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Handbuch

Drama
Theorie, Analyse,
Geschichte

Peter W. Mar x ( Hrsg.)


Handbuch
Drama
Theorie, Analyse, Geschichte

Herausgegeben von
Peter W. Marx

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart ∙ Weimar
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Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ©2012 Springer-Verlag GmbH Deutschland
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und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2012
www.metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-02348-3
info@metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-00512-0 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00512-0

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V

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 7. Drama und Performativität


(Peter W. Marx). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
8. Dramenanalyse nach dem Ende der
I. Begriffe und Konzepte Gattungskonvention (Miriam Drewes) . . . 166

1. Dramentheorie (Peter W. Marx). . . . . . . . . 1


2. Begriffe des Aristoteles (Julia Stenzel) . . . . 12
3. Wirkungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 III. Gattungen des Dramas
3. 1 Das Tragische (Alexandra Portmann) . . 31 im historischen Kontext
3. 2 Das Komische (Peter W. Marx) . . . . . . . 36
3. 3 Das Wunderbare (Peter W. Marx) . . . . . 39 1. Drama und Theater – eine Wahl-
4. Drama – Dramaturgie verwandtschaft? (Peter W. Marx) . . . . . . . . 171
(Peter M. Boenisch). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Antike (Martin Hose). . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im 3. Gattungen des nicht-europäischen
System der literarischen Gattungen Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
(Michael Bachmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.1 Japanisches Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
6. Theater jenseits des Dramas: 3.1.1 Nō-Drama (Stanca Scholz-Cionca) . . . . 191
Postdramatisches Theater 3.1.2 Puppentheater
(Miriam Drewes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 (Andreas Regelsberger) . . . . . . . . . . . . . . . 194
7. Interkulturelle Dramaturgie 3.1.3 Kabuki-Theater
(Christopher Balme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (Andreas Regelsberger) . . . . . . . . . . . . . . . 196
8. Intermediale Dramaturgie 3.2 Sanskrit-Drama (Christopher Balme) . . . . 198
(Wolf-Dieter Ernst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.3 Das chinesische Theater bis zum Ende
der Yuan-Dynastie (1368)
(Michael Gissenwehrer) . . . . . . . . . . . . . . . . 203
4. Mittelalter – geistliches Spiel
II. Annäherung an das Drama (Jan Mohr, Julia Stenzel). . . . . . . . . . . . . . . . 209
in analytischer Perspektive 5. Frühe Neuzeit – das englische Drama
(Virginia Richter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
1. Grundelemente (1): 6. Improvisationscomœdie – Drama und
Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Maskenspiel im 16.–18. Jahrhundert
Dialog) (Nicolette Kretz) . . . . . . . . . . . . . . . 105 (Stefan Hulfeld) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
2. Grundelemente (2): 7. Barock (Dirk Niefanger). . . . . . . . . . . . . . . . 230
Formprinzipien der dramaturgischen 8. Französische Klassik (Julia Pfahl) . . . . . . . 244
Komposition (Peter M. Boenisch). . . . . . . . 122 9. Aufklärung
3. Regieanweisung/Szenenanweisung (Beate Hochholdinger-Reiterer). . . . . . . . . . 251
(Peter W. Marx). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 10. Bühne und Musik/Bühnenmusik
4. Erzählperspektiven im Drama (Arne Stollberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
(Kurt Taroff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 11. Realismus/Naturalismus
5. Dramaturgien der Unterbrechung (Klaus Müller-Wille). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
und der Diversität: Tableaux, Intermezzi, 12. Der Theaterboom des 19. Jahrhunderts
Nachspiele (Bettina Brandl-Risi) . . . . . . . . 151 und die Proliferation der Gattungen
6. Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) (Nic Leonhardt ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
als analytisches Modell 13. Kurzformen des Dramas seit der
(Peter M. Boenisch). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Moderne (Hans-Peter Bayerdörfer) . . . . . . 286
VI Inhalt

14. Lesedrama (Peter W. Marx) . . . . . . . . . . . . 293 Verzeichnis der Beiträgerinnen und


15. Episches Theater (Ulrich Kittstein) . . . . . . 296 Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
16. Dokumentartheater/Dokumentardrama
(Michael Bachmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
17. Der Verlust der Gattungsmerkmale:
Drama nach 1945 (Norbert Otto Eke) . . . . 310 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
18. Rückkehr des dramatischen Erzählens?
(Stefan Tigges) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Namen- und Titelregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
VII

Vorwort

Das Drama sticht ein wenig aus der Reihe der litera- setzt aber das Drama stärker in die Bezüge seines
rischen Gattungen hervor, denn es scheint Theore- historischen Kontextes. So gibt es keinen Versuch,
tiker und Literaturwissenschaftler in besonderer einen ahistorischen, kulturell unabhängigen Begriff
Weise zu provozieren: Ist es für die einen der Höhe- von Gattung oder einzelnen Formen zu bilden,
punkt kultureller Leistung, markiert es für andere sondern eine konsequente Historisierung. Damit
den Anfang aller Kunst, keineswegs aber notwendi- dennoch Entwicklungslinien und Vergleichspunkte
gerweise einen Gipfel künstlerischer Kreativität. sichtbar werden, wurde ein ausführliches Sachregis-
Diese Ambivalenz lässt sich sicherlich nicht allein ter an das Ende gefügt. Auch wird schnell deutlich,
aus der Beschaffenheit der literarischen Texte oder dass es einige rekurrente Motive der Auseinander-
der Gattung erklären – sie ist vielmehr eine Folge des setzung gibt, an denen sich diskursive Figuren ver-
Umstands, dass das Drama keine in sich ruhende dichten: Hier sei exemplarisch auf die unterschied-
Form darstellt, sondern per definitionem eine Schnitt- lichen Stationen der Aristoteles-Lektüre verwiesen,
stelle zur szenischen Darstellung bereit hält. So ist es die sich eben nicht zu einem einheitlichen Bild fü-
das Bezogensein auf das Theater, das eine Eindeutig- gen, sondern vielmehr Kontingenzen und strate-
keit der Gattung zu verhindern scheint. gische Motivationen erkennbar werden lassen.
Doch bringt gerade – wenn man auf die jüngere
Geistesgeschichte blickt – dieses Bezogensein das Der Band ist in drei größere Abschnitte unterteilt:
Drama in neue Bedrängnis, denn im Ringen um die – In einem ersten Abschnitt werden die theore-
ästhetische und akademische-disziplinäre Anerken- tischen Felder, in denen das Drama situiert ist, ab-
nung der Eigenständigkeit von Theater (und Thea- gesteckt: Hier findet sich eine ausführliche Dis-
terwissenschaft) wurde das Drama neuerlich zum kussion der aristotelischen Kernbegriffe ebenso
Streitobjekt: Figurierte es doch schnell als Inbegriff wie Abgrenzungen zu anderen Gattungen oder
eines verkürzenden Theaterbegriffs, der nur das Öffnungen zu interkulturellen oder intermedialen
Primat der Literatur fortschreibe. So hat noch jüngst Diskursen.
das Wort vom ›postdramatischen Theater‹ das Drama – Der zweite Abschnitt will einen Überblick über
als Anachronismus klassifiziert. zentrale Aspekte der Dramenanalyse geben; dabei
Gegen eine solche Diagnose steht aber nicht allein werden sowohl grundsätzliche Kategorisierungen
die Vielgestaltigkeit der kulturellen Praxis, die von betrachtet, als auch einzelne Aspekte der For-
einer hohen Vitalität der Gattung geprägt ist sowie schungsdiskussion der letzten Jahre, wie das Ver-
von einem aktiven und produktiven Gedächtnis hältnis von Drama und Performativität oder die
von Werken, die uns bis in unsere Gegenwart beglei- Frage der intermittierenden Formen, beleuchtet.
ten. Auch hat die jüngere Forschung versucht, kate- – Der dritte Abschnitt schließlich ist einem histori-
goriale Gegenüberstellungen methodisch aufzulösen schen Durchgang gewidmet, der von der griechi-
und stärker wechselseitige Bezogenheiten in den schen Antike bis in die jüngste Gegenwart reicht.
Blick zu nehmen. Im Sinne der eingangs beschriebenen Positionie-
Ein Handbuch zum Drama tut gut daran, sich in rung im ›Zwischen‹ war es konzeptionell zentral,
den Ambivalenzen dieser Bezüge offensiv zu ver- dass zum einen nicht allein europäische Dramen-
orten – weder schamhaftes Verschweigen noch ein formen berücksichtigt wurden, auch wenn die
trotziges Dennoch vermitteln einen Zugang, der der Diskussion chinesischer, indischer und japani-
wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre oder scher Formen hier nur knapp beispielhaften Cha-
der Vielschichtigkeit künstlerischer Formen ange- rakter haben kann. Ebenso aber sollte auch die
messen wäre. So bildet die Idee der Bezogenheit auf Comœdie, d.h. die Tradition des nicht-literari-
das Szenische, das über das Literarische Hinauswei- schen Theaters einen Platz finden. Dass dieser
sende als konstitutive Komponente, ein Zentrum der Abschnitt mit einem Blick auf die gegenwärtige
nachstehenden Darstellungen. Dies erfolgt in eini- Theaterlandschaft und ihre Praxis des Umgangs
gen Fällen um den Preis begrifflicher Eindeutigkeit, mit Dramen endet, hat programmatischen Cha-
VIII Vorwort

rakter und unterstreicht Vitalität und Wandlungs- wollen, nenne ich sie hier in alphabetischer Reihen-
fähigkeit der dramatischen Form. folge. So gilt mein Dank Katharina Cohnen, Sascha
Förster, Hannah Neumann, Sabine Päsler, Alexandra
So bleibt am Ende vor allem noch Dank zu sagen: Portmann und Johannes Stier. Der Impuls zu die-
An erster Stelle gilt mein Dank den Autorinnen und sem Unterfangen kam von Dr. Oliver Schütze vom
Autoren, die mit ihrer Mitarbeit den Band über- Metzler-Verlag, der in allen Phasen der Entstehung
haupt erst möglich gemacht haben. Ich möchte aber ein ebenso kreativer wie geduldiger Begleiter war –
auch besonders meinen Mitarbeiterinnen und Mit- hierfür möchte ich nachdrücklich danken.
arbeitern danken, die in unterschiedlichen Stadien
und Aufgaben das Unterfangen begleitet haben;
ohne ihre individuellen Verdienste schmälern zu Köln, im April 2012 Peter W. Marx
1

I. Begriffe und Konzepte

1. Dramentheorie nung von Textualität vs. Performativität verorten –


auch wenn die Begrifflichkeit nur selten so explizit
Das Drama hat als literarische Gattung sowie als kul- genannt wird.
turelles Phänomen seit der griechischen Antike eine Textualität meint hier in einem weiten Sinne die
intensive und vielstimmige Reflexion über sein ›We- Verfasstheit in einem »Speichermedium« sowie die
sen‹ provoziert. Dabei stellt sich bei näherer Be- Lesbarkeit, die auf spezifischer Organisation und se-
trachtung das Feld als ebenso komplex wie viel- mantischer Kohärenz basiert (Baßler/Thiele 2008).
schichtig dar und alle Versuche, einen inneren Ent- Performativität hingegen kann als der tatsächlich si-
wicklungsstrom erkennen zu wollen, basieren auf tuative (Sprach-)Handlungsvollzug verstanden wer-
massiven Ausklammerungen und Ausblendungen. den. Das Drama steht nun zwischen diesen beiden
Die alltagssprachliche Verbreitung von Theater- und Polen und seine jeweiligen historischen Formen sind
Dramenmetaphern (»So ein Theater!«; »Ein in je unterschiedlichem Maße von einem dieser bei-
Drama!«; »wie tragisch«) hat ebenfalls nicht zur den Pole geprägt.
Klarheit der Begrifflichkeiten beigetragen. Diese Überlagerungen können aber auch für die
Während die traditionelle Gattungsbestimmung Betrachtung der Dramentheorie hilfreich sein, da
das Drama als »ahistorische oder besser überhistori- man die unterschiedlichen Ansätze im Hinblick auf
sche Gattung« (Asmuth 2009, 1) zu erfassen ver- die Bestimmung des Dramas in diesem Kontinuum
spricht und bei dieser idealtypischen Konstruktion sortieren kann. So lassen sich drei Linien der Dra-
notwendigerweise von der jeweiligen kulturellen mentheorie beschreiben: (1) die literarisch-ästheti-
und historischen Praxis abstrahieren muss, soll hier sche Bestimmung, (2) die Bestimmung des Dramas
ein anderer Weg beschritten werden. Die Darstel- durch den Bezug zum Theater, (3) die Bestimmung
lung der unterschiedlichen Dramentheorien soll des Dramas als anthropologisches Modell.
nicht als Destillation allgemeingültiger Axiome ver- Die Unterscheidung dieser drei Dimensionen ist
standen werden, sondern verschiedene Zugangswei- als heuristisches Modell der Beschreibung zu verste-
sen in einem nicht-homogenisierbaren Diskurs auf- hen, weil die meisten Theorien in sich die verschie-
zeigen. Ein solches Vorgehen trägt auch der Einsicht denen Dimensionen verbinden, so dass einige Theo-
Rechnung, dass sich Kulturgeschichte (und als Teil retiker mehrfach, unter je verschiedenen Aspekten
derselbigen muss die Dramentheorie betrachtet wer- in den Blick genommen werden.
den) nicht in quasi evolutionären Entwicklungsli-
nien vollzieht, sondern vielmehr gerade durch Brü-
che und Kontingenzen geprägt ist.
Gleichwohl lassen sich bestimmte heuristische 1.1 Literarisch-ästhetische
Vorannahmen machen, die helfen können, die Ar- Bestimmung
gumentationsführung zu strukturieren (vgl. zum
Überblick Korthals 2003, 27–52). Zentral für die fol- Die Dramentheorien, die ihren Ausgangspunkt im
genden Überlegungen ist der liminale Charakter des literarischen Charakter des Dramas suchen, lassen
Dramas: Es ist eben nicht ›nur‹ eine literarische Gat- sich wiederum in zwei Untergruppen unterteilen:
tung, sondern weist in seiner Bezogenheit auf die Auf der einen Seite jene, die auf eine substanzielle
theatrale Darstellung über das literarische Gefüge Bestimmung des Dramas bzw. des Dramatischen
hinaus. So sehr in der allgemeinen Vorstellung The- schlechthin zielen, zum anderen die Ansätze, die das
ater und Drama eine kaum trennbare Einheit zu bil- Drama über bestimmte semiotische oder poetologi-
den scheinen, so sehr hat sich die theoretische Aus- sche Prinzipien definieren.
einandersetzung an solchen stillschweigenden Vor-
aussetzungen gerieben. Gemeinsam ist aber den
meisten Theorien, dass sie das Drama in der Span-
2 I. Begriffe und Konzepte

1.1.1 Das Dramatische: gonal abgetan, war hierbei Gustav Freytags Die Tech-
substanzielle Bestimmungen nik des Dramas (1863). Freytag, dessen Stück Die
Journalisten (1852) zu den meistgespielten Dramen
Der einflussreichste Vertreter dieser Richtung ist auf den deutschsprachigen Bühnen des 19. Jahrhun-
zweifellos Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen derts gehört, sucht hier, Hegels System in praktische
Vorlesungen über die Ästhetik (1820/21) ein differen- Schreibvorschriften zu übersetzen. Dabei stellt er
ziertes System der Kunst- und Gattungstheorie ent- gleich zu Beginn die konstitutive Bedeutung des
faltet. Ganz im Sinne seiner dialektischen Argumen- Konflikts programmatisch aus: »Zuerst treten ein-
tationsführung erscheint das Drama als die »höchste zelne Momente: innerer Kampf und Entschluss eines
Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt«, weil es – Menschen, eine folgenschwere Tat, Zusammenstoß
in idealer Synthese – die Grundzüge der »Objektivi- zweier Charaktere, Gegensatz eines Helden gegen
tät des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik« seine Umgebung, so lebhaft aus dem Zusammenhang
(Hegel 1970, 474) verbindet. Hegel entwirft ein Mo- mit anderen Ereignissen heraus, dass sie Veranlas-
dell des Dramas, in dessen Zentrum das Wechsel- sung zur Umbildung des Stoffes werden« (Freytag
spiel zwischen dem subjektiven, inneren Wollen und 2003, 15). Erst durch den Konflikt drängt die Bege-
Empfinden und den äußeren Umständen steht, auf benheit zur »Umbildung des Stoffes«, d. h. zur Form
die jenes zielt bzw. von denen jenes angeregt wird. des Dramas. Diese wird von Freytag normativ aufge-
Umgekehrt sind die äußeren Umstände auch durch fasst und als Folge von Gesetzen, die über Gelingen
das Wollen der Figuren geprägt: »Denn das Drama und Scheitern des Schauspiels entscheiden, definiert
zerfällt nicht in ein lyrisches Inneres, dem Äußeren (bspw. Freytag 2003, 94 f.). Aus der Zentralsetzung
gegenüber, sondern stellt ein Inneres und dessen äu- des Konflikts folgt für Freytag die enge Wechselwir-
ßere Realisierung dar« (Hegel 1970, 477). Daraus kung von Handlung und Figur, wobei die Handlung
aber folgt die für Hegel zentrale Bestimmung des eben als Folge einer inneren Entwicklung – ganz im
Dramas durch den Konflikt: »Das dramatische Han- Sinne Hegels – bestimmt ist: »Den höchsten Reiz hat
deln […] beruht schlechthin auf kollidierenden Um- immer […] der innere Kampf des Menschen bis zur
ständen, Leidenschaften und Charakteren und führt Tat« (Freytag 2003, 23).
daher zu Aktionen und Reaktionen, die nun ihrer- Die Gesetze über den idealen Bau des Dramas fü-
seits wieder eine Schlichtung des Kampfes und Zwie- gen sich in jenes viel zitierte Schema des pyramida-
spalts notwendig machen« (Hegel 1970, 475). So ist len Aufbaus (Freytag 2003, 95; s. Abb.).
nach Hegel das Drama als jene Kunstform bestimmt,
die die Welt nicht in stabiler Ruhe zeigt. Damit ist III Höhepunkt und Peripetie
das Drama aber – obgleich es eben auch die Mög-
lichkeit der Innenperspektive bietet – als eine genuin
auf das soziale Leben zielende Kunst bestimmt, bei
der sich hinter dem Konflikt der Figuren grundle-
gende, allgemeine Konflikte verbergen: II Steigende IV Fallende
Handlung mit Handlung mit
[S]oll dieser wesentliche Gehalt der menschlichen Empfin-
dung und Tätigkeit jedoch dramatisch erscheinen, so muß erregendem retardierendem
er sich in seiner Besonderung als unterschiedene Zwecke Moment Moment
entgegentreten, so daß überhaupt die Handlung Hinder-
nisse von seiten anderer handelnder Individuen zu erfah-
ren hat und in Verwicklungen und Gegensätze gerät, wel-
che das Gelingen und Sichdurchsetzen einander wechsel-
seitig bestreiten. (Hegel 1970, 480)
I Exposition V Katastrophe
Hegels Bestimmung des Dramas trennt Tragödie
und Komödie nicht kategorial, sondern lässt sie als
mögliche Spielarten nebeneinander stehen, ohne Die fünf Teile des Schemas markieren den emotio-
eine Hierarchisierung vorzunehmen. nalen Entwicklungsbogens der Wirkungen:
Die Hegelsche Deutung des Dramas fand im 19.
Jahrhundert eine intensive Aufnahme; besonders – das erregende Moment, dient der Einführung und
einflussreich, wenngleich auch oftmals als rein epi- Hinführung des Publikums;
1. Dramentheorie 3

