträger oder Produktverpackungen, die
nach der Verwendung zurückgeführt und bei gleichbleibender Qualität sofort
bzw. bei geringen Schäden nach einer Reparatur wiederverwendet werden kön‐
nen. Einwegbehälter werden nach der Rückführung dem Recyclingkreislauf zuge‐
führt. Sofern Produkte zurückgeführt werden, die der bisherige Nutzer nach ei‐
nem befristeten Gebrauch nicht mehr benötigt (z. B. Ausstell‐, Miet‐ oder Lea‐
singprodukte), handelt es sich um End‐of‐use‐Rückführungen. Nach der Rück‐
nahme durch den Hersteller werden diese Produkte – ggf. nach einer Wiederauf‐
arbeitung – einem neuen Nutzer zugeführt. Bei End‐of‐Life‐Rückführungen
handelt es sich um Endprodukte, die ihr technisches oder ökonomisches Lebens‐
ende erreicht haben. Aufgrund gesetzlicher Regelungen (z. B. KrWG) können
Nutzer diese Produkte zurückgeben. Falls gebrauchte Endprodukte für den Her‐
steller noch einen Wert darstellen, sodass diese als Ganzes oder in Teilen wieder‐
hergestellt oder recycelt werden können, dann wird der Hersteller diese Produkte
auch freiwillig zurücknehmen. Auch entsprechende Marketingstrategien (z. B.
Alt‐gegen‐Neu‐Aktionen) führen zu dieser Art von Rückflüssen.
Aus der Betrachtung der Objekte ist ersichtlich, dass diese zum Teil auch der Entsor‐
gungslogistik zugeordnet werden können. Die Entsorgungslogistik umfasst die ganz‐
heitliche Planung, Steuerung, Abwicklung und Kontrolle der Abfallströme und den
dazugehörigen Informationsflüssen und beinhaltet sowohl flussabwärts als auch
flussaufwärts gerichtete Materialströme. Da zwischen den beiden logistischen Subsys‐
temen Reverse Logistics und Entsorgungslogistik Unterschiede zwischen der Fließ‐
richtung und den zu behandelnden Objekten vorliegen, stellt die Entsorgungslogistik
kein Teilgebiet der Reverse Logistics dar (vgl. Abbildung 6‐20). Obwohl sich die Ob‐
jektbereiche der beiden Subsysteme stark überschneiden, gibt es auch Objekte, die nur
461
After Sales und Reverse Logistics
6
der Entsorgungslogistik oder der Reverse Logistics zuzuordnen sind. Nur der Entsor‐
gungslogistik werden diejenigen Rückstände zugeordnet, die im Rahmen eines vor‐
wärtsgerichteten Materialflusses an ein Entsorgungsunternehmen zur Beseitigung
übergeben werden. Ausschließlich Gegenstand der Reverse Logistics sind zurückflie‐
ßende Objekte, die keinen Rückstand darstellen, wie z. B. Miet‐ oder Leasingprodukte,
mehrwegfähige Pack‐, Lade‐, Förderhilfsmittel und commercial returns. Beiden Sub‐
systemen können alle Objekte zugeordnet werden, die für ihre ursprüngliche Bestim‐
mung nicht mehr genutzt werden und zu einer weiteren Verwendung, Verwertung
oder Beseitigung zurückgeführt werden674.
Forward
Forward Logistics
Logistics
Kunden
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Entsorgungslogistik
Wiedereinsatz‐
Wiedereinsatz‐ Aufbereitungs‐
Aufbereitungs‐ Redistributions‐
Redistributions‐
logistik
logistik logistik
logistik logistik
logistik
Reverse
Reverse Logistics
Logistics
Beseitigung Beseitigung
462
6.5
Reverse Logistics
a) Ökonomische Motive
b) Ökologische Motive
463
After Sales und Reverse Logistics
6
über die Umweltverträglichkeit von Produkten (z. B. von Computerherstellern)
und ermahnen einzelne Unternehmen für ihre unzureichenden Recyclingmaß‐
nahmen. Durch eine Erhöhung der Recyclingraten aufgrund entsprechender Pro‐
duktrückführungen und eine geordnete Beseitigung tragen Unternehmen zu ei‐
nem umweltbewussten Wirtschaften im Sinne des Ressourcen‐ und Emissions‐
ziels bei und stärken somit die Kundenzufriedenheit676.
