Sie sind auf Seite 1von 102

Mit dem eigenen Charakter umgehen

Karl König

E-Book-Version by SportFreund23
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
König, Karl:
Mit dem eigenen Charakter umgehen / Karl König. -
Düsseldorf; Zürich: Walter, 2001
ISBN 3-530-40117-X
c 2001 Patmos Verlag GmbH & Co. KG
Walter Verlag, Düsseldorf und Zürich
Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks
sowie der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten.
Umschlaggestaltung:Groothuis & Consorten, Hamburg
Satz:Fotosatz Moers, Mönchengladbach
Druck: Wiener Verlag, A-Himberg
ISBN 3-530-40117-X
www.patmos.de

2
Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 5

2 Die verschiedenen Ausprägungen des Charakters 9


2.1 Schizoide Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.2 Narzißtische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.3 Depressive Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.4 Zwanghafte Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
2.5 Phobische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.6 Hysterische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3 Sexualität und Charakter 33


3.1 Schizoide Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3.2 Narzißtische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3.3 Depressive Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3.4 Zwanghafte Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3.5 Phobische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.6 Hysterische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

4 Persönlichkeitsstruktur und Dominanz 39

5 Zum Umgang mit Nähe 43

6 Fixierung auf die Zweierbeziehung 47

7 Kontaktaufnahme, Kontaktgestaltung, Kontaktbeendigung 49

8 Zum Umgang mit interpersonellen Konflikten 55

9 Geld und die Spielarten des Charakters 59


9.1 Schizoide Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
9.2 Narzißtische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
9.3 Depressive Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
9.4 Zwanghafte Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
9.5 Phobische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
9.6 Hysterische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

10 Krisen und Persönlichkeit 65

3
11 Zum Umgang mit Trennung 67
11.1 Schizoide Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
11.2 Narzißtische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
11.3 Depressive Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
11.4 Zwanghafte Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
11.5 Phobische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
11.6 Hysterische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

12 I.ernen und Persönlichkeit 75

13 Freizeit und Charakter 79


13.1 Schizoide Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
13.2 Narzißtische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
13.3 Depressive Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
13.4 Zwanghafte Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
13.5 Phobische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
13.6 Hysterische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

14 Charakterstruktur und der Umgang mit Kindern 87

15 Kombinationen der verschiedenen Charakterstrukturen 95

16 Schlußbemerkung 99

Literatur 100

4
Kapitel 1

Einleitung

Unter "Charakter" kann man sich verschiedenes vorstellen. Wenn man von jemandem
sagt, er "habe Charakter", meint man damit, daß er oder sie sich nach festen, ethisch
hochwertigen Prinzipien richtet. Entsprechend bezeichnet "charakterlos" das Gegen-
teil. Wenn man sagt, jemand sei "ein Mensch mit Charakter", versteht man darunter,
daß er "eine ausgeprägte Persönlichkeit besitzt".
In diesem Buch verstehe ich unter "Charakter", etwas anderes, nämlich die für
einen Menschen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen. Statt "Charakter" kann
man auch "Persönlichkeit" sagen. Der Begriff "Persönlichkeit" ist aber weiter gefaßt
und bezeichnet auch die Geschlechtseigenschaften von Männern und Frauen, während
der Begriff "Charakter" meist geschlechtsneutral gebraucht wird.
An der Entstehung des Charakters sind Vererbung und Umwelt beteiligt. Zu wel-
chen Anteilen, weiß man noch nicht genau.
Als gesichert kann gelten, daß unser Erbgut einen Einfluß darauf hat, wie wir mit
Erfahrungen in der Kindheit und auch im späteren Leben umgehen. Unsere Interaktio-
nen mit der Umwelt prägen den Charakter und haben einen Einfluß darauf, wie wir in
der Folgezeit mit der Umwelt interagieren.
Bekanntlich sind Kinder formbarer als Erwachsene; deshalb haben die ersten Le-
bensjahre den größten Einfluß auf die Charakterentwicklung. Der Charakter ändert
sich aber auch im Erwachsenenalter; zum Beispiel kann als sicher gelten, daß sich
manche Charakterzüge im Alter stärker ausprägen.
Von der aktuellen Lebenssituation hängt ab, welche Charaktereigenschaften akti-
viert werden oder in den Vordergrund treten. So kann jemand, der nicht besonders auf
Ordnung und Pünktlichkeit achtet, dies dennoch tun, wenn er in ein Land kommt, wo
weniger Pünktlichkeit und Ordnung herrscht als bei uns in Mitteleuropa.
Es gibt mehrere psychoanalytische Charaktertypologien. Die Psychoanalyse be-
faßt sich vorwiegend mit den Umwelteinflüssen auf die Charakterentwicklung. Hier
wähle ich eine Einteilung der Charaktere, die Bezug zu den Neurosen hat: zur schi-
zoiden Neurose, zur narzißtischen Neurose, zur neurotischen Depression, zur Zwangs-
neurose, zur Phobie und zur Hysterie. Diese Typologie ist seit dem Buch Grundformen
der Angst von Fritz Riemann, das in mehr als 700 000 Exemplaren verbreitet wurde, in
Deutschland die gebräuchlichste. Daß die Strukturen aus ihren pathologischen Über-
spitzungen abgeleitet sind, ist insofern ein Nachteil, als vielleicht der falsche Eindruck
entsteht, daß eine Struktur schon etwas Krankhaftes sei. jeder Mensch hat aber ei-

5
ne Charakterstruktur, meist hat man es mit Kombinationen von Strukturen zu tun. In
diesem Buch werden die Strukturen aber idealtypisch beschrieben. Man kann von ei-
nem depressiv Strukturierten sprechen, um ihn von jemandem mit einer Depression
zu unterscheiden; von einem phobisch Strukturierten, um ihn von jemandem mit einer
Phobie zu unterscheiden. Nicht jeder depressiv Strukturierte ist depressiv, nicht jeder
phobische Charakter hat auch eine Phobie. Dagegen erübrigt sich, von einem schizoid
Strukturierten zu sprechen, weil sich die Bezeichnung "schizoid" von "schizophren"
unterscheidet, das gleiche gilt für "zwanghaft" und "Zwangssymptome haben". Es gibt
keine Krankheit "Hysterie", allerdings wird darunter oft eine hysterische Charakter-
neurose verstanden.
Man kann sagen, daß in den Charakterstrukturen Grundkonflikte enthalten sind,
die zur conditio humana gehören. In der schizoiden Struktur ist es der Konflikt zwi-
schen dem Wunsch, seine Individualität aufzugeben, mit anderen zu verschmelzen,
und dem Wunsch, Individuum zu bleiben und sich abzugrenzen. Bei der narzißti-
schen Struktur findet man den Wunsch, anderen wichtig und von ihnen anerkannt, und
dem Wunsch, von anderen unabhängig zu sein. Bei der depressiven Struktur findet
man den Wunsch, von anderen versorgt zu werden und wichtig zu sein, im Konflikt
mit dem Wunsch, den wichtigen Anderen zu versorgen. Bei der zwanghaften Struk-
tur findet sich der Wunsch, eigene Triebimpulse ungehemmt durchzusetzen, und der
Wunsch, sich selbst und andere unter Kontrolle zu halten. Bei der phobischen Struk-
tur ist es der Konflikt zwischen dem Wunsch, eigene Triebwünsche auszuleben, und
dem Wunsch, sozial akzeptiert zu sein. Bei der hysterischen Struktur findet man einen
Konflikt zwischen dem Wunsch, vom gegengeschlechtlichen Elternteil als vollwerti-
ger Partner akzeptiert zu werden, besonders was die Geschlechtseigenschaften angeht,
und dem Wunsch, die Liebe des gleichgeschlechtlichen Elternteils zu behalten, sowie
umgekehrt den Konflikt zwischen dem Wunsch, als vollwertiger Partner des gleichge-
schlechtlichen Elternteils anerkannt zu werden, und dem Wunsch, die Liebe des ge-
gengeschlechtlichen Elternteils zu behalten. Man findet auch einen Konflikt zwischen
dem Wunsch, so zu sein wie die Mutter, und dem Wunsch, so zu sein wie der Vater.
Diese Konflikte beschreiben die Struktur noch nicht vollständig. Sie markieren
aber Grundbedürfnisse, die bei den einzelnen Strukturen eine besondere Bedeutung
haben.
Während in meinem Buch Kleine psychoanalytische Charakterkunde (König 1992)
der Entstehung von Charakterstrukturen viel Raum gewidmet wird, möchte ich hier
das Hauptgewicht auf die verschiedenen Ausprägungen der Charakterstruktur beim
Erwachsenen legen und Hinweise geben, wie man mit den Möglichkeiten und Gren-
zen der eigenen Struktur besser umgehen kann, welche Nachteile zu beachten sind und
welche Handlungsmöglichkeiten genutzt werden können.
Für die Ausführlichkeit oder Kürze der Darstellung der einzelnen Charaktere in
diesem Buch waren neben Unterschieden in der tatsächlichen Komplexität auch Fra-
gen der Vermittlung maßgebend. Es geht ja darum, daß der Leser sich in den Beschrei-
bungen erkennen kann, wenn sie inhaltlich auf ihn zutreffen, weniger darum, daß er
eine Übersicht über alle Strukturen bekommt. Aus diesem Grund sind die einzelnen
Kapitel auch nicht nach dem gleichen Schema aufgebaut. In der Darstellung habe ich
Erfahrungen mit Menschen verschiedener Struktur genutzt, denen meine Mitarbeitet
und ich in Therapie oder Beratung begegnet sind und bei denen wir versucht haben,
Einsichten in die Besonderheiten ihre Struktur zu vermitteln.

6
Psychoanalytiker erwarteten ursprünglich, daß Selbsterkenntnis Veränderungen be-
wirkt. Das tut sie oft, häufig ist aber ein Durcharbeiten der Konflikte erforderlich: die
Anwendung des Erkannten auf immer neue Situationen des täglichen Lebens. Dieses
Buch gibt Hinweise, wie ein Wissen um die eigene Charakterstruktur im Alltag um-
gesetzt werden kann. Viele Menschen schöpfen ihre Lebensmöglichkeiten nicht aus,
obwohl man nicht sagen könnte, daß sie Symptome von Krankheitswert aufweisen,
die eine Therapie rechtfertigen würden. Nur wenige Menschen machen eine Psycho-
analyse, die ihnen ihr Potential zugänglicher machen könnte. Allerdings könnte dieses
Buch mit Nutzen von Menschen gelesen werden, die sich aufgrund bestimmter psychi-
schen Symptome in Therapie befinden und ihre eigene Mitarbeit in dieser aktivieren
möchten.
Für die gemeinsamen Erfahrungen, aber auch für viele kreative Ideen, wie mit Er-
kanntem umzugehen wäre, habe ich meinen Patientinnen und Patienten und meinen
Lehranalysandinnen und Lehranalysanden zu danken, aber auch den Therapeutinnen
und Therapeuten, die sich mir zur Supervision anvertraut haben. Für anregende Dis-
kussionen danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Abteilung für kli-
nische Gruppenpsychotherapie der Universität Göttingen, in der ein Schwerpunkt die
Paartherapie war. Probleme am Arbeitsplatz habe ich nicht nur in den Therapien, die
ich selbst durchführte oder supervidierte, sondern auch in klinischen Einrichtungen als
Teamsupervisor kennengelernt. Auch dabei habe ich viel Neues erfahren.
Frau Erika Dzimalla und Frau Elisabeth Wildhagen danke ich für das rasche und
genaue Schreiben des Manuskripts in verschiedenen Versionen. Frau Dipl. Psych. Ger-
da Reinhold danke ich für Hilfe bei der Organisation des Manuskripts. Frau Dr. Mat-
hilde Fischer danke ich für Beratung in Darstellungsfragen.
Meiner Frau, Dr. Gisela König, und meinem Sohn, AIP Peter König, danke ich für
Diskussionen und Geduld.

7
8
Kapitel 2

Die verschiedenen Ausprägungen


des Charakters

2.1 Schizoide Struktur


Die schizoide Struktur entsteht in der menschlichen Entwicklung sehr früh, etwa wenn
das Kind im ersten Lebensjahr wenig zwischenmenschlichen Umgang hatte oder ver-
nachlässigt wurde. Ein schizoid Strukturierter wünscht Nähe zu anderen Menschen
und fürchtet sie gleichzeitig. Würde er gleichsam mit dem anderen verschmelzen, wür-
de er seine Individualität verlieren, fürchtet er. Deshalb sucht er nach Menschen, die
so sind wie er oder zu denen er eine sogenannte Seelenverwandtschaft empfindet. Mit
ihnen könnte er eins sein, ohne seine Individualität zu verlieren.
In den mehr oder weniger bewußten Fantasien Schizoider findet sich oft die Fan-
tasie eines Kontakts ohne trennende Haut, so daß ein Eins-Sein möglich wird. Kör-
perliche Kontakte von Menschen geschehen aber "Haut an Haut". Zwei Individuen
kommen sich nahe, ohne ineinander überzugehen. Menschen ohne schizoide Persön-
lichkeitsanteile oder mit geringen solchen Anteilen genießen dabei das Anders-Sein
des anderen; ein Mann genießt das Anders-Sein einer Frau, eine Frau genießt das
Anders-Sein eines Mannes. In homosexuellen Paarbeziehungen scheint Anders-Sein
ebenfalls genossen zu werden. Unterschiede im Alter, in der sozialen Stellung oder
in einem mehr männlichen oder mehr fraulichen Rollenverhalten machen den anderen
durch Andersartigkeit interessant.
Der Schizoide blendet Unterschiede zwischen sich und anderen aber aus, indem
er die Unterschiedlichkeiten des anderen ignoriert oder von Unterscheidendem abstra-
hiert und etwa als Mann eine Beziehung zu einer Frau als einen Kontakt zwischen
Mann und Frau in einem allgemeinen Sinne erlebt. In einer bestimmten Frau sieht er
"die Frau" oder, in einer altertümlichen Redeweise, "das Weib". Er kann aber auch
die Geschlechtsunterschiede ausblenden und als Mann die Beziehung zu einer Frau
als irgendeine Beziehung zwischen zwei Menschen sehen, die sich darin gleichen, daß
sie Menschen sind. Frau-Sein oder Mann-Sein werden so durch Mensch-Sein abge-
löst, in einer allgemeinen, von den Besonderheiten des Männlichen oder Weiblichen
abstrahierenden Weise. So erscheinen ihm Menschen als Manifestationen der conditio
humana. Abstraktion bestimmt das Denken und Erleben des Schizoiden zentral. Ähn-
lich wie er in Beziehungen von Details abstrahiert, die ja nur stören könnten, geht er

9
mit seiner sonstigen Umwelt abstrahierend um. Er merkt sich z.B., wenn er eine frem-
de Stadt besucht, eher einen Eindruck oder eine Atmosphäre als Einzelheiten; manche
Schizoide erinnern sich an bestimmte Szenen als typisch für jene Stadt, Szenen, in
denen sich Beziehungskonstellationen oder Beziehungsmodi ausdrucken. Hier werden
Details nicht als solche gesehen, sondern als Repräsentanten einer Beziehung. Sehr
deutlich kommt das in einer berühmten Stelle eines Romans von Marcel Proust zum
Ausdruck, wo ein Detail, ein bestimmter Geruch, eine Beziehung wieder auftauchen
läßt.

Eine Aversion gegen Details in ihrem eigenen Recht behindert Schizoide oft beim
Arbeiten. Hier kommt es darauf an, das Beachten von Details zu trainieren. Manche
Schizoide schaffen sich sogenannte Eselsbrücken, die ihnen dabei helfen, sich an wich-
tige Details zu erinnern, die sich anderen ohne eigene Mühe einprägen würden. In Ar-
beitsgebieten, wo es notwendig ist, eine Übersicht über viele Details zu haben, von
denen jedes für sich wichtig ist, wie zum Beispiel in der Inneren Medizin, behelfen
sich manche Schizoide mit der Konstruktion eigener Schemata, denen sie bei der Un-
tersuchung eines Sachverhalts folgen.

Schizoid Strukturierte sollten auch das Nähe-Distanz-Regulieren üben, besonders


das Aufnehmen und das rechtzeitige Beenden eines Kontakts. Dafür sind soziale Kom-
petenzen notwendig, die der Schizoide wegen seiner primären Kontaktstörung oft nicht
erlernt hat. Als Übungsfeld eignen sich Beziehungsfelder, wo durch Rituale ein be-
stimmtes Beziehungsverhalten vorgegeben ist und wo es darum geht, gemeinsame In-
teressen zu verfolgen oder eine gemeinsame Aufgabe zu bewältigen. So sind Schizoide
oft am Arbeitsplatz in ihrem Kontaktverhalten unauffällig; es ist für sie aber notwen-
dig, daß sie sich in Pausen oder während eines Betriebsausflugs zurückziehen.

Kontakte herstellen, managen und beenden sollte von Schizoiden geübt werden.
Wichtig ist hier der "Small talk", das Sprechen über Alltäglichkeiten, ohne irgendwel-
chen Tiefgang. Schizoide, denen es besonders wichtig ist, zum Kern der Dinge vorzu-
dringen, und nur über Wesentliches reden wollen, lehnen Small talk oft ab, obwohl ein
Gespräch über das Wetter bewirken kann, daß man in ersten Interaktionen miteinander
vertraut wird. Man hört den anderen sprechen und spricht selbst, man lernt die nonver-
balen Signale des anderen kennen, erfährt, wie der andere auf die nonverbalen Signale
reagiert, die man selbst aussendet. Wer Small talk als ein Kommunikationsmedium er-
kennt, als ein Vehikel, das indirekt oder implizit auch Träger von Wesentlichem sein
kann, wird sich eher für Small talk erwärmen können. Es geht jedenfalls darum, hinter
dem banal Erscheinenden Beziehung zu entwickeln. Dabei wird oft auch deutlich, ob
die "Chemie" stimmt oder nicht.

Für den Schizoiden ist es wichtig, seinen Wunsch nach Übereinstimmung mit dem
anderen kritisch zu betrachten. Der Schizoide sehnt sich nach jemandem, der so ist
wie er selbst und mit dem er sich wortlos versteht und dem er deshalb sehr nahe sein
kann, weil er keine Gefahr sieht, seine Identität zu verlieren, wenn er mit ihm eins
würde. Die Illusion der Übereinstimmung wird erzeugt, indem alles, was den anderen
vom Schizoiden unterscheidet, nicht wahrgenommen oder bagatellisiert wird. Wird
Nähe zu groß, kann die Wahrnehmung sich im übrigen ins Gegenteil verkehren. Dann
werden vor allem Unterschiede wahrgenommen, Trennendes wird betont.

10
2.2 Narzißtische Struktur
Wahrscheinlich entsteht die narzißtische Struktur aus einem Defizit an Wertschätzung
in der Kindheit. Dieses Defizit kann in einem kühlen, unpersönlichen, Leistung über
die Person stellenden Verhalten der Eltern bestehen, bis hin zu grober Vernachlässi-
gung durch die Eltern, ohne daß eine Beziehung zu einer anderen, wertschätzenden
Person bestand.
Grob ist die Entwicklung der narzißtischen Struktur als ein kompensatorischer Pro-
zeß aufzufassen. Selbstüberschätzung als Kompensation mangelnder Wertschätzung
durch andere bleibt auch im Erwachsenenleben eine zentrale Persönlichkeitseigen-
schaft des narzißtisch Strukturierten. Hier verhält er sich entgegengesetzt zu einem
depressiv Strukturierten, der andere für viel wichtiger hält als sich selbst. Man spricht
vom narzißtischen Größenselbst; der Betreffende schreibt sich herausragende Eigen-
schaften zu. Andere werden als Personen wenig oder kaum wahrgenommen, nur in
ihren Funktionen.
In glücklichen Sonderfällen werden die hohen Erwartungen eingelöst, die der nar-
zißtisch Strukturierte an sich selbst hat. Der narzißtisch Strukturierte erhält dann ge-
nügend Anerkennung, zum Beispiel als Künstler oder als Politiker. Die meisten nar-
zißtisch Strukturierten haben aber gerade wegen der übersteigerten Erwartungen an
sich selbst wenig Erfolg im Beruf. Wenn sie den Erwartungen an sich selbst nicht
entsprechen können, kränkt sie das, und die Kränkungen hemmen sie beim Arbeiten.
Sie vermeiden dann alle Situationen, wo ihre Selbsteinschätzung objektiviert werden
könnte, zum Beispiel melden sie sich nicht zu Examina an.
In den Führungsetagen der Industrie finden sich viele erfolgreiche narzißtisch Struk-
turierte, zu deren Begabung es gehört, geschickt mit Menschen umzugehen. Geschickt
heißt hier: manipulativ. Ein Personalchef in einem großen Industriebetrieb, mit dem
ich an der Bar eines Kongreßhotels ins Gespräch kam, erzählte mit Stolz, daß er in den
vergangenen Wochen dreitausend Leute entlassen hätte, ohne deutlichen Protest der
Betroffenen. Das Schicksal dieser Leute schien ihm gleichgültig zu sein; er wollte den
Job nur "hinbekommen", ohne daß "Schwierigkeiten" auftraten.
Oft geht Erfolg im Beruf bei narzißtisch Strukturierten mit Mißerfolgen in Be-
ziehungen einher. Viele narzißtisch Strukturierte gehen Beziehungen ein, von denen
sie sich versprechen, daß sie ihnen ermöglichen werden, mit der Partnerin oder dem
Partner zusammen ein "bewundertes Paar" zu bilden. Wenn sich diese Erwartung nicht
erfüllt, wird die Beziehung gelöst, auch wenn sie für die Ewigkeit geschlossen zu sein
schien. Andere tun sich mit Partnerinnen oder Partnern zusammen, die Anerkennung
und Bewunderung bieten, und verlassen sie wieder, wenn Anerkennung oder Bewun-
derung von anderswo herkommen, zum Beispiel durch berufliche Erfolge. Die große
Abhängigkeit von der Anerkennung durch andere wird von den meisten narzißtisch
Strukturierten geleugnet, weil sie, ihrer phantasierten Großartigkeit entsprechend, nur
von sich selbst abhängig sein möchten.
Viele narzißtisch Strukturierte sind auf eine kontinuierliche Zufuhr von Anerken-
nung angewiesen, auf frühere Anerkennung können sie schlecht zurückgreifen. Es
scheint, daß sie keinen "Speicher" für Anerkennung haben. Bleibt die Anerkennung
aus, umgeben sie sich oft mit konkreten Zeugnissen besserer Tage, in Form von Fotos
und Zeitungsausschnitten. Viele narzißtisch Strukturierte, die sich die notwendige An-
erkennung zu verschaffen wußten, bleiben bis ins hohe Alter kompensiert. Sie leiden

11
erst, wenn der Zustrom an Anerkennung altersbedingt versiegt. Funktional wichtige
andere, die für ihn arbeiten, darf der narzißtisch Strukturierte nicht als eigenständig
erleben. Er integriert sie gleichsam in sein Körperschema, jemand wird "die rechte
Hand". Wenn nun die "rechte Hand" eigene Ziele verfolgt und sich nicht genauso ver-
hält, wie der narzißtisch Strukturierte es erwartet, fühlt er sich in hohem Maße bedroht,
ähnlich wie wenn seine reale Hand sich plötzlich selbständig machen und eigenmäch-
tig Bewegungen ausfahren würde.
Oft wird narzißtischen Strukturen zugeschrieben, daß sie sich ausbeuterisch ver-
halten. Sie können so arrogant wirken, daß man ihnen unterstellt, sie verachteten ihre
Mitmenschen. Das trifft aber nicht zu; sie sehen andere nur als - durchaus oft wichtige -
Funktionsbündel. Während schizoid Strukturierte einer übergeordneten Sache dienen
möchten, dienen narzißtisch Strukturierte in erster Linie sich selbst. Frauen, die am
Ruhm eines erfolgreichen narzißtisch strukturierten Mannes partizipieren, können un-
scheinbar bis häßlich sein. je häßlicher sie sind, desto mehr bewundern sie den Mann,
was dieser dringend braucht. Narzißtische Frauen werden oft als hysterisch (s. unten)
verkannt. Von den hysterisch Strukturierten unterscheidet sie die Art der Anerkennung,
nach der sie streben. Sie wollen nicht nur bezüglich ihrer Geschlechtseigenschaften,
sondern in jeder Hinsicht anerkannt und bewundert sein, wobei sie ihre Geschlechts-
eigenschaften einsetzen können, um Bewunderung zu erreichen. Ihr Verhalten gleicht
dann dem hysterischer Frauen; die Motivation, sich so zu verhalten, ist aber existenti-
eller. Entsprechendes gilt auch für Männer.
Narzißtisch Strukturierte, denen es gelingt, sich die benötigte Anerkennung zu ver-
schaffen, empfinden meist keine Notwendigkeit, sich zu ändern. Das betrifft eine Min-
derheit Begabter. Die meisten leiden an den Kränkungen, die der Vergleich ihres realen
Selbst mit dem phantasierten Größenselbst immer wieder verursacht. Manchen gelingt
es, die Erwartung auf Anerkennung in die Zukunft zu verlegen und sie phantasie-
rend vorwegzunehmen. So kommt es zu einer Art narzißtischer Selbstbefriedigung.
Sie phantasieren Szenen, wo Anerkennung, etwa in der Form: "Ich nehme den Nobel-
preis in Empfang" imaginiert wird, ähnlich wie bei der Masturbation eine Partnerin
oder ein Partner imaginiert werden können.
Wenn es einem narzißtisch Strukturierten gelingt, einzuräumen, daß er Anerken-
nung braucht, kann er bewußt bemüht sein, sie sich zu verschaffen. Von Karajan, der
in seinem Leben viel Anerkennung erfuhr, wird berichtet, daß er in einer bestimmten
deutschen Stadt keine Gastspiele gab, weil die Leute dort zu wenig klatschten. Bei
ihm fielen Begabung und Beruf zusammen. Narzißtisch Strukturierte wählen aber oft
Berufe, für die sie vielleicht gar nicht geeignet sind, nur weil sie sich von ihnen mehr
Anerkennung versprechen. Die Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung und dem
realen Können führt oft zu Versagen im Studium. Die Arbeitsstörung resultiert daraus,
daß der Betreffende glaubt, Stoff aufnehmen zu können, ohne ihn sich erarbeiten zu
müssen. Die Vorstellung, man könne Großes leisten, wenn man nur die Gelegenheit
dazu hätte, findet sich nicht nur in akademischen Berufen, sondern auch in anderen
Bereichen. Da kann es von Vorteil sein, wenn die Verhältnisse es nicht gestatten, die
Probe aufs Exempel zu machen. So erinnere ich mich an einen Waldarbeiter mit einem
IQ von 80, der die feste Überzeugung hatte, seine Intelligenz hätte ausgereicht, um
Hochschullehrer zu werden. Er hatte keinen Hauptschulabschluß. Es bestand so kaum
die Gefahr, daß er infolge einer Konfrontation mit der Realität je gezwungen gewesen
wäre, auf die Vorstellung zu verzichten, daß er unter günstigen Verhältnissen Professor

12
hätte werden können.
Beim Umgang mit einer narzißtischen Struktur ist eine soziale Begabung, im Un-
terschied zu den schizoid Strukturierten, häufig zu beobachten, weil sie einen takti-
schen oder strategischen Umgang mit Menschen, der in zwischenmenschlichen Kon-
takten realisiert wird, gut aushalten können. Das Manipulieren von Menschen macht
ihnen wenig Skrupel.
Ein Versagen in Beziehungen läßt sich dennoch schwer vermeiden. Es gibt zwar
durchaus Beziehungen, bei denen die Partnerin bzw. der Partner die bewundernde Rol-
le einnimmt und damit zufrieden ist, doch selten bleibt es dabei. Meist wünschen sich
narzißtisch Strukturierte, die Einblick in ihre Schwierigkeiten im interpersonellen Um-
gang gewonnen haben, eine Therapie. Diese kann dann sehr aufwendig, aber auch er-
folgreich sein.
In allen Bereichen kann es dem narzißtisch Strukturierten zum Problem werden,
daß er sich mehr am Wie und am Erfolg als am Inhalt der Arbeit freut. Da kann es
nützlich sein, wenn er sich klarmacht, daß ein Interesse am Inhaltlichen bei vielen
Tätigkeiten eine Voraussetzung des Erfolges ist. Zum Interessiert-Sein kann man sich
nicht zwingen, man kann aber nach interessanten Aspekten suchen. So kann es das
Interesse an einem Gegenstand erhöhen, wenn man sich dafür interessiert, wie andere
Leute damit umgegangen sind, wie etwa andere Leute geschrieben oder gemalt oder
wie andere ihre Arbeit zweckmäßig verrichtet haben. Dem narzißtisch Strukturierten
liegt es nicht, andere nachzuahmen. Darum soll es aber auch nicht gehen. Der narziß-
tisch Strukturierte sollte sich Vorbilder suchen, die er akzeptieren kann, weil sie über
ein genügendes Maß an Prominenz verfügen. Er wird Vorbilder, deren Arbeitsweise er
studieren kann, am leichtesten unter den schon Verstorbenen finden oder unter den sehr
Alten, deren aktive Zeit schon zurückliegt. Er kann dann vielleicht der Beste seiner Ge-
neration sein, oder, bei bescheideneren Ansprüchen, der Beste in seinem Bereich. Man
denke an Caesar, der lieber in einem Dorf der Erste als in Rom der Zweite sein wollte.
Manche narzißtisch Strukturierte finden auch über das Studium von Vorbildern Zugang
zu einem Interesse an Menschen, zunächst an Menschen, die ihnen zeitlich fern, sehr
alt oder schon tot sind. Dabei erfährt man aber etwas über die Lebensumstände und
Motive dieser Menschen, und mancher narzißtisch Strukturierte kann dieses Interesse
dann auf seine Alltagsbeziehungen übertragen.

2.3 Depressive Struktur


Ein depressiv strukturierter Mensch ist auf andere Menschen in besonderer Weise an-
gewiesen. Im Grunde hat er noch nicht gelernt, sich selbst zu versorgen, oder besser:
sich selbst zu betreuen. Mit dem Wort "betreuen" möchte ich ausdrucken, daß es nicht
nur um materielle, sondern auch um emotionale Versorgung geht, wie es in der Rede-
wendung "für andere sorgen" zum Ausdruck kommt.
Der Depressive, der also in seiner Kindheit nicht ausreichend "umsorgt" wurde -
nicht in einer Art und Weise, die es ihm ermöglicht, dieses Umsorgen als ein Sorgen
für sich selbst zu übernehmen -, wird sich um andere kümmern, die er wichtig nimmt;
vielleicht aber nicht so gut, wie wenn er das Umsorgen selbst erfahren hätte. Andere
sind für ihn wichtig, weil er auf ein Geliebtwerden wartet, das er zu wenig erfuhr. Er
wird andere materiell umsorgen können in der Hoffnung, etwas zurückzubekommen.

13
Voraussetzungslos und erwartungslos lieben ist seine Sache nicht. Um das zu können,
mag er sich selbst zu wenig. Es gibt depressiv strukturierte Menschen, die für sich
zu sorgen scheinen, etwa indem sie viel essen. Dieses Essen ersetzt Emotionales, das
der Depressive sich in der Beziehung zu sich selbst nicht geben kann und das er von
anderen fordert, aber oft nicht erhält, eben weil er es fordert. Wenn Depressive andere
versorgen, kommt ihre Art der Versorgung oft nicht gut an. Versorgung wird aufge-
drängt, oder sie ist mit einer Erwartung an Gegenleistungen in Form von Dankbarkeit
verknüpft. Dankbarkeit entsteht aber freiwillig, sie entsteht nicht, weil sie gefordert
wird.
Unter den hier beschriebenen Umständen sind Partnerbeziehungen depressiv Struk-
turierter schwierig. Depressive erleben sich oft als Menschen, die zu viel lieben und
nichts Entsprechendes zurückbekommen. Das Buch von Norwood (1986) Wenn Frau-
en zu sehr lieben beschreibt im Grunde Frauen mit einer depressiven Struktur. Ihre
Tragik ist, daß die Art von Liebe, die sie dem Partner entgegenbringen, nicht geeig-
net ist zu bewirken, daß sie intensiv wiedergeliebt werden. Zwar sind vielen Männern
depressive Frauen ganz recht, vor allem Männern, die eine materielle Versorgung und
eine die Beziehung sichernde Abhängigkeit wünschen. Doch auch diese Männer ha-
ben meist den Eindruck, daß ihnen in der Beziehung etwas fehlt: wirkliche Wärme und
ein Stehen zum Partner aus freiem Entschluß. Roger Whitacker singt in einem seiner
englischen Lieder: "A woman, warm and free, standing by my side".
Depressiv strukturierte Männer "opfern sich für die Famille", aber nicht in einer
Art und Weise, die ihnen so gedankt werden kann, wie sie es erwarten. Wer sich ver-
ausgabt und auf eigene Interessen verzichtet, wird auf die Dauer uninteressant, weil
er als Person, abgegrenzt und frei, nicht vorhanden ist. So wundern sich Männer wie
Frauen, die sich für Partner und Kinder "aufopfern", oft, daß sie verlassen werden,
wenn der Partner sie nicht mehr braucht. Viele Frauen in den Fünfzigern machen die-
se Erfahrung, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Wahrscheinlich würden in diesem
Lebensabschnitt auch viele Ehefrauen von depressiven Männern das Weite suchen,
wenn die Chance, einen neuen Partner zu finden, besser wäre - Männer dieser Al-
tergruppe suchen erfahrungsgemäß nach jüngeren Frauen. In Grenzen kann auch ein
Erwachsener noch lernen, für sich selbst u sorgen. Dabei geht es nicht nur um materi-
elle Versorgung ("Ich koche mir was"), sondern auch um emotionale Versorgung, die
eine Sympathie für sich selbst zur Voraussetzung hat. In der Werbung wird damit ge-
worben, daß Frauen bestimmte Kosmetika oder Kleidungsstücke kaufen sollen, "weil
ich es mir wert bin". Man kann tatsächlich beobachten, daß ein materielles Für-sich-
Sorgen die Selbsteinschätzung des depressiv Strukturierten zum Positiven hin verän-
dert. Für jemanden sorgen bedeutet für sie jemanden mögen. Wenn sie für sich selbst
sorgen, scheinen sie sich mehr zu mögen. Wirksam kann für den depressiv Strukturier-
ten auch sein, wenn er ein Angenommensein erfährt. Der Begründer der Gesprächs-
psychotherapie Carl Rogers, betonte, daß ein Gesprächspsychotherapeut sich um eine
vorbehaltlose Wertschätzung des Patienten bemühen soll. Im Grunde ist das ein Prinzip
aller Psychotherapien. Ein Therapeut, der einen depressiven Patienten nicht schätzen
kann, wird ihm auch nicht helfen können. Wenn er sich aber vorstellen kann, wie ein
Depressiver sich zum Positiven hin entwickeln könnte, wird er den Patienten auch we-
gen seiner prospektiven Chancen mögen. Er gibt dem Patienten gleichsam Kredit auf
die Zukunft. Erhebliche Probleme in Beziehungen ergeben sich aus der latenten Gier
scheinbar bescheidener depressiv Strukturierter. Orale Wünsche, die blockiert sind,

14
stauen sich auf.
Außerdem bleiben geblockte Wünsche archaisch. Weil sie nicht wahrgenommen
werden und das Handeln nicht bestimmen, können sie auch nicht in Interaktion mit
anderen Menschen sozialisiert werden. Ein depressiv strukturierter Mensch ist im be-
wußten Persönlichkeitsbereich oft bedürfnislos. Im unbewussten ist er gierig. Manch-
mal zeigt sich diese Gier indirekt und ohne daß der depressiv Strukturierte es merkt,
oder sie kann erschlossen werden. So ist bei depressiv Strukturierten immer wieder zu
beobachten, daß sie trotz aller Bescheidenheit und ohne es zu wollen, mehr Raum ein-
nehmen, als ein anderer ihnen geben will: Depressiv strukturierte Patienten, die einen
Arzt oder Rechtsanwalt konsultieren, breiten sich auf dessen Schreibtisch mit allerlei
persönlichen Gegenständen aus. Depressiv Strukturierte beanspruchen die Aufmerk-
samkeit anderer für ihre Erzählungen, aber auch für Klagen und Vorwürfe. Obwohl sie
so bescheiden sind, bekommen sie aber gerade dann oft noch weniger, als sie bewußt
beanspruchen.
Wünsche, deren Begrenztheit in Auseinandersetzungen mit der Realität nicht er-
fahren werden konnte, verbleiben im Stadium kindlicher Unbegrenztheit. Daß Grenzen
zu beachten sind, muß ein Kind erst erfahren und erlernen. Der depressiv Struktu-
rierte hat gelernt, seine Wünsche zu unterdrücken. Sie bleiben in seiner unbewußten
Wunschwelt kindlich unbegrenzt. So finden sich in Träumen depressiv Strukturierter,
wo Verdrängtes sich zeigen kann, Fantasien in unbegrenzter Fülle. Bei anderen depres-
siv Strukturierten, deren Abwehr dichter hält, herrscht auch in den Träumen eine karge
Welt.
Der Wunsch nach Unbegrenztheit äußert sich dort, wo der depressiv Strukturierte
meint, ihn sich gestatten zu können, zum Beispiel was die Dauer von Beziehungen
angeht. In unserer Gesellschaft sind Beziehungen, die ein Leben lang dauern, positiv
konnotiert. Treue ist etwas Gutes. Depressiv Strukturierte fordern aber in einer jeden
Beziehung unbegrenzte Dauer, auch wenn der andere an keine Dauerbeziehung denkt.
Daraus ergeben sich Konflikte. Auch in therapeutischen Beziehungen fällt es depressiv
Strukturierten schwer, sich auf ein zeitlich begrenztes Angebot einzulassen. Insgeheim
wünschen sie sich einen Therapeuten oder eine Therapeutin, der oder die ihnen zeitlich
unbegrenzt zur Verfügung steht, ein Leben lang und am liebsten Tag und Nacht. Solche
Wünsche klingen unvernünftig, und wenn man einem depressiv Strukturierten direkt
unterstellt, solche Wünsche zu haben, wird er sich mißverstanden fuhren Lind beleidigt
sein. Der Wunsch nach Dauer zeigt sich aber auf Schritt und Tritt, zum Beispiel eben
in der Zurückweisung eines zeitlich begrenzten therapeutischen Angebots, wobei dann
oft andere Gründe vorgeschoben werden, zum Beispiel, daß mit dem Therapeuten,
der ein zeitlich begrenztes Angebot machte, "die Chemie nicht stimmte". Die Chemie
hätte aber "gestimmt", wenn der Therapeut ein zeitlich unbegrenztes Angebot gemacht
hätte.
Im Berufsleben zeigt sich der Wunsch nach unbegrenzt dauernden Beziehungen
in einer Einschränkung der Mobilität. Depressiv Strukturierte werden einen Betrieb,
in dem sie Beziehungen eingegangen sind, ungern verlassen, denn das würde heißen,
sich von vielen Menschen zu verabschieden. An einer neuen Arbeitsstelle versuchen
depressiv Strukturierte oft, festere und engere Bindungen mit Vorgesetzten und Mitar-
beitern einzugehen, als diese anbieten wollen, was auch wieder zu Konflikten führt.
Eine wesentliche Aufgabe des depressiv Strukturierten, der in Beziehungen besser
zurechtkommen will, wäre also, sich den Wunsch nach Unbegrenztheit bewußtzuma-