– das tragische Moment, zwischen Höhepunkt (c) Pathos (vgl. Staiger 1972, 111 f.) und dem, was er den
und Umkehr (d) markiert, ganz im Sinne der aris- problematischen Stil (vgl. Staiger 1972, 116) nennt.
totelischen Peripetie (vgl. Kap. I.2.4.2, 18) den Beide Spielarten des Dramatischen zeichnen sich –
Umschwung der Handlung; v. a. mit Blick auf das Gesamtgefüge der literarischen
– das Moment der letzten Spannung, von Freytag als Gattungen – durch das Konflikthafte, das nach Stai-
»altes anspruchsloses Mittel des Dichters« (Frey- ger im pathetischen Stil (vgl. Staiger 1972, 105 f.)
tag 2003, 111) skeptisch behandelt, zögert die un- bzw. in der Abgestimmtheit der übrigen Teile (vgl.
vermeidliche Katastrophe für einen Moment hin- Staiger 1972, 116–121) begründet liegt, aus. So ist es
aus, letztlich um die affektive Wirkung zu erhö- das Bild des Gerichts und das im Drama angelegte
hen. Urteil, das das Zentrum der Gattungsbestimmung
markiert: »So wird im Drama und im Gericht das
Obwohl Freytag sein Modell aus einem abstrakten Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt. Deshalb
System von Regeln entwickelt, bezieht er sich in der drängt das Drama von innen heraus auch zur äußern
Entfaltung seiner Argumente doch immer wieder Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Büh-
auf die europäische Dramengeschichte. Hier aber nenwerken verschiedener Zeiten bezeugt« (Staiger
tritt sehr deutlich der präskriptive Charakter seiner 1972, 126).
Überlegungen in den Vordergrund: Zum einen, Staiger betont auch nochmals den schon bei He-
wenn er die Entwicklung des Dramas in ein evolu- gel und Freytag vorfindlichen Welt-Bezug, wenn er
tionär geordnetes kulturhistorisches Modell einord- die unterschiedlichen Gattungen durch »ihr Verhält-
net: nis zur Welt« differenziert:
Die Fähigkeit, dramatische Wirkungen durch die Kunst
hervorzubringen, ist dem Menschengeschlecht nicht in je- Der lyrische Dichter weiß nichts von der Welt. […] Den
dem Zeitraum seines Daseins verliehen. Die dramatische epischen dürfen wir mit dem Seefahrer oder dem Wande-
Poesie erscheint später als Epos und Lyrik; ihre Blüte in ei- rer vergleichen. Er zieht mit seinem Helden aus, um fremde
nem Volk hängt allerdings von dem glücklichen Zusam- Länder und Menschen zu sehen. […] Ganz anders der dra-
mentreffen vieler Kräfte ab, zunächst aber davon, dass in matische Geist! Ihm ist nichts daran gelegen, nur immer
dem wirklichen Leben der Menschen die entsprechenden wieder Neues zu sehen. Sein Interesse bezieht sich weniger
Seelenvorgänge bereits häufig und reichlich sichtbar wer- auf die Dinge selber als auf das, woraufhin er sie ansieht. Er
den. (Freytag 2003, 25) nimmt sie als Zeichen, als Bewährung und Verdeutlichung
eines Problems. (Staiger 1972, 124 f.)
Dieser Annahme folgend konstatiert Freytag denn
auch ein Abbrechen der antiken Dramentradition, Die Dynamik des Konflikts begründet schließlich
an die erst nach der Reformation wieder angeknüpft nicht nur die Art der Darstellung, sondern auch den
werden konnte. Unterschied von Komödie und Tragödie, die beide
Zum anderen, wenn er die europäische Dramen- gleichermaßen durch ihren Bezug auf eine (darge-
geschichte nur im Hinblick auf den von ihm favori- stellte, nicht empirisch ermittelte) Welt geprägt sind.
sierten Idealtypus durchkämmt und entsprechend Das permanent mögliche Zerbrechen der Welt lässt
viele Texte als ›misslungen‹ verwirft, wie etwa die den Unterschied zwischen diesen beiden Grundfor-
Shakespeareschen Historien, die er als »kunstlose men des Dramatischen nicht mehr als kategorial,
Behandlung historischer Stoffe« (Freytag 2003, 38) sondern nur noch als graduell erscheinen: »Wenn
abwertet. wir vom Tragischen erklärten, daß es den Rahmen
Trotz dieser Enge und Begrenztheit der Perspek- einer Welt sprengt, so gilt vom Komischen, daß es
tive ist Freytags Technik des Dramas bis heute ein aus dem Rahmen einer Welt herausfällt und außer-
immer wieder zitiertes Werk, was zum einen sicher- halb des Rahmens in selbstverständlicher, fragloser
lich an der klaren Systematik und Sprache liegt, Weise besteht« (Staiger 1972, 137).
zum anderen an dem Bemühen um den Brücken- Staigers Bestimmung des Dramatischen wurzelt
schlag zwischen Hegels philosophischem System in einem ontologischen Verständnis der Gattungen,
und Handreichungen für die konkrete literarische die sich aus einem ›Kern‹ heraus entwickeln. Wie
Praxis. sehr es sich hierbei um eine idealistische Bestim-
Ein später Ausläufer einer solchen substanziellen mung handelt, die mithin gegen die kulturgeschicht-
Bestimmung findet sich bei Emil Staiger in Grund- liche Entwicklung steht, wird an seiner Bestimmung
begriffe der Poetik (1946). Staigers Begriff des Dra- des Verhältnisses von Drama und Theater erkenn-
matischen speist sich aus seinem Verständnis von bar:
4 I. Begriffe und Konzepte

Wäre er [der Begriff des Dramatischen] etwa so zu finden, daß die Gestalten dialogisch gebildet sind« (Ham-
daß das Dramatische nicht vom Wesen der Bühne her ver-
standen wird, sondern umgekehrt die historische Einrich-
burger 1977, 173 f.).
tung der Bühne aus dem Wesen des dramatischen Stils? Hamburgers Ansatz stellt innerhalb der Dramen-
Phänomenologische Betrachtung läßt nur diese Deutung theorie eine Neuerung dar, weil sie den Gattungsbe-
zu. Aus dem Geist dramatischer Dichtung ist die Bühne er- griff auf »strukturelle Tatsachen« begründet. Dieser
schaffen worden, als einzig gemäßes Instrument für eine Linie folgt auch Manfred Pfister in Das Drama
neue Poesie. (Staiger 1972, 103)
(1977), das vielleicht der konsequenteste Versuch ist,
Staigers Bestimmung des Dramatischen schlägt die das Drama aus semiotisch-strukturalistischer Per-
Brücke zwischen der von Hegel entwickelten idealis- spektive zu definieren. Pfister spitzt Schlegels und
tischen Bestimmung und den Diskursen des 20. Hamburgers Definition zu, wenn er konstatiert, dass
Jahrhunderts; er bleibt in der literaturwissenschaftli- dem Drama das »vermittelnde Kommunikationssys-
chen Diskussion präsent, bis schließlich narratologi- tem« (Pfister 2001, 21) eines Erzählers fehle. Ham-
sche und strukturelle Bestimmungen wichtiger wer- burger sieht in diesem Moment auch die »konstituie-
den. rende Eigenschaft des Dramas, aufführbar zu sein«
(Hamburger 1977, 174) begründet: »[D]ie Beschrän-
kung auf die dialogisch erzeugte Gestaltenbildung
1.1.2 Das Dramatische: poetologische bringt ihre mimische Möglichkeit mit sich: die als
und strukturelle Bestimmungen redend gestalteten Personen können redend sich
selbst darstellen« (Hamburger 1977, 174).
Ein weiterer Weg, das Drama theoretisch zu fassen, Aus dem Fehlen des vermittelnden Kommunika-
nimmt seinen Ausgangspunkt in dem Bemühen, tionssystems folgt aber auch eine spezifische Zeit-
eine besondere literarische Formung als konstituti- lichkeit des Dramas, wie Peter Szondi festgestellt hat:
ves Element zu bestimmen. Dieser Ansatz kann sich »Indem das Drama je primär ist, ist seine Zeit auch
– ungeachtet der jeweiligen Durchführung – u. a. auf je die Gegenwart. […] Der Zeitablauf des Dramas ist
die aristotelische Poetik beziehen, die klare Bestand- eine absolute Gegenwartsfolge« (Szondi 1963, 17).
teile der Tragödie definiert (vgl. Kap. I.2). Diese Argumentationslinie lässt sich zwar durch-
Systematische Ansätze entstehen v. a. seit dem 18. aus bis hin zu Aristoteles’ Gegenüberstellung des
Jahrhundert und seinen poetologischen Diskursen. Dramatikers und des Historikers zurückverfolgen
Besonders prägnant ist hierbei die Position von Au- (Poet. 1451b und 1459a), sie findet aber eine beson-
gust Wilhelm Schlegel, der in seinen Vorlesungen ders prägnante Ausprägung in Goethe/Schillers Auf-
über dramatische Kunst und Literatur (1809–1811) satz »Über epische und dramatische Dichtung«
den dialogischen Charakter des Dramas als dessen (1797) in der Gegenüberstellung zwischen dem Epi-
»erste äußere Grundlage der Form« (Schlegel 1846, ker und dem Dramatiker. Auch hier ist die radikale
21) bestimmt. Dieses Kriterium, das natürlich in ei- Gegenwärtigkeit des Dramas das zentrale Merkmal:
nem inneren Verweisungszusammenhang zu dem »[I]hr großer wesentlicher Unterschied besteht aber
oben diskutierten Merkmal des Konflikts steht, wird darin, daß der Epiker die Begebenheiten als voll-
in den folgenden Bestimmungen immer wieder auf- kommen vergangen vorträgt und der Dramatiker sie
gegriffen, v. a. weil es sich unmittelbar und eindeutig als vollkommen gegenwärtig darstellt« (Goethe/
auf eine konkrete Form der sprachlichen Gestaltung Schiller 1999, 249).
beziehen lässt. An dieser Bestimmung wird aber auch erkennbar,
Bezeichnend ist aber, dass Schlegel das Merkmal dass diese vermeintlich rein strukturelle Bestimmung
des Dialogischen ergänzt durch die Feststellung, auch den Kern einer historisch-normativen Setzung
dass das Drama sich auch auszeichne durch die »Ab- in sich trägt: Es ist das Modell des literarischen Dra-
sonderung alles nicht zum Wesen der Sache gehöri- mas, wie es sich im deutschsprachigen Raum v. a. im
gen« (Schlegel 1846, 23). Dieses Moment der Kon- Kontext der bürgerlichen Theaterreform ausbildet,
zentration wird im dramentheoretischen Diskurs das hier implizit als Norm bzw. quasi-evolutionärer
immer wieder narratologisch gefüllt; so schreibt Fluchtpunkt dargestellt wird. Szondi hat diesen Um-
etwa Käte Hamburger in Die Logik der Dichtung stand mit Blick auf sein Konzept der Absolutheit des
(1957): »[D]er sprachlogische Ort des Dramas im Dramas (vgl. Kap. II.6) dadurch betont, dass er für
System der Dichtung ergibt sich allein aus dem Feh- eine grundsätzliche Historisierung des Dramenbe-
len der Erzählfunktion, der strukturellen Tatsache, griffs eintritt (Szondi 1963, 9–14).
1. Dramentheorie 5

Pfister versucht, diesem Dilemma einer still- werden (vgl. Kap. III.2), noch weniger verallgemei-
schweigend eingeschriebenen Norm zu entgehen, nernd für die Antike. So nimmt Horaz in seiner Ars
indem er zwar den Wegfall des vermittelnden Kom- poetica (ca. 20 v. Chr.) eine gegensätzliche Position
munikationssystems zum konstitutiven Merkmal er- ein, wenn er feststellt:
klärt, gleichzeitig aber die Episierung als ästhetisch
Etwas wird auf der Bühne entweder vollbracht [agitur: aus-
möglichen und mithin programmatisch begründe- geführt] oder als Vollbrachtes berichtet. Schwächer erregt
ten Verstoß gegen das Gattungsmerkmal mitdenkt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr
(Pfister 2001, 104–122). Darüber hinaus bricht Pfis- nimmt, als was vor die verläßlichen Augen gebracht wird
ter den Kreislauf der poetologischen Bestimmung und der Zuschauer selbst sich vermittelt: doch wirst du
nicht, was besser im Innern sich abspielen sollte, auf die
dadurch auf, indem er die von Hamburger konsta- Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was dann
tierte konstitutive Eigenschaft der Aufführbarkeit die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor
grundsätzlicher und auch nicht mehr allein auf das allem Volke Medea nicht schlachte noch öffentlich
Theater bezogen fasst. Da das Kriterium des Dialo- menschliche Eingeweide der ruchlose Atreus koche, nicht
gischen keine hinreichende Trennschärfe gegenüber in einen Vogel sich Prokne verwandle noch Kadmos sich in
eine Schlange; was du mir so zeigst, dem kann ich nicht
anderen literarischen Dialogen böte, führt er ergän- glauben, ich muß es verabscheuen. (Horaz 1972, 15 ff.)
zend das Kriterium der Plurimedialität der Textprä-
sentation ein: »Der dramatische Text als ein ›aufge- Die »verlässlichen Augen« markieren nicht nur den
führter‹ Text bedient sich, im Gegensatz zu rein lite- Gegensatz zu Aristoteles’ Fokussierung auf das Poe-
rarischen Texten, nicht nur sprachlicher, sondern tische, sie unterstreichen auch die zentrale Funktion,
auch außer-sprachlich-akustischer und optischer die Horaz der szenischen Darstellung im Wirkungs-
Codes; er ist ein synästhetischer Text« (Pfister 2001, mechanismus des Dramas zuschreibt. Die rein
24 f.). sprachliche Darstellung wird von ihm nur als Surro-
gat für jene Momente angesehen, bei denen eine of-
fene visuelle Darstellung das sittliche Empfinden der
Zuschauer, im Zitat repräsentiert durch Medea und
1.2 Bestimmung des Dramas Atreus, oder ihren Realitätssinn (die Verwandlung
durch den Bezug zum Theater eines Menschen) verletzte. In der Gegenüberstellung
von Ohr (Aristoteles) und Auge (Horaz) artikuliert
Das Ausgerichtetsein des Dramas auf die szenische sich jene grundsätzliche Spannungsachse im Diskurs
Darstellung ist immer wieder zum Referenzpunkt über das Drama, die von der Polarität von Textualität
der Gattungsbestimmung genutzt worden – aller- vs. Performativität geprägt ist. Das Literarische des
dings nicht selten in kontroverser Weise. So zählt Dramas wird von Aristoteles auf Kosten der Szene
Aristoteles unter die sechs Bestandteile der Tragödie zum Zentrum erklärt, während Horaz die konstitu-
zwar auch die Inszenierung (opsis), aber nicht ohne tive Öffnung des Textes zur Szene hin betont.
unmittelbar festzuhalten, diese sei »das Kunstloseste Um dieses Moment im Diskurs der Dramentheo-
und [habe] am wenigsten etwas mit der Dichtkunst rie besser verstehen zu können, ist es hilfreich, einen
zu tun« (Poet. 1450b,6). An späterer Stelle spitzt er genaueren Blick auf die Formierungsphase des
dieses Verdikt noch zu, wenn er programmatisch die deutschsprachigen Theaters in der Frühen Neuzeit
Wirkung der Tragödie von der szenischen Darstel- zu werfen, weil sich hier das Modell des literarischen
lung abkoppelt: »Denn die Handlung muß so zu- Dramas (im Gegensatz zum reinen Spieltext) ausbil-
sammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und det und auch in der Praxis durchzusetzen beginnt:
nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollzie- So ist auffällig, dass Martin Opitz in seinem Buch
hen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer emp- von der Deutschen Poeterey (1624) zum einen das
findet« (Poet. 1453b, 14). Drama nicht als eigenständige Gattung beschreibt,
Das Hören bzw. das Ohr wird für Aristoteles zum sondern sich nur auf Comedie bzw. Tragedie (Opitz
Bezugspunkt der Tragödie, was zu dem markanten 2008, 30) beschränkt, zum anderen das Theater voll-
Widerspruch führt, dass der einflussreichste Refe- ständig unerwähnt bleibt. Dies erstaunt umso mehr,
renztext der westlichen Dramentheorie das Drama als es zu diesem Zeitpunkt auch auf dem deutsch-
jenseits bzw. in Abgrenzung vom Theater definiert. sprachigen Buchmarkt schon Fassungen veröffent-
Gleichwohl kann diese Position keineswegs als ty- lichter Spieltexte gab, bspw. die Sammlungen von
pisch für die griechische Theaterkultur angesehen Texten der englischen Komödianten, anhand derer
6 I. Begriffe und Konzepte

abzusehen ist, dass Wechselverhältnis von Textuali- scher Strenge als literarische Gattung zu etablieren,
tät und Performativität in der kulturellen bzw. künst- sondern vielmehr in einer medienkomparatistischen
lerischen Praxis schon ausgebildet war. Opitz hinge- Argumentation zwischen den Künsten zu situieren.
gen konstruiert seine Argumentation mit Referenz In diesem Sinne erscheint es nur konsequent, dass
auf die Antike (Aristoteles/Horaz) bzw. auf zeitge- Lessing seine Überlegungen zum Drama nicht in
nössische Poetiken wie Scaliger und Heinsius (vgl. einem geschlossenen theoretischen Werk vorgelegt
Kap. I.2.7). hat, sondern v. a. – in Auseinandersetzung mit der
Dieses Auseinanderfallen von literarischer Theo- Theaterpraxis seiner Zeit – in der Hamburgischen
rie und szenischer Praxis wird thematisch v. a. im 18. Dramaturgie (1767–69) direkt das Wechselverhält-
Jahrhundert im Kontext der bürgerlichen Theaterre- nis von Drama und szenischer Darstellung reflek-
formbewegung. Exemplarisch ist hier Johann Chris- tiert hat. Der ›Mangel‹ an Systematik ist in diesem
toph Gottsched, dessen Versuch einer Critischen Fall auch ein Ausweg aus den Aporien der Gegen-
Dichtkunst vor die Deutschen (1730) das Drama überstellung von Drama und Szene. So stehen sich
nicht zuletzt als Mittel zur Disziplinierung des Thea- in der Formierungsphase des 18. Jahrhunderts Gott-
ters begreift. Vorgebildet ist diese Strategie im Dis- sched als Repräsentant des literarischen Diskurses
kurs der Französischen Klassik, die mit ihrer doc- und Lessing als Repräsentant einer an der szeni-
trine classique ein poetologisches Normmodell auf- schen Darstellung ausgerichteten Betrachtungsweise
stellt, das nicht allein die literarische Gestaltung paradigmatisch, keinesfalls aber unversöhnlich ge-
bestimmt, sondern auch das Primat des Textes ge- genüber.
genüber dem improvisierten Spiel festschreibt (vgl. In der Nachfolge dieser Konstellation bestimmen
Kap. III.6 und III.8). Es ist aber bemerkenswert, die Dramentheorien in je unterschiedlicher Akzen-
wenn Gottsched die moralische Wirkung explizit tuierung und Begründung die Zwischenstellung des
dem Theater und nicht dem reinen Text zuschreibt – Dramas. So hat bspw. auch Gustav Freytag die innere
hier sei das Trauerspiel (als pars pro toto für das Ausrichtung des Dramas auf die szenische Darstel-
Drama) der ›reinen‹ Literatur überlegen: lung betont:
Man liest, man höret sie nicht nur in einer matten Erzäh- Die Poesie braucht als Gehilfen für ihre Darstellung die
lung des Poeten; sondern man sieht sie gleichsam mit le- Musik und die Schauspielkunst. In engem Verbund mit ih-
bendigen Farben vor Augen. Man sieht sie aber auch nicht ren helfenden Künsten, in kräftiger geselliger Arbeit, sen-
in toten Bildern auf dem Papiere; sondern in lebendigen det sie ihre Bilder in die Seelen der Aufnehmenden, die zu-
Vorstellungen auf der Schaubühne. […] Es ist, sozureden, gleich Hörende und Schauende sind. (Freytag 2003, 23)
kein Bild, keine Abschilderung, keine Nachahmung mehr:
In seiner Bestimmung der Zuschauer als »zugleich
Es ist die Wahrheit, es ist die Natur selbst, was man siehet
und höret. (Gottsched 1972, 7) Hörende und Schauende« versöhnt sich jener Anta-
gonismus, der sich in der Gegenüberstellung von
Denis Diderot spitzt das Argument der Sinnlichkeit Aristoteles und Horaz angekündigt hat. Hamburger
der Szene schließlich noch zu, wenn er folgert: »Wir hingegen begründet die Nähe des Dramas zur Szene
reden in unsern Schauspielen zu viel, und folglich aus der sprachlogischen Position heraus:
spielen unsere Akteurs nicht genug. Wir haben die
Kunst, welche die Alten so vortrefflich zu nutzen Die dramatische Gestalt ist […] so gebaut, daß sie nicht
nur, wie die epische, im Modus der Vorstellung existiert,
wussten [i.e. die Pantomime], ganz verloren« (Dide- sondern dazu bestimmt und angelegt ist, in den Modus der
rot 1986, 107). So wird die stumme Szene zum ta- Wahrnehmung (der Bühne) hinüberzutreten, d. h. also in
bleau vivant, das, der Malerei nachgebildet, im Kern die physikalisch definierte Wirklichkeit wie die des Zu-
den dann sprachlich ausgetragenen Konflikt schon schauers. Dies aber bedeutet, daß sie unter dem doppelten
Gesichtspunkt der Dichtung und der (physischen) Wirk-
zum Ausdruck bringt. Hier ist auch Lessings Defini-
lichkeit entworfen wird und sie geprägt ist von den Erschei-
tion der Kunst des Schauspielers als »transitorische nungsformen, die dieser Umstand, die physische Verwirk-
Malerei« (Lessing 1985, 210) vorgebildet, was aller- lichung oder Verkörperung der Fiktion mit sich führt. […]
dings nicht überraschen kann, da Lessing Diderots Daß das Wort im Medium der Gestalt steht, enthält zweier-
Dramen und Schriften unter dem Titel Das Theater lei einander bedingende, aber dennoch invers entgegenge-
setzte Aspekte. Es bedeutet, daß das Wort Gestalt und die
des Herrn Diderot (1760) ins Deutsche übersetzt und Gestalt Wort wird. (Hamburger 1977, 177)
veröffentlicht hat.
Lessings Interesse an Diderot speist sich auch aus Hamburger begründet die wechselseitige Beziehung
dessen Bemühen, das Drama nicht nur in systemati- von Drama und Theater nicht allein aus der fehlen-
1. Dramentheorie 7