c) Rechtliche Motive
464
6.5
Reverse Logistics
465
After Sales und Reverse Logistics
6
6.5.2.1 Redistributionslogistik
Aufgabe der Redistributionslogistik ist die Aufnahme der in der Versorgungslogistik
sowie der beim Endkunden angefallenen Rückstände, um sie dem System der Entsor‐
gungslogistik verfügbar zu machen. Die Redistribution ist der erste Schritt innerhalb
eines Recyclingkonzepts zur Erfassung von Rückständen, die nach einer Sammlung
und Trennung der Verwertung, oder falls dies technisch oder wirtschaftlich nicht
sinnvoll ist, der Beseitigung zugeführt werden. Ziel eines Redistributionssystems ist
die Erfüllung eines zuvor festgelegten Erfassungsgrades der zu sammelnden Rück‐
stände. Hierzu ist die Einhaltung eines Sammelrhythmus notwendig, der ein Nicht‐
überschreiten des Lagerplatzbedarfs der Rückstände gewährleistet und evtl. beste‐
hende Verfallsdaten bzw. Verderblichkeiten beachtet. Weiterhin müssen durch die
Redistribution kontinuierlich hinreichend Rückstände verfügbar sein, um Demontage‐
und Verwertungsanlagen mit einer hohen Auslastung betreiben zu können679.
466
6.5
Reverse Logistics
werden. Nachteile ergeben sich durch den hohen Koordinationsaufwand und den
ineffizienten Transport aufgrund der geringen Transportmengen. Die nicht‐synchrone
Sammlung kann regelmäßig oder unregelmäßig durchgeführt werden. Eine regelmä‐
ßige Sammlung ist dann geeignet, wenn an den Quellen der Rückstände ausreichende
Lagermöglichkeiten vorhanden sind, sodass ein Sammelzyklus abgewartet werden
kann. Eine unregelmäßige Sammlung wird dann angestoßen, wenn die Lagerkapazitä‐
ten an den Anfallstellen erschöpft sind oder Wiederaufbereitungsanlagen Rückstände
zur Erzeugung von Sekundärrohstoffen anfordern. Weiterhin lassen sich bei der Art
der Sammlung ein Bring‐ und ein Hol‐Prinzip unterscheiden. Beim Bring‐System
übernimmt der Abfallerzeuger die Anlieferung der Rückstände zur Sammelstelle.
Diese Vorgehensweise eignet sich bei kurzen Transportwegen, einer hohen Anzahl von
Rückstandsquellen oder bei einer geringen Rückstandsmenge pro Quelle. Während
bei einem einstufigen Bring‐System ein direkter Transport zu den Wiederauf‐
bereitungsanlagen erfolgt, ist bei einem mehrstufigen Bring‐System noch ein Lager
zwischengeschaltet, in dem die Rückstände erst gesammelt und anschließend zu den
Wiederaufbereitungsanlagen transportiert werden.
Hol‐Bring‐System Bring‐Hol‐System
A
A
A Z A A
A Demontage/Aufarbei‐ Demontage/Aufarbei‐
tung/Verwertung tung/Verwertung
A Z
Z
A A
A
A
A: Abfallquelle Z: Zwischenlager
467
After Sales und Reverse Logistics
6
Da bei einer Sammlung nach dem Hol‐Prinzip die Rückstände durch Sammel‐
fahrzeuge abgeholt werden, ist im Vergleich zum Bring‐Prinzip die Rückführungs‐
quote wesentlich höher. Allerdings erhöht sich durch die notwendige mengenmäßige
Erfassung der Rückstände und die anschließende Tourenplanung der Sammelfahr‐
zeuge der Planungsaufwand. Analog zum Bring‐ kann auch das Hol‐Prinzip ein‐ oder
mehrstufig durch Einbeziehung eines Zwischenlagers umgesetzt werden. Mehrstufige
Bring‐ und Hol‐Systeme lassen sich auch kombinieren, sodass zwischen Bring‐Hol‐
Systemen und Hol‐Bring‐Systemen unterschieden werden kann (vgl. Abbildung 6‐21).
a) Sortenreine Sammlung
Bei der sortenreinen Sammlung werden die Rückstände bereits an der Quelle der
Entstehung getrennt gesammelt. Diese Methode bietet die besten Voraus‐
setzungen für eine hohe Wiedereinsatzquote. Allerdings entsteht ein hoher orga‐
nisatorischer Aufwand, verbunden mit hohen Anforderungen an die Nutzer, und
die unterschiedlichen Sammelbehälter für jede Rückstandsart erhöhen die Kosten
sowie den Platzbedarf. Da ein getrenntes Entleeren der verschiedenartigen Behäl‐
ter notwendig ist, erfolgen Transportprozesse oftmals mit geringen Mengen je
Rückstandsart.
