Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Calvinismus
(2,555 words)
1. Konfession
Article Table of Contents
1.1. Begri f und Verbreitung
1. Konfession
Der durch den Hamburger Pastor und Lutherschüler J. 2. Wirtschaftliche Bedeutung
Westphal ursprünglich in abwertendem Sinne geprägte
Begri f C. bezeichnet neben Werk und Wirkung des
Genfer Reformators Johannes Calvin (1509–1564) auch die Wirkungsgeschichte der von Ulrich
Zwingli (1484–1531) und seinen Schülern getragenen Zürcher Reformationsbewegung.
»Calvinistisch« kann also Synonym zu »reformiert« sein, so z. B. im reichsrechtlichen
Sprachgebrauch seit dem Westfälischen Frieden (1648).
Ein uss gewann der C. seit dem 16./17. Jh. außer in der Schweiz v. a. in Westeuropa, so in
Frankreich (Hugenotten), England, Schottland, Irland und den Niederlanden, aber auch in
West- und Nordwestdeutschland, Ungarn und zeitweise in Polen (von Bedeutung sind die
calvinistisch ausgerichteten Universitäten Heidelberg und Leiden). Im Zuge von Vorgängen der
Konfessionalisierung in ursprünglich lutherischen Territorien entwickelte sich in der Kurpfalz,
in den nassauischen und westfälischen Grafschaften und in Bremen durch das Wirken von
Schülern Melanchthons das sog. Deutschreformiertentum als eigener Typus des C. [14. 44–59].
Unter dem Ein uss der Schüler Zwinglis entstand der engl.-schott. Puritanismus mit seinen
Verzweigungen. Auch in der speziellen Kultur der anglikanischen Kirchengemeinschaft schlug
sich der C. nieder (Anglikanismus). Tiefgreifend prägte er nach dem Beginn der puritanischen
Auswanderung aus England (1620) die Gesellschaft der USA (Glaubens üchtlinge).
In der Theologie des C. wurden zentrale Lehrinhalte des antiken Christentums wie die Lehre
von der göttlichen Trinität und der Gottheit Jesu Christi ( Christologie) übernommen. Daneben
ergaben sich primär gegenüber dem röm. Katholizismus, aber auch dem Luthertum
kennzeichnende Di ferenzen in der Glaubenslehre.
/
Die Person Christi wird als Werkzeug Gottes bei der Durchsetzung seiner Herrschaft
verstanden. Damit ist der Einheit Gottes mit Jesus von Nazareth eine Grenze gesetzt und
gegenüber der menschlichen Natur Jesu das gebietende Königtum Christi betont. Im
Gottesbild gewinnen der diametrale Unterschied zwischen Gott und Welt und die Souveränität
von Gottes freier Willenssetzung prägende Bedeutung. Die Betonung der Letzteren wurde bei
den Schülern Calvins zur Lehre von der unveränderlichen Vorherbestimmung des Menschen
entweder zur Erlösung oder zur Verwerfung ausgebaut ( Prädestinationslehre), wobei Gläubige
sich ihrer Vorherbestimmung zur Erlösung im ethischen Fortschritt vergewissern können. Die
innercalvinistische Kontroverse mit den »Remonstranten« (nach lat. remonstrare
»zurückweisen«), die unter Hinweis auf die Willensfreiheit des Menschen eine unbedingte
Prädestination ablehnten, führte nach der Synode von Dordrecht 1619/20 zur Kirchenspaltung.
Bei den Schülern Zwinglis verband sich die Gewissheit der göttlichen Erwählung mit dem
Vertrauen auf Gott. Das Wirken Gottes in der Geschichte erscheint, wurzelnd in Entwürfen von
Schülern Zwinglis, als eine Reihe von Bundesschlüssen Gottes mit der Menschheit (
»Föderaltheologie«, nach lat. foedus »Bund«).
Die Bibel wird in Neigung zu moralisierender Auslegung als Anweisung zu aktiver Umsetzung
der Gottes- bzw. Christusherrschaft im persönlichen Leben und in der Gesellschaft gelesen.