den Erzählinstanz bzw. der fragmentarischen Infor- Fischer-Lichte in ihrer 1983 erstmals veröffentlich-
mationsstruktur des dramatischen Textes, sondern ten Semiotik des Theaters die Eigenständigkeit des
v. a. auch aus der Wahrnehmung des Zuschauers, in Theaters durch die Definition des Aufführungstexts
der das Wort Gestalt werden soll. Damit legt sie be- (vgl. Fischer-Lichte 1983, 10–68) betont, der nicht
reits eine Überschreitung der Sphäre des Literarisch- nur mit Pfister als plurimedial verfasst begriffen
Fiktiven nahe. wird, sondern durch die Transitorik sowie die Koprä-
Willi Flemming kommt in Epik und Dramatik senz von Darstellern und Zuschauern in seiner semi-
(1955) zu einer vergleichbaren Definition, allerdings otischen Konstitution kategorial geschieden ist.
fasst er den Aspekt der Gestalt tatsächlich als physi- Diese Differenz schließlich wird zum Zentral-
sche Realität, wenn er auf den Aspekt der »Verleibli- punkt von Fischer-Lichtes Ästhetik des Performati-
chung« referiert, der die »dramatische Sprachwurzel ven (2004), in der Drama und Aufführung als na-
näher an das Tänzerische« (Flemming 1955, 29) rü- hezu dichotomisch entgegengesetzt begriffen wer-
cke. Die szenische Darstellung ist in diesem Sinne den. Nach Fischer-Lichte ist dies bereits bei
nicht mehr bloß eine implizite Möglichkeit, sondern Herrmann entsprechend angelegt: »Im Kern impli-
vielmehr eine dem Text eingeschriebene Grundbe- ziert Herrmanns Aufführungsbegriff einen Wechsel
dingung: vom Werkbegriff zum Ereignisbegriff. Ihm ist weder
eine hermeneutische Ästhetik kompatibel noch die
Es gehört also zur dramatischen Grundsituation der reale
heuristische Unterscheidung von Produktions-,
Schauspieler und die tatsächliche Aufführung, und es ge-
nügt nicht, sich dergleichen bei der Lektüre des Textes nur Werk- und Rezeptionsästhetik. Die Aufführung hat
vorzustellen. […] Auf der Bühne allein findet das Drama vielmehr ihre spezifische Ästhetizität in ihrer Ereig-
seine intentionierte Realisation, erst dort entsteht die echte nishaftigkeit« (Fischer-Lichte 2004, 55). Konsequen-
Illusion. Der Schauspieler ist eben kein von außen hinzu- terweise verschob sich damit auch der Fokus der
kommender Rezitator des Dramentextes, nein, dem
Sprachleib des dramatischen Kunstwerks sind Schauspieler Theaterwissenschaft stärker auf aufführungsfokus-
immanent. (Flemming 1955, 37) sierte Phänomene, während die Auseinandersetzung
mit dem Drama eher in den Hintergrund trat. Ent-
Es ist der doppelte Leib von Schauspieler und sprechend betrachtet Fischer-Lichte in Theaterwis-
Sprachleib, der die besondere Konstitution des Dra- senschaft: Eine Einführung in die Grundlagen des
mas bedingt. Allerdings ist anzumerken, dass in Fachs (2010) das Drama auch nicht mehr als konsti-
Flemmings Lesart der Schauspielerleib nicht als ei- tutiven Bestandteil der szenischen Darstellung, son-
genständige Instanz gedacht ist, sondern eben nur dern nur noch als Material der Aufführung, ebenso
als »intentionierte Realisation« des Dramas. Mithin wie Darstellerkörper, Raumobjekte etc. (vgl. Fischer-
wird dadurch die szenische Darstellung zwar als Lichte 2010, 93–100). In jüngerer Zeit ist unter dem
konstitutiv für das Drama verstanden, aber eben Aspekt der dramatic performativity bzw. der agency
nicht im Sinne einer semiotisch wie künstlerisch ei- (vgl. Kap. II.7) diese kategoriale Trennung stärker
genständigen Darstellung, sondern nur als Ablei- hinterfragt worden.
tung aus dem Gefüge des Textes. Der Primat des Die Loslösung der Aufführung vom Primat des
Textes wird damit – entgegen den rhetorischen Figu- Textes findet sich auch in der literaturwissenschaft-
ren – nachhaltig festgeschrieben. lichen Diskussion, die sich ausgehend von der Thea-
Es ist aber genau diese Konstellation, aus der her- terpraxis seit den 1990er Jahren mit der neuen
aus das Theater nur als Ableitung des Textlich-Lite- Funktion des Textes auseinandersetzt. Während
rarischen gedacht wird, die zu Beginn des 20. Jahr- Gerda Poschmann die zunehmende Differenz von
hunderts zur disziplinären Begründung der Thea- Aufführung und Text programmatisch im Termi-
terwissenschaft führte. Max Herrmann konzipierte nus des Theatertextes zu fassen sucht, den sie auch
als einer der ersten die Theaterwissenschaft als aka- durch seine Ablösung von bis dato als unverbrüch-
demische Disziplin, die sowohl durch ihren Gegen- lich erachteten formalen Kriterien bestimmt (vgl.
stand als auch durch ihre Methodik sich gegen die Poschmann 1997), plädiert Hans Thies Lehmann in
Philologien profilierte. Dieses »agonale Verhältnis Postdramatisches Theater (1999) für eine Historisie-
von Drama und Theater« (vgl. Hulfeld 2007, 271) rung des Dramenbegriffs im Anschluss an Szondi.
bestimmt nicht nur den Gründungsdiskurs der Thea- So definiert er das postdramatische Theater als ein
terwissenschaft, sondern prägt auch die methodi- Theater »jenseits des Dramas« (Lehmann 1999, 30),
schen Diskussionen der letzten Jahre. So hat Erika das stärker auf die Materialität seiner Zeichen sowie
8 I. Begriffe und Konzepte

die ästhetische Erfahrung und Erfahrbarkeit von Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervor-
Raum und Zeit fokussiert (vgl. Kap. I.6). Die Rolle gebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen.
Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen an-
der Sprache bzw. des Textes im Theater wird von geboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch
Lehmann aber nicht einfach geleugnet, sondern unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen,
vielmehr gewinnt der Text als semiotisches Kon- daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist
strukt eigener Ordnung größere Bedeutung (vgl. und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt –
Stricker 2007, 33 f.). Theresia Birkenhauer hat mit als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.
(Poet. 1448b, 11)
Blick auf die Entwicklung des Gegenwartstheaters
darauf hingewiesen, dass der Text nicht als ›Blau- So beliebt auch die legitimatorische Inanspruch-
pause‹ der Aufführung verstanden werden kann, nahme des Aristoteles als genealogischer Referenz-
sondern dass hier zwei unterschiedliche Modi der punkt war, so vieldeutig sind die historischen Inter-
Wahrnehmung (Wissen vs. Erfahrung) einander pretationen von Mimesis. In diesem Kontext aber ist
gegenüberstehen: entscheidend, dass sich mit Aristoteles jene von He-
gel skizzierte Entwicklungslinie diametral verkehrt:
Kein dem Drama zugeschriebener vorgängiger Gehalt
kann dem Zuschauer den ›Sinn‹ einer Aufführung ›auf- Hatte Hegel davon gesprochen, das Drama sei »die
schlüsseln‹, dies kann allein seine eigene ästhetische Erfah- höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt«
rung der Inszenierung. Diese Differenz zwischen ›Wissen‹ (Hegel 1970, 474), so rückt das Drama mit Aristote-
und ›Erfahrung‹, einer den Dramen zuerkannten Bedeu- les an den Beginn der Kulturentwicklung.
tung und der ästhetischen Erfahrung einer Inszenierung,
Diese Überlegungen spielen im Diskurs der Dra-
ist bestimmend für die Praxis solcher Regisseure, die sich
explizit von einer Form abgrenzen, die sie als ›Literaturthea- mentheorie nur eine nachgeordnete Rolle, bis 1872
ter‹ begreifen, weil es die Überzeugung eines vorgängig be- Friedrich Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus
stimmbaren, den Texten inhärenten Gehalts teilt, der durch dem Geist der Musik mit der Gegenüberstellung des
eine Aufführung zu ›vermitteln‹ wäre. (Birkenhauer 2005, Apollinischen und Dionysischen, die in der Tragödie
25)
zusammenfallen, eine radikale Relektüre des antiken
An solche Überlegungen anschließend hat Stefan Dramas vorlegt. Für Nietzsche ist es nicht der als apol-
Tigges ausdrücklich gegen den rhetorischen Gestus linisch verstandene Dialog, der die Tragödie definiert,
einer radikalen Verabschiedung des Dramas plä- sondern vielmehr das Wechselspiel mit dem Natur-
diert und versucht unter dem Begriff der dramati- wüchsigen, Vorzivilisatorischen des Dionysischen.
schen Transformation die »Prozess[e] der Entdra- Dieses drückt sich nach Nietzsche v. a. im Chor aus,
matisierung sowie Formen der Re-Dramatisie- den Nietzsche als Zentrum der Tragödie begreift:
rung« (Tigges 2008, 25) zu beschreiben. Im Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse
Zentrum dieser Überlegungen steht der Versuch, diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer
das Verhältnis von Drama und Theater als dialogi- solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie sich in-
sches zwischen zwei autonomen Kunstformen zu nerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors ist das
dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich verwandelt
begreifen.
zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen
andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre.
[…] Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen in der Hand,
feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Pro-
1.3 Bestimmung des Dramas als zessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ih-
ren bürgerlichen Namen: der dithyrambische Chor ist ein
anthropologisches Modell Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergan-
genheit, ihre sociale Stellung völlig vergessen ist: sie sind die
Einen gänzlichen anderen Zugang bildet eine dritte zeitlosen, außerhalb aller Gesellschaftssphären lebenden
Traditionslinie aus, die das Drama als anthropologi- Diener ihres Gottes geworden. (Nietzsche 1988, 61)
sches Modell begreift. Auch hierfür kann man in Für Nietzsche kommt die zunehmende Bedeutung
Aristoteles’ Poetik eine entsprechende Vorüberle- des Apollinischen bzw. die damit einhergehende
gung finden; gleich in der Hinführung zu seinem Verdrängung des Dionysischen im Verlauf der (The-
Thema bestimmt er eine Reihe von Künsten, darun- ater-)Geschichte einem »Selbstmord« der Tragödie
ter die »tragische Dichtung« und die Komödie, als gleich.
Nachahmung (mímēsis) (Poet. 1447a, 5). Die Nach- Ungeachtet der philologischen Richtigkeit von
ahmung selbst aber definiert er als eine conditio hu- Nietzsches Argumenten eröffnet sein Buch den Blick
mana: auf die Kunst- und Dramengeschichte der Antike,
1. Dramentheorie 9

der nicht mehr vom Bedürfnis eines teleologischen Matthews‹ Überlegungen sind auf der einen Seite
Wiedererkennens gespeist wird, sondern das radi- beeinflusst von dem im zeitgenössischen, vom Kolo-
kale Anderssein der Antike denkbar werden lässt. nialismus geprägten Überlegenheits- und Hegemo-
Drama und Theater der Antike sind nicht mehr Teil nialdiskurs des Westens – die zitierten Beispiele der
und Ausdruck einer Sittlichkeit, die als Quelle der ethnografischen Forschung werden als ›Kindheits-
eigenen Sittlichkeit in Anspruch genommen wird, zeugnisse‹ dieser Kulturen verstanden, im Gegensatz
sondern wird in seiner kulturellen Fremdheit als Teil zum impliziten Reifestatuts der westlichen Kultur –,
des Rituellen erkennbar. auf der anderen Seite artikuliert sich hier ein Be-
Ausgehend von Nietzsches Überlegungen entfal- wusstsein um die kulturelle Kontingenz, das durch
tete sich zunächst einmal in den Kunstwissenschaf- den Vergleich die Vormachtstellung der westlichen
ten ein Diskurs, der das Drama aus dem Blickwinkel Kultur befragbar werden lässt. So bewegt sich der
anthropologischer Fragestellungen neu bewertete. Text in der Ambivalenz zwischen hegemonialer
So schreibt bspw. Ernst Grosse in seiner damals sehr Überheblichkeit und dem Anerkenntnis der genui-
einflussreichen Schrift Die Anfänge der Kunst (1894): nen kulturellen Leistung der ›primitiven Kultur‹.
Dass dies auch eine Auswirkung auf das kulturelle
Die Dramatik gilt den meisten Literaturhistorikern und
Aesthetikern für die jüngste Form der Poesie; trotzdem Selbstbild haben muss, wird daran erkennbar, dass
können wir mit einem gewissen Rechte behaupten, dass sie Matthews das Drama schließlich nahezu aus dem
die älteste ist. Die Eigenart des Dramas besteht in der Dar- Horizont der Literatur löst: »It is, perhaps, going a
stellung eines Vorgangs durch Sprache und Mimik zu- little too far to assert that the drama can be as inde-
gleich. […] Indessen der gewöhnliche Sprachgebrauch ver-
steht unter einem Drama nicht die mimisch belebte Erzäh-
pendent of literature as painting may be, or as sculp-
lung eines Vorganges, sondern seine directe mimische und ture; and yet this is an overstatement only: it is not an
sprachliche Darstellung durch mehrere Personen. Aber untruth« (Matthews 1912, 15). Julie Stone Peters be-
auch in diesem engeren Sinne können wir das Drama greift dies als einen Versuch, das Drama jenseits sei-
schon auf der untersten Kulturstufe nachweisen. (Grosse ner aristotelischen Definition zu begreifen:
1894, 253 f.)
The overall transformation in the identity and definition of
Grosse stützt sich in seiner Argumentation nicht drama – incorporating, as it now did, pantomime, dance,
mehr auf den Kanon der europäischen Kunst, son- ritual, indeed any performance or ›representation by ac-
dern auf zeitgenössische ethnografische Beschreibun- tion‹ – challenged the sovereign place that the concept of
mimesis had held in dramatic theory at least since Aris-
gen. Für Grosse ist es der Gebrauch von Zwiegesang
totle. (Stone Peters 2009, 80)
und Tanz, der das Drama als früheste Form der Kunst
auszeichnet, während die Epik »wahrscheinlich die Einen deutlichen Niederschlag fanden diese Bestre-
jüngste unter den drei grossen poetischen Gattungen« bungen in den Arbeiten der Cambridge School of
(Grosse 1894, 254) sei, weil sie eine hohe Disziplinie- Classical Anthropology, die sich um eine – sichtlich
rung und Abstraktion voraussetzt. Grosses Argumen- von Nietzsche inspirierte – Relektüre der Antike be-
tation, die sich in ähnlicher Weise auch bei anderen mühten (Shepherd/Wallis 2010, 59).
Theoretikern seiner Zeit findet (vgl. Wallaschek 1903, Komplementär zu dieser ethnologischen Neuin-
241–258) bedeutet nicht einfach nur eine Neuord- terpretation des Dramas entwickelte der Ethnologe
nung des Gattungssystems, sondern auch ein neues Victor Turner seinen Begriff des social drama. Tur-
Verständnis kultureller Entwicklung. Brander ner begreift das Drama als Modell der sozialen Aus-
Matthews, der die US-amerikanische Literaturwis- einandersetzung; hier findet sich ein Echo auf das
senschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte (vgl. Verständnis von Drama als bestimmt durch einen
Jackson 2004, 60–65), deutet denn auch die Entwick- Konflikt. Für Turner ist es die klar abgrenzbare und
lung des Dramas in einer bewussten Überblendung genau beschreibbare Verfasstheit, die das social
von individueller und kultureller Entwicklung: drama als Element sozialer Entwicklung kennzeich-
net (vgl. Turner 1974, 33). In Anlehnung an Arnold
In the childhood of a race or an individual, we discover that van Genneps Konzept des rîte de passage beschreibt
the lyric, the dramatic, and the narrative are only imper- Turner ein vierstufiges Modell: 1. Öffentlicher/sym-
fectly differentiated from another; and we can gain some bolischer Bruch der sozialen Konvention; 2. Krise, in
insight into primitive conditions of drama by going back to
our own childhood, since youth is the special season of der sich der Bruch ausweitet; 3. Wiedergutmachung
make-believe, strong as that instinct is in all the seven ages (redressive action) oder Eskalation, dies kann infor-
of man. (Matthews 1912, 8) mell oder institutionalisiert geschehen; 4. Reintegra-
10 I. Begriffe und Konzepte

tion, Phase, in der öffentlich die ›Heilung‹ bzw. Ver- der hier entworfene weite Begriff von Drama an-
söhnung der Gruppe ausagiert wird (vgl. Turner schlussfähig bspw. auch an Fragen der (inter)media-
1974, 38–42). len Wechselwirkungen.
Für Turner ist das Konzept des social drama ein
Beschreibungselement, das die Gegenüberstellung
von Struktur vs. Ereignis auflöst, weil es einen iden-
tifizierbaren zeitlichen Ablauf gibt (vgl. Turner 1974, 1.4 Ausblick
35); gleichzeitig ermöglicht das Konzept, verschie-
dene Kulturen miteinander zu vergleichen, denn die Figurierte im Diskurs der disziplinären Selbstbe-
Notwendigkeit des symbolischen Ausagierens von stimmung der (deutschsprachigen) Theaterwissen-
Konflikten und Spannungen ist für ihn ein konstitu- schaft sowie im Gefüge dekonstruktivistischer The-
tives Moment jeglicher kultureller und sozialer Ent- orien das Drama als kategorial geschieden von der
wicklung. szenischen Darstellung, so betonen neuere Arbeiten
Turner selbst hat verschiedentlich darauf hinge- wieder die Wechselwirkung zwischen Text und
wiesen, dass auch das ›Kunstdrama‹ (zumindest teil- Szene, ohne in die konventionellen hegemonialen
weise) die Funktion des social drama übernehme: Muster des literarischen Diskurses zu verfallen. Zen-
tral werden hier – aus der Erkenntnis der liminalen
Whatever its origin, […] drama tends to become a way of Position des Dramas im Horizont der literarischen
scrutinizing the quotidian world – seeing it as tragedy, co-
medy, melodrama etc., in the West, according to Aristote- Gattungen – Fragen der agency (vgl. Kap. II.7), wie
lian categories and their subsequent development in diffe- sie bspw. William B. Worthen (Worthen 2010) dis-
rent cultures of that tradition […]; and in other traditions kutiert. Rebecca Schneider verweigert in Performing
such as the Japanese Noh and Kabuki, as concerned with Remains (2011) mit einer vergleichbaren Blickrich-
the aesthetics of salvation and honor as well. (Turner 1992,
tung die Gleichsetzung von Theater und liveness und
27)
betont stattdessen das über den reinen Augenblick
Das wechselseitige Dialogverhältnis von Theater- hinausgehende:
bzw. Literaturwissenschaft und Ethnologie zeigt sich
For theatre, while composed of and in time, is also a me-
wiederum in der produktiven Rezeption, die Tur-
dium of masquerade, of clowning, of passing and not pas-
ners Theorien durch Richard Schechner erfahren sing, the faux, the posed, the inauthentic, the mimetic, the
hat. Schechner, Regisseur und eine der Gründungs- copy, the double, the gaffe – all given to interruption and
figuren der Performance Studies, unterscheidet zwi- remix.[…] In the dramatic theatre, the live is a troubling
schen script und Drama, wobei script jegliche (kei- trace of a precedent text and so […] comes afterward, even
arguably remains afterward, as a record of the text set in
neswegs notwendigerweise verschriftlichte) Grund- play. (Schneider 2011, 89 f.)
lage wiederkehrender Handlungen, wie bspw.
Rituale bezeichnet (vgl. Schechner 2003, 69). Das Schneider verkehrt die übliche Logik, nach der die
Drama erscheint in Schechners Lesart als eine späte, Aufführung das Unmittelbare sei, indem sie die Auf-
spezialisierte Form des scripts, die von der Funktion führung (für das Theater des Dramas) als Doku-
her diesem gleicht, aber sich in der konkreten Form mentation des Textes definiert, die eben in Gang (in
differenzierter ausgestaltet und durch den literari- play) gesetzt sei. Schneiders Position kann durchaus
schen Diskurs eine eigenständige Autorität gewinnt. als beispielhaft für eine Tendenz der jüngeren For-
In Schechners Rückaneignung der Turnerschen schung gewertet werden, nach einer Phase der
Begrifflichkeit vollzieht sich ein Wandel, der nicht Grenzziehung wieder die Wechselwirkungen von
nur die Eigenständigkeit der performance anerkennt, Drama und Szene in das Zentrum der Betrachtung
sondern auch jenseits des Antagonismus von Drama zu stellen und dadurch deutlich werden zu lassen,
vs. Theater, die produktive und konstitutive Funk- dass das Drama nicht einfach nur als Disziplinie-
tion von Drama erkennen hilft. Durch den ethnolo- rung des Theaters zu begreifen ist, sondern dass
gischen Blick auf Theater, der zunächst einmal die seine kulturelle Bedeutung auch darin besteht, eine
Nähe zum soziokulturellen Phänomen des Rituals Gelegenheit zur Aushandlung des Verhältnisses von
betont, mag zwar der kunstgeschichtliche und ästhe- Textualität und Performativität zu bieten.
tiktheoretische Aspekt etwas in den Hintergrund ge-
raten, aber er erlaubt, das Drama in seiner funktio-
nalen Bestimmung zu historisieren. Zum anderen ist
1. Dramentheorie 11

Literatur Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem


Geiste der Musik. In: Ders.: Kritische Studienausgabe I.
Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch [1982]. Übers. u. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München
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12 I. Begriffe und Konzepte

