Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Greco. Zum Problem" Des Sonderwissens
Greco. Zum Problem" Des Sonderwissens
I. Einleitung
* Verf. ist Doktorand bei Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, auf dessen nach-
drückliche Empfehlung der Beitrag für die ZStW angenommen worden ist. Er bedankt
sich bei Professor Dr. Christian Jäger für die sprachliche Überarbeitung des Textes.
1 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 37: „Die finale Struktur des mensch-
lichen Handelns ist für die strafrechtlichen Normen schlechthin konstitutiv“.
2 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 3. Aufl. 1997, § 11 Rdn. 41.
3 So die schöne Formulierung von Kaufmann, Die Funktion des Handlungsbegriffs im
Strafrecht, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert,
1982, S. 21, 33.
4 S. nur Jescheck/Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 287; Lenckner,
in: Schönke/Schröder, 26. Aufl. 2001, Vorb. §§ 13 ff. Rdn. 92; Roxin, Gedächtnisschrift
für Armin Kaufmann, 1989, S. 239, und ders. (Anm. 2), § 11 Rdn. 42 f.; Rudolphi, in: SK
StGB, 6. Aufl. 1997, Vor § 1 Rdn. 57; in der spanischen Lehre, Mir Puig, Derecho pe-
nal: parte general, 5. Aufl. 1998, § 10 Rdn. 46; in der brasilianischen, Tavares, Teoria do
injusto penal, 2. Aufl. 2002, S. 281.
5 Statt aller Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 286; Roxin (Anm. 2), § 11 Rdn. 50.
6 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1995, § 22 Rdn. 46;
Bockelmann/Volk, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1987, S. 66; Brehm, Zur Dog-
matik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973, S. 128; Burgstaller, Das Fahrlässig-
keitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 65; Cramer, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), § 15
Rdn. 139; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988,
S. 71 (Fn. 6); ders., La imputación objetiva: estado de la cuéstion, in: Silva Sánchez
(Hrsg.), Sobre el estado actual de la teoría del delito, 2000, S. 21, 56; ders., Festschrift
für Roxin, 2001, S. 213, 230; Herzberg, JZ 1987, 536, 537; Jescheck/Weigend (Anm. 4),
S. 286; Kaminski, Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts,
1992, S. 87; Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S. 184; Kühl, Strafrecht Allge-
meiner Teil, 3. Aufl. 2000, § 17 Rdn. 31ff.; Martinez Escamilla, La imputación objetiva
del resultado, 1992, S. 81 ff.; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 1, 8. Aufl. 1992,
§ 18 Rdn. 33; Mir Puig, Sobre lo objetivo y lo subjetivo en el injusto, in: El derecho pe-
nal en el estado social y democrático de derecho, 1994, S.181, 195; ders. (Anm. 4), § 10
Rdn. 42; Puppe, in: NK StGB, 5. Lieferung 1998, Vor § 13 Rdn. 145; Roxin (Anm. 4),
S. 250; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), S. 232, 247; ders. (Anm. 2), § 11 Rdn. 35,
50, § 24 Rdn. 69; Schünemann, Festschrift für Schaffstein, 1975, S. 159, 166; ders., GA
1999, 207, 216; Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil 1, 4. Aufl. 2000, § 8 Rdn. 22;
Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 32. Aufl. 2002, Rn. 170 u. 670; Wieseler,
Der objektive und der individuelle Sorgfaltspflichtmaßstab beim Fahrlässigkeitsdelikt,
1992, S. 118f.; Wolter, GA 1977, 257, 269; ders., Menschenrechte und Rechtsgüter-
schutz in einem europäischen Strafrechtssystem, in: Schünemann/Figueiredo Dias
(Hrsg.), Bausteine des euopäischen Strafrechts, 1995, S. 3, 23 (Fn. 84). – Differenzie-
rend Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 134: Sonderwissen sei im allgemeinen nur
dann zu berücksichtigen, wenn der Täter dadurch nicht wesentlich belastet werde, oder
beim Vorliegen besonderer dafür sprechender Gesichtspunkte; beim Vorsatzdelikt
führe aber die Konkretisierung solcher Kriterien zur vollen Relevanz der Sonderkennt-
nisse, S. 135; s. ferner Lenckner, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), Vorb. §§ 13ff. Rdn. 93,
der die verpflichtende Wirkung des Sonderwissens für „nicht zwingend“ hält, wenn
„die Vermeidepflicht ausschließlich in den Verantwortungsbereich eines anderen fällt“.
II. Meinungsstand
1. Problemgeschichte
a) Mit dem Problem des Sonderwissens musste sich bereits die Adäquanz-
theorie befassen, die ursprünglich Ursache als das definierte, was „gemäß
den allgemeinen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft generell geeig-
net ist, derartige Verletzungen herbeizuführen“ 7, und so begann, mit den
Figuren des einsichtigen Menschen und der objektiven Voraussehbarkeit zu
arbeiten 8. Während Müller das Problem mit der Erwägung leugnete, es sei
unmöglich, dass der Täter etwas wisse, was Menschen im allgemeinen nicht
wissen könnten 9, nahm Traeger an, Sonderkenntnisse müssten berücksich-
tigt werden, da, wer zufällig über sie verfüge, anderenfalls straflos Verbre-
chen begehen könnte 10. Engisch, der die Berücksichtigung des Sonderwis-
sens für das Adäquanzurteil von Anfang an als „Dualismus“ betrachtete,
versuchte ihn auf zwei Wegen zu rechtfertigen: Zum einen definierte er die
objektive Maßfigur sogleich unter Berücksichtigung des Täterwissens; der
besonnene Mensch sei „ein mit dem Wissen des Täters ausgestatteter, im
übrigen aber von den persönlichen geistigen Mängeln des Täters befreiter
Mensch“ 11. Zum anderen stimme die Lösung mit dem „täglichen Leben“
und der „Spruchpraxis der Gerichte“ überein; es habe sich jeder „zunächst
einmal nach dem zu richten, was ihm bekannt ist“ 12.
Da die Adäquanztheorie über den zentralen Begriff der Gefahr bzw. des
Risikos in der heutigen Lehre von der objektiven Zurechnung mitenthalten
ist 13, hat diese das Problem des Sonderwissens von jener geerbt. Nach nahe-
auseinandergesetzt 19, bis Kaufmann 1985 Einwände formulierte 20, die sich
u. a. auf das Problem des Sonderwissens bezogen: „Es zeigt sich also, dass
bei allen Merkmalen, die aus der Formel der imputatio obiectiva zu ent-
wickeln sind, offensichtlich das Wissen des Täters als Beurteilungsgrundlage
unentbehrlich ist: so schon für die ‚Gefahrschaffung‘ und erst recht für die
‚rechtliche Missbilligung‘.“ 21 Wenn es aber nicht möglich sei, vom Täterwis-
sen, vom Subjektiven, beim Urteil über die objektive Zurechnung zu abstra-
hieren, dann sei dies ein Indiz für die Fehlerhaftigkeit und Unangemessen-
heit einer Lehre von der objektiven Zurechnung. Die Probleme, die sie zu
lösen beanspruche, gehörten daher in Wahrheit zum subjektiven Tatbestand
und seien also Vorsatzprobleme 22. Die objektive Zurechnung tue nichts
mehr, als die kognitive Komponente des Vorsatzes in den objektiven Tatbe-
stand zu versetzen 23. Zugespitzt: „Im Lichte des Tatvorsatzes schmilzt die
komplexe Problematik zusammen wie Aprilschnee in der Sonne“ 24.
Mit gleicher Stoßrichtung warf Struensee der objektiven Zurechnung vor,
sie vernachlässige, dass sich subjektiver und objektiver Tatbestand auf unter-
schiedliche Gegenstände bezögen, nämlich jener aufs Täterpsychische und
dieser aufs Außerweltliche 25. Eine Theorie, die mit täterpsychischen Daten
arbeite, „objektiv“ zu nennen und im objektiven Tatbestand anzusiedeln, sei
zumindest eine Begriffsvertauschung: „‚Der Begriff des Hundes bellt nicht‘ –
19 So die Einschätzung von Roxin (Anm. 4), S. 239. – Repräsentativ der Beitrag von
Hirsch, ZStW 93 (1981), S. 831 ff., und ZStW 94 (1982), S. 239 ff., der sich mit vielen
wichtigen Fragen der Unrechtslehre befasst, die objektive Zurechnung aber nicht be-
handelt.
