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Das Subjektive an der objektiven Zurechnung:

Zum „Problem“ des Sonderwissens

Von Wiss. Mitarbeiter Luís Greco, LL.M., München*

I. Einleitung

Für die Finalisten war tatbestandsmäßiges Verhalten zentral durch seine


Finalität gekennzeichnet 1, also durch etwas Subjektives. Demgegenüber er-
hebt die Lehre von der objektiven Zurechnung den Anspruch, objektive
Voraussetzungen der Tatbestandsmäßigkeit, d. h. des strafrechtlichen Verbo-
tenseins eines bestimmten Verhaltens zu benennen 2. Das „Holz, aus dem die
Unrechtstypen geschnitzt werden“ 3, ist hiernach die Gefahr: Objektiv zure-
chenbar ist nur ein Verhalten, das für ein Rechtsgut eine unerlaubte Gefahr
schafft, die sich dann in einer Verletzung verwirklicht 4. Der Begriff der Ge-
fahr ist grundsätzlich objektiver Natur – aber eben nur grundsätzlich. Denn
einerseits ist das Vorhandensein einer Gefahr durch eine sog. objektiv-
nachträgliche Prognose zu ermitteln, indem gefragt wird, ob der Erfolg für
einen objektiven Beobachter oder einsichtigen Teilnehmer des Verkehrs-
kreises des Täters der Erfolg ex ante voraussehbar wäre 5. Andererseits will
die Sonderwissen eines Täters, der mehr weiß als ein solcher einsichtiger
Mensch, bei der Gefahrprognose mitberücksichtigen 6. So ist es keine im

* Verf. ist Doktorand bei Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, auf dessen nach-
drückliche Empfehlung der Beitrag für die ZStW angenommen worden ist. Er bedankt
sich bei Professor Dr. Christian Jäger für die sprachliche Überarbeitung des Textes.
1 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 37: „Die finale Struktur des mensch-
lichen Handelns ist für die strafrechtlichen Normen schlechthin konstitutiv“.
2 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 1997, § 11 Rdn. 41.
3 So die schöne Formulierung von Kaufmann, Die Funktion des Handlungsbegriffs im
Strafrecht, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert,
1982, S. 21, 33.
4 S. nur Jescheck/Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 287; Lenckner,
in: Schönke/Schröder, 26. Aufl. 2001, Vorb. §§ 13 ff. Rdn. 92; Roxin, Gedächtnisschrift
für Armin Kaufmann, 1989, S. 239, und ders. (Anm. 2), § 11 Rdn. 42 f.; Rudolphi, in: SK
StGB, 6. Aufl. 1997, Vor § 1 Rdn. 57; in der spanischen Lehre, Mir Puig, Derecho pe-
nal: parte general, 5. Aufl. 1998, § 10 Rdn. 46; in der brasilianischen, Tavares, Teoria do
injusto penal, 2. Aufl. 2002, S. 281.
5 Statt aller Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 286; Roxin (Anm. 2), § 11 Rdn. 50.
6 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1995, § 22 Rdn. 46;
Bockelmann/Volk, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1987, S. 66; Brehm, Zur Dog-
matik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973, S. 128; Burgstaller, Das Fahrlässig-
keitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 65; Cramer, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), § 15

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Rechtssinne lebensgefährliche Handlung, wenn der Neffe seinen Onkel auf


eine Flugzeugreise schickt, weil der Absturz des Flugzeugs für einen ein-
sichtigen Menschen nicht konkret vorhersehbar ist. Wenn aber der Neffe
Sonderwissen etwa von einer sich im Flugzeug befindlichen Bombe hat,
schafft seine Handlung die Gefahr des Todes des Onkels, dessen Eintritt
dem Neffen – und zwar objektiv – zugerechnet wird. Dann aber fragt sich,
wie man subjektive Umstände in einer Zurechnung, die sich objektiv nennt,
berücksichtigen kann.
Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, die h. M. der Korrektheit
ihrer Lösung zu versichern und nachzuweisen, dass ein etwaiges Unbeha-
gen angesichts des vermeintlichen Systembruches unbegründet ist. Das Er-
gebnis lautet: Ein „Problem“ des Sonderwissens gibt es nur in Anführungs-
zeichen; wie der Vergleich mit vielen anderen Konstellationen zeigt, über
deren Behandlung Konsens besteht, ist es nicht möglich, über das Vorhan-
densein einer Gefahr zu urteilen, ohne das zu berücksichtigen, was der Täter
weiß.

Rdn. 139; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988,
S. 71 (Fn. 6); ders., La imputación objetiva: estado de la cuéstion, in: Silva Sánchez
(Hrsg.), Sobre el estado actual de la teoría del delito, 2000, S. 21, 56; ders., Festschrift
für Roxin, 2001, S. 213, 230; Herzberg, JZ 1987, 536, 537; Jescheck/Weigend (Anm. 4),
S. 286; Kaminski, Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts,
1992, S. 87; Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 184; Kühl, Strafrecht Allge-
meiner Teil, 3. Aufl. 2000, § 17 Rdn. 31ff.; Martinez Escamilla, La imputación objetiva
del resultado, 1992, S. 81 ff.; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 1, 8. Aufl. 1992,
§ 18 Rdn. 33; Mir Puig, Sobre lo objetivo y lo subjetivo en el injusto, in: El derecho pe-
nal en el estado social y democrático de derecho, 1994, S.181, 195; ders. (Anm. 4), § 10
Rdn. 42; Puppe, in: NK StGB, 5. Lieferung 1998, Vor § 13 Rdn. 145; Roxin (Anm. 4),
S. 250; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), S. 232, 247; ders. (Anm. 2), § 11 Rdn. 35,
50, § 24 Rdn. 69; Schünemann, Festschrift für Schaffstein, 1975, S. 159, 166; ders., GA
1999, 207, 216; Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil 1, 4. Aufl. 2000, § 8 Rdn. 22;
Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 32. Aufl. 2002, Rn. 170 u. 670; Wieseler,
Der objektive und der individuelle Sorgfaltspflichtmaßstab beim Fahrlässigkeitsdelikt,
1992, S. 118f.; Wolter, GA 1977, 257, 269; ders., Menschenrechte und Rechtsgüter-
schutz in einem europäischen Strafrechtssystem, in: Schünemann/Figueiredo Dias
(Hrsg.), Bausteine des euopäischen Strafrechts, 1995, S. 3, 23 (Fn. 84). – Differenzie-
rend Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 134: Sonderwissen sei im allgemeinen nur
dann zu berücksichtigen, wenn der Täter dadurch nicht wesentlich belastet werde, oder
beim Vorliegen besonderer dafür sprechender Gesichtspunkte; beim Vorsatzdelikt
führe aber die Konkretisierung solcher Kriterien zur vollen Relevanz der Sonderkennt-
nisse, S. 135; s. ferner Lenckner, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), Vorb. §§ 13ff. Rdn. 93,
der die verpflichtende Wirkung des Sonderwissens für „nicht zwingend“ hält, wenn
„die Vermeidepflicht ausschließlich in den Verantwortungsbereich eines anderen fällt“.

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II. Meinungsstand

1. Problemgeschichte
a) Mit dem Problem des Sonderwissens musste sich bereits die Adäquanz-
theorie befassen, die ursprünglich Ursache als das definierte, was „gemäß
den allgemeinen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft generell geeig-
net ist, derartige Verletzungen herbeizuführen“ 7, und so begann, mit den
Figuren des einsichtigen Menschen und der objektiven Voraussehbarkeit zu
arbeiten 8. Während Müller das Problem mit der Erwägung leugnete, es sei
unmöglich, dass der Täter etwas wisse, was Menschen im allgemeinen nicht
wissen könnten 9, nahm Traeger an, Sonderkenntnisse müssten berücksich-
tigt werden, da, wer zufällig über sie verfüge, anderenfalls straflos Verbre-
chen begehen könnte 10. Engisch, der die Berücksichtigung des Sonderwis-
sens für das Adäquanzurteil von Anfang an als „Dualismus“ betrachtete,
versuchte ihn auf zwei Wegen zu rechtfertigen: Zum einen definierte er die
objektive Maßfigur sogleich unter Berücksichtigung des Täterwissens; der
besonnene Mensch sei „ein mit dem Wissen des Täters ausgestatteter, im
übrigen aber von den persönlichen geistigen Mängeln des Täters befreiter
Mensch“ 11. Zum anderen stimme die Lösung mit dem „täglichen Leben“
und der „Spruchpraxis der Gerichte“ überein; es habe sich jeder „zunächst
einmal nach dem zu richten, was ihm bekannt ist“ 12.
Da die Adäquanztheorie über den zentralen Begriff der Gefahr bzw. des
Risikos in der heutigen Lehre von der objektiven Zurechnung mitenthalten
ist 13, hat diese das Problem des Sonderwissens von jener geerbt. Nach nahe-

7 von Kries, ZStW 9 (1888), S. 532.


8 Grundlegend Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904, S. 159, 161;
ihm folgend Müller, Die Bedeutung des Kausalzusammenhanges im Straf- und Scha-
denersatzrecht, 1912, S. 28; Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen
Tatbestände, 1931, S. 55, der die Figur des einsichtigen Menschen genauer präzisiert
(vgl. den Text unten bei Anm. 11).
9 Müller (Anm. 8), S. 31.
10 Traeger (Anm. 8), S. 161.
11 Engisch, Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, 1960, S. 429; zuvor ders. (Anm. 8),
S. 55, wo der besonnene Mensch genauer als „nur der Täter selbst, befreit von den
Mängeln, die sein Erkenntnisvermögen in irgendeiner Richtung belasten“ bestimmt
wird (S. 56, Fn. 1).
12 Engisch (Anm. 8), S. 56.
13 Roxin (Anm. 4), S. 242; über die Adäquanztheorie als Vorläuferin der objektiven Zu-
rechnung vgl. ferner Greco, Imputação objetiva: uma introdução, in: Roxin, Funciona-
lismo e imputação objetiva no direito penal, 2001, S. 1 (23 ff.).

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zu allg. M. ist Sonderwissen bei der objektiv-nachträglichen Gefahrprognose


zu berücksichtigen 14. Eine nähere Begründung hierfür wird freilich ent-
weder nicht angegeben 15, oder es werden Plausibilitätsargumente vor-
gebracht, die über die Auffassungen von Traeger oder Engisch nur un-
wesentlich hinausgehen 16. Tiefergehende Ansätze werden nur vereinzelt
und ohne große Resonanz vertreten 17. Das ist um so erstaunlicher, als es bei
einigen Autoren heißt, die Berücksichtigung von Sonderkenntnissen im Rah-
men der objektiven Zurechnung sei ein immanenter Widerspruch, der aber
notgedrungen hingenommen werden müsse, um absurde Ergebnisse zu ver-
meiden 18.
b) Es konnte nicht lange dauern, bis sich an diesem Widerspruch Kritik
entzündete, die vor allem von Finalisten vorgebracht wurde. Sie hatten sich
mit der vordringenden Lehre von der objektiven Zurechnung lange wenig

14 Vgl. oben Anm. 6.


15 So z. B. Bockelmann/Volk (Anm. 6), S. 66; Burgstaller (Anm. 6), S. 66: „die Notwen-
digkeit der Berücksichtigung besonderer Kenntnisse“ stehe „weitgehend außer Streit“;
Herzberg, JZ 1987, 536, 537: „Es ist anerkannt, dass zufällig erworbenes Sonderwissen
zu Buche schlägt“; Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 286; Kaminski (Anm. 6), S. 87; Mau-
rach/Zipf (Anm. 6), § 18 Rdn. 33; Puppe (Anm. 6), Vor § 13 Rdn. 145; Roxin (Anm. 4),
S. 250: „bisher nie bestritten“; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), S. 232ff. (wohl
eine Erklärung, dass es so ist, nicht aber eine Begründung, warum es so ist), S. 247; ders.
(Anm. 2), § 11 Rdn. 35, 50, § 24 Rdn. 69; Schünemann (Anm. 6), S. 166; Stratenwerth
(Anm. 6), § 8 Rdn. 22; Wessels/Beulke (Anm. 6), Rn. 170 und 670; Wieseler (Anm. 6),
S. 119: „nach fast einhelliger Ansicht“.
16 Z. B. Köhler (Anm. 6), S. 184: „noblesse oblige“; Kühl (Anm. 6), § 17 Rdn. 31ff.; Mir
Puig (Anm. 4), § 10 Rdn. 44 (im objektiven Tatbestand gehe es um die intersubjektive
Wertung, also um den einsichtigen Menschen, und nicht um den konkreten Täter; ein
solcher einsichtiger Mensch hätte aber die Kenntnisse des Täters berücksichtigt).
17 Wie z. B. bei Cramer, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), § 15 Rdn. 139, der die Berück-
sichtigung von Sonderkenntnissen damit begründet, dass der Täter verpflichtet sei, das
Optimum zu leisten, was ihm möglich sei, um Gefahren zu vermeiden; Frisch, Verhal-
ten (Anm. 6), S. 71 (Fn. 6), wo das vom Objektiven ausgehende Modell der aus Bedürf-
nissen der Norminternalisierung verteidigt wird und die Berücksichtigung des Subjek-
tiven „nur dem Umstand Rechnung tragen (soll), daß für die – ausnahmsweise – über
größeres Wissen verfügende Personen strengere Normen gelten“; ders., in: Festschrift
für Roxin (Anm. 6), S. 230, wo es heißt, es könne normalerweise von dem, der über
unbekannte Gefahren wisse, erwartet werden, dass er sie dementsprechend vermeide;
Schünemann, GA 1999, 207, 216 f., der meint, die Rechtsordnung wolle auf das Verhal-
ten des konkreten Täters generalpräventiv einwirken, so dass sich kein anderer An-
fangspunkt anbietet, als die Kenntnisse eben dieses Täters.
18 Vgl. Wolter, GA 1977, 257, 269; Brehm (Anm. 6), S. 128; anscheinend auch Baumann/
Weber/Mitsch (Anm. 6), § 22 Rdn. 24: die „Subjektivierung“ solle „offen eingestanden“
werden.

