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2023 09:39 - Quelle: beck-online DIE DATENBANK

StGB § 16 Irrtum über Ingeborg Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Rn. 81


Tatumstände Puppe Strafgesetzbuch -85
5. Auflage 2017

3. Der sog. dolus generalis, verspäteter Erfolgseintritt

Von dolus generalis spricht man in den Fällen, in denen der Täter, in dem irrigen 81
Glauben, den Erfolg bereits durch eine erste Handlung herbeigeführt zu haben,
eine zweite begeht, die aber ohne sein Wissen auch ursächlich für den Erfolg ist.
Standardfälle sind Tötungshandlungen mit anschließenden
Verdeckungshandlungen, die den Tod mitverursachen, Bsp: Der Täter glaubt, sein
Opfer erwürgt zu haben, und hängt es zur Vortäuschung eines Selbstmords in eine
Schlinge (BGH GA 1955, 123), der Täter wirft sein totgeglaubtes Opfer in eine
Jauchegrube, wo es ertrinkt (BGHSt 14, 193; vgl auch BGHSt 10, 291 [293 f]).
Hier kommt als Zurechnungsgrundlage nur die erste der beiden Handlungen in
Betracht, denn bei der zweiten fehlte die für den Vorsatz erforderliche Vorstellung,
den Erfolg noch verursachen zu können. Aber diese erste Handlung ist auch kausal
für den Erfolg. Niemand lässt sich in eine Schlinge hängen, in eine Jauchegrube
werfen oder vergraben, wenn er bei Sinnen ist und sich wehren kann. Durch die
erste mit Tötungsvorsatz begangene Handlung hat der Täter die Wehrlosigkeit des
Opfers verursacht, ebenso wie seinen eigenen Glauben an dessen Tod. Beides ist
mitursächlich für das weitere zum Tode führende Geschehen. Das gilt auch, wenn
der sich Täter nach der ersten Tötungshandlung zunächst vom Tatort entfernt,
dann zurückkehrt, um sich als Entdecker der vermeintlichen Leiche auszugeben,
und nun, da das Opfer noch lebt, es vollends tötet (BGH 3.12.2015 – 4 StR 223/15,
JR 2016, 274 [275 f]; Puppe AT 10/25ff; aA BGH 12.6.2001 – 5 StR 432/00, NStZ
2002, 253f; Eisele JuS 2016, 368 [370]; Köhler AT, 154).

Deshalb kann entgegen Engisch ([1930], 72) die Zurechnung zum Vorsatz in 82
diesen Fällen nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der Vorsatz sei mit der
ersten Handlung erloschen oder aus einem Versuch und einer fahrlässigen
Vollendung könne kein vollendetes Vorsatzdelikt gemacht werden.70 Es genügt,
wenn der Vorsatz zur Zeit der tatbestandsmäßigen Handlung gegeben ist, er
braucht nicht bis zum Eintritt des Erfolges durchgehalten zu werden. Deshalb ist
es entgegen Hettinger (GA 2006, 289 [293 f]) weder nötig oder auch nur hilfreich,
durch eine fasson de parler iS des dolus generalis die Ersthandlung mit der
Zweithandlung zusammenzufassen noch darüber zu spekulieren, ob der Täter,
wenn er gemerkt hätte, dass sein Opfer noch lebte, dieses verschont oder erst
recht getötet hätte. Hat der Täter wissentlich eine Vorsatzgefahr herbeigeführt
und dadurch den Erfolg verursacht, so können ihn weitere, ebenfalls
erfolgsursächliche Handlungen, nicht deshalb v. der Zurechnung des Erfolges zu
seinem Vorsatz befreien, weil sie selbst unvorsätzlich geschehen sind.

Roxin macht die Zurechnung des Erfolges zum Vorsatz beim dolus generalis v. 83
seinem Tatplanerfüllungskriterium abhängig (Würtenberger-FS [1977], 109, [120
f]; ders. AT/1 12/177ff; zust. LK-Vogel § 16 Rn 72). Danach wird der Erfolg dem
Täter nur dann zugerechnet, wenn er das Motiv seines Handelns war oder sich für
die Verfolgung seiner weiteren Ziele als nützlich darstellt. Im Ergebnis bedeutet
das, dass eine Zurechnung entfällt, wenn die erste erfolgsursächliche Handlung
nur mit dolus eventualis begangen worden ist. Roxin bildet das Bsp des
Vergewaltigers, der, nachdem er sein Opfer bewusstlos gewürgt hat, zunächst
Wiederbelebungsversuche macht, und es dann vergräbt, weil er es für tot hält
(Würtenberger-FS [1977], 109 [121 f]; ders. AT/1 12/177). Offen bleibt dabei,
wie sich eine Änderung des Tatplans nach der ersten Handlung auswirkt.
Beispielhaft gesprochen, entlasten die Wiederbelebungsversuche den Täter auch
dann, wenn er zunächst den Tod beabsichtigt hatte, ihn nun aber nicht mehr will?
Einer solchen Entlastung steht schon entgegen, dass der Täter seinen Vorsatz
nicht bis zum Erfolgseintritt durchzuhalten braucht. Aber generell ist gegen das
Planerfüllungskriterium einzuwenden, dass die Zurechnung eines Erfolges nicht
davon abhängt, ob er den weiteren Wünschen und Zielen des Täters entspricht (→
§ 16 Rn 74). Auch können die Anforderungen an die Vorsatzzurechnung nicht um
dessentwillen höher sein, weil der Täter nur mit dolus eventualis und nicht mit
Absicht gehandelt hat.71

