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Dr.

Stefan Recksiegel

Mathematischer Vorkurs für Physiker 2020


Vorlesung 4: Differenzialgleichungen
In der mathematischen Behandlung von Bewegungsvorgängen in der Natur treten oft die gesuchten Funktionen
zusammen mit deren Ableitungen auf.

Beispiele:
1. Die lineare Pendelbewegung ist durch die Gleichung

d2 x(t)
m = −kx(t)
dt2
beschrieben. Diese bedeutet Masse × Beschleunigung = rücktreibende Kraft. Die Auslenkung aus dem Gleich-
gewicht zur Zeit t ist x(t).
2. Der induktive Stromkreis, der eine Spule mit Induktivität L und einen Widerstand R enthält und an den
eine Spannung U (t) angelegt wird, ist durch die Gleichung

dI(t)
L + RI(t) = U (t)
dt
gegeben, wobei I(t) die Stromstärke zur Zeit t ist. Diesen Gleichungen ist gemeinsam, dass die gesuchte Größe,
also Auslenkung bzw. Stromstärke, zusammen mit deren Ableitung vorkommt.

Definition: Eine Bestimmungsgleichung für die Funktion y = y(x) der Form

F (x, y, y 0 , y 00 , ..., y (n) ) = 0, oder


(n) 0 00 (n−1)
y = f (x, y, y , y , ..., y )

in der neben der Variablen x und der gesuchten Funktion y auch deren Ableitungen bis zur n-ten Ordnung
auftreten, heißt gewöhnliche Differenzialgleichung n-ter Ordnung. Eine Lösung der Differenzialgleichung
für y : I → R muß diese Relationen für alle x ∈ I erfüllen.

Beispiele:
1. y 0 = xy 2 ist eine DGL 1. Ordnung.
Eine Lösung für I = R ist y(x) = −2(1 + x2 )−1 , denn y 0 = 2(1 + x2 )−2 · 2x = xy 2
2. (yy (5) )2 + xy 00 + ln y = 0 ist eine DGL 5. Ordnung. Eine Lösung auf I = R ist y(x) = 1.
3. y 00 = 0 wird gelöst durch y(x) = ax + b für alle a, b ∈ R.

Definition:
Die Lösungsmenge einer DGL kann mehrparametrige Kurvenscharen enthalten. Man fasst jede r-
parametrige Lösungsschar als eine Lösung mit r freien Parametern (den sogenannten Integrations-
konstanten) auf. Eine einzelne Lösung, die keine frei wählbaren Konstanten enthält, wird als spezielle oder
partikuläre Lösung bezeichnet. Eine parameterabhängige Lösung einer DGL n-ter Ordung heißt allgemein, wenn
sie n frei wählbare Konstanten enthält und sie heißt vollständige Lösung, wenn dadurch sämtliche Lösungen
erfasst werden.

Beispiel: y 0 − 5y = 0 hat auf I = R die allgemeine Lösung

y(x) = c e5x , c ∈ R

Man kann zeigen, dass diese Lösung auch vollständig ist.


Spezielle Lösungen sind y = 0, y = −0.02e5x .

1
Definition: Um die Integrationskonstanten einer allgemeinen Lösung festzulegen, benötigt man bei einer
DGL n-ter Ordnung in der Regel n weitere Bedingungen. Im einfachsten Fall sind diese gegeben durch ein sog.
Anfangswertproblem:
y (n) = f (x, y, y 0 ..., y (n−1) ),
y(x0 ) = y0 ,
0
y (x0 ) = y1 ,
..
.
y (n−1) (x0 ) = yn−1 .

(Die Bezeichnung stammt von Anwendungen, in denen die unabhängige Variable x die Zeit beschreibt.)

Beispiel: Der Zustand eines Massenpunktes, der unter der Wirkung einer Kraft steht, ist durch Angabe seines
Orts und seiner Geschwindigkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt für alle Zukunft eindeutig bestimmt. Daher
hat die DGL
mẍ = −mω 2 x,
x(0) = x0 , ẋ(0) = v(0) = v0

die eindeutige Lösung


v0
x(t) = x0 cos ωt + sin ωt.
ω

Klassifikation von gewöhnlichen Differenzialgleichungen


Eine lineare DGL enthält die unbekannte Funktion y(x) und ihre Ableitungen nur linear. Beispiele sind

y 0 + x2 y + sin x − 1 = 0,
y 00 + y 0 + y − cos x = 0.

Ansonsten heißt die DGL nichtlinear, wie z.B.

y 0 + x sin y − x2 = 0,
0 x
y y − 3e + 2y = 0.