2. Begriffe des Aristoteles Aus demselben Grund scheint es sinnvoll, einige


entscheidende Begriffe – neben mímēsis und káthar-
sis auch phóbos und éleos – in der Originalsprache
2.1 Einleitung anzuführen, da die Übersetzung eine Interpretation
vorwegnähme. (Seitenangaben zu Übersetzungen
Die weitaus meisten dramentheoretischen Begriffe der Poetik beziehen sich auf Aristoteles 1994.)
des Aristoteles werden in der Poetik angesprochen –
ein Werk, das bis in die Gegenwart für Konzeptionen
des Dramas und des Dramatischen eine Rolle spielt,
sei es als Orientierungspunkt oder als Negativfolie. 2.2 Quellen
Die Poetik ist weder als rein empirische Abbildung der
Vielfalt vorhandener Dichtwerke und ihrer Einteilung 2.2.1 Poetik: Überlieferung, Textgestalt,
in Gattungen misszuverstehen noch als Regelpoetik − Gliederung
wie in der Rezeptionsgeschichte allerdings vielfach
geschehen. Dass sie selbst kanonisch wurde, ist helle- Aristoteles’ Schriften werden gemeinhin in drei
nistischen Grammatikern zu verdanken. Im 1. Jahr- Gruppen eingeteilt: Ein Teil wendet sich an gebildete
hundert v. Chr. wurden die ›esoterischen‹ oder akro- Laien; man spricht von ›exoterischen‹ Schriften, da
amatischen, für den internen Unterrichtsgebrauch sie sich an einen Rezipientenkreis außerhalb der
bestimmten Schriften ediert, zu denen auch die Poetik Schule richten. Ihnen stehen die ›esoterischen‹
(ca. 335 v. Chr.) zählt, nicht jedoch die ›exoterischen‹ Schriften gegenüber, stilistisch weniger ausgefeilt
Abhandlungen für das breitere Publikum. Die Aus- und an ein professionelles Publikum von Schülern
gangslage für die Aristoteles-Rezeption späterer Jahr- und Kollegen gerichtet. Die dritte Gruppe umfasst
hunderte ist also die einer erheblich verzerrten Über- Sammlungen von Forschungsmaterial wie Lehrmei-
lieferung. Zum ›Gesetzgeber‹ in Dichtungsfragen nungen anderer Philosophen, naturwissenschaftli-
wurde Aristoteles in der Renaissance, als italienische che Beobachtungen, Gesetzestexte, aber auch die so-
Humanisten seine Poetik wiederentdeckten, übersetz- genannten Didaskalien, eine Sammlung von Daten
ten, redigierten und kommentierten. Um die Wende zur Aufführung der attischen Dramen. Nach Aristo-
vom 15. zum 16. Jahrhundert dominierten hellenisti- teles’ Tod ging ein Großteil seiner Schriften verloren.
sche Literatur- und Kunstvorstellungen das Aristote- Erst drei Jahrhunderte später wurden einige der
les-Bild. Lateinische Poetik-Übersetzungen wie auch Lehrschriften gesammelt und herausgegeben. Die
die drei arabischen Poetik-Kommentare (al-Farabi, uns heute vorliegenden sogenannten Pragmatien des
der sog. zweite Lehrer, Avicenna, der dritte Lehrer, Aristoteles sind zum weitaus größten Teil Vorle-
und Averroes) spielten dagegen kaum eine Rolle (vgl. sungsskripte: Skizzen für oder Nachschriften von
Schmitt 2008, XIII). mündlichen Vorträgen oder Vorlesungen. Das trifft
Die Philosophiegeschichte der Neuzeit erscheint auch auf die Poetik zu (Poet. 1454b15). Der Text
in mancher Hinsicht als eine »Depotenzierung« des richtet sich an ein Publikum, das mit der aristoteli-
Aristoteles (Höffe 2006, 274); insbesondere die Poe- schen Argumentations- und Denkweise vertraut ist,
tik aber entfaltet eine eigene Wirkung. Ihre neuzeit- gibt daher nicht jeden Argumentationsweg und jede
liche ›Wiederentdeckung‹ ist entsprechend ambiva- Begriffsdefinition erschöpfend wieder. Zudem ist
lent; mit ihr beginnt eine Kette der Interpretationen die Poetik unvollständig überliefert: Das zweite
und Umdeutungen aristotelischer Begrifflichkeiten, Buch, das der Komödie gewidmet war, ging verlo-
die das Verständnis der ersten ›Poetik‹ in der Ge- ren, und auch im erhaltenen Teil fehlen wohl einige
schichte des Abendlandes bis ins 21. Jahrhundert Passagen. Diese − schon früh bekannten − Tatsachen
prägt. Die Rezeptions- und die Forschungsge- gaben und geben bis heute Anlass zu Umstellungen,
schichte zu Aristoteles’ Poetik sind eng verwoben; Ergänzungen und Konjekturen (zu Überlieferungs-
insbesondere, was die Situation in den ersten Drit- geschichte und Textgestalt vgl. Busch 2008, XXIII).
teln des 20. Jahrhunderts angeht, kann eine Tren- Ob die sprichwörtliche Hermetik der Poetik einer
nung oft nur heuristischen Charakter beanspruchen. nachträglichen Verderbnis geschuldet ist (so Fuhr-
Daher werden gegenwärtige Positionen der Aristote- mann in Aristoteles 1994) oder gar auf die Verfasser-
les-Forschung im Folgenden in den Traditionszu- schaft von Schülern des Aristoteles schließen lässt,
sammenhang eingeordnet. ob die Schrift bloß eine Materialsammlung ist (so
2. Begriffe des Aristoteles 13

etwa schon Castelvetro 1570; im 20. Jahrhundert 2.2.2 Andere Quellen


noch Lucas 1923) oder ob den ›Dunkelheiten‹ und
scheinbaren Inkonsistenzen des Werks Missver- Neben der Poetik gibt es weitere Quellen, die für die
ständnisse der neuzeitlichen Interpreten zugrunde Dramen- und Theatertheorie des Aristoteles eine
liegen (so schon Vettori 1560, neuerdings etwa Halli- gewisse Relevanz besitzen. Mehrfach verweist die
well 2003; Schmitt 2008), ist in der Forschung bis Poetik selbst auf schon erschienene oder noch zu
heute umstritten. Eine Fremdverfasserschaft wird je- verfassende Schriften (vgl. Moraitou 1994). Der
doch nicht mehr angenommen (vgl. Fuhrmann Hinweis auf die »veröffentlichten Schriften« zur
2003; Halliwell 2003; Schmitt 2003; Schmitt 2008). Dichtungstheorie spielt wahrscheinlich auf einen
Die Poetik in ihrer erhaltenen Form gliedert sich verlorenen Dialog »Über die Dichter« (perí poiētṓn)
in 26 Kapitel, von denen etwa zwei Drittel, die Kapi- an (Poet. 1454b18; vgl. Busch 2008, XV), explizit
tel 6–22, dezidiert der Tragödie gewidmet sind. Die werden außerdem die Rhetorik und die Politik ge-
Kapitel 1–3 verhandeln die Medien, Gegenstände nannt. Diese Verweise ermöglichen auch eine unge-
und Modi dichterischer Darstellung, die Kapitel 4 fähre Datierung der Abfassung der Poetik: Aller
und 5 beschreiben die anthropologischen und histo- Wahrscheinlichkeit nach ist sie nach der Rückkehr
rischen Entstehungsgründe der Dichtung und ihrer ihres Autors nach Athen und nach der Gründung
Arten; daraus wird in Kapitel 6 abgeleitet, was eine seiner Schule, des Peripatos, um 335 v. Chr. entstan-
tragische Handlungskonstruktion ausmacht. Die den (Halliwell 1986, S. 324–330).
Kapitel 7–12 analysieren die Kompositionsprinzi- Eine Reihe von dramentheoretischen Konzepten
pien einer tragischen Handlungsdarstellung (mý- wird zudem erst unter Hinzuziehung von Informati-
thos): Sie muss ein Ganzes von überschaubarem onen aus anderen Texten des aristotelischen Corpus
Umfang sein (Kap. 7), ihre Einheit aus der Handlung verständlich. Dazu zählen so zentrale Begriffe wie
ableiten (Kap. 8), die Handlung wiederum aus dem der der dramatischen Handlung (práxis), der káthar-
Charakter ableiten (Kap. 9); sie muss komplex sein sis, des phóbos und des éleos oder des Charakters
und Leid enthalten (Kap. 10–11) und eine formale (éthos). Aber auch komplexere Zusammenhänge,
Einteilung haben. Die Kapitel 13–18 behandeln die wie etwa die Einlassungen zu den anthropologi-
Frage nach der konkreten Umsetzung dieser Prinzi- schen Grundlagen der Mimesis, zur Beschaffenheit
pien: Hier geht es um die Gestaltung des Mythos. In des mýthos der Tragödie oder zum Verhältnis von
Kapitel 19 folgen Ausführungen zur diánoia, der ar- Handlung und Charakter im dramatischen Dicht-
gumentativen Ausgestaltung und Gedankenfüh- werk, gewinnen im Kontext anderer Schriften we-
rung, in den Kapiteln 20–22 Ausführungen zur sentliche Bedeutungsaspekte hinzu (vgl. Halliwell
sprachlichen Ausgestaltung, zur Stilistik der Tragö- 2003; Schmitt 2008).
die. Kapitel 23 und 24 sind dem Epos gewidmet. In
den letzten beiden Kapiteln 25 und 26 geht es um
Maßstäbe der Bewertung von Literatur und um ei-
nen (wertenden) Vergleich von Epos und Tragödie. 2.3 Anthropologische Grundlagen
Aristoteles setzt sich hier gegenüber der Tradition von Kunst und Literatur:
ab, indem er die Tragödie höher bewertet. Dies be- Mimesis, Handlung, Charakter
gründet er in erster Linie mit der größeren Konzent-
ration der Handlung, die die tragische Gattung ge-
genüber der epischen auszeichne. 2.3.1 Das mimetische Vermögen
Unumstritten ist, dass Aristoteles’ Poetik weder des Menschen
eine Regelpoetik noch eine empirische Abhandlung
ist. Sie beschränkt sich weder auf rezeptionsästheti- Aristoteles’ Konzeption der Künste ist nicht zu iso-
sche noch auf gattungspoetische Aspekte. Ihr »Os- lieren aus dem historischen Kontext ihrer Entste-
zillieren zwischen Faktischem und Präskriptivem« hung. Allerdings ist sie weder im genetischen Zu-
(Fuhrmann 2003, 12), zwischen Produktions- und sammenhang noch in einfacher Opposition zu frü-
Wirkungsästhetik öffnet Interpretationen und Um- heren Auffassungen des Wesens, der Genese und der
deutungen einen breiten Raum (vgl. Schmitt 2008, Funktion von Kunst, etwa der seines Lehrers Platon,
202–204). zu sehen. Analoges gilt für das Verhältnis der Poetik
zu neuzeitlichen Kunsttheorien, so dass Stephen
14 I. Begriffe und Konzepte

Halliwell zu Recht von einem »komplexen Kontra- ihren Ursprung entsprechend allgemein im mensch-
punkt« zur Situation unserer Gegenwart ausgeht lichen Erkenntnistrieb (Poet. 1448b13–15). Daher
(Halliwell 2003, 169; vgl. Halliwell 2002). In Abgren- bereitet selbst die Mimesis eigentlich unerfreulicher
zung von Platon stellt Aristoteles Kunst und Philoso- Gegenstände – »abscheulichster Gestalten und toter
phie nicht mehr antagonistisch einander gegenüber. Körper« – Lust (Poet. 1448b10–14, Übers. Schmitt).
Insbesondere der Begriff der mímēsis, von Platon ex- Mimesis umfasst gleichermaßen den Raum mensch-
plizit negativ, als Lüge, Verstellung, Verfälschung licher phantasía wie den der Erfahrung und aktiviert
verstanden, erfährt entsprechend bei Aristoteles eine die Seelenvermögen der Erkenntnis und des Verste-
Umwertung: Aristoteles verwirft Platons moralische, hens. Mit ihrem mimetischen Charakter teilt Dich-
politische und ontologische Disqualifikation der tung und somit auch dramatische Dichtung ein we-
dichterischen Mimesis. Das wird möglich durch eine sentliches Charakteristikum mit anderen Formen
Entkoppelung des ›Wie‹ des mimetischen Prozesses ästhetischen Gestaltens: Mimesis – so die Poetik –
und seines Gegenstandes, von Form und Gehalt; liegt jeder darstellenden Produktivität zugrunde.
hinzu kommt die Thematisierung des Mediums, in Die neuzeitliche Interpretation des aristotelischen
dem die Mimesis stattfindet; dieses sei ein konstitu- Mimesis-Begriffs im Sinne einer Nachahmung der
tives Moment der Mimesis, das ihr Ergebnis immer Natur (imitatio naturae) geht nicht auf die Poetik,
mitbestimme. sondern auf die Physik des Aristoteles zurück. Dort
Aristoteles hat in der Poetik keine systematische, bezieht der Begriff sich nicht auf spezifisch ästheti-
eigenständige Philosophie der Kunst oder der (dra- sche Prozesse, sondern auf eine Form von Mimesis,
matischen) Dichtung entwickelt; auch eine explizite wie sie in der Herstellung lebensweltlicher Gegen-
Definition der (künstlerischen) mímēsis liefert die stände, etwa eines Hauses oder eines Werkzeugs,
Schrift nicht (vgl. Buchheim/Flashar/King 2003, zum Zuge kommt. Als eine solche Form der ›techni-
XXV; Halliwell 2003, 170). Zur Erklärung des zen- schen‹ Mimesis werden Tätigkeiten beschrieben, die
tralen Begriffs der Poetik greift die Forschung daher analog zu naturgesetzlich ablaufenden Vorgängen
auch auf andere Abhandlungen des Aristoteles zu- und an Naturgesetze gebunden sind. Aus den For-
rück (vgl. Schmitt 2008). Das Konzept der Mimesis, mulierungen in der Poetik und in der Politik geht
das sich aus der Poetik und aus Parallelstellen in an- hervor, dass die künstlerische Mimesis funktional
deren Quellen erschließen lässt, geht über den Be- und funktionell anders geartet ist: Sie ist keine An-
reich der Kunsttheorie weit hinaus. Es entwirft in wendung und Nutzbarmachung von Naturgesetzen,
den Grundzügen eine Art »Anthropologie des mi- auch »keine Transkription, sondern so etwas wie
metischen Handelns« (Halliwell 2003, 172), das im eine Transmutation des Stoffs der Wirklichkeit in
Umkehrschluss als anthropologische Ursache für die eine verstärkte – d. h. eine intensivere, und damit
ästhetische Produktivität des Menschen in Frage auch verbindlichere Gestalt« (Halliwell 2003, 180).
kommt: Im 4. Kapitel der Poetik erklärt Aristoteles Jede Form der Mimesis, auch die bloß kopie-
den Ursprung der Dichtung aus einem dem Men- rende, ahmt immer »etwas in etwas anderem auf
schen angeborenen mimetischen Vermögen. Der eine bestimmte Weise nach« (Schmitt 2008, 195 f.),
Mensch ist mehr als alle anderen Lebewesen dazu in ist folglich zu untersuchen hinsichtlich ihrer Gegen-
der Lage, Anderes oder Andere – Tiere, Menschen stände, ihrer Medien und ihres Modus (diese Ana-
oder, abstrakter, Situationen – nachzuahmen, und er lyse übernimmt Aristoteles von Platon; vgl. Büttner
bezieht aus der Nachahmung eine besondere Lust. 2000, 144–157). Die dramatische Mimesis ist nun
Dieser mimetische Trieb äußere sich, erstens, im Nachahmung von sinnvollen und zielgerichteten
Spiel der Kinder: Kinder haben Freude daran, im Handlungen (mímēsis práxeōs spoudaías kaí teleías;
Spiel nachzuahmen. Er sei, zweitens, auch dafür ver- Poet. 1449b25); ihre Medien sind Rhythmus, Spra-
antwortlich, dass Menschen von Natur aus Freude che und Klang (Poet. 1447a18–28). Mimesis von
an künstlerischer Mimesis haben − sei es als Produ- Handlungen erfordert ein grundlegendes Verständ-
zenten oder als Rezipienten. Der mimetische Trieb nis des Gegenstandes und beinhaltet somit immer
sei Ausdruck des menschlichen Impulses, die Wirk- schon einen schöpferischen Aspekt. Sie erfordert,
lichkeit zu verstehen, und insofern sei Mimesis ver- aristotelisch gesprochen, einen gelungenen »prakti-
wandt mit der Philosophie: Beim Betrachten von schen Syllogismus« (vgl. Schmitt 2003, 210). Und die
Kunst versucht der Betrachter unwillkürlich, etwas mimetische Qualität eines Kunstwerks bedeutet,
zu erkennen. Mimesis und ihr Nachvollzug haben dass es das Objekt eines mehr als bloß sinnlichen Er-
2. Begriffe des Aristoteles 15

lebnisses sein muss. Außerdem »stellt die mimeti- terarische Gattungen handelnde Menschen oder
sche Kunst Verbindungen zur weiteren Lebenswirk- Handlungen nachahmen, so nimmt das Drama un-
lichkeit her, indem sie die Gelegenheit bietet, kogni- ter ihnen schon qua Bezeichnung eine Sonderstel-
tive und affektive Urteile zu fällen, deren Ursprung lung ein.
in keiner speziellen Geistestätigkeit oder Geistesver- Bei der Auseinandersetzung mit Konzepten des
fassung, sondern in einem Zusammenspiel von see- Tuns und des Handelns in der Poetik ist die Begriffs-
lischen Fähigkeiten liegt« (Halliwell 2003, 175). verwendung des Autors in anderen Schriften zu be-
Die Annahme einer nicht bloß reproduktiven rücksichtigen. Im Gegensatz zur naturphilosophi-
Qualität der Mimesis ist mittlerweile Konsens. Ent- schen Verwendung vertritt Aristoteles in den Ab-
sprechend lehnen einige neuere Ansätze die Über- handlungen zur Ethik, Politik, Rhetorik und Poetik
setzung mit ›Nachahmung‹ grundsätzlich ab (vgl. einen Handlungsbegriff, der im Griechischen mit
Petersen 2000; Halliwell 2003) und begründen dies den Worten práxis (Handlung) und práttein (han-
mit der aristotelischen Unterscheidung zwischen deln) bezeichnet und streng von anderen Verben
dem Wirklichkeitsverhältnis der Geschichtsschrei- oder Verbalsubstantiven abstrakter Aktivität unter-
bung und dem der Dichtkunst (v. a. Kap. 8 der Poe- schieden wird. Allein der Mensch verfügt durch
tik; vgl. Halliwell 2003, 170–176, auch Petersen 2000, seine Möglichkeit zur freien Entscheidung über Ur-
11–17, Kardaun 1993), außerdem und v. a. aber mit sprung und Modus seines Handelns; das Tier hinge-
den Verwendungen des Begriffs in der Poetik. An- gen verfügt über keine Praxis (Nikom. Eth. VI 2,
dere Forscher (etwa Küpper 2009; Höffe 2009; 1139a20; vgl. Eudem. Eth. II 6, 1222b19). Denn
Schmitt 2003; 2008; Rapp 2001) wenden ein, dass »Handlung ist nur, was im Bereich der Entschei-
auch der neuzeitliche Begriff der Nachahmung/Imi- dungsmöglichkeiten eines Menschen liegt und di-
tation nicht nur die sklavische Wiederholung einer rekte Folge einer […] Entscheidung ist« (Schmitt
Vorlage bezeichnet, sondern ein weiteres Bedeu- 2008, 195). In diesem strengen Sinne gehört Han-
tungsspektrum besitzt (vgl. Schmitt 2008, 209–213). deln (práxis) neben Machen (poíēsis) und Denken
Wenn man Mimesis als representation oder Darstel- (theōría) zu den »drei Grundakte(n), in denen der
lung übersetzt, ersetzt man in der Tat einen proble- Mensch sich verwirklichen kann« (Schmitt 2008, 94;
matischen und voraussetzungsreichen Begriff durch vgl. Metaphysik 1025b18–1026a16, 1064a16–
einen nicht weniger problematischen und vorausset- 1064b6). Daher kann die Übersetzung der bekann-
zungsreichen. Da Aristoteles das weite Bedeutungs- ten aristotelischen Formulierung sýstasis tōn
spektrum von Mimesis durchaus ausgeschöpft habe, pragmátōn mit »Zusammensetzung der Gescheh-
wurde wiederholt die Beibehaltung der gängigen nisse« (Aristoteles 1994, 19, 110; 144–175) zu Miss-
Übersetzung propagiert (vgl. Schmitt 2003, 2008; verständnissen führen, da sie den Handlungsaspekt
Kappl 2006, 162–169). in den Hintergrund treten lässt (vgl. Schmitt 2008,
Neuerdings ist vorgeschlagen worden, den aristo- 233; Schmitt 2008 übersetzt daher sehr frei: »Kom-
telischen Begriff künstlerischer Mimesis ausgehend position einer einheitlichen Handlung«).
von einer Relektüre des ›Tragödiensatzes‹ (s.u.) zu Práxis und poíēsis − Handeln und Herstellen −
verstehen. Katharsis wäre dann »die Wesensbestim- haben miteinander gemeinsam, dass sie beide mit
mung tragischer Mimesis« (Dilcher 2007, 259). Da- Veränderlichkeit und Kontingenz der Lebenswelt
mit wäre die Poetik in erster Linie als eine Wirkungs- rechnen müssen. Doch Handeln im engen Sinne der
ästhetik zu lesen (dagegen vgl. Schmitt 2008, 203 f.; Poetik ist also ›autotelisch‹: Die aristotelischen Ter-
Buchheim 2002, XXVII). mini práxis und práttein bezeichnen ein Tun, das
seinen Zweck in sich selbst trägt. Im Unterschied
dazu ist poieín (herstellen, produzieren, machen) he-
2.3.2 Handlung und Produktion: terotelisch, es hat seinen Zweck außerhalb seiner
praxis und poie-sis selbst. Unter poieín versteht Aristoteles die Herstel-
lung eines konkreten Gegenstandes, die ge- oder
Für das Drama ist der Handlungsbegriff naturgemäß misslingen kann; und dieses Ge- oder Misslingen ist
zentral. Aristoteles führt im 3. Kapitel der Poetik aus, unabhängig von möglichen Bewertungen des Pro-
dass das griechische Wort ›Drama‹ auf das dorische dukts. Wenn etwa Medea ein Gift herstellt, um die
drān (›handeln‹) zurückgeht. Als Synonym führt er Königstochter Kreusa zu töten, so ist das Machen
das attische práttein an. Wenngleich auch andere li- dann gelungen, wenn das Gift wirkt. Stirbt an dem
16 I. Begriffe und Konzepte