15
chen und sich damit auseinander zusetzen, daß alles im Leben endlich ist, wobei nicht
nur der Tod eine Beziehung beenden kann, sondern auch der Entschluß eines Partners,
Mitarbeiters, Kollegen oder Vorgesetzten. Für den depressiv Strukturierten ist Dauer
ein Gut an sich, für andere ist sie nur dann von Bedeutung, wenn das, was erhalten
bleiben soll, gut ist. Damit will ich nicht behaupten, daß Menschen, die nicht depres-
siv strukturiert sind, Beziehungen leichtfertig aufgeben. Sie tun das nur leichter als
Depressive.
Das Unbewußte wirkt indirekt, auf nicht faßbaren Wegen auf das Bewußte ein,
wobei es sich der Kontrolle durch das Ich entzieht. Für den depressiv Strukturierten
ist es wichtig, sich über die unrealistische Grenzenlosigkeit seiner Wünsche klar zu
werden. Die Nichterfüllung der grenzenlosen Wünsche wird vom depressiv Struktu-
rierten nämlich als Bestätigung dafür genommen, daß er nichts wert sei. Er merkt
nicht, daß seine Erwartungen das sozial Übliche oder das real Mögliche übersteigen.
Wäre er mehr oder auch nur etwas wert, würde der Partner, der Arbeitskollege, der
Therapeut ihm mehr Interesse entgegenbringen und ihm mehr Zeit widmen, so meint
er. Die Nichterfüllung grenzenloser Wünsche stabilisiert auf diese Weise das schlechte
Selbstwertgefühl des depressiv Strukturierten.
Das schlechte Selbstwertgefühl depressiv Strukturierter wird ebenfalls durch die
frustrierte Erwartung stabilisiert oder verstärkt, daß Arbeit Liebe bewirken könne.
Wenn man für jemanden arbeitet, kann das Dankbarkeit oder Bewunderung hervor-
rufen, nicht aber Liebe. Das gilt für Liebe im erotischen und sexuellen Sinne ebenso
wie für allgemeinere Formen der Zuneigung. So kann ein Mitarbeiter, der besonders
viel arbeitet, erwarten, vom Chef oder von Mitarbeitern geliebt zu werden, während
die Kolleginnen und Kollegen seine Einstellung zur Arbeit als konkurrenzmotiviert,
als "Arbeitssucht" oder als ein Mittel ansehen, sich beim Chef einzuschmeicheln und
der Chef sie nicht schon deshalb, weil sie viel arbeiten, sympathisch findet.
Die unausgesprochene Erwartung, für Arbeit geliebt zu werden, ist auf die Dauer
denen, an die sie sich richtet, meist lästig, oder man findet sie komisch. Der depressiv
Strukturierte wird in seiner Erwartung, durch Arbeit Liebe zu gewinnen, enttäuscht,
weil die Vorstellung, man könne für Arbeit geliebt werden, auf einem kategorialen
Denkfehler beruht. Liebe ist etwas anderes als Arbeit und kann durch Arbeit nicht
erkauft werden. Dagegen kann ein sympathisches Aussehen oder Verhalten Liebe aus-
lösen.
Eine weitere Problematik liegt darin, daß die Arbeitsproduktivität depressiv Struk-
turierter oft nicht dem Arbeitseinsatz entspricht. Ein depressiv Strukturierter meint, es
komme vor allem darauf an, viel zu arbeiten und sich dabei anzustrengen, während
den Arbeitgeber mehr die Ergebnisse interessieren. Sind die Aufmerksamkeit und das
Streben vor allem darauf gerichtet, viel zu arbeiten, wird die rationelle Einteilung der
Arbeit oft vernachlässigt, und die Arbeitsproduktivität leidet darunter. Ein depressiv
Strukturierter kann es als "ungerecht" empfinden, daß Menschen, die viel weniger
arbeiten, mehr Erfolg haben. Sie haben mehr Erfolg, weil sie die Arbeit effizienter
gestalten, sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Es fällt den meisten Menschen mit anderen Strukturen (außer der phobischen, s.
unten) leichter, eine Arbeit zu beginnen. Das hat mehrere Ursachen: Zum einen steht
ihnen Initiative zur Verfügung, zum anderen können sie es sich gestatten, Funktionslust
zu empfinden.
Der Depressive hat Mühe, eine Arbeit zu beginnen, weil seine Initiative blockiert

16
ist. Er muß von außen, durch andere Personen oder durch die Verhältnisse oder von
innen, durch sein Leistungsgewissen, zur Arbeit gezwungen werden.
Eine weitere Ursache für die oft unterdurchschnittliche Arbeitsleistung liegt in
mangelhafter Arbeitsplanung. In der Sicht des depressiv Strukturierten formen sich
komplexe Arbeitsaufgaben, die sich aus verschiedenen Tellarbeiten zusammensetzen
oder in verschiedene Detailarbeiten aufgeteilt werden könnten, zu einem Berg auf,
von dem der Depressive sich schwer vorstellen kann, daß er ihn bewältigen wird. Es
ist ein "Haufen Arbeit", der den Depressiven erwartet. Die Hemmung der Initiative läßt
sich beim Depressiven am besten über eine Freisetzung der oralen Kernimpulse ver-
stehen, mit denen Initiative in der menschlichen Entwicklung beginnt. Initiative kann
gewonnen werden, indem der depressiv Strukturierte an seinen oralen Blockierungen
arbeitet, etwa indem er lernt, für sich selbst zu sorgen, orale Impulse zuzulassen und
mit ihnen gestaltend umzugehen, nachdem er sie mit dem faktisch Möglichen in Bezie-
hung gesetzt hat. Solange da noch wenig erreicht ist, kann der depressiv Strukturierte
sich damit helfen, daß er durch Terminkalender oder mit Hilfe seiner Sekretärin, die
ihn auf bestimmte Aufgaben hinweist, einen Anstoß bekommt, einen Arbeitsgang zu
beginnen. In manchen Arbeitsfeldern sind solche Anstöße durch die Arbeitsorganisa-
tion gegeben. Bei einem ambulant tätigen Arzt sitzen Patienten im Wartezimmer und
fordern schon durch ihre Anwesenheit auf, sich mit ihnen zu befassen. In einer Kli-
nik beginnt die Visite zu einer bestimmten Zeit, die Mitarbeiter versammeln sich, und
der Stationsarzt wird durch sie angestoßen, Visite zu machen. Auf anderen Stationen
kommt die Stationsschwester und sagt: "Wollen wir nicht mit der Visite anfangen?"
So findet man unter Ärzten viele depressiv Strukturierte, die mit dem Teil ihrer Ar-
beit gut zurechtkommen, zu dem sie von außen angestoßen werden. Sie haben eher
Schwierigkeiten mit Arztbriefen. Die Akten auf einem Schreibtisch können ja nicht
sprechen, und man kann sich ihres Anblicks entledigen, indem man etwas drauflegt
oder sie in einer Schublade verschwinden läßt, "um sie später zu bearbeiten". Die Ar-
beitsorganisation selbst sollten depressiv Strukturierte überprüfen und mit der anderer
vergleichen, die dieselbe Arbeit tun. Bei einer übersichtlichen Arbeitsplanung entfal-
len oft schon Tätigkeiten, die nicht erforderlich sind, weil sie zum Arbeitsergebnis
nichts beitragen.
Ähnlich wie den Zwanghaften fällt es den Depressiven, wenn auch aus anderen
Gründen, schwer, eine Hierarchie der Prioritäten aufzustellen. Der Zwanghafte findet
alles wichtig, er kann Wichtiges von Unwichtigem nicht gut unterscheiden. Dem De-
pressiven widerstrebt es prinzipiell, Arbeit zu verweigern oder an andere abzugeben.
Im Gegenteil, er akquiriert Arbeit. In diesem Zusammenhang erzähle ich immer von
einem Kollegen, der, als ich noch Assistent an einer Klinik war, auf meinem Schreib-
tisch eine Akte liegen sah und mit den Worten an sich nahm: "Da steht mein Name
drauf, das ist wohl für mich." Tatsächlich stand nicht sein, sondern nur ein ähnlicher
Name auf der Akte. Depressiv Strukturierte sagen bei Arbeiten, die schnell zu erle-
digen sind, oft: "Das ist keine Arbeit." Diese Einschätzung hat zur Folge, daß solche
Arbeiten bei der Arbeitsplanung nicht berücksichtigt werden. Depressiv Strukturierte
tun dann eine Menge Dinge, die "keine Arbeit" sind. So kann jemand seine Fotoko-
pien prinzipiell selbst machen, weil das Gerät ja unweit seinem Arbeitszimmer auf
dem Korridor steht und die Arbeit schnell erledigt ist, obwohl er sie an eine Sekretärin
abgeben könnte.
Hier kommt oft auch eine Schwierigkeit hinzu, andere zu bitten, eine Arbeit zu tun.

17
Der Depressive empfindet, daß die Arbeit "für ihn" getan wird, auch wenn es eine Ar-
beit ist, die in Wahrheit für den Betrieb getan wird. Alles, was er selbst tun kann, muß
er auch tun. Er darf möglichst niemanden damit belasten. Diese Motivation unterschei-
det sich von der Motivation des Zwanghaften, der meint, er müsse alles selbst machen,
weil es niemand so gut macht wie er. Hier kann ein Depressiver sich damit helfen, daß
er seine tägliche Arbeit daraufhin überprüft, was von der Sache her er selbst tun muß
und was andere für ihn tun könnten.
Depressiv strukturierten Vorgesetzten liegt es nicht, Übersicht über die anliegenden
Aufgaben herzustellen und die Aufgaben zu gewichten. Es kann dann auch zweckmä-
ßig sein, Aufgaben zurückzustellen. Da fürchtet der depressiv Strukturierte allerdings,
mit einem gewissen Recht, daß aus einer verschobenen Arbeit eine ewig aufgeschobe-
ne wird, die den Berg des Unerledigten vergrößert.
Arbeit zurückweisen wird der depressiv Strukturierte nur, wenn er sich krank fühlt
oder "wirklich nicht mehr kann". Da depressiv Strukturierte nicht nur ihren Anspruch
auf Liebe, sondern auch ihren Selbstwert in viel Arbeit finden, berauben sie sich auch
einer Möglichkeit, ihr Selbstwertgefühl zu verbessern, wenn sie Arbeit abgeben.
Wenn man den Arbeitsstil von depressiv Strukturierten betrachtet, fällt seine Un-
zweckmäßigkeit auf, und man fragt sich, wie es kommt, daß dem Betreffenden nicht
auffällt, wie unnötig angestrengt er arbeitet. In westlichen Industriegesellschaften hängt
das vermutlich auch damit zusammen, daß angestrengte Arbeit positiv konnotiert wird.
Wenn man von jemandem sagt: "Er strengt sich nicht an", ist das eine negative Beurtei-
lung. Daß jemand Arbeit mit wenig Anstrengung erledigen kann, weil er zweckmäßig
arbeitet, findet wenig Platz in einer Arbeitsethik, bei der es mehr um die Anstrengung
geht als um die Ergebnisse. In ein solches Umfeld paßt der Depressive gut hinein.
Natürlich gibt es auch ein Gegenstück zu der Vorstellung, man müsse sich anstren-
gen: die Vorstellung, man könnte mit ganz wenig Arbeit ganz viel erreichen. Diese
Vorstellung findet sich in vielen Märchen, wo durch Zauberei viel bewirkt wird. Durch
Zauberei entsteht ein Haus, ein Schloß, wird ein Pferd hergezaubert, werden Feinde
besiegt. Diese Vorstellungen stehen der mitteleuropäischen Arbeitsethik entgegen. Bei
depressiv Strukturierten findet man sie dennoch oft, weil sie von der Vorstellung ent-
lasten, zum Arbeiten verpflichtet zu sein. Fantasien von einem großen Lottogewinn,
der bewirkt, daß man nie mehr zu arbeiten braucht, entsprechen dem Märchen vom
Sterntalermädchen, das arm und frierend unter freiem Himmel steht und auf das dann
die Sterntaler herabregnen, die es mit seinem Kleidchen auffängt. Daß ein Depressiver,
der tatsächlich zu Geld käme, die Arbeit sehr vermissen würde, steht auf einem ande-
ren Blatt. Ein Märchen, in dem die Gier des Depressiven zum Ausdruck kommt, ist
das Märchen Vom Fischer und seiner Frau. Der Mann rettet den Butt, der Butt erfüllt
Wünsche der Frau, die ihm der Mann übermittelt, und die Frau ist mit dem, was sie
bekommt, nie zufrieden, bis sie schließlich so viel fordert, daß der Butt böse wird und
alles wieder wegnimmt.
Natürlich ist Unzufriedenheit ein wesentlicher Motor des Fortschritts. Es gibt de-
pressiv Strukturierte, deren Unzufriedenheit sie unter günstigen Umständen zu Lei-
stungen antreibt. Die Regel ist das aber nicht, weil die depressive Struktur sich ja auf
die Leistungsfähigkeit selbst negativ auswirkt.
Eine andere Möglichkeit, wie sich die Leistungsfähigkeit des Depressiven steigern
kann, besteht in der sogenannten "altruistischen Abtretung". Wer das Erreichte nicht
selbst genießen kann, sich aber daran freut, wenn das Erreichte anderen nutzt, kann

18
sich so zu einem sinnvollen Arbeitseinsatz motivieren lassen. Die Fähigkeit, sich mit
anderen mitzufreuen, wenn man sich schon selbst nicht freuen kann, "rettet" viele De-
pressive, die sonst nicht nur wegen ihr s Mangels an Initiative und ihrer schlechten
Arbeitsorganisation, sondern auch mangels der Freude am Erreichten in Passivität ver-
sinken würden. Das ist sicher einer der Gründe, warum man depressiv Strukturierte
viel in sozialen Berufen findet. Ein weiterer Grund dürfte sein, daß in sozialen Be-
rufen der andere Mensch wichtig genommen werden soll. Der depressiv Strukturierte
nimmt sich selbst ja eben nicht wichtig, wohl aber andere.

2.4 Zwanghafte Struktur


Eine Zwangsstruktur entsteht durch eine Erziehung, die wenig Freiräume läßt und
Willkür bestraft. Es findet drastisch gesagt eine Art Dressur statt. Der Anteil von Men-
schen in einer Gesellschaft mit einer Zwangsstruktur variiert je nach Kulturen. Deut-
sche und Deutschschweizer gelten als eher zwanghaft, ebenso die Japaner. Infolge der
westlichen Einflüsse hat in Westdeutschland der Anteil Zwanghafter nach dem Zwei-
ten Weltkrieg abgenommen, in Ostdeutschland infolge der östlichen Einflüsse.
In diesem Buch geht es um den Umgang und um die Veränderungsmöglichkeiten
des eigenen Charakters. Wer sich verändern will, muß einen Grund sehen, sein ge-
genwärtiges Fühlen und Handeln in Frage zu stellen. Zur Zwangsstruktur gehört aber
gerade, daß man den Eindruck hat, alles richtig zu machen. Die Vorstellung, er könne
manche Dinge nicht richtig machen oder in manchen nicht recht haben, beunruhigt
und ängstigt den Zwanghaften. Ganz allgemein ist er kein Freund von Veränderungen;
das bezieht sich nicht nur auf Beziehungen, wie dies bei depressiv Strukturierten der
Fall ist. Der Zwanghafte scheut jede Art von Veränderung.
Die geringe Veränderungsmotivation Zwanghafter äußert sich deutlich in Psycho-
therapien. Zwanghafte zeigen wenig Neugier auf sich selbst. So wie es ist, ist es ei-
gentlich "richtig". Veränderungen würden ein unkalkulierbares Risiko bedeuten, das
sie nicht eingehen möchten. Dies ist mit ein Grund, warum die Therapien von Zwang-
haften oft lange dauern und wenig Veränderung bewirken. Die Probleme Zwanghafter
in ihren Beziehungen und in der Arbeit müssen groß sein, um einen Leidensdruck zu
erzeugen, der stärker ist als der Wunsch, alles so zu belassen, wie es ist.
Als ich 1968 meine psychoanalytische Ausbildung begann, wurde von einer Unter-
suchung erzählt, die belegte, daß bezüglich des Faktors Rigidität deutsche Grundschul-
lehrer höhere Werte erreichten als englische Patienten mit einer SymptomZwangs-
neurose. Es ist mir leider nie gelungen, die Quelle zu eruieren; das Ergebnis dieser
Untersuchung entsprach aber den damaligen Einschätzungen des deutschen Volkscha-
rakters; man denke auch an Adornos Untersuchungen über den autoritären Charakter
1969. Heute gleichen sich die Menschen in Europa mehr und mehr einander an, und
damit hat die deutsche Bevölkerung viel an Zwanghaftigkeit verloren; man könnte
auch sagen, daß sie sich davon ein Stück weit befreit hat. Nun hat Zwanghaftigkeit
auch etwas Positives. Ein britischer Psychoanalytiker (Smith 1999) schreibt Freud
einen Zwangscharakter zu und betont dessen positiven Seiten. Ich kann mir schwer
vorstellen, daß ein deutscher Psychoanalytiker, der die Zwanghaftigkeit der Väter-
und Großväter-Generation kennengelernt hat, zu einer derart positiven Einschätzung
zwanghafter Persönlichkeitseigenschaften kommen würde. Genauigkeit, Zuverlässig-

19
keit und Sachlichkeit sind aber positive Sekundärtugenden. In Deutschland haben wir
sie überspitzt als Pedanterie, Rigidität und Gefühllosigkeit kennengelernt. Unter einem
Zwanghaften stellen wir uns eher einen Eichmann vor als einen Freud. Andererseits
sind wir stolz auf die gute Verarbeitung und die Zuverlässigkeit unserer Autos, die in
diesen Punkten nur von den Autos eines anderen ziemlich zwanghaften Volkes über-
troffen werden, des japanischen. Wir freuen uns über die im Vergleich zu vielen süd-
lichen Ländern immer noch hervorragende Pünktlichkeit unserer Züge, die Sauberkeit
unserer Gaststätten und Hotels.
So wie sich jede Charakterstruktur mit jeder anderen kombinieren kann, gibt es
auch verschiedene Kombinationen von Zwangsstrukturen mit anderen Strukturen. Wir
kennen die schizoid-zwanghafte, die narzißtisch-zwanghafte, die depressiv-zwanghafte,
die phobisch-zwanghafte und die hysterisch-zwanghafte Struktur. Letztere Kombina-
tion kann für die Arbeitsbeherrschung fruchtbar sein, weil sich in ihr Zuverlässigkeit
und Spontaneität verbinden können.
Die Erscheinungsformen der Zwangsstruktur sind vielfältig. Zu den oben genann-
ten Eigenschaften kommt noch eine Neigung, eigene unbewußte Gefühle und Hand-
lungsimpulse, die Angst- oder auch Schuldgefühle hervorrufen würden, anderen zu-
zuschreiben. Man spricht von einer Neigung zur Projektion. Das ist ein Abwehrme-
chanismus, der bei Zwanghaften häufig vorkommt. Er äußert sich zum Beispiel darin,
daß Zwanghafte in ihrer Umwelt nicht nur Ordnung schaffen wollen, um eine bessere
Übersicht zu bekommen und die Umwelt besser kontrollieren zu können, sondern auch
deshalb, weil Unordnung in ihrer Umwelt sie anregt, eigene "unordentliche" Impulse
und Verhältnisse im unbewußten Bereich ihrer Persönlichkeit nach außen zu projizie-
ren. Die vorhandene Unordnung wirkt gewissermaßen als Projektionsauslöser. Wenn
der Zwanghafte in seiner Umwelt Ordnung schafft, versucht er auch, die eigene innere,
nach außen projizierte Unordnung in Ordnung zu verwandeln.
Da alles, was mit spontanen Impulsen zusammenhängt, blockiert werden muß,
weil der Umgang damit als Kind nicht geübt werden konnte, legt der Zwanghafte
großen Wert darauf, rational zu handeln. Er fürchtet einen Durchbruch seiner unbe-
wußten, andrängenden Willkür. Weil er diese Impulse auf andere projiziert, legt er
großen Wert darauf, daß Menschen, mit denen er umgeht, ihr Handeln rational be-
gründen. Manche Zwanghafte projizieren auch ihre eigene unbewußte Tendenz nach
außen, Dinge schmutzig zu machen - eine Tendenz, die man bei vielen ganz kleinen
Kindern beobachtet. Bei Zwanghaften wurden die Impulse früh abgeblockt, etwa weil
derartige Handlungen bei Eltern, die selbst zwanghaft waren, Abscheu hervorriefen.
Die Impulse blieben in ihrer ursprünglichen abgekapselten Form im Unbewußten er-
halten.
Bei Zwanghaften kann man auch beobachten, daß sie sich durch Schadstoffe in
der Umwelt stärker gefährdet fühlen als andere. Sie streben eine reine Umwelt an.
Zu den realen Gründen, die dafür sprechen, kommt bei ihnen noch etwas Irrationales
hinzu. Sie projizieren das Ergebnis eigener abgewehrter Beschmutzungstendenzen auf
ihre Umgebung. Natürlich sind Menschen, die "grüne" Ziele mit einem fundamentali-
stischen Fanatismus verfolgen, schwer oder gar nicht davon zu überzeugen, daß ihre
Sichtweise auch mit ihrem Unbewußten zu tun haben könnte. Sie meinen, daß nur sie
die Umwelt richtig sehen.
Eine andere Tendenz, die man bei Zwanghaften beobachten kann, ist die Ver-
schiebung der Aufmerksamkeit auf das Kleinere oder das Kleinste. Hier wird ein Ab-

20
wehrmechanismus eingesetzt, der zum Beispiel Konflikte in einem weniger wichtigen
Bereich stattfinden läßt, wo man hofft, eine Lösung zu finden. Eine solche Tendenz
konnte man, als die Spannungen zwischen Ost und West größer waren als heute, in
den Diskussionen um die Atomkraftwerke beobachten. Diese Diskussionen haben an
Intensität verloren, seit die Spannungen zwischen Ost und West geringer geworden
sind. Es gibt in den ehemaligen Ostblockstaaten noch Atomkraftwerke, die ebenso un-
sicher sind wie das von Tschernobyl und die noch nicht abgeschaltet wurden. Auch
die deutschen Atomkraftwerke mit höheren Sicherheitsstandards sind nicht ungefähr-
lich. Man ist aber eher bereit, diese Gefahren zu akzeptieren und sich auf vieljährige
Laufzeiten einzulassen, weil die Angst vor der Gefahr eines Atomkrieges mit seinen
katastrophalen Folgen jetzt nicht mehr in gleichem Maße auf die Atomkraftwerke ver-
lagert wird. im täglichen Leben wirkt sich diese Verschiebung oft in Diskussionen um
unwesentliche Details aus, die plötzlich wichtig werden. Wer merkt, daß er um Din-
ge von zweit- oder drittrangiger Bedeutung intensiv streitet, sollte deshalb überlegen,
woher die Intensität kommt, mit der die Auseinandersetzung geführt wird. Ein jeder
Leser kann vermutlich in seinem Arbeitsbereich Verschiebungen auf Kleineres oder
Kleinstes entdecken. So wird in Betrieben, bei denen an der organisatorischen Grund-
struktur etwas geändert werden müßte, um die Produktion und damit die Qualität der
Produkte zu verbessern, die Diskussion oft auf die Werbung verlagert. Man brauche
die Qualität der Produkte nicht zu erhöhen, man müsse mir stärker für sie werben. Es
kommt dann zu Diskussionen darum, welche Werbefirma beauftragt werden sollte, ob
die Entwürfe passend sind und ob der Werbeetat nicht erhöht werden sollte. Das sind
wichtige Fragen, aber das Kernproblem der Qualitätsverbesserung berühren sie nicht.
Auch in privaten Beziehungen, besonders in Partnerschaften, werden grundsätzli-
che Differenzen oft ausgeklammert, und dies auch dann, wenn sie lösbar wären, eben
weil eine Diskussion dieser Bereiche zunächst einmal zu erheblichen Konflikten füh-
ren würde. Statt dessen streitet man sich um weniger zentrale Dinge. So kann in einer
Partnerschaft, wo ein Konflikt darüber besteht, ob man in der Stadt oder einem nahe-
gelegenen Dorf wohnen soll, eine Diskussion darüber ausbrechen, ob im Badezimmer
der Wohnung, die man zur Zeit hat, Fliesen oder Teppichboden verlegt werden sollen.
Manche Streitpunkte wirken auf den Außenstehenden dann komisch wegen der Dis-
krepanz zwischen der Geringfügigkeit des Inhalts und der Intensität, mit der darum
gestritten wird. Da der Zwanghafte eigene Willkürimpulse fürchtet, hat er auch Angst
vor sozialen Bedingungen, in denen Willkürimpulse wirksam werden könnten. Des-
halb fühlt er sich in Hierarchien wohl, wo sein Handeln von oben her begrenzt wird
und klar ist, was jeder zu tun hat. Außerhalb einer Hierarchie fürchtet der Zwanghaf-
te Verantwortung. Es liegt ihm eher, die Aktivitäten anderer zu behindern und Ver-
änderungen zu boykottieren, als selbst aktiv zu sein. Konflikte, bei denen nicht von
vornherein klar ist, wer gewinnt, versucht er zu vermeiden oder zu umgehen.
Das gilt auch für innere Konflikte. Er legt sich auf eine "richtige" Sichtweise und
Vorgehensweise fest. Mit inneren Widersprüchen geht er so um, daß er das einander
Widersprechende "kompartimentalisiert". Wünsche oder Handlungen, die miteinander
in Konflikt kommen können, haben in seinem Erleben "nichts miteinander zu tun".
So kann ein solider Ehegatte und treusorgender Familienvater eine Geliebte haben.
Darauf angesprochen, sagt er: "Das hat nichts miteinander zu tun". Die Geliebte sitzt
in dem einen Kompartiment, die Familie im anderen. jemand kann für den Schutz
des Lebens und für eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs sein. In diesen

21
beiden Einstellungen liegt ein Konflikt begründet, der wohl nur dadurch zu lösen ist,
daß man den Schutz des Lebens genauer definiert und dadurch einschränkt. Meint man
aber, Abtreibung und Schutz des Lebens hätten nichts miteinander zu tun, erspart man
sich den Konflikt.
Im Kontrast dazu steht die starke Neigung Zwanghafter zur Ambivalenz. Zwang-
hafte können sich oft schwer entscheiden. Sie wollen die einzig richtige Entscheidung
treffen, ob es um die Berufswahl, die Partnerwahl oder die Wahl eines Kleidungs-
stücks geht. Manchmal flüchten sie sich dann in überstürzte Entscheidungen, um den
Entscheidungskonflikt zu beenden. Diese Angst sich zu entscheiden ist in der schö-
nen Literatur oft beschrieben worden, am eindrücklichsten vielleicht in der Erzählung
von Tschechow: Der Mensch im Futteral. Entscheidungen fallen dann am treffendsten
aus, wenn man alle Faktoren, die Einfluß auf sie haben können, berücksichtigt und
nach ihrem Stellenwert gewichtet. Dem stellt sich aber die Neigung des Zwanghaften
zur Kompartimentalisierung entgegen. Sie verhindert, daß er sich einen Oberblick ver-
schafft. Er sieht immer nur den einen oder den anderen Faktor. Während der hysterisch
Strukturierte alles, was ihm nicht paßt, bagatellisiert ("Von einmal, das kann ja nicht
sein", heißt es in einem Bänkellied, gesungen von einer Frau, die ungewollt schwanger
wurde), ist für den Zwanghaften alles wichtig.
Viele Zwanghafte treffen unzweckmäßige Entscheidungen, die sie dann mit Macht
vertreten, weil sie es nicht aushalten können, es nicht "richtig" gemacht zu haben.
Andere wieder bezweifeln jede von ihnen getroffene Entscheidung, möchten sie am
liebsten rückgängig machen und von vorn anfangen.
Eine bessere Obersicht über das zu Entscheidende kann der Zwanghafte auf einem
schematischen Wege erreichen, zum Beispiel indem er in einer Liste aufschreibt, was
für und was gegen eine Entscheidung spricht, und die einzelnen Faktoren zu bewerten
versucht, etwa mit Schulnoten. Manche Zwanghafte fahren mit einem solchen Pro-
cedere gut, andere verheddern sich beim Gewichten der einzelnen Faktoren, weil sie
doch einen jeden Faktor für sich betrachten müssen, auch wenn auf dem Papier die
anderen Faktoren benannt sind.
Die Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, sind ein wesentlicher Grund da-
für, daß sich Zwanghafte in Hierarchien wohlfühlen können. In einer Behörde sind die
Entscheidungskriterien und Entscheidungswege festgelegt, der eigene Entscheidungs-
spielraum ist gering, zumindest auf den unteren Ebenen der Hierarchie. Der Zwanghaf-
te braucht nur den Vorgaben zu folgen. Wenn er sich mit seiner Institution identifiziert,
kann es ihm gut gehen. Anders ist es natürlich, wenn er einen Konflikt mit seinem Chef
hat, so daß er dessen Anordnungen schwer übernehmen kann. Das passiert besonders
häufig, wenn ein neuer Chef kommt, der seine eigenen Entscheidungskriterien und
Entscheidungswege einbringen möchte und nun von den zwanghaften Mitarbeitern zu
hören bekommt, die beabsichtigten Veränderung sei unzweckmäßig oder irrelevant,
oder: "Wir haben es schon immer so gemacht". Übernimmt der Zwanghafte die Vorga-
ben des neuen Chefs, hat er das Gefühl, sich ihm zu unterwerfen - er hatte noch nicht
die Zeit, sich mit ihm zu identifizieren. Da der Zwanghafte einerseits in seinen Frei-
heiten eingeschränkt sein, andererseits aber selbst bestimmen möchte - ein Konflikt,
der durch eine Identifizierung mit den Repräsentanten einer Institution gelöst werden
kann -, wird neuen Chefs von zwanghaften Mitarbeitern, die sich ja in bestimmten Ar-
beitsbereichen, zum Beispiel in Behörden, ansammeln, oft empfohlen, eine Zeitlang
alles beim alten zu belassen und zunächst eine gute Beziehung zu den Mitarbeitern

22
herzustellen, als Basis für eine Identifizierung.

2.5 Phobische Struktur


"Phobos" ist das griechische Wort für Angst. Eine phobische Struktur disponiert zu
Angstkrankheiten, die dann in einer bestimmten auslösenden Situation auftreten. Men-
schen mit einer solchen Disposition haben bestimmte Charaktermerkmale, die auch
dann nachzuweisen sind, wenn der Betreffende noch nicht in eine spezifische auslö-
sende Situation geraten ist, die eine Angstsymptomatik hervorrufen könnte.
Zentrales Thema bei der phobischen Struktur ist, von anderen Menschen mit sei-
nem Verhalten akzeptiert oder abgelehnt zu werden. In jeder Gesellschaft gibt es Ver-
haltensweisen, die als unakzeptabel gelten. Im Englischen spricht man von "social
disapproval". Dabei kann es um sexuelle oder aggressive Handlungen gehen.
Ungesteuerte Aggression wird in fast allen Gesellschaften abgelehnt; man darf nur
unter bestimmten Voraussetzungen und nach bestimmten Regeln aggressiv sein. Die
Anforderungen an das sexuelle Verhalten variieren interkulturell stark. In Mitteleuro-
pa hat sich im 20. Jahrhundert bekanntlich eine sexuelle "Revolution" vollzogen; das
sexuelle Verhalten zu Anfang und zu Ende dieses Jahrhunderts lassen sich fast nicht
miteinander vergleichen. Dennoch werden bestimmte sexuelle Verhaltensweisen nach
wie vor abgelehnt.
Auch in Westeuropa sind die Menschen sexuell nicht so "frei", wie sie gerne sein
möchten. Das ist auch nicht verwunderlich, weil Regeln und Normen konservativ tra-
diert werden und die Zeit, die seit der sexuellen Revolution verstrichen ist, bezogen
auf die Menschheitsgeschichte als extrem kurz bezeichnet werden muß. Die Entkrimi-
nalisierung der männlichen Homosexualität ist noch keine fünfzig Jahre her, ähnliches
gilt für die Verbreitung relativ sicherer Verhütungsmittel und die Liberalisierung der
Abtreibung. Die Diskriminierung Homosexueller ist noch reichlich zu spüren. In den
Entwicklungsländern besteht eine konservative Sexualmoral, die zum Teil wesentlich
strenger ist als im bürgerlichen Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts.
Im Grunde geht es bei der phobischen Struktur um Willkürhandeln. Darum geht
es auch bei der Zwangsstruktur. Der Zwanghafte hat Angst vor seinem inneren Chaos
und den eigenen, nicht sozialisierten, unbewußten Impulsen. Er wehrt sie ab oder läßt
sie nur, vom Affekt und aus dem Motivationszusammenhang isoliert, ins Bewußtsein
treten - in den sogenannten Zwangsgedanken und Zwangsimpulsen, zum Beispiel in
einem Tötungsimpuls ohne Affekt und ohne ein Motiv, das dem Betreffenden erkenn-
bar wäre, und die ihn deshalb erschrecken und befremden.
Der Phobische geht mit seinen Willkürimpulsen anders um. Man kann sich vor-
stellen, daß diese aus den unbewußten Anteilen seiner Persönlichkeit in Richtung der
bewußten Anteile seiner Persönlichkeit vordringen. Zwar werden sie selbst nicht be-
wußt; bewußt wird aber die Angst, die sie dann hervorrufen. Ich benutze gern einen
Vergleich: Der Impuls schiebt die Angst vor sich her wie ein Schiff seine Bugwelle.
Während der Zwanghafte seine Impulse mit einem Gewissen in Zaum hält, das oft
sehr streng ist, macht der Phobische es anders: Er sucht sich Personen, die ihn davor
beschützen, sich sozial inadäquat zu verhalten - sich etwa in sozial abgelehnte sexuelle
Beziehungen einzulassen oder ungesteuert gewalttätig zu werden.
Diese Personen werden Schutzfiguren (Hoffmann und Hochapfel 1999) oder äuße-

23
re steuernde Objekte (König 1981) genannt. Die erstere Bezeichnung will theoriefrei
sein; sie läßt offen, auf welche Weise der Schutz geleistet wird; die von mir eingeführte
Bezeichnung weist auf die Art des Schutzes hin. Das äußere steuernde Objekt schützt
vor Willkürimpulsen, man spricht auch von einem Begleiter (Westphal 1872).
Warum kann der Phobische nicht selbst besorgen, was er von der Schutzperson er-
wartet? Die Ursachen sind in seiner Entwicklungsgeschichte zu suchen. Man findet in
diesem Fall regelmäßig zwei Arten von Müttern oder Mutterersatzpersonen, mit denen
es das Kind zu tun hatte. Ich spreche von Müttern vom Typ A und Typ D. Die Mütter
vom Typ A sind anklammernd. Sie lassen dem Kind wenig Freiheit, nehmen ihm die
Dinge aus der Hand, reagieren mit Angst und Beunruhigung, wenn das Kind den Raum
exploriert - es könnte ja etwas kaputtmachen oder sich verletzen. Man kann sagen, daß
die Mütter auf eine unzweckmäßige Art Schutz gewähren: auf eine Art, die das Kind
daran hindert, gewisse Funktionen selbst zu übernehmen. Die Exploration des Raumes
wird, wenn das Kind heranwächst, durch ein Explorieren im sozialen Feld abgelöst.
Hier reagieren die Mütter auf jede Gefahr eines sozial inadäquaten Handelns mit Be-
unruhigung, ja Angst. Sie versuchen, den Heranwachsenden oder die Heranwachsende
daran zu hindern, eigene Erfahrungen zu machen und durch "Trial and error" zu lernen.
Die Mütter vom Typ D sind distanziert. Sie halten sich von dem Kind zurück,
oder sie sind wenig anwesend. Obwohl sie dem Kind wenig Lernmöglichkeiten in
der Interaktion bieten, erwarten sie von dem Kind die gleichen Entwicklungsschritte,
die es machen könnte, wenn es diese Lernmöglichkeiten hätte. Das Kind fühlt sich
überfordert und traut sich noch weniger zu, als es kann.
Auch das überbeschützte Kind mit einer Mutter vom Typ A lernt nicht, eigenen
Kompetenzen zu vertrauen, einmal, weil es weniger Kompetenz entwickelt hat als an-
dere, zum anderen, weil es von der Mutter erfahren hat, daß sie ihm nicht zutraute,
selbständig zu handeln, und dieses als Selbsteinschätzung übernimmt.
Der Erwachsene, der eine Mutter vom Typ A oder vom Typ D hatte, wird nach
Menschen Ausschau halten, die seine Mutter in verschiedenen schätzenden Funktio-
nen ersetzen könnten. Schützen besteht hier darin, daß ein sozial inadäquates Will-
kürhandeln verhindert wird. Ein solches Verhalten kann dadurch entstehen, daß die
Schutzperson auf den Betreffenden "aufpaßt", das heißt, daß ihn aktiv oder schon
durch ihre Gegenwart daran hindert, sie Dinge zu tun, die ihn in Schwierigkeiten brin-
gen könnten. Eine Schutzperson kann auch durch ihre Wirkung auf andere Personen
Schutz geben, zum Beispiel wird eine Frau auf der Straße in Begleitung seltener oder
gar nicht angesprochen. Auch eine Frau, die einen Kinderwagen schiebt, wird in der
Regel nicht "angequatscht", jedenfalls, wenn angenommen wird, daß es sich um ihr
eigenes Kind handelt. Das ist ein Grund, weshalb auch ein Säugling im Kinderwagen
als Schutzobjekt wirken kann. Im Kapitel "Zum Umgang mit Trennung - phobische
Struktur" werde ich weitere Beispiele für Schutzobjekte bringen.
Hat eine phobische Disposition zu einer Angstsymptomatik geführt, muß diese
behandelt werden, sei es durch Psychoanalyse oder ein von der Psychoanalyse abge-
leitetes Verfahren, sei es durch Verhaltenstherapie. Aber auch mit den Persönlichkeits-
merkmalen einer phobischen Struktur ohne eine Phobie muß umgegangen werden.
Worin bestehen sie?
Man kann beobachten, daß Menschen mit einer phobischen Struktur bereits vor
dem Ausbruch einer Angstsymptomatik - und manche entwickeln nie eine - nach
Schutzfiguren suchen. Wenn sie solche Schutzfiguren entbehren müssen, entwickeln

24
sie zwar noch keine ausgeprägte Angstsymptomatik, fühlen sich aber ängstlich. Diese
rudimentären Formen von Angst werden oft nicht als Angst erkannt; der Betreffende
"fühlt sich unwohl", "fühlt sich nicht sicher", hat "so ein schummeriges Gefühl" oder
fühlt sich "deprimiert". Die Bezeichnung "deprimiert" wird ja im Volksmund für alle
Gefühlszustände angewandt, deren Ursache nicht klar ersichtlich ist.
Die phobische Struktur weist oft eine Arbeitshemmung auf, wenn keine Schutzfi-
gur bzw. kein steuerndes Objekt zugegen ist. Im Unterschied zum Depressiven emp-
findet der Betreffende den Wunsch, etwas zu tun, er erlebt also Initiative, setzt sie
aber oft nicht in Handeln um, weil er eben dieses schummerige Gefühl bekommt oder
sich bei dem Gedanken, selbständig zu arbeiten, diffus unwohl fühlt. In Fremdenver-
kehrsorten werden Täfelchen verkauft, auf denen Sinnsprüche stehen, oft mit einem
humoristischen Gehalt. Einer dieser Sinnsprüche lautet: "Wenn ich den Drang verspü-
re zu arbeiten, setze ich mich in eine Ecke, bis er vorüber ist." Menschen mit einer
phobischen Struktur sind gute Zweite und oft schlechte Erste. Häufig versuchen sie,
ihre Beförderung in eine leitende Position zu verhindern. Gelangen sie doch in ei-
ne solche Position, kann es ihnen gelingen, ihre Mitarbeiter zu steuernden Objekten
zu machen, indem sie diese um Rat fragen oder zumindest von ihren Entscheidun-
gen laufend in Kenntnis setzen. Das wird von den Mitarbeitern oft als demokratischer
Führungsstil geschätzt. Allerdings gibt es für einen Chef immer wieder Situationen,
wo er selbst rasch entscheiden muß, und dann zeigt sich eine Entscheidungshemmung.
So ein Chef kann schwer selbständig handeln, wenn niemand da ist, der ihn beraten
oder "begleiten" könnte. Ihm wäre zu empfehlen, für derlei Situationen eine Vorkeh-
rung zu treffen:zum Beispiel, indem er in solchen Fällen Telefonkontakte zu einem gu-
ten Freund oder Bekannten herstellt. Der kann ebenfalls eine leitende Position haben
oder auch der Mitarbeiter eines anderen Chefs sein und so den nicht zur Verfügung
stehenden eigenen Mitarbeiter ersetzen. Manche phobische Chefs sprechen in derlei
Situationen auch mit ihrer Frau, und das selbst dann, wenn sie von der Materie, um
die es geht, nichts versteht. Es genügt oft schon, sich darüber auszusprechen; die Frau
hört zu, sagt vielleicht, was sie denkt, auch wenn es fachlich nicht gehaltvoll ist, weil
sie einen ganz anderen Beruf hat. Manche Chefs fühlen sich auch auf ihre Sekretärin
angewiesen, die sie daran hindert, in irgendwelche Fettnäpfchen zu treten. Eine Sekre-
tärin hält sich ja meist in unmittelbarer Nähe des Chefs auf und kann von ihm jederzeit
angesprochen werden, im Unterschied zu anderen Mitarbeitern, die vielleicht dringen-
de Kundengespräche führen oder gerade nicht im Hause sind. Für die Sekretärin hat
der Chef absolute Priorität. Bei anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist das mit
Recht nicht immer der Fall. Diese ständige Verfügbarkeit macht sie für die Funktion
eines steuernden Objekts bei einem phobischen Chef besonders geeignet.
Ein Student mit einer phobischen Arbeitsstörung hat keine Sekretärin. Vielleicht
hat er aber eine gute Bekannte oder einen guten Bekannten, die dabei sein können,
wenn er arbeitet. Dabei ist es wieder nicht notwendig, daß es sich um jemanden han-
delt, der von dem Fach etwas versteht. Auch ein Kommilitone oder eine Kommilitonin,
die etwas ganz anderes studieren, können als "Begleiter" dienen. Stehen keine guten
Bekannten zur Verfügung, tun es oft auch Fremde. So gibt es phobische Studenten,
die in Bibliotheken wesentlich besser arbeiten können als allein zu Hause. Man kann
sich natürlich fragen, in welches soziale Fettnäpfchen ein Student treten kann, der zu
Hause sitzt und versucht zu arbeiten. Darum geht es in diesem Fall nicht direkt. Die
Angst, sozial Nachteiliges zu tun, besteht hier nicht unmittelbar, sondern für die Zu-