Sobald also Produkte der Lösungsfunktion mit sich selbst oder ihren Ableitungen auftreten, oder die Lösungs-
funktion als Argument nichtlinearer Funktionen auftritt, ist die DGL nichtlinear.

Struktur der allgemeinen Lösung linearer Differenzialgleichungen


Die meisten Differenzialgleichungem in der Physik sind linear und haben die Form

y (n) + an−1 (x)y (n−1) + .... + a1 (x)y 0 + a0 (x)y = F (x).

Wenn F (x) = 0, heißt sie homogen, sonst inhomogen. Die allgemeine Lösung der inhomogenen DGL ist die
Summe der allgemeinen Lösung der homogenen DGL (die n Integrationskonstanten enthält) und einer beliebigen
partikulären Lösung der inhomogenen DGL

y(x) = yhom (x) + ypart (x).

Es genügt also, eine einzige Lösung der inhomogenen DGL zu bestimmen.

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Lösungsmethoden
A. Methode der Trennung der Variablen für DGL 1. Ordnung
Wenn die Differenzialgleichung die Form hat
R(x)
y0 =
,
S(y)
mit stetigen Funktionen R und S und im betrachteten Intervall auf der reellen Achse S(y) 6= 0 gilt, dann nennt
man sie trennbar oder separabel und kann sie wie folgt lösen: Wir schreiben die Gleichung
dy R(x)
= ,
dx S(y)
S(y)dy = R(x)dx
und integrieren beide Seiten unbestimmt,
Z Z
S(y)dy = R(x)dx,

dann erhalten wir die implizite Lösung der Form


T (y) = U (x) + c
wobei T und U die unbestimmten Integrale sind.

Beispiel 1: y
y0 = −
x
dy dx
= −
y x
1
ln y = − ln x + C = ln + ln c
x
c
y =
x

Beispiel 2: y0 = y2
dy
= dx
y2
1
− = x + c,
y
1
y = − (x 6= −c)
c+x

B. Methode der Variation der Konstanten für lineare Differenzialgleichungen 1. Ordnung


Gegeben sei die gewöhnliche, lineare inhomogene Differenzialgleichung 1. Ordnung für y(x),
y 0 + a(x)y = f (x)
Wir lösen zuerst die homogene Gleichung
dy
+ a(x)y = 0,
dx
dy
= −a(x)dx
y
Z
ln y = − a(x)dx + C
 Z 
C
yhom = e exp − a(x)dx .

Um eine partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung zu finden, gehen wir von der homogenen Lösung aus,
betrachten aber die Konstante C nunmehr als Funktion von x. Wir machen also den Ansatz für die inhomogene
DGL  Z 
y = eC(x) exp − a(x)dx .

Setzt man diesen Ausdruck in die ursprüngliche Differenzialgleichung ein, bekommt man eine Gleichung für
C 0 (x), die man durch Integration lösen kann.

3
Beispiel

Wir betrachten die Differenzialgleichung


1
y0 + y = x3
x
Für die homogene DGL
1
y0 + y=0
x
gilt (s.o.)

dy dx
= − ,
y x
ln y = − ln x + C ,
c
yhom =
x
wobei c ∈ R.

Durch Variation der Konstanten setzt man die partikuläre Lösung in der Form an

c(x)
ypart (x) = .
x
Setzen wir diesen Ansatz in die inhomogene DGL ein, erhalten wir

c0 c 1c
− 2+ = x3 ,
x x xx
c0 (x)
= x3
x
x5
c(x) = ,
5
x4
ypart (x) = .
5
Damit ist allgemeine Lösung der DGL gegeben durch

c x4
y(x) = + .
x 5

Mathematica III
Differenzialgleichungen kann Mathematica sowohl analytisch als auch (wenn es keine analytische Lösung gibt)
numerisch lösen. Zu beachten ist, dass das einfache Gleichheitszeichen = eine Zuweisung bedeutet, ein Test auf
Gleichheit dagegen durch ein doppeltes Gleichheitszeichen == bezeichnet wird:
DSolve[y’[x] == x y[x]^2, y[x], x]
ergibt die erwartete Lösung als Ersetzungsliste für y[x]. Die Ableitung y’[x] ist eine alternative Schreibweise
für D[y[x], x].
Dies funktioniert auch für die inhomogene DGL aus dem unmittelbar vorhergehenden Beispiel:
DSolve[y’[x] + y[x]/x == x^3, y[x], x]

Den Plot der Funktionenschar von der ersten Seite erzeugt man mit
Table[c Exp[5 x], {c, -2, 2, .1}]
Plot[%, {x, -1, 1}]
(% bezeichnet das Ergebnis der letzten Auswertung.)