Die Sammlung aller Rückstände erfolgt ohne sortenreine Trennung in einem oder
mehreren Behältern an den Anfallstellen. Da keine nachträgliche Trennung er‐
folgt, wird auf eine Gewinnung von Sekundärrohstoffen verzichtet. Weiterhin
muss mit hohen Entsorgungskosten gerechnet werden, da sie sich nach der Rück‐
standsart mit dem größten Gefährdungspotenzial richten. Als weiterer Nachteil
468
6.5
Reverse Logistics
Die Lagerung dient der Zeitüberbrückung und somit dem Ausgleich von Mengen‐
schwankungen. Durch eine Zwischenlagerung können wirtschaftliche Transportlos‐
größen ermöglicht, aber auch Demontage‐, Aufarbeitungs‐ und Aufbereitungsanlagen
mit stets hoher Auslastung betrieben werden. Rückstände können in getrennten oder
gemeinsamen Lagerzonen gelagert werden. Durch getrennte Lagerzonen wird ein
Vermischen von Rückständen vermieden, jedoch ein höherer Platzbedarf benötigt. In
einer gemeinsamen Lagerzone werden Rückstände unabhängig ihrer Art gemeinsam,
jedoch in getrennten Behältern gelagert, sodass ein geringerer Platzbedarf entsteht. Bei
der Lagerung von Rückständen sind allgemeine Sicherheitsbestimmungen, wie z. B.
automatische Feuermelder, Vorrichtungen zur Brandbekämpfung, Belüftungen, Gas‐
melder, maximale Lager‐ und Stapelhöhen, Fluchtpläne und die Aufklärung der Mit‐
arbeiter für ein richtiges Handeln im Notfall, zu beachten. Des Weiteren müssen feste,
pastöse und flüssige Rückstände gesondert gelagert werden (Zusammenlagerungs‐
verbote), Rückstände im Lager sollen ein bestimmtes Volumen nicht überschreiten
(Mengenschwellenkontrolle) und im Falle eines Brandes soll verhindert werden, dass
durch das Löschwasser Rückstände in den Boden gelangen und zu Umweltschäden
führen. Rückstände, die als Gefahrstoffe eingestuft werden, d. h. die explosionsgefähr‐
lich, brandfördernd, hochentzündlich, gesundheitsschädlich und umweltgefährlich
sind, müssen als solche gekennzeichnet sein. Die Lagerhaltung kann in Erwartung
steigender Marktpreise für Rückstände oder Sekundärrohstoffe eine Spekulations‐
funktion übernehmen, um diese nach einer Zwischenlagerung später gewinnbringend
zu veräußern. Sicherheitsbestände sind nur dann wichtig, wenn für die gewonnenen
Sekundärrohstoffe eine entsprechende Nachfrage am Markt existiert, sodass deren
Anlieferung im Rahmen der Wiedereinsatzlogistik den Anforderungen der Kunden an
Primärrohstoffe genügt.
Eine Verpackung dient als Hülle für das Packgut und erfüllt die Logistik‐, Kommuni‐
kations‐, Schutz‐ und Conveniencefunktion. Im Rahmen der Logistikfunktion unter‐
stützt die Verpackung die Bildung von logistischen Einheiten, um eine effiziente Ge‐
staltung des Transportprozesses zu ermöglichen. Durch die Kommunikationsfunktion
erfolgt eine Kennzeichnungspflicht, sodass der Inhalt der Verpackungen, insbesondere
bei Gefahrstoffen, eindeutig zu deklarieren ist. Eine Verpackung muss einen wir‐
kungsvollen Schutz für Mensch und Umwelt darstellen, aber auch das Packgut selbst
vor Schäden und Einflüssen aus der Umwelt schützen. Verbessert eine Verpackung die
Handhabbarkeit, wobei gleichzeitig die Umwelt weniger belastet wird, so erfüllt sie
die Conveniencefunktion. Diese Anforderungen erfüllen beispielsweise Mehrwegver‐
packungen. Eine anforderungsgerechte Auswahl der Verpackung hängt von der Art
der Rückstände, vom Aggregatzustand, Gewicht und Umfang, einer möglichen Ge‐
469
After Sales und Reverse Logistics
6
fährdung für Mensch und Umwelt sowie der Anfallhäufigkeit ab. Zur Erfüllung der
Logistik‐ und Schutzfunktion müssen die Verpackungen von den Mitarbeitern sachge‐
recht behandelt werden.