Gift nicht nur die Zielperson, sondern – etwa auf- Qualität einer Handlung aus dem Maß ihrer Unab-
grund einer Unachtsamkeit – die Herstellerin des hängigkeit und Selbstzwecklichkeit; so gewinnt
Giftes selbst, so tut das dem Gelingen des Herstel- theōría den Charakter einer höchsten Form der prá-
lungsprozesses keinen Abbruch. Handlung aber im xis (Politik VII 3).
Sinne von práxis ist die unfreiwillige Selbsttötung
nicht, denn sie ist nicht die direkte Folge einer Ent-
scheidung. Und auch wenn die Königstochter zwar 2.3.3 Poietische Philosophie:
stürbe, Medea dadurch aber kein Gefühl der Genug- poie-sis und Poetik
tuung erreichte, sondern in tiefste Verzweiflung ge-
stürzt würde, wäre das Machen zwar gelungen, die Gegenüber dem, was von Natur aus (katá phýsei) ist,
Handlung aber misslungen. Während folglich das grenzt Aristoteles das Menschengemachte ab. Ge-
Gelingen der poíēsis durch das Beherrschen einer genüber dem aus sich selbst heraus Seienden hat das
téchnē, durch Kunstfertigkeit und Können bestimmt Gemachte seine Ursache nicht in sich selbst, son-
ist, ist das Gelingen einer Praxis durch die vorhan- dern in der Kunstfertigkeit, dem Vermögen und der
dene oder fehlende Klugheit (phrónēsis) des Han- Intention des Herstellers. Poíēsis ist also ein kultur-
delnden bestimmt (vgl. Nikom. Eth. VI 5 1140b22– theoretischer Grundlagenbegriff (vgl. Wieland
24). Letztlich ist das Ziel jeder Handlung das gute 2003). Aristoteles stellt die Philosophie des Herstel-
Leben (euzōía, eudaimonía), das damit mit dem gu- lens gleichberechtigt neben die praktische und die
ten Handeln identisch wird (eupraxía): Da das Le- theoretische Philosophie (Metaphysik VI1, 1025b25);
ben »práxis und nicht poíēsis ist« (Pol. I 4, 1254a7), allerdings hat er eine solche Philosophie des Herstel-
kann das Gelingen des Lebens, die eudaimonía als lens zumindest in den erhaltenen Schriften nicht
Ziel von práxis, kein Werk, nichts Hergestelltes au- ausgearbeitet (vgl. Wieland 2003).
ßerhalb des Lebensvollzugs sein (vgl. Höffe 2005, Die Ableitung einer aristotelischen Philosophie
489). Dieses Praxis-Verständnis ist auch für den in der poíēsis aus der Poetik scheint aufgrund des Titels
der Poetik vorausgesetzten Primat der Handlung im nahe zu liegen. Und tatsächlich behandelt die Schrift
Drama entscheidend: Nicht die bestimmte charak- (systematische und historische) Gelingensbedin-
terliche Beschaffenheit einer Dramenfigur sei ent- gungen des ›Machens‹ von Dichtwerken, insbeson-
scheidend für den Mythos, sondern deren Handeln dere von Tragödien. Wie die Rhetorik gehöre die Po-
(Poetik 1450a17 ff.). etik zur poietischen Philosophie (vgl. Höffe 2009, 8;
Da die innere Haltung (héxis) des Handelnden für Wieland 2003, 227). Manfred Fuhrmann nennt die
die Ausübung einer téchnē keine Rolle spielt, für die Dichtung einen »Teil der praktischen Philosophie«,
práxis jedoch sehr wohl, ist der bessere ›Techniker‹ die ihrerseits »ein Stück der politisch-kulturellen
der, der absichtlich Falsches tut, der gute ›Praktiker‹ Wirklichkeit ihrer Zeit theoretisch zu durchdrin-
aber der, der unabsichtlich sein Ziel verfehlt: Ein gen« suche und somit »zum Bereich der Politik und
Arzt etwa kann den Tod eines lebenswilligen Patien- der Ethik« gehöre (Fuhrmann 2003, 10) – immerhin
ten absichtlich hervorrufen; die poíēsis ist dann ge- ist ihr Gegenstand laut Aristoteles die Mimesis von
lungen, eine gute Handlung ergibt sich daraus aber Handlungen (mímēsis práxeōs).
nicht. In der práxis gibt es entsprechend keine Ab- Rhetorik (als práxis-orientiert) und Poetik (als
stufungen und Verbesserungsmöglichkeiten: práxis poíēsis-orientiert) als komplementär zu beschreiben,
ist nicht skalierbar, wohl aber téchnē. Doch gleich- greift zu kurz, ebenso aber auch der umgekehrte
wohl stehen práxis und poíēsis nicht in einem einfa- Versuch; und zwar deswegen, weil Aristoteles in der
chen Oppositionsverhältnis; sie können durchaus Poetik ein komplexes Ineinander von Handlung,
koinzidieren. Im politischen Tun etwa sieht Aristo- Machen und Denken am Beispiel der Dichtung be-
teles zwar eine tugendhafte práxis; dennoch hat poli- schreibt (zum Gegenüber von práxis-orientiert und
tisches Tun ein Ziel außerhalb seiner selbst (Nikom. poíēsis-orientiert vgl. Zoran 1998, 136 ff.; kritisch
Eth. X 7: zentral hier das Beispiel der kriegerischen Schmitt 2008).
Auseinandersetzung). Die Frage, ob es sich bei dramatischer Dichtung
Die praktische Lebensform stellt Aristoteles der im Verständnis des Aristoteles um ein Machen oder
theōría als dritter Form, in der sich der Mensch zur Handeln, oder aber um einen Akt der Kognition
Welt verhalten kann, ebenfalls nicht einfach gegen- handle, lässt sich allein aus der Poetik nicht beant-
über: In der Politik etwa bestimmt Aristoteles die worten. In der Forschung wird neuerdings das aris-
2. Begriffe des Aristoteles 17

totelische Verständnis von Dichtung als Akt der Kog- Bevor die Poetik Aussagen über die poetische Fak-
nition stark gemacht (vgl. v. a. Schmitt 2003; 2008). tur von Epos und Tragödie macht, unterscheidet sie
Die griechischen Termini theōría und theōreín be- künstlerische von nicht-künstlerischer Darstellung;
zeichnen nicht nur die intellektuelle Reflexion, son- dazu zieht sie nicht etwa formale Kriterien wie die
dern ebenso den Akt der Wahrnehmung (vgl. Metrik heran, sondern sie macht den Unterschied am
Schmitt 2008, 178). Ein antiker – und der Philoso- Gegenstand und am Vermittlungsinteresse des ent-
phie des Aristoteles angemessener – Begriff der Kog- sprechenden Werks fest. Damit grenzt sie sich vom
nition beschränke das Denken nicht auf Bewusst- üblichen Verfahren ab: Anders als seine Zeitgenossen
seinsakte. Denken sei vielmehr in erster Linie durch zählt Aristoteles ein Lehrgedicht nicht zu den Dicht-
Akte der Differenzsetzung charakterisiert, die nicht werken (Poet. 1447a28–b23). Weitaus komplexer und
notwendig mit bewusster Reflexion einhergingen. für den Zusammenhang der Dramentheorie ent-
Schmitt zufolge ist die Wahrnehmung von etwas als scheidend ist aber die Abgrenzung von Literatur ge-
etwas – z. B. das Wiedererkennen eines Duftes im genüber Geschichtsschreibung, die aus Unterschie-
Akt des Riechens, eines Weins beim Schmecken – den im Wirklichkeitsverhältnis begründet wird.
bereits Denken im aristotelischen Sinne. Wenn die Aristoteles’ Literaturverständnis ist nicht zu verste-
Produktion und Rezeption von Dichtung nun der hen ohne den Hintergrund seines Konzepts der
mimetische Nachvollzug von Handlungen sei, be- Handlung als eines intentionalen, autotelischen Akts
ruhe sie auf Akten des Schließens und sei daher eine und seines Verständnisses poetischer Mimesis.
spezifische Form der theōría. Wer die Tragödie Me- Kunstausübung oder -produktion ist laut Aristoteles
dea rezipiert, erwirbt dadurch nicht die Fähigkeit, dann mimetisch, wenn sie unter Verwendung be-
Gifte herzustellen oder Menschen zu Tode zu brin- stimmter Medien oder Materialien Objekte oder Per-
gen. Er lernt auch nicht, wie eine befriedigende Ra- formanzen hervorbringt, »welche den Schein einer
chehandlung (nicht) zu vollziehen ist. Er hat jedoch Welt simulieren oder modellieren« (Halliwell 2003,
die Gelegenheit, seine emotionale Kognition zu bil- 171). Entscheidend für die gegenseitige Abgrenzung
den – also einen Akt der Erkenntnis, der theōría zu von Geschichtsschreibung und Literatur im engeren
vollziehen (Schmitt 2008, 92–101). Allerdings wird Sinne ist die Einheit der Handlung: Der Mythos einer
von anderer Seite eingewandt, dass der aristotelische Tragödie muss Anfang, Mitte und Schluss haben.
Begriff der theōría eine solche etymologische Herlei- Aristoteles schließt aus, dass diese Einheit durch die
tung nicht abdeckt (etwa Höffe 2009). minutiöse Wiedergabe wirklicher Begebenheiten zu
erreichen sei. Denn der Versuch einer Abspiegelung
der Wirklichkeit müsse auch Akzidenzielles und
Kontingentes wiedergeben – also auch Geschehnisse,
2.4 Poie-tike-s techne-: die dem aristotelischen Verständnis zufolge keine
Dichtung als Kunstfertigkeit Handlungen (praxeis) sind und somit nicht eindeutig
gegen das vor und nach ihnen Liegende abgrenzbar
Die Poetik verhandelt das Problem der Dichtung sind. Umgekehrt ist möglicher Gegenstand der Dich-
also auf mehreren Ebenen, die ihre Zuordnung zu tung nicht nur das, was wirklich und wahrhaftig ge-
praktischer (vgl. Aristoteles 1994) oder theoretischer schehen ist, sondern auch Wahrscheinliches oder
(vgl. Schmitt 2008) Philosophie aus verschiedenen Wünschenswertes (Poet. 1460b8–12). Die Mimesis
Perspektiven je plausibel erscheinen lassen. Das, was von Unmöglichem sei zwar grundsätzlich ein Fehler,
die Schrift in jedem Fall zu leisten versucht, liegt auf dieser sei aber gerechtfertigt, wenn die Dichtung da-
einer gänzlich anderen Ebene, nämlich Aussagen durch das ihr eigentümliche Ziel erreiche, ja grund-
über die poietikḗs téchnē als kunstherstellendes Tun sätzlich sei das überzeugende Unmögliche, dem
zu treffen. In diesem Sinne ist die Poetik sehr wohl Möglichen, das keinen Glauben findet, vorzuziehen
Teil einer poietischen Philosophie, denn auch künst- (Poet. 1461b9–16). Die besondere Leistung (érgon)
lerisches Gestalten läuft auf ein Produkt – eben den des Dichters, die Mimesis dessen, was notwendig
literarischen Text oder das Bildwerk – hinaus (vgl. und wahrscheinlich geschehen müsste, steht dazu
Rapp 2002, 80; dagegen Schmitt 2008, 237). Insbe- nur dann im Widerspruch, wenn Wahrscheinlichkeit
sondere für die europäische Dramentheorie hat die- und Notwendigkeit nicht auf die dargestellte Hand-
ser Aspekt der Poetik in den ersten Phasen ihrer Re- lung, sondern – im Sinne der imitatio naturae – auf
zeption eine entscheidende Rolle gespielt. die makrophysikalische Welt bezogen werden. Maß-
18 I. Begriffe und Konzepte

stab der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit der Art hat daher keine beliebige, sondern eine kunstge-
Dramenhandlung ist aber nicht die äußere Natur, mäße Organisation.
sondern die Wirklichkeit aus der spezifischen Pers- Neben dem Mythos nennt Aristoteles fünf weitere
pektive der handelnden Charaktere (vgl. Schmitt ›qualitative Teile‹ der Tragödie, in absteigender Rei-
2008, 372; anders noch Aristoteles 1994, 166–173). henfolge ihrer Relevanz: Nach der Handlungsfüh-
Daraus ergibt sich auch, dass nicht nur das Handeln rung folgt der Charakter in seinem charakteristi-
der Helden aus tradierten ›Mythen‹, sondern auch schen Handeln (ta éthē) und in seinem charakteristi-
erfundene Handlungen erfundener Figuren zum schen Argumentieren und Sprechen (diánoia). Das
Mythos der Tragödie werden können. Poiēsis im Verhältnis von Mythos und Charakter vergleicht
Sinne der Poetik ahmt also nicht einfach Wirklich- Aristoteles mit dem Verhältnis von Umrisszeich-
keit nach, sondern sie stellt aufgrund der Haltung nung und Farbauftrag in der Malerei (Poet. 1450a39–
der handelnden Charaktere wahrscheinliche oder 1450b3). Die drei weiteren Aspekte, die sprachliche
notwendige Abläufe dar. Durch die »Motivierung Form (léxis), die Melodik (melopoiía) und zuletzt die
des einzelnen Handelns in den allgemeinen Vorlie- szenische Realisation (ópsis; vgl. Abschn. 5.2), sind
ben und Abneigungen eines Charakters« ist Dich- auf die Formung des inhaltlichen Materials bezogen.
tung laut Aristoteles »philosophischer, weil allge- Insbesondere die letzten beiden besitzen für die
meiner, als die Wiedergabe geschichtlicher Einzel- poiētikḗs téchnē nur geringe Relevanz. Die für das
fakten« (Schmitt 2008, 373; vgl. Poetik 1451a36–b11). aristotelische Dramenverständnis wichtigsten der
Sie zeichnet nicht eine kontingente Reihe von Ge- hier eingeführten Begriffe sind éthos und diánoia; sie
schehnissen nach, sondern zeigt das Allgemeine ei- stehen in engem Zusammenhang mit dem Begriff
ner Figur in seinen konkreten Handlungen (zum der Praxis und der Definition der Tragödie als Mi-
Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem vgl. mesis handelnder Menschen.
Schmitt 2008, 381–392).

2.4.2 Dramenanalytische Begriffe


2.4.1 Die tragische Mimesis
Die Begriffe, die Aristoteles in der Behandlung der
Die konkrete Herstellung, das Machen einer Tragö- Mythos-Gestaltung einführt, sind für die Geschichte
die ist Thema des überwiegenden Teils, der Kapitel 6 der Poetik und der Dramenanalyse allgemein von
bis 22 der Poetik. In einer Grundlegung im 6. Kapitel entscheidender Bedeutung. An erster Stelle stehen
benennt Aristoteles sechs konstitutive Funktionsele- die Konzepte von Peripetie (Poet. 1452a22) und Ana-
mente, die er die »qualitativen Teile der Tragödie« gnorisis (Poet. 1452a29–b8). Die Peripetie (peripé-
nennt. An erster Stelle steht der mýthos als Ursprung teia) ist eine »grundlegende Wende in der Hand-
und »gewissermaßen Seele« der Tragödie (Poet. lungsrichtung«, ein Umschlag in das Gegenteil
1450a, 20). Mit dem Mythos der Tragödie ist ihre dessen, was intendiert war. Wie alle Teile des Mythos
spezifische sýstasis (auch sýnthesis) tōn pragmátōn, muss auch die Peripetie »mit wahrscheinlicher oder
wörtlich: die Zusammenfügung der Handlungen, notwendiger Konsequenz« (Schmitt 2008, 429) aus
gemeint (Kap. 6). Oftmals wird Mythos mit Fabel dem bisherigen Handlungsverlauf folgen. Eine
oder Plot gleichgesetzt; das ist jedoch nicht unpro- Wende, die keine Rolle für den Handlungsverlauf
blematisch, da der intentionale Aspekt der Handlun- spielt oder nicht aus intentionalen Akten folgt, ist
gen, die eben nicht einfach Geschehnisse sind, so in keine Peripetie. Anagnṓrisis (wörtl. ›Wiedererken-
den Hintergrund tritt (vgl. Schmitt 2008, 233 f.). Da- nung‹) definiert Aristoteles als einen Übergang von
her geben die meisten neueren Übersetzungen den Unwissen zu Wissen. Dieser Übergang ist dann Teil
originalgriechischen Begriff wieder. Der Mythos ei- einer tragischen Handlung, wenn er dazu führt, dass
ner Tragödie ist aber auch nicht unbedingt im Sinne man jemanden als Freund oder Feind erkennt und
einer traditionalen oder gar einer irrationalen Er- wenn dieses Erkennen Glück oder Unglück bedeutet.
zählung zu verstehen, auch wenn ein Großteil der Die beste Art der Wiedererkennung sei die, die mit
(erhaltenen) Tragödien solche im modernen Sinne der Peripetie zusammenfalle. Ein entsprechender
mythischen Geschichten zum Thema hat. Der Be- Mythos errege phóbos und éleos in besonderer Weise.
griff bezeichnet die einheitliche Durchkomposition Die Anagnorisis ist kunstgemäß, wenn sie sich aus
einer Handlungsdarstellung. Eine Darstellung dieser der Handlungsführung ergibt; je deutlicher sie aus
2. Begriffe des Aristoteles 19

handlungsfremden Kontexten motiviert ist, desto chen bestimmen« (Cessi 1987, 274). Denn wenn man
weiter entfernt sie sich vom eigentlichen Telos der das Konzept der Handlung und der tragischen Hand-
Tragödie. Aristoteles unterscheidet fünf Formen der lungsführung voraussetzt, ergibt sich dieser schwere
Anagnorisis: Die Wiedererkennung durch Zeichen – Fehler ja wahrscheinlich oder notwendig aus der cha-
etwa durch ein Muttermal, eine Narbe oder einen rakterlichen Disposition des Handelnden (vgl. zur
charakteristischen Gegenstand – ist am wenigsten harmatía Schmitt 2008, 450–465). In Kap. 11 be-
kunstgemäß, da sie sich nicht auf eine charakterlich stimmt Aristoteles den optimalen tragischen Charak-
motivierte Handlung bezieht. Ähnlich ,unpoetisch‹ ter als einen, der im Glück lebt, und nennt als Beispiel
ist auch die Wiedererkennung durch bloße (unmoti- Ödipus und Thyest (Poet. 1453a11–13, 39). Auf diese
vierte) Behauptung des Dichters. Stärker auf die Stelle stützen sich die neuzeitlichen Ansätze zu Stän-
Handlung bezogen ist eine Anagnorisis durch Erin- deklausel und tragischer Fallhöhe.
nerung oder durch (Fehl-)Schluss, die dazu führen,
dass die Identität einer Figur offenbar wird. Am poe-
tischsten ist die Wiedererkennung, wenn sie direkte
Folge der wahrscheinlichen oder notwendigen 2.5 Fragen nach Gattung
Handlung einer Figur ist. Die Wiedererkennung in und Medium
Sophokles’ König Ödipus (ca. 434 v. Chr.) ist ein Bei-
spiel dafür: Ödipus will seinen quälenden Verdacht Ein wenig beachtetes Spezifikum der aristotelischen
ausräumen, er selbst könne der Mörder des König Poetik ist ihre Definition des Titelbegriffs: Wenn-
Laios sein, dessen Tat der Grund für die Pest in The- gleich nahezu die gesamte Schrift einer Auseinan-
ben ist. Durch seine Suche erfährt er, dass er selbst in dersetzung mit dem im neuzeitlichen Sinne poeti-
Laios seinen eigenen Vater umgebracht und somit schen Schaffen gewidmet ist, schließt die grundsätz-
seine Mutter geheiratet hat – hier fallen Peripetie und liche Begriffsbestimmung der poetischen Mimesis
Anagnorisis also zusammen. Im 18. Kapitel führt auch Musik und Tanz mit ein: Auch sie sind Nachah-
Aristoteles mit désis und lýsis zwei weitere Begriffe mung von Handlung. Aristoteles grenzt den Begriff
ein: Als désis, Verwicklung, Schürzung, bezeichnet er der ästhetischen poiēsis also nicht nur gegenüber
den Teil der Handlung, indem sich aus verschiede- dem Machen von lebensweltlichen Gegenständen
nen Ursachen das Unglück konstituiert. Lýsis ist der ab. Die Lehre über die Dichtkunst wird zugleich zum
Teil, in dem das Unglück eintritt oder (vorläufig) ab- Paradigma einer allgemeinen Kunsttheorie. Dabei
gewendet wird. Der Punkt, an dem die désis abge- stützt er seine Überlegungen zu kunst- und gat-
schlossen ist und die lýsis beginnt, heißt metábasis. tungstheoretischen Fragen auf historische und an-
Die metábasis ist jedoch nicht mit der Peripetie zu thropologische Herleitungen (vgl. Poet. 1448a19–
verwechseln, denn für den Übergang von désis zu lý- 1448b3; Poet. 1148b4–1449a31). Vergleichs- und
sis ist kein Handlungsumschwung nötig. Negativfolie ist immer wieder die Malerei und die
Neben diesen auf die Handlungsdarstellung bezo- spezifische Mimesis der bildenden Kunst (vgl.
genen Begriffen spielt das Konzept vom mittleren Schmitt 2008, 204–208). Die aristotelische Schrift
Charakter im Zusammenhang mit der kunstgemä- über die Poetik enthält also auch den Kern einer um-
ßen Herstellung einer Tragödie eine wesentliche fassenden Ästhetik.
Rolle: Die Tragödie darf weder zeigen, wie ein integ-
rer Mensch vom Glück ins Unglück gerät, noch wie
ein verbrecherischer Mensch vom Unglück ins Glück 2.5.1 Das System der literarischen Gattungen
gerät. Doch auch der Sturz eines durch und durch und die Spezifika der dramatischen
schlechten Menschen vom Glück ins Unglück ist Gattung
nicht tragisch. Phóbos und éleos errege lediglich der
Fall eines Menschen, der weder besonders gut, noch Neben poetologischen und rezeptionsästhetischen
besonders schlecht sei, sondern durch einen schwe- Erwägungen entwickelt Aristoteles Ansätze zu einer
ren Fehler (hamartía) in schweres Leid (páthos) Gattungspoetik, die er in einem allgemeinen System
stürze (Poet. 1452b25–1453b37–41). »Die Fehlhand- der Mimesis und der mimetischen Künste fundiert.
lung (hamartía), die nach Aristoteles den Kern der Er entwirft dabei als erster ein mehrdimensionales
Tragödie bildet, läßt sich nur unter Berücksichtigung Gattungssystem, in dem eine Gattungszuordnung
seiner Handlungstheorie in ihren Entstehungsursa- sich aus der Kombination unterschiedlicher Per-
20 I. Begriffe und Konzepte