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auseinandergesetzt 19, bis Kaufmann 1985 Einwände formulierte 20, die sich
u. a. auf das Problem des Sonderwissens bezogen: „Es zeigt sich also, dass
bei allen Merkmalen, die aus der Formel der imputatio obiectiva zu ent-
wickeln sind, offensichtlich das Wissen des Täters als Beurteilungsgrundlage
unentbehrlich ist: so schon für die ‚Gefahrschaffung‘ und erst recht für die
‚rechtliche Missbilligung‘.“ 21 Wenn es aber nicht möglich sei, vom Täterwis-
sen, vom Subjektiven, beim Urteil über die objektive Zurechnung zu abstra-
hieren, dann sei dies ein Indiz für die Fehlerhaftigkeit und Unangemessen-
heit einer Lehre von der objektiven Zurechnung. Die Probleme, die sie zu
lösen beanspruche, gehörten daher in Wahrheit zum subjektiven Tatbestand
und seien also Vorsatzprobleme 22. Die objektive Zurechnung tue nichts
mehr, als die kognitive Komponente des Vorsatzes in den objektiven Tatbe-
stand zu versetzen 23. Zugespitzt: „Im Lichte des Tatvorsatzes schmilzt die
komplexe Problematik zusammen wie Aprilschnee in der Sonne“ 24.
Mit gleicher Stoßrichtung warf Struensee der objektiven Zurechnung vor,
sie vernachlässige, dass sich subjektiver und objektiver Tatbestand auf unter-
schiedliche Gegenstände bezögen, nämlich jener aufs Täterpsychische und
dieser aufs Außerweltliche 25. Eine Theorie, die mit täterpsychischen Daten
arbeite, „objektiv“ zu nennen und im objektiven Tatbestand anzusiedeln, sei
zumindest eine Begriffsvertauschung: „‚Der Begriff des Hundes bellt nicht‘ –

19 So die Einschätzung von Roxin (Anm. 4), S. 239. – Repräsentativ der Beitrag von
Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 831 ff., und ZStW 94 (1982), S. 239 ff., der sich mit vielen
wichtigen Fragen der Unrechtslehre befasst, die objektive Zurechnung aber nicht be-
handelt.
20 Insbesondere: Bei der objektiven Zurechnung gehe es in Wahrheit um Auslegungs-
probleme der verschiedenen Tatbestände des Besonderen Teils (Festschrift für Je-
scheck, 1985, S. 251, 254 ff., 268 f.). Die Risikoerhöhungslehre missachte das positive
Recht, indem sie eine eigentliche Versuchstat als vollendete Tat bestrafe (S. 256f.). Man
verkompliziere unnötig den objektiven Tatbestand (S. 258). Der objektiven Zurech-
nung stehe ihr Ursprung, das Fahrlässigkeitsdelikt, „auf die Stirn geschrieben“, so dass
sie nicht auf Vorsatzdelikte anzuwenden sei (S. 258 f.). Der Begriff der unerlaubten Ge-
fahrschaffung sei mit dem Konzept der die Rechtswidrigkeit indizierenden Wirkung
des Tatbestands unvereinbar (S. 258). Der Gefahrbegriff sei eine „Gefahr für die Tatbe-
standsbestimmtheit“ (S. 259). Es würden ungesehene und ungelöste Irrtumsprobleme
entstehen, da der Vorsatz sich auf die tatsächlichen Voraussetzungen sowohl der Risi-
koschaffung wie der Risikoverwirklichung richten müsse (S. 263).
21 Kaufmann (Anm. 20), S. 260.
22 Zu den Lösungsversuchen, vgl. Kaufmann (Anm. 20), S. 265ff.
23 Kaufmann (Anm. 20), S. 265.
24 Kaufmann (Anm. 20), S. 260.
25 Struensee, GA 1987, 97, 98; ders., JZ 1987, 53.

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so hat jemand einmal anschaulich die Begriffsvertauschung kritisiert. In der


Lehre von der objektiven Zurechnung – ich nehme es vorweg – bellt der Be-
griff des Hundes allerdings kräftig“ 26. Während Kaufmann das Problem der
objektiven Zurechnung nur beim Vorsatzdelikt untersuchte 27, befasst sich
Struensee auch mit Fahrlässigkeitsfällen und kommt zum Ergebnis, die Tä-
terkenntnisse seien für ihre Lösung gleichfalls relevant: „So hängt beim fahr-
lässigen Delikt die Zurechenbarkeit des Erfolges offenbar ebenfalls vom
Wissen des Handelnden ab“ 28. Der richtige Ort zur Lösung der Problema-
tik sei der subjektive Tatbestand des fahrlässigen Delikts. Auch die Fahrläs-
sigkeit gründe auf der grundlegenden ontologischen Gegebenheit der Fina-
lität 29, und die Behandlung des Sonderwissens sei Nachweis dafür, dass die
h. M. seit langem die Relevanz der Finalität für die Fahrlässigkeitsdelikte an-
erkenne 30. Struensee konstruiert also das fahrlässige Delikt in einer Weise,
dass ohne Systembruch erklärbar ist, weshalb Sonderwissen berücksichtigt
werden soll und warum derjenige, der mehr weiß, auch mehr an Freiheit ver-
liert 31. Für ihn „befaßt sich die Lehre von der ‚objektiven‘ Zurechnung in
der Sache mit dem subjektiven Tatbestand“ 32; sie sei daher eine „Irr- oder
Irrtumslehre“ 33.
Auch Hirsch hatte sich zunächst zu der Auffassung bekannt, es gehe bei
der objektiven Zurechnung eigentlich „um Fragen des Vorsatzes und damit
nicht um Probleme des objektiven, sondern des subjektiven Tatbestands“ 34,
wie dadurch belegt werde, dass bei der Frage, ob eine Gefahr vorliege oder

26 Struensee, GA 1987, 97, 98.


27 So nicht nur die Überschrift, sondern auch die ausdrückliche Erklärung auf S. 253 des
zitierten Beitrags.
28 Struensee, GA 1987, 97, 99.
29 Nach Struensee, JZ 1987, 53, 58, handelt fahrlässig, wer in Kenntnis der Umstände, die
die Unerlaubtheit der Gefahr begründen (sog. Risikosyndrom) handelt; so wird auch
die Fahrlässigkeit auf die Grundstruktur der Finalität aufgebaut. „In der Sorgfaltswid-
rigkeit der Handlung steckt der gesetzlich nicht vertypte … subjektive Tatbestand des
fahrlässigen Delikts“; Struensee, GA 1987, 97, 99 f. und auch JZ 1987, 53, 60. Krit.
hierzu Herzberg, JZ 1987, 536, 536 ff.; Roxin (Anm. 4), S. 249 ff.
30 Struensee, GA 1987, 97, 99 f. ; ders., JZ 1987, 53.
31 Struensee, JZ 1987, 53, 60 mit der These, die ungelöste Problematik der Sonderkennt-
nisse rechtfertige nahezu für sich seinen Neuaufbau des Fahrlässigkeitsdelikts (vgl. be-
reits aaO. S. 54).
32 Struensee, GA 1987, 97, 105.
33 Struensee, JZ 1987, 53, 63.
34 Hirsch, Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Uni-
versität Köln, 1988, S. 399, 404; zur neueren Auffassung von Hirsch s. sogleich im Text
bei und mit Anm. 39.

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nicht, Sonderkenntnisse berücksichtigt würden 35. Die objektive Zurech-


nung sei ein Produkt eines normativierenden Denkens, das den Unterschied
zwischen Objektivem und Subjektivem als einer Grundstruktur der Wirk-
lichkeit vernachlässige. Hirsch meint aber: „Was objektiv und was subjektiv
ist, steht nicht zur Disposition der Dogmatik“ 36.
Weitere Stellungnahmen seitens der Anhänger des Finalismus haben sich
entweder darauf beschränkt, die Argumente Armin Kaufmanns zu wieder-
holen 37, oder haben die finalistische Schwerpunktsetzung auf das Subjektive
relativiert 38. In diese Richtung gehen z. B. jüngere Beiträge von Hirsch über
den untauglichen Versuch, wonach Handlungen, die nicht einmal objektiv
ex ante gefährlich sind, nicht als verboten gelten können, weil sie keine
Handlungen der subjektiv intendierten Art seien 39. Diese Auffassung ist im
Grunde objektivistisch und verringert in derart erheblichem Maß die Bedeu-
tung der Finalität, dass der Streit mit der Lehre von der objektiven Zurech-
nung zu einem terminologischen Problem zu verkümmern scheint 40. Im
übrigen haben sich nur wenige der finalistischen Kritik angeschlossen 41 oder
auch nur mit ihr auseinandergesetzt. Das mag zum einen darauf beruhen,
dass die finalistischen Argumente erst vorgebracht wurden, als sich die
Lehre von der objektiven Zurechnung bereits durchgesetzt hatte. Zum ande-
ren – und vielleicht wichtiger – ist heute Skepsis gegenüber dem Erkenntnis-
wert systematischer Rubrizierungen verbreitet, seitdem kategoriale, klassifi-
katorische und eher Begriffsjurisprudenz angemessenen Systeme zugunsten
einer teleologischen und normativen Systembildung aufgegeben worden
sind.

35 Hirsch (Anm. 34), S. 405.


36 Hirsch (Anm. 34), S. 407; zustimmend Küpper, ZStW 105 (1993), S. 295, 304.
37 So Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 92 (Fn. 67).
38 Näher unten III, 4, b, und der weitere Text.
39 S. Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 545, 560ff.; ders., Festschrift für
Lenckner, 1998, S. 119, 135 (Fn. 50); ders., Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 253,
255 ff. – Die Annäherung von Hirsch an die Lehre von der objektiven Zurechnung wird
in Festschrift für Kaufmann (aaO.), S. 561 sowie in Festschrift für Roxin, 2001, S. 711,
719 (Fn. 38), zugegeben. Im Übrigen ist zu bemerken, dass Hirsch die Relevanz objek-
tiver Gegebenheiten für das Unrecht seit langem betont; z. B. sei der Erfolg auch für
Vorsatzdelikte handlungskonstitutiv, Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 239, 251.
40 So Greco (Anm. 13), S. 115.
41 U. a. Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994, S. 535, der die Kritik für
„völlig korrekt“ hält; Samson, Strafrecht I, 7. Aufl. 1988, S. 16 f. Dencker, Kausalität
und Gesamttat, 1996, S. 43 (Fn. 60) und Lampe, Gedächtnisschrift für Armin Kauf-
mann, 1989, S. 189, 196 f. schließen sich Struensees Einwand an, die objektive Zurech-
nung lasse sich nur aufgrund einer Begriffsvertauschung als „objektiv“ bezeichnen.

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c) Einen neuen Weg zur Bewältigung des Problems des Sonderwissens


hat – in Auseinandersetzung mit Kaufmann – Jakobs beschritten, dem einige
Autoren gefolgt sind 42. Ausgangspunkt ist die These, das Strafrecht dürfe
nur dann in die Freiheiten der Bürger eingreifen, wenn diese ihre Organisa-
tion auf Kosten fremder Organisationskreise erweiterten und so die rein
interne Sphäre des Privaten überschritten 43. In dieser internen Sphäre gelte
der Grundsatz cogitationis poenam nemo patitur. Nach Jakobs ist somit ob-
jektiv zurechenbar nur ein Verhalten, das einen Bruch einer vom Täter in
einer bestimmten Interaktion ausgeübten sozialen Rolle bedeutet 44. In den
Deliktstatbeständen sei die soziale Rolle durch die Figur der Garantenstel-
lung repräsentiert. So sei die Garantenstellung Tatbestandsmerkmal nicht
nur bei Unterlassungs-, sondern auch bei Begehungsdelikten 45. Wenn z. B.
ein Biologiestudent, der in den Ferien als Kellner arbeite, auf Grund seiner
besonderen Fähigkeiten erkenne, dass der sich im Salat befindliche Pilz giftig
sei, sei diese Kenntnis für die objektive Zurechnung irrelevant 46. Würde der
Student den Salat dennoch servieren und der Gast durch seinen Verzehr
getötet, dann könne man nur wegen unterlassener Hilfeleistung bestrafen,
nicht aber wegen Tötung 47. Denn in dieser konkreten sozialen Interaktion
sei die vom Biologiestudenten ausgeübte Rolle nicht die eines Studenten,
sondern eines Kellners; er habe sich so verhalten, wie die Gesellschaft es von
einem Kellner erwarte, also ohne irgendeine soziale Erwartung oder Rolle
zu brechen. Als Kellner sei er nicht Garant für die Vermeidung eines solchen

42 U. a. Lesch, JR 2001, 383, 387, JA 2001, 187, 189, und JA 2001, 986, 990; Reyes, ZStW
105 (1993), S. 108, 122; Sanchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 57; Silva-
Sanchez, in: Eser u. a. (Hrsg.), Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Straf-
recht, 1998, S. 205, 205 ff.; Vehling, Die Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch,
1991, S. 104.
43 Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 751, 753 ff.
44 Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 271, 286; auch ders., Der
strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 39; ders., La imputación objetiva en derecho
penal, 1996, S. 97; ders., ZStW 107 (1995), S. 843, 859; zu den rechtsphilosophischen
Grundlagen vgl. ders., Sobre la génesis de la obligación jurídica, in: Doxa 23 (2000),
S. 323ff., 340ff. Über die Zurechnungslehre von Jakobs vgl. ferner Greco (Anm. 9),
S. 119ff.
45 Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 284; vgl. ferner: Allgemeiner
Teil, 2. Aufl. 1991, 7/58; Imputación (Anm. 39), S. 101.
46 Beispiel nach Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 273.
47 Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 287; vgl. noch ders., ZStW 89
(1977), S. 1, 26; ders., Allg. Teil (Anm. 45), § 7/50; ders., Imputación (Anm. 39), S. 137;
ders., GA 1996, 253, 263; ders., Festschrift für Hirsch, 1999, S. 45, 57.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 527

Erfolgs. So vermeidet Jakobs den von den Finalisten gerügten Widerspruch,


weil er dem Subjektiven grundsätzlich die Relevanz für die objektive Zu-
rechnung abspricht. Die Zurechnung hänge bloß davon ab, ob der Täter die
an seine Rolle gerichteten Erwartungen erfülle oder nicht – was im Prinzip
objektiv zu bestimmen sei. Weiterhin meint Jakobs, es sei widersprüchlich,
demjenigen, der über Sonderkenntnisse verfügt, deren Einsatz zur Vermei-
dung von Rechtsgutsverletzungen abzuverlangen, wenn es keine Pflicht
gebe, sie zu erlangen 48. Das laufe auf die Bestrafung des reinen Zufalls – dass
der Täter etwas zufällig wisse – hinaus, und würde die Strafe auf eine interne
Gegebenheit, eine cogitatio, stützen. Eine solche Pflicht hätte auch uner-
wünschte Wirkungen zu Folge: Der leichteste und effektivste Ausweg, eine
Bestrafung zu vermeiden, wäre dann, nichts zu wissen 49. Nur wenn die
Rolle des Täters von ihm die Kontrolle aller ihm bekannten Risiken verlange
wie z. B. im Falle des Vaters bezüglich des Lebens und der Gesundheit seines
Sohnes 50, könne der Erfolg dem Täter, der über Sonderwissen verfüge, zu-
gerechnet werden.
Hintergrund von alledem ist die besondere Auffassung von Jakobs über
die Funktion des Strafrechts. Für Jakobs bezweckt das Strafrecht nicht pri-
mär Rechtsgüterschutz 51, weshalb es nicht entscheidend darauf ankommt,
dass ein Verbot der Handlung des Biologiestudenten das Leben des Gastes
retten würde. Vielmehr bezweckten die strafrechtlichen Verbote, das zu
sichern, was Jakobs die normative Identität der Gesellschaft nennt 52. Die
Gesellschaft wird als eine Gesamtheit von Normen verstanden, die Grund-
lage dafür sind, die Welt zu interpretieren, sie mit Sinn zu erfüllen 53. So
macht das Tötungsverbot die naturalistische Tatsache, dass jemand einen
tötet, zu etwas Sinnerfülltem, nämlich zu einem Totschlag, einem Verbre-
chen. Eine Veränderung der Normen liefe auf die Veränderung der Gesell-

48 Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 284.