Das Handeln des erlösten Menschen ist an den Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten
gebunden. Er wird zum »Erfüllungsgehilfen des Gesetzes« [16. 658].
Die streng auf zwei, Taufe und Abendmahl, beschränkten Sakramente gelten nach calvinist.
Verständnis nicht aus sich heraus als heilswirksam, sondern lediglich als zusätzlich erklärende
Zeichen für die bereits im Glauben verwirklichte Rettung des Menschen, dienen als
ö fentliches Bekenntnis der Zugehörigkeit zur Kirche und müssen vor den Augen der
versammelten Gemeinde vollzogen werden. Die Nottaufe in Todesgefahr durch Laien wird
abgelehnt.
Die Kirche wird als Werkzeug der Gottesherrschaft auf Erden begri fen. Ihre Lehre und die
Aussagen ihres Bekenntnisses verstehen sich als aktuelle und damit unter Umständen
vorläu ge Anweisungen zur Erfüllung des in den zehn Geboten niedergelegten göttlichen
Gesetzes. Aktuelle ethische Entscheidungen können kirchentrennende Bedeutung erlangen.
Ein für alle regionalen Kirchen verbindliches Bekenntnis wie im Luthertum existiert im
Bereich des C. nicht. Die Kirchenordnung ist Bestandteil des Bekenntnisses der Kirche und hat
die Ausübung von Kirchenzucht und Disziplin zur Folge. Zum Wesen der Kirche gehört ihre
beständige Reformation [6. 431–488]. Der religiöse Impuls zur Verbesserung der Welt kann in
der Zusammenarbeit mit lutherischen Kirchen von den Lutheranern Kompromisse in Inhalten
der Lehre fordern (Irenik). Die kirchlichen Ämter – Lehrer, Pastor, Presbyter (Ältester) und
Diakon – beruhen auf verbindlicher biblischer Anordnung. Diese vier Ämter begründen
kollegial-synodale bzw. auf die Souveränität der Einzelgemeinde bezogene
Verfassungsstrukturen, schließen bischö iche Strukturen (Bischofsamt) aus und verstehen sich
auch als politische Modelle.
Als Merkmale des calvinist. Kirchenbaus entwickelten sich einfach und rational gestaltete,
bilderlose Gottesdiensträume. Texttafeln mit den Zehn Geboten sollten an deren Bedeutung
erinnern. Für Riten forderte man strenge biblische Begründung. Der Orgel- und
Instrumentalmusik wurde Misstrauen entgegengebracht; strophische Umdichtungen des
gesamten biblischen Psalters, ursprünglich hugenottischen Ursprungs und in mehrere europ.
Sprachen übersetzt, wurden zur klassischen Form der calvinist. Kirchenmusik. Kritik an
spezieller Gewandung von Geistlichen meldete sich bes. im Puritanismus [9. 161–163].
Konfessionelles Gegenbild war die im röm. Katholizismus und teilweise im Luthertum
fortgeführte Gottesdienstkultur. Die Form des Gottesdienstes wurde zur Bekenntnisfrage.
Nicht zuletzt im Blick auf Formen der Liturgie übte der C. Kritik am kirchlichen Weg des
Luthertums, der als halb »papistisch« und der Vollendung bedürftig galt. Diese Kritik führte zur
reformierten Konfessionalisierung in Deutschland als einer obrigkeitlich gesteuerten
Einführung des reformierten Bekenntnisses in Territorien, in denen die Wittenberger
Reformation Fuß gefasst hatte (»Vollendung der Reformation«) [14].
In der politischen Ethik des C. konnte sich das von Calvin entwickelte Muster des Gegenübers
von Kirche und Staat nur begrenzt gegen die Identi zierung von kirchlichem und politischem
Gemeinwesen durchsetzen [9. 283–285]. Die Obrigkeitskritik der franz. Monarchomachen
lebte zwar von Anleihen beim lutherischen Widerstandsrecht [9. 123]. Die synodal-
presbyteriale Praxis (s. o. 1.2.) lehnte sich aber an politisch-gesellschaftliche Vorgaben an [15.