25
kunft. Wenn jemand etwa falsch lernt oder nicht das Richtige vorbereitet, kann er sich
bei einem Seminarvortrag oder einer Prüfung blamieren. Die blamabel konnotierte Si-
tuation, eine Situation des "social disapproval" wird antizipiert. Ist jemand zugegen,
hat er vielleicht keinen realen Einfluß darauf, was und wie gelernt wird; die einfa-
che Gegenwart genügt. Hier haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das nur unter
Rückgriff auf die weiter oben beschriebenen Kindheitserfahrungen verstanden werden
kann. Wenn die Mutter da ist und nichts sagt, macht man es schon richtig.
Die phobische Struktur bietet im Vergleich zu anderen Strukturen bessere Mög-
lichkeiten, mit ihr in einer zweckmäßigen Weise umzugehen.
Wenn jemand eine Arbeit zur Zufriedenheit anderer ausführt, weil jemand da ist,
der bei der Arbeit gar nicht mitmacht, liegt der Schluß ja nahe, daß der Betreffende
keine Kompetenzen ersetzt, sondern nur das Gefühl gibt, es schon richtig zu machen.
In dem Kapitel "Zum Umgang mit Trennung - phobische Struktur" gehe ich noch
einmal ausführlicher auf die Probleme ein, die sich ergeben können, wenn eine wich-
tige Beziehungsperson als einzige die Funktion des steuernden Objekts übernehmen
soll, und daß es besser sein kann, diese Funktion auf mehrere zu verteilen. Bei den
sozialen Phobien, von denen die Errötungsfurcht (Erythrophobie) die bekannteste ist,
wird die Angst vor sozialer Geringschätzung durch andere bewußt erlebt. Der Erythro-
phobe hat die unbewußte Angst, er könnte sich so verhalten wie eine wichtige Person
in seiner Kindheit, die sich in einer sozial gering zu schätzenden Weise verhielt und
mit der er identifiziert ist. Das kann ein alkoholkranker Vater oder eine alkoholkranke
Mutter sein, es können Diskrepanzen zwischen dem öffentlichen Verhalten eines Pfar-
rers und seinem privaten Verhalten sein; da gibt es viele Möglichkeiten. Ein Psychiater,
Sohn eines Psychiaters und Direktor eines auf dem Land gelegenen Landeskranken-
hauses, hatte als Kind in der Schule mitbekommen, daß die mit den psychisch Kran-
ken Beschäftigten als ähnlich krank eingestuft wurden wie die Patienten ("Nur der
Schlüssel unterscheidet sie"). Als Dozent hatte er die Befürchtung, man könnte von
ihm denken, er selbst habe die Symptome, von denen er in seinen Vorlesungen gerade
sprach, er könnte erröten und dadurch die den Zuhörern unterstellte Vermutung nur
bestätigen. Gefürchtet wird dann, durch Erröten aufzufallen. Soziale Phobien können
das Leben eines Menschen sehr einschränken. Soziale Angst ist eine der Ursachen von
Alkoholismus. Menschen trinken sich Mut an, um in Gesellschaft nicht zu gehemmt
aufzutreten. Für Erythrophobien ist charakteristisch, daß man an den Patienten nicht
viel beobachten kann. Erythrophobe werden seltener rot, als sie befürchten. Ein So-
ziophober, der fürchtet zu zittern, wenn er ein Glas an den Mund führt, zittert nicht
oder nur so wenig, daß man es kaum sieht. Ich erinnere mich an einen Patienten, der
mit seinem Vater identifiziert war. Der Vater machte mit seinem Geschäft Pleite. Nach
außen hin mußte man den Kopf hoch tragen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre.
Der Patient entwickelte dann später in einer spezifischen auslösenden Situation, bei
der es darum ging, daß er etwas Unangenehmes und sozial Abgelehntes verheimlichen
wollte, die Phobie, mit dem Kopf zu zittern. Ein Kopfzittern war nicht wirklich zu
beobachten, vielleicht entstand es gelegentlich, wenn er sich besonders bemühte, den
Kopf ruhig zu halten. Dennoch lebte er dauernd in der Angst vor dem Kopfzittern.
Viele soziale Phobien werden nie behandelt. Ich möchte an dieser Stelle darauf
hinweisen, daß es Behandlungsmöglichkeiten gibt und daß sie wahrgenommen wer-
den sollten. Aber der Gang zum Therapeuten fällt Menschen mit einer sozialen Phobie
schwer, weil sie sich ihres Symptoms schämen. Sie verheimlichen es lieber vor aller

26
Welt. Andererseits gibt es auch leichte Formen der Soziophobie, denen man keinen
Krankheitswert zuschreiben würde und die von selbst verschwinden, wenn der Betref-
fende mehr Umgang mit Menschen hat und erfährt, daß die negative soziale Beurtei-
lung nicht eintritt. Menschen mit einer Soziophobie von Krankheitswert lassen sich
davon aber schwer überzeugen.

2.6 Hysterische Struktur


Die hysterische Struktur entsteht im vierten und fünften Lebensjahr. In der sogenann-
ten ödipalen Entwicklungsphase wendet sich die Aufmerksamkeit des Kindes den Ge-
schlechtsunterschieden zu. Das weiß man aus Analysen, aus Kinderbeobachtungen
und Kindertherapien. In der ödipalen Entwicklungsphase geht es um Heterosexualität,
aber auch um gleichgeschlechtliche Wünsche und Fantasien, die sich im sogenannten
negativen Ödipuskomplex zeigen.
Im positiven Ödipuskomplex sucht der Junge eine enge Verbindung zur Mutter
und empfindet den Vater als Rivalen, die Tochter sucht eine enge Verbindung zum
Vater und empfindet die Mutter als Rivalin. Unter negativem Ödipuskomplex versteht
man, daß der Junge auch dem Vater nahe sein möchte und die Mutter dabei als Rivalin
empfindet; die Tochter möchte der Mutter nahe sein und empfindet den Vater als Ri-
valen. Alle diese Wünsche nach einer engen Beziehung sind erotisch gefärbt, freilich
nicht im Sinne der Erwachsenensexualität, sondern in einer kindlichen Form, die dem
erreichten Entwicklungsstadium entspricht.
Für Freud stellte sich im Ödipuskomplex die angeborene Bisexualität des Men-
schen dar. Männer und Frauen haben hetero- und homosexuelle Wünsche. Bei der
großen Mehrzahl überwiegen die heterosexuellen Wünsche, es gibt aber auch Über-
gänge auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polen Heterosexualität und Homo-
sexualität. Wie viele Menschen sich in der Mitte zwischen beiden Polen aufhalten, ist
nicht bekannt. In unserer Gesellschaft existiert, außer in pornografischen Filmen, noch
kein rechter Platz für bisexuelle Menschen, also Menschen mit zwei Geschlechtsi-
dentitäten. Vielleicht entscheiden sich Menschen in der Mitte des Kontinuums zwi-
schen Homo- und Heterosexualität für die eine oder die andere Möglichkeit, um eine
geschlossenere Identität entwickeln zu können. Was nicht zu der gewählten Identität
paßt, wird unterdrückt. Die Identifikation mit der eigenen männlichen oder weiblichen
Geschlechtsrolle geschieht dann auf der Basis einer guten Beziehung zum gleichge-
schlechtlichen Elternteil.
In der ödipalen Entwicklungsphase kann es nun zu Problemen kommen. Der ge-
gengeschlechtliche Elternteil kann aus irgendwelchen Gründen, die im Verhalten oder
in der Stellung innerhalb der Familie liegen, unattraktiv sein, so daß ein Kind nicht
so werden möchte. Wenn das Kind erkennt, daß es nicht der Partner von Vater oder
Mutter sein kann, liegt es ja im Zuge der normalen Entwicklung, daß es sich dann mit
dem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifiziert und hofft, einmal so zu werden wie
dieser. Der Junge möchte so werden wie der Vater, das Mädchen so wie die Mutter. Ist
nun der Vater wenig attraktiv, ist er zum Beispiel schwach, läßt er sich von der Mutter
herumkommandieren, dann wird der Junge wenig Interesse daran haben, so zu werden
wie er. Entsprechendes gilt für die Mutter: Wenn ihre Rolle in der Familie unattraktiv
ist, wird die Tochter wenig Neigung haben, so werden zu wollen wie sie.

27
In den patriarchalischen Familien muß die Rolle der Mutter nicht unattraktiv sein,
wenn sie zu Hause "regiert" und es dem Vater überläßt, außerhalb der Familie seine
Meriten zu erwerben, die Familie zu schützen, ihr eine gute materielle Versorgung
und eine angesehene soziale Stellung zu verschaffen. Allerdings identifiziert sich dann
das Mädchen mit einer Frau, die auf das Haus beschränkt ist; eine Rollenvorstellung,
die mit dem heutigen Bild der berufstätigen Frau, Hausfrau und Mutter wenig zu tun
hat. In einer solchen Familie lernt der Junge auch nicht, mit einer "modernen" Frau
umzugehen.
Da sich die Rollen von Frauen und Männern heutzutage weniger unterscheiden
als vor 30 oder 50 oder gar 100 Jahren, so daß Frauen wie Männer in fast allen Be-
rufen tätig sein können, kommt es in Familien, wo beide Eltern berufstätig sind, zu
Schwierigkeiten bei der Aufteilung der Arbeit, zum Beispiel im Haushalt, die es in
der patriarchalischen Familie nicht gegeben hat. Wer kocht oder putzt, ist nicht von
vornherein festgelegt. Die Kinder bekommen dann mit, daß es schwer sein kann, eine
"moderne" Beziehung zu leben.
Eine hysterische Struktur entsteht aber nach wie vor dadurch, daß der Sohn an die
Mutter gebunden bleibt und sich nicht mit der väterlichen Männerrolle identifiziert und
die Tochter an den Vater gebunden bleibt und sich nicht mit der mütterlichen Frauen-
rolle identifiziert. Wenn keine Identifikationsangebote außerhalb der Familie das aus-
gleichen, was in der Familie fehlt, kommt es zu Unsicherheiten in der männlichen oder
weiblichen Identität. Diese sind, neben der Bindung an den gegengeschlechtlichen El-
ternteil, ein Hauptmerkmal von Menschen mit einer hysterischen Struktur. Zu der Un-
sicherheit bezüglich der weiblichen Identität gehört bei den Frauen eine Blockierung
sexueller Fantasien und Wünsche, die bewirken kann, daß sexuelle Signale, die sie
aussenden, keine Entsprechung in ihrem Erleben haben. Geht ein Mann auf diese Si-
gnale ein, reagieren sie mit Ekel und Abscheu. Sexualität hat auch die Konnotation,
inzestuös zu sein, weil sie sich eben nach dem ödipalen Modell der Beziehung zum
Vater entwickelt, einer Beziehung, in der Sexualität nicht gelebt werden darf. Störun-
gen der Sexualität von erwachsenen Frauen haben so oft ihre Wurzel in der unerfüllten
und verbotenen Liebe zum Vater. Kommt es zu sexuellen Übergriffen von Seiten des
Vaters, wird Sexualität noch stärker tabuisiert. Die hysterisch strukturierte Frau hat
sich auf zweierlei Weisen identifiziert: einmal mit dem Vater; sie möchte in ihrer Part-
nerschaft die Große und Starke sein, und einmal mit ihrer Rolle als kleines Mädchen
in der Beziehung zum Vater. Sie sucht nach einem starken Partner, der ihr überlegen
ist und zu dem sie eigentlich keine sexuelle Beziehung haben darf. Wird eine sexuelle
Beziehung aufgenommen, muß der große und starke Mann zu einem kleinen gemacht
werden, damit er dem Vater unähnlicher wird. Die Frau wirft dem Mann dann vor, daß
er schwach ist, obwohl sie ihn in die Rolle des Schwachen hineinmanövriert hat. Das
ist ein Grundproblem vieler Ehen hysterischer Frauen.
Bei den hysterischen Männern zeigt sich die Unsicherheit in der Geschlechtsiden-
tität, wie bei Frauen auch, in Zweifeln bezüglich der Qualität von Geschlechtsmerk-
malen. Während Frauen ihren Busen zu klein oder ihre Beine zu dick finden, hat der
Mann Probleme mit der Einschätzung seines Genitals, das er als zu klein oder we-
nig funktionstüchtig fantasiert. Auch sonstige männliche Merkmale schätzt er bei sich
negativ ein. Diese Vorstellungen behindern ihn in der Konkurrenz mit Männern.
Hat ein Mann aber von der Mutter viel Anerkennung, ja sogar Bewunderung er-
fahren und den Vater bei der Mutter ausgestochen, nährt das in ihm die Illusion, es

28
genüge, Frauen zu gefallen, um im Leben Erfolg zu haben. Man brauche nicht zu ar-
beiten und etwas zu leisten. Dem Vater habe das bei der Mutter auch nicht viel genützt.
Man spricht von einem ödipalen Triumph, der sich oft in großen Arbeitsschwierig-
keiten ausdrückt, weil nicht genug Zeit oder Anstrengung auf Ausbildung und Beruf
verwendet wird. Da der Mann nun aber nicht wie die Frau die Option hat, sich auf die
Hausfrau- und Mutter-Rolle zu konzentrieren - der Hausmann hat auch heute noch we-
nig Ansehen, die Hausmann-Rolle wird in der Regel nur begrenzte Zeit durchgehalten
-, kommt es zu Bilanzkrisen, wenn der Mann erkennen muß, daß er im Beruf etwas
leisten sollte, um von Frauen als Partner geschätzt zu werden.
Auch von Frauen wird heute erwartet, daß sie einen Beruf zumindest erlernen und
auch ausüben, solange keine Kinder da sind. Eine Frau, die glaubt, es genüge, mit
Männern zu flirten, um beruflich voranzukommen, irrt heutzutage meist.
Eine hysterisch strukturierte Frau, die sich begehrt fühlt, kann mit diesem Gefühl
der Attraktivität schon zufrieden sein. Diese Selbsteinschätzung wird durch das Flirten
verbessert. Ein hysterisch strukturierter Mann, mit dem eine Frau nur flirtet, wird sich
damit selten zufrieden geben. Er fühlt sich abgewiesen, wenn die Frau nicht mit ihm
ins Bett geht. Dadurch erst fühlt er sich anerkannt. Die Frau muß dann in ihn verliebt
bleiben, so verliebt wie in den ersten Tagen und Wochen. Sonst verläßt er sie und sucht
sich eine neue. Er braucht die intensiven Gefühle einer Frau in der ersten Verliebtheit
als Anerkennung seiner Männlichkeit. Wird, wie das im Laufe der Entwicklung einer
Beziehung normalerweise der Fall ist, die Verliebtheit geringer und durch die Notwen-
digkeit, eine gemeinsame, konkrete Lebensplanung aufzustellen, überlagert, sucht der
Mann das Weite und versucht, eine andere Frau für sich zu gewinnen. Der hysterisch-
flirtenden Frau, die viele Männer anzieht und keinen zu ihrem Geliebten macht, ent-
spricht die Don Juan-Figur beim Mann. Die beiden unterscheiden sich darin, daß die
Frau den sexuellen Vollzug eher fürchtet - sie befürchtet auch, daß der Mann von ihr
im Bett enttäuscht sein könnte. Dagegen drängt ein Don Juan auf den Vollzug des
Geschlechtsakts, weil er sich nur dann als Mann bestätigt und voll anerkannt fühlen
kann.
Die sogenannte ödipale Fixierung führt bei Männern und Frauen also zu mannig-
fachen Störungen bei den Beziehungen zum anderen Geschlecht. Entsprechende Be-
ziehungstypen finden sich auch bei homosexuellen Frauen und Männern, obwohl man
über sie, was die Partnerschaften angeht, weniger weiß als bei den heterosexuellen.
Frauen scheinen in homosexuellen Beziehungen weniger zu einem häufigen Partner-
wechsel zu neigen als Männer.
Die durch eine frühe Fehlentwicklung bedingten Prägungen sind auch in langen
psychoanalytischen Therapien nur schwer zu beeinflussen. Freud sprach vom "ge-
wachsenen Fels" und meinte, daß einige Aspekte der ödipalen Fixierungen biologisch
bedingt seien. Aus heutiger Sicht würde man zurückhaltender sagen, daß die ödipalen
Prägungen mit ihren Folgen für die Identitätsentwicklung mit den derzeit zur Verfü-
gung stehenden therapeutischen Mitteln schwer beeinflußt werden können.
Allerdings kann ein Verständnis der Entstehung solcher Prägungen dabei helfen,
mit ihnen in adäquaterer Weise umzugehen. Damit ist gemeint, daß ihre Nachteile ver-
mieden werden können, wenn die Unsicherheit in der Geschlechterrolle als zentrales
Problem erkannt wird und auch die Illusion, man könne als attraktiver Mann und als
attraktive Frau Leistung durch Charme ersetzen, als Illusion erkannt wird.
In der Berufsarbeit spielen auch die sogenannten "hysterischen Denkstörungen"

29
eine Rolle. Bei hysterisch strukturierten Männern und Frauen, die eine solche Denk-
störung "haben" - oft leiden sie nicht darunter -, fällt auf, daß sie aufgrund von wenig
Informationen zu einer festen Meinung kommen, die sie dann mit Verve vertreten. Hier
handelt es sich um eine kindliche Form des Denkens. Kinder reagieren ja viel mehr als
Erwachsene aus ihrem Gefühl heraus. Daß eine Situation dann am besten verstanden
und beurteilt werden kann, wenn man sich Informationen über sie verschafft hat, und
daß es Sinn machen kann, sein Urteil aufzuschieben, bis Informationen zur Verfügung
stehen, ist etwas, das man erst im Zuge des Erwachsenwerdens lernt. Natürlich kann
man das Informationensammeln übertreiben und so den günstigen Zeitpunkt für eine
Entscheidung verpassen. Das findet man vor allem bei Zwanghaften mit ihrem großen
Sicherheitsbedürfnis. Zum Informationensammeln gehört auch, daß man gelernt hat
einzuschätzen, wie viele Informationen in einer bestimmten Situation tatsächlich er-
forderlich sind. Das variiert ja erheblich.
Man muß auch beurteilen lernen, welche Informationen relevant sind, um zu einer
richtigen Beurteilung oder zutreffenden Erkenntnis zu gelangen. Bekanntlich genügen
Angaben über die Farbe eines Schiffes, die Zahl seiner Schornsteine und die Zahl der
Bruttoregistertonnen nicht, um auf das Alter des Kapitäns schließen zu können. Daß
nicht die relevanten, sondern irrelevante Informationen zum Begründen einer Beur-
teilung herangezogen werden, ist ein weiterer Aspekt der hysterischen Denkstörung.
Menschen mit einer hysterischen Denkstörung machen sich oft darüber lustig, daß ein
anderer erst Informationen haben möchte, ehe er urteilt. Sie können "spontan sein",
schnell zu einer Beurteilung kommen. Manchmal handeln sie, ehe sie gedacht haben.
Wer noch "im Ödipus steckt", sieht die Welt vielfach, wie er sie mit vier oder fünf Jah-
ren gesehen hat. Auch wenn er sich viel Wissen erwerben konnte, über das er als Kind
nicht verfügte, hat er beim Beurteilen einer Situation seine "Spontaneität" bewahrt.
Neben der Fixierung der kognitiven Entwicklung auf einem Kleinkind-Niveau,
was das Beurteilen von Situationen angeht, werden für die Entwicklung einer hyste-
rischen Denkstörung auch Blockierungen des Neugier-Verhaltens verantwortlich ge-
macht. Kinder sind ja neugierig darauf, was die Eltern im Schlafzimmer miteinan-
der tun; es kann sie faszinieren oder auch ängstigen. Daß Eltern die Kinder an ihrem
Sexualleben in der Regel nicht als Zuschauer teilnehmen lassen, kann bei manchen
Kindern zu dem Schluß führen, daß Sexualität etwas Verbotenes sei. Sexuelles Neu-
gierverhalten wird von vielen Eltern überhaupt negativ beurteilt und abgelehnt. Die
Blockierung des Neugierverhaltens weitet sich dann auch auf das Sammeln von Infor-
mationen aus.
Der hysterische Denkstil ist, sobald die ideologischen Verhärtungen ("Man muß
spontan sein") in Frage gestellt werden, durch Training veränderbar. Hysterisch Struk-
turierte müssen manchmal erst lernen, welche Informationen notwendig sind, um in
einer bestimmten Situation eine begründete Entscheidung zu treffen. Wenn sie ge-
nügend Geduld aufbringen, das zu tun (oft sind sie in kindlicher Weise auf schnelle
Erfolge aus), kann sich einiges zum Zweckmäßigen ändern.
Was die Berufswahl angeht, finde ich es wichtig, daß der hysterisch Strukturier-
te einerseits seine Persönlichkeitsstruktur bei der Entscheidung für einen bestimmten
Beruf oder Berufszweig mit in Rechnung stellt - hysterisch Strukturierte sind im allge-
meinen schlechte Buchhalter, technische Zeichner oder Juristen -, sich aber auch klar
macht, daß die Sympathie für einen Beruf allein nicht ausreicht, um eine Berufswahl
zu begründen. Bei hysterisch strukturierten Menschen ist die Berufswahl häufig durch

30
bewunderte Personen beeinflußt, zum Beispiel durch einen bewunderten Lehrer in ei-
nem bestimmten Fach, wobei zu wenig danach gefragt wird, ob die eigene Begabung
die Wahl eines entsprechenden Berufes nahe legt oder ob man in einem anderen Beruf
besser zurechtkäme.
Da der hysterisch Strukturierte auf schnelle Erfolge aus ist - er hat ja wenig Ge-
duld mit sich selbst -, wirft er bald die Flinte ins Korn, wenn nicht alles sofort klappt.
Leistung ist in unserer Gesellschaft mit der männlichen Identität enger verknüpft als
mit der weiblichen, obwohl sich darin viel geändert hat. Ein Mann, der im Beruf be-
ziehungsweise schon in einer Ausbildung oder in einem Studium versagt, wird viel
eher meinen, daß er als Mann nichts taugt, als eine Frau in der gleichen Situation an
ihrem Frausein zweifeln würde. Wenn ein hysterisch strukturierter Mann, vor allem
einer, der einen ödipalen Triumph erlebt hat, sich darauf verlegt, seine Männlichkeit
durch Leistung im Beruf zu beweisen, wird das für sein weiteres Schicksal in der Regel
besser sein, als wenn er bei Enttäuschungen im Beruf Trost durch Erfolge bei Frau-
en sucht - eine Verhaltensweise, die man bei Menschen, die einen ödipalen Triumph
erlebt haben, oft findet.
Wenn hysterisch Strukturierte älter werden, fällt es ihnen oft besonders schwer,
sich mit den Einschränkungen des Alt-Werdens abzufinden. Bei Männern geht es mehr
um die körperliche Leistungsfähigkeit, bei Frauen mehr um das Aussehen. Während
die körperliche Leistungsminderung meist nicht zu verkennen ist und hysterisch struk-
turierte Männer oft dazu bringt, eine geliebte Sportart aufzugeben, die von anderen
gleichen Alters noch mit Freude weiter betrieben wird, ist es leichter, sich über das
eigene Aussehen hinwegzutäuschen. Zwar wirft der Spiegel ein wirklichkeitsgetreu-
es Bild zurück, doch geht es bei der Wahrnehmung des Spiegelbildes ähnlich zu wie
sonst bei der Wahrnehmung von Realität: Man kann manches ausblenden, sich in einer
vorteilhaften Körperhaltung oder Kopfhaltung vor den Spiegel stellen, einen Spiegel
wählen, der nur einen Teil des Körpers zurückwirft, während zuvor ein Spiegel benutzt
wurde, der es gestattete, den ganzen Körper zu sehen, und vielleicht auch ein zweiter
Spiegel zu Hilfe genommen wurde, um die seitlichen und hinteren Partien des Körpers
ins Bild zu bringen. Oder die Frau betrachtet sich nur noch angezogen im Spiegel. Da
das eigene Verhalten vom Selbstkonzept beeinflußt wird, verhalten sich Frauen, die ihr
Alter leugnen, meist wie wesentlich jüngere Frauen, was nicht immer gut ankommt,
sondern peinlich wirken kann. Solchen Frauen ist schwer zu helfen, weil die Konfron-
tation mit ihrem tatsächlichen Aussehen ja nicht ohne Grund geleugnet wird. Es ist oft
schwer, ein Selbstkonzept zu verändern. Die Vorstellung von der "reifen Frau", wo-
mit nicht eine Frau in der Blüte ihrer fertilen Jahre, sondern eine ältere Frau gemeint
ist, kann von älteren Frauen mit einem Jugendlichen Selbstkonzept schwer akzeptiert
werden, zumal in den Medien Frauen auftreten, die ihr Aussehen durch kosmetische
Chirurgie in Richtung ihres Selbstkonzepts verändert haben. Ob eine Frau sich operie-
ren lassen soll, kann nur im Einzelfall entschieden werden, sie muß sich aber darüber
im klaren sein, daß der Alterungsprozeß damit nicht aufgehoben oder aufgeschoben
wird, sondern nur seine sichtbaren Folgen, und daß ihr die Konfrontation mit ihrem
tatsächlichen Alter auch dann noch bevorstehen wird, wenn sie den Alterungsprozeß
in seinen sichtbaren Folgen ein Stück weit aufhebt. Männern, die unter der Einschrän-
kung ihrer Leistungsfähigkeit leiden, wäre zu empfehlen, sich eine Sportart zu suchen,
die sie noch gut ausüben können, und auf Sport nicht zu verzichten. Für Männer, die
ihr Leben lang Sport betrieben haben, bedeutet das Aufgeben von Sport ja ein Ge-

31
sundheitsrisiko. Solche Männer nehmen oft rasch an Gewicht zu, mit entsprechenden
gesundheitlichen Folgen, und werden unbeweglich. Chirurgische Eingriffe halte ich
dann für sehr gerechtfertigt, wenn es sich um Schauspieler handelt, die ihre Berufs-
arbeit nur fortsetzen können, wenn sie jünger aussehen. Im besonderen Maße gilt das
für Schauspielerinnen, für die es nur noch wenige Rollen gibt, wenn sie die Fünfzig
erreicht haben.

32
Kapitel 3

Sexualität und Charakter

3.1 Schizoide Struktur


Aus der Sicht des Schizoiden kann Sexualität eine besondere Art der Eigenständig-
keit entwickeln, die sie als ein Endzweck oder auch als eine Kunst erscheinen läßt,
die ausgeübt und kultiviert wird, wobei es auf die Partnerin oder den Partner nicht
wirklich ankommt. Eine Frau steht für "die Frau" ein Mann steht für "den Mann".
Wer Sexualität "macht", verhält sich aus der Sicht des Schizoiden ähnlich wie jemand,
der ein Musikstück auf einer Geige spielt. Eine Geige ist notwendig, "es geht", aber
nicht nur auf einer bestimmten Geige, viele Geigen sind möglich. Das kommt auch in
Masturbationsfantasien zum Ausdruck, wo die Frauen oder Männer, die ein oder eine
Masturbierende sich vorstellt, anonym bleiben.
So wird Sexualität ins Allgemeine transportiert. Sie gewinnt eine besondere Art
von Wirklichkeit. Als Vertreter "der Männer" oder "der Frauen" bekommt auch die
Partnerin oder der Partner eine große Bedeutung, ähnlich wie der Repräsentant eines
Staates, zum Beispiel ein Gesandter, der als Vertreter des Staates gesehen und als sol-
cher behandelt und respektiert wird.
Sexualität auf dieser allgemeinen Ebene erlaubt dem Schizoiden, Sexualität zu le-
ben, ohne daß die Beziehung zu persönlich wird. Ein Zugang zu anderen Formen der
Sexualität läßt sich nur über eine Verbesserung der Fähigkeit, sich abzugrenzen, errei-
chen. Wer in Beziehungen die Erfahrung macht, daß er sich aus ihnen zurückziehen
und wieder in sie hineingehen kann, wer seiner Individualität So sicher ist, daß er in
der Lage ist, Nähe ertragen, ohne befürchten zu müssen, sich zu verlieren, kann Nähe
eher ertragen als jemand, der auf Distanz bleiben muß, um sich "zu bewahren". Es
geht also, wenn man so will, nicht um ein Training von Nähe an sich, sondern um ein
Training des Sich-Abgrenzens und des Sich-Öffnens. Das Sich-abgrenzen-Können in
eine Voraussetzung dafür, daß der Schizoide sich öffnen kann.

3.2 Narzißtische Struktur


Der narzißtisch Strukturierte kann Sexualität durchaus genießen. Wichtig ist sie ihm
aber in erster Linie zur Stützung seines überhöhten Selbstkonzepts. Hier unterschei-
det er sich allerdings vom hysterisch Strukturierten der phallisch-narzißtischen Form.
Letzterer sucht Bestätigung seiner Männlichkeit, die er immer in Frage gestellt fühlt

33
und immer wieder bestätigen lassen muß. Für den narzißtisch Strukturierten ist Sexua-
lität eine Möglichkeit unter vielen, positive Rückmeldungen zu erlangen. In dem Film
Adulère, mode d’emploi schläft eine Architektin zum ersten Mal mit einem von ihr
umworbenen Mann, als das Telefon läutet und ihr mitgeteilt wird, daß sie zusammen
mit einem Kollegen einen wichtigen Archltekturpreis gewonnen hat. In diesem Augen-
blick verliert der Mann, mit dem sie schläft, für sie anscheinend jede Bedeutung. Sie
denkt nur noch daran, den Preis entgegenzunehmen. In dieser Szene drückt sich eine
Hierarchie von Bedeutsamkeiten aus: Der Archltekturpreis bringt viel mehr narzißti-
schen Gewinn als der Mann, mit dem sie schläft. Bei dem Anruf handelt es sich nicht
um einen Appell, mit dem eine Ärztin oder eine Polizistin aufgefordert wird, ihren
beruflichen Pflichten nachzukommen, einen Patienten zu besuchen oder sich auf den
Weg zu machen, um einen Verbrecher zu jagen. Tatsächlich gibt es in vielen Filmen die
Szene, wo zwei im Bett liegen und einer der Partner abgerufen wird. Die Architektin
hätte den Koitus nicht zu unterbrechen brauchen, sie hätte sich auch einige Minuten
später auf den Weg machen können, um den Preis entgegenzunehmen, vielleicht Stun-
den später. Das Verhalten der Frau wird durch eine Hierarchie der Bedeutsamkeiten
bestimmt.

Von Talleyrand wird berichtet, daß er behauptete, mit manchen Frauen "par po-
litesse" geschlafen zu haben. Nun verursacht Höflichkeit noch keine Erektion. Die
Frauen müssen also auch als Frauen auf ihn gewirkt haben. "Höflichkeit" steht hier
"um mir Vorteile zu verschaffen". Ein Mann kann aus den verschiedensten Gründen
mit einer Frau schlafen, mit denen man ohne diese Gründe nicht geschlafen hätte, de-
ren Attraktivität für sich genommen also nicht ausgereicht hätte. Für den narzißtisch
strukturierten Menschen scheint es aber charakteristisch zu sein, daß er sein sexuelles
Verhalten bestimmten Zielen unterordnet, die er erreichen will, letztendlich um Bestä-
tigung zu erlangen. Man kann auch mit einer Frau schlafen, um sie nicht zu kränken,
und das wäre auch eine Möglichkeit, wie man die "Höflichkeit" von Talleyrand verste-
hen könnte. Ober die eigentlichen Wünsche Talleyrands wissen wir nichts, wir können
sie nur versuchen zu erschließen, indem wir seine Biographie heranziehen.

Es ist aber nicht nötig, so weit in die Geschichte zurückzugehen, weil ein takti-
sches Verhalten im Umgang von Männern mit Frauen und natürlich auch von Frauen
im Umgang mit Männern, bei homosexuellen Paaren entsprechend, auch heute beob-
achtet werden kann. Man kann beobachten, daß Frauen oder Männer Sexualität funk-
tionalisieren und sie zum Beispiel in den Dienst der eigenen Karriereziele stellen. In
früherer Zeit war eine "reiche Heirat", die den eigenen Sozialstatus erhöhte, ein pro-
bates Mittel, beruflich voranzukommen. Die Schauspielerin, die mit einem Regisseur
schläft, damit er sie für eine bestimmte Rolle einsetzt, ist ebenso wie die reiche Hei-
rat zu einem Klischee geworden. Daß eine Schauspielerin ihren Weg auf diese Weise
macht, ist vielleicht seltener, als angenommen wird.

Der narzißtisch Strukturierte funktionalisiert die Sexualität, und er funktionalisiert


die Partnerin, die narzißtische Frau den Partner. Ich will nicht sagen, daß Geld oder
Status bei Liebesbeziehungen anders strukturierter Menschen keine Rolle spielen. Was
ich deutlich machen will, ist nur, daß sie bei den narzißtisch Strukturierten eine große
Rolle spielen, während anderes dahinter zurücktritt.

34
3.3 Depressive Struktur
Beim depressiv Strukturierten ist Sexualität mit Beziehung eng verknüpft, und zwar
auf eine besondere Weise. Mit Sexualität, die dabei genossen werden kann, wird Be-
ziehung erkauft. So wie Depressive für andere Menschen arbeiten können, um geliebt
zu werden, kann ein depressiv Strukturierter, besonders eine depressiv strukturierte
Frau, Sexualität bieten, um geliebt zu werden. Dieses Angebot ist problematisch, weil
für die depressiv strukturierte Frau eine gute Beziehung eigentlich Voraussetzung da-
für ist, Sexualität ungestört erleben zu können. Manche helfen sich damit, daß sie die
Illusion aufbauen, geliebt zu werden. Daß dies noch nicht der Fall ist und daß sie Se-
xualität bieten, damit eine Beziehung zustande kommt, blenden sie aus.
Andere wieder verzichten auf Sexualität, wenn noch keine Liebesbeziehung be-
steht. Sie halten damit an ihrer Forderung einer Beziehung als eine notwendige Basis
für Sexualität fest, wobei sie mit der Einstellung vieler Männer in Konflikt geraten,
die sich erst auf dem Wege über einen sexuellen Kontakt verlieben können und ein
Angebot von Sexualität als Zeichen der Liebe auffassen. Bietet eine depressiv struktu-
rierte Frau Sexualität an, ohne daß eine persönliche Beziehung schon gewachsen ist,
riskiert sie, daß der Mann glaubt, ihr komme es vor allem auf Sexualität an und sie lege
auf eine Dauerbeziehung nicht unbedingt Wert. Viele Männer möchten ja, daß Frau-
en auf ihre sexuellen Initiativen eingehen, reagieren aber verschreckt, wenn die Frau
den ersten sexuellen Schritt macht. Hier hält die Evolutionspsychologie Erklärungen
bereit. Die zurückhaltende Frau und der aktive Mann entsprechen in ihrem Verhalten
den unterschiedlichen Rollen in der Reproduktion. Der Mann kann seine Gene an vie-
le Frauen weitergeben, die Frau muß selektiver sein, weil sie nur eine begrenzte Zahl
von Kindern haben kann und eine Schwangerschaft eben neun Monate in Anspruch
nimmt.
Entsprechend der Grundtendenz, vor allem auf das Wohlergehen des anderen zu
achten, kümmern sich Depressive mehr um die Lust des Partners bzw. der Partnerin
als um die eigene. Männer, die im Geschlechtsverkehr erleben, mehr zu geben, als
sie bekommen, was ja der körperliche Vorgang nahe legt, können gegen diese Un-
gleichheit unbewußt protestieren. Beim Mann hemmt das die Erektion und macht den
Koitus damit unmöglich, bei der Frau bleibt er möglich, die Lustempfindung wird aber
blockiert.
Andererseits erleben viele depressive Frauen den Koitus als etwas Nährendes. Sie
empfangen Substanz, die in Vorwegnahme einer Schwangerschaft als erfüllend oder
ausfallend fantasiert wird. Für sie ist die Schwangerschaft auch eine Möglichkeit, das
Kind als Vertreter des Partners immer bei sich zu haben und sich nicht allein zu füh-
len. Diese Fantasie kann unbewußt existieren, obwohl bewußt keine Schwangerschaft
angestrebt wird. Das ist auch ein Grund, weshalb viele depressiv strukturierte Frauen
den Gebrauch von Kondomen ablehnen.
Die größte Gefahr in sexuellen Beziehungen besteht für depressiv Strukturierte
darin, sich ausgebeutet zu fühlen. Der Weg zu besseren sexuellen Beziehungen geht
über eine Abgrenzung im Bereich des Gebens und Nehmens. Erst wenn der depressiv
Strukturierte sich da abgrenzen kann, fühlt er sich in sexuellen Beziehungen wohl, wo
es ja um eine spezielle Art des Gebens und Nehmens geht. In einer guten sexuellen
Beziehung ist das Geben und Nehmen ausgeglichen, was nicht heißt, daß man dem
anderen nicht auch Kredit geben kann: aber eben einen rückzahlbaren Kredit, nicht

35
Geschenke aus der eigenen Substanz.

3.4 Zwanghafte Struktur


Da der sexuelle Akt, wenn er voll erlebt wird, mit einem Kontrollverlust verbunden
ist, zumindest während des Orgasmus, und der Zwanghafte einen Kontrollverlust in
besonderem Maße fürchtet, muß er versuchen, seine Sexualität zu zähmen. Dazu hat
er verschiedene Möglichkeiten. Die eine besteht darin, daß er das sexuelle Erleben
"herunterregelt". Dazu setzt er den Mechanismus "Isolierung vom Affekt" ein, die
Erregung wird nicht voll bewußt. Der Zwanghafte kann sich während des gesamten
Geschlechtsverkehrs, auch während des Orgasmus, gut in der Hand behalten.
Spontaner Geschlechtsverkehr ist seine Sache nicht. Sexualität sollte geplant und
eingerahmt sein, zur rechten Zeit, am rechten Ort und unter adäquaten Vorbedingun-
gen stattfinden. Das genaue Gegenstück dazu wäre der Koitus auf dem Küchentisch in
dem Film The postman always rings twice. Er findet ungeplant an einem ungewöhnli-
chen Ort zwischen zwei Menschen statt, die sich eben kennengelernt haben. Im Film
wird der Kontrollverlust beider deutlich gemacht. Nicht erst während des Orgasmus,
sondern während des gesamten Koitus wirkt das Verhalten der Partner wenig kontrol-
liert.
Leidenschaft ist nichts für den Zwanghaften. Er befürchtet wie gesagt, die Kon-
trolle über sich selbst und andere zu verlieren. Andererseits verhilft ihm, wie schon im
einfahrenden Kapitel zur Zwangsstruktur erwähnt, der Abwehrmechanismus "Isolie-
rung aus dem Zusammenhang" dazu, zwei Beziehungen nebeneinander führen zu kön-
nen, die in seinem Erleben nichts miteinander zu tun haben, solange es ihm gelingt, sie
örtlich und zeitlich auseinander zuhalten. Der Alptraum eines zwanghaft strukturierten
Liebhabers mehrerer Frauen ist, daß die Frauen aufeinandertreffen. Das wird in dem
französischen Theaterstück Boeing, Boeing dargestellt, wo ein Mann sexuelle Bezie-
hungen zu mehreren Flugbegleiterinnen hat. Er kann die Termine auseinanderhalten,
solange es keine Jet-Flugzeuge gibt. Die Propellermaschinen fliegen langsam. Mit der
Einführung der schnelleren Jets bleiben die Stewardessen nicht lang genug unterwegs,
und sie treffen in der Wohnung des Mannes aufeinander.
Zwanghaft Strukturierte erleben bekanntlich oft Angst und Abscheu, wenn sie mit
Schmutz konfrontiert sind. Sie haben Probleme mit der Tatsache, daß die Sexualorgane
gleichzeitig eine Ausscheidungsfunktion haben; bei der Frau kommt hinzu, daß Anus
und Vagina benachbart sind. Bei Mädchen in der Frühadoleszenz findet man oft noch
die sogenannte Kloakenfantasie, also die Vorstellung, Urin und Kot würden über einen
Kanal ausgeschieden, und dieser Kanal sei gleichzeitig das Sexualorgan, wie das bei
Vögeln der Fall ist. Sie werden auch durch die Tatsache beunruhigt, daß vom Anus aus
sexuelle Gefühle erzeugt werden können.
Bei erwachsenen Frauen wirkt sich diese Problematik oft in einer Ablehnung der
eigenen Sexualität aus, bei Männern in der stillschweigenden oder ausgesprochenen
Entwertung der Frau als ein schmutziges Wesen.
Insgesamt kann man sagen, daß sexuelle Handlungen und auch sexuelle Gefühle
bei Zwanghaften oft die Konnotation des Schmutzigen haben und daß der mit Se-
xualität im Normalfall verbundene partielle Kontrollverlust sie ängstigt, sowohl der
eigene Kontrollverlust als auch der Kontrollverlust der Partnerin bzw. des Partners.