spektiven ergibt. Rein formale Kriterien wie etwa behielt als Bestandteil der sogenannten Ständeklau-
metrische oder stilistische Erwägungen spielen hier- sel bis ins späte 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit,
bei eine untergeordnete Rolle. wenngleich die Bezeichnung der Menschen als gut
Aristoteles formuliert das grundsätzliche Pro- oder schlecht bei Aristoteles unabhängig von ihrer
blem einer einheitlichen Systematik der literarischen Standes- oder Schichtzugehörigkeit gedacht ist.
Gattungen im ersten Kapitel der Poetik: Die Abgren- Aristoteles Empfehlung, Menschen aus bekannten
zung von Literatur gegenüber anderen Formen der Familien zu tragischen Figuren zu machen, ist empi-
Mimesis, etwa Musik oder Tanz, leistet die Unter- risch fundiert und auf die spezifische historische Si-
scheidung hinsichtlich der Medien der Darstellung. tuation in Athen bezogen.
Doch der allgemeine Sprachgebrauch bietet keine Gegenüber anderen Formen der Dichtung zeich-
Möglichkeit, Literatur gegenüber nichtliterarischen net sich die dramatische zweitens durch ihren Mo-
Texten abzusetzen, eine Bestimmung über das Me- dus aus: dadurch, dass sie Handelnde nicht indirekt
dium Sprache ist nicht möglich, auch die Gestaltung in Form eines Berichts nachahmt, sondern in direk-
dieses Mediums ist kein sinnvolles Kriterium. Da li- ter Form (Poet. 1448a21–24). Die Tragödie kann
terarische Texte grundsätzlich Handlungen nachah- aufgrund der Notwendigkeit, alles direkt und nicht
men, bilden ein erstes konstitutives Unterschei- durch Bericht darzustellen, die narrative Fülle einer
dungsmerkmal die Formen der dargestellten Hand- »Einheit aus vielen Handlungen« nicht in der gebo-
lung; sie bilden die Grundlage für ein System der tenen Ausführlichkeit behandeln. Aus dem Modus
literarischen Gattungen: »Die Unterschiede unter der Darstellung ergibt sich also, dass das »Epos als
den Handlungsmöglichkeiten des Menschen konsti- Einheit aus vielen Handlungen, die Tragödie als Ein-
tuieren einen Gattungsunterschied unter den Küns- heit einer Handlung« gestaltet sein muss (vgl.
ten« (Schmitt 2008, 229). Aus den Variablen Me- Schmitt 2008, 563). So ergibt sich ein gattungspoeto-
dium, Gegenstand und Modus und ihren möglichen logisches Kräfteparallelogramm: Aristophanes und
Valenzen ergibt sich dann die Zuordnung des Dicht- Sophokles haben zwar gemeinsam, dass sie han-
werks zu einer literarischen Gattung. delnde Menschen direkt und nicht durch Bericht
Am wichtigsten für die aristotelische Gattungs- nachahmen – dass sie also Dramenautoren sind. Ho-
theorie ist der Aspekt der Handlung; so beginnen die mer und Sophokles aber teilen sich die Nachahmung
Erläuterungen zu einem Gattungssystem denn auch besserer Menschen.
mit der Spezifik der Gegenstände literarischer Mi- Da die Abgrenzung von Literatur gegenüber der
mesis: Sie unterscheiden sich in erster Linie da- Darstellung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse
durch, dass sie entweder bessere oder schlechtere und historischen Wissens eine philosophischere
Menschen zu Protagonisten haben. Dichtung ahmt Qualität besitzt, die sich aus ihrer Aufgabe der Ver-
ja »handelnde Menschen nach. Diese sind notwen- mittlung zwischen Denken und Handeln ergibt, er-
digerweise entweder gut oder schlecht. Denn die staunt die Vorrangstellung, die Aristoteles der Tra-
Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden gödie gegenüber anderen literarischen Gattungen
Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich näm- einräumt, nicht. Indem sie handelnde Menschen
lich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtig- auftreten lassen, regen Dramen den Zuschauer in
keit und Güte. Demzufolge werden Handelnde besonderer Weise zum praktischen Syllogismus an,
nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter zum Erkennen von Ähnlichkeiten und/oder Unter-
sind, als wir zu sein pflegen, oder ebenso wie wir« schieden im Akt der Wahrnehmung (Poet.1461b26–
(Poet. 1448a7). Die Unterschiede der nachzuahmen- 1462b19).
den Charaktere konstituieren also eine gattungspoe-
tologische Dimension, in der Tragödie und Komö-
die zu unterschiedlichen Gattungen gehören: Denn 2.5.2 Text und Aufführung:
hier »weicht […] die Tragödie von der Komödie ab: Die Bedeutung der Opsis
die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere
Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit Aristoteles’ Einlassungen zum Verhältnis von Text
vorkommen« (Poet. 1448a15–19). Diese Zuweisung und Aufführung, von Drama und ópsis also, sind
der »besseren« Charaktere zur tragischen, der verhältnismäßig knapp und verstreut. Die verbrei-
»schlechteren« zur komischen Dichtung begründet tete Annahme, Aristoteles habe die Inszenierung für
Aristoteles aus der Faktur des tragischen Mythos. Sie den irrelevantesten, bloß technisch zu lösenden As-
2. Begriffe des Aristoteles 21

pekt der Tragödie gehalten, geht auf eine Formulie- Umsetzung dann, wenn sie »das emotional-kogni-
rung in Kap. 14 der Poetik zurück: Phóbos und éleos tive Mitverfolgen des Mythos unterstützen« (Schmitt
könnten entweder durch die sýstasis tōn pragmátōn, 2008, 731). Aufführung und musikalische Gestal-
die Zusammenfügung der Handlung, oder aber tung haben in Bezug auf die Tragödie also dienen-
durch die ópsis, die szenische Realisierung, hervor- den Charakter, was jedoch die Existenz eigengesetz-
gerufen werden; allerdings zeige Ersteres den besse- licher, genuin performativer Kunst nicht ausschließt.
ren Dichter, die ópsis sei atechnṓteron, ›unkünstleri- Will man das Verhältnis von Text und Auffüh-
scher‹ (Poet. 1453a), ja sie sei für die Wirkung einer rung nachzeichnen, wie es Aristoteles in seiner Poe-
Tragödie irrelevant (Poet. 1462a5 f.). Einige Zeilen tik bestimmt, so ist zudem die spezifische und von
später schreibt Aristoteles jedoch den performativen der neuzeitlichen kategorial verschiedene antike
und musikalischen Aspekten der Tragödie eine be- Textualität des attischen Dramas zu beachten: Tra-
sondere, an dieser Stelle nicht näher benannte Wirk- gödien (und zunächst auch Epen) wurden zumeist
mächtigkeit zu (Poet. 1462a15–17). Diese auf den in ihrer Performanz rezipiert. Zwar hat Aristoteles
ersten Blick widersprüchlichen Aussagen kann man die Hoch-Zeit der attischen Tragödie nicht erlebt;
nun auf verschiedene Art und Weise in das Gesamt Aischylos, Sophokles und Euripides lebten etwa 200
der aristotelischen Ästhetik einordnen. Jahre vor ihm. Doch es ist davon auszugehen, dass er
Der aristotelische Begriff der Mimesis hat nicht über die Aufführungsbedingungen in klassischer
nur anthropologische, sondern auch medientheore- Zeit Bescheid wusste, so auch über die Tatsache der
tische Implikationen. Wenn künstlerische Mimesis Einmaligkeit jeder Tragödienaufführung, ihrer star-
charakterisiert ist als Nachahmung »von etwas […] ken Bindung an die eine, konkrete Aufführungssitu-
in etwas […] auf eine bestimmte Weise« (Poet. ation. So konstruiert er den Idealfall des Dramas, das
1447a16–18), so enthält diese Charakterisierung den seine Aufführungssituation implizit reflektiert; in ei-
Kern einer Medientheorie (vgl. Schmitt 2008, 196): nem solchen Fall setzt die Bühnenform lediglich ein
Jede Mimesis ist Schöpfung von etwas Gleichem in Potential um, das das Drama schon enthält. Zu Leb-
etwas Anderem; und im Sinne dieser Differenzie- zeiten des Aristoteles scheint es hingegen eine Art
rung kann jede Form von Mimesis Gegenstand der des schauspielerischen Virtuosentums gegeben zu
philosophischen Betrachtung werden. Die Poetik be- haben, dessen negative Bewertung Aristoteles mit ei-
handelt nun in erster Linie jene Formen von Mime- nigen seiner Zeitgenossen teilte (vgl. Schmitt 2008,
sis, die im Medium der Sprache auf unterschiedliche 728–732).
Art und Weise handelnde Menschen nachahmen;
für diese Formen von Mimesis entwickelt sie eine
Systematik. Es entspricht also dem Erkenntnisinter-
esse der Schrift, dass sie sich auf die Tragödie als Text 2.6 Die aristotelische
konzentriert. Aristoteles trennt zwischen den Aufga- Rezeptionsästhetik
ben der Dichtung und denen der Inszenierung. Wie
eine gute Tragödie der Bühnenumsetzung nicht Die Frage nach der aristotelischen Rezeptions- oder
bedarf, um die ihr eigentümliche Wirkung, die Wirkungsästhetik steht bis heute im Zentrum der
tragōdías hedonḗ, zu erzeugen, so gibt es, umgekehrt, weitaus meisten Auseinandersetzungen mit der Poe-
auch Kunstformen, deren Medium die kínēsis von tik (vgl. Schadewaldt 1955; Flashar 1984, 1997).
Körpern ist: Schon im ersten Kapitel zählt Aristote- Aristoteles selbst stellt die Wirkung der Tragödie im
les den Tanz zu den Gattungen künstlerischer Mi- sog. Tragödiensatz ins Zentrum (Poet. 1449b24–28:
mesis (Kap. 1); noch deutlicher wird am Ende der éstin oun tragōdía mímēsis práxeōs spoudaías kaì te-
Schrift, dass es ihm nicht um eine grundsätzliche leías […] di’ eléou kai phóbou peraínousa tēn tōn
Abwertung des Perfomativen zu tun ist. Im Gegen- toioútōn pathēmátōn kátharsin – es ist die Tragödie
teil deutet er hier die Möglichkeit einer kritischen nun eine Mimesis von guten, in sich abgeschlosse-
und differenzierten Behandlung auch genuin perfor- nen Handlungen […], die phóbos und éleos hervor-
mativer Arten von Mimesis an (Poet. 1462a5–12, 97) ruft und eine Reinigung von diesen Affekten be-
und wertet die Tragödie auch deswegen gegenüber wirkt). Doch eine rein rezeptionsästhetische Ab-
dem Epos auf, weil sie musikalische und performa- handlung ist die Poetik genauso wenig wie eine
tive Anteile habe – zu einem mit dem der Tragödie Regelpoetik, wenngleich sie poetologische und dra-
kompatiblen Vergnügen führen sie in der szenischen menkritische Kriterien formuliert.
22 I. Begriffe und Konzepte

2.6.1 Katharsis und trago-dias hedone- schen Wirkungen der Tragödie zählt, nimmt er eine
grundsätzliche Umwertung vor. Im Gegensatz zu
Die Tragödie soll für den Zuschauer nicht primär Plato hält er die tragödieninduzierten Affekte nicht
moralisch oder intellektuell von Nutzen sein. Ihre für schädlich, sondern für heilsam: Während die
Zielsetzung liegt vielmehr in der Erzeugung einer Philosophie den Intellekt des Menschen bilde, wirke
spezifisch ästhetischen, nämlich der tragischen Lust die dichterische Mimesis auch auf seinen Gefühls-
(tragōdías hēdonḗ). Diese Lust entstehe durch die Er- haushalt (vgl. Aristoteles 1994, 155–166; Vöhler/Sei-
regung von phóbos (Furcht/Jammer) und éleos (Mit- densticker 2007, IX; Schmitt 2008).
leid/Schauder) und einer Reinigung dieser – oder: Die adäquate Übersetzung der Formel von der
von diesen – Affekte(n). Da sich in der Poetik keine mímēsis dróntōn […], di’ eléou kai phóbou peraí-
explizite Definition der tragischen kátharsis findet, nousa tēn tōn toioútōn pathēmátōn kátharsin (Mime-
ist ein adäquates Verständnis dieser Formulierungen sis von Handelnden […], die phóbos und éleos her-
schwierig. In jedem Fall aber handelt es sich bei phó- vorruft und eine Reinigung von diesen Affekten be-
bos und éleos nicht um oberflächliche, sondern um wirkt) ist bis heute nicht geklärt. Die in der neueren
fundamentale Emotionen (vgl. Höffe 2009; Schmitt Forschung diskutierten Interpretationen basieren im
2008; Halliwell 1986; Aristoteles 1994). Wesentlichen auf zwei Übersetzungsmöglichkeiten,
Voraristotelisch sind vier Konzeptionen der ká- denen ein je unterschiedliches Verständnis des Ge-
tharsis bekannt: Erstens eine biologisch-medizini- nitivs ›der Leidenschaften‹ zugrunde liegt. Übersetzt
sche, die auf Hippokrates zurückgeht und natürliche man pathēmátōn als Genitivus objectivus zu káthar-
oder medikamentös veranlasste Formen der Reini- sis, so ergibt sich die Bedeutung ›Reinigung der Lei-
gung beschreibt, zweitens eine rituelle oder kulti- denschaften‹ – ihrer Verfeinerung oder Vervoll-
sche, die psychische und spirituelle Aspekte vereint, kommnung. In dieser Tradition stehen die Deutun-
drittens verschiedene religiöse oder philosophische gen von Lessing und Schiller; neuerdings wird sie
Vorstellungen von kátharsis als Form konsequenter differenzierter und ohne die christlich-moralische
Lebensführung. Für neuere Arbeiten zur Poetik ist Wertung etwa von Schmitt (2008) und von Höffe
insbesondere die vierte Konzeption, die einer ká- (2009) vertreten. Übersetzt man im Sinn eines Geni-
tharsis der Emotionen, interessant: Die Affekte tivus separativus zu kátharsis, so geht man von einer
Furcht und Mitleid sehen nicht erst Platon und sein Reinigung von Leidenschaften aus; in dieser Tradi-
Schüler Aristoteles in einem engen Zusammenhang. tion stehen die Deutungen von Jacob Bernays
Sie sind in der griechischen Literatur seit Homer in (1857/1970) und Schadewaldt (1955). Nur noch von
einem Doppelausdruck miteinander verbunden. historischer Bedeutung ist das auf die stoische Tradi-
Aristoteles analysiert sie auch in der Rhetorik hin- tion zurückgehende Verständnis der kátharsis als ei-
sichtlich ihrer Bedeutung für den Redner. In der ner Abhärtung gegen Leidenschaften durch Leiden-
Poetik weist er darauf hin, dass Menschen, die zur af- schaften selbst (bzw. durch deren Betrachtung; Ge-
fektiven Erregung neigen, mittels enthusiastischer nitivus subjectivus), die die ataraxía, die Seelenruhe
Melodien behandelt werden können (Politik VIII, 7). gefährden. In der Nachfolge Schadewaldts wird die
Phóbos, éleos, kátharsis und tragische Lust sind ›Reinigung‹ als kátharsis der menschlichen Seele von
v. a. vor dem Hintergrund der platonischen Ableh- den Leidenschaften (pathēmátōn) phóbos und éleos
nung der Tragödie und der nachahmenden Kunst in einem medizinischen Sinne beschrieben. Hier ist
überhaupt zu sehen. Platon hatte gegen die Tragödie die Leitvorstellung, dass die Tragödie eben jene Af-
ins Feld geführt, dass sie elementare menschliche fekte, die sie selbst in der Seele erregt, zu einer lust-
Bedürfnisse nach Jammer und Klage (phóbos und vollen Abfuhr bringt; bei Schadewaldt wird die ká-
éleos) befriedige und dadurch dem unvernünftigen tharsis zu einem reinen psycho-physischen Entla-
Teil der menschlichen Seele Nahrung gebe und dem dungsakt, einer Art heilsamem Reflex. Diese
vernünftigen Teil schade. Daher gereiche sie nicht Interpretation ist auch als programmatische Gegen-
nur dem Individuum, sondern auch dem Staat zum position zu der lange vorherrschenden moralischen
Nachteil und sei grundsätzlich abzulehnen (Politeía Interpretation der kátharsis in der Nachfolge der
III und X). Aristoteles stimmt Platon darin zu, dass Aufklärung zu verstehen; die Ergebnisse neuerer
die Tragödie pathḗmata, Affekte, errege. Indem er Forschung lassen den Ansatz in seiner Rigorosität
aber die Generierung von phóbos und éleos nicht zu problematisch erscheinen (vgl. Vöhler/Seidensticker
unerwünschten Effekten, sondern zu den spezifi- 2007, IX; Rorty 1992; Kerkhecker 1991). Der Ge-
2. Begriffe des Aristoteles 23

danke der ›Heilsamkeit‹ von Tragödien(aufführun- schmerzlichen Übels« resultiert (Rhet. II 5, 1382a21–
gen) ist eine wirkungsästhetische Kategorie, in der 22). Aristoteles geht also von einer engen Verbin-
poetologischer und medizinischer Diskurs engge- dung menschlicher Affekte mit Meinungen, Urteilen
führt und aísthēsis in den Rang eines Pharmakon er- und Ansichten, von einer »Kovarianz« (Rapp 2002a,
hoben wird. Darin jedoch eine Neuperspektivierung 112) von Meinungen und Affekten aus.
durch Aristoteles sehen zu wollen, ist zumindest Die Wirkung der Tragödie, die Erregung von phó-
problematisch, da die psychologische Wirkmächtig- bos und éleos und die Reinigung von ihnen, muss
keit von Kunst ausführlich schon von Platon disku- sich aus der Zusammenfügung der Handlungen, aus
tiert wurde – wenn auch mit ganz anderen Schluss- dem Mythos der Tragödie ergeben – die Tragödie
folgerungen. Maßgeblich für diese Analogie zur me- muss auch dann wirkmächtig bleiben, wenn sie
dizinischen Purgation und damit für die These von nicht aufgeführt, sondern nur vorgetragen oder gar
einem mechanistischen Affektverständnis des Aris- still gelesen wird. Der wesentliche Unterschied zwi-
toteles ist die Interpretation von Bernays (1970; s.u.). schen rhetorischer und tragischer Darstellung be-
Differenziert und überzeugend argumentiert Bernd steht darin, dass Letztere ihre Wirkung erzielen
Seidensticker für die medizinische Deutung der Af- muss, ohne zu sagen oder zu zeigen, dass ein Ge-
fektreinigung im Sinne eines Genitivus separativus schehnis oder eine Figur Gegenstand von phóbos
(Seidensticker 2009). Zuletzt beschreibt Arbogast und éleos werden kann – dass sie den entsprechen-
Schmitt den kathartischen Prozess als eine Reini- den Schluss hingegen für den Zuschauer notwendig
gung der Leidenschaften; er stellt seine Interpreta- erscheinen lässt (Poet. 1456b5).
tion vor den Hintergrund der aristotelischen Seelen-
und Gefühlstheorie: Schmitt beschreibt kátharsis als
Optimierung emotionaler Kognitionen. Im Hinter-
grund steht das Verständnis von Emotion und Intel- 2.7 Wege der Rezeption
lekt als verschiedenen Modi des Kognitiven (vgl.
Schmitt 2008, 333–348; 476–510). Rapp unterläuft 2.7.1 Der poetologische und ästhetische
die Gegenüberstellung, indem er zwar eine separa- Aristotelismus
tive Lesart favorisiert, ohne dabei eine medizinisch-
somatische Deutung vorauszusetzen; die morali- Die Welle der aristotelisch beeinflussten Poetiken
schen Implikationen der tragischen Lust stünden au- hatte ihren Ursprung im Humanismus, erreichte im
ßerhalb des aristotelischen Erkenntnisinteresses französischen âge classique ihren Scheitelpunkt und
(Rapp 2009, 103; auch 2007). ebbte in der zweiten Hälfte des 18. Jh ab, als im Zuge
Die Frage nach der adäquaten Übersetzung des neuer Theorien von Künstler- und Autorschaft (Ge-
Genitivs tōn pathēmátōn ist entscheidend für die In- nie- und Autonomieästhetik) ihre Kategorien weni-
terpretation der aristotelischen kátharsis-Theorie ger interessant zu werden schienen. Das Interesse
und ihre Funktionalisierung auch in der aktuellen der Aristoteles-Interpretationen verschob sich zuse-
kulturwissenschaftlichen Debatte (s.u.). Phóbos und hends von der Praxis, aus der Poetik eine Regelpoe-
éleos gehören für Aristoteles zu den Affekten und tik zu extrahieren, zu dem Versuch, in der Auseinan-
Emotionen, zu denen auch Neid, Hass, Sehnsucht, dersetzung mit Aristoteles moralphilosophische
Zorn oder Mut zählen. Éleos definiert Aristoteles in Grundlagen der Wirkung von Dichtung zu formu-
der Rhetorik als »eine Art von Schmerz aufgrund ei- lieren; an die Stelle des produktionsästhetischen trat
nes vermeintlichen Übels, das verderblich oder ein wirkungsästhetisches Interesse.
schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient Die Reformulierung der aristotelischen Poetik in
hat, und von dem man erwarten kann, dass man es verschiedenen Regelpoetiken war »gleichsam die
selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist Klammer, die den europäischen Literaturen der frü-
der Fall, wenn es nahe scheint« (Rhet. II 8, 1385b13– hen Neuzeit den inneren Zusammenhang verlieh«
16; Rapp 2002, 90). In der Poetik findet sich keine (Aristoteles 1994, 174). Seither prägte der Topos der
derart ausführliche Definition (Poet. 1453a3–4). aristotelischen Einheiten von Zeit, Ort und Hand-
Auch phóbos wird in der Rhetorik weitaus genauer lung die Dramentheorie; und trotz des Bruchs mit
definiert als in der Poetik, und zwar »als eine Art von dem frühneuzeitlichen Aristotelismus im Zuge der
Schmerz oder Beunruhigung, die aus der Vorstel- beginnenden Genieästhetik sind seine Auswirkun-
lung eines bevorstehenden verderblichen oder gen noch in der Theatertheorie des 20. Jahrhunderts
24 I. Begriffe und Konzepte