Grundlage der Zurechnung des Erfolges zum Vorsatz ist allein die erste Handlung, 84
die mit dem Bewusstsein der möglichen Erfolgsverursachung begangen worden

http://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-KinNeuPaeKoStGB-G-StGB-P-16-GL-IV-3
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ist. Die zweite, ohne Vorsatz vorgenommene Handlung, spielt nur die Rolle eines
Kausalfaktors im wirklichen Verlauf zum Erfolg und ist insofern wie eine natürliche
Ursache zu behandeln. Der Zurechnung dieses Kausalverlaufs zur Ersthandlung
steht es weder entgegen, dass die unvorsätzliche Zweithandlung v. Täter selbst
getan wurde, noch dass sie in Bezug auf das Opfer fahrlässig war (aA Sancinetti
Roxin-FS [2001], 349 [361 f]). Fahrlässige Handlungen unterbrechen den
Zurechnungszusammenhang grds. nicht (s. → Vor § 13 Rn 178ff). Die wohl hL
macht die Zurechnung des Erfolges zum Vorsatz beim dolus generalis davon
abhängig, ob der Täter die unmittelbar erfolgsursächliche Zweithandlung bei
Begehung der Ersthandlung bereits geplant oder vorausgesehen hat oder ob er
sie mind. hätte voraussehen können.72 Hier wird die überlieferte Lehre v. der
wesentlichen Abweichung im Kausalverlauf wirksam. Der Unterschied zwischen
der unmittelbaren Verursachung des Erfolges durch die vorsätzliche Ersthandlung
und der durch eine weitere Täterhandlung vermittelten erscheint intuitiv als
wesentlich. Deshalb soll dem Täter der Erfolg nur dann zugerechnet werden, wenn
die weitere Handlung für ihn vorhersehbar war. Aber der Täter muss nicht jeden
Faktor des wirklichen Kausalverlaufs kennen (Jakobs, 8/64). Ein Faktor muss
zunächst einmal als für die Konstitution des Vorsatzunrechts wesentlich erwiesen
sein, ehe die Zurechnung des Erfolges zum Vorsatz v. seiner Kenntnis oder seiner
Vorhersehbarkeit abhängig gemacht werden kann.

Stellt bereits die vorsätzliche Ersthandlung eine taugliche 85


Erfolgsherbeiführungsstrategie, dh die Herbeiführung einer Vorsatzgefahr dar, und
kommt sie insofern in der wirklichen Kausalerklärung des Erfolges vor, als sie
immerhin die Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit des Opfers herbeigeführt hat, so hat
sich eine Vorsatzgefahr im Kausalverlauf zum Erfolg realisiert, und der Erfolg ist
dem Täter zum Vorsatz zuzurechnen. Dass ein Täter, der sein Opfer getötet zu
haben glaubt, dies durch Handlungen zu verbergen sucht, die tödlich sind, ist der
normale Fortgang eines solchen Geschehens (Puppe [1992], 54f; Frister AT
11/54). Anders Sancinetti (Roxin-FS [2001], 349 [364]), der im Anschluss an
Jakobs (AT 8/66) eine Realisierung der Vorsatzgefahr nur anerkennt, wenn die
Zweithandlung nur „Begleitumstände variiert“. Dann ist sie aber gar nicht kausal
für den Erfolg.

Die durch die Ersthandlung begründete Vorsatzgefahr realisiert sich aber auch
dann, wenn der Täter die Zweithandlung mit Tötungsvorsatz begeht, um das
wehrlose Opfer, das bei seiner Rückkehr entgegen seiner Erwartung noch lebt,
endgültig zu erledigen (BGH 3.12.2015 – 4 StR 223/15, BGHR 2016, 274 [276]).
Die Erfahrung lehrt, dass dieses Verhalten für einen solchen Täter nachgerade
typisch ist und da die erste Tötungshandlung der Grund dafür ist und der Täter die
Zweithandlung nur ausführen kann, weil das Opfer schon schwer oder gar tödlich
verletzt ist, realisiert sich in diesem Kausalverlauf auch die Todesgefahr der
Ersthandlung, anders die Lehre vom Regressverbot (Eisele JuS 2016, 368 [369 f];
dagegen → Vor § 13 Rn 146).

70So aber Jakobs 8/78; Hruschka JuS 1982, 317 (319f); Maiwald ZStW 78 (1966), 30 (54ff);
Maurach/Zipf AT/1 23/39.
71 BGHSt 14, 193 (194); krit. zur Tatplantheorie auch SK/Stein § 16 Rn 37; LK11-Schroeder § 16
Rn 31; Frisch (1988), 590f; Jakobs 8/79; Prittwitz GA 1983, 110 (114ff); Sancinetti Roxin-FS
(2002), 349 (356ff).
72 BGHSt 7, 325 (329); 14, 193 (194); MüKoStGB/Joecks, 2. Aufl., § 16 Rn 91ff; S/S-Sternberg-
Lieben/Schuster § 15 Rn 58; Baumann/Weber/Mitsch AT 20/24; Sancinetti Roxin-FS (2001), 349
(356f).
Zitiervorschläge:
NK-StGB/Ingeborg Puppe StGB § 16 Rn. 81-85
NK-StGB/Ingeborg Puppe, 5. Aufl. 2017, StGB § 16 Rn. 81-85

http://beck-online.beck.de/Bcid/Y-400-W-KinNeuPaeKoStGB-G-StGB-P-16-GL-IV-3
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