36
Hier handelt es sich um tief verwurzelte Persönlichkeitseigenschaften, die ohne eine
Bearbeitung der unbewußten Determinanten kaum modifiziert werden können.

3.5 Phobische Struktur


Die unbewußte, bei manchen auch bewußte Angst vor einem Kontrollverlust teilt der
phobisch Strukturierte mit dem Zwanghaften. Im Unterschied zum Zwanghaften wird
die Angst bewußt, der Impuls nicht, während beim Zwanghaften der Impuls ohne Mo-
tivationszusammenhang und ohne die motivierenden Gefühle bewußt werden kann.
Sexualität wird vom phobisch Strukturierten gefürchtet als ein Motiv, sich willkürlich
zu verhalten und sozial geächtet zu werden.
Bei einer phobischen Struktur ohne phobische Krankheitssymptome äußert sich
die Angst vor Sexualität in einem vermeidenden Umgang mit dem anderen Geschlecht,
und zwar bei Männern und Frauen. Sie manifestiert sich auch in deutlicher Zurückhal-
tung bezüglich der Masturbation. Nicht alle Frauen, die nie masturbieren, haben eine
phobische Struktur. So gibt es auch depressiv strukturierte Frauen, die das nicht tun,
weil ihnen Sexualität ohne einen real anwesenden Partner schwer vorstellbar ist. Da-
gegen waren alle Männer, die mir als Patienten versicherten, nie masturbiert zu haben,
phobisch strukturiert. Sie hatten Angst vor der sexuellen Erregung, wenn niemand da-
bei war. Dagegen konnten sie in Gegenwart einer Partnerin, die ihnen gleichzeitig als
Schutzperson diente, Sexualität ungestört erleben.
Da ein Mann, der Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr hat, nicht darunter leiden
muß, daß er nicht masturbieren kann, und weil bei alleinstehenden Männern die Pollu-
tion an die Stelle der Masturbation tritt, sind sexuelle Probleme bei phobisch Struktu-
rierten eher selten. Sie finden sich vor allem bei Männern mit einer sogenannten Herz-
neurose, die ihre Partnerin oft ähnlich wie eine Mutter erleben. Aggressive Gefühle
gegenüber diesem Mutterersatz richten sie gegen sich selbst, und zwar nicht wie der
Depressive in Form von Depressionen und Selbstvorwürfen, sondern sie attackieren
unbewußt das eigene Herz als Repräsentant der Partnerin.
Neben dem Inzesttabu liegt der sexuellen Abstinenz, die ich bei vielen herzneuro-
sekranken Männern gefunden habe, eine Angst zugrunde, sich gegenüber der Partnerin
im Geschlechtsverkehr aggressiv zu verhalten. Hier haben wir es mit Phänomenen von
ausgesprochenem Krankheitswert zu tun. Sie sind nicht eigentlich Gegenstand dieses
Buches, soweit von ihnen die Rede ist, sollen sie der Verdeutlichung dienen.
Während sich die depressive Struktur wenig auf sexuelles Erleben auswirkt, wenn
es mit einem Partner zusammen geschieht, kann es für phobisch Strukturierte wichtig
sein, einen Partner oder eine Partnerin zu finden, der oder die Erfahrungen mit Sexuali-
tät hat und die Rolle des anleitenden Begleiters spielen kann, oder einen Zwanghaften,
der oder die Gewähr dafür bietet, daß er oder sie auch beim Erleben stärkster Gefühle
nie "den Kopf verliert".

3.6 Hysterische Struktur


Schon im einführenden Kapitel zur hysterischen Struktur bin ich auf die Sexualität
ausführlicher eingegangen als in den anderen einführenden Kapiteln. Das hängt damit
zusammen, daß Sexualität (in ihren kindlichen Vorstufen) schon bei der Entstehung

37
der hysterischen Struktur eine Rolle spielt und die hysterische Struktur sich mehr als
andere in Störungen der Sexualität bemerkbar macht. Bei Frauen kommt es zu Blockie-
rungen der Sexualität, bei Männern zu einer Instrumentalisierung der Sexualität. Der
hysterisch strukturierte Mann möchte von Frauen als Mann anerkannt werden. Die
Sexualität dient ihm dabei als Mittel dazu.
Hier möchte ich noch darauf hinweisen, daß das sexuelle Verhalten und das se-
xuelle Erleben bei hysterisch strukturierten Männern und insbesondere bei hysterisch
strukturierten Frauen oft weit auseinander klaffen. Eine Frau mit vielen, wechseln-
den sexuellen Kontakten möchte als Frau anerkannt und auch als Frau "genommen"
werden, empfindet aber wenig dabei. Wie Karasek in einem Spiegel-Artikel (2000)
schreibt, sagte die ausgesprochen promiskuitive Marlene Dietrich im Alter, Sexualität
habe bei ihr nie eine große Rolle gespielt; mit Männern habe sie sich darauf eingelas-
sen, weil die das so wollten.
Promiskuitive Frauen können den Eindruck erwecken, daß sie sexuell unersättlich
seien. Tatsächlich gibt es die sexuell unersättliche Frau in dem Sinne, daß sie keine
sexuelle Befriedigung finden kann und deshalb niemals "satt" wird. Es gibt aber auch
Frauen, die nur Bestätigung und Anerkennung als Frau suchen, wobei es für sie nicht
so entscheidend ist, ob sie selbst sexuelle Gefühle empfinden. Auf den sexuell pro-
miskuitiven Mann im Sinne des Don Juan-Syndroms bin ich bereits im einfahrenden
Kapitel eingegangen.
Die Einschränkung des Selbstkonzepts auf Kriterien der erotischen Attraktivität -
bei Frauen mehr bezüglich ihres Aussehens, bei Männern mehr bezüglich ihrer kör-
perlichen oder sozialen Stärke ist schwer zu ändern. Die Vorstellung, der andere oder
die andere wolle "nur das eine" weshalb er oder sie diese Kriterien anwendet, hält
sich hartnäckig. Der Protest gegen die dem anderen zugeschriebene Verengung der
Bewertungskriterien stört die Entwicklung von Beziehungen, die andere Erfahrungen
ermöglichen könnten. Manchen hilft es aber, wenn sie sich darauf konzentrieren, die
Anwendung weiter gefaßter Kriterien beim anderen zu erkennen.

38
Kapitel 4

Persönlichkeitsstruktur und
Dominanz

Bekanntlich spielen Dominanz und Unterwerfung schon im Tierreich eine große Rolle.
Dem Dominanzstreben der Menschen werden Ideale wie "Freiheit, Gleichheit, Brüder-
lichkeit" entgegengesetzt.
Tatsächlich ist eine Symmetrie zwischenmenschlicher Beziehungen schwer zu ver-
wirklichen. In Partnerbeziehungen sind die Bemühungen, Beziehung so symmetrisch
wie möglich zu gestalten, bekanntlich jüngeren Datums; man kann sagen, daß sie erst
im 20. Jahrhundert in nennenswertem Umfang wirksam geworden sind. Natürliche
Asymmetrie gibt es in den Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. Kinder sind
keine Erwachsene, Erwachsene sind keine Kinder. Obwohl in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts Bestrebungen im Gange waren, die Eltern-Kind-Beziehung durch ei-
ne Art Geschwisterbeziehung zu ersetzen, sind sie auf eine Minderheit in der Bevöl-
kerung beschränkt geblieben. Es zeigte sich bald, daß diese Art der Beziehung für die
Entwicklung der Kinder nicht von Vorteil war.
Die tatsächlich vorhandenen, schwer zu leugnenden Unterschiede zwischen Män-
nern und Frauen oder zwischen Eltern und Kindern können aber auch als Begründung
dafür herangezogen werden, daß Asymmetrien konserviert werden, die durch solche
Unterschiede nicht begründet sind.
Verschiedene Charakterstrukturen bedingen einen unterschiedlichen Umgang mit
Dominanz. Daß in verschiedenen Ländern unterschiedliche Charakterstrukturen ge-
häuft vorkommen, hat wieder etwas mit äußeren Realitäten zu tun. So kann man ver-
muten, daß die starke zwanghafte Komponente des japanischen Volkscharakters etwas
damit zu tun hat, daß auf den japanischen Inseln wenig Platz ist und man nur dann
konfliktarm miteinander umgehen kann, wenn das Verhalten stark strukturiert wird.
Menschen mit einer Zwangsstruktur neigen zu einer Hierarchisierung von Beziehun-
gen. Sie möchten, daß Klarheit darüber herrscht, wer oben und wer unten ist. Eine
Kooperation auf gleicher Ebene fällt ihnen schwer, weil sie sich Beziehungen ohne
den Aspekt des Oben- oder Unten-Seins nicht vorstellen können. Von den Einflüssen
auf die persönliche Entwicklung, die zu einer Zwangsstruktur führen, wird von Seiten
der Psychoanalytiker am häufigsten eine strenge Sauberkeitserziehung genannt. Man
könnte auch von einer Sauberkeitsdressur sprechen, die mit dazu führt, daß Dominanz
und Unterwerfung im Denken und Fühlen des Zwanghaften eine so große Rolle spie-

39
len.
Während zwanghaft Strukturierte Dominanz oder Unterwerfung anstreben, streben
schizoid Strukturierte nach Autarkie. Sie möchten sich keiner Person unterordnen, weil
sie fürchten, dann ihre Individualität zu verlieren, nicht mehr sie selbst zu sein. Frei
sein ist deshalb auch Bestandteil ihres Selbstkonzepts, ihrer Identität. Dagegen ordnen
sie sich einer Idee unter; wenn sie sich anderen Menschen unterordnen, dann nur als
Vertretern einer Idee.
Narzißtisch strukturierte Menschen haben nur scheinbar wenig Schwierigkeiten
damit, sich unterzuordnen. Das tun sie, solange das Selbstkonzept eines omnipotent
unabhängigen Individuums erhalten bleiben kann, aus taktischen Gründen. Oft tun
sie eigentlich nur so, als würden sie sich unterordnen, um etwas zu erreichen, zum
Beispiel um in ihrem Beruf voranzukommen. Dieses Unterordnen wird ihnen dadurch
leicht gemacht, daß sie andere eher in ihren Funktionen sehen denn als Personen. So
kann sich ein narzißtisch strukturierter Mensch einem Skilehrer oder Bergführer ohne
weiteres unterordnen. Der hat ja die Funktion, ihm das Skilaufen beizubringen oder
ihn auf einen Berg zu führen.
Schizoid Strukturierte können so etwas nicht. Wenn sie sich unterordnen, fühlen
sie sich in ihrer Autarkie unmittelbar bedroht. Während für den narzißtisch Strukturier-
ten eine Überbewertung der eigenen Person und die Unterbewertung anderer charak-
teristisch sind, ist es bei den Schizoiden die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Ich
und Du. Wer Macht über den Schizoiden bekommt, kann Nähe und Distanz bestim-
men. Er kann dem Schizoiden auf den Leib rücken, wobei die Grenzen, fürchtet dieser,
verschwimmen und er sich als Individuum verliert. Ist das Selbstkonzept des narziß-
tisch Strukturierten instabil, kann es in Konfrontation mit der Realität der eigenen
Machtlosigkeit, die auf realer Schwäche beruht, zu schweren Kränkungen kommen.
Der Kränkende wird dann rächend verfolgt.
Depressiv Strukturierte haben wenig Schwierigkeiten damit, sich unterzuordnen,
weil sie generell zur Selbstunterschätzung und zur Überschätzung anderer neigen. Al-
lerdings erleben sie eine Forderung, sich zu unterwerfen, als Bestätigung ihres Un-
werts, was eine Selbstwertkrise auslösen kann: Die Liebe dessen, dem sie sich unter-
ordnen oder unterwerfen, suchen Depressive oft durch Arbeit zu gewinnen. Andernorts
in diesem Buch habe ich ausführlich dargestellt, weshalb das nicht funktionieren kann:
Liebe kann durch nicht arbeiten verhindert werden, sie wird aber nicht durch Arbeiten
hervorgerufen.
Oben habe ich schon darauf hingewiesen, daß "Oben" und "Unten" im Denken und
Erleben des Zwanghaften eine große Rolle spielen und seine Beziehungen wesentlich
strukturieren. Wenngleich er meist versucht, in die Oben-Position zu kommen, kann
er doch akzeptieren, sich unterzuordnen, wenn der andere sich als stärker erweist und
wenn es bei einer eventuellen Auseinandersetzung "gerecht" zugegangen ist. Zwang-
hafte, die Unterordnung schwerer ertragen können, weil sie sich dann als versklavt
empfinden - Untensein gewinnt so eine besondere Färbung und Bedeutung -, bewahren
sich oft die Vorstellung, es sei bei der Auseinandersetzung nicht mit rechten Dingen zu-
gegangen, oder die Regeln der Fairneß seien nicht beachtet worden. Andererseits gibt
es eben Zwanghafte, die aus der Unterwerfung eine Tugend machen und zum Beispiel
den blinden Gehorsam, wie er in vielen Armeen dieser Welt gefordert wird, zu einer
Tugend erheben, die sie aufwertet. Andere Zwanghafte tun nur so, als würden sie sich
unterwerfen; im Innern bleiben sie aber heimliche Rebellen, die auf eine Gelegenheit

40
warten, die Beziehung umzukehren. Phobisch Strukturierte versuchen, eine Harmonie
in der Beziehung zu ihren Schutzfiguren herzustellen. Da Zwanghafte gern die Rol-
le einer Schutzfigur einnehmen und wegen ihrer zur Schau getragenen Verläßlichkeit
oft als Schutzfiguren gewählt werden, sind phobisch Strukturierte häufig mit dem Pro-
blem konfrontiert, daß die Schutzfigur ihre Machtposition ausnutzt. Sie schützt nicht
nur, sie bestimmt auch. In solchen Fällen braucht der Protest des phobisch Strukturier-
ten oft lange Zeit, bis er sich manifestiert, und dann oft in unbewußt determinierten
Fehlleistungen. Mir ist in meiner paartherapeutischen Praxis deutlich geworden, daß
die Ehe eines phobisch Strukturierten mit einer Schutzfigur oft sehr stabil ist, daß die
Beziehung aber häufig auseinandergeht, wenn der phobisch Strukturierte eine Thera-
pie macht und Schutzfiguren nicht mehr braucht. Das hat sicher damit zu tun, daß ein
wesentliches Kriterium der Partnerwahl überflüssig geworden ist. Zusätzlich handelt
es sich oft um einen Protest gegen das Dominiertwerden, der sich Bahn bricht, wenn
eine Schutzfigur nicht mehr benötigt wird.
Die Komplexität der Entwicklungsmöglichkeiten, die determinieren, welche Art
von hysterischer Struktur am Ende entsteht, habe ich im einfahrenden Kapitel ansatz-
weise dargestellt. Eine Frau, die sich vorwiegend mit der Rolle der kleinen Tochter als
Partnerin eines starken Mannes identifiziert hat, kann sich ihren Partnern gerne unter-
ordnen, sofern diese nur stark genug sind - so stark, daß sie das nicht kränkt. Allerdings
gibt es oft Schwierigkeiten im sexuellen Bereich, weil die Beziehung zu einem starken
Mann mit dem Inzesttabu verbunden wird. Ist die Frau daneben aber mit dem Vater
identifiziert und möchte sie deshalb auch eine Beziehung vom Starken zum Schwa-
chen hin, also von einer Frau, die so stark ist wie der Vater, hin zu einem Partner, der
so schwach ist, wie sie als kleines Mädchen war, wird sie versuchen, den Mann klein
zu machen und selbst in die dominierende Position zu gelangen.
Der hysterisch strukturierte Mann wünscht sich Dominanz über Männer, deren Ra-
che er aber fürchtet, weshalb er sich oft aus Konkurrenzsituationen zurückzieht. Er hat
es oft auch nicht gelernt, zu konkurrieren, weil ihm die Liebe der Mutter zugefallen ist,
wobei sie ihn dem Vater vorzog. Eine unmittelbare Konkurrenz mit dem Vater war da
nicht nötig. Solche Männer versuchen dann oft, Frauen zu "erobern", an denen sie aber
schnell das Interesse verlieren, wenn die erste, bewundernde Verliebtheit abgeklungen
ist. Im Erobern der Frauen dominieren sie. Liebt die Frau sie weniger, können sie der
Macht ihrer Männlichkeit auch nicht mehr sicher sein, und das ist ein weiterer Grund,
warum sie sich dann oft einer weiteren Frau zuwenden.
Andere wieder suchen ihr Heil in der dienenden Beziehung zu einer Frau, die sie
bewundern, der sie aber nicht sexuell nahe kommen dürfen, weil das Inzesttabu es ver-
bietet. Werden sie von der Frau "erhört", verlieren sie das Interesse an ihr. Die Bezie-
hung war ja durch ihre dienende Rolle und die dominierende Rolle der Frau bestimmt.
Läßt die Frau einen Geschlechtsverkehr zu, darf die Beziehung nicht mehr so sein wie
zur Mutter, weil das Inzesttabu sonst wirksam würde. Von Männern, die eine dienende
Rolle zu einer Frau anstreben, kann man in Therapien oft hören, daß sie in Gegenwart
der verehrten Frau zunächst keine Erektion bekamen. Gelingt der Geschlechtsverkehr
erst einmal nicht, hat die Beziehung Aussicht auf weiteren Bestand; gelingt er doch,
dauert die Beziehung meist nur noch kurze Zeit.
Die Rolle des dienenden, bewundernden Mannes wurde durch die deutschen Min-
nesänger verkörpert. Auch heute gibt es den Mann, der eine Frau "anbetet", sie aber
nie für sich gewinnt und vielleicht kurzdauernde Beziehungen zu anderen Frauen hat,

41
die sich an Bedeutung für ihn aber mit der Beziehung zu dieser einen Frau nicht mes-
sen können; er ist nicht imstande, eine Dauerbeziehung zu einer Frau herzustellen, die
er gleichzeitig schätzt und körperlich liebt. Ein Mann, der eine wichtige Beziehung zu
einer Frau hat, die er auch körperlich liebt, aber gelegentlich kurze Beziehungen zu
anderen Frauen eingeht, tut das vielleicht, um zusätzliche Bestätigung zu erhalten. Die
Evolutionspsychologie verweist allerdings darauf, daß ein solches Verhalten für das
Weitergeben der eigenen Gene zweckmäßig ist.
In den hochentwickelten Industrieländern haben sich die Beziehungen zwischen
Männern und Frauen im 20. Jahrhundert bekanntlich verändert. Die Männer scheinen
weniger zu dominieren, die Frauen mehr. Wie weit die vielfach beklagte Abnahme se-
xuellen Interesses bei Männern und Frauen mit einem Konflikt zu tun hat, der zwischen
einem gesellschaftlich determinierten Rollenverhalten und den im Laufe der Evolution
entwickelten angebotenen Verhaltensprogrammen zusammenhängt, ist eine Frage, die
diskutiert wird, ohne daß man bisher eine überzeugende Antwort gefunden hätte. Ein
Hinweis könnten die Fantasien vieler Frauen sein, mit Gewalt "genommen" zu werden.
Untersuchungen darüber, wie das etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war,
liegen nicht vor, so daß die Frage unbeantwortet bleiben muß, ob etwas in der Realität
nicht Gelebtes, von der evolutionären Grundausstattung aber Vorhandenes im Bereich
der Fantasie ein Stück weit ausgelebt wird.
Ähnlich wie die Sexualität sind das Dominanzstreben und die Tendenz, sich an-
deren zu unterwerfen, zentraler Ausdruck der Persönlichkeit. Sie können nur in engen
Grenzen beeinflußt werden. Hiervon ist allerdings das Dominanzstreben aus Angst und
auch ein Unterwerfungswunsch aus Angst zu unterscheiden. Wer Angst hat, dominiert
zu werden, kann versuchen, selbst zu dominieren, und wer sich keine Chancen aus-
rechnet, zu dominieren, kann üben, sich taktisch zu unterwerfen. Bei verschiedenen
Strukturen kommt die Angst aus verschiedenen Quellen. Soweit sie nicht den Realitä-
ten entspricht, kann sie durch Realitätsprüfung gemindert werden. Eine Tatsache, die
sich zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie zunutze macht, bei der es viel um
Realitätsprüfung in Alltagssituationen geht. Teilweise gilt das auch für die psychoana-
lytisch orientierten Kurztherapien, während bei einer Psychoanalyse die Realitätsprü-
fung in der Beziehung zum Therapeuten eine dominierende Rolle spielt.

42
Kapitel 5

Zum Umgang mit Nähe

Persönliche Nähe bedeutet für die verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen ganz Un-


terschiedliches. Deshalb kann Nähe aus verschiedenen Gründen gefürchtet werden.
Für den narzißtisch Strukturierten geht es nicht darum, daß jemand, der einem nahe
kommt, den Wunsch aufkommen läßt, mit ihm zu verschmelzen, oder die Befürch-
tung aktiviert, er könnte eindringen und die eigene Person gleichsam von innen heraus
besetzen. Der narzißtisch Strukturierte wird durch Nähe vielmehr deshalb beunruhigt,
weil jemand, der ihm nahe kommt, sich als Person deutlicher zu erkennen gibt, was der
Tendenz des narzißtischen Menschen, andere zu funktionalisieren und sie nur als ein
Funktionsbündel zu sehen, durch die Profilierung des anderen als Person "mit ihrem
eigenen Recht" konterkariert wird. Von den privaten Dingen der Mitarbeiter möchte
ein narzißtisch strukturierter Chef im allgemeinen nichts wissen, außer dann, wenn
Informationen über das Privatleben eines Mitarbeiters ihm dabei helfen, ihn besser zu
manipulieren, weil er dessen Motive, etwas zu tun oder zu lassen, besser versteht.
Für den Zwanghaften bedeutet persönliche Nähe eine Möglichkeit zu Konflikten.
Wenn jeder seinen abgegrenzten Bereich hat, gibt es weniger Konflikte. Der Zwang-
hafte erstrebt deshalb mehr als andere Abgrenzungen der Zuständigkeitsbereiche.
Zwanghaft strukturierte Chefs werden auch durch Nähe zwischen Mitarbeitern be-
unruhigt: Man könnte sich ja gegen ihn zusammenschließen, sich gegen ihn zusam-
menrotten. Es könnte aber auch zu Konflikten zwischen Mitarbeitern kommen, die
vom Chef schwer zu beherrschen und zu bereinigen sind. Auch deshalb achten zwang-
hafte Chefs darauf, daß die Zuständigkeitsbereiche der Mitarbeiter ganz deutlich von-
einander abgegrenzt sind. Wenn jeder weiß, was er zu tun hat, gibt es weniger Streit.
In einer Partnerschaft ist der Streit um Zuständigkeiten zwischen Männern und Frauen
häufiger geworden, weil die Zuständigkeiten nicht mehr so selbstverständlich vonein-
ander abgegrenzt sind wie vor fünfzig oder hundert Jahren. Auch die Männlichkeits-
und Weiblichkeits-Stereotypen überschneiden sich. Es ist heute nicht mehr von vorn-
herein klar, wer einen Nagel in die Wand schlägt oder das Kind wickelt.
Für phobisch Strukturierte ist Nähe zum steuernden Objekt angstmindernd. Die
Nähe zu anderen Personen kann vor allem Angst hervorrufen, wenn kein steuerndes
Objekt zugegen ist. Wegen ihrer unbewußten Tendenz zu Willkürhandlungen halten
manche phobisch Strukturierte Abstand von anderen Menschen, oder sie vermeiden
Orte, wo Menschen ihnen nahe kommen und sie zu einem Willkürhandeln veranlassen
könnten.

43
Für hysterisch Strukturierte bringt Nähe die Gefahr mit sich, daß der andere ent-
täuscht wird. Bei Frauen findet man oft die Befürchtung, ein Mann, dem sie sich in
einer intimen Situation nackt zeigen, könnte von ihrem Aussehen enttäuscht sein; Män-
ner fürchten das gleiche, aber darüber hinaus ein sexuelles Versagen, was Frauen we-
niger fürchten, weil es bei ihnen weniger eindeutig zu erkennen ist, ob die sexuellen
Erregungsabläufe gestört sind. Überhaupt findet man bei Hysterischen oft die Vorstel-
lung, in persönlicher Nähe würden sie enttäuschen. Natürlich haben viele Hysterische
auch die Erfahrung gemacht, daß eine enge Beziehung unbefriedigend verlief. Der
Mann war enttäuscht davon, daß die Frau nicht so begeistert von ihm blieb, wie sie
es zu Anfang schien, und die Frau ist enttäuscht, wenn der Mann sie nicht mehr so
umwirbt, wie er das zu Beginn der Beziehung getan hat.
Für Schizoide ist wichtig, daß sie Grenzen setzen können, wenn ihnen andere zu
nahe kommen. Hier handelt es sich wieder um soziale Kompetenzen, die bei Schizoi-
den oft nicht gut entwickelt sind, aufgrund ihrer primären Kontaktstörung. Gerade sie
brauchen aber die Fähigkeit, Kontakte zu regulieren.
Depressive, die befürchten, ausgebeutet oder aufgefressen zu werden - eine Be-
fürchtung, die etwas mit der Projektion eigener unbewußter Wünsche und Impulse zu
tun hat -, sollten ihrer Tendenz entgegenwirken, sich "auffressen" und ausbeuten zu
lassen. Sie können mehr Nähe vertragen, wenn sie in einer nahen Beziehung etwas ab-
zuschlagen gelernt haben. So können sie ihrem Wunsch nach räumlicher Nähe, auch
dem nach körperlicher Berührung dann eher nachgeben, jedenfalls so weit, wie der
Partner oder die Partnerin das toleriert oder selbst wünscht.
Beim Zwanghaften geht es metaphorisch gesprochen darum, in seine Grenzwäl-
le Türen und Fenster einzubauen. Sie dienen dann der Dosierung von Durchlässig-
keit, können geöffnet und wieder verschlossen werden. Wie man das sozial kompetent
löst, kann auch für Zwanghafte ein Problem sein. Das Problem besteht nicht wie beim
Schizoiden darin, daß die primäre Kontaktstörung den Erwerb sozialer Kompetenzen
behindert hat. Ein Zwanghafter, der sich durch Grenzziehung vor Angriffen schützen
und mögliche Gegner, etwa unter den Mitarbeitern, voneinander isolieren will, kommt
gar nicht auf den Gedanken, Flexibilität zu üben. Daß es zweckmäßig sein kann, über
Flexibilität zu verfügen, Fenster und Türen auf- und zumachen zu können, muß er sich
erst deutlich vor Augen halten.
Die Ängste hysterisch Strukturierter, sich so zu zeigen, wie sie sind, kann man
schwer beeinflussen, weil sie eng mit der Identifizierung mit zwei Geschlechtern ver-
bunden sind: bei der hysterischen Frau mit dem Vater und mit sich selbst als kleinem
Mädchen, beim hysterischen Mann mit der Mutter und mit seiner Rolle als Rivale des
Vaters in der ödipalen Entwicklungsphase. Es kann aber nützlich sein, wenn hyste-
risch Strukturierte sich die Gefahr deutlich machen, daß die Befürchtung, als Mann
oder Frau bei näherem Kennenlernen abgelehnt zu werden, sich als selbsterfüllende
Prophezeiung auswirkt.
Helfen kann es auch, sich darüber klarzuwerden, wie man "eigentlich" sein müßte.
Bei Männern findet man Cowboy- oder Spitzensportler-Fantasien, auch die Vorstel-
lung, man sollte eigentlich Bundeskanzler sein; bei Frauen finden sich irreale Vorstel-
lungen über das geforderte Aussehen beim Vergleich mit den in Zeitschriften und im
Fernsehen und Film auftretenden Models und Schauspielerinnen, die sorgfältig ge-
schminkt abgebildet werden aus vorteilhaften Perspektiven. Ich bin immer wieder be-
eindruckt davon, daß Selbsteinschätzungen hysterischer Frauen bezüglich ihres Aus-

44
sehens wenig - manchmal habe ich den Eindruck, gar nicht - mit dem tatsächlichen
Aussehen korrelieren, sondern weitgehend unabhängig davon sind. Dies ist wohl ein
Hinweis darauf, daß die Selbsteinschätzung bezüglich des Aussehens unter stark irra-
tionalen Einflüssen steht. Eine Unsicherheit bezüglich der eigenen Geschlechtsidenti-
tät bewirkt eine Unsicherheit bezüglich des Aussehens.
Die Erkenntnis, was Nähe für einen bedeutet, ist oft ein erster und wesentlicher
Schritt zu einem besseren Umgang mit ihr.

45
46
Kapitel 6

Fixierung auf die Zweierbeziehung

Manche Menschen fühlen sich nur in Zweier-Beziehungen wohl. Mehr-Personen-Beziehungen


beunruhigen sie. Wenn sie sich mit einer Person unterhalten, und eine dritte kommt
hinzu, fühlen sie sich schon abgemeldet, wenn ihr Gesprächspartner sich zum neu
Hinzugekommenen wendet, um ihn zu begrüßen.
Man spricht von einer Fixierung auf die dyadische Beziehungsform. Sie entsteht
aus verschiedenen Gründen, zum Beispiel wenn das Kind im ersten Lebensjahr im-
mer nur mit einer wichtigen Person gleichzeitig umgegangen ist. Dazu kommt es bei
alleinerziehenden Eltern, die nicht mit anderen Frauen oder Männern zusammenwoh-
nen. Die triangulierende Person, also die Person, die als zweite hinzutritt und die Mut-
ter für sich beansprucht, ist im Regelfall der Vater. Fehlt er, ist er wenig präsent oder
wechselt er sich mit der Mutter des Kindes in dessen Betreuung ab, so daß Mutter und
Vater selten oder nie in Gegenwart des Kindes miteinander umgehen, erfährt das Kind
nicht, daß der Mensch eine wichtige Beziehung zu einem anderen Menschen haben
kann, ohne daß es "abgemeldet" wäre. Die Eltern sollten für das Kind auch als Paar in
Erscheinung treten. Wenn beide Eltern halbtags berufstätig sind und halbtags das Kind
betreuen, das sie wie eine Art Stafettenstab weiterreichen, und miteinander Zeit nur
verbringen, während das Kind schläft, wird dem Kind eine wichtige Erfahrung vor-
enthalten. Entwicklungsschritte, die eine erlebte Dreierbeziehung zur Voraussetzung
haben, werden verzögert oder finden nicht statt. Später wird die ödipale Rivalitätssitua-
tion als besonders gefährlich erlebt, weil zu einer gesunden Verarbeitung des ödipalen
Konflikts gehört, daß ein Kind sich die Eltern als Elternpaar vorstellen kann, als zwei
Personen, die auch füreinander wichtig sind. Kinder mit solchen ödipalen Erfahrungen
empfinden Rivalität mit anderen Menschen als besonders gefährlich. Als Erwachsene
sind sie auf einen reiferen Umgang mit Rivalität nicht durch eine Bewältigung der
ödipalen Konfliktsituation vorbereitet worden.
Im übrigen gibt es auch Fixierungen auf die Mehrpersonen-Beziehung, zum Bei-
spiel im Kibbuz, wo die konstantesten Beziehungspersonen die Gleichaltrigen sind.
Kinder aus dem Kibbuz kommen mit Mehrpersonen-Situationen gut zurecht, zum
Beispiel in der israelischen Armee. In Schwierigkeiten geraten sie, wenn sie in einer
Zweipersonen-Beziehung leben sollen, nachdem sie aus der Armee entlassen wurden
und geheiratet haben.
Eine dyadische Fixierung wirkt sich in vielerlei Weise aus. So konzentrieren sich
dyadisch fixierte Frauen während der Schwangerschaft ganz auf das werdende Kind,

47
der Partner ist "abgeschrieben", weil sie nicht imstande sind, eine Beziehung zu zwei
wichtigen Menschen zu unterhalten. Ein dyadisch fixierter Vater fühlt sich auch dann
abgeschrieben, wenn die Partnerin nicht dyadisch fixiert ist, weil er sich nicht vor-
stellen kann, daß er ihr wichtig bleibt, wenn sie sich dem werdenden Kind zuwendet.
Viele Väter gehen dann fremd, was man schwer nachvollziehen kann, wenn man um
die Auswirkungen einer dyadischen Fixierung nicht weiß oder nicht weiß, daß eine
solche vorliegt.
Ist das Kind geboren, wenden sich dyadisch fixierte Frauen häufig noch mehr von
ihrem Partner ab, weil das Kind jetzt Betreuung braucht. Viele Väter fühlen sich dann
von der Beziehung zum Kind ausgeschlossen. Oft findet auch kein Geschlechtsverkehr
zwischen den Eltern mehr statt. Wenn das Kind älter wird, kann sich die Beziehungs-
situation verändern, wenn der Vater des Kindes durchgehalten hat und das Interesse
der Mutter wieder für sich gewinnen kann. In solchen Fällen ist auch eine persönliche
Nachreifung der dyadisch fixierten Mutter möglich. Im allgemeinen wird eine Part-
nerschaft durch eine dyadische Fixierung des Vaters stärker gefährdet, wenn es zur
Schwangerschaft und zur Geburt eines Kindes kommt und die Frau sich dem Kind
zuwendet. Aus der dyadischen Fixierung einer Frau ergibt sich hingegen kein Motiv,
fremdzugehen. Die Erkenntnis, daß jemand auf die dyadische Beziehungsform fixiert
ist, führt noch nicht dazu, daß sich daran etwas ändert.
Eine solche Fixierung ist ja das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses. Die
Erkenntnis, daß hier etwas fehlgelaufen ist, beseitigt das Problem aber noch nicht.
Frauen und Männern mit einer dyadischen Fixierung kann nur empfohlen werden, die
Fantasie, der andere werde sich ganz abwenden, wenn ein Dritter dazu kommt, an der
Realität zu überprüfen. Es handelt sich, wenn der andere nicht auch dyadisch fixiert ist,
um eine Fehlinterpretation von beobachtetem Verhalten, die auf eigene Beziehungs-
vorstellungen zurückzuführen ist.
Wenn zwei dyadisch Fixierte sich finden, was nach meinen Beobachtungen häu-
fig ist, wird die Beziehung so lange stabil bleiben, wie die Partner füreinander die
einzige wichtige Person bleiben. Solche Beziehungen können harmonisch wirken, sie
sind aber gefährdet, zum Beispiel eben, wenn ein Kind kommt oder wenn die Frau
oder der Mann sich im Rahmen eines Studiums oder einer Ausbildung für Kollegen,
Vorgesetzte oder Lehrer zu interessieren beginnt und Zeit mit ihnen verbringt.
Sich aus einer dyadischen Fixierung zu befreien ist auch deshalb nicht leicht, weil
die Vorstellung, ein Mensch sei ganz für den anderen da, etwas Faszinierendes hat.
Dyadisch Fixierte können die Vorstellung, Beziehungen zu mehreren Personen wür-
den das Leben interessanter und farbiger gestalten, zunächst nicht entwickeln. Hier
kann die Beobachtung anderer und deren Lebensweise ein Stück weiterhelfen, übri-
gens auch in Filmen, Theaterstücken und Romanen, wo mehrere Personen interagie-
ren. Zunächst geht es ja darum, es Oberhaupt für möglich zu halten, daß man befriedi-
gend mit mehreren Personen leben kann.

