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Ästhetik im 20.

Jahrhundert
Prof. Dr. Birgit Recki, WS 2022/23, Do 18-20 Uhr
„Um Ästhetik in ihren ausgeprägtesten und anerkanntesten Formen zu verstehen,
muß man bei ihren Grundelementen ansetzen; bei den Ereignissen und Szenen,
die das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse
wecken und, während er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen: […] Die
vorüberrasende Feuerwehr; Maschinen, die riesige Löcher ins Erdreich graben;
der Mensch, der einen Turm emporklimmt und von weitem wie eine Fliege
aussieht; Männer, die auf Eisenträgern hoch in den Lüften rotglühende Bolzen
werfen und auffangen. Daß der Ursprung der Kunst in der menschlichen
Erfahrung liegt, wird jedem klar, der beobachtet, wie die Zuschauermenge von
den spannungsgeladenen graziösen Bewegungen des Ballspielers mitgerissen
wird; der bemerkt, mit wieviel Freude die Hausfrau ihre Blumen pflegt und mit
welcher Hingabe ihr Gatte das kleine Fleckchen Rasen vor dem Haus instand hält;
der das Behagen dessen mitempfindet, der ein Holzfeuer im Kamin anfacht und
dabei die hochschießenden Flammen und die zerfallende Glut betrachtet.“
John Dewey: Kunst als Erfahrung, 11
„Achtet ein umsichtiger Handwerker bei der Ausübung seines Berufes
darauf, daß er seine Arbeit einwandfrei und für sich selbst
zufriedenstellend ausführt, und behandelt er sein Material achtsam
und liebevoll, so ist seine Arbeit eine künstlerische Tätigkeit. Den
Unterschied zwischen einem so charakterisierten Arbeiter und einem
unfähigen, nachlässigen Stümper gibt es in der Werkstatt wie im
Atelier.“
A.a.O., 11f.
„Welchen Weg das Kunstwerk auch immer verfolgt –
gerade weil es eine abgerundete, intensive Erfahrung
darstellt, hält es die Kraft lebendig, die gewöhnliche
Welt in ihrer ganzen Fülle zu erfahren.“

A.a.O., 155
„Form ist das Charakteristische einer jeden Erfahrung, wenn sie
eine Erfahrung ist. Kunst in ihrem speziellen Sinne verwirklicht
die Bedingungen, die diese Einheit herbeiführen, umfassender
und mit mehr Überlegung. Danach mag man Kunst definieren
als das Wirken jener Kräfte, die die Erfahrung eines Ereignisses,
eines Objekts, einer Szene oder Situation zu ihrer eigenen
integralen Erfüllung bringen.“
A.a.O., 159
„Die moralische Funktion der Kunst besteht im Beseitigen von
Vorurteil, die Schuppen entfernen, die das Auge vom Sehen abhalten,
die Schleier wegreißen, die Gewohnheit und Brauch geschuldet sind
und die Kraft wahrzunehmen vervollkommnen.“
A.a.O., 376

Das Kunstwerk: „Zeichen für ein vereintes Kollektivleben“


A.a.O., 97
„Unter einer `symbolischen Form´ soll jede Energie des Geistes verstanden
werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes
sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.”

Ernst Cassirer: „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“
(1923), in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 2003. Bd.
16, 75-104; Zitat: 79
„Wenn Kunst Vergnügen ist, dann Vergnügen nicht an Dingen, sondern an
Formen. Freude an Formen ist etwas ganz anderes als Freude an Dingen oder
Sinneseindrücken. Formen prägen sich nicht umstandslos unserer Wahrnehmung
ein; wir müssen sie hervorbringen, um ihre Schönheit zu empfinden.“
Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Kapitel IX. Kunst, 245

„Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit“ (a.a.O., 221) durch „Intensivierung unserer
Empfindungstätigkeit“ (a.a.O., 228)
„Der wirkliche Gegenstand der Kunst ist […] in bestimmten
fundamentalen Strukturelementen unserer sinnlichen Erfahrung“ zu
suchen – „in Linien, Zeichnung, in architektonischen, musikalischen
Formen“.

A.a.O., 242; Hervorhebung B.R.


Große Werke der Kunst „sind weder rein darstellend noch rein
expressiv. Sie sind in einem neuen, tieferen Sinne symbolisch.“
A.a.O., 225; Hervorhebung B.R.

„Die Kunst ist tatsächlich Symbolik, doch die Symbolik der


Kunst muß man als Immanenz, nicht als Transzendenz
verstehen.“
A.a.O., 242; Hervorhebung B.R.
„Mehr und mehr wird in dieser Entwicklung das Wort der Sprache zum
bloßen Begriffszeichen. […] Soll die Sprache sich zum Vehikel des
Denkens ausbilden, soll sie sich zum Ausdruck des Begriffs und des
Urteils formen, so kann diese Formung sich nur dadurch vollziehen,
daß sie auf die Fülle der unmittelbaren Anschauung mehr und mehr
Verzicht leistet. Von dem konkreten Anschauungs- und Gefühlsgehalt,
der ihr ursprünglich eignete, von ihrem lebendigen Körper scheint
zuletzt nichts anderes als das bloße Gerippe übrigzubleiben.“
Ernst Cassirer: „Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen“ (1925), in: ECW 16, 227-312,
„[E]s gibt ein Gebiet des Geistes, in dem das Wort nicht nur
seine ursprüngliche Bildkraft bewahrt, sondern innerhalb
dessen es sie ständig erneuert; in dem es gewissermaßen […]
seine zugleich sinnliche und geistige Wiedergeburt erfährt.
Diese Regeneration vollzieht sich, indem es sich zum
künstlerischen Ausdruck formt. Hier wird ihm wieder die Fülle
des Lebens zuteil“, und zwar: das „ästhetisch befreite Leben.“

A.a.O., 311
„[…] so hätte ich am liebsten in den schönsten Städten Aufenthalt eingelegt; aber wenn ich
sie untereinander verglich, fiel es mir doch allzu schwer, unter so individuellen Wesen zu
wählen, die ganz unauswechselbar sind, mich zu entscheiden zwischen Bayeux, der
hochgebauten Stadt mit rötlich flammender Zinne, deren Spitze im altgoldnen Schein seiner
zweiten Silbe erstrahlt, Vitré, dessen accent aigu die alten Glasmalereien mit einem
Rautenwerk aus schwärzlichem Holz zu versteifen scheint, das weiche Lamballe, dessen
weißlicher Ton von Eierschalengelb zu Perlgrau übergeht, Coutances, normannische
Kathedrale, die die golden sich rundende Fülle ihres Wortausklangs wie einen Turm aus
Butter trägt, Lanion in dörflicher Stille mit dem summenden Ton der Fliege, die der
Kutsche folgt, Questambert, Pontorson, komisch und naiv wie weißes Gefieder und gelbe
Schnäbel auf der Landstraße zwischen den wasserfrohen und poesievollen Städten, Benodet,
ein kaum verhafteter Klang, den der Fluß in sein Algengewirr hineinzuziehen versucht,
Pont-Aven, weiß und rosa Flattern einer leichten Haube mit ihrem zitternden Widerschein
im grünlichen Wasser des Kanals, Quimperlé, besser und schon vom Mittelalter her
zwischen den Bächen zu Haus, mit denen es sich berieselt und grau überperlt, so wie hinter
den Spinnweben an einer Fensterscheibe die Sonnenstrahlen es tun, deren Aufblitzen sich in
stumpfem, dunkelgewordenem Silber verliert.“
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, deutsch von Eva-Rechel-Mertens, Bd. 2 (In Swanns Welt 2),
514.

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