20 Insbesondere: Bei der objektiven Zurechnung gehe es in Wahrheit um Auslegungs-
probleme der verschiedenen Tatbestände des Besonderen Teils (Festschrift für Je-
scheck, 1985, S. 251, 254 ff., 268 f.). Die Risikoerhöhungslehre missachte das positive
Recht, indem sie eine eigentliche Versuchstat als vollendete Tat bestrafe (S. 256f.). Man
verkompliziere unnötig den objektiven Tatbestand (S. 258). Der objektiven Zurech-
nung stehe ihr Ursprung, das Fahrlässigkeitsdelikt, „auf die Stirn geschrieben“, so dass
sie nicht auf Vorsatzdelikte anzuwenden sei (S. 258 f.). Der Begriff der unerlaubten Ge-
fahrschaffung sei mit dem Konzept der die Rechtswidrigkeit indizierenden Wirkung
des Tatbestands unvereinbar (S. 258). Der Gefahrbegriff sei eine „Gefahr für die Tatbe-
standsbestimmtheit“ (S. 259). Es würden ungesehene und ungelöste Irrtumsprobleme
entstehen, da der Vorsatz sich auf die tatsächlichen Voraussetzungen sowohl der Risi-
koschaffung wie der Risikoverwirklichung richten müsse (S. 263).
21 Kaufmann (Anm. 20), S. 260.
22 Zu den Lösungsversuchen, vgl. Kaufmann (Anm. 20), S. 265ff.
23 Kaufmann (Anm. 20), S. 265.
24 Kaufmann (Anm. 20), S. 260.
25 Struensee, GA 1987, 97, 98; ders., JZ 1987, 53.
42 U. a. Lesch, JR 2001, 383, 387, JA 2001, 187, 189, und JA 2001, 986, 990; Reyes, ZStW
105 (1993), S. 108, 122; Sanchez-Vera, Pflichtdelikt und Beteiligung, 1999, S. 57; Silva-
Sanchez, in: Eser u. a. (Hrsg.), Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Straf-
recht, 1998, S. 205, 205 ff.; Vehling, Die Abgrenzung von Vorbereitung und Versuch,
1991, S. 104.
43 Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 751, 753 ff.
44 Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 271, 286; auch ders., Der
strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 39; ders., La imputación objetiva en derecho
penal, 1996, S. 97; ders., ZStW 107 (1995), S. 843, 859; zu den rechtsphilosophischen
Grundlagen vgl. ders., Sobre la génesis de la obligación jurídica, in: Doxa 23 (2000),
S. 323ff., 340ff. Über die Zurechnungslehre von Jakobs vgl. ferner Greco (Anm. 9),
S. 119ff.
45 Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 284; vgl. ferner: Allgemeiner
Teil, 2. Aufl. 1991, 7/58; Imputación (Anm. 39), S. 101.
46 Beispiel nach Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 273.
47 Jakobs, Gedächtnisschrift für Kaufmann (Anm. 44), S. 287; vgl. noch ders., ZStW 89
(1977), S. 1, 26; ders., Allg. Teil (Anm. 45), § 7/50; ders., Imputación (Anm. 39), S. 137;
ders., GA 1996, 253, 263; ders., Festschrift für Hirsch, 1999, S. 45, 57.
54 Unter sozialer Rolle versteht er „ein System normativ definierter Positionen, die von
austauschbaren Personen besetzt werden“ (Imputación [Anm. 39], S. 97).
55 Roxin (Anm. 4), S. 250; Martinez Escamilla (Anm. 6), S. 89.
56 Roxin (Anm. 4), S. 250; ders., Chengchi Law Review 50 (1994), S. 233.
57 Roxin (Anm. 4), S. 251.
58 Roxin, Festschrift für Honig, 1970, S. 146 ff., unter Verweis auf den Beitrag in: Ge-
dächtnisschrift für Radbruch, 1968, S. 260 ff. S. zuvor die grundlegende Stellungnahme
in ders., Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, S. 15 ff., 42 f. und nun-
mehr (Anm. 2), § 7 Rdn. 51 ff., 77 ff.
59 Burkhardt, in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im ge-
samten Strafrechtssystem, 1996, S. 99, 105 f.
60 Burkhardt (Anm. 59), S. 109 ff.
61 Burkhardt (Anm. 59), S. 117, S. 133.
62 Burkhardt (Anm. 59), S. 132.
63 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1964,
S. 269ff., und auch ders. (Anm. 11), S. 430 (Fn. 63).
64 Burkhardt (Anm. 59), S. 117 ff.
65 Natürlich muss diese Gefahr auch als rechtlich missbilligt bewertet werden: Burkhardt
(Anm. 59), S. 112, 117.
66 Insbesondere, was die Fahrlässigkeit als Verstoß gegen die innere und individuelle
Sorgfalt und die Stellung der Sorgfaltspflicht beim subjektiven Tatbestand angeht. Das
neue an Burkhardts Meinung erschöpft sich also im Bereich des subjektiven Tat-
bestands; uns geht es aber darum, den Inhalt des objektiven Tatbestands zu unter-
suchen.
Frisch unterstreicht, dass eine erst ex post eingreifende Norm ihre Funk-
tion als Verhaltensrichtlinie nicht erfüllen könne 67. Die Berücksichtigung
von Sonderkenntnissen bedeute keine Subjektivierung des Gefahrurteils, da
diese Kenntnisse auf eine objektive Wirklichkeit und etwas der Täterpsyche
Externes bezogen seien, das nur die Eigentümlichkeit aufweise, dem Täter
bekannt zu sein 68. Die Unterscheidung zwischen Objektivem und Subjekti-
vem habe grundsätzlich nur didaktischen Wert, so dass man sich darauf nicht
berufen dürfe, um konkrete Fragen zu lösen, wie es Burkhardt, Struensee
und andere täten 69; für die Lösung konkreter Fragen erwiesen sich vielmehr
wertende Erwägungen zur Struktur des Unrechtsbegriffs als maßgeblich 70.
Frisch kommt zu dem Ergebnis, das Gefahrurteil müsse entsprechend der
h. M. ex ante und auf Grundlage der von einer objektiven Maßfigur und vom
Täter erkannten Tatsachen gebildet werden; bei der Fahrlässigkeit müsse
dieses Urteil durch die individuelle Vermeidbarkeit als Unrechtsvoraus-
setzung ergänzt werden 71. Gegen den Einwand, die Berücksichtigung der
Sonderkenntnisse sei eine Frage des Vorsatzes, bringt Frisch vor, dass auch
Sonderkenntnisse, die nicht mehr aktuell seien, in die Gefahrprognose ein-
bezogen werden müssten 72.
Puppe schließlich hält Jakobs entgegen, dass, wenn zur Bestimmung eines
normativen Instituts wie des erlaubten Risikos auf eine andere normative
Größe wie die soziale Rolle zurückgreifen werde, ein regressus ad infinitum
drohe, weil man auch Regeln benötige, um die andere normative Größe zu
bestimmen 73. Die von Struensee und Burkhardt erhobenen Einwände hält
Puppe für rein systematisch; sie überschätzten die Möglichkeit einer Tren-
nung zwischen Objektivem und Subjektivem sowie ihren Erkenntniswert
für die Lösung konkreter Probleme 74.
67 Frisch, Straftat und Straftatsystem, in: Wolter/Freund (Anm. 59), S. 135, 175.
68 Frisch (Anm. 67), S. 183; auch ders., Imputación (Anm. 6), S. 57; ders., Festschrift für
Roxin (Anm. 6), S. 230. Etwas anders noch ders., Verhalten (Anm. 6), S. 41 (Fn. 158).