48
Kapitel 7

Kontaktaufnahme,
Kontaktgestaltung,
Kontaktbeendigung

Ein großer Teil der zwischenmenschlichen Interaktionen findet nicht im Rahmen von
Dauerbeziehungen statt. Wenn jemand in ein Geschäft geht, um sich eine Ware zeigen
zu lassen, sie dann kauft oder nicht, sieht er den Verkäufer vielleicht nur dieses eine
Mal. Jemand kann aber auch zu einem Dauerkunden werden, der dem Verkäufer be-
kannt ist, von ihm als Bekannter begrüßt und verabschiedet wird. Das Verhalten eines
Kunden in einem Geschäft und das Verhalten des Verkäufers entsprechen bestimmten
Regeln. Der Verkäufer fragt etwa: "Was kann ich für Sie tun?"; der Kunde sagt was er
will. Das Verkaufsgespräch wird durch einen Kauf oder Nichtkauf beendet. Man kann
ein Wiederkommen in Aussicht stellen oder nicht.
Auch die Intentionen, mit denen man ein Geschäft betritt, können verschieden sein.
Man kann die feste Absicht haben, etwas zu kaufen, oder man kann beabsichtigen, sich
die in Frage kommenden Waren in verschiedenen Geschäften zeigen zu lassen und den
Kauf zu tätigen, der bezüglich der Qualität der Ware und des Preises am günstigsten
erscheint. Man kann eine bestimmte Preisvorstellung
haben oder keine. Man kann sich innerlich ein Preislimit setzen oder nicht.
Auf einer Party kann man jemanden kennenlernen, den man aller Voraussicht nach
nicht wiedersehen wird, oder man kann mit ihm bekannt werden und sich dann auch
bei anderen Gelegenheiten treffen, oder es kann sich um jemanden handeln, der mit
dem Gastgeber gut bekannt ist und den man auf dessen Partys voraussichtlich immer
wieder treffen wird. Was auf den Partys geschieht, ist durch soziale Konventionen
standardisiert, der Inhalt der Gespräche ist aber offen; man kann über "Gott und die
Welt" sprechen. In bestimmten Ländern sind bestimmte Themen tabu, zum Beispiel
Religion, Geld oder Sexualität. Welche Themen das sind, variiert interkulturell sehr
stark. In Mitteleuropa wird man relativ allgemeingültige Normen finden, die sich dann
aber wieder nach der sozialen Schicht, dem Alter, dem Beruf des Gastgebers und der
Gäste unterscheiden.
Beim Aufnehmen und beim Beendigen eines Kontakts, der nicht in eine Dauerbe-
ziehung mündet, können nun Charaktereigentümlichkeiten deutlich werden. Der schi-
zoid Strukturierte wird sich eher unkonventionell verhalten, ein zwanghaft Strukturier-

49
ter eher konventionell. Depressiv Strukturierte werden ein persönliches, sich selbst zu-
rückstellendes Interesse am anderen haben, hysterisch Strukturierte werden eher Inter-
esse daran haben, ob sie als Mann oder Frau gut "ankommen", narzißtisch Strukturierte
werden sich vielleicht fragen, ob es nötig und zweckmäßig sei, mit einem bestimmten
Menschen zu sprechen.
Schizoide kommen schwer ins Gespräch, weil sie Small talk ablehnen, so daß sie
unkonventionell lange schweigen oder gleich auf Wesentliches kommen möchten. Sie
haben oft wenig gesellschaftliche Routine. Ihre primäre Kontaktstörung hat den Er-
werb von Routine in Interaktionen mit anderen Menschen verhindert. Dagegen haben
narzißtisch Strukturierte oft eine hohe soziale Kompetenz erworben und die Fähig-
keit entwickelt, auch dann am anderen interessiert zu wirken, wenn sie es nicht sind.
Depressiv Strukturierte interessieren sich mehr für die Angelegenheiten anderer Leu-
te, während narzißtisch Strukturierte eher ihre eigenen Angelegenheiten ausbreiten.
Zwanghafte achten sehr darauf, wer in einem Gespräch "unten" oder "oben" ist, da-
mit sie sich "richtig" verhalten, richtig bezüglich der sozialen Rolle und Stellung des
anderen. Hysterische Männer vom phallisch-narzißtischen Typ geraten rasch mit an-
deren in Konkurrenz - wer hat das stärkere Auto, das größere Haus, die meisten und
spektakulärsten Reisen gemacht? Hysterisch strukturierte Frauen haben schon bei der
Vorbereitung der Party sorgfältig überlegt, was sie anziehen könnten, auf der Party
selbst setzen sie Charme und Lebhaftigkeit ein, wenn sie nicht einer gesellschaftlichen
Gruppierung angehören, die es "cool" findet, kühl zu wirken.
Auf einer Party ins Gespräch kommen zu wollen ist schon dadurch gerechtfertigt,
daß man Gast auf dieser Party ist. Die Situation ist hier anders als auf der Straße, in
einer Kneipe oder in einem Hotel. Menschen auf der Straße haben zunächst wenig
gemeinsam. Das gilt auch für Menschen am Strand; auf der Straße gehen die verschie-
densten Leute, und ein Strand wird von den verschiedensten Menschen besucht. Ein
"Anquatschen" oder "Anbaggern" erfordert um so mehr soziale Kompetenz, je weniger
Gemeinsames man mit dem Anzusprechenden hat.
Im allgemeinen wird jemand, der an zwischenmenschlichen Kontakten ein beson-
deres Interesse hat, mehr darauf achten, eine solche Kompetenz zu entwickeln, als
jemand, der darauf wenig Wert legt. Schizoide legen meist wenig Wert auf direkte,
potentiell nahe Kontakte. Auch deshalb und nicht nur wegen ihrer primären Kontakt-
störung wirken sie beim Aufnehmen von Kontakten, wenn sie das doch einmal wollen,
oft unbeholfen. Der narzißtisch Strukturierte entwickelt soziale Routine, die auch dann
nicht kühl wirken muß, wenn seine Intentionen kühl sind. Er weiß oft sehr genau, wel-
che Art von persönlicher Anteilnahme bei wem gut ankommen wird. Das gilt natürlich
vor allem für diejenigen, die im Beruf und gesellschaftlich gut zurechtkommen: für
narzißtisch Strukturierte vom kompetenten Typ, nicht für narzißtisch Strukturierte, die
immer wieder an der Diskrepanz zwischen ihrem überhöhten Selbstkonzept und der
Realität ihres Selbst scheitern.
Bei Depressiven läuft die Kontaktaufnahme oft unauffällig. Ihr Interesse an an-
deren Menschen und ihre zur Schau getragene Bescheidenheit lassen erwarten, daß
sie ein angenehmer Gesprächspartner sein werden. Der Zwanghafte kann unauffäl-
lig oder förmlich wirken, letzteres wird von den Gesprächspartnern unter Umständen
als liebenswert altmodisch geschätzt. Phobisch strukturierte Menschen in Gegenwart
eines Begleiters sind unauffällig. Sie verhalten sich meist mit einer Facette ihrer Per-
sönlichkeit. Das hängt mit ihrer Tendenz zusammen, in einer Gruppe die Rolle des

50
blinden Passagiers anzunehmen, der nicht auffallen will. Ohne Begleiter suchen pho-
bisch Strukturierte meist keine Orte auf, wo Menschen sich ansammeln. Sie sagen, das
sei nichts für sie, sie fühlten sich dort nicht wohl. Für Menschen mit sozialen Phobien
ist die Kontaktaufnahme eine auslösende Situation für ihre Symptomatik. Hysterisch
Strukturierte versuchen, als Kommunikationsstil Spontaneität und Lebhaftigkeit vor-
zugeben. Der andere muß dann, oft schon in den ersten Sekunden und Minuten einer
Interaktion, "Mitmachen" oder "mitgehen", sonst ist der hysterisch Strukturierte ge-
kränkt oder hält den, der nicht mitgeht, für steif oder zwanghaft konventionell.
Schizoide beenden eine Kommunikation oft abrupt. Sie sagen etwa: "Na dann ...
" und verabschieden sich kurz. Der narzißtisch Strukturierte zieht sich routiniert oder,
wenn er zu den kränkungsempfindlichen narzißtisch Strukturierten gehört, oft gekränkt
zurück.
Depressiv Strukturierte haben meist Schwierigkeiten, einen Kontakt zu beenden.
Sie können sich schwer aus einer Interaktion lösen, zu der sie eine Beziehung fantasie-
ren, die noch gar nicht vorhanden ist. Im Grunde haben sie keine inneren Modelle für
kurze Kontakte. Eher, als daß sie sich ablösen, reißen sie sich los. Manche Depressive
weisen auf die Möglichkeit hin, daß man sich doch wieder treffen könnte, irgendwo
oder irgendwann, auch wenn das ganz unwahrscheinlich ist. Allerdings haben Depres-
sive oft auch Angst davor, ausgenutzt zu werden. Sie projizieren ihre innere Gier und
achten ängstlich auf Anzeichen, daß der andere etwas von ihnen haben will.
Hysterische Männer vom phallisch-narzißtischen Typ verabschieden sich ungern,
wenn sie in ihrer Rivalität mit anderen Männern noch keinen Erfolg errungen haben;
wenn sie - auch in bezug auf einen einzelnen Mann - nicht das Gefühl haben, ihn be-
siegt zu haben oder ihm doch in manchem überlegen zu sein. Sie haben beim Abschied
ein gutes Gefühl, wenn sie das Interesse von Frauen gefunden haben und sich vorstel-
len können, daß Frauen ein attraktives Bild von ihnen mitnehmen. Dann sind sie "in
den Frauen drin". Hysterisch strukturierte Frauen reagieren ähnlich. Sie möchten sich
vorstellen können, daß diese Männer ihnen alles, was sie wünschen, "zu Füßen legen"
würden.
Hysterische Frauen achten sehr darauf, wie sie im Vergleich zu den anderen Frau-
en abschneiden, und zwar in den Augen der Frauen, die ihre unmittelbaren Rivalinnen
sind, und in den Augen der Männer. Wenn mehrere Personen anwesend sind, richtet
sich ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Personen. Dagegen ist das Kontaktverhalten der
Schizoiden und Depressiven meist durch die Konzentration der Aufmerksamkeit auf
eine Person charakterisiert, oder beim Schizoiden auf eine Gruppe von Personen, die
wie ein Wesen erlebt wird ("Neulich war ich auf einer interessanten Party", und damit
hat es sich). Bei narzißtisch Strukturierten vom kompetenten Typ hängt es von Zweck-
mäßigkeitserwägungen ab, ob ein Mensch oder eine ganze Gruppe von Menschen in
das Interesse und in die Interaktion einbezogen wird. Bei phobischen Menschen ist die
Zweiersituation in Beziehung zu einem äußeren steuernden Objekt bzw. einer Schutz-
figur wichtig; sonst hängt es von den auch noch vorhandenen anderen Strukturanteilen
ab, ob Zweiersituationen oder Mehr-Personen-Situationen interessieren und bevorzugt
werden.
Die Probleme, die sich aus dem Verhalten beim Herstellen und beim Beenden eines
Kontakts ergeben können, rechtfertigen, daß man sich mit den Modalitäten der Kon-
taktaufnahme und Kontaktbeendigung beschäftigt, natürlich auch mit den Modalitäten
der Gestaltung kurzdauernder Kontakte.

51
Dem Schizoiden kann man raten, sich im Umgang mit Menschen zu üben, die ihn
nicht so sehr interessieren, damit er in der Lage ist, Kontakte zu den Menschen auf-
zunehmen, die ihn interessieren. Wichtig ist für ihn auch, sich der Funktion des Small
talk bei der Kontaktaufnahme klar bewußt zu werden und Small talk zu lernen, auch
wenn man ihn unoriginell findet. Er sollte auch versuchen, im sozialadäquaten Beendi-
gen eines Kontakts eine gewisse Kompetenz und Routine zu erlangen. Der narzißtisch
Strukturierte vom kompetenten Typ braucht meist keine Hinweise; außer vielleicht
den, daß manche Menschen doch ein feines Gespür dafür haben, ob ein zur Schau
getragenes Interesse einem inneren Interesse entspricht. Narzißtisch Strukturierte vom
kränkbaren Typ sollten versuchen, sich klar darüber zu werden, was ein Gespräch ih-
nen bringen soll und was es ihnen bringen kann, damit sie sich nicht abgelehnt fühlen
müssen, wenn unrealistische Erwartungen nicht erfüllt werden. Depressive, die ja die
größten Schwierigkeiten beim Beenden einer Interaktion haben, sollten das üben und
sich auch überlegen, wie sie die Beendigung eines Kontakts gestalten könnten. Wichtig
für sie ist auch die Differenzierung zwischen der Beendigung des Kontakts mit einem
Menschen, zu dem keine Dauerbeziehung zu erwarten ist, und Menschen, zu denen
sie eine Dauerbeziehung erwarten können und haben möchten. Der Zwanghafte ist für
Empfehlungen bezüglich seines Interaktionsstils meist ebenso wenig zugänglich wie
für Empfehlungen anderer Art, weil er ja meint, es schon richtig zu machen. Er könnte
sich aber überlegen, was ein Verlassen des konventionellen Rahmens für ihn bedeuten
würde und wie weit die damit verbundenen Befürchtungen realitätsgerecht sind. Er
könnte den Umgang mit Menschen suchen, die sich zwar auch konventionell, aber im
Sinne einer anderen Konventionalität verhalten. Das tun oft jüngere Menschen.
Phobisch strukturierten Menschen wäre anzuraten, sich die Unterschiede zwischen
einer Situation mit und einer Situation ohne Begleiter deutlich zu machen. Sie können
sich dann dazu entscheiden, immer nur mit einem Begleiter auf andere Menschen zu-
zugehen oder zu üben, solche Situationen allein zu bewältigen.
Hysterisch strukturierten Männern vom phallischen Typ kann man empfehlen, zu
üben, ihr Rivalisieren etwas einzuschränken und nach Möglichkeit einen Blick dafür zu
entwickeln, wann das Rivalisieren auch den Männern, mit denen sie rivalisieren, Spaß
macht und wann sie es als lästig empfinden. Hysterisch strukturierte Männer, die Wert
darauf legen, von Frauen positiv beurteilt zu werden, sollten sich deutlich machen, daß
Frauen auf einer Party durch den Charme eines Mannes beeindruckt werden können,
daß sie im täglichen Leben aber auch darauf achten würden, wie er als Mann unter
Männern zurechtkommt, weil das ja für den Berufserfolg wichtig ist. Vom Berufserfolg
hängt ja für viele Frauen die Attraktivität eines Mannes auch heute noch entscheidend
ab.
Frauen, die mit anderen Frauen um Männer rivalisieren, sollten einsehen, daß Ri-
valisieren eine Frau nicht unbedingt attraktiv erscheinen läßt. Hysterisch strukturierte
Frauen, die phallisch identifiziert sind und deshalb mit Männern rivalisieren, sollten
sich klarmachen, daß Männer, die zum Rivalisieren nicht aufgelegt sind, eine rivalisie-
rende Frau ebenso lästig empfinden wie etwa einen Mann, der rivalisiert, ohne daß sie
darauf eingehen möchten. Frauen, die alle Männer durch Charme für sich interessie-
ren möchten, sollten bedenken, daß sie bei Männern leicht den Eindruck erzeugen, sie
meinten keinen von ihnen im besonderen.
Hysterisch Strukturierte haben meist keine großen Schwierigkeiten, Kontakte ein-
zuleiten. Sie wirken allerdings leicht aufdringlich, vor allem eben dann, wenn sie der

52
anderen Person einen "hysterischen", durch Lebhaftigkeit und Impulsivität gekenn-
zeichneten Umgangsstil aufdrängen wollen. Beim Beenden von Kontakten haben sie
meist auch keine großen Schwierigkeiten. Allerdings kann es passieren, daß Männer
sich wundern, wie schnell eine hysterisch Strukturierte von ihnen loskommt, obwohl
sie doch scheinbar ein starkes persönliches Interesse gezeigt hat.

53
54
Kapitel 8

Zum Umgang mit interpersonellen


Konflikten

Unter interpersonellen Konflikten versteht man Konflikte zwischen Menschen. Dane-


ben gibt es auch innere Konflikte, zum Beispiel den Konflikt zwischen Pflicht und
Neigung. Ein solcher innerer Konflikt spielt sich in einer einzigen Person ab. Hier soll
es nun um Konflikte gehen, die sich zwischen Personen abspielen, wobei auch auf in-
nere Konflikte Bezug genommen wird, die mit den interpersonellen Konflikten etwas
zu tun haben.
Schizoide fallen in interpersonellen Konflikten durch ihr radikales Verhalten auf.
Menschen, die sich ihnen entgegenstellen, sind ihnen entweder nicht wichtig; dann
werden sie ignoriert, oder sie sind wichtig; dann wird versucht, radikale Mittel gegen
sie einzusetzen. Man kann sagen, daß Schizoide sich in Konflikten nach dem Alles-
oder-Nichts-Prinzip verhalten. Um einen Konflikt zu beenden, setzen sie oft das Mittel
des Beziehungsabbruchs ein. Sie trennen sich, statt einen Konflikt auszutragen.
Narzißtisch Strukturierte vom kompetenten Typ sind interpersonelle Konflikte nicht
gewohnt, bei denen sich Personen begegnen. Es geht mehr um Funktionen, die der
andere zur Verfügung stellt oder nicht. Seine Motive interessieren nur, soweit der nar-
zißtisch Strukturierte sie kennen muß, um Einfluß zu nehmen. Bei narzißtisch struktu-
rierten Menschen vom kränkbaren Typ spielen Kränkungen in interpersonellen Kon-
flikten die wesentliche Rolle. Dabei kommt es, wenn der narzißtisch Strukturierte sich
gekränkt fühlt, zu entsprechenden Attacken, die den anderen kränken sollen, um die
eigene Kränkung auszugleichen. In diesen Fällen wird nach dem Prinzip: "Auge um
Auge, Zahn um Zahn" verfahren. Dabei fällt die Rache oft schlimmer aus, als ein Au-
ßenstehender sich die Kränkung vorstellen kann; sie entspricht aber dem Empfinden
des narzißtisch Gekränkten. Narzißtische Wut kann grenzenlos sein. Das verhindert
aber nicht, daß die Rache präzise ausgeführt und unter Umständen auch von längerer
Hand geplant wird. Eine Figur des öffentlichen Lebens sagte in einem Interview: "Ich
halte jahrelang still, aber dann fällt das Beil."
Depressiv Strukturierte neigen in interpersonellen Konflikten dazu, sich selbst und
nicht dem anderen die Schuld zu geben. Da sie ein strenges, wirkungsstarkes Überich
haben, versuchen sie aber oft, dem anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, weil
sie annehmen, daß dieser ähnlich reagiert wie sie selbst; zum Beispiel dadurch, daß sie
ihr Leiden ohne direkten Vorwurf demonstrieren. Bei Zwanghaften laufen interperso-

55
nelle Konflikte oft in Form von Rechthaberei. Es geht darum, wer die Dinge "richtig"
sieht. Was von Psychoanalytikern als "Narzißmus der kleinen Differenzen" gesehen
wird, findet man eher bei Zwanghaften als bei narzißtisch strukturierten Menschen:
Man streitet sich um Kleinigkeiten, "um des Kaisers Bart", und es kommt darauf an,
wer recht behält.
Andere Zwanghafte versuchen, bei interpersonellen Konflikten taktisch oder stra-
tegisch vorzugehen. Auch hier kommt es darauf an, zu gewinnen und nicht, einen
Kompromiß auszuhandeln, der beide Seiten befriedigen kann und zu einem dauerhaf-
ten Frieden führt. Wie schon im einführenden Kapitel über die Zwangsstruktur darge-
stellt, kommt es oft auch zur Verlagerung von Konflikten, vom Hauptthema weg auf
Kleines oder Kleinstes. Wenn der Zwanghafte den Streit um das Kleine dann gewinnt,
freut ihn das ähnlich stark, wie wenn er sich in der Hauptsache durchgesetzt hätte.
Der phobisch Strukturierte ist meist ausgesprochen harmoniebedürftig. Interper-
sonelle Konflikte möchte er "unter den Teppich kehren". Er sucht nach Kompromis-
sen um des Kompromisses Willen, oft kommen Scheinkompromisse dabei heraus. Die
übertriebene Kompromißfreudigkeit des phobisch Strukturierten ist im wesentlichen
darauf zurückzuführen, daß er seine eigenen Aggressionen fürchtet, weil er Angst hat,
mit ihnen nicht sozialadäquat umgehen zu können. Er schließt einen Frieden, wenn es
eigentlich angebracht wäre, einen Konflikt auszutragen, und die Chancen, dabei gut
abzuschneiden, groß sind.
Hysterisch Strukturierte neigen dazu, interpersonelle Konflikte zu dramatisieren.
Das tun sie schon damit, daß sie ihren Standpunkt in Superlative fassen und auch
die Standpunkte des Konfliktpartners in Superlativen beschreiben. Auch neigen sie
zu ausuferndem Verhalten. Sie greifen den Konfliktpartner körperlich an oder zerstö-
ren Sachen. Allerdings gilt das vor allem für solche hysterisch Strukturierte, die eine
"kindliche" Denkweise behalten haben. Gefühle werden mit Wörtern bezeichnet, die
stärkere Gefühle vermuten lassen, als tatsächlich erlebt werden. Man kann sagen, daß
hysterisch Strukturierte oft intensivere Gefühle empfinden als andere, weil sie in ihrem
Gefühlsleben weniger rational gesteuert sind, diese aber noch einmal stärker sprach-
lich, mimisch oder gestisch ausdrücken.
Hysterisch Strukturierte, die nach dem Prinzip leben, daß sie sich so verhalten, wie
man sie haben möchte, können sich in einer Umgebung, wo ein "cooler" Kommunika-
tionsstil gepflegt wird, auch "cool" verhalten. Die Ausdrucksweise läßt dann weniger
Gefühle vermuten, als tatsächlich vorhanden sind. Typisch für hysterisch Strukturierte
ist jedenfalls eine Diskrepanz zwischen Ausdruck und innerem Erleben. Der Ausdruck
kann überschießend intensiv oder aber unterkühlt sein.
Schizoid Strukturierten wäre zu empfehlen, nach einer kritischen Einstellung ge-
genüber ihrer Radikalität zu suchen oder zumindest ihre Reaktion auf bestimmte Pro-
vokationen mit denen anderer Menschen zu vergleichen. Das ist leichter gesagt als
getan, weil das Radikale zum Wesen des Schizoiden gehört. Das Beste, was ein Schi-
zoider erreichen kann, ist vermutlich ein Üben abgestuften Handelns, wenn schon nicht
abgestuften Reagierens, also eines taktischen Handelns, das die Folgen radikalen Han-
delns zu berücksichtigen sucht.
Der kompetente narzißtisch Strukturierte ist für Empfehlungen, wie er sich anders
verhalten könnte, meist unzugänglich. Er kommt ja gut damit zurecht, wie er sich ver-
hält, und unsere Gesellschaft bietet narzißtisch Strukturierten geeignete Betätigungs-
felder, zum Beispiel im oberen Management.

56
Narzißtische Menschen vom kränkbaren Typ, die im Unterschied zum Schizoiden
aus einer Kränkungswut heraus intensiv reagieren und nicht etwa, weil ihnen für ihr
Handeln nur "alles" oder "nichts" zur Verfügung steht, sollten es sich angewöhnen,
eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen, ehe sie ihre Wut ausleben. Der narzißtisch
Gekränkte hat zunächst die Tendenz, den anderen oder "die ganze Welt" zerstören zu
wollen. Manchmal hilft es, "darüber zu schlafen". Ein großer präventiver Schritt wäre
das vorsichtige Infragestellen des überhöhten Selbstkonzepts, damit die Konfrontation
in der Realität des Selbst weniger gefährlich wird.
Der Depressive sollte versuchen, in Beziehungen aggressiver zu handeln. Meist
macht er die Erfahrung, daß die Beziehungsabbrüche, die er befürchtet, nicht eintreten.
Selbstanschuldigungen haben etwas damit zu tun, daß der Ärger auf andere gegen das
eigene Selbst gerichtet wird.
Das negative Selbstkonzept, ein Gegenstück des überhöhten Selbstkonzepts beim
kränkbaren narzißtischen Typ, verhindert auch, daß der Depressive sich durchsetzt. Er
verdient ja nichts Besseres. Also müßte man dem Depressiven raten, mit sich selbst
freundlicher umzugehen, was eine Verbesserung des Selbstkonzepts zur Folge haben
kann, wie ich das im einfahrenden Kapitel über die depressive Struktur dargestellt ha-
be. Mangelnde Durchsetzungskraft verstärkt eine Depression, weil die Enttäuschungs-
wut, die daraus resultiert, daß der Depressive vom andern nicht bekommt, was er sich
wünscht, wieder gegen das eigene Selbst gerichtet wird.
Dem Zwanghaften wäre zu empfehlen, daß er sein Bedürfnis, recht zu haben, in
Frage stellt. Ein Weg dazu ist, sich klarzumachen, daß es zu vielen Dingen im Leben
verschiedene Meinungen und Präferenzen gibt, die alle für bestimmte Menschen ihre
Berechtigung haben können. Das gilt nicht nur im Bereich der Kunst, der Literatur, des
Wohnens, des Urlaubsverhaltens und der Hobbys. Verschiedene Hobbys passen zum
Beispiel zu verschiedenen Persönlichkeiten. Wenn jemand ein anderes Hobby hat als
der Zwanghafte, muß nicht eines der beiden Hobbys falsch sein. Der Phobische sollte
Auseinandersetzungen üben, zunächst an Dingen, die nicht so wichtig sind. Er kann
sich auf diese Weise langsam an die Gefühle gewöhnen und sie aushalten lernen, die
entstehen, wenn "dicke Luft" ist, andere Menschen "vergrätzt" sind oder einem etwas
nachtragen. Gleichzeitig erwirbt er so soziale Kompetenzen in der Durchsetzung, die
Phobische oft nicht entwickelt haben.
Hysterisch Strukturierte sollten mehr Sachlichkeit trainieren. Das gelingt in der
Regel nicht, wenn der hysterisch Strukturierte versucht, sein ganzes Leben umzustel-
len. Es gelingt zunächst meist nur in kleinen Bereichen, die nicht zentral wichtig sind.
Bei einer kleinen Provokation ist es leichter, sachlich zu bleiben, als bei einer großen.
Dem hysterisch Strukturierten kann es kaum darum gehen, daß er seine Liebe zur
Spontaneität aufgibt. Er kann sie aber auf bestimmte Lebensbereiche beschränken. In
interpersonellen Auseinandersetzungen sind Spontaneität und eine übertriebene Dar-
stellung von Affekten nicht angebracht; es sei denn, daß es nur darum geht, sich emo-
tional zu entlasten.

57
58
Kapitel 9

Geld und die Spielarten des


Charakters

9.1 Schizoide Struktur


Für viele Schizoide bedeutet Geld "nichts". Geld scheinen sie zu verachten. Ein fru-
gales Leben gibt ihnen Freiheit. Der Prototyp eines solchen Schizoiden war Diogenes
in seiner Tonne. Geld gewinnt für einen Schizoiden dann einen Wert, wenn er es für
Ideen ausgeben kann. Da ist er auch bereit, es sich illegal anzueignen, zum Beispiel
überfällt er eine Bank aus politischen Motiven. Oder er ist bereit, zu hungern und seine
Familie darben zu lassen, wenn es gilt, eine Idee zu verwirklichen. Nicht selten findet
man eine solche Einstellung bei Künstlern oder Wissenschaftlern, aber auch Schizoi-
de aus anderen Berufen geben oft für Ziele, die sie unterstützen wollen, überraschend
viel Geld aus. So kommt es vor, daß arme Schizoide viel Geld an eine religiöse Sek-
te geben, deren Ideen sie für richtig halten und fördern wollen. Dabei fühlen sie sich
nicht ausgenutzt; sie sind froh und glücklich, mit ihrem Geld einer Institution dienen
zu können, mit der sie sich identifizieren und die wertvoll für sie ist. Ein Patient, der
eine Zeitlang zu den Baghwan-Jüngern gehörte und das Gemeinschaftsgefühl, das er
in der Sekte erleben durfte, als wertvoll empfand, wußte, daß Baghwan eine große Zahl
Rolls-Royce-Limousinen besaß. Diese Verwendung des Geldes erschien ihm aber ad-
äquat, weil er der Meinung war, daß er von Baghwan so viel immaterielles Wertvolle
bekam, daß die Rolls-Royce-Limousinen daneben fast keinen Wert hatten.
Im Privaten haben Schizoide oft eine naive Einstellung zu Geld. Sie leihen etwas
her, obwohl sie sich denken können, daß sie nichts wiederbekommen, bezahlen über-
höhte Preise oder bezahlen eine falsche Rechnung, weil es sich für sie nicht lohnt, den
Rechenfehler zu reklamieren. Ein frugales Leben wird ihnen auch dadurch erleichtert,
daß sie von ihrer Umwelt nicht viel wahrnehmen. Wie sie wohnen und wie sie geklei-
det sind, ist ihnen egal. Einstein, der manche Züge eines Schizoiden hatte, lief nach
seiner Ankunft in New York in einem alten Mantel herum. Ein Freund sagte ihm, er
solle sich doch einen neuen kaufen. Einstein antwortete: "wieso, hier kennt mich doch
niemand." Nach einer Woche war Einstein in New York bekannt, weil in den Zeitun-
gen und im Rundfunk täglich über ihn berichtet wurde. Der Freund traf ihn im gleichen
Mantel an und fragte ihn, warum er sich noch keinen neuen gekauft habe. Einstein ant-
wortete: "Wieso, hier kennt mich doch jetzt jeder". Von Einstein wird auch berichtet,

59
daß er keine Socken trug, weil Löcher hineinkommen könnten, und seine Frau scheint
ihm öfters vorgeworfen zu haben, daß er sich selten wusch.
Die Vernachlässigung des Äußeren, die man bei Schizoiden nicht selten findet, hat
etwas mit einer nach innen gerichteten Wahrnehmung zu tun. Schizoide leben oft in
ihren eigenen Fantasiewelten. Was außen ist, wozu auch ihre äußere Erscheinung ge-
hört, verblaßt daneben. Solange der Schizoide es sich leisten kann, sein Äußeres zu
vernachlässigen - und das liegt ja auch in der zweiten Antwort von Einstein -, hat er
keine Probleme mit seiner Materielles verachtenden Lebensweise. Es kann aber auch
sein, daß es ihm schadet, unpassend gekleidet am Arbeitsplatz zu erscheinen, oder
seine Gäste wundern sich über die dürftig eingerichtete Wohnung. Wenn die Ideo-
logisierung des frugalen Lebens nicht zu stark ist, kann man bei Schizoiden gut mit
Zweckmäßigkeit argumentieren. Wenn ein nachlässiges Äußeres sie beruflich beein-
trächtigt und sie damit behindert, ihre Ideen zu verwirklichen, können sie sich aus
Zweckmäßigkeitsgründen veranlaßt sehen, mehr Sorgfalt auf ihre Kleidung zu ver-
wenden. Wenn sie dafür Geld ausgeben, ist es dann eine Investition in die Aufgaben,
die sie sich vorgenommen haben.

9.2 Narzißtische Struktur


Dem narzißtisch Strukturierten gibt Geld eine Möglichkeit, sich Geltung zu verschaf-
fen. Veblen (1900) sprach von "Conspicuous Consumption"; ein Terminus, der sich im
angelsächsischen Sprachraum eingebürgert hat. "Conspicuous" heißt auffällig. "Con-
spicuous Consumption" bedeutet, daß Dinge oder Dienstleistungen eingekauft werden,
die anderen auffallen. Narzißtisch Strukturierte sprechen gern von Dingen, die sie sich
leisten können, zum Beispiel von einer Fernreise mit Aufenthalt in einem Luxushotel
(oder: "Nur vier Sterne, aber schön gelegen"). In der Unterschicht wird das Auto mit
allerlei sichtbaren Accessoires ausgestattet, in der Mittelschicht soll es teuer, aber nicht
protzig sein, während in der Oberschicht auf das Auto als Statusmerkmal oft verzichtet
wird; hier drückt sich der Rang in anderen Dingen aus, zum Beispiel in der Kleidung
oder in bestimmten, aufwendigen Hobbys.
In Deutschland sind die Besoldungsstufen im öffentlichen Dienst mit bestimmten
Tätigkeitsmerkmalen verbunden, man kann im Dienst aber auch auf einer höheren Be-
soldungsstufe das gleiche tun wie auf der nächstniedrigeren: Narzißtisch Strukturierte
legen oft großen Wert darauf, daß sie einer bestimmten Besoldungsstufe "angehören",
selbst wenn der finanzielle Abstand zu den benachbarten Besoldungsstufen gering ist.
Geld kann dem narzißtisch Strukturierten auch dazu dienen, Anerkennung einzu-
kaufen, indem er Angestellte dafür bezahlt, seinen Status zu heben; zum Beispiel lei-
stet sich ein Neureicher einen Butler. Die Firma, in der jemand arbeitet, kann den Sta-
tus beeinflussen, was zum Beispiel im Schwabenland in Äußerungen wie: "Ich schaff’
beim Daimler" oder: "Ich schaff’ beim Bosch" zum Ausdruck kommen.
Es ist sicher nicht schädlich, wenn jemand auf den Betrieb stolz ist, in dem er ar-
beitet, oder wenn der Leiter eines Betriebs möchte, daß die Angestellten mit Stolz von
dem Betrieb sprechen. Aber beim narzißtisch Strukturierten sind die Geltungsaspekte
überwertig. So kann ein narzißtisch Strukturierter ein Auto kaufen, das er eng, schlecht
gefedert und laut erlebt, wenn sich damit nur Prestige verbindet.
Narzißtisch Strukturierten wäre anzuraten, daß sie versuchen, eine gewisse Distanz

60
zu ihren Geltungswünschen zu erlangen und ihr Geld zweckmäßiger und wirksamer
für angestrebte Ziele einzusetzen, zu denen Geltung durchaus gehören kann - im Sinne
eines Kompromisses zwischen Nutzwert und Geltungswert.

9.3 Depressive Struktur


Depressiv strukturierte Menschen fantasieren oft, was sie sich alles kaufen würden,
wenn sie zu mehr Geld kämen. Leider hindert sie der generelle Mangel an Genußfä-
higkeit daran, gut zu leben, wenn sie wirklich zu Geld kommen. Depressive wünschen
sich auch oft, Geld zu haben, das sie dann für andere Menschen ausgeben können. Sie
entwickeln die Fantasie, unerkannt durch eine Stadt zu gehen und den Armen Geld-
scheine in den Briefkasten zu werfen oder einem Bettler eine größere Geldsumme zu
schenken. Depressive, die viel essen, wobei sie Qualität durch Quantität ersetzen - die
Qualität können sie wenig genießen -, sehen Geld als Äquivalent für ein Nahrungs-
mittel. Manche depressiv Strukturierte sammeln Geld an, indem sie wenig für sich
verbrauchen, und erfreuen sich an der Vorstellung, was ihre Kinder alles mit dem Geld
machen können, wenn sie es nach ihrem Tode erben. Darin unterscheiden sie sich von
den Zwanghaften, die ihr Geld niemandem gönnen.
Bei depressiv Strukturierten, die nicht reich sind, aber Geld ansammeln, um es
später weiterzugehen, findet sich oft ein zwanghafter Strukturanteil der auch für diese
Art, andere glücklich machen zu wollen, mitverantwortlich ist. Der Depressive sam-
melt aber, um auszugeben; der Zwanghafte, um zu behalten. Da ein uneigennütziges
Verhalten in unserer Gesellschaft oft positiv erlebt wird, läßt es sich leicht ideologisie-
ren und ist einer Korrektur nur dann zugänglich, wenn ein selbstschädigender Aspekt
offenbar wird und dem depressiv Strukturierten verdeutlicht werden kann. Selten wird
den Depressiven ein freigebiger Umgang mit Geld gedankt. Die daraus resultierenden
Enttäuschungen motivieren sie manchmal, vorsichtiger zu sein und sich im günstigen
Falle auch selbst etwas zu gönnen.

9.4 Zwanghafte Struktur


Ein auffälliger, meist auffällig zurückhaltender Umgang mit Geld wird als ein wesent-
liches Merkmal der Zwangsstruktur gesehen. Direkter als bei anderen Strukturen wird
der Umgang mit Geld mit körpernahen Erfahrungen in einer bestimmten Entwick-
lungsphase in Verbindung gebracht: mit der Sauberkeitserziehung, bei der es darum
geht, Materie zu einer vorgegebenen Zeit und am vorgegebenen Ort abzugeben und
sonst zurückzuhalten. Bei Zwangsstrukturen ist gelegentlich auch das unkontrollierte
Hergeben von Geld zu beobachten, in einem Protest gegen die früheren Anforderun-
gen der Sauberkeitserziehung. Manche Zwanghafte sammeln auch Geld über längere
Zeit, um es dann in kurzer Zeit auszugeben; auch bei diesem Verhalten ist eine Ähn-
lichkeit mit dem, was bei der Sauberkeitserziehung erfahren und gelernt wird, schwer
zu übersehen.
Man nimmt an, daß ein Kleinkind im Frühstadium der Sauberkeitserziehung das
Abgeben von Stuhl wie das Abgeben eigener Substanz erlebt, daß es also zwischen
Stuhl und eigener Körpersubstanz noch nicht unterscheiden kann. Jedenfalls findet
man bei Menschen mit einer ausgeprägten Zwangsstruktur oft, daß das Hergeben von

61
Geld für sie eine traumatische Bedeutung hat, als ob sie ein Stück von sich selbst
hergeben müßten.
Neben der Tatsache, in der man für Geld etwas kaufen kann, hat es also für den
Zwanghaften eine besondere, dieser Persönlichkeitsstruktur eigene Bedeutung. Der
Zwanghafte freut sich am Geld selbst, wobei es heutzutage keine Gold- oder Silber-
münzen mehr sind, sondern Geldscheine oder Zahlen auf einem Bankkonto oder in
einem Aktiendepot. Er freut sich darüber hinaus an jedwelcher Art von Besitz und hat
große Schwierigkeiten, etwas wegzuwerfen.
Geld kann ererbt, gefunden oder gewonnen werden, in der Regel wird es aber durch
Arbeit verdient. Wenn der Zwanghafte sein Geld sieht oder es sich vorstellt, denkt er
aber wenig an die Arbeit, die er leisten mußte, um das Geld zu bekommen. Geld wird
etwas, das man als eine besondere Substanz bezeichnen könnte, ähnlich wie Goethe
Mephisto im ersten Teil des Faust sagen läßt: "Blut ist ein ganz besonderer Saft." Eine
Äquivalenz zwischen Körpersubstanz und Geld wird zum Beispiel von Shakespeare in
seinem Kaufmann von Venedig dargestellt, wo Shylock "ein Pfund Fleisch" aus dem
Körper des Schuldners haben will.
Es gibt reiche Geizige, die ganz kleine Summen zurückhalten oder solche von an-
deren fordern, Summen, die im Vergleich zu ihrem Vermögen verschwindend gering
sind. So wurde von dem Milliardär Getty berichtet, er habe in seinem Haus Münzte-
lefone eingerichtet, weil er die Telefongespräche seiner Gäste nicht bezahlen wollte.
Ein solches Verhalten kann man verstehen, wenn Geld und Körpersubstanz gleichge-
setzt werden. Manche Zwanghafte haben auch Angst vor der Freiheit, die Geld ihnen
gewährt, und geben für ihre persönlichen Bedürfnisse deshalb nur wenig aus. Kaiser
Franz Joseph von Österreich-Ungarn, dem die Mentalität eines zwanghaften Buchhal-
ters nachgesagt wurde, war in manchem sehr bescheiden. Noch heute wird das Ei-
senbett gezeigt, in dem er schlief. Gegenüber seiner Geliebten war er sehr großzügig;
ihre Spielschulden hat er immer bezahlt. Vermutlich wußte er über die Staatsausgaben
Bescheid, im Bereich des persönlichen Bedarfs war er, was Geld anging, eher naiv.
So wird berichtet, daß seine Geliebte, Katharina Schratt, ihn fragte, was ein Ring, den
sie trug, wohl gekostet habe. Er schätzte: "Fünfzig Kronen", worauf sie sagte: "Nein,
fünfzigtausend." Franz-Joseph antwortete: "Auch nicht teuer.".
Bei Zwanghaften findet man nicht selten, daß sie in manchen Bereichen sparsam
sind und in anderen Bereichen das Geld hinauswerfen. Hier scheinen Verstopfung und
Durchfall zu alternieren. Andere Zwanghafte können nicht Nein sagen, wenn man sie
um ein Geschenk oder ein Darlehen bittet. Fast alle, die ich kennengelernt habe, zeig-
ten aber irgendwelche Auffälligkeiten im Umgang mit Geld, wenn man ihn mit dem
der Durchschnittsbevölkerung bei ähnlichen finanziellen Verhältnissen vergleicht.
Bei den Schwierigkeiten im Umgang mit Geld kann Zwanghaften nur in Grenzen
geholfen werden und nur durch eine längere psychotherapeutische Behandlung. Helfen
kann, wenn sie sich die symbolische Bedeutung von Geld etwas deutlicher machen und
versuchen, Geld mehr unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit zu betrachten. Wenn sie
anderes als Geld sammeln, zum Beispiel Briefmarken, Porzellan oder Bilder, können
sie das Ansammeln von Substanz in ihrer Sammelleidenschaft ausleben. Ihr Umgang
mit Geld wird entspannter und kann dadurch etwas zweckmäßiger werden.

62
9.5 Phobische Struktur
Der phobisch Strukturierte kann Geld fürchten, weil Geld für ihn Freiheit bedeutet.
Seine Möglichkeiten, sich durch ein willkürliches Verhalten in schwierige Situationen
zu bringen, nehmen dadurch zu. Manche phobisch Strukturierte legen ihr Geld so an,
daß sie schwer an es herankommen können, etwa in Sparverträgen. Manchen dient
ein Spielautomat als Geldvernichtungsmaschine. Sie möchten das gefürchtete Geld
loswerden. Haben sie alles verloren, sind sie erleichtert und froh. Andere lassen sich
bei ihren Geldausgaben sorgfältig beraten. So kann es sein, daß sie Geld immer wieder
anlegen und mit der Zeit zu einem beträchtlichen Vermögen kommen, ohne das Geld
je zur freien Verfügung gehabt zu haben.
Andererseits kann Geld für den phobisch Strukturierten auch Sicherheit bedeuten.
Wenn er auf der Straße Angst bekommt, kann er etwa ein Taxi nehmen. Über einen
reichen Londoner Analysepatienten wird berichtet, daß er hundert Taxis kaufte, hun-
dert Fahrer engagierte und diese mit den Taxen an bestimmten Punkten der Innenstadt
parken ließ (was zu der Zeit, als dies passierte, noch möglich war, weil genügend
Parkraum zur Verfügung stand). Er konnte jederzeit von einem Taxi zum anderen ge-
hen und sich so in der City frei bewegen. Die Taxis waren für ihn wie eigene Wohnun-
gen, in deren Nähe er sich nicht fürchtete.
Phobisch Strukturierte tun meist gut daran, die Verantwortung für das Finanzielle
mit einer anderen Person, einer Partnerin, einem Partner oder einem professionellen
Berater, zu teilen. Sie gewinnen dann, nur scheinbar paradoxerweise, mehr Freiheit
im Umgang mit Geld. Am Beispiel des Mannes mit den hundert Taxen kann man
erkennen, daß Geld auch eingesetzt werden kann, um sich - trotz der dem Phobischen
eigenen Tendenz zur Vermeidung und zum Rückzug - freier bewegen zu können.