6.5.2.2 Aufbereitungslogistik
Die Aufbereitungslogistik schließt sich als nachfolgendes Subsystem unmittelbar an
die Redistributionslogistik an und umfasst die Planung, Steuerung und Überwachung
der Material‐ und Informationsflüsse sowie der Transformationsprozesse zur Rück‐
gewinnung von Komponenten und Materialien in den Aufbereitungsanlagen682. Die
Transformationsprozesse erfolgen in Form von Demontage‐, Aufbereitungs‐ und Ver‐
wertungsprozessen. Für die erreichbare Qualität aus den Aufbereitungsanlagen muss
bereits in der Entwicklungsphase von Produkten deren Recyclingfähigkeit sicherge‐
stellt werden, um Aufbereitungs‐ und Verwertungsmaßnahmen leichter und kosten‐
günstiger durchführen zu können. Nur so ist ein einfaches Recycling mit einem hohen
Verwertungsgrad am Ende der Produktlebensdauer gewährleistet. Das Recycling lässt
sich in ein Produkt‐ und ein Materialrecycling unterscheiden. Das Produktrecycling
umfasst die Demontage von Altgeräten sowie die Verwendung und Wiedereinsteue‐
rung der gewonnenen Teile zum Zweck der Altteilegewinnung. Werden nach einer
Demontage die Komponenten von Altgeräten nicht verwendet sondern verwertet, so
wird ein Materialrecycling durchgeführt. Ziel des Materialrecyclings ist es, Rückstän‐
de zur weiteren Nutzung in marktfähige Sekundärrohstoffe zu überführen und für
Produktionsprozesse nutzbar zu machen.
470
6.5
Reverse Logistics
Die Demontage dient der Trennung von Bauteilen oder Baugruppen mit dem Ziel der
Verwendung bzw. – falls dies nicht möglich ist – der Verwertung dieser Teile und
sollte möglichst ohne zerstörende Aktivitäten durchgeführt werden, um eine hohe
Teilezahl verwenden zu können. Eine Demontage wird immer dann angewendet,
wenn ein Recycling des Produktes im Ganzen nicht möglich ist, weil es beispielsweise
nicht verwertbare Materialien enthält oder aus verschiedenen und getrennt zu behan‐
delnden Stoffen besteht. Durch eine Demontage können Gefahrstoffe von den restli‐
chen Stoffen getrennt und umweltverträglich entsorgt, die Menge der zu beseitigen‐
den Rückstände reduziert und Ersatzteile gewonnen werden. Für die Sortenreinheit
der aufzubereitenden Wertstoffe ist die Tiefe der Demontage ausschlaggebend. Je
größer die Zerlegungstiefe, d. h. je mehr Einzelteile und Materialien isoliert werden,
desto höher kann der Verwertungsgrad des Altgerätes sein. Mit höherem Verwer‐
tungsgrad sinkt die Menge der zu beseitigenden Rückstände. Der Zerlegungsgrad der
Demontage wird durch die Anforderungen der Sekundärfertigung, die eine Aufarbei‐
tung bzw. Verwertung oder eine Beseitigung beinhaltet, bestimmt683. Die Art und
Tiefe der Demontage wird von gesetzlichen Vorschriften, der Nachfrage auf dem Se‐
kundärrohstoffmarkt, dem technischen Know‐how, den eigenen Verwertungszielen
über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus sowie von Kostenaspekten beeinflusst.
Die Demontage ist durch einen hohen Anteil an zeitintensiven und manuellen Arbei‐
ten gekennzeichnet, die gegenüber einer automatischen Demontage eine höhere Flexi‐
bilität besitzt. Bei einer Teil‐ bzw. Vollautomatisierung der Demontage gilt es die Fle‐
xibilität der manuellen Demontage mit den Rationalisierungsmöglichkeiten einer
Automatisierung sinnvoll zu verbinden. Aufgrund der Vielzahl der Produkte und der
oftmals unzureichenden Produktinformationen ist menschlicher Arbeitseinsatz derzeit
unverzichtbar. Zur Umsetzung einer durchlaufzeitoptimalen und bestandsarmen
Sekundärfertigung sind geeignete Materialbereitstellungs‐ und Steuerungskonzepte
sowie logistische Flussstrategien notwendig. Somit sollten Maßnahmen angestrebt
werden, mit denen die Flexibilität der Anlagen erhöht, Rüstzeiten reduziert sowie
Losgrößen und Kapazitäten harmonisiert werden684.