69 Frisch (Anm. 67), S. 185; ders., Festschrift für Roxin (Anm. 6), S. 231.
70 Frisch (Anm. 67), S. 187; ders., Festschrift für Roxin (Anm. 6), S. 231.
71 Frisch (Anm. 67), S. 194.
72 Frisch, Imputación (Anm. 6), S. 56; ders. Festschrift für Roxin (Anm. 6), S. 230. Ein
Beispiel wäre, dass der Täter die ihm zuvor bekannte Blutereigenschaft des Opfers ver-
gessen hatte, als er es mit tödlicher Folge leicht verletzte, was in concreto objektiv eine
lebensgefährliche Handlung war.
73 Puppe (Anm. 6), Vor § 13 Rdn. 145.
74 Puppe (Anm. 6), Vor § 13 Rdn. 145.
2. Zusammenfassung
Bei Analyse der Meinungen ergeben sich vier Meinungsgruppen: Die erste,
nämlich die h. M., erklärt Sonderwissen für im Rahmen der objektiven Zu-
rechnung für beachtlich, auch wenn – mehr oder minder deutlich – zugege-
ben wird, das impliziere einen Systembruch. Die zweite Meinungsgruppe
der Finalisten hält Sonderwissen im Ergebnis gleichfalls für beachtlich, rügt
jedoch an der h. M. einen Systembruch, den sie dadurch beseitigen will, dass
sie die Lehre von der objektiven Zurechnung ganz verwirft und das Problem
im subjektiven Tatbestand ansiedelt. Die dritte, auf Jakobs zurückgehende
Meinungsgruppe sieht gleichfalls einen Systembruch darin, dass subjektives
Sonderwissen bei der objektiven Zurechnung beachtlich sein soll, zieht dar-
aus aber – unter Aufrechterhaltung der Lehre von der objektiven Zurech-
nung – den Schluss, dass Sonderwissen für die objektive Zurechnung im
Grundsatz unbeachtlich sei. Die vierte und letzte Meinungsgruppe, der Ver-
treter namentlich Roxin, Frisch und Puppe sind, schließlich nimmt an, die
allen drei zuvor genannten Meinungsgruppen gemeinsame These, es stelle
einen Systembruch dar, wenn bei der objektiven Zurechnung subjektives
Sonderwissen berücksichtigt werde, sei unrichtig; folgerichtig bestehen
keine Bedenken gegen die Relevanz des Sonderwissens für die objektive Zu-
rechnung.
76 Über die Bedeutung des Wortes Kenntnis in der Alltagsprache vgl. Frisch, Vorsatz
(Anm. 6), S. 164 ff.
77 Nimmt z. B. der Neffe irrtümlich an, es befinde sich eine Bombe in dem Flugzeug, das
sein Onkel auf seine Veranlassung besteigen will, dann liegt nach hier verwendeter Ter-
minologie kein Fall des Sonderwissens vor, sondern ein Problem der Irrtumsdogmatik
und des untauglichen Versuchs, das im subjektiven Tatbestand anzusiedeln ist und mit
der Frage, ob Sonderkenntnisse schon für den objektiven Tatbestand relevant sein kön-
nen, nicht vermengt werden sollte.
78 Grundlegend hierzu Kaminski (Anm. 6), S. 135 ff.
79 Statt aller Roxin (Anm. 2), § 11 Rdn. 35.
80 Insbesondere im Notstand wird die objektive Maßfigur unterschiedlich bestimmt:
Schaffstein, Festschrift für Bruns, 1978, S. 89, 102, spricht von einem über Sonderwissen
verfügenden Teilnehmer des Verkehrskreises bzw. Inhaber der sozialen Rolle des Täters;
zustimmend Maurach/Zipf (Anm. 6), § 27 Rdn. 15. – Jescheck/Weigend (Anm. 4),
S. 361, Fn. 35, sprechen von einem vernünftigen Beobachter ggf. mit Sonderwissen. –
Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 13/13 hält den „für die Konfliktlage der in Frage stehen
den Art an sich (d. h., wenn sofortiger Entscheidungszwang fehlt) zuständigen Fach-
mann“ für maßgeblich; der Sache nach ähnlich Lackner/Kühl, StGB, § 24. Aufl. 2001,
§ 34 Rdn. 2; auch Hirsch, Festschrift für Kaufmann (Anm. 39), S. 552 u. 554 stellt auf
die Feststellbarkeit der Gefahr durch einen Fachmann ab. – Differenzierend Roxin
(Anm. 2), § 16 Rdn. 15: Jakobs sei zu folgen bei Situationen, die einen Fachmann ver-
langen, Schaffstein bei solchen, die keiner Fachkenntnisse bedürfen. – Eingehend zur
gesamten Diskussion Dimitratos, Das Begriffsmerkmal der Gefahr in den strafrecht-
lichen Notstandsbestimmungen, 1989, S. 150 ff., der sich im wesentlichen Roxin an-
schließt (S. 168ff.).
81 S. hierzu noch unten III. 7.
82 S. noch unten III. 7.
83 Vgl. unten Anm. 154.
84 Vgl. unten Anm. 155.
85 So ungeachtet des herrschenden „sozialen Schuldbegriffs“, der nicht auf das konkrete
Individuum abstellt (s. nur Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 428, mit Nachweisen),
Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746, 749 ff.
86 Vgl. unten Anm. 156.
3. Systembruch?
Ist es möglich, Sonderwissen und Sonderkenntnisse im definierten Sinne bei
einer sich objektiv nennenden Zurechnung ohne Systembruch zu berück-
sichtigen? Wie bereits gezeigt (s. o. II. 2.), scheint die ganz h. M. die Frage zu
verneinen, und nur eine Meinungsgruppe, der namentlich Roxin, Frisch und
Puppe zuzurechnen sind, bejaht sie. Wer hat recht?
Ausgangspunkt der Antwort muss die Einsicht sein, dass die Frage, ob
die Berücksichtigung subjektiver Elemente im objektiven Tatbestand einen
Systembruch darstellt, im wesentlichen methodologischen Charakter auf-
weist – wie es auch Roxin, Frisch und Puppe sehen, wenn sie bei ihrer
Antwort mit Überlegungen zur richtigen Methode der Systembildung im
Strafrecht argumentieren. Wenn unter System ein nach bestimmten Ge-
sichtspunkten geordnetes Ganzes zu verstehen ist 87, dann können diese
Gesichtspunkte, wie schon Radbruch bemerkte, zweierlei Natur sein: Ent-
weder sind sie auf den zu ordnenden Gegenstand bezogen; in diesem Falle
ergibt sich ein klassifikatorisches oder kategoriales System. Oder sie bezie-
hen sich auf den Zweck der Ordnung; dann entsteht ein teleologisches,
funktionales System 88. Für ein klassifikatorisches und kategoriales System
trifft es zu, dass nicht zur Disposition der Dogmatik steht, was objektiv und
was subjektiv ist 89. Für ein teleologisches oder funktionales System hin-
gegen hängt die Einordnung in den objektiven bzw. subjektiven Tatbestand
von der Funktion dieser Begriffe ab, von dem, was sie im System leisten
müssen. Das Problem entpuppt sich also als eines der Wahl zwischen einer
kategorialen, klassifikatorischen oder aber einer teleologischen, funktionalen
Systematik.
Dafür, dass eine teleologische, funktionale Systematik vorzugswürdig ist,
sei hier nur ein einziger Grund angegeben 90. Er bezieht sich auf den norma-
tiven Charakter der Rechtswissenschaft, deren Sätze nicht in deskriptiver,
sondern in präskriptiver Sprache formuliert werden und die nicht von einem
Sein, sondern von einem Sollen handeln. Und nur aus einem teleologischen
System lassen sich Sätze in präskriptiver Sprache ableiten, denn ein Sollen
kann nur aus einem Sollen folgen. Demgegenüber hat eine klassifikatorische
Systematik lediglich didaktischen Wert, weil aus ihr nie Sätze in präskripti-
ver Sprache und Lösungen für konkrete Probleme abgeleitet werden können
und ein Sollen nicht aus einer zufälligen Auflistung der Begriffe innerhalb
eines solchen Systems folgen kann. Gewiss erscheint eine klassifikatorische
Bestimmung des objektiven Tatbestands – z. B. als des Teils des Tatbestandes,
der umfasst, was außerhalb der Täterpsyche liegt – möglich; hieraus kann
aber nicht gefolgert werden, dass subjektives Sonderwissen im objektiven
Tatbestand keinerlei normative Relevanz habe. Eine solche Argumentation
setzt vielmehr normative Prämissen voraus, die nur dann zum Vorschein
kommen werden, wenn das System teleologisch aufgebaut wird. Wenn
Struensee und Burkhardt versuchen, Systeme zu bilden, welche Sonderwis-
sen bruchlos berücksichtigen können, ist nicht zu verkennen, dass die Argu-
mentation zirkelhaften Charakter hat und die maßgebliche Wertung mit kon-
struktiven und formellen Argumenten verdeckt wird. Das Ergebnis, mit
Sonderwissen vorgenommene Handlungen seien zu bestrafen, überzeugt
nur, wenn das Werturteil lautet, dass solche Fälle Strafe verdienen – was aber
von den genannten Autoren weder explizit gemacht noch begründet wird.