9.6 Hysterische Struktur


Der Umgang hysterisch strukturierter Männer und Frauen mit Geld ist durch Planlosig-
keit und Impulsivität gekennzeichnet. Auch wenn sie immer wieder das Konto über-
ziehen, bringen sie es oft nicht fertig, ihre Ausgaben aufzuschreiben, um sich einen
Überblick zu verschaffen. Das tun übrigens auch manche Depressive nicht, weil sie
sich die unbewußte Phantasie unbegrenzt verfügbarer materieller Mittel erhalten wol-
len. Der hysterisch Strukturierte weigert sich, das zu tun, weil er die Illusion behalten
möchte, sich seinen Impulsen überlassen zu können. Würde er die Ausgaben planen,
könnte das seine Impulsivität und damit seine Spontaneität und Freiheit einschränken.
Hier zeigt sich wieder eine kindliche Form der Einschätzung des eigenen Verhaltens,
die auf die teilweise Fixierung in der ödipalen Entwicklungsphase zurückgeht.
Daß Geld verdient werden muß, stört viele hysterisch Strukturierte; sie möchten es
lieber geschenkt erhalten, jedenfalls sollte es keine Verbindung zu ihrer Arbeit haben
und nicht von der Arbeitsleistung abhängig sein. Das ist wieder eine kindliche Einstel-
lung, weil das vier- oder fünfjährige Kind ja in der Regel kein Geld verdient und die
materiellen Güter von den Eltern bekommt.
Oft geben hysterisch Strukturierte auffallend viel Geld für Sachen aus, um die ei-
gene Attraktivität zu steigern. Bei Frauen sind es oft Kleidungsstücke und Kosmetika,
bei Männern Autos oder Motorräder. Solche Gegenstände zu besitzen wird von den

63
hysterisch Strukturierten als existentiell wichtig erlebt. Spricht man sie auf die hohen
Ausgaben für solche Dinge an, erfolgt als Reaktion oft eine wütende Rechtfertigung,
wobei der Abwehrmechanismus des Rationalisierens eingesetzt wird. Die beim Ratio-
nalisieren vorgebrachten Begründungen klingen meist etwas naiv. Das Kleidungsstück
war günstig zu haben und mußte deshalb gekauft werden, das Auto sei zwar schnell,
aber doch sicherer als eines mit einem schwächeren Motor und einem weniger sportli-
chen Fahrgestell. Man bekommt den Eindruck, daß immer dort, wo es um die Darstel-
lung von Weiblichkeit oder von Männlichkeit geht, das erwachsene Denken aussetzt,
auch und gerade im Umgang mit Geld.
Die Vorstellung und der Wunsch, mit geringem Aufwand viel zu erreichen, ver-
führt manche hysterisch Strukturierte zu leichtsinnigen Investitionen, die massenhaft
Geld versprechen. Ähnlich kann man auch die Neigung sehen, besonders günstige
Einkäufe zu machen.
Die Relation zwischen eingesetztem Geld und erzieltem Warenwert ist das Wich-
tige, auch wenn ein gekauftes Kleidungsstück gar nicht benötigt wird und nur her-
umliegt oder lediglich einmal angezogen und dann in den Schrank gehängt wird. Hy-
sterisch strukturierte Männer kaufen Gebrauchtwagen, deren Unterhaltung sie sich ei-
gentlich nicht leisten können, weil der Preis so günstig war.
Hysterisch strukturierte Menschen sind von der Unzweckmäßigkeit ihres Verhal-
tens meist erst zu überzeugen, wenn sie sich damit in erhebliche Schwierigkeiten ge-
bracht haben. Männer fühlen sich in solchen Situationen als Versager. Frauen sind oft
weniger einsichtig, weil zum Konzept einer attraktiven Frau der kompetente Umgang
mit Geld nicht unbedingt gehört. Eine Frau, die sich auch als kompetente Hausfrau
fühlen möchte, ist von der Unzweckmäßigkeit ihres Verhaltens eher zu überzeugen.
Hilfreich ist in solchen Fällen ein guter Freund oder ein Berater, der freundlich, aber
konsequent auf die Grenzen hinweist, durch deren Oberschreitung die Schwierigkei-
ten entstehen. Wir haben es dann allerdings wieder mit der Lösung zu tun, daß eine
hysterisch strukturierte Person andere damit beauftragt, ihr Grenzen zu setzen. In The-
rapien muß so etwas bearbeitet werden, im täglichen Leben kann dieser andere leicht
in die Position des lebenslangen Beraters kommen, der immer angerufen wird, wenn
es Probleme gibt.

64
Kapitel 10

Krisen und Persönlichkeit

Krisen können nicht nur durch Verluste und Trennungen hervorgerufen werden, son-
dern auch durch berufliche und finanzielle Probleme. Ein jeder Mensch kann damit
konfrontiert werden, daß seine äußere Lebensgrundlage zerstört wird. Arbeitslosigkeit
bedeutet heute nicht mehr das gleiche wie zu einer Zeit, als es noch kein soziales Netz
gab, Kriegsversehrte betteln mußten und Arbeitslose vor Suppenküchen um einen Tel-
ler Suppe anstanden. Die Folgen sind aber auch heute schwerwiegend genug. Der Ver-
lust des Arbeitsplatzes kann viele treffen, praktisch alle, die außerhalb des öffentlichen
Dienstes beschäftigt sind.
Nicht immer geht gleich der Arbeitsplatz verloren. Auch wenn jemand bei einer
Beförderung übergangen wird, sonstige Berufsziele nicht erreicht oder eine neue Tä-
tigkeit ausfährt, die weniger Ansehen hat als die frühere, bedeutet das eine Belastung,
mit der man mehr oder weniger gut fertig, werden kann.
Von äußerer Anerkennung wenig abhängig sind materiell bedürfnislos sind viele
Schizoide, die noch mit Arbeitslosengeld oder mit Sozialhilfe zufrieden sein können.
Sie leben innerlich in einer anderen Welt als äußerlich, und die innere Welt hat ge-
genüber der äußeren Priorität. Eine Sache, die sie vertreten, ist ihnen wichtiger als das
eigene materielle Wohlergehen oder die Anerkennung von außen. .Sie dienen einer
Idee, die sie sich vom Leben und von ihrer Aufgabe im Leben machen. So anspruchs-
los sie im Materiellen sind, so anspruchsvoll sind sie freilich, wenn es um ihre Ziele
geht. Gegen äußere Schicksalsschläge sind sie aber relativ immun.
Ganz anders geht es den narzißtisch Strukturierten, die auf äußere Anerkennung
angewiesen sind. Narzißtisch Strukturierte vom kompetenten Typ haben ihr Leben auf
äußeren Erfolg ausgelegt. Sie trifft es schwer, wenn der äußere Erfolg ausbleibt oder
ihnen durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen in den Händen zer-
rinnt, wie das passieren kann, wenn die Konjunktur sich ändert und "ihr Typ nicht mehr
gefragt ist".
Schizoiden ist in einer Krisensituation schwer zu raten - pragmatische Vorschläge,
wie sie mit äußeren Problemen zurechtkommen können, werden nicht immer dankbar
aufgenommen. Sie weisen ja auf das Reale hin, das der Schizoide ausblenden möchte.
Einsichtige Schizoide lassen sich aber raten, wenn es um Schadensbegrenzung geht,
wenn der Schaden ihren Tagesablauf drastisch verändert und sie daran hindert, in ihren
Fantasien zu leben.
Narzißtisch Strukturierten kann es helfen, wenn sie auf vergangene Erfolge zu-

65
rückblicken. Eine Anerkennung der vergangenen Erfolge oder ein Hinweis darauf kann
sie trösten. So kann man beobachten, daß Schauspieler, deren Zeit vorüber ist, ihr Zim-
mer mit Plakaten von Stücken pflastern, in denen sie gespielt haben, mit Fotos, die sie
in ihrer großen Zeit zeigen, oder mit Zeitungsausschnitten, die lobende Kritiken ihrer
früheren Arbeit enthalten.
Narzißtisch Strukturierte vom kränkbaren Typ sind durch die Konfrontation mit
ihren realen Möglichkeiten in einer schwierigen Lebenssituation stark gefährdet. Die
Kränkung kann sie zum Suizid treiben, wenn sie jemand anderen für ihre mißliche
Lage verantwortlich machen, zum Totschlag. Meist überwiegt aber der Selbsthaß. Ein
Suizid verspricht Entlastung dadurch, daß sie ihrem Kränkungsleiden ein Ende setzen
könnten, während ein Totschlag eine mißliche äußere Situation, in der sie sich be-
finden, nicht verbessert, sondern verschlimmert. Kränkbare narzißtisch Strukturierte
sollten versuchen, sich klarzumachen, daß ihre Erwartungen an sie selbst, ernährt von
Omnipotenzfantasien, irreal waren.
Depressive in einer krisenhaften äußeren Situation klagen sich im allgemeinen
selbst an. Sie machen sich Vorwürfe, die Ihren ebenfalls in eine schlimme Lage ge-
bracht zu haben - die Familie, aber auch Freunde, Vorgesetzte, ihre Arbeitskollegen.
Es kann natürlich eine Art Omnipotenzgefühl bedeuten, wenn man an allem schuld
ist. Insofern können Selbstvorwürfe depressiv Strukturierte sogar stabilisieren. In ei-
ner solchen Situation brauchen sie aber oft professionelle Hilfe. Das hängt außer mit
der Suizidgefährdung auch damit zusammen, daß depressiv Strukturierte eben in ei-
ne Depression geraten, die ihre Initiative weiter lähmt und sie daran hindert, sich aus
der Situation zu befreien, auch wenn dies möglich wäre. Zwanghafte in Krisensitua-
tionen können, wie übrigens jeder Mensch, in eine reaktive Depression fallen. Eine
solche Depression entsteht aus Gefühlen der Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit ist für
Zwanghafte besonders schlimm, weil es ihnen ja wichtig ist, alles unter Kontrolle zu
haben. In einer Krisensituation, wo sie sich nicht helfen können oder wo es zumin-
dest so aussieht, als könnten sie es nicht, kann ein Erleben des Verlusts der Kontrolle
über andere zu einer tiefen Verzweiflung führen. Wenn professionelle Hilfe nicht ver-
fügbar ist, können sie sich manchmal dadurch stabilisieren, daß sie versuchen, unter
den gegebenen Umständen weiter ihre Pflicht zu tun, zum Beispiel dabei mitzuhelfen,
den Konkurs eines bankrott gegangenen Betriebes abzuwickeln. Die Pflichterfüllung
unter widrigen Umständen ist etwas, das für viele Zwanghafte einen besonderen Wert
darstellt.
Phobisch Strukturierte suchen in einer Krise naturgemäß Hilfe beim steuernden
Objekt, von dem zu hoffen ist, daß es rät, professionelle Hilfe aufzusuchen, wenn
der phobisch Strukturierte auch zusammen mit dem Begleiter keinen Ausweg aus der
verfahrenen Situation erkennen kann.
Hysterisch Strukturierte werden sich zunächst von den Affekten zu entlasten su-
chen, die eine Krise in ihnen hervorruft. Starke Gefühle der Verzweiflung, die laut
geklagt werden, sind aber nicht immer das Beste, wenn es um Krisenbewältigung
geht. Einem hysterisch Strukturierten muß man empfehlen, sich, wenn möglich, auf
das sachliche Denken zu verlegen und nach Auswegen zu suchen. Es gibt allerdings
hysterisch Strukturierte, die in einer Krise nach der Methode des lieben Augustin ver-
fahren, von dem ein Lied ja sagt: Frau ist weg, Geld ist weg, und der Augustin liegt
im Dreck ... (und bleibt ganz lustig dabei). Ein Vorteil des hysterisch Strukturierten ist,
daß er am Gescheiterten nicht festhält. Eher als andere ist er bereit, neu anzufangen.

66
Kapitel 11

Zum Umgang mit Trennung

11.1 Schizoide Struktur


Der schizoid Strukturierte geht nur selten enge persönliche Bindungen ein, so daß
es auch selten zu Trennungen kommen kann. Er fühlt sich mehr "der Menschheit",
"den Frauen" oder "den Männern" verbunden, "der Wissenschaft", einer Religion, sei-
ner philosophischen oder politischen Weltanschauung. Trennungen haben hier einen
anderen Charakter als Trennungen von einer Person. Die Trennung von einer Weltan-
schauung oder einer Religion erfolgt dann, wenn sich Weltanschauung oder Religion
nicht als haltbar erweisen; wenn der Betreffende also seinen Glauben oder seine po-
litische Überzeugung verliert. Während Religionen auf Erden nicht auf ihren Wahr-
heitsgehalt geprüft werden können, ist das Scheitern von politischen Utopien etwas,
das wir am Beispiel des Kommunismus im 20. Jahrhundert erlebt haben. Manche, für
die die kommunistische Utopie viel bedeutete, haben sich damit getröstet, daß der real
existierende Sozialismus nicht gut verwirklicht wurde und die Utopie dadurch nicht
berührt werden könne.
Enttäuschungen an einer Utopie können von Enttäuschungen an ihren Repräsen-
tanten getrennt werden. Eine derartige Trennung bewirkt, daß die Utopie an Wert zu
verlieren scheint. Bindet ein schizoid Strukturierter seine Existenz an eine Utopie oder
Religion und sieht er es als seine Lebensaufgabe an, ihr zu dienen, kann das Leben für
ihn seinen Sinn verlieren, wenn die Utopie scheitert. Es kann dann passieren, daß er
seine sinnlos gewordene Existenz beendet. In einer solchen Krise ist Hilfe von außen
notwendig. Dem Schizoiden fällt es besonders schwer, solche Hilfe anzufordern, auch
wenn das Gesundheitssystem sie ihm zur Verfügung stellt, weil er mit seinen Proble-
men allein fertig werden möchte. Präventiv kann man einem schizoid Strukturierten
raten, sich genau anzusehen, woran er glaubt. Ein solcher Rat stößt aber meist auf
taube Ohren. Ein Schizoider versucht, mit seinem Leben und der Welt souverän um-
zugehen; ein "souveräner" Umgang mit seinem Charakter ist ihm meist nicht möglich.

11.2 Narzißtische Struktur


Für Menschen mit einer narzißtischen Struktur haben Trennungen eine ungleich ge-
ringere Bedeutung als für Menschen mit einer depressiven Struktur. Ich habe bereits
erwähnt, daß narzißtische Menschen andere Menschen eher als Funktionsbündel denn

67
als Person wahrnehmen. Eine Trennung kann ihnen Probleme bereiten, weil dann die
betreffenden Funktionen, zu denen Anerkennung und Bewunderung gehören, nicht
mehr erfüllt werden. In den Funktionen ist die verlorene Person aber durch andere
Personen ersetzbar. Problematischer ist für narzißtisch strukturierte Menschen, wenn
ein Mensch sich von ihnen ab- und anderen zuwendet, z. B. wenn ein geschätzter
Mitarbeiter eines narzißtischen Chefs die Stelle wechselt. Auch wenn der Mitarbeiter
dadurch seine äußeren Arbeitsbedingungen wesentlich verbessert, so daß der Wechsel
gerechtfertigt erscheint, nimmt der narzißtisch strukturierte Chef den Weggang per-
sönlich. Seine unbewußte Fantasie war ja, für den Mitarbeiter so attraktiv zu sein, daß
ein Minus in den Arbeitsbedingungen oder ein Minus an Bezahlung durch ihn als Chef
aufgewogen werde. Das Kränknisserlebnis kann zur Kränkungswut führen, die sich als
Selbsthaß gegen den narzißtisch Strukturierten richten kann. Er denkt dann etwa: "jetzt
zeigt es sich, ich bin den anderen nichts wert", Im Unterschied zum depressiv Struk-
turierten hat er erwartet, wertgeschätzt zu werden. Der Depressive erwartet das nicht.
Er muß sich sehr anstrengen, für den anderen arbeiten, um etwas an Wertschätzung zu
erfahren. Der narzißtisch Strukturierte denkt, daß ihm die Wertschätzung zusteht. Eine
Konfrontation damit, daß die Wertschätzung nicht so groß ist, wie er erwartet hat, kann
ihn stärker treffen als den Depressiven, der nichts Besseres erwartete.

11.3 Depressive Struktur


Der problematische Umgang mit Trennungen ist für die depressive Persönlichkeits-
struktur charakteristisch und von zentraler Bedeutung. Im einfahrenden Kapitel über
die depressive Struktur habe ich dargestellt, daß für depressiv Strukturierte eine Tren-
nung mit der unbewußten, gelegentlich auch bewußten Angst verbunden ist, ohne das
versorgende Objekt nicht überleben zu können. Während ein narzißtisch Strukturierter
unter Trennungen leiden kann, weil ihm durch die Trennungen wichtiger "Funktions-
träger" Personen in ihren Funktionen genommen werden, kann er ein Funktionsbündel
doch durch ein anderes, ähnliches ersetzen - für narzißtisch Strukturierte kann der
Verlust einer wichtigen Person durch eine andere Person mit etwa den gleichen Funk-
tionen ausgeglichen werden. Im Gegensatz dazu ist für den Depressiven eine Person
erst einmal unersetzbar. Zur depressiven Entwicklung des Kindes ist es eine Voraus-
setzung, daß eine Pflegeperson, meist die Mutter, als einigermaßen verläßlich erlebt
werden konnte, wenn sie auch im emotionalen Bereich unzulänglich war. Der depres-
siv Strukturierte erwartete alles Heil von dieser einen Person. Steht später eine Person
an der Stelle der Mutter - es kann auch ein Mann sein, der eine Mutterrolle übernimmt
-, erlebt der oder die Depressive den Verlust dieser Person als existenzgefährdend und
kann sich nicht damit trösten, daß es einen Ersatz geben könnte.
So sind die Beziehungen Depressiver zu wichtigen Personen für die Ewigkeit oder
zumindest für ein Leben gedacht. In meiner einführenden Darstellung zu der depres-
siven Struktur habe ich darauf hingewiesen, daß gerade die hohen Erwartungen, die
depressiv Strukturierte an ihre Beziehungen richten, den Partner oder die Partnerin be-
lasten und zur Trennung führen können. Das Modell der Beziehung zur Mutter dient
als Modell für alle Beziehungen zu wichtigen Personen, zum Beispiel auch zur Be-
ziehung zu den Kindern, die schwer losgelassen werden können. Gehen sie aus dem
Haus, fühlt sich die depressiv strukturierte Mutter nicht nur der mütterlichen Aufgaben

68
beraubt. Sie verliert auch Menschen, von denen sie, wie sie zumindest hoffte, gemocht
wurde. Die Arbeit für die Kinder und die Sorgen um die Kinder haben ihrem Leben
einen Sinn gegeben, den sie nun verliert. Oft richtet eine solche Mutter ihre emotio-
nalen Wünsche dann verstärkt auf den Partner in der Regel geht es solchen Müttern
am besten, wenn sie bald wieder Personen finden, für die sie sorgen können. Das ist
in der heutigen Zeit aber nicht einfach. Manche Frauen suchen sich soziale Aufga-
ben, durch die sie sich stabilisieren können. Enkelkinder, die eigene Kinder ersetzen
könnten, kommen heutzutage meist erst lange nachdem die Kinder das Haus verlassen
haben. Als in den bürgerlichen Familien wenige Frauen außerhalb der Familie berufs-
tätig waren, bekamen die Töchter oft um die Zwanzig bereits eigenen Nachwuchs,
kurz nachdem sie von zu Hause fortgegangen waren. Die Söhne gingen in früheren
Zeiten vorher oft auf die Wanderschaft, als Studenten oder als Handwerksburschen,
gründeten aber nach Ende der Berufsausbildung bald ihren eigenen Hausstand und
bekamen Kinder. Heute gehen die Kinder oft mit 18 oder 19 Jahren aus dem Haus
und bekommen Kinder erst, wenn sie schon 30 oder älter sind. Müttern, die sich nicht
darauf verlassen wollen, daß Enkelkinder kommen - ein Wunsch, der sich ohnehin oft
spät, wenn Oberhaupt erfüllt -, könnte man raten, daß sie die Trennung von den Kin-
dern vorbereiten, indem sie sich auch andere Aufgaben suchen. Das hat nicht nur eine
Ersatzfunktion, die andere Personen an die Stelle der Kinder setzt. Es entlastet auch
die Beziehung zu den Kindern, so daß die Kinder, wenn sie aus dem Haus gegangen
sind, gern zu Besuch kommen, während Kinder, deren Mutter ihren Auszug mit Vor-
würfen begleitete hat und ihn möglicherweise zu hindern suchte, meist froh sind, wenn
sie der Mutter fernbleiben können. Ihre Besuche beschränken sie dann oft auf Pflicht-
kontakte. Für den Vater ist der Auszug der Kinder in der Regel kein so traumatisches
Ereignis wie für die Mutter, weil die Kinder meist weniger den Lebensmittelpunkt des
Vaters darstellen, als es bei einer Mutter der Fall ist. Um so schwerer wiegt ein Verlust
der Partnerin. Das ist schon für Männer ohne erhebliche depressive Strukturanteile der
Fall, weil sie sich, vor allem in traditionell strukturierten Ehen, durch die Frau versor-
gen ließen. Eine Frau kann sich, wenn sie den Mann verliert, besser selbst betreuen,
weil sie das Betreuen ja erlernt und praktiziert hat. Der Verlust wird oft dadurch noch
größer, daß die Frau in ihrer versorgenden Funktion wie eine Mutter erlebt wurde.
Der Verlust einer persönlich wichtigen Person wird nur dann bewältigt, wenn um
sie getrauert werden kann. Im trauernden Abschiednehmen löst sich der Trauernde von
dem betrauerten Menschen, behält aber ein Bild von ihm, das ihn bereichern kann.
Depressive sind in ihrer Fähigkeit zu trauern eingeschränkt. Daß ein Mensch von
ihnen gegangen ist, erleben sie auch als ein aktives Verlassenwerden, ähnlich wie ein
Kind nicht verstehen kann, daß die Mutter, die ins Krankenhaus geht, das nicht frei-
willig tut. Die Mutter wird als aktiv verlassend erlebt. Dieses aktive Verlassen ruft
eine Enttäuschungswut hervor, die sich bei depressiv strukturierten Kindern nicht ge-
gen die existentiell wichtige Mutter, sondern gegen das eigene Selbst richtet und in
Form depressiver Gefühle erlebt wird. Das ist überhaupt eine zentrale Reaktionswei-
se depressiv strukturierter Menschen. Trauern unterscheidet sich von Depressivsein
dadurch, daß ein Verlust zwar beklagt, aber nicht als aktives Verlassenwerden erlebt
wird. Wenn jemand an seinem Tode selbst mit schuld zu sein scheint, vielleicht weil er
ungesund gelebt hat, werden Vorwürfe manifest; sie richten sich dann doch gegen ihn
und nicht gegen die eigene Person.
Eine Depression als Folge einer Trennung ist im allgemeinen behandlungsbedürf-

69
tig, in der Regel durch Psychotherapie; manchmal müssen auch Medikamente einge-
setzt werden. Mit Ratschlägen allein kommt man hier nicht weiter. Wird eine Trennung
psychotherapeutisch behandelt, kann das für die Zukunft eine präventiven Wirkung ha-
ben.
Manche depressiv Strukturierte haben solche Angst vor Trennungen, daß sie es
vermeiden, einen Abschied vorweg zu fantasieren; auch dann, wenn sie eigentlich
wissen, daß er bevorsteht. So wird das bevorstehende Ende einer wichtigen Person
durch eine Krankheit, die zum Tode führen wird, von ihnen geleugnet. Der Verlust
trifft sie dann um so schwerer. Hier kann ein depressiv strukturierter Mensch, beraten
durch Ärzte, etwas tun, um sich auf den Abschied vorzubereiten. Wegen der Unter-
schiede in der Lebenserwartung trifft die meisten Frauen das Schicksal, nach ihrem
Partner zu sterben. Daß dies wahrscheinlich ist, wird gerade von depressiven Frauen
oft geleugnet. Das heißt, die Information ist vorhanden, sie wird aber nicht wirksam
wahrgenommen. Daß hohe Erwartungen an einen Partner ungewollte Trennungen be-
günstigen können, habe ich schon im einfahrenden Kapitel dargestellt.

11.4 Zwanghafte Struktur


Von Menschen mit einer zwanghaften Charakterstruktur wird Trennung vor allem un-
ter dem Aspekt der Veränderung erlebt. Die Konstanz der Beziehungen gehört zu einer
Konstanz der Lebensverhältnisse. Trennungen bringen die Notwendigkeit einer Um-
stellung mit sich. Jemand, den man kennt und dessen Verhalten voraussehbar ist, geht.
Er hinterläßt eine Lücke oder wird durch einen Neuen ersetzt, den man erst im einzel-
nen kennenlernen muß.
Der Zwanghafte kann aber um einen Menschen trauern. Allerdings sind bei vielen
Zwanghaften die Gedanken und Handlungsimpulse von den Affekten isoliert. Zwang-
hafte wirken manchmal so, als ob ihnen der Verlust eines Verstorbenen gleichgültig
wäre. Das ist so aber nicht der Fall. Sie können trauern, die Trauer aber auch begren-
zen. Sie wird nicht ihr ganzes Leben bestimmen. Daneben können sie oft gut noch
Aufgaben in Beruf und Familie verrichten. Trauer erfahren sie in Intensität und Aus-
dehnung eingeschränkt, sie wird aber erlebt und führt dann zu einer Verarbeitung des
Verlusts. Je älter Zwanghafte werden, desto mehr tritt die Veränderung der Lebensver-
hältnisse in den Vordergrund, wenn Menschen gehen, ob das eine Partnerin oder ein
Partner oder eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter ist. Weil Zwanghafte im Aufneh-
men engerer persönlicher Beziehungen vorsichtig sind, kommt es oft nicht mehr zu
einer neuen Beziehung, auch wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.
Viele Menschen fühlen sich durch Zwanghafte mißbraucht, weil diese ihre Be-
ziehungen vorwiegend unter dem Aspekt von Macht und Kontrolle sehen. So kann
jemand leicht den Eindruck bekommen, nur den Machtinteressen des Zwanghaften zu
dienen. Die Oben-Unten-Beziehungen des Zwanghaften müssen menschlicher Wärme
aber nicht entbehren, wie man das bei manchen zwanghaften Lehrern sieht, die ihre
Schüler beherrschen und kontrollieren wollen, sich aber auch für sie einsetzen und für
ihr Wohlergehen sorgen wollen. Weil ein Zwanghafter sich in einer klaren Hierarchie
wohlfühlt, liegt ihm eine patriarchalische Familienstruktur am meisten. Die Rolle als
verantwortlicher Pater familias füllt er gerne aus, benötigt aber eine Partnerin, die eine
komplementäre Stellung einnehmen will. Solche Partnerinnen sind selten geworden.

70
Ein Pater familias, den seine Frau verläßt, sucht einen Ersatz, weil es für die Familie
gut sei, wenn wieder eine Frau ins Haus kommt. Er sucht eine Partnerin, aber auch
und oft vorrangig eine Mutter für seine Kinder, für die er als Pater familias zu sorgen
hat. Da er am besten zu wissen meint, was für Menschen gut ist, die ihm anvertraut
sind oder sich ihm anvertrauen, ist er überrascht und entrostet, wenn sie gegen ihn op-
ponieren. Die Opponierenden "wissen nicht, was sie tun". Trennen sie sich von ihm,
empfindet er sie als undankbar. Menschen, die gegen ihn opponieren, läßt er ungern
gehen. Er behält sie möglichst in einer Position seines Machtbereichs, in der sie ihm
nicht mehr gefährlich werden können. Daß er sie nicht verstoßen hat, empfindet er
als großzügig. Auch hier erwartet er Dankbarkeit. Wenn jemand sich trotzdem selb-
ständig macht, kann es dem Zwanghaften vorkommen, als verstünde er die Welt nicht
mehr. So sind Trennungen für den Zwanghaften auch ein Teil des Kontrollproblems.
Anders als beim narzißtisch Strukturierten, formal ähnlich aber anders begründet, er-
trägt der Zwanghafte es nicht, wenn sich Leute von ihm trennen, ohne daß er es will.
Ungewünschte Trennungen verarbeiten bedeutet eine Auseinandersetzung mit seinem
Wunsch, daß nichts geschehe, was er nicht will. Manchen Zwanghaften hilft es, Re-
geln der Fairneß heranzuziehen, die vorschreiben, daß man dem anderen ein Maß an
Freiheit läßt.

11.5 Phobische Struktur


Bei phobisch Strukturierten haben Trennungen eine doppelte Bedeutung. Einmal kann
der Verlust einer wichtigen Person Trauer hervorrufen. Wie Menschen mit einer Zwangs-
struktur sind Phobiker durchaus in der Lage zu trauern, weil sie Beziehungen zu einem
ganzen Menschen und nicht nur zu einer Abstraktion (wie der schizoid Strukturierte)
oder zu einem Funktionsbündel (wie der narzißtisch Strukturierte) aufnehmen kön-
nen. Der depressiv Strukturierte kann eine solche Beziehung aufnehmen. Sie ist da-
durch gekennzeichnet, daß wichtige Personen eine unrealistische, existenznotwendige
Bedeutung erlangen und daß im Trennungsvorgang oft nicht der reife Trauerprozeß
stattfindet, der nach geleisteter Trauerarbeit und nach einer ausreichenden Trauerzeit
zur Ablösung von dem verlorenen Menschen führt.
Wie Zwanghafte können phobische Menschen also eine Ganz-Objekt-Beziehung
herstellen und um den Verlust eines ganzen Menschen trauern. Sie verlieren aber auch
wichtige Funktionen, über die sie selbst nicht oder nur teilweise verfügen und die
von außen Substituiert werden müssen. Im einfahrenden Kapitel über die phobische
Struktur habe ich dargestellt, daß phobisch Strukturierte im Laufe ihrer Entwicklung
bestimmte Funktionen nicht ausbilden konnten, die nun substituiert werden müssen.
Diese Funktionen verliert der phobisch Strukturierte, wenn eine Person sich von ihm
trennt, die diese Funktion in Stellvertretung der Mutter und als Ersatz für die fehlen-
den inneren Funktionen übernommen hat. Weil die Angst zunimmt, wenn das äußere
steuernde Objekt fehlt, muß sein Verlust gefürchtet werden. So erinnere ich mich an
eine Patientin, die wegen pathologischer Eifersucht in Behandlung kam und bei der
es sich dann herausstellte, daß sie an einer Agoraphobie litt. Sie befürchtete, ihren
Mann in der Funktion des steuernden Objekts zu verlieren. Die dadurch hervorgerufe-
ne Angst addierte sich zu einer als normal aufzufassenden Angst vor dem Verlust eines
Partners, wie sie in vielen Beziehungen auftritt, wenn ein Partner sich mit möglichen

71
anderen Rivalen vergleicht und befürchtet, dabei schlecht wegzukommen. Das steu-
ernde Objekt muß nicht der Lebens- oder Lebensabschnittspartner sein. Ich erinnere
mich an einen Fußballspieler, der seine Aggressionen im Spiel kontrolliert ausleben
konnte, wegen einer Verletzung nicht mehr spielen konnte und Schiedsrichter wurde.
Der Verlust seiner Mannschaft und seiner ursprünglichen beruflichen Tätigkeit führte
dazu, daß eine Agoraphobie ausbrach. In einem anderen Fall war das steuernde Objekt
ein Kind mit einem angeborenen Herzfehler. Der Vater trug es, wenn er das Haus zu
einem Spaziergang oder zum Einkaufen verließ, mit sich herum, weil es wegen des
Herzfehlers nur kurze Strecken laufen konnte. Das Kind wurde operiert und brauch-
te nicht mehr herumgetragen zu werden. Jetzt wurde eine Agoraphobie deutlich, die
vorher kompensiert geblieben war. Hier blieb das Objekt erhalten, verlor aber seine
steuernde Funktion. Der Vater liebte sein Kind vor und nach der Operation. Wäre das
Kind bei der Operation gestorben, hätte er um das Kind getrauert. Die Agoraphobie
wäre vermutlich ebenfalls manifest geworden.
Ein steuerndes Objekt kann durch ein anderes ersetzt werden. Das heißt aber nicht,
daß die Person, die diese Funktionen ausübt, ohne weiteres durch eine andere Person
ersetzt werden kann, ohne daß ihr Verlust betrauert würde. Daß meist solche Perso-
nen steuernde Objekte sind, zu denen eine enge persönliche Beziehung besteht, liegt
einfach daran, daß sie aufgrund der persönlichen Beziehung bereit sind, die Funktion
eines Begleiters zu übernehmen.
In Österreich gibt es den Ausdruck: "Begleitwurzen". Damit ist eine Person ge-
meint, die sich in der Form ausnutzen läßt, daß sie jemanden in Lokale begleitet, ohne
daß sie aus eigenem Antrieb ausgehen möchte. Die "Begleitwurzen" kann von dem,
den sie begleitet, ökonomisch oder sonst wie abhängig sein. Zu Zeiten, als Frauen al-
lein keine Lokale aufsuchen konnten, weil sie dann für Prostituierte gehalten wurden,
gab es Frauen, die Männern "Hoffnungen machten", in Wahrheit aber nur daran inter-
essiert waren, einen Begleiter zu haben, um bestimmte Orte der Geselligkeit aufsuchen
zu können. Die "Begleitwurzen" des Phobikers hat natürlich die Funktion, als steuern-
des Objekt auf ihn aufzupassen oder Menschen abzuschrecken, die problematische
Kontakte mit ihm aufnehmen könnten. Zu einer "Begleitwurzen" kann sich eine per-
sönliche Beziehung entwickeln, auch wenn die ursprüngliche Motivation, sich mit ihr
abzugeben, sich zunächst einmal nur auf die steuernden Funktionen bezog. So etwas
kann man ja auch bei Ehen beobachten, die aus äußeren Gründen geschlossen wurden.
Auch in Ländern, wo die Heirat von den Familien arrangiert wird, ist es ja nicht selten,
daß die Partner sich lieben lernen.
Menschen mit einer phobischen Struktur ist zu empfehlen, sich darum zu bemü-
hen, die Aspekte "Funktion eines steuernden Objekts" und "persönliche Beziehung"
auseinander zuhalten. Sie können dann auch Strategien entwickeln, wie sie neben den
persönlich wichtigen Personen andere in der Funktion eines steuernden Objekts be-
anspruchen können, damit sie diese wichtigen Personen nicht überlasten. Merkt der
Partner nämlich, daß die Partnerin nicht ohne ihn sein kann, kann das ständige Ge-
brauchtwerden als Zwang empfunden werden. Manchen Menschen - dazu gehören vor
allem Zwanghafte - ist es aber sehr recht, wenn die Partnerin oder der Partner von ih-
nen abhängig ist, weil er oder sie dann besser unter Kontrolle gehalten werden kann.
Andere empfinden die Abhängigkeit der Partnerin als lästig. Sie möchten lieber eine
selbständige und freie Person neben sich haben.

72
11.6 Hysterische Struktur
Für einen hysterisch strukturierten Menschen ist es wichtig, ob durch eine Trennung
die Attraktivität als Mann oder als Frau in Frage gestellt wird. Mit Trennungen, die
nicht aus freien Stücken erfolgen, sondern durch Krankheit, Tod oder infolge schwer
veränderbarer Lebensumstände, etwa wenn jemand sich beruflich schaden würde, wenn
er an einem bestimmten Ort bliebe, kann er meist umgehen. Er kann auch um Men-
schen trauern, die er verliert.
Verläßt den hysterisch Strukturierten aber eine Frau um eines anderen Mannes wil-
len oder wird eine hysterisch strukturierte Frau wegen einer anderen Frau verlassen,
kann das eine tiefe Kränkung bedeuten, mit der oft durch Entwertung des Verlassenden
umgegangen wird. Die Frau oder der Mann taugt eben nichts, ist zu einer Beziehung
gar nicht fähig, sieht nur auf Äußerlichkeiten, ist über die Maßen anspruchsvoll oder
brauchte die Bestätigung durch eine neue Liebe. Wenn es sich um zwei hysterische
Partner handelt, kann einiges davon zutreffen. Man findet es selten, daß hysterisch
strukturierte Männer oder Frauen nach außen hin unzureichende eigene Attraktivi-
tät als Ursache dafür benennen, daß die Partnerin oder der Partner sich abgewendet
hat. Eher gibt der verlassene Mann oder die verlassene Frau zu, wegen beruflicher
Verpflichtungen habe man sich um die Partnerin oder den Partner nicht ausreichend
kümmern können.
Hysterisch strukturierten Menschen in einer Trennungssituation kann man emp-
fehlen, die ursprüngliche und die jetzige Einschätzung der Partnerin oder des Part-
ners einander gegenüberzustellen und sich Gedanken zu machen, wie es zu diesem
Umschwung gekommen ist. Für die Zukunft ist einem solchen Verlassenen oder ei-
ner Verlassenen zu wünschen, daß er oder sie mehr in die Beziehung investiert. Auch
wenn die mangelnde eigene Attraktivität insgeheim für entscheidend gehalten wird,
können die Gründe für das Verlassenwerden doch in ganz anderen Bereichen liegen,
an denen sich vielleicht etwas ändern läßt, zum Beispiel daran, daß von der Partnerin
oder dem Partner eine übersteigerte Bewunderung verlangt wurde. Manche hysterisch
Strukturierte suchen sich auch Partner aus, die als Mann oder Frau deutlich weniger
attraktiv sind. Das ist vor allem dann der Fall, wenn auch ein narzißtischer Strukturan-
teil vorhanden ist. Kommt dann, zum Beispiel durch einen beruflichen Erfolg, äußere
Anerkennung in hohen Dosen hinzu, kann es sein, daß der oder die hysterisch Struk-
turierte die Bewunderung durch die Partnerin oder den Partner nicht mehr braucht.

73
74
Kapitel 12

I.ernen und Persönlichkeit

Zu wissen, wie man unter Berücksichtigung der eigenen Persönlichkeitsstruktur am


besten lernt, kann nicht nur Schülern und Studenten nützlich sein. In vielen Berufen
ist heute ein dauerndes Lernen neben dem Beruf notwendig.
Die Aneignung von Wissensstoff wird an unseren Schulen wenig trainiert. Lernen
muß man lernen; an den Schulen wird es aber nicht gelehrt. Hochschullehrer klagen
nicht nur über Wissensmängel, sondern auch über einen Mangel an Lernkompetenz
bei ihren Studenten.
Beim geistigen Arbeiten wird besonders deutlich, daß die Vorteile einer Struktur in
Nachteile umschlagen können, wenn ihre Ausprägung ein gewisses Maß überschrei-
tet. Bei der schizoiden Struktur gilt in der Regel, daß Zusammenhänge leicht gemerkt
werden können, leichter als einzelne Fakten, was dazu führen kann, daß ein Teil der
Fakten, die zum Anwenden nötig sind, nicht präsent ist. Die Zusammenhänge schwe-
ben gleichsam frei in der Luft. Die gute Abstraktionsfähigkeit vieler Schizoider macht
sie für abstrakte Wissenschaftsbereiche, etwa für Mathematik, geeignet. Studieren sie
aber ein Fach, wo es auch auf Faktenwissen ankommt, von dem bei Bedarf abstrahiert
wird, haben sie Schwierigkeiten, sich die einzelnen Fakten zu merken.
Narzißtische Persönlichkeiten vom kompetenten Typ haben beim Lernen meist
keine besonderen Schwierigkeiten. Schwierigkeiten treten eher bei der Studienwahl
auf, wenn ein Fach nicht nach den eigenen Interessen, sondern nach den erzielbaren
Erfolgen gewählt wird. Natürlich sind die Berufsaussichten wichtig und sollten be-
rücksichtigt werden, doch variieren sie über die Zeit. Gegenwärtig besteht ein Mangel
an Ingenieuren und Physikern, vor weniger als zehn Jahren waren Ingenieure und Phy-
siker oft arbeitslos.
Manche narzißtisch Strukturierte haben die Fantasie, sie könnten eigentlich alles
lernen, wenn sie nur wollten. Was sie tatsächlich lernen können, hängt aber von den
formalen Begabungen und von außerdem vorhandenen Strukturanteilen ab. Als ein
Medizinstudium noch ein sicheres Einkommen versprach, konnte man als Hochschul-
lehrer Medizinstudenten begegnen, die besser Mathematik oder Physik studiert hätten,
sich im Medizinstudium langweilten und Schwierigkeiten beim Lernen der Details
hatten. Die meisten medizinischen Fächer erfordern eine Kombination von Detailwis-
sen und Verständnis der Zusammenhänge. Diese Kombination ist nicht bei jedem zu
finden. Außerdem erfordert die Ausübung der praktischen Medizin ein Interesse an
Menschen.