49 Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 284.
50 Der nach Jakobs Garant aus institutioneller Zuständigkeit – in der Terminologie der
h. M. Obhutsgarant – ist. Da die Relevanz der Sonderkenntnisse insoweit von nieman-
dem bestritten wird, geht es im folgenden nur um die Frage der Verantwortlichkeit der
Garanten aus Organisationszuständigkeit (so Jakobs) bzw. der Nicht- und Sicherungs-
garanten (so die h. M.) für ein Sonderwissen. – Über weitere Ausnahmen Jakobs, Ge-
dächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 286; ders., Allg. Teil (Anm. 45), 7/50 ff.; u.
III. 4. d.
51 Kritisch zur rechtgüterschützenden Aufgabe des Strafrechts Jakobs, Allg. Teil (Anm.
45), 2/1 ff.
52 Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843.
53 Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843, 847.

ZStW 117 (2005) Heft 3


528 Luís Greco

schaft, ihrer normativen Identität, hinaus. Eben deswegen gibt es nach


Jakobs Strafrecht: Das Verbrechen habe die Bedeutung, die Norm gelte
nicht; die Strafe widerspreche dieser Erklärung, denn ihre Bedeutung sei zu
behaupten, das Verbrechen gelte nicht; hierdurch werde die Norm bestätigt
und die gesellschaftliche Identität gesichert. Der Inbegriff der Normen, die
sich auf das Verhalten eines bestimmten Individuums richten, schafft nun
das, was Jakobs eine soziale Rolle nennt 54, z. B. die Rolle des Vaters, Beam-
ten, Autofahrers oder – allgemein – Bürgers. Da die soziale Rolle ein Bündel
von Normen zusammenfasst und die Gesellschaft durch Normen konstitu-
iert wird, läuft die Sicherung der normativen Identität der Gesellschaft auf
die Sicherung der bestehenden Rollen hinaus. Deswegen ist es im Beispiel
nicht entscheidend, ob der Biologiestudent das Leben des Gastes retten
könnte; das Strafrecht schützt nicht primär Rechtsgüter, sondern die norma-
tive Identität der Gesellschaft, das Einhalten der Rollen, die ihr zugrunde
liegen, und dem Studenten, der die Rolle des Kellners ausübte, ist kein Rol-
lenbruch vorzuwerfen.
d) Sowohl die finalistische Kritik als auch die Auffassung von Jakobs
sind nicht unwidersprochen geblieben, und (Gegen-) Kritik ist namentlich
von Roxin, Burkhardt, Frisch und Puppe geübt worden.
Um die Relevanz des Sonderwissens für die objektive Zurechnung zu
verteidigen, greift Roxin die These von Struensee an, der objektive Tatbe-
stand unterscheide sich vom subjektiven durch den andersartigen Gegen-
stand 55. Der objektive Tatbestand heiße „nicht deswegen objektiv, weil die
Zurechnung zu ihm auf ausschließlich objektiven Fakten basiert, sondern
deshalb, weil das Zurechnungsergebnis, die Feststellung einer Tötung, Ver-
letzung, Beschädigung usw. etwas Objektives und von der vorsätzlichen
Tötung, Verletzung, Beschädigung usw. zu unterscheiden ist“ 56. Weiterhin
argumentiert Roxin mit dem von ihm seit langem vorgebrachten methodolo-
gischen Argument, das System der Straftatlehre sei nicht klassifikatorisch
und kategorial zu bilden, sondern funktional 57: In einem funktionalen Sys-
tem sei die systematische Stellung eines Instituts nicht von seiner vermeint-
lichen „Natur“ abhängig, sondern von der kriminalpolitischen Aufgabe der
in Frage kommenden systematischen Kategorie 58.

54 Unter sozialer Rolle versteht er „ein System normativ definierter Positionen, die von
austauschbaren Personen besetzt werden“ (Imputación [Anm. 39], S. 97).
55 Roxin (Anm. 4), S. 250; Martinez Escamilla (Anm. 6), S. 89.
56 Roxin (Anm. 4), S. 250; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), S. 233.
57 Roxin (Anm. 4), S. 251.
58 Roxin, Festschrift für Honig, 1970, S. 146 ff., unter Verweis auf den Beitrag in: Ge-

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 529

Burkhardt schließt sich im Ausgangspunkt der Kritik von Struensee an,


die h. M. betreibe eine Begriffsverwirrung 59, und in ihr sei ein schwerwie-
gender Systemwiderspruch zu verzeichnen. Um ihm zu entgehen, will
Burkhardt den objektiven Tatbestand neu gestalten, indem er eine Abkehr
von der ex ante-Perspektive fordert, wie sie auf der Grundlage der persona-
len Unrechtslehre im Grunde einhellige Auffassung ist 60: Ob eine Handlung
riskant sei oder nicht, müsse aus einer ex post-Perspektive untersucht wer-
den 61. „Gegenstand von Vorsatz und Fahrlässigkeit … ist die Wirklichkeit
und nicht das, was ein ,abstrakter Mustermann‘ ex ante für die Wirklichkeit
hält“ 62. Fahrlässigkeit sei ein Problem des subjektiven Tatbestands, nämlich
Mangel an – wie es Engisch 63 nannte – innerer Sorgfalt. Innere Sorgfalt be-
zeichne die Pflicht, sich von einer bestimmten Tatsache Kenntnis zu ver-
schaffen 64. Da somit die objektive Maßfigur aus dem Unrecht verbannt
werde, verschwänden die Fragen des Sonderwissens von selbst; bedeutsam
sei nur, ob die Handlung wirklich und in ex post-Perspektive gefährlich ge-
wesen sei 65 und ob der Täter dies pflichtwidrig nicht gewusst habe. Diese
Auffassung verkürzt den objektiven Tatbestand letztlich auf die ex post fest-
gestellte Kausalität und kehrt somit an den Punkt zurück, an dem die Straf-
rechtswissenschaft war, bevor die Lehre von der objektiven Zurechnung
entwickelt wurde. Im Ergebnis unterscheidet sich die Auffassung von Burk-
hardt nur in hier nicht interessierenden Punkten 66 von der der Finalisten,
weshalb sie hier nicht weiter gewürdigt werden soll.

dächtnisschrift für Radbruch, 1968, S. 260 ff. S. zuvor die grundlegende Stellungnahme
in ders., Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, S. 15 ff., 42 f. und nun-
mehr (Anm. 2), § 7 Rdn. 51 ff., 77 ff.
59 Burkhardt, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im ge-
samten Strafrechtssystem, 1996, S. 99, 105 f.
60 Burkhardt (Anm. 59), S. 109 ff.
61 Burkhardt (Anm. 59), S. 117, S. 133.
62 Burkhardt (Anm. 59), S. 132.
63 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1964,
S. 269ff., und auch ders. (Anm. 11), S. 430 (Fn. 63).
64 Burkhardt (Anm. 59), S. 117 ff.
65 Natürlich muss diese Gefahr auch als rechtlich missbilligt bewertet werden: Burkhardt
(Anm. 59), S. 112, 117.
66 Insbesondere, was die Fahrlässigkeit als Verstoß gegen die innere und individuelle
Sorgfalt und die Stellung der Sorgfaltspflicht beim subjektiven Tatbestand angeht. Das
neue an Burkhardts Meinung erschöpft sich also im Bereich des subjektiven Tat-
bestands; uns geht es aber darum, den Inhalt des objektiven Tatbestands zu unter-
suchen.

ZStW 117 (2005) Heft 3


530 Luís Greco

Frisch unterstreicht, dass eine erst ex post eingreifende Norm ihre Funk-
tion als Verhaltensrichtlinie nicht erfüllen könne 67. Die Berücksichtigung
von Sonderkenntnissen bedeute keine Subjektivierung des Gefahrurteils, da
diese Kenntnisse auf eine objektive Wirklichkeit und etwas der Täterpsyche
Externes bezogen seien, das nur die Eigentümlichkeit aufweise, dem Täter
bekannt zu sein 68. Die Unterscheidung zwischen Objektivem und Subjekti-
vem habe grundsätzlich nur didaktischen Wert, so dass man sich darauf nicht
berufen dürfe, um konkrete Fragen zu lösen, wie es Burkhardt, Struensee
und andere täten 69; für die Lösung konkreter Fragen erwiesen sich vielmehr
wertende Erwägungen zur Struktur des Unrechtsbegriffs als maßgeblich 70.
Frisch kommt zu dem Ergebnis, das Gefahrurteil müsse entsprechend der
h. M. ex ante und auf Grundlage der von einer objektiven Maßfigur und vom
Täter erkannten Tatsachen gebildet werden; bei der Fahrlässigkeit müsse
dieses Urteil durch die individuelle Vermeidbarkeit als Unrechtsvoraus-
setzung ergänzt werden 71. Gegen den Einwand, die Berücksichtigung der
Sonderkenntnisse sei eine Frage des Vorsatzes, bringt Frisch vor, dass auch
Sonderkenntnisse, die nicht mehr aktuell seien, in die Gefahrprognose ein-
bezogen werden müssten 72.
Puppe schließlich hält Jakobs entgegen, dass, wenn zur Bestimmung eines
normativen Instituts wie des erlaubten Risikos auf eine andere normative
Größe wie die soziale Rolle zurückgreifen werde, ein regressus ad infinitum
drohe, weil man auch Regeln benötige, um die andere normative Größe zu
bestimmen 73. Die von Struensee und Burkhardt erhobenen Einwände hält
Puppe für rein systematisch; sie überschätzten die Möglichkeit einer Tren-
nung zwischen Objektivem und Subjektivem sowie ihren Erkenntniswert
für die Lösung konkreter Probleme 74.

67 Frisch, Straftat und Straftatsystem, in: Wolter/Freund (Anm. 59), S. 135, 175.
68 Frisch (Anm. 67), S. 183; auch ders., Imputación (Anm. 6), S. 57; ders., Festschrift für
Roxin (Anm. 6), S. 230. Etwas anders noch ders., Verhalten (Anm. 6), S. 41 (Fn. 158).
69 Frisch (Anm. 67), S. 185; ders., Festschrift für Roxin (Anm. 6), S. 231.
70 Frisch (Anm. 67), S. 187; ders., Festschrift für Roxin (Anm. 6), S. 231.
71 Frisch (Anm. 67), S. 194.
72 Frisch, Imputación (Anm. 6), S. 56; ders. Festschrift für Roxin (Anm. 6), S. 230. Ein
Beispiel wäre, dass der Täter die ihm zuvor bekannte Blutereigenschaft des Opfers ver-
gessen hatte, als er es mit tödlicher Folge leicht verletzte, was in concreto objektiv eine
lebensgefährliche Handlung war.
73 Puppe (Anm. 6), Vor § 13 Rdn. 145.
74 Puppe (Anm. 6), Vor § 13 Rdn. 145.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 531

2. Zusammenfassung
Bei Analyse der Meinungen ergeben sich vier Meinungsgruppen: Die erste,
nämlich die h. M., erklärt Sonderwissen für im Rahmen der objektiven Zu-
rechnung für beachtlich, auch wenn – mehr oder minder deutlich – zugege-
ben wird, das impliziere einen Systembruch. Die zweite Meinungsgruppe
der Finalisten hält Sonderwissen im Ergebnis gleichfalls für beachtlich, rügt
jedoch an der h. M. einen Systembruch, den sie dadurch beseitigen will, dass
sie die Lehre von der objektiven Zurechnung ganz verwirft und das Problem
im subjektiven Tatbestand ansiedelt. Die dritte, auf Jakobs zurückgehende
Meinungsgruppe sieht gleichfalls einen Systembruch darin, dass subjektives
Sonderwissen bei der objektiven Zurechnung beachtlich sein soll, zieht dar-
aus aber – unter Aufrechterhaltung der Lehre von der objektiven Zurech-
nung – den Schluss, dass Sonderwissen für die objektive Zurechnung im
Grundsatz unbeachtlich sei. Die vierte und letzte Meinungsgruppe, der Ver-
treter namentlich Roxin, Frisch und Puppe sind, schließlich nimmt an, die
allen drei zuvor genannten Meinungsgruppen gemeinsame These, es stelle
einen Systembruch dar, wenn bei der objektiven Zurechnung subjektives
Sonderwissen berücksichtigt werde, sei unrichtig; folgerichtig bestehen
keine Bedenken gegen die Relevanz des Sonderwissens für die objektive Zu-
rechnung.

III. Eigene Meinung

1. Definition des Sonderwissens


In der Literatur ist wenig geklärt, was unter Sonderwissen oder Sonder-
kenntnissen zu verstehen ist. Sonderwissen ist ein relationaler oder Bezugs-
Begriff und bezieht sich auf eine objektive Maßfigur, sei es der durchschnitt-
liche oder besonnene Mensch, der Sachkundige, der Angehörige des Ver-
kehrskreises des Täters o. ä. Über Sonderwissen verfügt, wer etwas weiß, das
die Maßfigur nicht weiß; Sonderkenntnisse sind Kenntnisse, die das über-
schreiten, was die Maßfigur kennt.
Mit dieser Nominaldefinition 75 wird zunächst bezweckt, eine Fallgruppe
zu bezeichnen, ohne ihr schon im voraus Lösungen aufzuzwingen. Obwohl
die Definition mit einem nichtempirischen Begriff, der objektiven Maßfigur,

75 Vgl. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 26 ff.

ZStW 117 (2005) Heft 3


532 Luís Greco

arbeitet, ist sie rein phänomenologischer, faktischer Natur und verweist


lediglich auf eine Gruppe von Fällen, bei denen der Täter mehr als eine ob-
jektive Maßfigur weiß. Sie bezieht sich ausschließlich auf Kenntnisse, d. h.
intellektuelle oder kognitive Gegebenheiten und erfasst andere psychische
Faktoren eher emotioneller Natur (wie Absichten, Motive und Gesinnun-
gen) nicht. Der Grund hierfür ist, dass die objektive Maßfigur gebildet wird,
um über das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein wirklicher Tatsachen zu
urteilen und in diesem Sinne kognitive (Tatsachen-) Urteile zu formulieren
(z. B.: „Die Handlung x ist gefährlich“; ob die Betrachtung der Handlung x
den Täter glücklich oder furchtsam macht, ist im Rahmen des Unrechts
prinzipiell unbeachtlich und selbst im Rahmen der Schuld nur in engen
Grenzen zu berücksichtigen). Unter Kenntnis oder Wissen wird hier nur die
zutreffende, mit der Wirklichkeit übereinstimmende Vorstellung verstan-
den 76; irrige Vorstellungen werden vom Begriff des Sonderwissens nicht er-
fasst 77. Der neutrale Begriff einer „objektiven Maßfigur“ – und nicht eines
besonnenen Menschens, Sachkundigen oder Angehörigen des Verkehrskrei-
ses des Täters usw. – wird verwendet, um die Frage, wie die Maßfigur zu bil-
den sei, auszuklammern; dieses Problem, so gewichtig und so wenig unter-
sucht es auch sein mag, sprengt das hier behandelte Thema 78. Weiterhin ist
zu bedenken, dass zwar auf der Ebene der objektiven Zurechnung weitge-
hende Übereinstimmung zu der in Frage kommenden Maßfigur, der beson-
nene Angehörige des Verkehrskreises des Täters 79, zu verzeichnen ist, ande-
res aber bei anderen prognostischen Begriffen wie die Notstandsgefahr
gilt 80. Die „objektive Maßfigur“ taugt als allen gemeinsamer Oberbegriff,
der die konkreteren Bestimmungen in sich aufnehmen kann.