105–161]. Tendenzen zum politischen Aktionismus konnten absolutistische Herrschaftspraxis
unbedenklich in Anspruch nehmen, wie es sich in der Kurpfalz und in der Theologie der
Hugenotten zeigte [9. 141].
Das Amt der Diakone führte, wo es bestand, zum Au au einer Institution der Armen- und
Bedürftigenfürsorge, die für die spätere staatliche Wohlfahrtsp ege vorbildlich wurde
(Diakonie). Gleichzeitig übte diese Institution auch soziale Kontrolle aus, die sich im Alltag der
Bürger bemerkbar machte. Der Ausübung der Kirchenzucht dienten Konsistorien, die, aus
Pastoren und hinzugewählten Ältesten zusammengesetzt, allwöchentlich zusammentraten
und neben Leitungs- und Verwaltungsangelegenheiten bekannt gewordene Verstöße gegen die
Zehn Gebote und ihre Ahndung besprachen und beschlossen [15. 41–68]. Diese Einrichtung
bestimmte das Verhalten und die Normen des Gemeinwesens im Sinne der calvinist. Lehre und
Ethik und diente als Instrument zur Erhaltung des Friedens und einer für die nzl. Gesellschaft
immer wichtiger werdenden Verhaltensdisziplin (Disziplin; Sozialdisziplinierung). Die mit ihr
verbundenen Repressionen konnten bei den Betro fenen schwere psychische Belastungen
hervorrufen [13].
/
Den C. begleiteten Neigungen zu philosophischen Konzepten in platonischer Tradition
(Platonismus), wie sie sich bei P. Ramus und in der engl. Philosophie des 17. Jh.s zeigen
(Ramismus). In Verbindung mit dem Neustoizismus verstärkten sie in der Gesellschaftstheorie
die Tendenz zur Aufwertung von Nützlichkeit (Utilitarismus), rationaler Ordnung und
Disziplinierung bis hin zur militärischen Organisation der Gesellschaft.
Der C. leistete über den Ein uss des Puritanismus auf die europ. Kultur der Frühen Nz. einen
erheblichen Beitrag zur Emanzipation des nzl. Individuums (Individualisierung); ebenso trug
die verstärkte Bedeutung des Gewissens bei der Selbstkontrolle zur allmählichen Au ösung
konfessioneller Orientierungen bei. Der Ansatz des engl. Puritaners W. Amesius [1], der die
orthodoxe calvinist. Lehre mit dem Anliegen frommen Lebens verband, wurde in der calvinist.
Erbauungsliteratur weitergeführt, befruchtete den reformierten Pietismus und fand ein Echo
bis weit über den C. hinaus.
Der C. erwies sich als bes. anschlussfähig an für die Nz. charakteristische Entwicklungen in
Philosophie, Anthropologie, Staats- und Rechtstheorie. Der Beitrag der »Remonstranten« (s. o.
1.2.), unterstützt durch die Rezeption des Cartesianismus, bestand in der Einbeziehung
rationaler Argumente in die Diskussion um überkommene Lehrfragen. Die Föderaltheologie (s.
o. 1.2.) fand bei J. Althusius eine Analogie in der Staats- und Gesellschaftstheorie
(Herrschaftsvertrag zwischen Herrscher und Volk, Volkssouveränität, bürgerliche Freiheiten).
H. Grotius verband frühe histor. Kritik mit dem Entwurf eines Völkerrechts auf der Basis von
natürlicher Religion und Naturrecht sowie der Forderung von Toleranz.
Ernst Koch
Bibliography
Quellen
[4] E. F. K. M , Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, 1903 (ND 1999)
Sekundärliteratur
[8] B. G , Tradition and the Modern World. Reformed Theology in the Nineteenth
Century, 1978
2. Wirtschaftliche Bedeutung
Seit Max Webers Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [8] ist der
Ein uss des C. auf wirtschaftliche Entwicklungen vielfach erörtert worden (vgl. Protestantische
Ethik; Kapitalismus). Für Weber besteht der »Geist des Kapitalismus« im Streben »nach immer
erneutem Gewinn, nach Rentabilität« im Rahmen des kontinuierlichen, rationalen Betriebs.