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Dr. Stefan Recksiegel

Mathematischer Vorkurs für Physiker 2020


Übungsblatt 4
Wichtige Formeln aus der Vorlesung:

dy R(x)
= ,
dx S(y)
Z Z
S(y)dy = R(x)dx

Basisaufgaben
Beispiel 1:
Gegeben sei die gewöhnliche Differenzialgleichung für x(t),

ẋ = a(t)x, a(t) = e−t

Es bedeutet ẋ = dx/dt. Diese DGL beschreibt Rostfraß. Es möge die Anfangsbedingung gelten x(t = 0) = 1.
Bestimmen Sie die Lösung für x > 0. Wie verhält sich die Lösung für große Zeiten?

Beispiel 2:
Lösen Sie die Differenzialgleichung
1 − y2
y0 = (x 6= 0)
x
und betrachten Sie getrennt die Fälle y = ±1 und |y| =6 1. Hilfe:
Z
dx 1 1 + x
= ln
1 − x2 2 1 − x

Beispiel 3:
Bei unbeschränktem Wachstum ist die zeitliche Änderung der Zahl N (t) der Individuen einer Population pro-
portional zu den schon vorhandenen Individuen, seien das Seerosen im einem Teich oder Bakterien in einer
Nährlösung, und einer Vermehrungsrate β. Stellen Sie die dazugehörige Differentialgleichung für N (t) auf und
lösen Sie diese. Nehmen Sie an, dass zur Zeit t = 0 gilt N (0) = N0 .

Beispiel 4:
Lösen Sie die eindimensionale Newtonsche Bewegungsgleichung für die Geschwindigkeit eines Massenpunkt m
für einen Fall mit Stokes’scher Reibung. Die Masse wird zum einen von der Gravitationskraft mg beschleunigt.
Als verzögernde Kraft wirkt eine Reibungskraft der Form −βv, wobei v die Geschwindigkeit bedeutet Dies
ist zum Beispiel gegeben, wenn ein Objekt im Wasser zu Boden sinkt. Die Bewegungsgleichung entlang der
Vertikalen lautet damit:
mv̇ = mg − βv.
Nehmen Sie an, dass zur Zeit t = 0 gilt v(0) = 0. Wie lautet v(t)? Was gilt für den Grenzfall t → ∞?

Beispiel 5:
Lösen Sie die Differenzialgleichung

ḣ(t) = A h,
h(0) = h20 .

Diese Gleichung tritt bei der Berechnung der Entleerung eines Wasserbehälters durch eine Öffnung am Boden
auf (die Konstante enthält die Lochgröße und die Gravitationskonstante, h ist der Füllstand)

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Beispiel 6:
Lösen Sie das Anfangswertproblem

1 + y 2 − xy 0 = 0
y(1) = 1

Hilfe: Z
dx
= arctan x
1 + x2

Beispiel 7:
Lösen Sie das Anfangswertproblem

(1 + ex )yy 0 = ex
y(1) = 1

Hilfe: Z
dx 1 1
= ln
1 + eax a 1 + e−ax

Beispiel 8:
Gegeben sei die gewöhnliche inhomogene Differenzialgleichung 1. Ordnung für y(x),
1
y0 + y = x3 .
x
Bestimmen Sie die allgemeine Lösung, indem Sie zuerst die homogene Lösung yhom (x) lösen. Machen Sie dann
für die inhomogene Differenzialgleichung den Ansatz ypart (x) = C(x)yhom (x) und lösen Sie die Differenzialgle-
ichung für C(x) (Variation der Konstanten).

Beispiel 9:
Gegeben sei die gewöhnliche Differenzialgleichung für y(x),

y 0 = 2y + 3e5x .

Bestimmen Sie die allgemeine Lösung analog zum Beispiel 8 (Variation der Konstanten).

Ergänzungsaufgaben
Beispiel 10:
Die Methode der Trennung der Variablen läßt sich auch auf partielle Differenzialgleichungen anwenden. Die
berühmte Saitenschwingungsgleichung für die Funktion u(x, t) lautet (a ist konstant)

∂2u ∂2u
2
= a2 2 .
∂t ∂x
Verwenden Sie den Separationsansatz
u(x, t) = X(x)T (t)
und benützen Sie die Tatsache, dass eine Gleichung der Form

R(x) = S(t) ∀x, t

bedeutet, dass R(x) = S(t) = const. sein müssen. Wie lauten die resultierenden Differenzialgleichungen für
X und T ?

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