ablesbar (etwa Herrmann 1936). Die Hoch-Zeit des schen Rezeption begonnen hatte. In der zweiten
italienischen dichtungstheoretischen Aristotelismus Hälfte des Jahrhunderts entstanden zahlreicher Re-
wird gerahmt von der Poetik von Marco Girolamo gelpoetiken; die wohl einflussreichste war der Pra-
Vida (1520) und dem Poetik-Kommentar Lodovico tique du Théâtre (1657) des Abbé d’Aubignac. Im
Castelvetros (1570). Auf Castelvetros Interpretation deutschsprachigen Raum ist die Rezeption des Aris-
geht die Lehre von den drei Einheiten des Ortes, der toteles eng mit dem Namen Martin Opitz verbun-
Zeit und der Handlung zurück, die insbesondere für den, dessen Poetik sich stark an der französischen
die französische Tradition folgenreich werden sollte. Tradition orientiert. Opitz’ Buch von der deutschen
Anders als die durchgehend tradierte Ars poetica Poeterey (1624) formulierte die Grundlagen für eine
des Horaz musste die Poetik des Aristoteles in Huma- volkssprachige Dichtung; dabei übernahm er die auf
nismus und Renaissance vollkommen neu erschlos- Scaliger zurückgehende französische Gattungspoetik
sen werden: Einen kanonischen Textträger oder eine für den deutschen Sprachraum. Zentrales wirkungs-
Auslegungstradition gab es nicht, und so wurde die äthetisches Konzept ist auch bei Opitz’ Buch von der
Menge des im europäischen Humanismus verfassten deutschen Poeterey das horazische docere et delectare.
Schrifttums denn nicht einmal von der reichen Pro- In der Nachfolge des Buchs von der deutschen Poete-
duktion der Französischen Klassik übertroffen. Ver- rey entstehen zahlreiche weitere Regelpoetiken für
suche, die Aussagen der Poetik in das tradierte rheto- eine Dichtung in deutscher Sprache (etwa Georg
rische System einzufügen, boten reichlich Anlass für Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken). Nach
Umdeutungen und Missverständnisse; eines der Gottsched, der in Opitz noch den eigentlichen Be-
weitreichendsten ist die Interpretation der Poetik als gründer der deutschen Literatur sah, geht in
Regelpoetik, die in den Versuch der Extrapolation Deutschland die Bedeutung von ›aristotelischen‹ Re-
strenger inhaltlicher und formaler Regeln für die gelpoetiken zurück.
Dichtkunst mündete. Insgesamt folgten die Bemü-
hungen des 16. Jahrhunderts weniger einem histo-
risch-philologischen Interesse denn der Suche nach 2.7.2 Von der Regelpoetik zur Gattungsfrage
einem dem neuen Menschenbild entsprechenden
poetologischen Lehrgebäude, das Fragen nach Form, Zentral für die Regelpoetiken der Französischen
Struktur und Gattung zu umschließen vermochte. Klassik (vgl. Kap. III.8) ist die Forderung nach den
Auf die Versuche in Italien gehen zahlreiche spätere drei Einheiten der Zeit, des Ortes und der Handlung.
neuzeitliche Aristotelismen bis hin zu Gottsched zu- Während die Forderung nach der Einheit der Hand-
rück. Eine Synthese des Ertrags der italienischen Be- lung tatsächlich auf eine konkrete Forderung des
mühungen bietet die Poetik (1561) des Julius Caesar Aristoteles zurückgeht (s.o.), stützen sich die beiden
Scaliger. Im Frankreich der Frühklassik war das Rin- anderen auf eher beiläufige Bemerkungen in der
gen um eine verlässliche Textgrundlage im Wesentli- Poetik: In Kapitel 5 der Poetik heißt es, dass die Tra-
chen abgeschlossen. Die weitere Diskussion fand in gödie die Zeitspanne eines Sonnenumlaufs nach
literarischen Zirkeln und Salons statt und schlug sich Möglichkeit nicht überschreiten sollte (Poet.
in einer kaum überschaubaren Anzahl von Traktaten 1449b13), woraus sich die Forderung nach einer
und Vorworten zu einzelnen Dichtwerken nieder, in Einheit der Zeit folgern lässt; in Kapitel 24 bemerkt
denen Autoren ihre Texte unter Berufung auf den Aristoteles, dass die Tragödie im Gegensatz zum
Lehrer Aristoteles zu legitimieren versuchten. Noch Epos nicht mehrere Handlungsstränge gleichzeitig
deutlicher als im Italien des Vorjahrhunderts war die darstellen könne, da sie an Szenerie und Schauspie-
Diskussion der aristotelischen Konzepte von Drama ler gebunden sei (Poet. 1450b24–26). Beide Bemer-
und Literatur auf die unmittelbare poetische Praxis kungen legen jedoch keine ästhetischen Kategorien
bezogen. Da die dramatische Produktion in der zugrunde, sondern sie stellen Folgerungen aus den
Französischen Klassik andere literarische Gattungen empirischen, historisch kontingenten Bedingungen
quantitativ bei weitem übertraf, isolierte man die des Attischen Theaters dar.
Poetik wieder aus dem umfassenden rhetorischen Pierre Corneille erklärt im Discours sur les trois
System, in das die italienische Renaissance sie zu in- unités (1660), er habe bei Aristoteles keine Vorschrift
tegrieren versucht hatte. In der Entwicklung in einer Einheit des Orts gefunden; aufgrund theater-
Frankreich verstärkte sich die normative Tendenz praktischer Erwägungen sei sie aber gleichwohl nö-
der Aristoteles-Deutung, die schon in der italieni- tig. Noch Gottsched hält in seinem Versuch einer Cri-
2. Begriffe des Aristoteles 25

tischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) an der 2.7.3 Wirkungskategorien in der Nachfolge
vorgeblich aristotelischen Forderung fest, erst Les- des Aristoteles
sing lehnt sie in seiner Konzeption des bürgerlichen
Trauerspiels – ebenso wie die Ständeklausel – in ei- Kátharsis und Tragödientheorie: Das Konzept der
ner Relektüre der aristotelischen Poetik ab. Doch zog Katharsis hat wie kein anderes die Dramentheorie
die Zuschreibung der ›Drei Einheiten‹-Regel an Aris- des Abendlands geprägt. Bernays formuliert präg-
toteles eine umfassende Kritik nach sich; insbeson- nant, die Katharsis gehöre zur »Klasse ästhetischer
dere im Zusammenhang der Genieästhetik fand eine Prachtausdrücke, die jedem Gebildeten geläufig und
explizite Abkehr von regelpoetischen Erwägungen in keinem Denkenden deutlich sind« (Bernays 1970,
der Nachfolge des Aristotelismus statt (vgl. Wels 6). Insbesondere die Begriffstrias von phóbos, éleos
2009). In den regelpoetischen Überlegungen Gustav und kátharsis und die Relation der drei Termini
Freytags (1863) wurde der durch die Linse der Fran- wurde zum Kern von unterschiedlichen Ansätzen
zösischen Klassik gesehene Aristoteles im 19. Jahr- zum Tragischen und zur Tragödie, die sich von poe-
hunderts nochmals relevant; bis in die Gegenwart tologischen über moralphilosophische bis hin zu an-
spielt er für die Konzeption kommerzieller sujet-ori- thropologischen Überlegungen erstreckten (Lessing,
entierter Filme eine gewisse Rolle (vgl. Field 1979). Schiller, Bernays, Nietzsche, Schadewaldt). Konzep-
Aristoteles’ Überlegungen zu einer gattungsun- tionen von Katharsis spielen bis heute eine Rolle in
terscheidenden Qualität des mimetischen Modus der kulturtheoretischen Debatte und werden von
wurde der Rezeption v. a. im 19. Jahrhundert zum der Theaterwissenschaft, besonders von der Perfor-
Problem. Im Aufsatz »Über epische und dramati- mance-Theorie, auch auf dem Umweg über andere
sche Dichtung« (1797) verhandeln Goethe und Disziplinen, neu rezipiert.
Schiller die Unterschiede zwischen der Haltung des Der philologische und philosophische Disput um
Mimen und der des Rhapsoden. Aristoteles hält ne- den Begriff der Katharsis ist im Wesentlichen eine
ben dem Gegenstand literarischer Mimesis die Art moderne Problematik, deren Eckpunkte bis heute
der Handlungsdarstellung für gattungskonstitutiv, die Interpretationen von Lessing und Bernays be-
nicht etwa – wie am prominentesten und folgen- stimmen. Lessing hatte die Katharsis im Sinne einer
reichsten später Goethe – mögliche Arten des Läuterung als »Verwandlung der Leidenschaften in
menschlichen Weltverhältnisses, aus denen Goethe tugendhafte Fertigkeiten« verstanden (Lessing 1985,
drei »Naturformen der Poesie« ableitet: »die klar er- 574). Im Kontrast zu diesem moralpädagogischen
zählende, die enthusiastisch aufgeregte und die per- Verständnis interpretierte Bernays die Katharsis me-
sönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama« (Goe- dizinisch, als »erleichternde Entladung [… von] Ge-
the 1981, 187). Im Gegensatz zum neuzeitlichen müthsaffectionen« (Bernays 1970, 16). Vor diesem
Verständnis gibt es bei Aristoteles denn auch nur Hintergrund steht nicht nur die psychologische und
zwei Modi der Handlungsdarstellung: Die indirekte v. a. die psychoanalytische Auffassung der Katharsis
(narrative) und die direkte (dramatische) Form der im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, sondern
Nachahmung; der dritte Modus ist eine Mischung auch die jüngere, im deutschen Sprachraum und
aus beiden, was seine eindeutige Identifikation mit auch in der theaterwissenschaftlichen Tradition ein-
der neuzeitlichen lyrischen Gattung verbietet. Für flussreiche Interpretation von Schadewaldt. Wie
Goethe ist die griechische Tragödie hingegen exem- Bernays verstand Schadewaldt den Begriff, in expli-
plarisch für eine Gattung, in der die drei Grundfor- ziter Abwendung von der humanitär-idealisierenden
men miteinander verbunden seien. In stark modifi- Tradition, im Sinne einer »medizinischen Purgie-
zierter Form spielt das Goethesche Modell auch für rung« (Schadewaldt 1955, 369). Im Gegensatz zu
die Gattungstheorie des 20. Jahrhunderts noch eine Bernays löste Schadewaldt jedoch auch das Lessing-
Rolle (etwa Julius Petersen, Emil Staiger, Franz Karl sche Verständnis der tragischen Affekte, Mitleid und
Stanzel; für einen Überblick vgl. Martinez/Scheffel Furcht, durch das von ›Jammer und Schaudern‹ ab.
2009). Kátharsis als Läuterung: Die Geschichte des Ver-
ständnisses von Katharsis als Reinigung im Sinne ei-
ner Veredelung oder Läuterung der Emotionen
reicht zurück bis ins 16. Jahrhundert (Vettori, Picco-
lomini, Heinsius); auch aufgrund ihres philosophi-
schen Hintergrundes legt sie die Analogie zu alche-
26 I. Begriffe und Konzepte

mistischen Bedeutungszusammenhängen nahe, erlebnis, sei Telos der Aufführung und verwandle
wenngleich solche Vorstellungen spätestens im 18. den Zuschauer, der zuvor weder gut noch schlecht
Jahrhundert zunehmend in den Hintergrund treten. ist: »Er ist friedfertig, er ist still, er ist ein Philosoph,
Lessing reagiert mit seiner Trauerspiel-Theorie und er hat einige tausend Jahre hinter sich gelassen«
zunächst auf eine Neuinterpretation des Tragödien- (Piscator 1980/1959; vgl. Schmidt 2009). Neben die
satzes durch Friedrich Nicolai (Abhandlung vom ethische Funktionalisierung des Theaters tritt nach
Trauerspiele, 1756); im 47.-76. Stück der Hamburgi- dem Zweiten Weltkrieg die religiöse (vgl. Schmidt
schen Dramaturgie (1767–69) reformuliert er die im 2009, 182–184). Nicht ausdrücklich christlich grun-
Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai dierte Forderungen nach einer metaphysischen Wir-
(1756/57; Lawrenz 2007) entworfenen Thesen. Ni- kung der Tragödie werden im 20. Jahrhundert von
colais sensualistischer Grundthese zufolge liegt das Carl Zuckmayer (1938) und Egon Vietta (1945) for-
Telos der Tragödie in der Erregung von Leidenschaf- muliert. Vietta bezieht sich dabei auf Jean Cocteau,
ten, nicht in deren Abfuhr. Dem widerspricht Les- der sein surrealistisches Theater als »religiöses Zere-
sing: Das Telos der Tragödie (und dann v. a. auch des monial« bezeichnet. Auch im Zusammenhang mar-
bürgerlichen Trauerspiels) sei eine emotionale Schu- xistischer und sozialistischer Gesellschaftsmodelle
lung des Rezipienten. Entsprechend kritisiert er die mit ihrer Funktionalisierung des Theaters als politi-
in der Französischen Klassik übliche Übersetzung sche Anstalt schreibt sich die Lessingsche Deutungs-
von phóbos als terreur (Houdar, Rousseau, Crebil- tradition fort (vgl. Fischborn 1979; Schmidt 2009,
lon). Lessing vergleicht Darstellung und Rezipient 186–192). Bertolt Brecht gibt dem Konzept eine
mit zwei Saiten; wenn die eine angeschlagen wird, neue Dimension, indem er es im Sinne einer dialek-
schwingt die zweite mit. Die Katharsis der Leiden- tischen Spannung zwischen Affekt und Intellekt re-
schaften versteht er entsprechend als Genitivus ob- interpretiert: »Uns drängen die Gefühle zur äußers-
jectivus; es sind die erregten Affekte, die Gegenstand ten Anspannung der Vernunft und die Vernunft rei-
der Reinigung werden. Die auf der Bühne gezeigten nigt unsere Gefühle« (Brecht 1993/1955, 338; anders
Affekte, Mitleid und Furcht, versteht Lessing dabei noch in Brecht 1993, 67: Kleines Organon (1948):
als zwei Seiten ein und desselben Affekts, wobei er »Waschung […] zum Zwecke des Vergnügens«).
sich auf die Definition der aristotelischen Rhetorik Kátharsis als Purgation: Das Schadewaldtsche
bezieht: »Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mit- Verständnis bestimmt bis heute die kulturwissen-
leid« (Lessing 1985, 557). Unter dem Einfluss der schaftliche Debatte in weiten Teilen. Erste Ansätze
Philosophie Kants überträgt Schiller die Funktion zu einer medizinischen Interpretation der Katharsis
des Mitleids dem Erhabenen. Als Kulminations- finden sich schon bei Antonio Sebastiano Minturno
punkt und Wesen des Tragischen sieht er nicht mehr (1564) und John Milton (1671); bei beiden jedoch in
den kathartischen Effekt, sondern den Versuch des Kombination mit einem moralischen Katharsis-Ver-
Individuums, sich von heteronomen Einflüssen zu ständnis. Die Konzentration auf eine physiologisch-
befreien (»Vom Erhabenen«, 1793; »Über das Erha- erleichternde Reinigung findet sich erstmals bei
bene«, 1801). Goethe vertritt in der »Nachlese zu Heinrich Weil (1848; vgl. Lawrenz 2007, 96), be-
Aristoteles’ Poetik« (1827) die These, dass der Be- kannt wurde sie durch Bernays: Im Gegensatz zu
griff der Katharsis nicht auf den Zuschauer, sondern Lessing deutet Bernays den kathartischen Prozess
auf die Konstruktion der Tragödienhandlung, im nicht moralisch, sondern er bezieht ihn auf das se-
Sinne eines Ausgleichs drameninterner Spannun- mantische Feld des Medizinischen. Dabei geht er
gen, zu beziehen sei. nicht etwa davon aus, dass Aristoteles die Tragödie
Für Drama und Theater des 20. Jahrhunderts dem Bereich der Medizin eingemeinde; die Verwen-
spielt die Interpretation der Katharsis als Läuterung dung medizinischer Terminologie sieht er klar als
der Affekte v. a. dort eine Rolle, wo dem Theater eine metaphorisch (anders Lawrenz 2007): Die Affekte
gesellschaftspolitische Funktion jenseits von Unter- Furcht und Mitleid werden ihm zufolge nicht gebes-
haltung und/oder primordialen Gemeinschaftser- sert oder geläutert, sondern ausgeschieden. Dabei
fahrungen zugewiesen wird. Erwin Piscator entwirft nimmt er sich ein homöopathisches Wirkungskon-
in den 1950er Jahren ein »Bekenntnistheater«, das zept zum Vorbild: Wie der Homöopath pathologi-
mit »Leidenschaft« und »Kritizismus« eine »neue sche Stoff-Anstauungen durch gezielte Anregung in
Katharsis« hervorbringen soll. Der kathartische Ef- Bewegung versetzt und so ihre Ausscheidung er-
fekt, ein Intellekt wie Emotion reinigendes Evidenz- möglicht, so erregt der Tragiker die tragischen Af-
2. Begriffe des Aristoteles 27

fekte, um ihre Abfuhr auszulösen. Die Anregung ge- rien theater findet der Begriff Eingang, zumeist in ei-
schieht durch die Konfrontation des physischen nem durch Nietzsche und durch die französischen
oder psychischen Apparats mit ähnlichen Stoffen – Nietzsche-Rezeption gefärbten Verständnis. Die oft-
eben homöopathisch. Ziel des tragischen Prozesses mals zu beobachtende Gleichsetzung von Katharsis
(und Grund für die tragische Lust) ist somit nicht erzeugender Mimesis mit der Drastik der Darstel-
die Reinigung der Leidenschaften, sondern die Rei- lung ist jedoch nicht unproblematisch. Ein entschei-
nigung von den Leidenschaften, bzw. von ihrem dender Aspekt, die Mythosgebundenheit des aristo-
Übermaß. Auf Bernays’ Ansatz geht die Bezeich- telischen Konzepts, bleibt dabei unberücksichtigt,
nung der Hysterie-Therapie als kathartische Me- ebenso wie die historisch kontingenten Vorausset-
thode zurück (vgl. Breuer, Freud; vgl. dazu Gödde zungen spektatorischer Identifikation, die in der
2009). Obgleich er sich von Bernays distanziert, Poetik vorausgesetzt sind (vgl. Warstat 2009, 351 f.).
greift auch Nietzsche dessen Ansatz auf und sieht die
kathartische Entladung als konstitutiv für das gestei-
gerte Leben. Jüngst wurde vorgeschlagen, die Geburt 2.7.4 Reformulierungen der Mimesis:
der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) im Imitatio, Nachahmung, Spiel
Sinne einer »vollendete(n) Theorie des ästhetischen
Mitleids« zu lesen (vgl. Lawrenz 2007, 6; 115 f.). Im Neben dem Begriff der Katharsis gehört der aristote-
20. Jahrhundert greift von philologischer Seite v. a. lische Mimesis-Begriff zu den Konzepten nicht nur
Schadewaldt diese Interpretationslinie auf; konse- der Literatur-, sondern ganz allgemein der Kulturge-
quent verabschiedet er die Lessingsche Übersetzung schichte, die bis heute am folgenreichsten sind. Das
der tragischen Affekte durch Furcht und Mitleid und hat nicht allein mit der kulturhistorischen Bedeu-
schlägt eine Ersetzung durch die Elementaraffekte tung und der wechselvollen Rezeption der Poetik zu
Jammern und Schaudern vor. Damit betont er die tun, in der der Begriff eine zentrale Position besetzt,
nicht nur psychische, sondern auch konkret-physi- sondern auch mit seiner Vorgeschichte bei Platon. In
sche Wirkung der Tragödie. der Rezeption steht oft eher Platons Konzeption der
Diese Umdeutung des Begriffs führt zu seiner Mimesis als Abspiegelung der Wirklichkeit Pate,
Übertragung auf andere als die angestammten Fel- auch wenn explizit auf Aristoteles verwiesen wird;
der der Poetik, Ethik, Religion und Politik und berei- nicht selten ist eine (bewusste oder unbewusste)
tet den Boden für eine breite kulturwissenschaftliche Kombination der platonschen und der aristoteli-
Rezeption (zum Einfluss des psychoanalytischen schen Perspektive (vgl. Auerbach 1948; Blumenberg
Katharsis-Konzepts auf die ›Wiener Modene‹ Worbs 1957; Gebauer 1992; Koch/Vöhler 2010).
2009). In der zeitgenössischen Debatte wird der Ka- Entsprechend umfasst der moderne Mimesis-Be-
tharsisbegriff »beinah [!] wie eine Leerformel für alle griff ein breites Bedeutungsspektrum, das sich in
möglichen emotionalen, leiblichen und psychischen der  unüberschaubaren Vielzahl gängiger Überset-
Wirkungen von Theater in Anspruch genommen« zungsvarianten niederschlägt: Von »Nachahmung«
(Warstat 2009, 350); Artauds Vision des théâtre de la über »Darstellung«, »Repräsentation«, »Simula-
cruauté etwa wird immer wieder als ›kathartisch‹ be- tion«, »Reproduktion«, »Wiederholung«, »Modellie-
zeichnet, obgleich der Begriff bei Artaud nicht fällt rung«, »Verkörperung«, »Travestie«, »Parodie«,
und seine Dimensionen hier zu einem großen Teil »Kopie« bis hin zu abstrakten Begriffen wie »Realis-
nur noch sehr indirekt auf die Begriffsbestimmung mus« oder »Identifikation« kann Mimesis vieles hei-
der Tragödie zu beziehen sind: »In der Rezeption ßen. Der Begriff bezeichnet sowohl Prozess wie Pro-
[…] ist der Begriff der Katharsis mit einem Gewicht dukt, sowohl menschliches Vermögen wie auch kul-
belastet worden, das er nicht tragen kann« (Flashar turelle Handlung und ist damit immer ein
2007, 178). Relationsbegriff, der etwas – zumeist ein Werkstück
Insbesondere für Performance-Konzepte und kultureller Arbeit – ins Verhältnis zu etwas anderem
-Theorien der 1960er Jahre, für die die Präsentation setzt – entweder zu einem anderen Werkstück oder
und die Erzeugung starker psychophysischer Affekte einer Vorstellung von »Welt«, »Wirklichkeit«,
zentral ist, bietet das Spektrum möglicher Katharsis- »Handlung« oder »Natur«. Was somit nahezu alle
Begriffe ein gewisses analytisches Potential (vgl. neuzeitlichen Reformulierungen mit Aristoteles’
Lüthy 2009); auch in die Konzepte von Aktions- Konzept gemeinsam haben, ist die zentrale Stellung
künstlern wie etwa Hermann Nitschs orgien myste- des medialen Charakters von Mimesis.
28 I. Begriffe und Konzepte