Ein funktionales System hingegen wird mit der Wertung beginnen und sich
erst danach mit der Systembildung befassen, die richtig ist, wenn sie den
Vorgaben der ihr vorausgehenden Wertung entspricht. Zusammengefasst:
Ein klassifikatorisches System behauptet, von deskriptiven Prämissen aus-
zugehen, um präskriptive Ergebnisse zu erzielen, was entweder ein logischer
Fehler oder ein Mangel an Transparenz bezüglich der maßgeblichen Wer-
tungen oder beides zusammen ist; ein teleologisches System geht von prä-
skriptiven Prämissen aus, um zu präskriptiven Ergebnissen zu gelangen, was
ein Gebot sowohl der Logik als auch der Transparenz ist.
Derartige Erwägungen haben auch außerhalb des Kreises derer, die sich
ausdrücklich „Funktionalisten“ nennen, Anerkennung gefunden 91, und im
Grunde wird – abgesehen von der kleinen Gruppe der Finalisten – nur ver-
einzelt bestritten, dass das Strafrechtssystem teleologisch zu bilden sei 92.
91 Vgl. z. B. die grundlegende Abhandlung von Gallas, ZStW 67 (1955), S. 1, 47, und heut-
zutage Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 197.
92 So anscheinend Lenckner, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), Vorb. §§ 13 ff. Rdn. 22, oder
Hruschka, Strafrecht, 2. Aufl. 1988, S. XXI.
Die Diskussion kann deswegen nicht mehr das „Ob“, sondern nur noch
das „Wie“ der maßgeblichen Zwecke und Wertungen betreffen: Was ist
Telos des teleologischen Systems? Hier trennen sich die Wege. Einige
Autoren gehen von einer soziologischen Theorie sozialer Systeme aus 93, an-
dere von der Gedankenwelt des deutschen Idealismus 94, andere von ei-
ner Analytik der Strukturen der Sprache 95, und wieder andere schließ-
lich von der Kriminalpolitik 96. Wie an anderer Stelle bereits darge-
93 So namentlich Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 9 ff. (noch in Distanz zu Hegel,
s. S. 4 in Fn. 5); ders., Allg. Teil (Anm. 45), 1/4 ff. (bereits in Nähe zu Hegel, § 1/21).
94 Vgl. E. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786, 806 ff.; Köhler (Anm. 6), S. 9 ff.; Zaczyk, Das
Unrecht der versuchten Tat, 1989 S. 128 ff.; Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeits-
zusammenhanges bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990 S. 269 ff.; Jakobs,
Handlungsbegriff (Anm. 44), S. 41, und ZStW 107 (1995), S. 843, 844; Lesch, JA 1994,
590, 597ff.; ders., Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 175ff.; Frisch (Anm. 67), S. 145 ff.
Krit. Stratenwerth, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 373, 380.
95 Z. B. Hruschka (Anm. 92), S. XIII ff.
96 So grundlegend Roxin, Kriminalpolitik (Anm. 53), S. 15; ders. (Anm. 2), § 7 Rdn. 51 ff.;
ders., Festschrift für Kaiser, 1998, S. 885 ff.; ders., Strafrechtsdogmatik, S. 31ff.; Schüne-
mann (Anm. 87), S. 45 ff.; ders., Festschrift für Roxin, 2001, S. 1, 23ff.; Rudolphi, Der
Zweck staatlichen Strafens und die strafrechtlichen Zurechnungsformen, in: Schüne-
mann (Anm. 87), S. 69 ff.; Amelung, Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtsy-
stems von Roxin, in: Schünemann (Anm. 87), S. 85, 87; Achenbach, Individuelle Zu-
rechnung, Verantwortlichkeit, Schuld, in: Schünemann (Anm. 87), S. 135, 140; Stein,
Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, 1988, S. 56 ff.; Wolter, Menschenrechte
(Anm. 6), S. 31. – S. aus der spanischen Lehre Muñoz Conde, Introducción al derecho
penal, 1975, S. 182 ff.; Mir Puig, Función de la pena y teoría del delito en el estado social
y democrático de derecho, in: El derecho penal (Anm. 6), S. 29, 45; ders., Das Straf-
rechtssystem im heutigen Europa, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Anm. 6), S. 35, 36;
Silva-Sánchez, Aproximación al derecho penal contemporâneo, 1992, S. 362 ff.; ders.,
Kriminalpolitik bei der Strafrechtsdogmatik: Einige Bemerkungen zu Inhalt und Gren-
zen. Zugleich ein Beitrag zu Ehren von Claus Roxin, in: Schünemann (Hrsg.), Straf-
rechtssystem und Betrug, 2002, S. 1, 3 ff.; Carbonell Mateu, Derecho penal, S. 230;
García-Pablos, Derecho Penal, Introducción, 2000, S. 536. – Aus der italienischen
Lehre Moccia, Il diritto penale tra essere e valore, 1992, S. 26 ff.; ders., Die systema-
tische Funktion der Kriminalpolitik. Normative Grundsätze eines teleologisch orien-
tierten Strafrechtssystems, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Anm. 6), S. 45 ff.; Cava-
liere, L’errore sulle scriminanti nella teoria dell’illecito penale, 2000, S. 349 ff. – Aus der
portugiesischen Lehre Costa Andrade, Strafwürdigkeit und Strafberdürftigkeit als
Referenzen einer zweckrationalen Verbrechenslehre, in: Schünemann/Figueiredo Dias
(Anm. 6), S. 121 ff.; Sousa e Brito, Etablierung des Strafrechtssystems zwischen forma-
ler Begriffsjurisprudenz und funktionalistischer Auflösung, in: Schünemann/Figuei-
redo Dias (Anm. 6), S. 72. Aus der brasilianischen Lehre Greco, RBCC 32 (2000),
S. 131ff.; ders. (Anm. 13), S. 62 ff.; Guedes de Paula, Prescrição penal – Prescrição fun-
cionalista, 2000, S. 180 ff.; Queiroz, Para uma configuração monista-funcional da teoria
do delito, in: Calhau (Hrsg.), Estudos Jurídicos – Homenagem ao Promotor Cléber
Rodrigues, 2000, S. 36 ff.; ders., Direito Penal, Introdução crítica, 2001, S. 86ff.
legt 97, ist der zuletzt genannte Weg vorzugswürdig. Die Entscheidung über
die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens ist vor allem eine politische
Entscheidung, die die konkret in Frage kommenden Interessen und die vom
Gesetzgeber getroffenen Wertungen berücksichtigen muss. „Aus alledem
wird klar, dass der richtige Weg nur darin bestehen kann, die kriminalpoli-
tischen Wertentscheidungen in das System des Strafrechts … eingehen zu
lassen“ 98.
Für die Ausgangsfrage ergibt sich hieraus, dass subjektive Gegebenheiten
in den objektiven Tatbestand einbezogen werden können, soweit sie sich für
die ihm zugewiesene kriminalpolitische Aufgabe als relevant erweisen.