471
After Sales und Reverse Logistics
6
Gefahrstoffen eingesetzt, um ihre Umweltschädlichkeit zu mindern oder gar zu besei‐
tigen. So wird beispielsweise bei Leuchtstoffröhren das Leuchtmittel physikalisch
entfernt, um danach mit chemischen Verfahren das umweltschädigende Quecksilber
abzuscheiden. Falls eine stoffliche Verwertung nicht möglich ist, dann werden im
Rahmen eines thermischen Recycling die Rückstände zur Beseitigung verbrannt und
die freiwerdende Energie zur Erzeugung von Strom, Prozessdampf und Fernwärme
weiter genutzt. Durch ein thermisches Recycling erfolgt eine Volumen‐ und Mengen‐
reduktion, die Möglichkeit der Ablagerung ohne Umweltbeeinträchtigung und die
Verringerung des Schadstoffpotenzials. Abfallverbrennungsanlagen können in Haus‐
müllverbrennungsanlagen zur Beseitigung von Hausmüll und hausmüllähnlichem
Gewerbemüll, in Klärschlammverbrennungsanlagen zur Verbrennung von Klär‐
schlammtrockensubstanzen und in Sonderabfallverbrennungsanlagen zur Verbren‐
nung von Sonderabfällen unterschieden werden. Eine wirtschaftliche Energieerzeu‐
gung wird von der Sortenreinheit der Rückstände zur Beseitigung, von wirtschaftli‐
chen Mindestmengen, einem hohen Nutzungsgrad der Verbrennungsanlage und der
Möglichkeit zur Abgabe nicht benötigter Energie beeinflusst.
Sofern eine Verwertung nicht möglich ist, müssen Rückstände zur Beseitigung vorbe‐
handelt und anschließend deponiert werden. Eine Deponie stellt eine Abfallentsor‐
gungsanlage dar, die zur zeitlich unbegrenzten, geordneten und kontrollierten Abla‐
gerung von Abfällen dient. Verdichtungsdeponien nehmen unbehandelte Siedlungs‐
abfälle und hausmüllähnlichen Gewerbemüll auf, wobei die Abfälle in Schichten von
1,4 bis 2 Meter verdichtet werden. Bei Rottedeponien werden die Rückstände zur Be‐
seitigung zunächst zerkleinert, mit Klärschlamm vermischt und vier bis sechs Wochen
gelagert sowie anschließend verdichtet. Ballendeponien lagern ausschließlich den zu
Ballen gepressten Hausmüll und hausmüllähnlichen Gewerbemüll ein. Monodeponien
nehmen nur eine Abfallart zur Endlagerung auf. Rückstände zur Beseitigung, für die
eine geringe Wahrscheinlichkeit einer Reaktion mit der Umwelt vorliegt (z. B. Bau‐
schutt), können auf Inertdeponien endgelagert werden. Falls bei Rückständen zur
Beseitigung besonders auf die Sicherheit für Mensch und Umwelt zu achten ist, dann
muss eine Einlagerung auf Sonderabfalldeponien erfolgen686.
6.5.2.3 Wiedereinsatzlogistik
Die Prozesskette der Wiedereinsatzlogistik schließt sich direkt an die Aufbereitungs‐
logistik an und ist für die logistischen Vorgänge der Vermarktung der Sekundär‐
rohstoffe verantwortlich. Im Rahmen der Wiedereinsatzlogistik werden die aus der
Aufbereitungslogistik hervorgehenden und aufbereiteten Produkte, Baugruppen,
Einzelteile, Werk‐ und Rohstoffe für eine erneute Verwendung innerhalb des Wirt‐
schaftskreislaufs eingesetzt. Sie stellt das letzte fehlende Bindeglied dar, um den Kreis‐
lauf zwischen Versorgungs‐ und Entsorgungslogistik zu schließen. Sekundärrohstoffe
werden bei den Verwertungsbetrieben abgeholt und anforderungsgerecht dem Her‐
472
6.5
Reverse Logistics
Bei der Wiedereinsatzlogistik sind die Schnittstellen zur Aufbereitungslogistik, die als
Beschaffungsmarkt für Sekundärrohstoffe und ‐güter dient, als auch zum Beschaf‐
fungsmarkt für Primärrohstoffe und ‐güter effizient und effektiv zu gestalten687. Die
Wiedereinsatzlogistik ist für die zeit‐ und qualitätsgerechte Versorgung der Primär‐
produktion mit Kreislaufstoffen verantwortlich, sodass zu ihrem Aufgabenumfang die
Organisation und Steuerung des physischen Stoffflusses, die Beschaffungsmarktfor‐
schung, das Lieferantenmanagement sowie Maßnahmen zur Qualitätssicherung gehö‐
ren.
Die Wiedereinsteuerung ist jedoch auch mit Problemen verbunden. Aufgrund der
immer kürzeren Innovations‐ und Produktlebenszyklen werden Produkte schon nach
kurzer Zeit durch neue ersetzt und die Altgeräte müssen entsprechend recycelt oder
entsorgt werden. Durch die fortschreitende Technik ist eine Wiederverwendung der
einzelnen Bauteile als Sekundärrohstoffe oftmals nur schwer möglich. Die Kunden
fragen die neuesten Technologien nach, sodass der Bedarf an aufbereiteten Bauteilen
gering ist. Ein weiteres Problem stellt der Trend zu sinkenden Preisen auf dem Sekun‐
därrohstoffmarkt dar. Da das Angebot an Sekundärrohstoffen zunehmend steigt, be‐
steht eine Tendenz zu einer Verschlechterung der Wirtschaftlichkeit.
