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Ruhr-Universität Bochum Recklinghausen, den 26.02.

2021
Vorlesung "Thukydides"
Modul II
Hr. Prof. Dr. Wendt
WiSe 2020
Tim Wetzer; Matrikelnummer: 108020225710

Essay: Die Rolle des Bürgerkrieges und der neuartigen Wortwahl in Kerkyra
im Werk des Thukydides

Im Kontext mit der Auseinandersetzung mit Thukydides Werk über den


Peloponnesischen Krieg zwischen 431 und 404 v.u. Z. sticht besonders hervor,
dass Thukydides einen unverhältnismäßig hohen Umfang bei der Schilderung des
Bürgerkrieges in Kerkyra (auch unter dem Namen Korfu für die Insel und die
dortige Hauptstadt bekannt) einräumt. Zumal lief dieser Konflikt im Jahre 427
v.u.Z. zunächst primär eher autark und losgelöst vom eigentlichen Hauptkonflikt
zwischen dem attischen Seebund und dem Peloponnesischem Bund unter Sparta
ab. Demnach stellt sich die Frage, was ebendiesen Konflikt für Thukydides
dermaßen erwähnenswert macht und welchen Aspekten er dabei eine hohe
Relevanz beimisst. Diesbezüglich sollen im Folgenden hauptsächlich die Aspekte
der sich ändernden Rhetorik im Krieg, sowie die Rolle der menschlichen Natur
erläutert werden um eine Annäherung daran bieten zu können, wieso Thukydides
jene Tendenzen als ein rekurrierendes Muster sieht, was in Kerkyra erstmals
exemplarisch hervortrete. Als Grundlage sollen dazu primär die besprochenen
Aspekte der vierten Vorlesungsaufzeichnung dienen.
Zu Beginn lässt sich festhalten, dass Thukydides den Bürgerkrieg in Kerkyra als
eine "Stasis" charakterisiert, als eine Art internen Konflikt. Dabei kann "Stasis"
"Stillstand", "stehen" oder "Standpunkt" bedeuten, womit im Allgemeinen eine
Herausbildung von Standpunkten gemeint sein könnte, die sich im
Innerpolitischen verfestigen und sich gegenseitig jeweils gegenüber dem Anderen
zu legitimieren versuchen, im ausgeprägtesten Szenario durch Gewalt. Der
Konflikt in Kerkyra könne somit laut Thukydides als eine solche innerpolitische
Spannung und Lagerbildung verstanden werden. Um somit die Absolutheit des
Peloponnesischen Krieges aufgreifen zu können, bedient sich Thukydides bei
ebendieser "Stasis" in Kerkyra um verdeutlichen zu können, dass der
Peloponnesische Krieg eine allumfassende Uneinigkeit darstelle, die sich bis in
die lokalen "Polis" ("Polis" als eine grenzenlose Bürgergemeinschaft zu
verstehen) hinein ergieße. Diese werde durch Gewalt und Brutalität geradezu

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gestürzt, was sich, nach Landmanns Übersetzung, dahingehend kanalisiere, dass
"die Mittelschicht der Bürger […] von beiden Seiten her ausgemordet" 1 werde
und somit die Versteifung beider Extreme einen Ausdruck erhält. Einer der
wichtigen Gründe für Thukydides ebendiesen Bürgerkrieg zu schildern ist somit
die Demonstration des übergeordneten Hauptkrieges, der sich bis in die lokale
"Polis" hinein ausbreite. In einer Art gegenseitigem Gefüge präge der
übergeordnete Krieg die lokale "Stasis" und diese wiederum den übergeordneten
Bündniskrieg, "Pólemos", als eine ausgeuferte "Stasis".
Thukydides verknüpft diesen weitreichenden Kollaps der "Polis" mit einer
folgenden Niederlegung der ursprünglichen Identität, indem er den veränderten
Sprachgebrauch im Krieg aufführt um die Eindringlichkeit des veränderten
Habitus zu explizieren. So übersetzt Landmann diesen Aspekt mit den Worten
"Und den bislang gültigen Gebrauch der Namen für die Dinge verstauschten sie
nach ihrer Willkür […]."2 Dies verdeutlicht, dass sich durch die Eindringlichkeit
des Krieges in Kerkyra nicht bloß politische Verhältnisse ändern, sondern ganze
eigene Leitbilder aufgegeben werden, was erneut die unverhältnismäßig
umfangreiche Schilderung jenes "untergeordneten" Konflikts verständlich macht:
In ihm spiegeln sich zuvor nie dagewesene Prozesse wieder, denen Thukydides
einen gewissen exemplarischen Status anerkannt.
Darüberhinausgehend erfasst Thukydides diesen und andere Aspekte als
Komponenten einer den Menschen innewohnenden Ur-Natur, die im Krieg
hervortrete und Gewalt und Exzess im großen Stile verursache und ermögliche.
Dieser Urinstinkt habe sich im weiteren Verlauf des Bürgerkrieges laut
Thukydides weiter ausgebreitet, was er im Kontext der sogenannten "Kinesis"
erörtert, sodass "die ganze hellenische Welt"3 in Bewegung versetzt werde, was
sinnbildlich für eine Erschütterung etablierter Paradigmen und Ordnungssysteme
sowie Moralvorstellungen stehen könnte. Thukydides sieht demnach die "Stasis"
und das hervortreten der "wahren" innersten Gemüter des Menschen als
wesentliche Kriegsbestandteile, die zu einer Erschütterung/Bewegung bzw.
Verschiebung zahlreicher Richtwerte und Norman führen.
Zusammengefasst, verdeutlicht Thukydides somit, dass der Krieg in Kerkyra als
neuartiges Exempel zu deuten sei, in dem eine Art menschliches Ur-Gemüt zum

1
Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Buch 3, Kapitel 82.
2
Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Buch 3, Kapitel 82.
3
Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Buch 3, Kapitel 82.
2
Vorschein komme. Dabei erläutert er zum Beispiel eine zunehmende Diskrepanz
von Worten und der dementsprechenden Bedeutung als ein gravierendes Signum
ebendieser Tendenz, des anthropologischen Kriegsgrundes der Selbstaufgabe und
der Aufgabe vorhandener Paradigmen. Eine Art Lehrfunktion ergebe sich zudem
aus dem Erkennen dieser Tendenz, um in künftigen Situation diese mit einplanen
zu können. Letztlich gibt es jedoch zahlreiche Lesarten des Thukydides, die diese
Aspekte als positive oder negative Lehren interpretieren, womit es somit nur bei
einer Annäherung an die Grundaspekte der Situation in Kerkyra belassen werden
kann. In Bezug auf die Ausgangsfrage wäre jedoch zu nennen, dass Thukydides
den Bürgerkrieg als "Nebenepisode" schildert um gerade die Eindringlichkeit des
makrokosmischen Peloponnesischen Krieges in die Mikroebene, den Konflikt in
Kerkyra, sowie deren gegenseitige Bedingung zu unterstreichen.

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Eigenständigkeitserklärung

Hiermit versichere ich, dass ich die Hausarbeit selbstständig verfasst und keine
anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe, alle
Ausführungen, die anderen Schriften wörtlich oder sinngemäß entnommen
wurden, kenntlich gemacht sind und die Arbeit in gleicher oder ähnlicher Fassung
noch nicht Bestandteil einer Studien- oder Prüfungsleistung war.

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