Zweck des objektiven Tatbestands ist die abstrakte 99 Bestimmung der Gren-
zen des Erlaubten bzw. Verbotenen: bis zu welchem Punkt die äußere Frei-
heit eines jeden Bürgers reicht bzw. an welchem Punkt sie endet 100. Die
externe, vom Täterspychischen unabhängige Perspektive des objektiven Tat-
bestandes ist erst das Ergebnis der Zurechnung zu ihm: Die objektiv tat-
bestandsmäßige Handlung ist immer eine in ihrer äußerlichen Dimension
verbotene Handlung, unabhängig vom Vorliegen irgendeiner psychischen
Gegebenheit und insbesondere des Vorsatzes. Aber subjektive Gegebenhei-
ten können sehr wohl als Voraussetzungen dieser Zurechnung für relevant
gehalten werden, und zwar immer dann, wenn es notwendig und legitim ist,
auf Kenntnisse und andere subjektive Gegebenheiten zuzugreifen, um die
Grenzen des äußerlich Verbotenen und Erlaubten zu bestimmen. Übrigens
gilt auch umgekehrt, dass objektive Gegebenheiten für den subjektiven Tat-
bestand relevant sein können; so sind die Größe der Gefahr 101 oder der Wert
des gefährdeten Guts 102 als wesentliche Kriterien für die Unterscheidung
103 Vgl. ferner BGHSt. 36, 10: „Geboten ist somit eine Gesamtschau aller objektiven und
subjektiven Tatumstände“.
104 Vgl. die Nachweise oben Anm. 55 ff.
Strafen haben 105, so erscheint sie in hohem Maße plausibel. Insbesondere ist
es plausibel, dass das Strafrecht mit den strafbewehrten Verboten von Hand-
lungen die maßgeblichen interpretativen Muster liefert zu beurteilen, ob eine
Straftat vorliegt oder nicht. Auch spricht wenig gegen die These, die Strafe
bewirke106 die Stärkung oder Wiederbehauptung der Geltung der gebroche-
nen Norm und sichere dadurch das Überleben eines bestimmten (d. h. eines
sich auf bestimmte Normen gründenden) Gesellschaftsmodells. Freilich ist
zu bemerken, dass auch andere beschreibende (deskriptive) Interpretationen
des deliktischen Geschehens und der strafrechtlichen Reaktion möglich
sind, die sich weniger an kommunikative Faktoren anlehnen, als es Jakobs
tut. So würde ein konflikttheoretischer Ansatz vor allem die vorhandenen
Machtdimensionen hervorheben 107; oder ein psychoanalytischer Ansatz
würde vor allem das Unbewusste sowohl des Straftäters als auch der strafen-
den Gesellschaften analysieren, um die verborgenen Motive für das Verhal-
ten beider zu beleuchten 108. Als beschreibende (deskriptive) Modelle sind
alle diese Theorien plausibel und machen auf unterschiedliche Dimensionen
der Wirklichkeit aufmerksam. Aber das normative Problem, wie der Begriff
der Gefahr zu bestimmen ist, kann nicht auf der Grundlage einer beschrei-
benden (deskriptiven) Theorie gelöst werden, weil einen naturalistischen
Fehlschluss beginge, wer aus einem Sein auf ein Sollen schlösse. Selbst wenn
das Strafrecht empirisch die für eine Gesellschaft grundlegenden Normen
und Rollen sichern, die in ihr vorhandenen Machtverhältnisse widerspiegeln
oder als Stellvertreter für die disziplinierende Figur des Vaters wirken
würde, so ließe sich daraus nie folgern, das Strafrecht solle Strafen aufer-
legen, um Normen und Rollen zu sichern, Herrschaftsverhältnisse zu erhal-
ten oder die Figur des Vaters zu vertreten.
Freilich lässt sich die Theorie von Jakobs möglicherweise normativ als
Erklärung darüber verstehen, wie das Strafrecht sein sollte, nämlich Mittel
105 Dass Jakobs seine Lehre als deskriptiv versteht, wird in Das Schuldprinzip, 1993, S. 30;
ders., ZStW 107 (1995), S. 843, 848 (Fn. 10) nahegelegt.
106 In neuerer Zeit spricht Jakobs eher davon, Strafe habe „die Bedeutung“ der Bestätigung
sozialer Identität; s. nur ders., ZStW 107 (1995), S. 843, 845 (die Bestätigung sozialer
Identität „ist nicht Folge des Verfahrens, sondern seine Bedeutung“); ders., Das Selbst-
verständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart
(Kommentar), in: Eser u. a. (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahr-
tausendwende, 2000, S. 47, 49.
107 So z. B. Richard Quinney, The social reality of crime, 1970 (Nachdruck 2001), S. 9 ff.
108 Z. B. Fromm, The state as educator: on the psychology of criminal justice, in: Ander-
son/Quinney (Hrsg.), Erich Fromm and critical criminology, 2000 (urspr. 1930), S. 123,
126.
zur Sicherung der normativen Identität einer Gesellschaft. Dann aber wäre
sie nicht mehr plausibel, weil erst zu begründen wäre, warum die normative
Identität einer Gesellschaft für sich ein Wert ist: Ist eine Gesellschaft allein
deshalb ein Wert, wenn sie sie selbst ist? Ist es nicht möglich, dass es Ver-
änderungen einer gegebenen Gesellschaft zum Besseren gibt? Und wenn die
Straftat nur ein von der bestehenden Welt abweichender Weltentwurf ist,
warum ist dieser dann so unerwünscht, dass darauf mit Strafe reagiert wer-
den muss? Eine normative Theorie des Strafrechts, die Bedingungen dafür
benennt, dass Verbote und Strafen sich als gerechtfertigt erweisen, kann auf
die Idee des Rechtsguts nicht verzichten. Nur wenn etwas für die persönliche
Verwirklichung des Bürgers Notwendiges 109 und deshalb Wertvolles verletzt
oder gefährdet wird, ist es gerechtfertigt oder zumindest nicht von vorn-
herein ungerecht, mit den Mitteln des Strafrechts in die Freiheit der Bürger
einzugreifen. Ob man nach der Straftat in einer anderen Gesellschaft lebt
oder nicht, erscheint demgegenüber unerheblich.
Derartige Einwände gegen die Prämisse, Strafrecht habe die normative
Identität der Gesellschaft zu sichern, richten sich auch gegen die von Jakobs
behauptete Konsequenz, die objektive Zurechnung sei im Bruch einer sozia-
len Rolle zu fundieren. Ob das Täter getan (oder nicht getan) hat, was andere
von ihm als Rollenträger erwarten, ist für ein dem Rechtsgüterschutz ver-
pflichtetes Strafrecht unerheblich. Dieses konstituiert zwar gleichfalls be-
stimmte strafrechtserhebliche Rollen, die aber nur insoweit durch Strafe
gesichert werden dürfen, als dies dem Rechtsgüterschutz dient. Dem Bür-
ger soziale Rollen im Sinne von Verhaltensrichtlinien aufzuzwingen, deren
Bruch eine Strafe ohne weiteres rechtfertigen würde, liefe demgegenüber
auf die Anerkennung einer disziplinären Gewalt 110 hinaus, die von einem
Rechtstaat, der nicht Polizeistaat sein will, nicht legitim ausgeübt werden
kann.
b) Seine Auffassung, Sonderkenntnisse seien für die objektive Zurech-
nung irrelevant, stützt Jakobs freilich noch auf einen weiteren, sachlich un-
abhängigen Grund: das Prinzip cogitationis poenam nemo patitur. In der Tat
fragt sich, ob ein objektiv an sich unbedenkliches, an sich rechtmäßiges Ver-
109 Ob dieser Individualbezug eher direkt (so insbesondere die Vertreter der sog. persona-
len Rechtsgutslehre wie Hassemer, Grundlinien einer personalen Rechtsgutslehre, in:
Scholler/Philips [Hrsg.], Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 85ff.; Hohmann, Das
Rechtsgut der Umweltdelikte, 1990, S. 177 ff.) oder eher indirekt zu verstehen ist (z. B.
Roxin (Anm. 2), § 2 Rdn. 9), kann vorliegend offen bleiben.