6.5.3 Entsorgungsnetzwerke
Das Aufgabenspektrum der Entsorgungslogistik wird i. A. nicht von einzelnen Unter‐
nehmen, sondern von Entsorgungsnetzwerken übernommen. Unter einem Entsor‐
gungsnetzwerk wird ein Netzwerk verschiedener Unternehmen mit dem Ziel der
Sammlung, Verwendung und Verwertung von Rückständen verstanden. Entsor‐
473
After Sales und Reverse Logistics
6
gungsnetzwerke sind Zusammenschlüsse von mehreren Unternehmen, die zumeist
rechtlich selbstständig, aber wirtschaftlich miteinander verbunden sind, um langfristi‐
ge Erfolgspotenziale zu erschließen. Durch Kooperationen mit festen Partnern entste‐
hen transparente Stoffflüsse, die nachhaltig eine kontinuierliche Versorgung des Un‐
ternehmens sicherstellen. Die Partner können horizontal, vertikal oder lateral inte‐
griert sein. In solchen Netzwerkstrukturen ist es möglich, sowohl die Beschaffungs‐ als
auch die Entsorgungskosten dauerhaft und nachhaltig zu senken, da die bei einem
Unternehmen anfallenden Kuppelprodukte und Rückstände wertvolle Rohstoffe für
ein anderes Unternehmen darstellen. Ein Austausch dieser Stoffe zwischen den betref‐
fenden Partnern schafft eine dauerhafte Win‐Win‐Situation. Die Optimalität des Ge‐
samtsystems kann jedoch nur gewährleistet werden, wenn nicht nur Insellösungen
optimiert, sondern vielmehr gesamtoptimale Lösungen angestrebt werden. Somit
sollen Rückstände nicht nur zum alleinigen Nutzen zweier Systemteilnehmer ausge‐
tauscht werden. Es muss die beste Verwendung der Rückstände innerhalb des Ge‐
samtsystems bestimmt werden, um im Sinne der ökologischen Zielstellung die beste
Verwertungsalternative zu realisieren.
Als Akteure in einem Entsorgungsnetzwerk lassen sich gemäß KrWG (§ 3 Abs. 8–13)
Erzeuger, Besitzer, Sammler, Beförderer, Händler und Makler von Abfällen unter‐
scheiden. Hersteller, die aufgrund der Produktverantwortung für ihre Altprodukte
verantwortlich sind, werden als Erzeuger bezeichnet. Als Sammler von Abfällen treten
kommunale oder halbkommunale sowie rein privatwirtschaftliche Recyclingdienst‐
leister auf. Je nach Übernahme von Aufgaben können Recyclingdienstleister auch
Beförderer sein, sowie Makler, welche eine Bewirtschaftung von Abfällen Dritter
übernehmen oder Händler, die in eigener Verantwortung Abfälle erwerben und wei‐
terveräußern. Da Besitzer und Beförderer i. d. R. innerhalb des Prozesses der Bewirt‐
schaftung von Abfällen wechseln, kommen alle oben genannten Akteure in Frage688.
Ein weiterer Akteur von Entsorgungsnetzwerken ist oftmals ein fokales Unternehmen,
das einem Recyclingnetzwerk vorsitzt und die Kontakte zum Hersteller und somit
zum Auftraggeber des Netzwerkes unterhält689. Die Koordination von Entsorgungs‐
netzwerken kann entsprechend den Theorien zur Netzwerkbildung marktlich, d. h.
ohne zentrale Stelle und nur durch Zusammenarbeit der Teilnehmer, oder hierar‐
chisch, d. h. durch eine die Gesamtkoordination übernehmende Stelle, erfolgen.
474
6.5
Reverse Logistics
sich Hersteller von Dritten unterscheiden690. Für die folgende Charakterisierung der
Entsorgungsnetzwerke werden die Kreislaufwirtschaftsoptionen in zwei Gruppen
unterteilt. Die erste Gruppe (D‐A‐V) umfasst die Demontage (D), die mechanische
Aufarbeitung (A) und die stoffliche Verwertung (V) und die zweite Gruppe (R) das
Remanufacturing, Refurbishment und die Reparatur. In der Praxis lassen sich auf‐
grund dieser Einteilung die folgenden Typen unterscheiden:
Bei dieser Art von Entsorgungsnetzwerken stehen bei der Durchführung von
D‐A‐V‐Aktivitäten wirtschaftliche Gründe im Vordergrund. Die zu erzielenden
Gewinnmargen hängen sehr stark von den zu erzielenden Rohstoffpreisen ab. Da
in Zukunft aufgrund der Knappheit der Rohstoffressourcen mit steigenden Roh‐
stoffpreisen gerechnet werden kann, wird dieser Entsorgungsnetzwerktyp zu‐
künftig an Bedeutung gewinnen.