75
Depressiv Strukturierte sind an Menschen oft sehr interessiert, von daher eignen sie
sich als Ärzte gut. Tatsächlich findet man einen depressiven Strukturanteil bei vielen
Medizinern, die mit ihrem Beruf zufrieden sind. Allerdings kann der Versuch, Men-
schen zufriedenzustellend, dazu führen, daß unangenehme medizinische Maßnahmen
unterlassen oder aufgeschoben werden, was den Patienten am Ende schadet. Depressiv
Strukturierte neigen auch dazu, mehr Arbeit anzunehmen, als sie bewältigen können.
Dazu gibt es im Arztberuf viel Gelegenheit. Manche Ärzte "arbeiten sich tot". Wenn
Patienten zu einem anderen Arzt gehen, entwickeln sie große Ängste. Sie haben den
Eindruck, daß der betreffende Patient sie nicht liebt, daß sie vielleicht nicht liebenswert
sind und daß bald alle davonlaufen werden.
Beim depressiv Strukturierten treten die Schwierigkeiten meist erst während der
praktischen Berufsausübung auf, beim Lernen gibt es die üblichen Probleme mit dem
Anfangen einer Arbeit. Es ist zweckmäßig, daß der depressiv Strukturierte in Gruppen
lernt oder sich zu bestimmten, nicht weit auseinanderliegenden Terminen den Lern-
stoff abfragen läßt. Die Vorstellung, das, was er gelernt hat, einem anderen zu erzäh-
len, kann einen Depressiven zum Lernen motivieren. Depressive neigen übrigens dazu,
mehr Wissen anzuhäufen, als sie anwenden können. Der Beruf kommt ihnen wie ein
Schlaraffenland vor. Um das Berufsziel zu erreichen, müssen sie sich - wie im Schla-
raffenland - durch einen Wall von "Nahrung,", also Wissensstoff, hindurchfressen.
Zwanghaft Strukturierte haben das Problem, Wesentliches von Unwesentlichem
schwer unterscheiden zu können, so daß die Fußnote den gleichen Stellenwert be-
kommt wie der Text. Nur wenn sie meinen, alles zu wissen, was man sie fragen könnte,
fühlen sie sich sicher. Ein souveräner Umgang mit dem Lernstoff ist ihre Sache nicht.
Zusammenhänge können sie schwer erkennen und sich merken, weit sie ja die Ten-
denz haben, Fakten voneinander zu isolieren. Hier stellen sie in gewisser Weise einen
Gegenpol zu den Schizoiden dar, die sich mehr für Zusammenhänge interessieren.
Zwanghafte neigen wenig zur Abstraktion, sie wollen etwas Greifbares in der Hand
haben. Andererseits liegt ihnen die trennende Systematisierung. Ein Wissensgebiet tei-
len sie in Einzelfakten oder einzelne Teilgebiete auf, die sie in eine Hierarchie bringen.
Tatsächlich bietet eine Hierarchie jene Art formalisierten Zusammenhangs, mit der sie
gut umgehen können. Wenn sie eine Hierarchie aufstellen, können sie am besten den
Überblick bekommen, den sie brauchen, um Wissen zur Verfügung zu haben. Aller-
dings ist die Hierarchie dann oft mit einer Datenreduktion verbunden. Was nicht paßt,
wird weggelassen, so daß Sachverhalte unvollständig und damit fehlerhaft wiederge-
geben werden.
Mehrere Fakten nebeneinander zu sehen und sie in ihrer Wichtigkeit oder Un-
wichtigkeit auf einen Blick einzuschätzen bringen sie nicht fertig. Da der Zwanghafte
wenig Adaptationsmöglichkeiten an die Erfordernisse seiner Umwelt hat, ist es für ihn
besonders wichtig, ein Studienfach zu wählen, mit dem er von Anfang an gut zurecht-
kommt. Viele sehr Zwanghafte findet man unter den Juristen, allerdings nicht unter
den wirklich guten, weil zum guten Juristen ja die kreative Anwendung von Gesetzen
auf den Einzelfall gehört. Zu zwanghafte Juristen verfahren zu schematisch.
Phobisch Strukturierte sind in ihrem Lernen relativ frei, wenn ein Begleiter vor-
handen ist. Ich habe schon im Einleitungskapitel Hinweise gegeben, wie mit dem Be-
dürfniss nach einem Begleiter umgegangen werden kann.
Hysterisch strukturierte Männer und Frauen haben Schwierigkeiten durchzuhalten.
Ihre Anfangsbegeisterung wird oft von Langeweile abgelöst, wenn der Reiz des Neuen

76
vorbei ist. Mit Details haben sie nicht viel im Sinn, allerdings aus anderen Motiven als
der Schizoide. Der Schizoide achtet Details gering, weil er sich von der konkreten Au-
ßenwelt abschotten möchte, zu der Details gehören. Der hysterisch Strukturierte sieht
sich als das Gegenteil von einem Pedanten, und damit als das Gegenteil von einem
zwanghaften Menschen. Er möchte großzügig sein. Das Problem ist, daß sich seine
Art von Großzügigkeit leicht als Schlamperei auswirkt. Wichtige Detailfragen werden
oft übergangen oder vergessen. Ein weiteres Problem kann sich aus der Emotionali-
tät eines hysterisch Strukturierten ergeben. Er möchte nach den Worten des Mephisto
leben: "Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / und grün des Lebens gold’ner Baum.".
Trockene Fächer verabscheut er. Da es aber in fast allen Fächern etwas zu lernen gibt,
das er als trocken empfindet, führt diese Einstellung fast immer zu Schwierigkeiten.
Unterscheiden muß man aber zwischen den mehr männlich identifizierten und den
mehr weiblich identifizierten hysterisch strukturierten Menschen. Ein Mann, der Män-
ner besiegen möchte, um Frauen für sich zu gewinnen, wird im allgemeinen eher auf
Leistung aus sein und das Arbeiten gelernt haben im Gegensatz zu einem anderen,
der Frauen durch Charme beeindrucken möchte. Entsprechendes gilt für Frauen, die
mit dem Vater identifiziert sind, in Unterschied zu Frauen, die mit ihrer Rolle als klei-
ne Partnerin des Vaters identifiziert sind. Letztere haben oft die Vorstellung und den
Wunsch, in mündlichen Prüfungen den Prüfer durch Charme zu beeinflussen, was nicht
immer gelingt.
Generell kann man sagen, daß es für das Lernen wichtig ist, die Stärken der eige-
nen Struktur zu kennen, aber auch deren Schwächen und das, was fehlt und eventuell
trainiert werden könnte. Beim schizoid Strukturierten handelt es sich um das Aufneh-
men von Details und den Umgang mit ihnen, beim narzißtisch Strukturierten um die
zwei Pole Berufsaussichten und persönliches Interesse an dem Studienfach oder um
die Kränkung des Lernenmüssens.
Beim Zwanghaften findet man eine Neigung zur Analyse, also zur Aufgliederung
und zur Systematisierung nach einem festen Schema. Es fehlt oft der Gegenpol: die
Fähigkeit, Fakten in ihrer Bedeutung flexibel einzuschätzen; sie ist zu der in vielen Be-
reichen gefragten geistigen Synthese erforderlich. Beim phobisch Strukturierten kann
man eine analoge Polarität nicht finden, hier geht es darum, bestimmte Funktionen
durch einen Begleiter zu substituieren und ansonsten das selbständige Arbeiten zu
üben. Phobisch Strukturierte lassen sich gut anleiten; sie kommen dann in Schwie-
rigkeiten, wenn es darum geht, selbständig zu arbeiten. Den hysterisch Strukturierten
wäre eine sorgfältige Wahl des Studienfaches und ein Training bezüglich der kogniti-
ven Aspekte des Studienfaches zu empfehlen, und zwar zu Beginn des Studiums und
nicht erst, wenn es darum geht, das Schlußexamen abzulegen.

77
78
Kapitel 13

Freizeit und Charakter

13.1 Schizoide Struktur


Der Schizoide ist kein "Freizeitmensch". Da ihm daran liegt, sich mit "wesentlichen"
Dingen zu beschäftigen, und da er vieles, womit andere ihre Freizeit verbringen, als
banal und der Aufmerksamkeit nicht wert beurteilt, vertieft er sich auch in der Freizeit
gern in "wesentliche" Dinge. Die Freizeitbeschäftigungen anderer Menschen sieht er
auf gleichem Niveau wie den von ihm abgelehnten Small talk. Mit Lappalien möchte
er sich nicht beschäftigen.
Aufenthalte in freier Natur, das Wandern in einsamen Wäldern, das Verweilen an
einem Strand, wenn die Badenden gegangen sind und man sich auf das Meer einstel-
len kann, ohne abgelenkt zu werden, sind Schizoiden unterschiedlichen Bildungsstan-
des zugänglich. Ein schizoid wirkender Skilehrer in einem Schweizer Skiort hat mich
einmal mit der Aussage: "Ich horche in die Stille" überrascht, eine poetische Formu-
lierung, die manches Erleben des Schizoiden in der Natur gut erfaßt. Der Aufenthalt
in freier Natur gestattet es den Schizoiden, mit dem großen, nicht bedrängenden, nicht
zudringlichen, ihn nicht persönlich ansprechenden Objekt "Natur" in Gedanken zu ver-
schmelzen, mit ihr eins zu werden.
Eine Lieblingsbeschäftigung Schizoider ist oft auch das Lesen. Sie fressen den Le-
sestoff nicht in sich hinein, wie es viele depressiv Strukturierte tun, denen es gelungen
ist, einen Teil ihrer Oralität im Lesen unterzubringen; sie kommunizieren mit dem Au-
tor, der den Text geschrieben hat, auf dem Umweg über den Text, der sie auf Distanz
mit dem Autor verbindet.
Der Text läßt, im Unterschied zu einer Vorlesung, der viele Schizoide nicht fol-
gen mögen, weil sie sich dem Gedankenfluß des Vortragenden anpassen müßten, dem
Lesenden Freiheit: Er kann das Lesen jederzeit beginnen und unterbrechen, er kann
es wiederholen, er kann Textpassagen auslassen, andere mehrmals lesen. Der Schi-
zoide hat ja einen großen Bedarf an Autarkie. Der narzißtisch Strukturierte möchte
nicht abhängig sein, um die Fantasie seiner Einzigartigkeit nicht zu gefährden. Der
Schizoide möchte nicht beeinflußt werden. Menschen, von denen er abhängig wäre,
würden Einfluß auf ihn ausüben, würden mit ihren Wünschen und Handlungen in sei-
nen Lebenskreis eindringen, Ansprüche an ihn stellen, unter Umständen Dankbarkeit
fordern.
Zugehörigkeitswünsche beziehen sich beim Schizoiden fast nie auf eine einzelne

79
Person, sondern, wenn überhaupt, auf Gruppen von Personen, auf Institutionen, Völ-
kerschaften oder schließlich auf die Menschheit, der man sich zugehörig fühlen kann,
ohne mit ihr in eine Interaktion zu treten.
So sucht der Schizoide auch in seiner Freizeit eine Lebensform zu verwirklichen,
die seiner Persönlichkeitsstruktur gemäß ist. Dabei kann man ihm kaum etwas Kon-
kretes raten. Allenfalls wäre die Empfehlung zu geben, das Aufnehmen und vor allem
auch das Beenden von Kontakten zu üben, damit er mit Menschen in einen dosierten
Kontakt treten kann, wenn er sich einsam fühlt. Es ist oft auch leichter, zu einer Gruppe
zu gehören, wenn man mit Angehörigen dieser Gruppierung spricht, als wenn man nur
dabeisitzt, was die anderen oft auch nicht tolerieren. Andererseits kann man in Thera-
piegruppen beobachten, daß schweigende schizoide Gruppenmitglieder lange Zeit in
ihrer schweigenden Rolle toleriert werden. In der besonderen Situation einer Klein-
gruppe mit einer therapeutischen Aufgabe verstehen die Gruppenmitglieder leichter
als im Alltagsleben, daß es manchen Menschen schwer fallen kann zu interagieren
und daß ein Gruppenmitglied sich dann darauf beschränken muß, in Gedanken dabei
zu sein. Solche schweigenden Gruppenmitglieder wirken engagiert, obwohl sie nichts
sagen, und das ist es wohl, was bewirkt, daß sie als zugehörig empfunden werden.
In alltäglichen Gruppierungen geschieht so etwas seltener. Man erwartet ein Ver-
halten, das den Kommunikationsregeln einer Alltagsgruppierung entspricht. Schwei-
gende werden im Alltag oft als arrogant oder als schmarotzerhaft erlebt und ausge-
stoßen. Der Wunsch dazuzugehören ist bei schizoid Strukturierten verschieden aus-
geprägt. Manchen ist es genug, wenn sie sich in freier Natur aufhalten können und
sich als zur Natur gehörig empfinden, andere wieder suchen den Kontakt mit anderen
Menschen. Von dem Dichter Gottfried Benn wird erzählt, daß er abends mit seiner
Frau schweigend in einer Kneipe an einem Tisch saß, sein Bier trank und die Leute
beobachtete. Er tat das mit Interesse, aber ohne mit den Fremden in der Kneipe in In-
teraktion zu treten. Seine Frau neben ihm tolerierte anscheinend dieses Verhalten, auch
seine Art des Umgangs mit ihr.

13.2 Narzißtische Struktur


Der narzißtisch Strukturierte, in vielem ja ein Gegenstück zum depressiv Strukturier-
ten, hat keine Probleme mit seiner Initiative. Deshalb kann er Dinge, die er sich vor-
nimmt, ohne größere Schwierigkeiten anfangen. Der Umgang mit anderen Menschen
interessiert ihn unter dem Aspekt, daß sie ihn anerkennen und bewundern sollen. So
eignen sich für den narzißtisch Strukturierten Sportarten, die in Gegenwart anderer
betrieben werden und die er leicht lernen kann, wobei er in der Anfangsphase des
Lernens in Schwierigkeiten kommt, wenn er die üblichen Anfangsfehler macht und
die üblichen Anfangs-Ungeschicklichkeiten begeht, etwa in einem Skikurs oder ei-
nem Segelkurs. Narzißtisch strukturierte Menschen neigen deshalb dazu, sich in einen
Skikurs einzutragen, der etwas unter ihrem Niveau liegt.
Andere narzißtisch Strukturierte betreiben Bodybuilding. Hier zählen die Verän-
derungen des Körpers, die man erreichen kann. Der narzißtisch Strukturierte läßt sich
dann wegen seiner Muskeln bewundern. Wer dazu neigt, seine Arbeitstechnik zu per-
fektionieren, wird das im allgemeinen auch bei den Hobbys tun, die er betreibt. Ein
Skilehrer des Dirigenten Karajan, der in seiner Arbeit mit den Orchestern ein Perfek-

80
tionist war, soll einmal gesagt haben, daß er noch nie einen so ehrgeizigen Schüler
hatte wie Karajan. Diese Form des Ehrgeizes sollte der narzißtisch Strukturierte ak-
zeptieren. Es macht ihm Spaß, etwas immer besser zu machen, und warum sollte er
das nicht bei einem Hobby tun?
Schlechter dran sind solche narzißtisch Strukturierte, die über keine besonderen
Talente verfügen und sich für keine Tätigkeit wirklich gut eignen. Allerdings sind
Menschen, die in keinem Bereich gut sein können, in der Minderzahl. Für den nar-
zißtisch Strukturierten gilt es herauszufinden, was er gut machen kann. Hier kommt es
auch darauf an, mit welchen anderen Strukturanteilen die narzißtische Struktur kom-
biniert ist. Bei der Kombinationen mit einem zwanghaften Strukturanteil besteht viel-
leicht eine Tendenz dazu, alles sehr genau zu machen. Ein gewisses Maß an Genauig-
keit ist in vielen Berufen gefordert, aber nur so weit, wie Genauigkeit einen funktio-
nalen Sinn hat. So müssen die Schrauben, mit denen ein Rad an einem Auto befestigt
wird, mit einem bestimmten Drehmoment angezogen werden. Es schadet aber nichts,
wenn das Drehmoment einige Prozent von der Norm abweicht. Die Kontrollen eines
Flugzeugs vor dem Start müssen mit der erforderlichen Genauigkeit durchgeführt wer-
den. Eine Genauigkeit, die darüber hinausgeht und nur durch einen höheren Zeitauf-
wand erreichbar wäre, könnte zu Schwierigkeiten führen. Man stelle sich einen Piloten
vor, der eine Stunde länger als vorgesehen braucht, um die Kontrollen durchzufahren,
während die Fluggäste auf den Abflug warten.
In seiner freien Zeit kann ein narzißtisch-zwanghafter Mensch seine Lust an der
Genauigkeit ausleben; er kann alles so genau machen, wie er will, Fotos millimeter-
genau einkleben, Gebasteltes millimetergenau ausfahren. So kann die Freizeitbeschäf-
tigung es dem narzißtisch Zwanghaften ermöglichen, seine Freude an Perfektion voll
auszukosten, während er das in seinem Beruf, wo zweckmäßige Genauigkeit gefragt
ist, nicht kann.

13.3 Depressive Struktur


Freizeit ist eigentlich Zeit, die von Arbeit frei ist, eine Zeit ohne Anforderungen. In
einer so verstandenen Freizeit könnte man nichts tun oder etwas tun, das man gern tut.
Mit einer solchen Definition von Freizeit hat aber Zeit, die ein depressiv Struktu-
rierter außerhalb der beruflichen Arbeitszeit verbringt, oft wenig zu tun. In der freien
Zeit könnte er sich beruflich fortbilden, könnte den Schreibtisch aufräumen, Privat-
briefe schreiben, die er aufgeschoben hat - die Zeit ist nicht wirklich frei.
Ein depressiv Strukturierter, der mit freier Zeit konfrontiert wird, erlebt seinen
Mangel an Initiative und die Einschränkung seiner Genußfähigkeit. Dieser Mangel an
Initiative und Genußfähigkeit bewirkt, daß "Ihm nichts einfällt", wenn er überlegt, was
er mit der freien Zeit anfangen soll. Viele Depressive fangen dann an, aufzuräumen,
oder sie suchen sonst nach Arbeit. Andere suchen in Kneipen Kontakt. Wieder ande-
re rufen Freunde und Bekannte an, die aber vielleicht schon ausgegangen sind oder
etwas anderes vorhaben. Manche betreiben an freien Tagen ein zeitaufwendiges Hob-
by, um sich beschäftigen zu können. Der Mangel an Initiative und die Tatsache, daß
das Hobby oft nicht wirklich interessiert, führen aber dazu, daß aus dem Hobby ein
Berg unerledigter Aufgaben wird. Briefmarken werden nicht eingeklebt, Dias nicht
geordnet. Ungelesene Bücher, mit denen der depressiv Strukturierte sein Wochenende

81
verbringen wollte, sammeln sich in den Regalen oder häufen sich auf dem Fußboden.
Der depressiv Strukturierte sagt sich dann: "Diese Bücher müßte ich alle lesen." Die
Bücher, ursprünglich gekauft, weil ein angenehmes Lesen erwartet wurde, werden zur
Aufgabe, die Erledigung fordert und ein schlechtes Gewissen macht, wenn sie nicht
erledigt wird. Depressiv Strukturierte, denen es - wie schon erwähnt - im Laufe ihrer
Entwicklung gelungen ist, einen Teil ihrer Oralität zu sublimieren und in dieser Form
dem freien Erleben zugänglich zu machen, können die gekauften Bücher eher genie-
ßen. Schon in der Buchhandlung erleben sie: "Das alles könnte ich lesen" während
Depressive, deren Oralität in der Gänze blockiert ist, eher erleben: "Das alles müßte
ich lesen." Beim depressiv Strukturierten tritt, wie schon im einfahrenden Kapitel dar-
gestellt, das Gewissen als Impulsgeber für die blockierte Initiative ein. Leider hat das
aber den Nachteil, daß die Forderungen des Gewissens als ein Zwang empfunden wer-
den, der zu Aktivität antreibt, im Unterschied zu den frei entstehenden Impulsen und
Interessen, die an das, was getan werden könnte, mit Freude denken lassen. Was dann
getan wird, erzeugt Funktionslust. Sie ist dem Depressiven nicht ganz und gar fremd.
Wenn er erst einmal beim Tun ist, kann es ihm in begrenztem Maße Freude machen.
Aus dieser Tatsache ergibt sich schon ein Hinweis darauf, wie depressiv Struktu-
rierte ihre freie Zeit besser nutzen könnten. Es hat keinen Zweck, daß sie warten, bis sie
auf irgend etwas Lust bekommen. Depressiv Strukturierte kommen mit ihrer Freizeit
am besten zurecht, wenn sie sich eine Arbeit vornehmen, die wenig Anfangsinitiative
erfordert und bei der man sich zu Beginn nicht überlegen muß, wie sie durchzufah-
ren wäre, also eine vertraute Arbeit, die nur anders sein muß als die Arbeit, mit der
sie ihr Brot verdienen. In diesem Unterschied liegt der Erholungswert. Eine andere
Möglichkeit besteht darin, daß die Erholung unter einem gesundheitsfördernden, für
die Arbeit fit machenden Aspekt gesehen wird. Tatsächlich kann jemand, der sich am
Wochenende erholt hat, seine Arbeit in der folgenden Woche meist besser verrichten.
Da der depressiv Strukturierte den Lebenszweck überwiegend im Arbeiten für ande-
re sieht, kann er sich der Erholung überlassen, wenn er sich dabei für die Arbeit fit
macht. Die Sonne, die auf ihn scheint, erzeugt Vitamin D; der Spaziergang oder die
Fahrradtour stärkt den Kreislauf und verbessert dadurch das Allgemeinbefinden; das
pure Nichtstun verhilft dem Gehirn dazu, sich zu regenerieren. Auch ein Hobby kann
im Hinblick auf den "Ausgleich", den es bringt, betrieben werden.
Durch den Streß, den ein schlechtes Gewissen erzeugt, kann es aber zu einem Er-
schöpfungsgefühl kommen, so daß das Nichtstun zu einer Verminderung der Arbeits-
fähigkeit führt.

13.4 Zwanghafte Struktur


Da der Zwanghafte über Initiative verfügt, solange seine Ideen, was er tun möchte,
in bekannten und geregelten Bahnen verlaufen können, hat er meist keine Probleme,
sich auszudenken, was er an den Wochenenden und sonst in seiner freien Zeit un-
ternehmen könnte. Die "Fahrt ins Blaue" liegt ihm nicht. Menschenansammlungen,
wo alles durcheinandergeht, meiden Zwanghafte lieber, um sich nicht den Unvorher-
sehbarkeiten zufälliger Kontakte auszusetzen. Sie besuchen regionale Fußballspiele,
wo Ausschreitungen nicht zu befürchten sind, auf dem Fußballplatz alles nach festen
Regeln zugeht, Verstöße gegen die Regeln geahndet werden und die Blicke aller auf

82
das Fußballfeld gerichtet sind. Den Ausgang eines Spiels sagen sie voraus und sind
irritiert, wenn es anders ausgeht, als sie erwartet haben.
Zu Hause lieben sie handwerkliche Tätigkeiten, das Durcharbeiten von Büchern,
das Einkleben von Briefmarken, Fotos von Pflanzen, von Landschaften oder von Stil-
leben. Manche machen sogar Aktaufnahmen von einem Modell, das ihren Anweisun-
gen folgt und die gewünschten Positionen ohne zu "maulen" einnimmt. Oft haben sie
eine Vorliebe für Schwarz-Weiß, weil Farben sie irritieren und beunruhigen können
und ein Foto mit Informationen überladen. Die Informationen, die sie in sich aufneh-
men, möchten sie begrenzen. Darin sind sie den Schizoiden ähnlich, wenngleich aus
anderen Gründen. Der Schizoide fühlt sich durch eine Fülle an Details überlastet, der
Zwanghafte eher belästigt oder geängstigt. Deshalb fotografiert er auch nicht gern Stra-
ßenszenen, wo die Leute die gewünschten Positionen nicht von sich aus einnehmen.
Bearbeitet er Bilder am Computer, hat er die Möglichkeit, störende Personen zu ent-
fernen und auch sonst das Bild seinen eigenen Vorstellungen anzupassen. Ansonsten
wählt er eben Ausschnitte ohne störendes Beiwerk und kann durchaus ansprechende
Bilder erzielen.
Sein Tagesablauf an den Wochenenden ist ritualisiert. Er stellt auch an Wochenen-
den gern den Wecker, weil er nicht "irgendwann" aufwachen möchte, sondern zu einer
von ihm vorgeplanten Zeit.
Wenn er nicht in der Familie ißt, sofern er eine hat, geht er in ein Restaurant und
sitzt nach Möglichkeit immer am gleichen Platz. So stellt für ihn die freie Zeit eigent-
lich kein Problem dar. Arbeitszeit und Freizeit sind auch klar voneinander getrennt:
"Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps." Nur wenn Probleme, die in der Arbeit
aufgetreten sind, ihn weiter beschäftigen, wird die Grenzziehung durchbrochen. Von
ungelösten Problemen kann er sich oft schwer trennen. Hat er besondere Schwierig-
keiten beim Entscheiden, neigt er dazu, seine Entscheidungen noch einmal durchzu-
spielen und zu prüfen, ob er "richtig" gehandelt hat.
Entscheidungen können auch kreative Lösungen erfordern. Situationen, für die
man solche Lösungen braucht, beunruhigen und überfordern ihn. Er möchte nach be-
stimmten Regeln entscheiden. In seinem Urlaub fürchtet er, daß in seinem Betrieb -
falls er einen hat - alles "drunter und drüber" geht, wenn er die Kontrolle nicht einem
Vertreter überlassen konnte, der so entscheiden wird, wie er selbst es getan hätte. Hier
unterscheidet er sich vom narzißtisch Strukturierten, der sich prinzipiell für unentbehr-
lich hält und, wenn eine höhere Managerposition ihm das gestattet, mit dem Betrieb
auch im Urlaub in dauernder Verbindung bleibt.
In seiner Freizeitgestaltung und in seinem Urlaubsverhalten ist der Zwanghafte
wie auch in anderen Dingen schwer zu beeinflussen. Man kann ihm nur empfehlen,
daß er die Dinge tut, die er gern tut, auch wenn andere darüber lächeln. Gegen die
Tendenz, die Arbeit in der Freizeit in irgendeiner Form fortzusetzen (bei Frauen findet
das oft in der Form von Putzen statt), kann es helfen, wenn der Zwanghafte die Gren-
zen zwischen Freizeit und Beruf verstärkt, indem er dem Prinzip: "Arbeit ist Arbeit,
Freizeit ist Freizeit" konsequent folgt. Von der drohenden Frage, ob er immer die rich-
tige Entscheidung getroffen hat, kann er sich im günstigen Falle befreien, wenn er den
festen Plan faßt, bestimmte Entscheidungen zu einem festgelegten späteren Zeitpunkt
zu überprüfen.

83
13.5 Phobische Struktur
Phobisch strukturierte Menschen sind in ihrem Freizeitverhalten oft unauffällig. In
einer Gruppe von Freunden können sie weite Reisen unternehmen, Abenteuerurlau-
be machen, unternehmungslustig wirken. Sie können gern unter Leuten sein, in die
Kneipe gehen oder sich sonst unter Bekannte oder Unbekannte mischen, wenn sie nur
jemand begleitet.
Es gibt Menschen, die in ihrer Freizeit möglichst unabhängig sein möchten. Der
phobisch Strukturierte sucht auch in der Freizeit Aktivitäten, die er mit anderen teilen
kann, wobei er diese zu steuernden Objekten macht.
Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Freizeit treten auf, wenn der phobisch
Strukturierte umzieht und noch keinen Freundeskreis hat, aus dem er seine Begleiter
rekrutieren könnte. Dann sitzt er abends und am Wochenende oft allein in der Woh-
nung und kann nichts unternehmen. Das ist übrigens mit ein Grund, weshalb phobisch
Strukturierte Umzüge mehr als andere scheuen, zumindest solche, die sie von ihrem
Bekannten- und Freundeskreis entfernen. Wenn sie den bisherigen Bekannten- und
Freundeskreis verlassen und noch keinen neuen gefunden haben, sitzen sie gleichsam
zwischen zwei Stühlen.
Dem phobisch Strukturierten ist anzuraten, daß er die Notwendigkeit des Beglei-
ters bei sich erkennt und die Konsequenz daraus zieht, das Rekrutieren von Schutzfigu-
ren konkret zu planen. Manche phobisch Strukturierte fühlen nämlich nur undeutlich,
was ihnen fehlt.

13.6 Hysterische Struktur


Im Gegensatz zu einem Menschen mit einer Zwangsstruktur plant der hysterisch Struk-
turierte seine Freizeit nur ungern. Wenn die Freizeit beginnt, geht oder fährt er los.
Die Fahrt ins Blaue wird von Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur
mehr geschätzt als die geplante und vorbereitete Reise. Da es dem hysterisch Struk-
turierten sehr darauf ankommt, sich als Mann oder als Frau darzustellen, werden im
allgemeinen Orte aufgesucht, wo "was los ist", das heißt, wo Menschen zusammen-
treffen, die sich miteinander vergnügen wollen. Es werden Lokalitäten aufgesucht, wo
man tanzen und Kontakte knüpfen kann, die von vornherein erotisch gefärbt sind und
in denen ein erotisches Abenteuer möglich ist. Wie schon in dem Einleitungskapitel
über die hysterische Struktur erwähnt, kommt es Männern dabei darauf an, eine Frau
"abzuschleppen", während es Frauen oft genügen kann, daß man sich für sie interes-
siert.
Eine Frau in auffallender Bekleidung zieht die Blicke mehr auf sich als eine unauf-
fälliger gekleidete. Männer verstehen eine offenherzige oder auffallend bunte Aufma-
chung oft als Einladung zum Geschlechtsverkehr mit jedem. Das ist ein grobes Miß-
verständnis. Viele Männer können sich nicht vorstellen, daß der Frau die begehrlichen
Blicke schon ausreichen können, um ihre Attraktivität zu bestätigen.
Viele Freizeitsportarten, die am Strand betrieben werden, geben Männern und
Frauen die Gelegenheit, sich als Frauen oder Männer in Bewegung zu zeigen und be-
wundernde Blicke auf sich zu ziehen, wobei es wieder offen bleibt, ob sexuelle Kon-
takte eingeleitet werden sollen oder nicht.

84
Für hysterisch strukturierte Frauen kann es nützlich sein zu wissen, daß Männer ein
Verhalten mit erotischer Signalwirkung auch dann als Aufforderung verstehen können,
wenn sexuelle Kontakte nicht beabsichtigt sind, und für Männer kann es nützlich sein
zu wissen, daß dies nicht zwingend der Fall ist, wenn eine Frau sich erotisch einladend
verhält.
Gegen "Fahrten ins Blaue" kann man eigentlich wenig haben, zumindest in unseren
Breiten, wo diese zwar zu Unannehmlichkeiten führen können, aber selten Gefahren
bergen. Immerhin erinnere ich mich an einen hysterisch strukturierten Mann, der im
Gebirge in Straßenkleidung einen Berg hinaufstieg, um ein Restaurant zu erreichen, zu
dem eine Seilbahn hinführte. Als der Seilbahnbetrieb eingestellt wurde, war er immer
noch unterwegs. Er geriet dann in einen Schneesturm und wäre fast umgekommen.
Bergwanderungen ohne zweckmäßige Ausrüstung können gefährlich sein, ebenso wie
Skifahren außerhalb der Piste in einem lawinengefährdeten Gebiet. Diese Dinge sind
den meisten bekannt. Dennoch werden sie oft außer acht gelassen, entweder von nar-
zißtischen Menschen, die fantasieren, es könne ihnen nichts passieren, oder eben von
hysterischen Menschen, die einfach losgehen, ohne zu bedenken, worauf sie sich ein-
lassen.
Hysterisch strukturierte Menschen sind für ihre Reisebegleiter oft eine Quelle von
erheblichem Streß. Sie stehen morgens nicht rechtzeitig auf, verschätzen sich in der
Zeit, die sie im Badezimmer und beim Ankleiden brauchen werden, und lassen die an-
deren warten. Beim Gang durch eine Stadt bleiben sie vor jedem Schaufenster stehen,
das sie interessiert, ohne daran zu denken, daß ihre Begleiter andere Interessen haben
könnten. Oberhaupt werden sie oft von ihrer Begeisterung fortgerissen und meinen
dann, die anderen sollten sich halt bemerkbar machen, wenn es ihnen nicht passe. Hier
zeigt sich eine allgemeine Tendenz hysterisch strukturierter Männer und Frauen, ihr
eigenes Verhalten nicht zu begrenzen, sondern dies anderen zu überlassen, nach dem
Motto: "Ich stelle mich auf seinen Fuß; wenn ihm das nicht paßt, soll er sich melden.".
Manche hysterisch Strukturierte, die eine Ideologie der Spontaneität entwickelt haben,
fordern dieses begrenzende Verhalten von den Menschen ein, mit denen sie umgehen,
und sind überrascht, wenn diese von ihnen fordern, das eigene Verhalten selbst zu be-
grenzen und dabei auf die Interessen der anderen zu achten. In gewisser Weise ähneln
hysterisch Strukturierte hier den phobisch Strukturierten, die an andere Menschen die
Steuerung ihrer Triebimpulse delegieren. Der Unterschied zum phobisch Strukturier-
ten ist, daß die Handlungsimpulse beim Hysterischen nicht lediglich andrängen und
Angst machen, sondern kritiklos ausgeführt werden. Menschen, die durch die Hand-
lungen beeinträchtigt werden, sind aufgefordert, die Grenzen zu setzen. Mit einer sol-
chen Einstellung können sich hysterisch Strukturierte eine Menge Ärger einhandeln.
Bei Ausflügen und insbesondere auch bei längeren Reisen macht sich oft auch
mangelnde finanzielle Planung bemerkbar. Das Geld ist verbraucht, ehe die Reisezeit
beendet ist. Das Gefühl, frei in den eigenen Entscheidungen zu sein, sich spontanen ei-
genen Regungen überlassen zu können, wiegt viele Unannehmlichkeiten auf. Es kann
aber auch passieren, daß die Relation zwischen Kosten und Nutzen nicht mehr stimmt.
Deshalb muß man den hysterisch Strukturierten wohl anraten, auf ein Minimum an
Planung nicht zu verzichten.
Die Neigung hysterisch Strukturierter zu einem ungesteuert impulsiven Verhalten,
das als Spontaneität ideologisiert wird, äußert sich in der Freizeit, bei gemeinsamen
Unternehmungen, meist deutlicher als während der Berufsarbeit, wo der oder die hy-

85
sterisch Strukturierte sich doch meist den Regeln unterwirft, die am Arbeitsplatz gel-
ten. Dort kann man eben doch nicht so, wie man möchte. Anders sieht es dann in
der Freizeit aus. Dort möchten sich hysterisch Strukturierte ausleben und den eigenen
Impulsen folgen können.