110 Vgl. Foucault, Surveiller et punir, 1975, S. 135 ff.
halten allein deshalb anstößig, rechtswidrig und verboten sein kann, weil zu-
fälligerweise ein bestimmtes subjektives Sonderwissen vorhanden ist: Würde
dies nicht bedeuten, dass Gedanken, also Umstände, die allein der Privat-
sphäre des Bürgers zuzurechnen sind und auf die das Strafrecht nicht legitim
zugreifen darf, bestraft würden? Die Richtung unserer Antwort lässt sich
durch eine Variante eines ursprünglich von Nowakowski gebildeten Bei-
spielsfalles 111 andeuten: Der Täter fordert die Mutter, deren Kind über Kopf-
schmerzen klagt, dazu auf, dem Kind Kopfschmerzpulver zu geben, und
zeigt dabei auf ein Fläschchen mit dem Etikett „Kopfschmerzpulver“, das
aber, wie der Täter aus Zufall weiß, Gift enthält. Das Kind stirbt an dem Gift,
das ihm die gutglaubige Mutter als vermeintliches Kopfschmerzpulver ver-
abreicht. Hier hat der Täter an sich objektiv getan, was jeder andere an seiner
Stelle getan hätte und hätte tun dürfen, nämlich der Mutter vorzuschlagen,
dem Kind Kopfschmerzpulver zu geben, und sie auf das Fläschchen mit dem
(vermeintlichen) Kopfschmerzpulver hinzuweisen. Das einzige, was den Tä-
ter von dem straflosen Jedermann unterscheidet, ist sein zufälliges Sonder-
wissen. Muss es für die objektive Zurechnung außer acht gelassen werden
und darf der Täter allenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft wer-
den, oder würde nicht so ein heimtückischer Mord bagatellisiert?
Für eine befriedigende Antwort muss die Frage nach der Reichweite des
bislang wenig untersuchten 112 Prinzips cogitationis poenam nemo patitur
aufgeworfen werden, ob es auf alle subjektiven Gegebenheiten anzuwenden
ist oder ob es einer Differenzierung bedarf. In der Tat ist das Prinzip nicht
auf kognitive, sondern nur auf hier so genannte emotionelle oder opinative
subjektive Gegebenheiten anwendbar. Kognitive subjektive Gegebenheiten
sind solche, die sich auf einen bestimmten Zustand der wirklichen Welt be-
ziehen (im Beispielsfall das Wissen des Täters, dass sich in dem Fläschchen
Gift befindet), emotionelle solche, die sich auf Willen, Gesinnungen oder
Gefühle des Täters beziehen (im Beispielsfall hasse der Täter die Mutter des
Kindes und wünsche dem Kind den Tod), und opinative solche, die sich auf
Meinungen oder Bekenntnisse beziehen (im Beispielsfall sei der Täter Anar-
111 Nowakowski, JZ 1956, 545, 549. – Ähnlich der Beispielsfall bei Jescheck/Weigend
(Anm. 4), S. 666: A bestimmt den nichtsahnenden B, ein Kabel mit tödlicher elektri-
scher Spannung zu berühren; der Fall könnte dahin ergänzt werden, dass die von dem
Kabel ausgehende Lebensgefahr auch für eine objektive Maßfigur nicht erkennbar ist.
112 S. aber Stechmann, Entwicklung und Bedeutung des Satzes „cogitationis poenam nemo
patitur“, 1979.
113 Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine subjektive Gegebenheit zugleich kognitiv und
emotionell oder opinativ sein kann wie z. B. beim dolus directus ersten Grades (Ab-
sicht im technischen Sinne), wo der tatbestandliche Erfolg als Endzweck des Täters so-
wohl eine kognitive als auch eine emotionelle Komponente hat. Ist eine kognitive
Komponente gegeben, ist das Prinzip cogitationis poenam nemo patitur nicht anwend-
bar, weil man sich andernfalls in seinen Schutzbereich begeben könnte, indem man mit
dolus directus ersten Grades handelt bzw. dies behauptet.
114 Vgl. auch Art. 4 und 5 GG.
115 Was auch von Frisch (Anm. 67), S. 183, hervorgehoben wird.
116 Vgl. dazu Röd, Der Weg der Philosophie I, 2000, S. 452.
117 Ähnlich die parallele Diskussion zur Relevanz der sog. Sonderfähigkeiten beim Fahr-
lässigkeitsdelikt, vgl. Roxin (Anm. 2), § 24 Rdn. 54 ff.
118 So bestreitet bei der strafrechtlichen Produkthaftung niemand, dass die überlegenen
Kenntnisse des Produzenten ihm besondere Pflichten gegenüber dem Verbraucher auf-
erlegen; vgl. Kuhlen, Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung, 1989, S. 95 ff.; spe-
ziell zur Relevanz des Sonderwissens in diesem Bereich ders., 50 Jahre Bundesgerichts-
hof – Festgabe aus der Wissenschaft, 2000, S. 647, 662.
119 Z. B. Jakobs, La omisión: estado de la cuéstion, in: Silva Sánchez (Anm. 6), S. 129, 133;
ihm folgend Sanchez-Vera (Anm. 42), S. 115.
120 Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 7/50: „Bringt der Täter von sich aus das Sonderwissen in
die Beziehung zum Opfer ein, gehört das Wissen damit zu der Rolle, die diese Bezie-
hung prägt, auch wenn der Täter an sich zur Berücksichtigung des Sonderwissens nicht
verpflichtet wäre. Es ist also ausgeschlossen, dass ein Täter, der ein Sonderwissen nicht
zugunsten des Opfers berücksichtigen muss, es zu Lasten des Opfers ausnutzt“; s. auch
ders., Festschrift für Hirsch, 1999, S. 56 (Fn. 42).
121 Krit. auch Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch,
1995, S. 245 (Fn. 28).
122 In diesem Sinne wohl Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 7/50.
des Täters keine Rolle spielen, dann müsste man hier von einer Strafbarkeit
des Studenten wegen eines versuchten Tötungsdelikts ausgehen 123. Das Er-
gebnis wäre nicht vertretbar, und es ist nicht einzusehen, warum eine Per-
son, die lediglich interne Regeln eines Restaurants bricht, strafbar sein soll.
In der Tat sind Fälle, in denen die Sonderkenntnisse des Täters ihm die Ein-
sicht vermitteln, dass keine Gefahr besteht, durchaus praxisrelevant. Zu
ihnen gehört insbesondere die Konstellation des agent provocateur (s. noch
u. III. 6.), der nach h. A. straflos ist, auch nach Auffassung von Jakobs, ob-
wohl die Annahme der Strafbarkeit konsequent wäre, wenn das Verbot eines
Verhaltens stets auf den objektiven Bruch einer sozialen Rolle zu gründen
wäre 124.
127 Kaufmann (Anm. 21), S. 259; zustimmend Schöne, Gedächtnisschrift für Hilde Kauf-
mann, 1986, S. 649, 666.
128 Hirsch, Festschrift für Lenckner (Anm. 39), S. 123.
129 Küpper (Anm. 54), S. 92.
130 Hirsch, Festschrift für Lenckner (Anm. 39), S. 135.
131 Welzel (Anm. 1), S. 129 f.; Kaufmann, ZfRV 5 (1964), S. 45; Hirsch, ZStW 94 (1982),
S. 239, 266 ff.
132 So Greco (Anm. 13), S. 114 ff.
133 So die h. M.; statt aller Roxin, JuS 1966, 381; ders. (Anm. 2), § 2 Rdn. 1; Jescheck/Wei-
gend (Anm. 4), S. 7, mit w. Nachw.
Dann aber dürfen nur gefährliche Handlungen verboten werden, weil das
Verbot ungefährlicher Handlungen keine Vorteile für den Rechtsgüter-
schutz bietet 134. Diese Neustrukturierung des objektiven Tatbestandes mit
Bezug auf den Zweck des Rechtsgüterschutzes ist der eigentliche wissen-
schaftliche Fortschritt, der in der Lehre von der objektiven Zurechnung
liegt. Für die klassische Strafrechtswissenschaft war jede Verursachung eines
Schadenserfolgs Gegenstand der Norm, deren Inhalt nach Binding lautete:
„Verursacht nicht, befehlen die Verbote, verursacht, die Gebote“ 135. Der Fi-
nalismus bewies, dass das nicht richtig sein kann 136. Aber an die Stelle der
Kausalität setzte er die Finalität und formulierte die Norminhalt: „Richtet
nicht euren Willen darauf, eine Rechtsgutsverletzung zu verursachen“ 137.