Rentabilität setzt eine rationale Berechnung und planmäßige Verwendung von Betriebsmitteln
voraus. Eine solche durch Zweckrationalität geprägte Wirtschaftsweise ist eingebettet in eine
umfassendere kulturell geprägte okzidentale Lebensführung.
/
Die Lehren des asketischen Protestantismus (C., Pietismus, die Richtungen der Methodisten
und Täufer) – waren nach Weber einer methodischen Lebensführung bes. förderlich.
Entscheidend hierfür war die Prädestinationslehre (s. o. 1.2.): Der bereits im Schöpfungsplan
festgelegte Gnadenstand jedes Menschen kann weder durch Gebete noch durch gute Werke
beein usst werden (Gnadenlehre). Die daraus folgende Distanz zwischen Mensch und Gott
impliziert eine Vereinzelung der Gläubigen (Individualisierung) sowie eine Entzauberung der
Welt. Das Vollbringen guter Werke ist nicht mehr Mittel zum Heil, sondern selbst bereits
Ausdruck des Gnadenstandes, Zeichen für Gottes Segen und Wirksamkeit in der Welt.
Angesichts der Ungewissheit über den eigenen Gnadenstand, dieses »Gefühls einer unerhörten
inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums« übten Gläubige über sich eine
systematische Selbstkontrolle aus; hierzu gehörte das dauernde Hervorbringen guter Werke als
Zeichen der Zugehörigkeit zu den Auserwählten. Der Heilszweck einzelner guter Handlungen
schwand so zugunsten einer zum System gesteigerten, d. h. rationalen, Werkheiligkeit.
Entsprechend weitete sich im Sinn einer innerweltlichen Askese der Bereich, in dem der
Gläubige im Alltag gute Werke erbringen konnte, erheblich aus; er schloss ethisch gutes
Alltagshandeln, wirtschaftlichen und familiären Erfolg als äußere Zeichen der Gnade mit ein.
Eine wertrational begründete asketische Lebensführung begünstigte somit die Entstehung von
zweckrationalem Handeln im wirtschaftlichen und sozialen Alltag.
Die große Reichweite von Webers Analyse des asketischen Protestantismus ergibt sich aus ihrer
Einbettung in eine universalhistor. angelegte Soziologie der Weltreligionen sowie in Ansätze
einer systematischen Modernisierungstheorie [6]. Sie hat sich deshalb im 20. Jh. für die
Entwicklung der soziologischen Theorie, die Erörterung der institutionellen Grundlagen der
kapitalistischen Wirtschaft sowie die Orientierung wirtschafts- und sozialhistor. Forschung als
fruchtbar erwiesen [2]; [3]; [7]. Empirisch lässt sich die These einer kausalen Verbindung
zwischen Protestantismus und Kapitalismus allerdings höchstens beschränkt untermauern, so
dass sie heute kaum mehr vertreten wird.
Histor. ausgerichtete Untersuchungen zu Max Webers These bezogen sich insbes. auf drei
Gebiete:
(1) Studien zum religiösen Habitus von Mitgliedern calvinistischer Gruppen zeigen, dass sich
auch theologisch gebildete Gläubige über den Glauben an die göttliche (individuelle, im späten
17. Jh. dann sogar zunehmend allgemeine) Vorsehung den von Weber behaupteten
Implikationen der Prädestinationslehre weitgehend entzogen [3. Kap. 12]. Auch wurde der
Individualisierung der Lebensführung durch die hohe soziale Kohäsion bes. in Baptisten-
Gemeinden Schranken gesetzt.
Ulrich P ster
Bibliography
[2] D. L , Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen
arm sind, 1999
/
[3] H. L / K. F. L (Hrsg.), Weber's Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts,
1993
[4] D. O , The Rise of Commercial Empires: England and the Netherlands in the Age of
Mercantilism, 1650–1770, 2003
[8] M. W , Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: M. W ,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 1920, 17–206
Koch, Ernst and P ster, Ulrich, “Calvinismus”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in
Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_250751>
First published online: 2019