475
After Sales und Reverse Logistics
6
Beispiele 6.4.1:
b) Die Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland GmbH (DSD) wurde 1990 in
Folge der Verpackungsverordnung (VerpackV) gegründet und ist heute ein füh‐
render Anbieter von Rücknahmesystemen. Unter einem dualen Entsorgungs‐
system wird ein zweites von der Wirtschaft getragenes Abfallerfassungssystem
außerhalb der öffentlich‐rechtlichen Abfallentsorgung verstanden. Die angebote‐
nen Dienstleistungen umfassen neben der haushaltsnahen Sammlung und Ver‐
wertung von Verkaufsverpackungen das umweltfreundliche und wirtschaftliche
Recycling von Elektro‐ und Elektronikaltgeräten sowie von Transportverpack‐
ungen, die Standortentsorgung und das Pfandclearing. Die Aufgaben der Samm‐
lung, Sortierung und Verwertung von gebrauchten Verkaufsverpackungen wer‐
den über die Entgelte der am DSD beteiligten Hersteller finanziert. Die zu bezah‐
lenden Entgelte werden proportional zum Gewicht berechnet. Die DSD mit
Verwaltungssitz in Köln verwertet jährlich ca. 2.000.000 Tonnen an Verpackungs‐
abfällen. Aufgrund der angebotenen Dienstleistungen kann die DSD als rechtlich
getriebenes D‐A‐V‐Entsorgungsnetzwerk bezeichnet werden.
476
6.5
Reverse Logistics
kann RENE als ein ökonomisch getriebenes, von Dritten dominiertes (R)‐
Entsorgungsnetzwerke bezeichnet werden.
d) Das European Advanced Recycling Netzwork (EARN) wurde zur Erfüllung der
Waste Electrical and Electronic Equipment (WEEE) Richtline gegründet. Die fünf
am Entsorgungsnetzwerk beteiligten Unternehmen Coolrec BV (Eindhoven), Eco‐
tronics (Wien), Electrocycling GmbH (Goslar), Indumetal Recyclings S. A. (Bilbao)
und Stena Technoworld AB (Göteburg) werden durch das fokale Unternehmen
EARN Elektroaltgeräte GmbH gesteuert. Das Entsorgungsnetzwerk EARN führt
für Elektro‐ und Elektronikaltgeräte eine manuelle Zerlegung, eine mechanische
Aufbereitung, die Ersatzteilversorgung durch die Rückführung von recycelten
Produkten bzw. Materialien, eine Beratung bzgl. einer recyclinggerechten Kon‐
struktion von Neuprodukten und eine Verwertung durch. EARN unterhält dazu
15 Verwertungsanlagen in Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Nieder‐
lande, Belgien, Deutschland, Polen, Österreich, Spanien, Großbritannien und
Frankreich. Durch das angebotene Dienstleistungsspektrum kann EARN als ein
rechtlich getriebenes D‐A‐V‐Entsorgungsnetzwerk typisiert werden.
a) Fehlende Logistikstrategie
477
After Sales und Reverse Logistics
6
die Möglichkeit der Kostensenkung nicht systematisch genutzt werden694.
Dadurch wird das strategische Potenzial der Logistik von vielen Entsorgungs‐
unternehmen zu wenig erkannt oder unterschätzt.