Aber das ist vom Zweck des Rechtsgüterschutzes nicht durchweg gedeckt,
weil sogar absolut ungefährliche, aber von einem dem Rechtsgut feindlichen
Willen getragene Handlungen vom Verbot erfasst würden. Dies zu korrigie-
ren, ist das zentrale Anliegen der Lehre von der objektiven Zurechnung: Was
nicht gefährlich ist, kann nicht tatbestandsmäßig sein 138, und immer muss
der Begriff der Gefahr in Bezug auf die kriminalpolitische Funktion des
Rechtsgüterschutzes gebildet werden.
b) Hieraus lässt sich nun aber zwanglos ableiten, dass Sonderwissen je-
denfalls zugunsten des Täters in das Gefahrurteil eingehen muss: Würde eine
objektive Maßfigur von einer Gefahr ausgehen, hat aber der Täter Sonder-
wissen, dass in Wirklichkeit keine Gefahr besteht, so lässt sich kein Verhal-
tensverbot legitimieren, weil es für den Zweck des Rechtsgüterschutzes un-
tauglich wäre 139. Serviert der Biologiestudent, der als Kellner arbeitet, einen
Salat mit Pilzen, die, wie der Student kraft Biologiestudiums weiß, ungiftig
und äußerst wohlschmeckend sind, dann schafft er keine rechtlich relevante
Lebensgefahr, selbst wenn er seine Kellnerrolle bricht oder der Koch oder
jedermann oder eine objektive Maßfigur den Pilz für lebensgefährlich giftig
halten.
134 So ausdrücklich Roxin (Anm. 2), § 7 Rdn. 57; Schünemann, JA 1975, 438; Rudolphi
(Anm. 100), S. 76 f.; Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Ge-
fahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 26, 47, 94.
135 Binding, Die Normen und ihre Übertretung I, 4. Aufl., 1922 (Neudruck 1991), S. 123.
136 So insb. Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 102ff.
137 So in der Sache die extrem-subjektive Richtung des Finalismus: Zielinski, Handlungs-
und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 143; Horn, Konkrete Gefährdungs-
delikte, 1973, S. 78 ff.
138 Hiernach ist die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs eine Anomalie; vgl. Frisch,
Vorsatz (Anm. 6), S. 86 ff.; Rudolphi (Anm. 100), S. 82.
139 So im Ergebnis auch Brehm (Anm. 6), S. 130.
bewertet das Urteil über das (Un-) Erlaubtsein der Gefahr die erste Wer-
tung, es gebe eine Gefahr. Jene zweite Wertung ist also eine Meta-Wertung,
und beide Wertungen folgen unterschiedlichen Maßstäben, nämlich einer-
seits dem Rechtsgüterschutz und andererseits den Gegeninteressen, die ana-
lytisch und sachlich auseinandergehalten werden müssen – wie erneut
unsere Kritik an Jakobs verdeutlicht, der nicht scharf genug zwischen dem
Gefahrurteil und dem Urteil des (Un-) Erlaubtseins der Gefahr unterschei-
det und deshalb strafbewehrte Verbote schon bei einfachen Gegeninteressen
wie der Einhaltung einer sozialen Rolle außer Kraft setzt, ohne den Rechts-
güterschutz gebührend zu berücksichtigen. Zweitens entspricht es der h. M.,
dass auf der Ebene des Urteils über die (Un-) Erlaubtheit der Gefahr eine
Abwägung zwischen den Belangen der Rechtsgüterschutzes einerseits und
möglichen Gegeninteressen andererseits vorzunehmen ist 141; von dieser Ab-
wägung sollte das Gefahrurteil als solches entlastet werden. Und drittens
führt die hier vertretene Lösung dazu, dass die mit dem Phänomen des Son-
derwissens verbundenen Probleme fast von selbst vollständig verschwinden.
Da das endgültige Urteil über die objektive Tatbestandsmäßigkeit der Wer-
tung der Gefahr als (un-) erlaubt vorbehalten bleibt, kommt dem Sonder-
wissen als solchem eine rechtliche Erheblichkeit, insbesondere eine tat-
bestandsbejahende oder -verneinende Wirkung, nicht zu. Undifferenzierte
Lösungen – wie die von Jakobs oder der Finalisten – scheiden aus. Das Prob-
lem des Sonderwissens lässt sich nicht anhand der Figur des Sonderwis-
sens lösen, weil es ein „Problem“ des Sonderwissens an sich nicht gibt –
es existiert nur als Problem der (Un-) Erlaubtheit der geschaffenen Ge-
fahr. Demgegenüber ist das Gefahrurteil genauso zu treffen, wie es die h. M.
tut: Eine Gefahr liegt vor, wenn für eine objektive Maßfigur oder für den
konkreten, über Sonderwissen verfügenden Täter eine Rechtsgutsverlet-
zung oder -gefährdung ex ante nicht ganz unwahrscheinlich ist. Ausnahme
ist, dass, liegt keine Gefahr vor und weiß das der konkrete Täter, das Ur-
teil, es fehle an einer Gefahr, auch dann bestehen bleibt, wenn eine objek-
tive Maßfigur anderer Auffassung wäre. Hierin liegt ein wesentliches (viel-
leicht paradoxes) Ergebnis der vorliegenden Untersuchung: Die Idee des
Sonderwissens, ursprünglich konzipiert als ein Kunstgriff, um die Strafbar-
keit auszuweiten, hat in Wahrheit eine eigenständige Bedeutung nur für
den Fall, dass der Täter Sonderwissen vom Nichtbestehen einer Gefahr hat,
141 Roxin, ZStW 74 (1962), S. 411, 433; ders. (Anm. 4), S. 245; ders. (Anm. 2), § 11 Rdn. 60;
Schünemann, JA 1975, 575; Rudolphi (Anm. 4), Vor § 1 Rdn. 62; Wolter, GA 1977, 257,
265.
die nach dem Urteil einer objektiven Maßfigur vorliegen würde – und wirkt
sich daher im Sinne einer Strafbarkeitseinschränkung aus.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass Sonderwissen im Prinzip kein juristi-
sches Problem ist und beim Gefahrurteil stets zu berücksichtigen ist.
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Sonderwissen als solches für die Be-
wertung einer geschaffenen Gefahr als (un-) erlaubt nicht relevant ist, denn
es ändert für sich nichts an der dieser Bewertung zugrunde liegenden Inte-
ressenabwägung. Plastisch könnte man sagen, dass Fälle des Sonderwissens
keine Sonderbehandlung verdienen.
7. Analoge Konstellationen
Die hier vertretene These, dass das Sonderwissen als eigenständiger Rechts-
begriff irrelevant sei und Fälle des Sonderwissens nicht anders als andere zu
behandeln seien, kann auch außerhalb der Dogmatik der objektiven Zurech-
nung fruchtbar gemacht werden. Denn auch in anderen dogmatischen Berei-
chen gibt es Konstellationen, in denen Sonderwissen vorliegt oder vorliegen
kann, ohne dass in der h. M. eine Sonderbehandlung erwogen wird.
Solche Konstellationen finden sich insbesondere bei der Beteiligungs-
lehre. So werden bei der mittelbaren Täterschaft insbesondere kraft Irrtums
nicht selten Beispiele genannt, die ein Sonderwissen beinhalten 144. Auch das
überlegene Sachwissen, das die Strafbarkeit einer Mitwirkung an fremder
Selbstgefährdung begründen kann 145, kann den Charakter von Sonderwis-
sen haben. Beim gemeinsamen Tatentschluss, der zentrale Voraussetzung der
Mittäterschaft ist 146, lassen sich Fälle bilden, in denen der Tatentschluß auf
Sonderwissen beruht. Bei der Beihilfe und insbesondere bei der allgemein
anerkannten Fallgruppe der technischen Rathilfe 147 werden Sonderkennt-
nisse nicht selten einbezogen, etwa wenn der Gehilfe zufälligerweise den
144 Roxin (in: LK, 11. Aufl. 2003, § 29 Rdn. 98) bildet das Beispiel, dass A den B zur Ver-
letzung von C bestimmt, und, da A von einer besonderen Anfälligkeit des C Kenntnis
hat, dieser schwere Verletzungen erleidet und nicht nur leichte, wie B es vorhatte. Hier
verfügt A offensichtlich über Sonderwissen – aber niemand verspürt das Bedürfnis, das
besonders hervorzuheben und die Lösung (mittelbare Täterschaft) hiervon abhängig
zu machen. – Sonderwissen war offenbar auch in BGHSt. 30, 363 gegeben. Dort hatte
der Angeklagte einem anderen, der einen Raub begehen sollte, ein vermeintliches
Schlafmittel überreicht, das in Wirklichkeit eine tödliche Menge Salzsäure enthielt. –
Vgl. ferner meine oben bei Anm. 111 entwickelte Variante des Kopfschmerzpulver-Fal-
les.