76 Über die Bedeutung des Wortes Kenntnis in der Alltagsprache vgl. Frisch, Vorsatz
(Anm. 6), S. 164 ff.
77 Nimmt z. B. der Neffe irrtümlich an, es befinde sich eine Bombe in dem Flugzeug, das
sein Onkel auf seine Veranlassung besteigen will, dann liegt nach hier verwendeter Ter-
minologie kein Fall des Sonderwissens vor, sondern ein Problem der Irrtumsdogmatik
und des untauglichen Versuchs, das im subjektiven Tatbestand anzusiedeln ist und mit
der Frage, ob Sonderkenntnisse schon für den objektiven Tatbestand relevant sein kön-
nen, nicht vermengt werden sollte.
78 Grundlegend hierzu Kaminski (Anm. 6), S. 135 ff.
79 Statt aller Roxin (Anm. 2), § 11 Rdn. 35.
80 Insbesondere im Notstand wird die objektive Maßfigur unterschiedlich bestimmt:
Schaffstein, Festschrift für Bruns, 1978, S. 89, 102, spricht von einem über Sonderwissen
verfügenden Teilnehmer des Verkehrskreises bzw. Inhaber der sozialen Rolle des Täters;
zustimmend Maurach/Zipf (Anm. 6), § 27 Rdn. 15. – Jescheck/Weigend (Anm. 4),
S. 361, Fn. 35, sprechen von einem vernünftigen Beobachter ggf. mit Sonderwissen. –
Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 13/13 hält den „für die Konfliktlage der in Frage stehen

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 533

2. Reichweite des Problems des Sonderwissens


Das Problem des Sonderwissens beschränkt sich nicht auf den Fall des Nef-
fens, der über eine Bombe im Flugzeug unterrichtet ist, oder des Biologie-
studenten, der den, wie er erkennt, giftigen Salat serviert, und auch nicht auf
Fälle, die im Vorsatzfall eine Beihilfestrafbarkeit begründen würden 81. Viel-
mehr reicht das Spektrum möglicher Probleme weiter und erstreckt sich auf
das gesamte Unrecht, wenn dort mit prognostischen Begriffen gearbeitet
wird, die eine objektive Maßfigur in Bezug nehmen 82. So werden etwa die
Erforderlichkeit der Verteidigung bei der Notwehr 83 und das Vorhanden-
sein einer Gefahr beim rechtfertigenden Notstand 84 nach h. M. aus einer ex
ante-Perspektive begründet, so dass sich Konstellationen des Sonderwissens
als möglich erweisen. Aber auch bei der Schuld, wo sich die Frage des Son-
derwissens im Prinzip nicht stellt, weil hier stets der konkrete, individuelle
Täter betrachtet wird 85, können insbesondere beim entschuldigenden Not-
stand, der mit einem objektiven und ex ante bestimmten Gefahrbegriff ope-
riert, Fälle eines über Sonderwissen verfügenden Täters auftreten 86. Frei-
lich ist die hier vorgeschlagene Definition des Sonderwissens – wie gesagt –
rein phänomenologisch, und nicht normativ und trifft keine Aussage da-
rüber, ob alle erwähnten Fälle eine identische strafrechtliche Behandlung
verdienen. Jedenfalls beschränken sich die folgenden Erörterungen auf die
objektive Zurechnung, mögen sich die anderen Fälle auch darüber hinaus als
Richtschnur für die Entwicklung einer tragfähigen Lösung erweisen (s. u.
III. 7.).

den Art an sich (d. h., wenn sofortiger Entscheidungszwang fehlt) zuständigen Fach-
mann“ für maßgeblich; der Sache nach ähnlich Lackner/Kühl, StGB, § 24. Aufl. 2001,
§ 34 Rdn. 2; auch Hirsch, Festschrift für Kaufmann (Anm. 39), S. 552 u. 554 stellt auf
die Feststellbarkeit der Gefahr durch einen Fachmann ab. – Differenzierend Roxin
(Anm. 2), § 16 Rdn. 15: Jakobs sei zu folgen bei Situationen, die einen Fachmann ver-
langen, Schaffstein bei solchen, die keiner Fachkenntnisse bedürfen. – Eingehend zur
gesamten Diskussion Dimitratos, Das Begriffsmerkmal der Gefahr in den strafrecht-
lichen Notstandsbestimmungen, 1989, S. 150 ff., der sich im wesentlichen Roxin an-
schließt (S. 168ff.).
81 S. hierzu noch unten III. 7.
82 S. noch unten III. 7.
83 Vgl. unten Anm. 154.
84 Vgl. unten Anm. 155.
85 So ungeachtet des herrschenden „sozialen Schuldbegriffs“, der nicht auf das konkrete
Individuum abstellt (s. nur Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 428, mit Nachweisen),
Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746, 749 ff.
86 Vgl. unten Anm. 156.

ZStW 117 (2005) Heft 3


534 Luís Greco

3. Systembruch?
Ist es möglich, Sonderwissen und Sonderkenntnisse im definierten Sinne bei
einer sich objektiv nennenden Zurechnung ohne Systembruch zu berück-
sichtigen? Wie bereits gezeigt (s. o. II. 2.), scheint die ganz h. M. die Frage zu
verneinen, und nur eine Meinungsgruppe, der namentlich Roxin, Frisch und
Puppe zuzurechnen sind, bejaht sie. Wer hat recht?
Ausgangspunkt der Antwort muss die Einsicht sein, dass die Frage, ob
die Berücksichtigung subjektiver Elemente im objektiven Tatbestand einen
Systembruch darstellt, im wesentlichen methodologischen Charakter auf-
weist – wie es auch Roxin, Frisch und Puppe sehen, wenn sie bei ihrer
Antwort mit Überlegungen zur richtigen Methode der Systembildung im
Strafrecht argumentieren. Wenn unter System ein nach bestimmten Ge-
sichtspunkten geordnetes Ganzes zu verstehen ist 87, dann können diese
Gesichtspunkte, wie schon Radbruch bemerkte, zweierlei Natur sein: Ent-
weder sind sie auf den zu ordnenden Gegenstand bezogen; in diesem Falle
ergibt sich ein klassifikatorisches oder kategoriales System. Oder sie bezie-
hen sich auf den Zweck der Ordnung; dann entsteht ein teleologisches,
funktionales System 88. Für ein klassifikatorisches und kategoriales System
trifft es zu, dass nicht zur Disposition der Dogmatik steht, was objektiv und
was subjektiv ist 89. Für ein teleologisches oder funktionales System hin-
gegen hängt die Einordnung in den objektiven bzw. subjektiven Tatbestand
von der Funktion dieser Begriffe ab, von dem, was sie im System leisten
müssen. Das Problem entpuppt sich also als eines der Wahl zwischen einer
kategorialen, klassifikatorischen oder aber einer teleologischen, funktionalen
Systematik.
Dafür, dass eine teleologische, funktionale Systematik vorzugswürdig ist,
sei hier nur ein einziger Grund angegeben 90. Er bezieht sich auf den norma-
tiven Charakter der Rechtswissenschaft, deren Sätze nicht in deskriptiver,
sondern in präskriptiver Sprache formuliert werden und die nicht von einem

87 Näher Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1982,


S. 11; Schünemann, Einführung in das strafrechtliche Systemdenken, in: ders. (Hrsg.),
Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1 ff.
88 Vgl. auch Radbruch, Festgabe für von Frank, 1930, S. 158 ff., der bemerkt, dass katego-
riale und teleologische Systeme in der Rechtswissenschaft anscheinend zyklisch aufein-
anderfolgen.
89 So Hirsch, oben Anm. 36.
90 Weitere Gründe sind dargelegt bei Greco, Revista Brasileira de Ciências Criminais 32
(2000), S. 131ff.; ders. (Anm. 13), S. 62 ff.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 535

Sein, sondern von einem Sollen handeln. Und nur aus einem teleologischen
System lassen sich Sätze in präskriptiver Sprache ableiten, denn ein Sollen
kann nur aus einem Sollen folgen. Demgegenüber hat eine klassifikatorische
Systematik lediglich didaktischen Wert, weil aus ihr nie Sätze in präskripti-
ver Sprache und Lösungen für konkrete Probleme abgeleitet werden können
und ein Sollen nicht aus einer zufälligen Auflistung der Begriffe innerhalb
eines solchen Systems folgen kann. Gewiss erscheint eine klassifikatorische
Bestimmung des objektiven Tatbestands – z. B. als des Teils des Tatbestandes,
der umfasst, was außerhalb der Täterpsyche liegt – möglich; hieraus kann
aber nicht gefolgert werden, dass subjektives Sonderwissen im objektiven
Tatbestand keinerlei normative Relevanz habe. Eine solche Argumentation
setzt vielmehr normative Prämissen voraus, die nur dann zum Vorschein
kommen werden, wenn das System teleologisch aufgebaut wird. Wenn
Struensee und Burkhardt versuchen, Systeme zu bilden, welche Sonderwis-
sen bruchlos berücksichtigen können, ist nicht zu verkennen, dass die Argu-
mentation zirkelhaften Charakter hat und die maßgebliche Wertung mit kon-
struktiven und formellen Argumenten verdeckt wird. Das Ergebnis, mit
Sonderwissen vorgenommene Handlungen seien zu bestrafen, überzeugt
nur, wenn das Werturteil lautet, dass solche Fälle Strafe verdienen – was aber
von den genannten Autoren weder explizit gemacht noch begründet wird.
Ein funktionales System hingegen wird mit der Wertung beginnen und sich
erst danach mit der Systembildung befassen, die richtig ist, wenn sie den
Vorgaben der ihr vorausgehenden Wertung entspricht. Zusammengefasst:
Ein klassifikatorisches System behauptet, von deskriptiven Prämissen aus-
zugehen, um präskriptive Ergebnisse zu erzielen, was entweder ein logischer
Fehler oder ein Mangel an Transparenz bezüglich der maßgeblichen Wer-
tungen oder beides zusammen ist; ein teleologisches System geht von prä-
skriptiven Prämissen aus, um zu präskriptiven Ergebnissen zu gelangen, was
ein Gebot sowohl der Logik als auch der Transparenz ist.
Derartige Erwägungen haben auch außerhalb des Kreises derer, die sich
ausdrücklich „Funktionalisten“ nennen, Anerkennung gefunden 91, und im
Grunde wird – abgesehen von der kleinen Gruppe der Finalisten – nur ver-
einzelt bestritten, dass das Strafrechtssystem teleologisch zu bilden sei 92.

91 Vgl. z. B. die grundlegende Abhandlung von Gallas, ZStW 67 (1955), S. 1, 47, und heut-
zutage Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 197.
92 So anscheinend Lenckner, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), Vorb. §§ 13 ff. Rdn. 22, oder
Hruschka, Strafrecht, 2. Aufl. 1988, S. XXI.

ZStW 117 (2005) Heft 3


536 Luís Greco

Die Diskussion kann deswegen nicht mehr das „Ob“, sondern nur noch
das „Wie“ der maßgeblichen Zwecke und Wertungen betreffen: Was ist
Telos des teleologischen Systems? Hier trennen sich die Wege. Einige
Autoren gehen von einer soziologischen Theorie sozialer Systeme aus 93, an-
dere von der Gedankenwelt des deutschen Idealismus 94, andere von ei-
ner Analytik der Strukturen der Sprache 95, und wieder andere schließ-
lich von der Kriminalpolitik 96. Wie an anderer Stelle bereits darge-

93 So namentlich Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 9 ff. (noch in Distanz zu Hegel,
s. S. 4 in Fn. 5); ders., Allg. Teil (Anm. 45), 1/4 ff. (bereits in Nähe zu Hegel, § 1/21).
94 Vgl. E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786, 806 ff.; Köhler (Anm. 6), S. 9 ff.; Zaczyk, Das
Unrecht der versuchten Tat, 1989 S. 128 ff.; Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeits-
zusammenhanges bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990 S. 269 ff.; Jakobs,
Handlungsbegriff (Anm. 44), S. 41, und ZStW 107 (1995), S. 843, 844; Lesch, JA 1994,
590, 597ff.; ders., Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 175ff.; Frisch (Anm. 67), S. 145 ff.
Krit. Stratenwerth, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 373, 380.
95 Z. B. Hruschka (Anm. 92), S. XIII ff.
96 So grundlegend Roxin, Kriminalpolitik (Anm. 53), S. 15; ders. (Anm. 2), § 7 Rdn. 51 ff.;
ders., Festschrift für Kaiser, 1998, S. 885 ff.; ders., Strafrechtsdogmatik, S. 31ff.; Schüne-
mann (Anm. 87), S. 45 ff.; ders., Festschrift für Roxin, 2001, S. 1, 23ff.; Rudolphi, Der
Zweck staatlichen Strafens und die strafrechtlichen Zurechnungsformen, in: Schüne-
mann (Anm. 87), S. 69 ff.; Amelung, Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtsy-
stems von Roxin, in: Schünemann (Anm. 87), S. 85, 87; Achenbach, Individuelle Zu-
rechnung, Verantwortlichkeit, Schuld, in: Schünemann (Anm. 87), S. 135, 140; Stein,
Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 56 ff.; Wolter, Menschenrechte
(Anm. 6), S. 31. – S. aus der spanischen Lehre Muñoz Conde, Introducción al derecho
penal, 1975, S. 182 ff.; Mir Puig, Función de la pena y teoría del delito en el estado social
y democrático de derecho, in: El derecho penal (Anm. 6), S. 29, 45; ders., Das Straf-
rechtssystem im heutigen Europa, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Anm. 6), S. 35, 36;
Silva-Sánchez, Aproximación al derecho penal contemporâneo, 1992, S. 362 ff.; ders.,
Kriminalpolitik bei der Strafrechtsdogmatik: Einige Bemerkungen zu Inhalt und Gren-
zen. Zugleich ein Beitrag zu Ehren von Claus Roxin, in: Schünemann (Hrsg.), Straf-
rechtssystem und Betrug, 2002, S. 1, 3 ff.; Carbonell Mateu, Derecho penal, S. 230;
García-Pablos, Derecho Penal, Introducción, 2000, S. 536. – Aus der italienischen
Lehre Moccia, Il diritto penale tra essere e valore, 1992, S. 26 ff.; ders., Die systema-
tische Funktion der Kriminalpolitik. Normative Grundsätze eines teleologisch orien-
tierten Strafrechtssystems, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Anm. 6), S. 45 ff.; Cava-
liere, L’errore sulle scriminanti nella teoria dell’illecito penale, 2000, S. 349 ff. – Aus der
portugiesischen Lehre Costa Andrade, Strafwürdigkeit und Strafberdürftigkeit als
Referenzen einer zweckrationalen Verbrechenslehre, in: Schünemann/Figueiredo Dias
(Anm. 6), S. 121 ff.; Sousa e Brito, Etablierung des Strafrechtssystems zwischen forma-
ler Begriffsjurisprudenz und funktionalistischer Auflösung, in: Schünemann/Figuei-
redo Dias (Anm. 6), S. 72. Aus der brasilianischen Lehre Greco, RBCC 32 (2000),
S. 131ff.; ders. (Anm. 13), S. 62 ff.; Guedes de Paula, Prescrição penal – Prescrição fun-
cionalista, 2000, S. 180 ff.; Queiroz, Para uma configuração monista-funcional da teoria
do delito, in: Calhau (Hrsg.), Estudos Jurídicos – Homenagem ao Promotor Cléber
Rodrigues, 2000, S. 36 ff.; ders., Direito Penal, Introdução crítica, 2001, S. 86ff.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 537

