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Rolf Kirsch

Der Melancholiker

Der Melancholiker, den im Sommer meistens hei-


tere Gedanken befielen, wechselte mit weniger
werdenden Sommertagen und häufiger werden-
den Herbsttagen seine fröhlichen Gedanken ge-
gen schwermütige und bedrängende aus. Die
Herbstgedanken erlebte der Melancholiker bis-
lang als Zumutung, als Nötigung, als Angriff, die
er abzuwehren versuchte. Jede Verteidigung zog
ihn jedoch weiter hinein in einen Kampf, den er,
der Melancholiker, regelmäßig als verloren auf-
geben musste.

So zog der Melancholiker zuletzt aus seinem


Scheitern die Lehre, in diesem Krieg nicht mehr
als Kämpfer aufzutreten, sondern, soweit mög-
lich, jedes Mal das Ende der Schlacht abzuwar-
ten.

Der Melancholiker lernte allmählich seinen Geg-


ner kennen und entwickelte eine geduldige Strate-
gie. Je mehr seine, des Melancholikers, Gefühle
und Empfindungen der Schwermut verfielen, des-
to mehr strengte er sich an, genau zu beobachten,
was geschah.

Der Melancholiker spaltete sich auf in einen Me-


lancholiker, der dem Feind das Feld überlies und
sich nicht mehr wehrte und in einen Melan-
choliker, der gleichermaßen außerhalb des
Schlachtfeldes die Vorgänge unparteiisch beo-
bachtete und Schlüsse zog.

So war es nur der halbe Melancholiker, der unter


den Einschlägen litt, der andere halbe Melan-
choliker blieb unverletzt wie ein Richter, der die
Parteien anhört, dann seine Gerechtigkeit aus-
spricht, schließlich heim geht und sich um den
vergangenen Tag nicht mehr schert.

Sein Gegner erkannte offenbar, dass seine Atta-


cken immer nur einen halben Melancholiker nie-
derzwangen, gleichzeitig aber dem anderen hal-
ben Melancholiker offenlegten, wie er, des Me-
lancholikers Gegner, die Schlacht eröffnete, wäh-
renddessen mal mehr mal weniger zustieß und
schließlich den Melancholiker wieder freigab und
von ihm abließ.

Wenn der eine halbe Melancholiker bemerkte,


dass die Schlacht zu einem Ende kam, gewahrte
der andere halbe Melancholiker das Heraufziehen
einer wunderbaren Melancholie, die nun der Me-
lancholiker, der ganze Melancholiker, ungeteilt
zuließ.

Der Melancholiker erlebte, dass der Zustand die-


ser Melancholie immer nach diesen verlorenen
Schlachten auftrat, ähnlich wie am Ende schöner
Tage, die sich aus dem Staube machen und einen
gleichen Zustand der Melancholie erzeugen. Er,
der Melancholiker, begann daher, seinen Gegner
zu schätzen wegen des Krieges, der ihm geliefert
wurde und der ihn nie gänzlich bezwang. Schon
während der Schlacht freute er sich auf die Me-
lancholie, die sich als Belohnung einstellte. Glei-
chermaßen war das Ende einer schönen Zeit er-
träglich traurig, da die Melancholie folgte.

Der Melancholiker glaubte, im Zustand der Me-


lancholie erlebe er die Welt am deutlichsten. Der
heitere, sommergelaunte Melancholiker hingegen
vermutete die Welt besser als sie ist. Helle und
fröhliche Tage ließen kaum schlimme Nachrich-
ten in des Melancholikers Wahrnehmung, obwohl
er wusste, dass es arge Dinge gab.

Der herbstbeschwerte Melancholiker erkannte die


leichten und gelösten Begebenheiten nicht mehr
und ließ den schweren und niederdrückenden Ge-
danken freien Zugang, obwohl er wusste, dass
Heiterkeit nicht aus der Welt verschwunden war.

Aber im Zustand der Melancholie versöhnte der


Melancholiker den Sommer mit dem Herbst. Er
vereinigte die zerbrochenen Träume der Vergan-
genheit mit den fröhlichen Erwartungen der Zu-
kunft. Er brachte die Ängste von Morgen mit Ge-
lungenem von Gestern zusammen.

Im Zustand der Melancholie war er müde und


wach zugleich. Der Zustand der Melancholie war
für den Melancholiker ein Zustand der Zufrie-
denheit. Hier war er weder der Schwermut des
Herbstes noch der Verführung des Sommers aus-
geliefert.

Und der Melancholiker, dem gelehrt wurde, dass


die Schwermut bekämpft werden solle wie eine
Krankheit, erkannte, dass die Heiterkeit dann
ebenso bekämpft werden müsse, weil sie aus dem
Rausche kam und der Verführung glich. Er hatte
jedoch erfahren, dass solche Kämpfe gleichwohl
nicht siegreich überstanden werden können oder
aber nicht bekämpft werden wollen. So entschloss
er sich, seine Feinde zu mögen.

In Zukunft wollte er Schwermut und Heiterkeit


gleichermaßen begrüßen, wenn sie, abwechselnd
und jede für sich, zur Visite kamen.

Der Melancholiker war immer der Melancholie


gewiss, die folgen würde.

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