478
6.6
Literaturhinweise
6.6 Literaturhinweise
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After Sales und Reverse Logistics
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After Sales und Reverse Logistics
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484
Stichwortverzeichnis
A ‐ Definitionen 214
‐ direktes 225
Abfallverbrennungsanlagen 472 ‐ Entwicklungsgeschichte 212
Abwicklungsqualität 186 ‐ Erfolgsfaktoren 252
Additive Fertigung 24, 437 ‐ externes 225
AEO 375 ‐ funktionales 225, 228
After‐Sales‐Logistik 389 ‐ generisches 225, 228
After Sales Management 384 ‐ Gründe 220
‐ Aufgabe 384 ‐ Implementierung 250
Agilität 333 ‐ indirektes 225
After Sales Service 384 ‐ Informationsquellen 237
‐ Leistungen 385 ‐ internes 225, 226
‐ Leistungsangebote 388 ‐ Konzept 211
‐ Leistungsebenen 388 ‐ Objekt 226, 230, 233
‐ Nutzenpotenziale 385 ‐ Partner 237
Assembly Postponement 257 ‐ Team 236
Auditierung 199 ‐ wettbewerbsorientiertes 225, 227
Aufarbeitung 459, 471 ‐ Zyklus 232
‐ Refurbishing 459 Beschaffungslogistik 14
‐ Remanufacturing 459 Bullwhip‐Effekt 92
‐ Reparatur 459 ‐ Quantifizierung 98
Aufbereitungslogistik 22, 470 ‐ Ursachen 94
Ausfallrate 399, 405
Ausfallwahrscheinlichkeit 399 C
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 485
R. Lasch, Strategisches und operatives Logistikmanagement: Prozesse,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-40908-1
Stichwortverzeichnis
D Ersatzteildistribution 439
Ersatzteile 411
‐ Austauschteil 412
Data Mining 126 ‐ Fremdersatzteil 412
Datensammlung 242 ‐ Originalersatzteil 412
Demand Network Management 66 Ersatzteillogistik 20, 411
Demontage 471 ‐ Besonderheiten 414
Deponie 472 ‐ Definition 412
Dezentralität 337 Ersatzteilversorgung 416
Differentialbauweise 283 ‐ Akteure 416
Digitalisierung 24, 338 ‐ Strategien 433
Distributionslogistik 18 Erstausrüstungsangebot 451
Durchlaufzeit‐Lücke 420
E F
486
Stichwortverzeichnis
Governance‐Modi 77 K
Grenzverteilung 403
Kennzahlen 134
H ‐ Anforderungen 135
‐ Funktionen 134
House of Quality 188 Kennzahlensystem 153
Kleinteile 412
Kollaboration 336
I Komplexität 271
‐ Auswirkungen 274
Informationsbereitschaft 41 ‐ Definition 272
Input 112, 117 ‐ Dimensionen 272
Installed Base Data 452 ‐ Kosten 274
Instandhaltung 389, 390 ‐ Ursachen 273
‐ Integration mit der Komplexitätsbeherrschung 278
Ersatzteillogistik 445 Komplexitätsfalle 276
‐ Ziele 390 Komplexitätskosten 275
Instandhaltungskosten 391 ‐ einmalig 275
‐ direkt 391 ‐ fortlaufend 275
‐ indirekt 391 ‐ irreversible 275
Instandhaltungslogistik 409 Komplexitätsmanagement 278, 279
‐ Aufgaben 410 ‐ 4‐Phasen‐Modell 294
Instandhaltungsmanagement 390 ‐ ganzheitliches 280, 294
‐ Aufgaben 390 ‐ i. e. S. 280
Instandhaltungsmaßnahmen 390 Komplexitätsreduktion 278
‐ Inspektion 390 Komplexitätsstrategien 277, 278
‐ Instandsetzung 390 Komplexitätstreiber 273
‐ Verbesserung 390 ‐ extern 273
‐ Wartung 390 ‐ intern 273
Instandhaltungsplanung 399 Komplexitätsvermeidung 278
Instandhaltungsstrategie 392 Kundenbereinigung 285
‐ reaktiv 393 Kundenorientierung 35
‐ voraussagend 396
‐ zeitabhängig 394 L
‐ zustandsabhängig 394
Integralbauweise 283
ISO/PAS 372 Labeling Postponement 257
ISPS 373 Lagerung 469
Lean Management 337
Leistungslücke 244
‐ Ursachen 246
Leistungsniveau 246
487
Stichwortverzeichnis
488
Stichwortverzeichnis
489
Stichwortverzeichnis
490
Stichwortverzeichnis
U ‐ biologisch 471
‐ chemisch 459
‐ chemisch‐physikalisch 471
Übergangsmatrix 401 ‐ thermisch 459, 471
Übergangswahrscheinlichkeit 401 ‐ Weiterverwertung 459
Überlebenswahrscheinlichkeit 399 ‐ werkstofflich 459
Umschlag 470 ‐ Wiederverwertung 459
Unternehmenskomplexität 273
‐ autonom 273
‐ korreliert 273 W
Unternehmenslogistik 13
Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen 154 Wertschöpfung 114
Wertschöpfungsnetzwerk 57
V ‐ Merkmale 58
‐ Typologie 60
Wettbewerbsorientierung 36
Variantenentstehungspunkt 291 Wiedereinsatzlogistik 22, 472
Variantenmanagement 279 Wiederverwendung 439
Vendor Managed Inventory 303
Verpackung 469
Verschleißteile 411 Z
Versorgungslogistik 13
Versorgungsstrategien 435 Zeitorientierung 37
Vertrag 449 Zielkostenindex 146
‐ leistungsbasiert 450 Zustandsverteilung 401
‐ materialbasiert 450 ‐ stationär 403
Verwendung 459 Zuverlässigkeitsfunktion 399
‐ Weiterverwendung 459 Z‐Diagramm 247
‐ Wiederverwendung 459
Verwertung 459
491