legt 97, ist der zuletzt genannte Weg vorzugswürdig. Die Entscheidung über
die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens ist vor allem eine politische
Entscheidung, die die konkret in Frage kommenden Interessen und die vom
Gesetzgeber getroffenen Wertungen berücksichtigen muss. „Aus alledem
wird klar, dass der richtige Weg nur darin bestehen kann, die kriminalpoli-
tischen Wertentscheidungen in das System des Strafrechts … eingehen zu
lassen“ 98.
Für die Ausgangsfrage ergibt sich hieraus, dass subjektive Gegebenheiten
in den objektiven Tatbestand einbezogen werden können, soweit sie sich für
die ihm zugewiesene kriminalpolitische Aufgabe als relevant erweisen.
Zweck des objektiven Tatbestands ist die abstrakte 99 Bestimmung der Gren-
zen des Erlaubten bzw. Verbotenen: bis zu welchem Punkt die äußere Frei-
heit eines jeden Bürgers reicht bzw. an welchem Punkt sie endet 100. Die
externe, vom Täterspychischen unabhängige Perspektive des objektiven Tat-
bestandes ist erst das Ergebnis der Zurechnung zu ihm: Die objektiv tat-
bestandsmäßige Handlung ist immer eine in ihrer äußerlichen Dimension
verbotene Handlung, unabhängig vom Vorliegen irgendeiner psychischen
Gegebenheit und insbesondere des Vorsatzes. Aber subjektive Gegebenhei-
ten können sehr wohl als Voraussetzungen dieser Zurechnung für relevant
gehalten werden, und zwar immer dann, wenn es notwendig und legitim ist,
auf Kenntnisse und andere subjektive Gegebenheiten zuzugreifen, um die
Grenzen des äußerlich Verbotenen und Erlaubten zu bestimmen. Übrigens
gilt auch umgekehrt, dass objektive Gegebenheiten für den subjektiven Tat-
bestand relevant sein können; so sind die Größe der Gefahr 101 oder der Wert
des gefährdeten Guts 102 als wesentliche Kriterien für die Unterscheidung

97 Vgl. meine in der letzten Anm. zitierten Beiträge.


98 Roxin, Kriminalpolitik (Anm. 53), S. 10.
99 Die konkrete Grenzbestimmung erfolgt erst bei der Rechtswidrigkeit, wo die konkret
in Betracht kommenden Interessen abgewogen und bewertet werden.
100 Die Funktion des Tatbestands wird üblicherweise (z. B. Roxin (Anm. 2), § 7 Rdn. 55)
diskutiert, ohne dass man nach dem objektiven und subjektivem Tatbestand differen-
ziert. Für eine Differenzierung spricht, dass die Bemühungen, die Lösung vieler Prob-
leme vom subjektiven in den objektiven Tatbestand zu verlangern, nur Sinn machen,
wenn von einer eingenständigen Funktion des objektiven Tatbestands ausgegangen
wird.
101 So bereits Müller (Anm. 8), S. 45 f.; vgl. aus neuerer Zeit BGHSt. 36, 10.
102 Vgl. BGHSt. 36, 15 mit Nachw.: Bei Delikten gegen das Rechtsgut Leben besteht eine
höhere Hemmschwelle für den Vorsatz als bei Delikten gegen weniger wichtige Recht-
güter.

ZStW 117 (2005) Heft 3


538 Luís Greco

zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit allgemein aner-


kannt 103. Pragmatischer und konkreter gesagt: Alles, was gemeinsame Vor-
aussetzung sowohl der Vorsatz- wie der Fahrlässigkeitszurechnung ist, ist
Voraussetzung des objektiven Tatbestands. Der Sinn eines solchen dem Vor-
satz vorgelagerten Begriffs erwächst daraus, dass die Normen nicht nur die
vorsätzliche Verursachung eines Verletzungserfolgs verbieten, sondern schon
die unerlaubte Schaffung einer diesbezüglichen Gefahr. So erweist sich das
von Struensee formulierte und von vielen befürwortete Argument der Be-
griffsverwirrung als verfehlt und die schon seit langem darauf gegebene Ant-
wort Roxins als grundsätzlich korrekt 104.

4. Irrelevanz des Sonderwissens für das Gefahrurteil? – Kritik an Jakobs


Dass es in einem teleologischen, funktionalen System möglich ist, subjektive
Gegebenheiten als Voraussetzungen der Zurechnung zum objektiven Tatbe-
stand anzusehen, heißt noch nicht, dass Teleologie und Funktion des Straf-
rechts dies gebieten. Die Lehre von der objektiven Zurechnung arbeitet mit
einem im Grundsatz von der Täterpsyche unabhängigen Begriff: der Gefahr,
die im Ausgangspunkt als in der ex ante-Perspektive einer objektiven Maß-
figur bestimmte Möglichkeit einer Verletzung begriffen wird. Die Auffas-
sung, dass es dabei sein Bewenden haben müsse und es teleologisch und
funktional nicht geboten sei, das Gefahrurteil (auch) von subjektiven Ge-
gebenheiten und insbesondere Sonderwissen abhängig zu machen, vertritt
insbesondere Jakobs (s. bereits oben II. 1. c).
a) Für Jakobs besteht der Zweck des Strafrecht nicht primär im Rechts-
güterschutz, sondern in der Sicherung der normativen Identität der Gesell-
schaft durch die Garantie der Einhaltung sozialer Rollen. Daraus folgt ein
Gefahrbegriff, der nicht auf das Täterwissen, sondern nur auf die Täterrolle
abstellt, und Sonderkenntnisse sind bei der objektiven Zurechnung grund-
sätzlich unbeachtlich. Aber weder die Prämisse noch die Konsequenz über-
zeugen.
Wird die Theorie von Jakobs als beschreibende (deskriptive) Theorie ver-
standen, die dazu dient, empirische Wirkungen des Strafrechts zu erklären,
und danach fragt, welche empirischen Folgen strafrechtliche Verbote und

103 Vgl. ferner BGHSt. 36, 10: „Geboten ist somit eine Gesamtschau aller objektiven und
subjektiven Tatumstände“.
104 Vgl. die Nachweise oben Anm. 55 ff.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 539

Strafen haben 105, so erscheint sie in hohem Maße plausibel. Insbesondere ist
es plausibel, dass das Strafrecht mit den strafbewehrten Verboten von Hand-
lungen die maßgeblichen interpretativen Muster liefert zu beurteilen, ob eine
Straftat vorliegt oder nicht. Auch spricht wenig gegen die These, die Strafe
bewirke106 die Stärkung oder Wiederbehauptung der Geltung der gebroche-
nen Norm und sichere dadurch das Überleben eines bestimmten (d. h. eines
sich auf bestimmte Normen gründenden) Gesellschaftsmodells. Freilich ist
zu bemerken, dass auch andere beschreibende (deskriptive) Interpretationen
des deliktischen Geschehens und der strafrechtlichen Reaktion möglich
sind, die sich weniger an kommunikative Faktoren anlehnen, als es Jakobs
tut. So würde ein konflikttheoretischer Ansatz vor allem die vorhandenen
Machtdimensionen hervorheben 107; oder ein psychoanalytischer Ansatz
würde vor allem das Unbewusste sowohl des Straftäters als auch der strafen-
den Gesellschaften analysieren, um die verborgenen Motive für das Verhal-
ten beider zu beleuchten 108. Als beschreibende (deskriptive) Modelle sind
alle diese Theorien plausibel und machen auf unterschiedliche Dimensionen
der Wirklichkeit aufmerksam. Aber das normative Problem, wie der Begriff
der Gefahr zu bestimmen ist, kann nicht auf der Grundlage einer beschrei-
benden (deskriptiven) Theorie gelöst werden, weil einen naturalistischen
Fehlschluss beginge, wer aus einem Sein auf ein Sollen schlösse. Selbst wenn
das Strafrecht empirisch die für eine Gesellschaft grundlegenden Normen
und Rollen sichern, die in ihr vorhandenen Machtverhältnisse widerspiegeln
oder als Stellvertreter für die disziplinierende Figur des Vaters wirken
würde, so ließe sich daraus nie folgern, das Strafrecht solle Strafen aufer-
legen, um Normen und Rollen zu sichern, Herrschaftsverhältnisse zu erhal-
ten oder die Figur des Vaters zu vertreten.
Freilich lässt sich die Theorie von Jakobs möglicherweise normativ als
Erklärung darüber verstehen, wie das Strafrecht sein sollte, nämlich Mittel

105 Dass Jakobs seine Lehre als deskriptiv versteht, wird in Das Schuldprinzip, 1993, S. 30;
ders., ZStW 107 (1995), S. 843, 848 (Fn. 10) nahegelegt.
106 In neuerer Zeit spricht Jakobs eher davon, Strafe habe „die Bedeutung“ der Bestätigung
sozialer Identität; s. nur ders., ZStW 107 (1995), S. 843, 845 (die Bestätigung sozialer
Identität „ist nicht Folge des Verfahrens, sondern seine Bedeutung“); ders., Das Selbst-
verständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart
(Kommentar), in: Eser u. a. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahr-
tausendwende, 2000, S. 47, 49.
107 So z. B. Richard Quinney, The social reality of crime, 1970 (Nachdruck 2001), S. 9 ff.
108 Z. B. Fromm, The state as educator: on the psychology of criminal justice, in: Ander-
son/Quinney (Hrsg.), Erich Fromm and critical criminology, 2000 (urspr. 1930), S. 123,
126.

ZStW 117 (2005) Heft 3


540 Luís Greco

zur Sicherung der normativen Identität einer Gesellschaft. Dann aber wäre
sie nicht mehr plausibel, weil erst zu begründen wäre, warum die normative
Identität einer Gesellschaft für sich ein Wert ist: Ist eine Gesellschaft allein
deshalb ein Wert, wenn sie sie selbst ist? Ist es nicht möglich, dass es Ver-
änderungen einer gegebenen Gesellschaft zum Besseren gibt? Und wenn die
Straftat nur ein von der bestehenden Welt abweichender Weltentwurf ist,
warum ist dieser dann so unerwünscht, dass darauf mit Strafe reagiert wer-
den muss? Eine normative Theorie des Strafrechts, die Bedingungen dafür
benennt, dass Verbote und Strafen sich als gerechtfertigt erweisen, kann auf
die Idee des Rechtsguts nicht verzichten. Nur wenn etwas für die persönliche
Verwirklichung des Bürgers Notwendiges 109 und deshalb Wertvolles verletzt
oder gefährdet wird, ist es gerechtfertigt oder zumindest nicht von vorn-
herein ungerecht, mit den Mitteln des Strafrechts in die Freiheit der Bürger
einzugreifen. Ob man nach der Straftat in einer anderen Gesellschaft lebt
oder nicht, erscheint demgegenüber unerheblich.
Derartige Einwände gegen die Prämisse, Strafrecht habe die normative
Identität der Gesellschaft zu sichern, richten sich auch gegen die von Jakobs
behauptete Konsequenz, die objektive Zurechnung sei im Bruch einer sozia-
len Rolle zu fundieren. Ob das Täter getan (oder nicht getan) hat, was andere
von ihm als Rollenträger erwarten, ist für ein dem Rechtsgüterschutz ver-
pflichtetes Strafrecht unerheblich. Dieses konstituiert zwar gleichfalls be-
stimmte strafrechtserhebliche Rollen, die aber nur insoweit durch Strafe
gesichert werden dürfen, als dies dem Rechtsgüterschutz dient. Dem Bür-
ger soziale Rollen im Sinne von Verhaltensrichtlinien aufzuzwingen, deren
Bruch eine Strafe ohne weiteres rechtfertigen würde, liefe demgegenüber
auf die Anerkennung einer disziplinären Gewalt 110 hinaus, die von einem
Rechtstaat, der nicht Polizeistaat sein will, nicht legitim ausgeübt werden
kann.
b) Seine Auffassung, Sonderkenntnisse seien für die objektive Zurech-
nung irrelevant, stützt Jakobs freilich noch auf einen weiteren, sachlich un-
abhängigen Grund: das Prinzip cogitationis poenam nemo patitur. In der Tat
fragt sich, ob ein objektiv an sich unbedenkliches, an sich rechtmäßiges Ver-

109 Ob dieser Individualbezug eher direkt (so insbesondere die Vertreter der sog. persona-
len Rechtsgutslehre wie Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, in:
Scholler/Philips [Hrsg.], Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85ff.; Hohmann, Das
Rechtsgut der Umweltdelikte, 1990, S. 177 ff.) oder eher indirekt zu verstehen ist (z. B.
Roxin (Anm. 2), § 2 Rdn. 9), kann vorliegend offen bleiben.
110 Vgl. Foucault, Surveiller et punir, 1975, S. 135 ff.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 541

halten allein deshalb anstößig, rechtswidrig und verboten sein kann, weil zu-
fälligerweise ein bestimmtes subjektives Sonderwissen vorhanden ist: Würde
dies nicht bedeuten, dass Gedanken, also Umstände, die allein der Privat-
sphäre des Bürgers zuzurechnen sind und auf die das Strafrecht nicht legitim
zugreifen darf, bestraft würden? Die Richtung unserer Antwort lässt sich
durch eine Variante eines ursprünglich von Nowakowski gebildeten Bei-
spielsfalles 111 andeuten: Der Täter fordert die Mutter, deren Kind über Kopf-
schmerzen klagt, dazu auf, dem Kind Kopfschmerzpulver zu geben, und
zeigt dabei auf ein Fläschchen mit dem Etikett „Kopfschmerzpulver“, das
aber, wie der Täter aus Zufall weiß, Gift enthält. Das Kind stirbt an dem Gift,
das ihm die gutglaubige Mutter als vermeintliches Kopfschmerzpulver ver-
abreicht. Hier hat der Täter an sich objektiv getan, was jeder andere an seiner
Stelle getan hätte und hätte tun dürfen, nämlich der Mutter vorzuschlagen,
dem Kind Kopfschmerzpulver zu geben, und sie auf das Fläschchen mit dem
(vermeintlichen) Kopfschmerzpulver hinzuweisen. Das einzige, was den Tä-
ter von dem straflosen Jedermann unterscheidet, ist sein zufälliges Sonder-
wissen. Muss es für die objektive Zurechnung außer acht gelassen werden
und darf der Täter allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft wer-
den, oder würde nicht so ein heimtückischer Mord bagatellisiert?
Für eine befriedigende Antwort muss die Frage nach der Reichweite des
bislang wenig untersuchten 112 Prinzips cogitationis poenam nemo patitur
aufgeworfen werden, ob es auf alle subjektiven Gegebenheiten anzuwenden
ist oder ob es einer Differenzierung bedarf. In der Tat ist das Prinzip nicht
auf kognitive, sondern nur auf hier so genannte emotionelle oder opinative
subjektive Gegebenheiten anwendbar. Kognitive subjektive Gegebenheiten
sind solche, die sich auf einen bestimmten Zustand der wirklichen Welt be-
ziehen (im Beispielsfall das Wissen des Täters, dass sich in dem Fläschchen
Gift befindet), emotionelle solche, die sich auf Willen, Gesinnungen oder
Gefühle des Täters beziehen (im Beispielsfall hasse der Täter die Mutter des
Kindes und wünsche dem Kind den Tod), und opinative solche, die sich auf
Meinungen oder Bekenntnisse beziehen (im Beispielsfall sei der Täter Anar-

111 Nowakowski, JZ 1956, 545, 549. – Ähnlich der Beispielsfall bei Jescheck/Weigend
(Anm. 4), S. 666: A bestimmt den nichtsahnenden B, ein Kabel mit tödlicher elektri-
scher Spannung zu berühren; der Fall könnte dahin ergänzt werden, dass die von dem
Kabel ausgehende Lebensgefahr auch für eine objektive Maßfigur nicht erkennbar ist.
112 S. aber Stechmann, Entwicklung und Bedeutung des Satzes „cogitationis poenam nemo
patitur“, 1979.