86
Kapitel 14

Charakterstruktur und der


Umgang mit Kindern

Den Umgang mit Kindern beeinflussen viele Faktoren. Erziehungsstile variieren zwi-
schen den Kulturen. Ein Kind wird für die Gesellschaft sozialisiert, in der es als Er-
wachsener leben soll. Die Erziehungsstile variieren aber auch über die Zeit. So erzie-
hen viele Eltern ihre Kinder für die Gesellschaft, in der sie selbst aufgewachsen sind
und von der sie sich wünschen, daß sie heute noch bestünde.
Wertvorstellungen in einer Gesellschaft verändern sich. Sie entwickeln sich nicht
kontinuierlich in eine bestimmte Richtung, etwa zum Konservativen oder zum Pro-
gressiven hin. Oft verläuft die Entwicklung zyklisch; konservative und progressive
Wertvorstellungen wechseln einander ab. So kann es sein, daß jemand mit "linken"
Wertvorstellungen als konservativ gilt, als "konservativ links". Was gestern revolutio-
när war, kann heute als veraltet eingestuft werden, wie das bei den "alten 68ern" heute
oft geschieht.
Insgesamt kann man aber sagen, daß die Erziehungsstile in den letzten fünfzig
Jahren liberaler geworden sind. In manchem mag sich die Entwicklung wieder um-
gekehrt haben, unter dem Strich besteht aber doch eine Fortentwicklung zum freieren
Erziehungsstil hin.
Wenn sich die gesellschaftlichen Vorstellungen relativ schnell ändern, wie das in
den letzten fünfzig Jahren der Fall war, kommt es leicht zu Diskrepanzen zwischen
den Erziehungsstilen der Eltern und den Wertvorstellungen in der Peer-Group.
Es gibt auch eine scheinliberale Erziehung, die nicht wirklich frei ist, sondern aus
Hilflosigkeit resultiert. Was die eigenen Eltern vermittelten, paßt nicht mehr. Man kann
heute Eltern-Sein kaum noch von den eigenen Eltern lernen. Wenn Eltern aber nicht
gelernt haben, wie es heute "gemacht wird", tun sie vielleicht gar nichts, das heißt, sie
lassen die Kinder einfach aufwachsen, statt sie zu erziehen, so daß die Kinder man-
ches nicht lernen, was sie später brauchen könnten, zum Beispiel eine kontinuierliche
Beschäftigung mit einem Arbeitsgegenstand über längere Zeit, ein Minimum an Ord-
nung und ein Minimum an Planung. Auch die Aufgabe, den Kindern eine moralische
Orientierung vorzugeben, mit der sie sich auseinandersetzen können, wird oft nicht
in Angriff genommen. Natürlich bekommt ein Kind mit, wie die Eltern denken, aber
indirekt, unausgesprochen und deshalb unklar.
Gesellschaftliche Faktoren wirken auf alle Eltern ein, wobei es Schichtunterschie-

87
de gibt. Von der Unterschicht wird ja eine andere Sozialisation erwartet als von der
oberen Mittelschicht oder der nach oben mobilen oberen Unterschicht und unteren
Mittelschicht. Daneben spielt die Charakterstruktur der Eltern eine große Rolle. Sie
wirkt sich in der Interaktion mit den Kindern aus und bestimmt auch die Art der Ver-
mittlung gesellschaftlicher Anforderungen an das Kind.
Schizoide Eltern leben in ihrer eigenen Welt. Ihre Vorstellungen von einer optimal
strukturierten und optimal funktionierenden Gesellschaft weichen oft stark von den
gängigen Vorstellungen ab. Zur schizoiden Struktur gehört ja, daß sie sich eher durch
Ideen als durch Menschen bestimmen läßt. Schizoiden kommt es darauf an, ob die Ide-
en ihnen einleuchten, und es interessiert sie wenig, was die Mehrheit der Bevölkerung
meint und für richtig hält. Durch die Mehrheitsmeinung fühlen sie sich eher unfrei
gemacht als etwa in ihr geborgen. Minderheitenmeinungen ziehen sie an, überhaupt
alles, was jemand anders macht als die große Mehrheit der Bevölkerung.
So unterscheiden sie sich oft von anderen durch die Inhalte, die sie den Kindern
vermitteln wollen, natürlich auch durch die Art der Vermittlung. Da mögen sie "sich
nichts sagen lassen". Das bringt sie auch in Konflikte mit Kindergärtnerinnen und Leh-
rern. Mit den Kindern sind sie sich oft einig, daß die Schule viel Unsinn verzapft und
die eingesetzten didaktischen Mittel ungeeignet sind.
Da Schizoide sich um Details wenig kümmern, fallen ihre Kinder im Klassenver-
band auf, wenn es sich bei den Details um die Körperpflege, die Kleidung, die äußere
Form der Hausaufgaben handelt. Es gibt schizoide Eltern, die sich mit ihren Kinder
eingehend beschäftigen, auf diese Dinge aber nicht achten.
Unweigerlich geraten die Kinder dann früher oder später in einen Konflikt nicht
nur mit den Lehrern, sonder auch mit den Peers, als sogenannte weiße Raben, die
anders sind als die anderen. Haben auch die Kinder selbst eine schizoide Charakter-
struktur, wird ihnen die Außenseiterposition vielleicht gefallen. Haben sie eine andere
Struktur, etwa eine depressive, weil der eine Elternteil, der die formale Erziehung be-
stimmt, schizoid ist, und ein anderer, der die Kinder betreut, depressiv strukturiert ist,
leiden sie wahrscheinlich unter der Außenseiterposition.
In einer Art Oppositionshaltung entwickeln sich die Kinder schizoider Eltern ge-
gen die Schule, die Lehrer und die Klassenkameraden, allerdings oft in eine andere
Richtung als die durch ihre schizoiden Eltern gewollte. Dabei ändert sich oft nur der
Inhalt des für richtig und wertvoll Gehaltenen; der schizoide, radikale Modus des Um-
gangs mit Menschen und Sachen wird von gleichfalls schizoid strukturierten Kindern
übernommen. Die Kinder gehen dann radikal in eine andere Richtung.
Von ihren Erziehungsprinzipien und Erziehungsmethoden sind Schizoide schwer
abzubringen. Hinweise auf die äußere Realität ändern wenig, weil Schizoide diese
Realität selektiv wahrnehmen. Zu ihren Überzeugungen kommen sie weniger auf-
grund von Informationen über das faktisch Gegebene und tatsächlich Mögliche. Eher
als bei anderen Menschen kommen ihre Überzeugungen von innen. Mehr als bei ande-
ren Menschen beeinflussen innere Überzeugungen die Wahrnehmung der Außenwelt.
Es fällt ihnen leichter, ihre inneren Überzeugungen in der Außenwelt bestätigt zu se-
hen, weil sie die Außenwelt theoriegeleiteter sehen, als andere das tun.
Schizoid Strukturierte sollten sich aber damit konfrontieren, daß ihre Überzeugun-
gen, mögen sie mit der Realität übereinstimmen oder nicht, die Kinder in eine Außen-
seiterposition bringen. Sie sollten dann entscheiden, ob sie das in Kauf nehmen wollen
oder nicht. Einen Konflikt zwischen schizoiden Überzeugungen, die etwas Bewun-

88
dernswertes haben können, und einer pragmatischen Realitätsbezogenheit stellt das
Schauspiel Antigone von Sophokles dar. Antigone ist überzeugt, daß es vor allem dar-
auf ankommt, ihren Bruder zu beerdigen; Kreon argumentiert aus einer pragmatischen
Position, die durch die Staatsräson bestimmt wird. Schizoide verachten das Pragma-
tische. Sie lassen sich durch ihre Überzeugungen leiten, ohne Rücksicht auf Verluste,
und das wirkt sich auch in der Erziehung ihrer Kinder aus.
So entscheiden sich Schizoide, wenn sie vor die Alternative gestellt sind, ihre Kin-
der in eine Außenposition zu bringen oder der Realität nachzugeben, oft für ihre innere
Überzeugung. Es geht ihnen ja mehr um die Menschheit als um einzelne Menschen.
Narzißtisch strukturierte Eltern sehen ihre Kinder oft ganz überwiegend unter dem
Aspekt von Prestigegewinn. Es ist gesund und zweckmäßig, daß Eltern sich an ih-
ren Kindern freuen und stolz über die Entwicklungsfortschritte der Kinder berichten.
Das eigene Baby ist das schönste der Welt, auch wenn es andere Menschen nicht ent-
zückender finden als viele andere Babys. Narzißtisch strukturierte Eltern sind aber
nicht unzweideutig stolz auf ihre Kinder. Man hat oft den Eindruck, daß sie das Aus-
sehen und die Entwicklungsschritte der Kinder übertreiben müssen, weil sie gierig
nach Bestätigung von außen sind. Kinder solcher Eltern werden auch oft dazu ge-
drängt, Dinge zu lernen, an denen sie kein Interesse haben. Nicht alle Kinder wollen
ein Instrument spielen, nicht alle Mädchen wollen am Ballettunterricht teilnehmen,
und nicht alle Jungen zieht es in den Sportverein. Die Interessen des Kindes werden
bei der Planung ihrer Freizeit vernachlässigt. So werden Kinder zum Ballettunterricht,
zum Musikunterricht, dann vielleicht zum Reiten gekarrt, die lieber lesen würden.
Lesen ist eine unspektakuläre Tätigkeit. Allerdings kann auch reichliches Lesen das
Ansehen der Eltern mehren, die dann berichten, daß ihr Kind viel, schnell und gute
Literatur liest.
Die gleiche Problematik findet man, wenn es darum geht, den Schultyp auszusu-
chen. Freilich sind Kinder nicht in der Lage, allein zu entscheiden, welcher Schultyp
für sie der beste wäre. So kann es vorkommen, daß das Kind nur deshalb auf eine
bestimmte Schule möchte, weil der Freund oder die Freundin dorthin geht.
Die Entscheidung für einen Schultyp kann aber nur zweckmäßig sein, wenn sie
die Anlagen des Kindes berücksichtigt. Es werden manche Kinder aufs Gymnasi-
um geschickt, die dort schlecht zurechtkommen und dann mit Nachhilfeunterricht bis
zum Abitur geschleppt werden. Anschließend müssen sie natürlich auch studieren, und
zwar auch wieder ein Fach, das Ansehen genießt.
Ich habe Patientinnen und Patienten erlebt, die von den Eltern durchs Gymnasium
gedrückt und zu einem Studium gedrängt wurden, die im Studium versagten und einen
praktischen Beruf ergriffen, in dem sie viel zufriedener waren, als sie in einem aka-
demischen Beruf hätten sein können. Freilich ist es bei solchen Männern und Frauen
oft ein Problem, daß sie den Auftrag der Eltern nicht erfüllen und sich das vorwer-
fen. Sie haben ihren Eltern "Schande gemacht", auch wenn es eher die Eltern sind, die
sich schämen sollten, weil sie das Kind auf einen Weg gebracht hatten, der ihm nicht
entsprach.
Narzißtisch strukturierte Eltern sollten sich darüber im klaren sein, daß beruflicher
Erfolg nur dann erreicht wird, wenn die berufliche Tätigkeit der Begabung entspricht
und daß es auch zufriedene Handwerker gibt.
Kinder narzißtisch strukturierter Eltern haben oft große Schwierigketten damit,
den Eltern einzugestehen, daß eine Schulnote nicht so gut ausgefallen ist, wie sie es

89
erwarteten. Solche Kinder müssen in jeder Situation die strahlenden Sieger sein. Das
macht sich dann auch im Erwachsenenleben bemerkbar, wo es ihnen schwerfällt, Feh-
ler oder Schwächen oder Mißerfolge zuzugeben, auch wenn man ihnen das gar nicht
übel nehmen würde. Das führt dazu, daß sie in schwierigen Situationen wenig unter-
stützt werden, weil jeder glaubt, daß sie schon allein zurechtkommen und alles schaf-
fen werden.
Narzißtisch strukturierten Eltern ist deshalb anzuraten, Fehler und Leistungsschwä-
chen als einer normalen Entwicklung zugehörig zu begreifen und die Kinder in solchen
Situationen zu stützen, statt ihnen zu vermitteln, daß ein Kind mit Fehlern und Schwä-
chen "nicht ihr Kind ist".
Depressiv strukturierte Eltern beziehen eine Befriedigung daraus, sich für ihre Kin-
der anzustrengen. Wenn sie imstande sind, durch den Einsatz des Abwehrmechanismus
"altruistische Abtretung" das Wohlergehen der Kinder mitzugenießen, verwöhnen sie
diese. Wenn sie materielles Wohlergehen nicht für wichtig halten, weil sie es selbst
nicht genießen können, werden die Kinder frugal erzogen. Wenn depressiv strukturier-
te Eltern sagen, den Kindern solle es einmal besser gehen als ihnen, meinen sie damit,
daß es ihnen materiell an nichts fehlen soll (während aufstiegsorientierte Eltern oft
meinen, daß sie mehr Geltung erlangen sollen). Den Kindern wird im übrigen die Vor-
stellung vermittelt, daß sie sich für andere einsetzen und sich selbst nicht so wichtig
nehmen sollen.
Probleme gibt es, wenn die Kinder sich verselbständigen und dann weniger abhän-
gig von den Eltern sind. Daß depressiv strukturierte Eltern schwer "loslassen" können,
macht sich auf allen Entwicklungsstufen der Kinder bemerkbar. So kann man von de-
pressiv strukturierten Eltern hören, es sei doch schade, daß die Kinder so schnell groß
werden, und das schon beim Übergang vom Säuglings ins Kleinkindalter, beim Eintritt
in den Kindergarten oder in die Schule. Am schlimmsten wird es für depressiv struk-
turierte Eltern, wenn die Kinder aus dem Haus gehen. Sie versuchen oft unbewußt,
ihre Kinder festzuhalten, auch wenn sie sich bewußt darüber beklagen, daß die Kin-
der noch von ihnen abhängig sind. Zwischen depressiv strukturierten Eltern und den
erwachsenen Kindern kommt es oft zu Konflikten um die Besuche im Elternhaus. Die
depressiv strukturierten Eltern möchten, daß die Kinder häufig zu Besuch kommen
und lange bleiben. Ist das nicht möglich, erwarten sie lange Telefonate. Wenn diese
Wünsche in einer zwingenden Form vorgetragen werden, ruft das den Widerstand der
Kinder hervor, die dann nicht gern kommen, so daß die Kontakte zwischen Kindern
und Eltern kürzer und weniger erfreulich sind, als sie sonst wären. Depressiv struktu-
rierte Eltern sollten sich vor Augen halten, daß ihre Tendenz, Kinder festzuhalten, oft
das Gegenteil von dem bewirkt, was es bewirken soll. Für diese Eltern ist auch wich-
tig, sich klarzumachen, daß sie ihren Kindern schaden, wenn sie verhindern, daß die
selbstständig werden. Für solche Eltern klingt es paradox, wenn man ihnen sagt, daß
man sich doch am Selbstständigwerden der Kinder freuen kann.
Schwierig wird es, wenn die Tendenz zum Festhalten unbewußt bleibt, während
bewußt vernünftige Erziehungsprinzipien vertreten werden, die auf ein Selbständig-
werden der Kinder abzielen. Die Signale, die das Selbständigwerden verhindern sol-
len, werden dann unbewußt motiviert und auch unbemerkt ausgesandt. Solche Eltern
reagieren entrüstet, wenn man ihnen sagt, daß sie die Kinder unselbständig halten. Sie
wollen ja das Gegenteil. Sie übertreiben sogar die Aufforderungen, doch selbstständig
zu werden, weil sie eine gegenteilige Tendenz in sich selbst niederhalten müssen. Das

90
Unbewußte setzt sich so indirekt durch, weil die in bezug auf die erwartete Selbstän-
digkeit überforderten Kinder erst recht unselbständig bleiben. Hier ist es manchmal
nötig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn es zu Schwierigkeiten mit
den Kindern kommt, etwa in Form einer Kindertherapie unter Einbeziehung der Eltern.
Zwanghaft strukturierte Eltern werden durch ein ungesteuertes kindliches Verhal-
ten beunruhigt, das sie als chaotisch empfinden. Nun ist Selbststeuerung eine Fähig-
keit, die im Laufe der Entwicklung erst dann gelernt werden kann, wenn sich die bio-
logischen Voraussetzungen dafür entwickelt haben. Sich unter kompromißhafter Be-
rücksichtigung eigener Wünsche und realer äußerer Gegebenheiten selbst zu steuern
ist erst mit Abschluß der Adoleszenz, also nach dem 23. Lebensjahr, voll möglich.
Lange vorher, bereits in den ersten Lebensjahren, ist aber Dressur möglich, die ja auch
bei Tieren funktioniert. Kinder können dressiert werden, ein bestimmtes, erwartetes
Verhalten zu zeigen. Ein bekanntes Beispiel ist die Sauberkeitserziehung, die schon
im zweiten Lebensjahr möglich ist und von manchen Eltern bereits gegen Ende des
ersten Lebensjahres versucht wird.
Spielt Dressur in der Kindererziehung früh und lange eine große Rolle, wird das
andressierte Verhalten oft vom Gewissen gestützt. Das Kind fühlt sich schuldig, wenn
es sich nicht so verhalten hat, wie es sollte. Ein selbstgesteuertes Verhalten richtet
sich nach Zweckmäßigkeit und nach den allgemeinen Regeln der Fairneß, die befolgt
werden, weil man sie als berechtigt erkennt oder zu erkennen glaubt. Was Philosophen
als ethisch vertretbares Verhalten fordern, ist immer ein ichgesteuertes Verhalten. Man
verhält sich nach ethischen Prinzipien, die man eingesehen hat.
Ein ichgesteuertes Verhalten ist auch flexibler als ein Verhalten, das durch das Ge-
wissen gesteuert wird. Es kann verschiedenen Umwelten zweckmäßig angepaßt wer-
den. Ein andressiertes Verhalten ist starr oder rigide. Dressur trägt zum Entstehen einer
zwanghaften Struktur bei.
Zwanghafte Menschen möchten ihr eigenes wertgeschätztes Verhalten, zum Bei-
spiel fleißig zu sein, im Ausland starr verwirklicht sehen. Sie verstehen es nicht, wenn
die Verhältnisse dort anders sind. So kann ein Zwanghafter die Siesta, den Mittags-
schlaf während der heißesten Zeit des Tages, als Zeichen von Faulheit ansehen, obwohl
es sich um eine zweckmäßige Anpassung an die klimatischen Verhältnisse handelt und
es unvernünftig wäre, gerade während der heißen Mittagszeit zu arbeiten.
Zwar können zwanghafte Eltern das Kind anhalten, nach vernünftigen Grundsät-
zen zu leben, aber die Dressur hat schon eingesetzt, ehe dem Kind ein rationales Ver-
halten möglich ist, und so bilden Ergebnisse der Dressur die Basis der Verhaltensregu-
lation dieser Kinder.
Weil zwanghafte Menschen große Schwierigkeiten haben, Verhaltensalternativen
als gleichberechtigt anzusehen, kommt das Kind zwanghafter Eltern regelmäßig in
Konflikt mit der Peer-Gruppe, die zumeist andere Verhaltensregeln vertritt. Zwanghaf-
te Kinder sind oft brave Kinder, so daß es mit den Lehrern wenig Konflikte gibt, wenn
die Rebellion der Kinder ganz unterdrückt wurde. Allerdings kann sie sich dann auch
noch indirekt, etwa durch Fehlleistungen im Sinne von Aufgaben-Vergessen, durch
Bummeln und Trödeln bemerkbar machen.
Zwanghafte Eltern sozialisieren ihre Kinder nicht für Teamarbeit. Mit Teamarbeit
ist hier eine Arbeitsform gemeint, deren Arbeitsteiligkeit nicht auf einer starren Hier-
archie oder einem strengen Befolgen von Arbeitsplatzbeschreibungen beruht, sondern
in einem zweckmäßigen Zusammenwirken verschiedener Menschen mit unterschied-

91
lichen Kompetenzen und festgelegten, aber doch flexiblen Zuständigkeiten ausgeführt
wird.
Durch zwanghafte Eltern sozialisierte Kinder fühlen sich in Hierarchien wohl. Ist
ihre Eigenständigkeit so weit reduziert, daß ihnen nichts Kreatives einfallen darf, weil
Neues Unruhe und Unordnung bringen könnte, bleiben die Kinder unter ihren anlage-
bedingten Möglichkeiten. Für zwanghafte Eltern ist das aber weniger wichtig als das
Befolgen moralischer Prinzipien. Sie wollen ihre Kinder zu "anständigen Menschen"
erziehen. Man wird an den Spruch Schillers erinnert: "Mut zeiget auch der Mameluck,
Gehorsam ist des Christen Schmuck."
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein gab es einen großen Bedarf an
Menschen, die gehorsam ihre Arbeit verrichteten. Den Bedarf wird es in den unteren
Chargen eines Betriebs immer geben, aber selbst dort, und mehr noch auf den mitt-
leren und höheren Hierarchieebenen werden Eigeninitiative und Flexibilität immer
mehr gefragt, weil sich Produkte, Arbeitsmethoden und Arbeitsbedingungen immer
rascher ändern. Von zwanghaften Eltern erzogene Kinder können solchen Anforde-
rungen schwer gerecht werden. Während bei Depressiven Eigeninitiative blockiert ist,
ist bei Zwanghaften Eigeninitiative nicht blockiert, aber auf ganz bestimmte, vorgege-
bene Bereiche eingeschränkt. Der Zwanghafte fühlt den Wunsch, tätig zu werden nur,
wenn er das auf vorgegebenen Wegen oder Geleisen tun kann.
Insgesamt läßt sich sagen, daß eine zwanghafte Sozialisation die Lebensmöglich-
keiten der Kinder einschränken und den beruflichen Erfolg verhindern kann. Ande-
rerseits sind Sekundärtugenden wie Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Loyalität auch
heute noch wichtig. Sie durften aber nicht zum Lebenszweck werden. Eine zwanghaf-
te Erziehung macht Sekundärtugenden zu Primärtugenden, und das ist unzweckmäßig.
Zwanghaften Eltern sollte man nicht raten, ihre Ausrichtung nach starren oder "festen"
Prinzipien aufzugeben. Dazu sind sie in der Regel nicht imstande. Man kann ihnen
aber raten, bei der Erziehung ihrer Kinder ein vernünftiges Maß an Flexibilität ein-
zuplanen und zu bedenken, daß Flexibilität im Sinne einer zweckmäßigen Anpassung
an wechselnde reale Situationen von Eltern an die Kinder vermittelt werden kann. So
mag es in der Regel zweckmäßig sein, daß ein Kind seine Hausaufgaben macht und
lernt. Es gibt aber Situationen, wo es zweckmäßiger ist, daß es diese Dinge vernach-
lässigt, um Erfahrungen zu machen, die seinen Horizont erweitern, zum Beispiel eine
Reise zusammen mit Freunden. Es kann auch zweckmäßig sein, daß das Kind nicht
nur liest, was ihm im Gymnasium aufgegeben wird, sondern auch das, was es sonst
noch interessiert.
Erziehungsprinzipien können nicht einfach übernommen werden. Es ist wichtig, ja
notwendig, daß die Eltern hinter den Erziehungsprinzipien stehen, die sie anwenden.
Man wird zwanghaft strukturierte Eltern schwer davon überzeugen, daß Unvernunft
sich als vernünftig herausstellen kann. Was sie verstehen können, ist ein weiter gefaßter
Begriff von Vernünftigsein und vernünftig handeln. Vernunft umfaßt dann auch ein
gewisses Maß von Anpassung an die äußere Realität. Vielleicht gelingt es den Eltern
auch zu akzeptieren, daß Freiheit des Handelns nicht im Chaos enden muß, sondern
daß sie einen abgegrenzten Platz haben kann. Ein gutes Beispiel ist, meine ich, der
Karneval oder Fasching: Man verhält sich närrisch während einer bestimmten Zeit, und
am Aschermittwoch ist alles vorbei. Auch die Maxime: "Dienst ist Dienst und Schnaps
ist Schnaps" ermöglicht es immerhin, daß auch dem Schnaps ein Raum zugewiesen
wird.

92
Phobisch strukturierte Eltern haben, ebenso wie zwanghaft strukturierte Eltern,
Angst vor einem willkürlichen Verhalten; nicht, weil es zu einem Chaos führen könnte,
sondern weil dieses Verhalten als sozial inakzeptabel abgelehnt und zurückgewiesen
werden könnte; diese Ablehnung und Zurückweisung würde sich darin auf die ganze
Person beziehen. Der Zwanghafte bekämpft sein inneres unbewußtes Chaos, indem er
äußeres Chaos anderer bekämpft, auf das er sein inneres, unterdrücktes Chaos proji-
ziert. Der phobisch Strukturierte hat Angst vor dem eigenen willkürlichen Verhalten
und vermeidet deshalb Situationen, wo er sich willkürlich verhalten könnte.
Ein zweiter Faktor beim Entstehen einer phobischen Persönlichkeitsstruktur be-
steht in einer allgemeinen Ängstlichkeit, die oft von den eigenen Eltern übernom-
men und dann an die Kinder weitergegeben wird. Phobisch strukturierte Eltern haben
Angst, daß dem Kind etwas zustoßen könnte oder daß es etwas kaputt machen könn-
te. Das Leben ist für sie eine gefährliche Angelegenheit. Nun sagt ja Erich Kästner
mit Recht: "Leben ist immer lebensgefährlich". Phobisch strukturierte Eltern sehen im
Leben aber vorwiegend das Gefährliche. Ihren Kindern vermitteln sie, daß auf Schritt
und Tritt Gefahren lauern. Sie halten die Kinder fest, weil ihnen sonst etwas passieren
könnte. Es ist eine andere Art des Festhaltens, als man es bei depressiv strukturierten
Eltern findet. Depressiv strukturierte Eltern halten die Kinder fest, um nicht allein zu
sein. Allerdings kommt es auch bei phobisch strukturierten Eltern vor, daß sie Kinder
festhalten, weil sie diese brauchen, nämlich dann, wenn die Kinder für sie steuerndes
Objekt oder Schutzfigur sind. Im einfahrenden Kapitel zur phobischen Persönlichkeits-
struktur habe ich dargelegt, daß auch Kinder Schutzfiguren sein können: am Beispiel
des Vaters, der sein Kind, das einen angebotenen Herzfehler hatte, mit sich herumtrug.
Alleinstehende Mütter oder Väter haben oft niemand als die Kinder, der sie begleiten
könnte. Haben Kinder diese Funktion, reagiert die allein lebende Mutter oder der allein
lebende Vater mit Angst, wenn das Kind beginnt, eigene Wege zu gehen.
Ähnlich wie es auch bei der Zwangsstruktur der Fall ist, wird die phobische Struk-
tur besonders häufig durch Eltern vermittelt, die eine ebensolche Struktur haben, wäh-
rend bei der Entstehung der schizoiden, der narzißtischen und der depressiven Struktur
eine durch die Lebensverhältnisse der Eltern bedingte Vernachlässigung der Kinder oft
eine große Rolle spielt. Zur Entwicklung einer phobischen Struktur bei den Kindern
kann es auch kommen, wenn die Eltern ein Kind nach dessen Geburt verloren haben,
etwa durch einen Unfall oder durch eine Infektionskrankheit. Ein solches Ereignis
führt den Eltern vor Augen, daß ein Kind tatsächlich ums Leben kommen kann, mit
der Konsequenz, daß sie ängstlich bemüht sind, Gefährdendes von den Kindern fern-
zuhalten. Das wirkt sich am stärksten bei dem Kind aus, das als nächstes geboren
wurde und das verstorbene Kind oft ersetzen soll.
Hysterisch strukturierte Eltern halten es im Unterschied zu den zwanghaft und
phobisch strukturierten Eltern gerade für wichtig, daß ein Mensch sich spontan ver-
hält. Diese Bewertung geht auch in den Erziehungsstil mit ein. Im Umgang mit den
Kindern lassen hysterisch strukturierte Eltern oft Vorhersehbarkeit und Konstanz ver-
missen, ihr Verhalten ist eher von Emotionen abhängig als bei anderen Menschen. Bei
ihren Kindern bewirken sie oft eine Entwicklung zum Gegenteil hin. Kinder von hyste-
risch strukturierten Eltern suchen die Voraussehbarkeit, Verläßlichkeit und Konstanz,
die sie im Elternhaus vermißt haben, in der Schule oder im Freundeskreis, wo sie sie
aber nicht immer finden.
Da die Geschlechtsmerkmale hoch bewertet werden, möchten hysterisch struktu-

93
rierte Eltern, daß ihr Kind stark und sozial erfolgreich wird, ohne die dazu notwendi-
gen Sekundärtugenden zu vermitteln, zum Beispiel Durchhaltevermögen, die Fähig-
keit, bei einer Sache zu bleiben, auch wenn das mit Routine und Langeweile verbun-
den ist. Wie ein hysterisch strukturierter Mann seinen Sohn dazu bringen kann, daß
er im Beruf scheitert, zeigt Arthur Miller in seinem Stück Tod eines Handlungsreisen-
den. Am Beruf des Handlungsreisenden gefiel der Hauptfigur, daß man mit wenig Auf-
wand - mit einigen Telefonaten - viel Geld verdienen kann. Seinem Sohn vermittelt
der Handlungsreisende, daß es nicht so wichtig sei, zu arbeiten; Glück und Geschick
reichten aus. In dem gleichen Stück wird kurz der Sohn eines Nachbarn gezeigt, der
ein Jurastudium abgeschlossen hat, als ein Gegenstück zu dem mißratenen Sohn. Es
gibt aber auch hysterisch Strukturierte, die sich ihrer Umwelt insofern anpassen, als
sie die Ideale übernehmen möchten, die als Sekundärtugenden bezeichnet werden, wie
eben auch Verläßlichkeit und Durchhaltevermögen. Manche erkennen den Wert die-
ser Sekundärtugenden widerstrebend und spät an, jedenfalls zu einem Zeitpunkt, wo es
ihnen selbst nichts mehr nützt. Sie raten dann vielleicht den Kindern, sie sollten ver-
suchen, es nicht so falsch zu machen wie der Vater oder die Mutter. Manche Kinder
halten allerdings die Lebensweise der Eltern für anziehend und übernehmen sie. Ne-
ben dem im einfahrenden Kapitel über die hysterische Struktur beschriebenen ödipalen
Triumph ist eine solche direkte Übernahme von Lebensformen und Verhaltensweisen
der zweite wichtige Weg, auf dem es zu einer Entwicklung hysterischer Lebensformen
bei den Kindern kommen kann, die sich im Berufsleben ungünstig auswirken.
Als die klassische Form der Partnerbeziehung noch die verbreitetste war, waren
Schwierigkeiten im Beruf in erster Linie bei den Söhnen auszumachen. Ein chaoti-
scher Haushalt wurde meist eher toleriert als ein Versagen des Mannes im Beruf. Au-
ßerdem war Hauspersonal leichter zu finden und billiger als heute, so daß die Mängel
einer Hausfrau durch Fremdhilfe ausgeglichen werden konnten. Mangelnde Kom-
petenz im Beruf war nicht so leicht auszugleichen; vor allem verhindert sie einen
Aufstieg in Positionen, wo man Mitarbeiter damit beauftragen kann, eigene Mängel
auszugleichen.
Hysterisch strukturierten Eltern wäre anzuraten, zu überprüfen, wie weit ihre Vor-
stellungen bezüglich der Voraussetzungen beruflichen Erfolgs mit der Realität über-
einstimmen und was sie tun könnten, um ihren Kindern mehr Konstanz und Zuver-
lässigkeit vorzuleben. Oft geschieht es ja, daß die Eltern, wenn sie meinen, nun sei
genug Spontaneität praktiziert worden, plötzlich die Zügel anziehen und von den Kin-
dern Sekundärtugenden verlangen, die diese von den Eltern nicht kennen. Ein solcher
Wechsel zwischen Extremen von Spontaneität und Kontrolle verunsichert die Kinder,
die schon durch das schwer vorhersehbare Verhalten der Eltern verunsichert sind, noch
mehr.

94
Kapitel 15

Kombinationen der verschiedenen


Charakterstrukturen

Wie schon im Vorwort erwähnt, können sich die in diesem Buch idealtypisch beschrie-
benen Persönlichkeitsstrukturen kombinieren. Man kann sagen, daß die schizoide
Struktur eine jede andere Struktur radikalisiert. Ein depressiv Strukturierter mit schi-
zoiden Persönlichkeitsanteilen wirkt deutlicher gierig, seine Ansprüche an die Men-
schen in seiner Umgebung sind stärker; gelebte Bedürfnislosigkeit ist stärker ideolo-
gisiert.
Zwanghafte mit einer schizoiden Struktur wirken in ihren Prinzipien radikaler als
andere Zwanghafte, auch rechthaberischer. Sie neigen zu radikalen Maximen. Der
Spruch: "Fiat Justitia, er pereat mundus" (Gerechtigkeit geschehe, und wenn die Welt
untergeht) könnte von einem schizoid-zwanghaften Menschen stammen. Die Kombi-
nation mit einer phobischen Struktur verstärkt das Vermeldungsverhalten, das bei die-
sen Menschen aus zwei Quellen gespeist wird: aus einer schizoiden Kontaktscheu und
aus dem phobischen Vermeiden von Situationen, die Willkürimpulse wecken könn-
ten. Die schizoid-hysterische Struktur wirkt sexualisierter als andere hysterische Struk-
turen, Sexualität gewinnt hier einen absoluten Wert, auch wenn sie nicht eigentlich
genossen werden kann.
Menschen mit einer depressiven Struktur mit narzißtischen Anteilen ziehen einen
narzißtischen Gewinn aus ihrer Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit und ihrer auf-
opfernden Tätigkeit für andere. Sich selbst werten sie ab, doch ziehen sie aus der Ab-
wertung insgeheim auch wieder Gewinn.
Depressive Strukturanteile mildern andere, später entstehende Strukturen ab. Ein
Zwanghafter mit depressiven Anteilen wirkt meist nicht so rechthaberisch, wie vie-
le andere Zwanghafte das tun, Depressiv-Zwanghafte stellen ihre Prinzipien weniger
über die Beziehung.
Menschen mit einer depressiv-phobischen Struktur neigen mehr als andere mit
einer phobischen Struktur zum Klammern. Ihre Tendenz zu klammern speist sich aus
zwei Quellen: aus der Notwendigkeit eines Schutzobjekts und aus der existentiellen
Notwendigkeit des anderen, weil nur der andere dem Depressiven seine materielle und
emotionale Existenz sichert. Für den Depressiven sind Menschen ja nicht nur weniger
ersetzbar als für den narzißtischen Menschen, sie sind eigentlich nicht ersetzbar.
Die depressiv-hysterische Struktur wirkt weniger hysterisch, weniger auf Bestä-

95
tigung der Geschlechtseigenschaften ausgerichtet, den anderen eher als ganzen Men-
schen sehend. Die depressiv-hysterische Struktur findet man übrigens häufig bei guten
Schauspielern. Die zwanghafte Struktur macht alle anderen Strukturen konservati-
ver und auch stabiler. Sie macht den Schizoiden konstanter, weniger begeisterungsfä-
hig für abstruse Ideologien, im ganzen realitätsbezogener, und insofern weniger radi-
kal. Den Narzißtischen macht sie machtbewußter, wobei der Wunsch nach Macht sich
aus zwei Quellen speist: aus dem narzißtischen Wunsch, andere für sich und für die
eigenen Zwecke einzusetzen, und dem zwanghaften Wunsch "oben" zu sein, Macht
um ihrer selbst willen auszuüben. Mit der phobischen Struktur kombiniert sich die
Zwangsstruktur häufig, beide entstehen ja auch zur gleichen Zeit, bei beiden geht es um
den Umgang mit Willkür. Zwanghaft-Phobische haben Probleme mit ihren Schutzfi-
guren, da sie ja "oben" sein möchten, während sich als Schutzfiguren meist Menschen
zur Verfügung stellen, die dominieren wollen. So kommt es zu Machtkämpfen, in
denen der Zwanghaft-Phobische schlechte Karten hat, weil er die Schutzfigur nötig
braucht und insofern von ihr abhängig ist.
Bei der phobisch-hysterischen Struktur gibt es analoge Probleme, wenn eine mit
dem Vater identifizierte phallisch-narzißtische Frau ihren Partner als Schutzfigur braucht.
Bei der phobisch-zwanghaften Struktur geht es um einen Wunsch zu dominieren, bei
der phobisch-hysterischen Struktur um den Wunsch, der Stärkere zu sein; nicht um
Macht auszuüben, sondern weil Stärke mit dem männlichen Teil der Identität verbun-
den wird und Schwäche diese Identität in Frage stellt. Phobisch-hysterische Männer
vom phallisch-narzißtischen Typ bleiben länger in Beziehungen als andere phallisch-
narzißtische Männer, weil sie die Partnerin als Schutzfigur brauchen. Das führt zu
Problemen, weil eine Beziehung aufrechterhalten wird, nachdem die Frau ihre An-
ziehungskraft für den phallisch-narzißtischen Mann längst verloren hat, der phallisch-
narzißtische Mann ihr das oft vorwirft, sie aber auch nicht gehen lassen kann. Am
besten kommen wohl noch die phobisch-hysterischen Männer und Frauen vom char-
manten Typ zurecht; bei ihnen lassen sich die Funktionen des Partners als Schutzfigur
und der Wunsch, durch ihn bestätigt zu werden, am besten vereinen.
Bei Marlene Dietrich waren wie die Biographie von Donald Spoto (2000) doku-
mentiert verschiedene Strukturanteile in einer Persönlichkeit kombiniert. Wie sich das
auswirken kann, will ihrem Beispiel kurz zeigen. Sie hatte intensive Liebesbeziehun-
gen, fast alle mit begabten Männern und Frauen, die prominent waren oder verspra-
chen es zu werden, mit Schauspielern und Schauspielerinnen, Schriftstellern, einem
General. Die Beziehungen waren heftig, die Partner waren aber rasch durch ande-
re ersetzbar. Marlene Dietrich war auf Beifall und Bewunderung angewiesen. So be-
richtet der Biograph davon, daß Marlene Dietrich Gästen eine Schallplatte vorspielte,
auf der sich nur Aufnahmen des Beifalls bei ihren Bühnenauftritten befanden. Das ist
sicher ein deutliches Beispiel für die Vorlieben narzißtisch strukturierter Menschen.
Für einen hysterischen Strukturanteil spricht, daß es ihr sehr um die Bewunderung
ihrer Geschlechtseigenschaften ging und sie sich in eine selbstgewählte Einsamkeit
zurückzog, als sie nicht mehr bewundert werden konnte. Für eine ödipale Problema-
tik spricht, daß ihre konstantesten Beziehungen die mit Männern waren, mit denen sie
nie oder nur sehr kurz sexuelle Beziehungen gehabt hatte (Hemingway; ihr Ehemann).
Für einen zwanghaften Strukturanteil spricht, daß sie als pflichtbewußt und zuverlässig
galt, daß sie sich in ihrer Arbeit entweder bedingungslos unterordnete (unter den Re-
gisseur Sternberg) oder, in der späteren Zusammenarbeit mit anderen Regisseuren, die

96
Arbeitssituation völlig unter ihre Kontrolle bringen wollte. Eine Zusammenarbeit auf
einer kollegialen, im wesentlichen gleichen Ebene scheint sie nicht gekannt zu haben.
Auch ihre Tendenz, überall, wo sie hinkam und es schmutzig war, aufzuräumen und
zu putzen, könnte auf einen zwanghaften Strukturanteil schließen lassen.
Marlene Dietrich war eine hochbegabte und intelligente Frau, die nicht nur aus
ihrer Begabung, sondern auch aus ihren Strukturanteilen viel Positives machte. Ihr
Angewiesensein auf Bewunderung brachte sie dazu, ihre Arbeit zu optimieren, so daß
sie mit Recht bewundert wurde. Die Fähigkeit, ihre körperlichen Vorzüge perfekt dar-
zustellen und einzusetzen, hatte einen großen Anteil an ihrem beruflichen Erfolg. So-
lange sie für Männer attraktiv blieb, was ihr anscheinend bis in ein Lebensalter gelang,
wo viele Frauen es nicht mehr sind, konnte sie Männer für sich gewinnen, nicht nur
als Publikum, sondern auch in persönlichen Beziehungen, denen aber immer etwas
fehlte, was der Biograph als "Tiefe" bezeichnet. Ihre Fähigkeit zur Unterordnung, am
deutlichsten unter ihrem Entdecker und ersten Filmregisseur Sternberg, ermöglichte
ihr, rasch zu lernen. In dieser Unten-Oben-Beziehung konnte sie vieles von Stern-
bergs Kompetenz in sich aufnehmen. Als sie später mit anderen Regisseuren arbeitete,
wandte sie immer noch an, was sie von Sternberg gelernt hatte. Ihre Zuverlässigkeit
trug zu ihrem beruflichen Erfolg wesentlich bei. Auch wenn es in ihrer Karriere nicht
nur Höhen, sondern auch Tiefen gegeben hat, ist sie doch nie an einem Mangel an
Zuverlässigkeit gescheitert, wie etwa Marilyn Monroe.
Ein depressiver Strukturanteil scheint wenig ausgebildet gewesen zu sein. Ihr Ein-
satz für verwundete Soldaten im Zweiten Weltkrieg könnte dafür sprechen, dagegen
spricht ihre Bemerkung, eine Frau könne einen einzelnen Mann nicht glücklich ma-
chen, sie aber habe viele Männer glücklich gemacht (Männer, die sie im Lazarett be-
suchte und küßte).
Für einen schizoiden Anteil spricht ebenfalls wenig. Marlene Dietrich war nie kon-
taktgestört, sie suchte Kontakte und konnte viel Kontakt mit Menschen aushalten. In
ihren Ansichten wirkte sie oft hysterisch-impulsiv, dabei kaum unrealistisch-radikal.
Gegen schizoide Anteile spricht auch, daß sie anscheinend über etwas verfügte, das
man als "gesunden Menschenverstand" bezeichnen kann. Sie war einerseits exzen-
trisch, andererseits aber auch lebenspraktisch. Wie bei vielen narzißtisch Strukturier-
ten kam die Dekompensation im Alter. Sie blieb berühmt, war aber nicht mehr in al-
ler Munde, und vor allem konnte sie Bewunderung für ihre äußere Erscheinung nicht
mehr im früheren Maß erwarten. Unmittelbare Bewunderung, wie sie sich im Beifall
ausdrückt, war ihr unzugänglich geworden.
Neben Erfolgen hatte Marlene Dietrich in ihrem Leben viele Mißerfolge, so waren
viele ihrer Beziehungen Fehlschläge, und sie wurde von Männern und Frauen auch
verlassen. Das Scheitern als Bewältigung des Alters war ihr größter persönlicher Miß-
erfolg, der das, was sie geleistet hat, nicht aufhebt und auch nicht ungeschehen machen
kann, daß sie in vielfacher Hinsicht ein reiches Leben hatte.

97
98
Kapitel 16

Schlußbemerkung

Dieses Buch soll zur Auseinandersetzung mit der eigenen Charakterstruktur anregen.
Wenn Sie probiert haben, den Hinweisen zu folgen, die ich in den einzelnen Kapiteln
und Abschnitten gegeben habe, werden Sie mit dem Ergebnis zufrieden oder unzu-
frieden sein. Wenn Sie zufrieden sind, soll mich das freuen. Wenn Sie nicht zufrieden
sind, rate ich, eventuell psychoanalytisch orientierte Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Wenn mein Buch Sie dazu motiviert hat, wird mich das freuen.

99
100
Literatur

Adorno, T. W. (1995): Studien zum autoritären Charakter. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Freud, S. (1999): Die endliche und die unendliche Analyse. G.W. XVI. S. Fischer,
Frankfurt a. M., S. 99 ff.

Hoffmann, S. O.; Hochapfel, G. (1999): Neurosenlehre. Psychotherapeutische und


Psychosomatische Medizin. Schattauer, Stuttgart/New York.

König, K. (1981): Angst und Persönlichkeit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (6.
Aufl. 2000).

König, K. (1992): Meine psychoanalytische Charakterkunde. Vandenhoeck & Ru-


precht, Göttingen (5. Aufl. 1999).

Norwood, R. (1986): Wenn Frauen zu sehr lieben. Die heimliche Sucht, gebraucht zu
werden. Rowohlt, Reinbek.

Riemann, F. (1961): Grundformen der Angst. Reinhardt, München.

Smith, D. (1999): Approaching Psychoanalysis. Karnac Books, London.

Spoto, D. (1992): Marlene Dietrich. Wilhelni Heyne, München.

Tannen, D. (1991): Du kannst mich einfach nicht verstehen. Warum Männer und
Frauen aneinander vorbeireden. Ernst Kabel, Hamburg.

Veblen, T. (1900): Theorie der feinen Leute. Fischer Frankfurt a. M.

Westphal, C. (1872): Die Agoraphobie; eine neuropathische Erscheinung. Arch. Psych-


iatrie, 3, 138-161.

101

Das könnte Ihnen auch gefallen