145 Statt aller Roxin (Anm. 144), § 25 Rdn. 115; BGHSt. 32, 265; 36, 17.
146 Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 674; Roxin (Anm. 144), § 25 Rdn. 173; eingehend Küp-
per, ZStW 105 (1993), S. 301 ff.; umf. Nachw. bei Kamm, Die fahrlässige Mittäterschaft,
1999, S. 35 ff.
147 Vgl. insb. Roxin (Anm. 144), § 27 Rdn. 41; Charalambakis, Festschrift für Roxin, 2001,
S. 625, 634 ff.
Code des Tresorschlosses kennt. Gewiss könnte man daran denken, die viel-
fach erwogene Straflosigkeit der Beihilfe durch neutrale Handlungen 148
oder durch bloße Anwesenheit am Tatort 149 dadurch zu erklären, dass Son-
derwissen beim Gefahrurteil nicht berücksichtigt werde; die Sonderbehand-
lung der genannten Konstellationen stützt sich aber eher auf Erwägungen
zur Erlaubtheit oder Unterlaubtheit der Gefahrschaffung bei der Beihilfe
bzw. zum Begriff des „Hilfeleistens“ 150. Bei der Anstiftung erscheint es viel-
fach geboten, Sonderwissen zu berücksichtigen, etwa wenn der Anstifter
von der Bluterkrankheit des Opfers weiß und den Haupttäter anstiftet, das
Opfer durch eine leichte Hautverletzung zu töten. Die vielfach vertretene
Straffreiheit bei blosser Schaffung einer tatmotivierenden Situation 151
spricht nicht gegen die Berücksichtigung von Sonderwissen bei der Anstif-
tung, sondern ist auf anstiftungsspezifische Erwägungen zurückzuführen,
die den objektiven Tatbestand der Anstiftung bzw. deren unerlaubte Gefahr-
schaffung in bestimmter Weise konkretisieren 152. Eine klare Bestätigung er-
fährt die hier vertretene Auffassung durch die Straffreiheit des agent provo-
cateur: Er ist straffrei, weil er über Sonderwissen über die Ungefährlichkeit
148 Zur Beihilfe durch neutrale Handlungen vgl. Wohlleben, Beihilfe durch äußerlich neu-
trale Handlungen, 1996, S. 13 ff. mit umf. Nachw.
149 Vgl. Roxin (Anm. 144), § 27 Rdn. 15; Weigend, Festschrift für Nishihara, 1998, S. 197,
209 (Fn. 40); Charalambakis (Anm. 147), S. 639; eingehende Diskussion bei Phleps,
Psychische Beihilfe durch Stärkung des Tatentschlusses, 1997, S. 108ff. – Einige Auto-
ren behaupten, hier liege kein Begehen, sondern bloßes Unterlassen vor: Roxin, Straf-
recht Allgemeiner Teil II, 2003, § 31 Rdn. 92 ff.; Sieber, JZ 1983, 431, 434ff.
150 Für die Fallgruppe der neutralen Handlungen sehr klar in diesem Sinne Ambos, JA
2000, 721, 722; Rogat, Die Zurechnung bei der Beihilfe, 1997, S. 82 ff.; Schall, Gedächt-
nisschrift für Meurer, 2002, S. 103, 114.
151 Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), § 26 Rdn. 4; Frisch, Verhalten (Anm. 6),
S. 343; Geppert, Jura 1997, 299, 304; Hünerfeld, ZStW 99 (1987), S. 228, 248; Jakobs,
Allg. Teil (Anm. 45), 22/21 ff.; Keller, Grenzen der Provokation von Straftaten, 1989,
S. 254ff.; Otto, JuS 1982, 557, 560; Plate, ZStW 84 (1972), S. 294, 295 (Fn. 2); Rogall,
GA 1979, 11, 12; Roxin (Anm. 144), § 26 Rdn. 3; Schumann, Strafrechtliches Hand-
lungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 52; diffe-
renzierend Christmann, Zur Strafbarkeit sogenannter Tatsachenarrangements wegen
Anstiftung, 1997, S. 129 ff. Dagegen (für Bestrafung) Herzberg, Täterschaft und Teil-
nahme, 1977, S. 53; Widmaier, JuS 1970, 241, 243.
152 So die, die einen geistigen Kontakt zwischen Anstifter und Täter verlangt (statt aller
Roxin (Anm. 144), § 26 Rdn. 3 mit Nachw.); viele verlangen einen der Mittäterschaft
analogen gemeinsamen Tatentschluss bzw. einen Unrechtspakt (Puppe, GA 1984, 101,
112ff.; zustimmend Hoyer, SK StGB, 7. Aufl. 2000, § 26 Rdn. 12) oder, dass der Täter
die Tat aufgrund der Anstiftung begeht (Jakobs, Allg. Teil [Anm. 45], 22/22).
IV. Zusammenfassung
1. Sonderwissen ist ein dem Täter verfügbares Wissen, welches das über-
schreitet, über das eine objektive Maßfigur verfügt.
2. In einem teleologischen, kriminalpolitischen System ist es möglich,
subjektives Sonderwissen bereits im objektiven Tatbestand zu berücksichti-
gen, da und soweit dies mit der kriminalpolitischen Funktion des objektiven
Tatbestandes vereinbar ist. Dann gehen die systematischen Einwände der
Finalisten gegen die Vermengung von Objektivem und Subjektivem ins
Leere.
3. Kriminalpolitische Funktion des objektiven Tatbestandes ist die Be-
stimmung der äußeren Grenzen des Erlaubten bzw. Verbotenen. Soweit sich
153 Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder (Anm. 4), § 26 Rdn. 20; Geppert, Jura 1997, 358,
360; Herzberg, GA 1971, 1, 12; Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 22/9, 23/16; Keller (Anm.
169), S. 193, für den sich die Anstiftung als abgeleiteter Tatbestand nicht auf einen an-
deren abgeleiteten Tatbestand wie den des Versuchs beziehen kann; Stratenwerth
(Anm. 6), § 12 Rdn. 150; weitere Nachw. bei Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 687
(Fn. 16). – A.A. mit dem Argument, es genüge der Wille, den Versuch herbeizuführen,
Stratenwerth, MDR 1953, 717, 720.
154 S. nur Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 343; Lenckner, in: Schönke/Schröder (Anm. 4),
§ 32 Rdn. 34.
155 S. nur Schaffstein (Anm. 80), S. 102; Maurach/Zipf (Anm. 6), § 27 Rdn. 15; Jescheck/
Weigend (Anm. 4), S. 361 (Fn. 35); Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 13/13; Roxin (Anm. 2),
§ 16 Rdn. 15. – A.A. Samson, in: SK StGB, 7. Aufl. 2000, § 34 Rdn. 19: Gefahrurteil auf
ex post Grundlage.
156 Dimitratos (Anm. 80), S. 185 ff.; Hirsch (Anm. 156), § 35 Rdn. 17.
157 S. Dimitratos (Anm. 80), S. 177 ff.; Jescheck/Weigend (Anm. 4), S. 361 (Fn. 35); Roxin
(Anm. 2), § 16 Rdn. 14; Schaffstein (Anm. 80), S. 102.
158 So z. B. Jakobs, Allg. Teil (Anm. 45), 13/13.
159 Vgl. Hirsch (Anm. 156), § 35 Rdn. 17.