ZStW 117 (2005) Heft 3


542 Luís Greco

chist) 113. Opinative subjektive Gegebenheiten dürften der Hauptanwen-


dungsfall des Prinzips cogitationis poenam nemo patitur sein, das verbietet,
jemanden aufgrund von Meinungen oder Bekenntnissen zu bestrafen 114.
Dass aber kognitive subjektive Gegebenheiten mit dem Prinzip nichts zu tun
haben, erklärt sich daraus, dass Kenntnisse über Tatsachen nur scheinbar der
internen Sphäre des einzelnen angehören. Denn einerseits beziehen sie sich –
im Unterschied zu Gefühlen oder Meinungen – auf die äußere (externe) und
reale (objektive) Welt 115, in der der Täter nicht allein ist. Andererseits hän-
gen, wie bereits Bacon 116 erkannte, Wissen und Können miteinander zusam-
men: Wer mehr weiß, kann auch mehr – und deswegen soll er auch mehr 117.
Daher kann das Recht bei der Verteilung der Freiheitssphären nicht von den
Kenntnissen der Rechtsunterworfenen abstrahieren 118. Überlegenes Kön-
nen infolge überlegenen Wissens ist nicht nur etwas Subjektives und Inner-
psychisches, sondern etwas Objektives und Externes, das vom Recht be-
rücksichtigt werden kann und soll, ohne dass argumentiert werden könnte,
man bestrafe Gedanken. Daher steht der Satz cogitationis poenam nemo pa-
titur der Berücksichtigung von Sonderwissen nicht entgegen.
c) Sodann meint Jakobs, dass es widersprüchlich sei, eine Rechtspflicht
zu statuieren, Sonderwissen zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen
einzusetzen, wenn eine Rechtspflicht, dieses Wissen zu erwerben, nicht be-
stehe; dann sei der leichteste Weg, der Verantwortlichkeit zu entgegen,
nichts zu wissen, und eine solche Wirkung könne eine Norm nicht bezwe-
cken. Diese Argumentation enthält ein logisches Argument (Widerspruch

113 Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine subjektive Gegebenheit zugleich kognitiv und
emotionell oder opinativ sein kann wie z. B. beim dolus directus ersten Grades (Ab-
sicht im technischen Sinne), wo der tatbestandliche Erfolg als Endzweck des Täters so-
wohl eine kognitive als auch eine emotionelle Komponente hat. Ist eine kognitive
Komponente gegeben, ist das Prinzip cogitationis poenam nemo patitur nicht anwend-
bar, weil man sich andernfalls in seinen Schutzbereich begeben könnte, indem man mit
dolus directus ersten Grades handelt bzw. dies behauptet.
114 Vgl. auch Art. 4 und 5 GG.
115 Was auch von Frisch (Anm. 67), S. 183, hervorgehoben wird.
116 Vgl. dazu Röd, Der Weg der Philosophie I, 2000, S. 452.
117 Ähnlich die parallele Diskussion zur Relevanz der sog. Sonderfähigkeiten beim Fahr-
lässigkeitsdelikt, vgl. Roxin (Anm. 2), § 24 Rdn. 54 ff.
118 So bestreitet bei der strafrechtlichen Produkthaftung niemand, dass die überlegenen
Kenntnisse des Produzenten ihm besondere Pflichten gegenüber dem Verbraucher auf-
erlegen; vgl. Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989, S. 95 ff.; spe-
ziell zur Relevanz des Sonderwissens in diesem Bereich ders., 50 Jahre Bundesgerichts-
hof – Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, S. 647, 662.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 543

der Pflichten) und ein Folgenargument (unerwünschte Belohnung und För-


derung des Nichtwissens), die getrennt zu erörtern sind.
Es ist nicht widersprüchlich, jemanden zum Einsatz von zufällig vorhan-
denem Sonderwissen zu verpflichten, das zu erlangen er nicht verpflichtet
war. Rechtspflichten müssen nicht stets auf Rechtspflichten beruhen, son-
dern können u. a. durch erlaubtes Verhalten ausgelöst werden. So ist zwar
niemand verpflichtet, einen Hund zu halten; wer es aber erlaubterweise tut,
ist verpflichtet, Gefahren zu vermeiden, die von dem Hund ausgehen – was
niemand mit dem Argument bestreitet, es würde so belohnt und gefördert,
sich keinen Hund anzuschaffen. Jakobs selbst spricht von einem Synallagma
zwischen Handlungsfreiheit und Folgenverantwortung 119: Wer seine Frei-
heit in eine bestimmte Richtung erweitern will, muss sich auch für eventuell
daraus erwachsende Folgen verantworten. Entsprechendes gilt bei Sonder-
wissen, gleich, ob es zufällig erworben ist oder nicht: Wer, auch durch Zufall,
mehr weiß als andere, kann auch mehr; sein Mehr an Wissen läuft auf ein
Mehr an Handlungsmöglichkeiten und Freiheit hinaus, das auch ein Mehr
an Verantwortlichkeit mit sich bringen muss.
Nicht überzeugend ist auch das Folgenargument, es sei dysfunktional,
Sonderwissen nachteilig zu berücksichtigen und so Nichtwissen zu beloh-
nen. Eine willentliche Entscheidung, nichts zu wissen, ist nur denkbar, wenn
die Möglichkeit dessen, was gewusst werden kann, erkannt worden ist; dann
aber entgeht der Täter nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, und
von einer „Belohnung“ des Nichtwissens kann nicht wirklich die Rede sein.
Erkennt der Täter im Beispielsfall die Möglichkeit, dass sich in dem Fläsch-
chen Gift befindet, und verdrängt er dieses Wissen, so begründet das zumin-
dest den Vorwurf der bewussten Fahrlässigkeit. Wenn der Täter aber wirk-
lich nicht weiß, was er wissen muss, um sich strafbar zu machen, dann kann
und muss er nicht erst zum Nichtwissen motiviert werden. Hat der Täter im
Beispielsfall keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass sich in dem Fläschchen Gift
befinden könnte, dann ist er so oder so straflos. Sonderwissen zu berück-
sichtigen, bedeutet also nicht, Nichtwissen zu belohnen, sondern nur, dass
die mit überlegenem Wissen einhergehende überlegene Macht zur Verant-
wortung gezogen wird.
d) Schließlich enthält die Auffassung von Jakobs eine Ausnahme, die die
Regel als fragwürdig erscheinen lässt, und führt in einer von Jakobs nicht
erörterten Konstellation zu einem unvertretbaren Ergebnis.

119 Z. B. Jakobs, La omisión: estado de la cuéstion, in: Silva Sánchez (Anm. 6), S. 129, 133;
ihm folgend Sanchez-Vera (Anm. 42), S. 115.

ZStW 117 (2005) Heft 3


544 Luís Greco

Als Variante zu dem Beispielsfall des Biologiestudenten, der kraft Son-


derwissens erkennt, dass der von ihm zu servierende Salat giftig ist, bildet
Jakobs den Fall, dass der Student sich entschließt, den Salat einem anderen
Gast zu servieren als dem, der ihn bestellt hatte und dem er zu servieren war.
Dann sei wegen Tötung (und nicht nur wegen unterlassener Hilfeleistung)
zu bestrafen, weil niemand sein Sonderwissen zu Lasten des Opfers ausnut-
zen dürfe 120. Worin der Unterschied zum Ausgangsfall besteht, ist aber
nicht recht einsichtig 121. Zwar könnte argumentiert werden, in der Variante
habe der Biologiestudent mit seiner Rolle als Kellner gebrochen, da ein Kell-
ner die Mahlzeit nur dem servieren dürfe, der sie bestellt habe 122. Jedoch
wäre zu bedenken, dass es Restaurants gibt, die ihren Gästen aus Gast-
freundschaft unbestellte Vorspeisen, Nachtische oder Getränke servieren –
hätte dann der Biologiestudent die Erlaubnis, den giftigen Salat jedem belie-
bigen Gast zu servieren? Und wie wäre es, wenn der Student den erkannter-
maßen giftigen Salat irrtümlich einem anderen Gast als dem Besteller servie-
ren würde? Hinter derartigen Einzelfragen steht die Grundsatzfrage, ob der
strafrechtliche Lebensschutz von Zufälligkeiten abhängen soll, die nur in
lockerer Verbindung mit der sozialen Rolle des Täters stehen und mit dem
geschützten Rechtsgut nichts zu tun haben.
Von Jakobs nicht behandelt wird die Konstellation, dass der Täter über
ein Sonderwissen verfügt, dass ihm die Einsicht ermöglicht, dass eine Gefahr
nicht vorhanden ist. Um den Beispielsfall erneut zu variieren: Angenommen,
der Koch wolle den Gast vergiften, verwende für den Salat einen von ihm
irrig für giftig gehaltenen Pilz, übergebe dem Biologiestudenten den Salattel-
ler mit den Worten: „Dieser Pilz ist hochgiftig!“; kraft seines Sonderwissens
erkenne der Biologiestudent, dass der Pilz ungiftig und im Gegenteil äußerst
wohlschmeckend ist, weshalb der den Salat nicht dem Gast, sondern einem
zufällig im Restaurant anwesenden Freund serviere: Wenn die objektive Zu-
rechnung durch den Bruch einer sozialen Rolle begründet wird – hier das
Servieren des Salats an den Freund statt an den Gast – und Sonderkenntnisse

120 Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 7/50: „Bringt der Täter von sich aus das Sonderwissen in
die Beziehung zum Opfer ein, gehört das Wissen damit zu der Rolle, die diese Bezie-
hung prägt, auch wenn der Täter an sich zur Berücksichtigung des Sonderwissens nicht
verpflichtet wäre. Es ist also ausgeschlossen, dass ein Täter, der ein Sonderwissen nicht
zugunsten des Opfers berücksichtigen muss, es zu Lasten des Opfers ausnutzt“; s. auch
ders., Festschrift für Hirsch, 1999, S. 56 (Fn. 42).
121 Krit. auch Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch,
1995, S. 245 (Fn. 28).
122 In diesem Sinne wohl Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 7/50.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 545

des Täters keine Rolle spielen, dann müsste man hier von einer Strafbarkeit
des Studenten wegen eines versuchten Tötungsdelikts ausgehen 123. Das Er-
gebnis wäre nicht vertretbar, und es ist nicht einzusehen, warum eine Per-
son, die lediglich interne Regeln eines Restaurants bricht, strafbar sein soll.
In der Tat sind Fälle, in denen die Sonderkenntnisse des Täters ihm die Ein-
sicht vermitteln, dass keine Gefahr besteht, durchaus praxisrelevant. Zu
ihnen gehört insbesondere die Konstellation des agent provocateur (s. noch
u. III. 6.), der nach h. A. straflos ist, auch nach Auffassung von Jakobs, ob-
wohl die Annahme der Strafbarkeit konsequent wäre, wenn das Verbot eines
Verhaltens stets auf den objektiven Bruch einer sozialen Rolle zu gründen
wäre 124.

5. Sonderwissen und Gefahrurteil – Kritik der finalistischen Ansicht


a) Da sich die Auffassung von Jakobs als nicht tragfähig erweist, liegt es
durchaus nahe, dass es teleologisch und funktional geboten ist, das Gefahr-
urteil, das zentrales Element der Lehre von der objektiven Zurechnung ist,
auch von subjektiven Gegebenheiten und insbesondere Sonderwissen ab-
hängig zu machen. Vorab ist freilich die Vorfrage zu erörtern, ob die Schaf-
fung einer unerlaubten Gefahr überhaupt ein Erfordernis des objektiven
Tatbestandes ist.
Die Antwort der Finalisten auf diese Vorfrage war ursprünglich ein klares
Nein: Es gebe im objektiven Tatbestand keinen Platz für eine Gefahrschaf-
fung und objektive Zurechnung. Beim Vorsatzdelikt seien die von der Lehre
von der objektiven Zurechnung vermeintlich gelösten Fragen in Wahrheit
Vorsatzprobleme 125; beim Fahrlässigkeitsdelikt handele es sich in Wahrheit
um Fragen der Fahrlässigkeit, nämlich der Außerachtlassung der im Verkehr
erforderlichen Sorgfalt 126. Das Erfordernis der Gefahrschaffung und -reali-
sierung sei nicht bloß entbehrlich, sondern sogar eine schädliche „Gefahr für

123 Der sich jedem Rechtskundigen aufdrängende Einwand, es fehle am Tötungsvorsatz


des Studenten, kann meiner Meinung nach widerlegt werden. Denn der Vorsatz be-
zieht sich allein auf ein unerlaubt risikoschaffendes Verhalten (vgl. Frisch, Vorsatz
[Anm. 6], S. 408), und hier weiß der Student, dass er seine soziale Rolle bricht, was nach
der Auffassung von Jakobs für eine unerlaubte Gefahrschaffung genügt.
124 Vgl. Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 23/16.
125 Kaufmann (Anm. 21), S. 260; Hirsch (Anm. 34), S. 404; Küpper (Anm. 54), S. 99.
126 Hirsch (Anm. 34), S. 406; Festschrift für Lenckner, 1998, S. 127; Küpper (Anm. 54),
S. 108.

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546 Luís Greco

die Tatbestandsbestimmtheit“ 127. Später relativierten die Finalisten freilich


ihre Kritik. Bei der Frage, ob in Fällen rechtlich irrelevanter Gefahrschaf-
fung Vorsatz vorliegt (wie im Fall des Neffen, der seinen Onkel bei einem
Gewitter in den Wald schickt und hofft, der Onkel werde von einem Blitz
getroffen, was tatsächlich geschieht), gaben sie zu, dass schon „Defizite in
objektiver Hinsicht vorliegen, die sich dann im Subjektiven darin widerspie-
geln, dass dort lediglich ein Hoffen möglich ist“ 128. Derartige Defizite in ob-
jektiver Hinsicht wurden teilweise in der fehlenden Tatherrschaft erblickt
(dem Neffen, der den Onkel in den Wald schicke, fehle die Herrschaft über
den Sturm und den Blitz, so dass es unmöglich sei, ihn als Täter eines Delikts
zu behandeln 129); teilweise wurde auf das fehlende unmittelbare Ansetzen
im Sinne der Versuchsdogmatik abgestellt (der Neffe setze nicht unmittelbar
zu einem Totschlag an 130). Und bei der Frage nach den Kriterien der Fahr-
lässigkeit, die auch Finalisten als Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche
Sorgfalt begreifen 131, spielt die objektive Gefährlichkeit ersichtlich eine
Rolle. Damit aber stellt sich aber die Frage, ob die Finalisten das Kriterium
der Gefahrschaffung als Merkmal des objektiven Tatbestandes eigentlich
noch ablehnen. Kriterien wie Tatherrschaft, unmittelbares Ansetzen oder
Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt wirken sämtlich bereits
auf der Ebene des objektiven Tatbestands haftungsbegrenzend und unter-
scheiden sich am Ende vom Merkmal der Gefahrschaffung in nicht viel mehr
als dem Namen; vielmehr wird die Notwendigkeit objektiver, vom Täter-
willen unabhängiger Haftungsbegrenzungen durchaus anerkannt 132. Offen
oder verdeckt benutzen auch die Finalisten das Kriterium der Gefahrschaf-
fung.
Nach dem hier verfolgten kriminalpolitisch-funktionalen Ansatz ist das
auch notwendig. Wenn Zweck des Strafrechts der Rechtsgüterschutz ist 133,
dann sind jedes Verbot und jede Freiheitsbegrenzung nur insoweit legitim,
als sie sich zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts als notwendig erweisen.

127 Kaufmann (Anm. 21), S. 259; zustimmend Schöne, Gedächtnisschrift für Hilde Kauf-
mann, 1986, S. 649, 666.
128 Hirsch, Festschrift für Lenckner (Anm. 39), S. 123.
129 Küpper (Anm. 54), S. 92.
130 Hirsch, Festschrift für Lenckner (Anm. 39), S. 135.
131 Welzel (Anm. 1), S. 129 f.; Kaufmann, ZfRV 5 (1964), S. 45; Hirsch, ZStW 94 (1982),
S. 239, 266 ff.
132 So Greco (Anm. 13), S. 114 ff.
133 So die h. M.; statt aller Roxin, JuS 1966, 381; ders. (Anm. 2), § 2 Rdn. 1; Jescheck/Wei-
gend (Anm. 4), S. 7, mit w. Nachw.

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Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 547

Dann aber dürfen nur gefährliche Handlungen verboten werden, weil das
Verbot ungefährlicher Handlungen keine Vorteile für den Rechtsgüter-
schutz bietet 134. Diese Neustrukturierung des objektiven Tatbestandes mit
Bezug auf den Zweck des Rechtsgüterschutzes ist der eigentliche wissen-
schaftliche Fortschritt, der in der Lehre von der objektiven Zurechnung
liegt. Für die klassische Strafrechtswissenschaft war jede Verursachung eines
Schadenserfolgs Gegenstand der Norm, deren Inhalt nach Binding lautete:
„Verursacht nicht, befehlen die Verbote, verursacht, die Gebote“ 135. Der Fi-
nalismus bewies, dass das nicht richtig sein kann 136. Aber an die Stelle der
Kausalität setzte er die Finalität und formulierte die Norminhalt: „Richtet
nicht euren Willen darauf, eine Rechtsgutsverletzung zu verursachen“ 137.
Aber das ist vom Zweck des Rechtsgüterschutzes nicht durchweg gedeckt,
weil sogar absolut ungefährliche, aber von einem dem Rechtsgut feindlichen
Willen getragene Handlungen vom Verbot erfasst würden. Dies zu korrigie-
ren, ist das zentrale Anliegen der Lehre von der objektiven Zurechnung: Was
nicht gefährlich ist, kann nicht tatbestandsmäßig sein 138, und immer muss
der Begriff der Gefahr in Bezug auf die kriminalpolitische Funktion des
Rechtsgüterschutzes gebildet werden.
b) Hieraus lässt sich nun aber zwanglos ableiten, dass Sonderwissen je-
denfalls zugunsten des Täters in das Gefahrurteil eingehen muss: Würde eine
objektive Maßfigur von einer Gefahr ausgehen, hat aber der Täter Sonder-
wissen, dass in Wirklichkeit keine Gefahr besteht, so lässt sich kein Verhal-
tensverbot legitimieren, weil es für den Zweck des Rechtsgüterschutzes un-
tauglich wäre 139. Serviert der Biologiestudent, der als Kellner arbeitet, einen
Salat mit Pilzen, die, wie der Student kraft Biologiestudiums weiß, ungiftig
und äußerst wohlschmeckend sind, dann schafft er keine rechtlich relevante
Lebensgefahr, selbst wenn er seine Kellnerrolle bricht oder der Koch oder
jedermann oder eine objektive Maßfigur den Pilz für lebensgefährlich giftig
halten.

134 So ausdrücklich Roxin (Anm. 2), § 7 Rdn. 57; Schünemann, JA 1975, 438; Rudolphi
(Anm. 100), S. 76 f.; Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Ge-
fahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 26, 47, 94.
135 Binding, Die Normen und ihre Übertretung I, 4. Aufl., 1922 (Neudruck 1991), S. 123.
136 So insb. Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 102ff.
137 So in der Sache die extrem-subjektive Richtung des Finalismus: Zielinski, Handlungs-
und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 143; Horn, Konkrete Gefährdungs-
delikte, 1973, S. 78 ff.
138 Hiernach ist die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs eine Anomalie; vgl. Frisch,
Vorsatz (Anm. 6), S. 86 ff.; Rudolphi (Anm. 100), S. 82.
139 So im Ergebnis auch Brehm (Anm. 6), S. 130.

ZStW 117 (2005) Heft 3


548 Luís Greco

c) Es bleibt die Frage, ob es vom Rechtsgüterschutzprinzip her geboten


erscheint, beim Gefahrurteil Sonderwissen grundsätzlich auch zu Lasten des
Täters zu berücksichtigen. Zweifel hieran begründen sich aus der „Schatten-
seite“ der Idee des Rechtsgüterschutzes: Wird sie konsequent und kompro-
misslos verfolgt, so besteht die Gefahr, dass wichtige Gegeninteressen, ins-
besondere die allgemeinen Handlungsfreiheit, das ultima ratio- und das
Verhältnismäßigkeitsprinzip vernachlässigt werden 140. Die Frage ist aller-
dings, ob derartige unbestreitbare Gegeninteressen bereits für das Gefahr-
urteil als solches eine Rolle spielen sollen.
Wer die Frage verneint und das Gefahrurteil allein im Hinblick auf den
Rechtsgüterschutz fällt, kommt zu dem – mit der h. M. übereinstimmenden –
Ergebnis, dass eine Gefahr immer dann vorliegt, wenn eine objektive Maß-
figur oder der konkrete Täter kraft Sonderwissens das Eintreten eines Ver-
letzungserfolgs ex ante für nicht völlig unwahrscheinlich halten; jede andere
Auffassung würde Lücken im Rechtsgüterschutz bewirken. Wer hingegen
bereits für das Gefahrurteil Gegeninteressen in Betracht zieht, kommt zu
weniger eindeutigen Ergebnissen je nach den in Betracht kommenden Inter-
essen: Je wertvoller das Rechtsgut wäre, desto eher müsste eine Gefahr aner-
kannt werden; je schwerer die Gegeninteressen wögen, desto zurückhal-
tender müsste man mit dem Gefahrurteil sein; und Sonderwissen wäre in
einigen Fällen zu berücksichtigen, in anderen nicht. Auf den ersten Blick er-
scheint die zweite Antwort als rechtsstaatlicher (Berücksichtigung von Ge-
geninteressen) und flexibler (Möglichkeit differenzierender Lösungen). Im
Ergebnis vorzugswürdig ist es jedoch, an der ersten Antwort – und der h. M.
– festzuhalten und die genannten Gegeninteressen erst auf einer weiteren
dogmatischen Stufe, der des (Un-) Erlaubtseins der Gefahr, zu berücksichti-
gen. Dafür sprechen mindestens drei Gründe: Erstens bedeutet die analy-
tische Trennung zwischen dem Gefahrurteil als solchem und dem Urteil, die
Gefahr sei erlaubt oder nicht, einen Gewinn an Rechtsklarheit und -sicher-
heit. Zwar ergibt sich die Notwendigkeit einer analytischen Trennung nicht
schon daraus, dass das Gefahrurteil deskriptiver Natur und das Urteil über
das (Un-) Erlaubtsein der Gefahr normativer Natur wäre, da auch das Ge-
fahrurteil, soweit es auf eine objektive Maßfigur Bezug nimmt, ein norma-
tives Element hat. Jedoch liegen beide Urteile auf unterschiedlichen sprach-
lichen Ebenen: Während das Gefahrurteil unmittelbar Tatsachen bewertet,

140 So schon Schaffstein, Zur Problematik der teleologischen Begriffsbildung im Straf-


recht, 1934, S. 1 ff.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 549

bewertet das Urteil über das (Un-) Erlaubtsein der Gefahr die erste Wer-
tung, es gebe eine Gefahr. Jene zweite Wertung ist also eine Meta-Wertung,
und beide Wertungen folgen unterschiedlichen Maßstäben, nämlich einer-
seits dem Rechtsgüterschutz und andererseits den Gegeninteressen, die ana-
lytisch und sachlich auseinandergehalten werden müssen – wie erneut
unsere Kritik an Jakobs verdeutlicht, der nicht scharf genug zwischen dem
Gefahrurteil und dem Urteil des (Un-) Erlaubtseins der Gefahr unterschei-
det und deshalb strafbewehrte Verbote schon bei einfachen Gegeninteressen
wie der Einhaltung einer sozialen Rolle außer Kraft setzt, ohne den Rechts-
güterschutz gebührend zu berücksichtigen. Zweitens entspricht es der h. M.,
dass auf der Ebene des Urteils über die (Un-) Erlaubtheit der Gefahr eine
Abwägung zwischen den Belangen der Rechtsgüterschutzes einerseits und
möglichen Gegeninteressen andererseits vorzunehmen ist 141; von dieser Ab-
wägung sollte das Gefahrurteil als solches entlastet werden. Und drittens
führt die hier vertretene Lösung dazu, dass die mit dem Phänomen des Son-
derwissens verbundenen Probleme fast von selbst vollständig verschwinden.
Da das endgültige Urteil über die objektive Tatbestandsmäßigkeit der Wer-
tung der Gefahr als (un-) erlaubt vorbehalten bleibt, kommt dem Sonder-
wissen als solchem eine rechtliche Erheblichkeit, insbesondere eine tat-
bestandsbejahende oder -verneinende Wirkung, nicht zu. Undifferenzierte
Lösungen – wie die von Jakobs oder der Finalisten – scheiden aus. Das Prob-
lem des Sonderwissens lässt sich nicht anhand der Figur des Sonderwis-
sens lösen, weil es ein „Problem“ des Sonderwissens an sich nicht gibt –
es existiert nur als Problem der (Un-) Erlaubtheit der geschaffenen Ge-
fahr. Demgegenüber ist das Gefahrurteil genauso zu treffen, wie es die h. M.
tut: Eine Gefahr liegt vor, wenn für eine objektive Maßfigur oder für den
konkreten, über Sonderwissen verfügenden Täter eine Rechtsgutsverlet-
zung oder -gefährdung ex ante nicht ganz unwahrscheinlich ist. Ausnahme
ist, dass, liegt keine Gefahr vor und weiß das der konkrete Täter, das Ur-
teil, es fehle an einer Gefahr, auch dann bestehen bleibt, wenn eine objek-
tive Maßfigur anderer Auffassung wäre. Hierin liegt ein wesentliches (viel-
leicht paradoxes) Ergebnis der vorliegenden Untersuchung: Die Idee des
Sonderwissens, ursprünglich konzipiert als ein Kunstgriff, um die Strafbar-
keit auszuweiten, hat in Wahrheit eine eigenständige Bedeutung nur für
den Fall, dass der Täter Sonderwissen vom Nichtbestehen einer Gefahr hat,

141 Roxin, ZStW 74 (1962), S. 411, 433; ders. (Anm. 4), S. 245; ders. (Anm. 2), § 11 Rdn. 60;
Schünemann, JA 1975, 575; Rudolphi (Anm. 4), Vor § 1 Rdn. 62; Wolter, GA 1977, 257,
265.

ZStW 117 (2005) Heft 3


550 Luís Greco

die nach dem Urteil einer objektiven Maßfigur vorliegen würde – und wirkt
sich daher im Sinne einer Strafbarkeitseinschränkung aus.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass Sonderwissen im Prinzip kein juristi-
sches Problem ist und beim Gefahrurteil stets zu berücksichtigen ist.

6. Sonderwissen und (Un-) Erlaubtsein der Gefahr


Es bleibt die Frage, wie sich Sonderwissen beim Urteil über das (Un-) Er-
laubtsein einer Gefahr auswirkt: Sind insbesondere Gefahren, die nur vom
mit Sonderwissen ausgestatteten Täter erkannt werden können, eher als er-
laubt einzustufen als Gefahren, die auch für eine objektiven Maßfigur ohne
weiteres erkennbar sind? Um es mit einem von Jakobs 142 gebildeten Beispiel
zu veranschaulichen: Wenn ein Bäcker weiß, dass ein Brötchenkäufer die
Brötchen vergiften und dadurch einen Mord begehen will – legt dann nicht
der Umstand, dass erst das Sonderwissen des Bäckers das Gefahrurteil be-
gründet, die Bewertung der Gefahrschaffung als noch erlaubt nahe?
Die Frage ist zu verneinen. Zwar könnte argumentiert werden, die
Berücksichtigung von Sonderwissen belaste den Täter im Vergleich zu ande-
ren übermäßig. Denn was von einer objektiven Maßfigur verlangt werde,
gelte für alle in gleicher Weise; demgegenüber werde, wenn das Vorliegen
einer Gefahr erst nach einem Blick in die Täterpsyche bejaht werden könne,
die Freiheit dieses Täters in einem weitergehenden Maße beschränkt als die
aller anderen Bürger, so dass das Gegeninteresse der Freiheit bei der Bewer-
tung der Gefahr als erlaubt ein höheres Gewicht haben müsse als sonst. Ein
solche Argumentation ginge aber von der unrichtigen Prämisse aus, dass die
Berücksichtigung von Sonderwissen die Lage des Täters im Vergleich zu an-
deren Bürgern verschlechtern würde. Wie bereits oben (II. 4. b) dargelegt,
begründet der Umstand, dass nur der Täter etwas weiß, ein Mehr an Macht
im Vergleich zu anderen; und wenn er mehr kann, dann ist nichts dagegen
einzuwenden, dass das Recht von ihm auch mehr verlangt. Das ist keine
Diskriminierung des Sonderwissenden, sondern im Gegenteil eine Gleich-
behandlung aller, die tun sollen, was sie können, um Rechtsgutsbeeinträchti-
gungen zu vermeiden. Dass ein Ausnutzen von Sonderwissen sogar beson-
ders schwer (und schwerer als Fälle, in denen die Gefahr auch für eine ob-
jektive Maßfigur offensichtlich ist) wiegen kann, zeigt das oben diskutierte
Kopfschmerzpulver-Beispiel 143.

142 Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 24/17.


143 Vgl. oben S. 22 und mit Anm. 111.

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 551

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Sonderwissen als solches für die Be-
wertung einer geschaffenen Gefahr als (un-) erlaubt nicht relevant ist, denn
es ändert für sich nichts an der dieser Bewertung zugrunde liegenden Inte-
ressenabwägung. Plastisch könnte man sagen, dass Fälle des Sonderwissens
keine Sonderbehandlung verdienen.

7. Analoge Konstellationen
Die hier vertretene These, dass das Sonderwissen als eigenständiger Rechts-
begriff irrelevant sei und Fälle des Sonderwissens nicht anders als andere zu
behandeln seien, kann auch außerhalb der Dogmatik der objektiven Zurech-
nung fruchtbar gemacht werden. Denn auch in anderen dogmatischen Berei-
chen gibt es Konstellationen, in denen Sonderwissen vorliegt oder vorliegen
kann, ohne dass in der h. M. eine Sonderbehandlung erwogen wird.
Solche Konstellationen finden sich insbesondere bei der Beteiligungs-
lehre. So werden bei der mittelbaren Täterschaft insbesondere kraft Irrtums
nicht selten Beispiele genannt, die ein Sonderwissen beinhalten 144. Auch das
überlegene Sachwissen, das die Strafbarkeit einer Mitwirkung an fremder
Selbstgefährdung begründen kann 145, kann den Charakter von Sonderwis-
sen haben. Beim gemeinsamen Tatentschluss, der zentrale Voraussetzung der
Mittäterschaft ist 146, lassen sich Fälle bilden, in denen der Tatentschluß auf
Sonderwissen beruht. Bei der Beihilfe und insbesondere bei der allgemein
anerkannten Fallgruppe der technischen Rathilfe 147 werden Sonderkennt-
nisse nicht selten einbezogen, etwa wenn der Gehilfe zufälligerweise den

144 Roxin (in: LK, 11. Aufl. 2003, § 29 Rdn. 98) bildet das Beispiel, dass A den B zur Ver-
letzung von C bestimmt, und, da A von einer besonderen Anfälligkeit des C Kenntnis
hat, dieser schwere Verletzungen erleidet und nicht nur leichte, wie B es vorhatte. Hier
verfügt A offensichtlich über Sonderwissen – aber niemand verspürt das Bedürfnis, das
besonders hervorzuheben und die Lösung (mittelbare Täterschaft) hiervon abhängig
zu machen. – Sonderwissen war offenbar auch in BGHSt. 30, 363 gegeben. Dort hatte
der Angeklagte einem anderen, der einen Raub begehen sollte, ein vermeintliches
Schlafmittel überreicht, das in Wirklichkeit eine tödliche Menge Salzsäure enthielt. –
Vgl. ferner meine oben bei Anm. 111 entwickelte Variante des Kopfschmerzpulver-Fal-
les.
145 Statt aller Roxin (Anm. 144), § 25 Rdn. 115; BGHSt. 32, 265; 36, 17.
146 Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 674; Roxin (Anm. 144), § 25 Rdn. 173; eingehend Küp-
per, ZStW 105 (1993), S. 301 ff.; umf. Nachw. bei Kamm, Die fahrlässige Mittäterschaft,
1999, S. 35 ff.
147 Vgl. insb. Roxin (Anm. 144), § 27 Rdn. 41; Charalambakis, Festschrift für Roxin, 2001,
S. 625, 634 ff.

ZStW 117 (2005) Heft 3


552 Luís Greco

Code des Tresorschlosses kennt. Gewiss könnte man daran denken, die viel-
fach erwogene Straflosigkeit der Beihilfe durch neutrale Handlungen 148
oder durch bloße Anwesenheit am Tatort 149 dadurch zu erklären, dass Son-
derwissen beim Gefahrurteil nicht berücksichtigt werde; die Sonderbehand-
lung der genannten Konstellationen stützt sich aber eher auf Erwägungen
zur Erlaubtheit oder Unterlaubtheit der Gefahrschaffung bei der Beihilfe
bzw. zum Begriff des „Hilfeleistens“ 150. Bei der Anstiftung erscheint es viel-
fach geboten, Sonderwissen zu berücksichtigen, etwa wenn der Anstifter
von der Bluterkrankheit des Opfers weiß und den Haupttäter anstiftet, das
Opfer durch eine leichte Hautverletzung zu töten. Die vielfach vertretene
Straffreiheit bei blosser Schaffung einer tatmotivierenden Situation 151
spricht nicht gegen die Berücksichtigung von Sonderwissen bei der Anstif-
tung, sondern ist auf anstiftungsspezifische Erwägungen zurückzuführen,
die den objektiven Tatbestand der Anstiftung bzw. deren unerlaubte Gefahr-
schaffung in bestimmter Weise konkretisieren 152. Eine klare Bestätigung er-
fährt die hier vertretene Auffassung durch die Straffreiheit des agent provo-
cateur: Er ist straffrei, weil er über Sonderwissen über die Ungefährlichkeit

148 Zur Beihilfe durch neutrale Handlungen vgl. Wohlleben, Beihilfe durch äußerlich neu-
trale Handlungen, 1996, S. 13 ff. mit umf. Nachw.
149 Vgl. Roxin (Anm. 144), § 27 Rdn. 15; Weigend, Festschrift für Nishihara, 1998, S. 197,
209 (Fn. 40); Charalambakis (Anm. 147), S. 639; eingehende Diskussion bei Phleps,
Psychische Beihilfe durch Stärkung des Tatentschlusses, 1997, S. 108ff. – Einige Auto-
ren behaupten, hier liege kein Begehen, sondern bloßes Unterlassen vor: Roxin, Straf-
recht Allgemeiner Teil II, 2003, § 31 Rdn. 92 ff.; Sieber, JZ 1983, 431, 434ff.
150 Für die Fallgruppe der neutralen Handlungen sehr klar in diesem Sinne Ambos, JA
2000, 721, 722; Rogat, Die Zurechnung bei der Beihilfe, 1997, S. 82 ff.; Schall, Gedächt-
nisschrift für Meurer, 2002, S. 103, 114.
151 Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), § 26 Rdn. 4; Frisch, Verhalten (Anm. 6),
S. 343; Geppert, Jura 1997, 299, 304; Hünerfeld, ZStW 99 (1987), S. 228, 248; Jakobs,
Allg. Teil (Anm. 45), 22/21 ff.; Keller, Grenzen der Provokation von Straftaten, 1989,
S. 254ff.; Otto, JuS 1982, 557, 560; Plate, ZStW 84 (1972), S. 294, 295 (Fn. 2); Rogall,
GA 1979, 11, 12; Roxin (Anm. 144), § 26 Rdn. 3; Schumann, Strafrechtliches Hand-
lungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 52; diffe-
renzierend Christmann, Zur Strafbarkeit sogenannter Tatsachenarrangements wegen
Anstiftung, 1997, S. 129 ff. Dagegen (für Bestrafung) Herzberg, Täterschaft und Teil-
nahme, 1977, S. 53; Widmaier, JuS 1970, 241, 243.
152 So die, die einen geistigen Kontakt zwischen Anstifter und Täter verlangt (statt aller
Roxin (Anm. 144), § 26 Rdn. 3 mit Nachw.); viele verlangen einen der Mittäterschaft
analogen gemeinsamen Tatentschluss bzw. einen Unrechtspakt (Puppe, GA 1984, 101,
112ff.; zustimmend Hoyer, SK StGB, 7. Aufl. 2000, § 26 Rdn. 12) oder, dass der Täter
die Tat aufgrund der Anstiftung begeht (Jakobs, Allg. Teil [Anm. 45], 22/22).

ZStW 117 (2005) Heft 3


Das Subjektive an der objektiven Zurechnung: Zum „Problem“ des Sonderwissens 553

seines Verhaltens verfügt, und es entfällt die objektive Tatbestandsmäßigkeit,


nicht erst der Vollendungsvorsatz 153.
Weiterhin ist die Relevanz vom Sonderwissen bei prognostischen Merk-
malen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen – etwa bei der
„Erforderlichkeit“ der Notwehrhandlung 154 und bei der „Gefahr“ beim
rechtfertigenden 155 und entschuldigenden Notstand156 – allgemein aner-
kannt 157, sogar von den Autoren, die Sonderwissen bei der objektiven Zu-
rechnung nicht berücksichtigen wollen 158 oder für die der objektive Tat-
bestand niemals subjektive Umstände beinhalten kann 159.

IV. Zusammenfassung

1. Sonderwissen ist ein dem Täter verfügbares Wissen, welches das über-
schreitet, über das eine objektive Maßfigur verfügt.
2. In einem teleologischen, kriminalpolitischen System ist es möglich,
subjektives Sonderwissen bereits im objektiven Tatbestand zu berücksichti-
gen, da und soweit dies mit der kriminalpolitischen Funktion des objektiven
Tatbestandes vereinbar ist. Dann gehen die systematischen Einwände der
Finalisten gegen die Vermengung von Objektivem und Subjektivem ins
Leere.
3. Kriminalpolitische Funktion des objektiven Tatbestandes ist die Be-
stimmung der äußeren Grenzen des Erlaubten bzw. Verbotenen. Soweit sich

153 Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), § 26 Rdn. 20; Geppert, Jura 1997, 358,
360; Herzberg, GA 1971, 1, 12; Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 22/9, 23/16; Keller (Anm.
169), S. 193, für den sich die Anstiftung als abgeleiteter Tatbestand nicht auf einen an-
deren abgeleiteten Tatbestand wie den des Versuchs beziehen kann; Stratenwerth
(Anm. 6), § 12 Rdn. 150; weitere Nachw. bei Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 687
(Fn. 16). – A.A. mit dem Argument, es genüge der Wille, den Versuch herbeizuführen,
Stratenwerth, MDR 1953, 717, 720.
154 S. nur Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 343; Lenckner, in: Schönke/Schröder (Anm. 4),
§ 32 Rdn. 34.
155 S. nur Schaffstein (Anm. 80), S. 102; Maurach/Zipf (Anm. 6), § 27 Rdn. 15; Jescheck/
Weigend (Anm. 4), S. 361 (Fn. 35); Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 13/13; Roxin (Anm. 2),
§ 16 Rdn. 15. – A.A. Samson, in: SK StGB, 7. Aufl. 2000, § 34 Rdn. 19: Gefahrurteil auf
ex post Grundlage.
156 Dimitratos (Anm. 80), S. 185 ff.; Hirsch (Anm. 156), § 35 Rdn. 17.
157 S. Dimitratos (Anm. 80), S. 177 ff.; Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 361 (Fn. 35); Roxin
(Anm. 2), § 16 Rdn. 14; Schaffstein (Anm. 80), S. 102.
158 So z. B. Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 13/13.
159 Vgl. Hirsch (Anm. 156), § 35 Rdn. 17.

ZStW 117 (2005) Heft 3


554 Luís Greco

das subjektive Sonderwissen zur Bestimmung dieser Grenzen als notwendig


erweist, ist es bereits im objektiven Tatbestand relevant.
4. Die Auffassung, die objektive Zurechnung gründe auf einen sozialen
Rollenbruch, weshalb Sonderwissen im Prinzip irrelevant sei, schafft eine
Reihe von Problemen und ist insbesondere mit der rechtgüterschützenden
Funktion des Strafrechts nicht zu vereinbaren.
5. Ebensowenig steht der Satz cogitationis poenam nemo patitur der Be-
rücksichtigung von Sonderwissen entgegen, da er nicht auf kognitive, son-
dern nur auf hier sogenannte emotionelle oder opinative subjektive Gege-
benheiten anwendbar ist.
6. Auch soweit keine Pflicht besteht, Sonderwissen erst zu erwerben,
kann ohne Widerspruch hierzu eine Pflicht begründet werden, aktuell vor-
handenes Sonderwissen einzusetzen. Wer mehr weiß, kann auch mehr, und
dieses Mehr an Wissen und somit Mehr an Freiheit führt auch zu einem
Mehr an Verantwortlichkeit.
7. Ausgehend von der rechtgüterschützenden Funktion des Strafrechts
lässt sich die Notwendigkeit ableiten, bei der Beurteilung der Gefahrschaf-
fung Sonderwissen zu berücksichtigen. Denn der Begriff der Gefahr ist so
zu bilden, dass alle Verhaltensweisen, die ex ante gesehen ein Rechtsgut ver-
letzen können, verboten werden können.
8. Eine solche Bestimmung des Begriffs der Gefahr beschränkt die Frei-
heit der Bürger nicht übermäßig, denn sie und andere dem strafrechtlichen
Verbot entgegenstehende Interessen (so genannte Gegeninteressen) sind in
einem zweiten Schritt der Bewertung des Risikos als erlaubt oder unerlaubt
zu berücksichtigen.
9. Es gibt daher kein eigenständiges „Problem“ des Sonderwissens, und
das Vorliegen von Sonderwissen in einem bestimmten Fall besagt als solches
nichts über dessen Lösung. Ausnahme ist der Fall, dass der Täter – anders als
die objektive Maßfigur – Sonderwissen vom Nichtbestehen einer Gefahr hat
wie z. B. im Fall des agent provocateur, der Sonderwissen von der konkreten
Ungefährlichkeit eines objektiv – aus Sicht einer objektiven Maßfigur – ge-
fährlichen Verhaltens hat.
10. Im Übrigen zeigt die Untersuchung analoger Konstellationen, dass
die „Probleme“ des Sonderwissens entweder keine sind oder an anderer
Stelle in der Straftatlehre diskutiert und gelöst werden müssen.

ZStW 117 (2005) Heft 3

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