Grob verkürzt lassen sich drei Stränge der Rezep- genüber der imitatio naturae: Der beste Dichter voll-
tion ausmachen, die nicht immer trennscharf zu un- ende in der Nachahmung die Natur, indem er die ihr
terscheiden sind und sich immer wieder wechselsei- im Sinne der Entelechie eingeschriebenen Prinzi-
tig beeinflussen: Der erste betont die poetologischen pien zur Vollendung bringe.
Implikationen des Begriffs; er ist v. a. für die Regel- Ab dem 18. Jahrhundert wird der Mimesis-Be-
poetiken in der Nachfolge des französischen Klassi- griff wesentlich auf die Nachahmung der Natur be-
zismus relevant. Mit der neuzeitlichen »Krise der/ schränkt, wobei das Gelingen der Nachahmung von
durch Repräsentation« (vgl. Fischer-Lichte 2001) der Ähnlichkeit des Artefakts mit dem Nachgeahm-
wirft diese Rezeptionslinie eine Frage auf: die nach ten abhängig gemacht wird. So löst sich die Kunst
dem Verhältnis der Welt und ihrer Darstellung. Sie aus den bis dahin üblichen regelpoetischen Fest-
bestimmt Theorien des literarischen Realismus im schreibungen. Die Öffnung zu individueller literari-
weitesten Sinne, aber auch ihre ›Rückseite‹, die »Ab- scher Produktion wird durch eine Wendung des Mi-
straktion als Mimesis« (vgl. Hermann 2010). Für mesis-Begriffs möglich, der ihn im Sinne eines sou-
den dritten spielen die anthropologischen Voran- veränen Welterzeugungsprozesses des dichtenden
nahmen und Implikationen der aristotelischen Kon- Individuums re-interpretiert (Karl Philipp Moritz):
zeption die entscheidende Rolle; er wird dort ein- Der Dichter wird zum Schöpfer. Die von Aristoteles
flussreich, wo es um die Frage nach den Ursachen ausgehende Begriffstradition kommt hier freilich an
und/oder Ursprüngen des mimetischen Vermögens ihre Grenzen und zu einem Ende (vgl. Gebauer/
geht, und ist im 20. Jahrhundert speziell für Ethnolo- Wulf 1992, 221 f.). Auerbachs Geschichte der darge-
gie und Ritualtheorie interessant (vgl. Gebauer/Wulf stellten Wirklichkeit in der abendländischen Ästhe-
1992; Kablitz/Neumann 1998; Girshausen 2005). tik, die 1946 unter dem Titel Mimesis erschien, war
Aus der antiken Poetologie sind zwei Konzeptio- entscheidend an der neuen Konjunktur des Begriffs
nen dessen bekannt, was in der deutschen Überset- im 20. Jahrhundert beteiligt. Auerbachs Begriffsver-
zung lange unhinterfragt als Nachahmung übersetzt wendung bleibt zwar vage. Sicherlich meint Mimesis
wurde: Neben dem (auf Platon bezogenen) aristo- bei Auerbach jedoch keine Wiederspiegelung der
telischen Mimesis-Begriff steht das rhetorische Realität, sondern die Darstellung einer literarischen
Konzept der Nachahmung von Vorbildern. Entspre- Wirklichkeit. Andreas Kablitz hat vorgeschlagen, die
chend deuteten die dichtungstheoretischen Aristote- Problematik der neuzeitlichen Mimesis-Verständ-
liker der Renaissance den Mimesis-Begriff nicht nur nisse in einer »Umdeutung des Begriffs der Mimesis
als Nachahmung der Wirklichkeit, sondern auch im in ein zeichenhaftes Phänomen« zu sehen (Kablitz
Sinne einer imitatio und aemulatio, eines Nachah- 2009, 216); eine Umdeutung, die – so Kablitz – we-
mens und Übertreffens antiker Vorbilder, insbeson- der Aristoteles noch Plato gerecht wird: Plato be-
dere der römischen Autoren. Im französischen Klas- zieht die Gründe für seine Kritik der (dichterischen)
sizismus wurde Mimesis als Naturnachahmung Mimesis ja gerade daraus, dass sie nicht Repräsenta-
(imitatio naturae) verstanden. Die aristotelischen tionen, sondern (freilich defizitäre) Kopien der
Kategorien der Möglichkeit, der Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit sind, die wiederum – unvollkommen
und der Notwendigkeit der dargestellten Handlung und unvollständig – die Welt der Ideen reprodu-
und der Angemessenheit der Handlungsdarstellung ziere. Dem Vorwurf Platons begegnet Aristoteles, in-
erfahren vor diesem Hintergrund eine entschei- dem er dichterische Mimesis nicht als defizitäre
dende Umdeutung: Sie münden in die doctrine clas- Nachahmung der Wirklichkeit, sondern als Darstel-
sique, in die Forderung nach raison (Vernunft), vrai- lung von eigengesetzlichen Handlungen definiert,
semblance (Wahrscheinlichkeit) und bienséance deren Ordnung nicht die einer kontingenten Au-
(Angemessenheit) des dichterisch Dargestellten und ßenwelt ist. Vor dem Hintergrund der historischen
nach den trois unités der Darstellung. Die deutschen Kontingenz des Repräsentationskonzepts, das der
Barock-Poetiken übernehmen dieses Verständnis Poetik-Rezeption eingeschrieben ist, steht auch die
der aristotelischen Mimesis und seine Implikatio- neuzeitliche Mimesis-Kritik; noch Hans Blumen-
nen. Im Kontext der Querelle des Anciens et des Mo- bergs einflussreicher Beitrag (1957) missversteht
dernes kommt der immanente Konflikt zwischen den aristotelischen Mimesis-Begriff als Nachah-
den konkurrierenden Bedeutungen von mímēsis/ mung der Natur. Eine der augenfälligsten Konse-
imitatio zum Ausbruch. Batteux etwa sieht die imita- quenzen ist die Frage, ›ob die Dichter lügen‹, kurz:
tio veterum als defiziente Form der Nachahmung ge- Das Problem der Fiktionalität. Einen Versuch zur
2. Begriffe des Aristoteles 29

Theoretisierung des Diskurses über Mimesis liefert Literatur


Wolfgang Iser (1998), er beschreibt Simulation, Si- Arberry, Arthur J. (Hg.): »al-Farabi: Fârâbî’s Canons of Po-
mulakrum und Phantasma als »emergente Phäno- etry«. In: Rivista degli studi orientali 17 (1938), 266–278.
mene […], die sich als Transformationen des kom- Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch [1982]. Übers. und
plexen Systems der Nachahmung der Natur zu er- hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994.
kennen geben« (Iser 1998, 682). Gemeinsames Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der
Abendländischen Literatur [1946]. Bern 1977.
Element dieser Phänomene sei ihre Bildhaftigkeit, Baldwin, Charles S.: Renaissance Literary Theory and
die sich in der Naturnachahmung als Repräsentatio- Practice: Classicism in the Rethoric and Poetic of Italy,
nalität, in der Simulation im Sinne des ›als ob‹, im Si- France, and England, 1400–1600. Hg. v. Donald Lemen
mulakrum als aufgedeckte Täuschung und im Phan- Clark. New York 1939.
Barnes, Jonathan (Hg.): The Cambridge Companion to Aris-
tasma als Figuration einer Irrealität spezifiziere.
totle. Cambridge 1994.
Die Einlassungen zur anthropologischen Dimen- Bernays, Jacob J.: Grundzüge der verlorenen Abhandlung
sion von Mimesis, die Herleitung der Freude an des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie [1857]. Hil-
(produktiver wie rezeptiver) Mimesis bleiben in der desheim/New York 1970.
Poetik recht knapp, ordnen den mimetischen Trieb Blumenberg, Hans: »Nachahmung der Natur. Zur Vorge-
schichte der Idee des schöpferischen Menschen« [1957].
aber den grundlegenden Eigenschaften zu, die den In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart
Menschen vom Tier unterscheiden. Da Aristoteles 1986, 55–103.
in dieser Grundannahme mit seinem Lehrer Platon Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und
übereinstimmt, ist neuzeitlichen Mimesis-Begriffen Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht u. a. Bd. 23.
nicht immer auf den ersten Blick anzusehen, ob sie Berlin u. a. 1993.
Buchheim, Thomas u. a. (Hg.): Kann man heute noch etwas
direkt oder indirekt auf Aristoteles oder aber auf anfangen mit Aristoteles? Hamburg 2003.
Plato bezogen sind – gerade wenn sie Mimesis aus Busch, Thomas: Chronologische Übersicht zur Textge-
einer (kultur-)anthropologischen Perspektive in den schichte. In: Schmitt 2008, XVII–XXVI.
Blick nehmen. Derridas disséminaton und literatur-, Butterworth, Charles E.: Averroe’s Middle Commentary on
theater- oder kulturwissenschaftliche Anschluss- Aristotle’s Poetics. South Bend ²2000.
Castelvetro, Lodovico: Poetica d’Aristotele vulgarizzata e
konzepte etwa entwickeln ihre Thesen in erster Linie sposta [1570]. Hg. v. W. Romani, 2 Bde. Rom/Bari 1978/79.
in kritischer Auseinandersetzung mit dem platoni- Cessi, Viviana: Erkennen und Handeln in der Theorie des
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verwenden den Begriff in einem ganz anderen Sinne Fischborn, Gottfried: »Katharsis und sozialistische Drama-
als Aristoteles (etwa Schechner 1973; Fischer-Lichte tik. Einige Gedanken zum Problem«. In: Werner, Hans-
2004). Der Mimesis-Begriff, der in spieltheoreti- Georg: Lessing-Konferenz. Halle 1979, 588–594.
schen Ansätzen entwickelt wurde, steht in eher asso- Fischer-Lichte, Erika: Theatralität und die Krisen der Re-
präsentation. Stuttgart 2001.
ziativer Verbindung mit dem antiken Bedeutungs- Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frank-
feld. Er trifft sich jedoch mit Aristoteles darin, dass furt a. M. 2004.
er die kulturbegründende Potenz des (auch mimeti- Flashar, Hellmut: »Die musikalische und die poetische Ka-
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3. Wirkungskategorien 31

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Schmitt, Arbogast: Die Moderne und Platon. Zwei Grund-
formen europäischer Rationalität. Stuttgart/Weimar 2008 lassen sich drei Bedeutungsebenen unterscheiden:
(2008a). das Tragische als Wirkung, das Tragische als Gattung
Schmitt, Arbogast: »Mimesis bei Platon«. In: Koch/Vöhler/ und das Tragische als Gegenstand philosophischer
Voss 2010, 231–255. Reflexion (vgl. Galle 2005; Heeg 2005). In der erstge-
Scholz, Bernhard F.: »Vorwort«. In: Ders. (Hg.): Mimesis.
Studien zur literarischen Repräsentation. Tübingen/Basel
nannten Bedeutung bezeichnet das Tragische einen
1998, 7–15. Effekt bzw. die Wirkung, die durch bestimmte künst-
Schönert, Jörg/Zeuch, Ulrike (Hg.): Mimesis − Repräsenta- lerische Darstellungsformen evoziert werden kann.
tion − Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Dagegen bestimmt die zweite Definitionsachse das
Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin Tragische als Gattung, wobei zwischen dem Tragi-
2004.
Seidensticker, Bernd: »Die Grenzen der Katharsis«. In: schen als literarische Gattung und dem Tragischen
Vöhler/Linck 2009, 3–21. als theatrale Darstellungsform unterschieden wird.
Vettori, Pietro: Commentarii in primum librum Aristotelis Die dritte Bedeutungsebene charakterisiert das Tra-
de Arte Poetarum [1560]. München 1967. gische als Gegenstand philosophischer Reflexion
Vöhler, Martin/Seidensticker, Bernd (Hg.): Katharsiskon-
zeptionen vor Aristoteles. Zum kulturellen Hintergrund
und hat eine lange philosophiegeschichtliche Tradi-
des Tragödiensatzes. Berlin 2007. tion: Sie reicht von Friedrich Wilhelm Joseph Schel-
Vöhler, Martin/Linck, Dirck (Hg.): Grenzen der Katharsis ling bis Karl Jaspers (vgl. Szondi 1967, 7 f.).
in den modernen Künsten. Transformationen des aristote- Im Hinblick auf die Bestimmung des Tragischen
lischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin als Wirkung bzw. als Wirkungskategorie, die hier im
2009.
Warstat, Matthias: »Katharsis heute: Gegenwartstheater Zentrum stehen soll, sind insgesamt drei Aneig-
und emotionaler Stil«. In: Vöhler/Linck 2009, 349–366. nungsstrategien zu unterscheiden: das Tragische als
Wels, Volkhard: Der Begriff der Dichtung in der Frühen moralischer Impuls, das Tragische als selbstreflexi-
Neuzeit. Berlin 2009. ves Moment und das Tragische als anthropologische
Wieland, Wolfgang: »Poietische Philosophie. Schritte zu ei-
ner Philosophie der Poiesis«. In: Buchheim u. a. 2003,
Konstante.
223–247.
Wieland, Wolfgang: »Poiesis: Das Aristotelische Konzept
einer Philosophie des Herstellens«. In: Buchheim u. a. 3.1.2 Aristoteles’ Poetik als Urschrift
2003, 223–249. des Dramas
Worbs, Michael: »Katharsis in Wien um 1900«. In: Vöhler/
Linck 2009, 93–117.
Zoran, Gabriel: »History and Fiction in the Aristotelian Obwohl Aristoteles in der Poetik kein explizites Kon-
Theory of Mimesis«. In: Scholz, Bernhard F. 1998, 133– zept des Tragischen entwickelt – er verwendet das Ad-
147. jektiv tragisch in seinem Werk selten und stets in Ver-
Julia Stenzel
bindung mit der Wirkung der tragischen Handlung
(Poet. 1450a15; Galle 2005, 120 f.) –, etabliert er die
Tragödie und somit auch die Wirkungskategorie des
Tragischen erstmals als Gegenstand wissenschaftli-
cher Reflexion (vgl. Kap. I.2). Bei ihm figuriert die
Tragödie als wichtigste Gattung des Dramas und
zeichnet sich als ›Nachahmung einer guten und ge-
schlossenen Handlung‹ (mímēsis) wesentlich durch
die ›Reinigung‹ (kátharsis) der bzw. von den Affekten
éleos (›Jammer‹, seit Lessings Hamburgischer Drama-
turgie meist mit ›Mitleid‹ übersetzt) und phóbos
(›Schaudern‹, ›Furcht‹) aus (Poet. 1449b21–1450b20).
Mithin bildet die Deutung der beiden Affekte sowie
32 I. Begriffe und Konzepte

die Definition ihrer Wirkung als kátharsis (Reini- gungsstrategien für die tragische Darstellung in der
gung) den Brennpunkt für die Reflexion über die Kunst dominiert: Einerseits wird die Darstellung
Wirkungskategorie des Tragischen. Neben produk- durch ihre unmittelbare moralische Intention legiti-
tionsästhetischen Aspekten, bspw. den quantitativen miert, andererseits durch ihre ästhetische Wirkung
Teilen der Tragödie (Poet. 1452b23–1453b27), neh- als moralische Wirkung. Die Reflexion über das Tra-
men in der Poetik insbesondere Fragen der Wirkungs- gische als moralischen Impuls muss stets vor dem
ästhetik eine bedeutende Stellung ein. So bestimmt Horizont der philosophischen Debatten gesehen
Aristoteles die Lust am Tragischen (tragōdías hēdonḗ), werden. Während die erste Rechtfertigungsstrategie
die durch die Erregung und Reinigung der Affekte er- des Tragischen von zwei moralphilosophischen Posi-
zeugt werde, als eigentliches Wirkungsziel der Tragö- tionen, dem ethischen Rationalismus (u. a. Christian
die. Die Reinigung sei dann erreicht, wenn sich das Wolff) und der englischen moral-sense-Philosophie
Moment der Wiedererkennung (anagnṓrisis) mit dem (u. a. Francis Hutcheson) beeinflusst war (vgl. Marti-
Umschlag vom Glück ins Unglück (peripéteia) überla- nec 2003, 129 f.), stand die zweite unter dem Einfluss
gere (Poet.1452a22–1452b14). Der Wechsel werde der geschichtsphilosophischen Ästhetik Schellings
durch einen schwerwiegenden Fehler (hamartía) des (Philosophie der Kunst, 1802/03) und Hegels (Vorle-
Helden herbeigeführt (Poet. 1452b10–15). sungen über die Ästhetik, 1821; vgl. Profitlich 1990,
Aristoteles’ Definition des Begriffs der kátharsis 87 f.). Die Entwicklung der Rechtfertigungsstrategie
als Reinigung der bzw. von den Affekten ist als Reha- des Tragischen von der unmittelbaren moralischen
bilitationsversuch der Tragödie gegenüber Platon zu Intention hin zur moralischen Wirkung hängt für Ul-
verstehen. In der Politeia (ca. 370 v. Chr.) verbannt rich Profitlich mit der Abkehr vom Realismus des
Platon die Dichtkunst und das Theater aus dem bürgerlichen Trauerspiels zusammen. Damit zeich-
Staat: Diese würden durch die falsche Darstellung net sich auch eine Verlagerung der Kunst aus einem
von traurigen Stimmungen das menschliche Bedürf- moralischen in einen ästhetischen Diskurs ab.
nis nach éleos und phóbos befriedigen und dadurch In Johann Christoph Gottscheds Hauptwerk Ver-
die Seele verderben (Politeia III, X). In dieser Sicht- such einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen
weise manifestiert sich das grundlegende ethische (1730), das wesentlich von Aristoteles und den fran-
Dilemma, welches die philosophische Debatte über zösischen Klassikern Pierre Corneille und Nicolas
den Stellenwert der Kunst bis ins 20. Jahrhundert Boileau beeinflusst ist (vgl. Kap. III.8 und III.9),
prägte. Platons Kritik an der ästhetischen Darstel- rückt der ästhetische Genuss am Theater zugunsten
lung des Leidens wird insbesondere in der Scholas- seines postulierten unmittelbaren moralischen Nut-
tik durch Augustinus (De civitate Dei, 413–426) und zens in den Hintergrund (vgl. Wölfel 1971, 94 f.).
Tertullian (De spectatulis, Kap. 16 und 17) wieder Gottsched gewichtet, um Horaz’ Begrifflichkeit zu
aufgegriffen (vgl. Galle 2005, 127 f.). Seit der ›Wie- verwenden, das prodesse höher als das delectare
derentdeckung‹ der aristotelischen Poetik durch die (Wölfel 1971, 94 ff.). Für ihn besteht die Aufgabe des
italienischen Humanisten (u. a. Giambattista Gi- Dichters darin, einen moralischen Lehrsatz zu for-
raldi, Discorso intorno al comporre de i romanzi, delle mulieren und diesen in eine poetische Fabel zu über-
comedie, e delle tragedie, 1554; Francesco Robortello, setzen (vgl. Wölfel 1971, 94). Obwohl sich Gottsched
In librum Aristotelis De arte poetica explicationes, in seinen Schriften immer wieder auf Aristoteles’
1548) konzentriert sich die Reflexion über das Tra- Begriff der kátharsis bezieht, bleiben die tragischen
gische auf die Rechtfertigung der Lust an der ästhe- Affekte Mitleid (éleos), Schrecken (phóbos) und seit
tischen Darstellung des Leidens (repraesentatio Corneille auch Bewunderung (vgl. Galle 2005, 141)
tragica). Die zahlreichen Deutungen der kátharsis für den eigentlichen Tragödienzweck, namentlich
beeinflussen die unterschiedlichen Aneignungsstra- die moralische Einsicht des Zuschauers, sekundär
tegien des Tragischen entscheidend. (vgl. Martinec 2003, 74 f.). Gottsched versteht die
aristotelische kátharsis nicht als Reinigung, sondern
als moralische Selbstbeschränkung im Sinn einer
3.1.3 Das Tragische als moralischer Impuls Mäßigung der eigenen Wünsche (vgl. Wölfel 1971,
96 f.). Diese rigorose Indienstnahme des Theaters als
Die prominenteste Aneignungstrategie der Wir- moralische Anstalt traf schon im 18. Jahrhundert auf
kungskategorie des Tragischen ist seine Deutung als Widerspruch, so etwa bei Johann Elias Schlegel oder
moralischer Impuls. Diese wird von zwei Rechtferti- Friedrich Nicolai.
3. Wirkungskategorien 33

Lessing setzt in Anlehnung an Moses Mendels- Widerstand gegenüber dem Gezeigten ausgelöst
sohns Briefe über die Empfindungen (1755) den tra- (vgl. Zimmermann 2009, 727 f.). Diese für Schiller
gischen Affekt des Mitleidens ins Zentrum seines zentrale Ablehnung des dargestellten Leids führt den
dramentheoretischen Hauptwerks, der Hamburgi- Rezipienten zur vernünftigen Einsicht (vgl. Galle
schen Dramaturgie (1767/69; Galle 2005, 148 f.). Im 2005, 154). Die Darstellung des Tragischen ist ent-
78. Stück der Hamburgischen Dramaturgie interpre- sprechend für Schiller genau dann ästhetisch ge-
tiert er die aristotelische kátharsis bzw. das Wir- rechtfertigt, »[…] in so fern es erhaben ist. […] denn
kungsziel des bürgerlichen Trauerspiels als »Ver- alles Erhabene stammt nur aus der Vernunft« (Schil-
wandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertig- ler 2009, 74).
keiten« (Lessing 2003, 401). Wenn eine Ähnlichkeit Goethe verortet sowohl in »Shakespeare und kein
zwischen den dramatis personae und dem Rezipien- Ende!« (1815/1826) als auch im »Prolog zur Eröff-
ten bestehe, sei dieser in der Lage, Empathie für den nung des Berliner Theaters am 26. Mai 1821« das
tragischen Helden zu entwickeln. Dieser Grundsatz tragische Moment im sittlichen Konflikt – der Ge-
kommt einer Aufhebung der Ständeklausel (vgl. genüberstellung von Wollen und Sollen – auf der
Kap. I. 2.5.1) gleich, wie sie von Aristoteles einge- Bühne. Dabei unterscheidet er in »Shakespeare und
führt und bis und mit Gottsched aufrechterhalten kein Ende!« drei Formen des Tragischen: das Tragi-
wurde. Ein Abrücken von der Ständeklausel ist so- sche der Antike, das Tragische der Moderne und das
mit Voraussetzung für den Affekt des Mitleids im Tragische bei Shakespeare, der beide Formen kom-
Lessingschen Sinne (Lessing 2003, 77 ff.). Das Mit- biniert (vgl. Szondi 1961, 31 f.). Im Gegensatz zu
leid ist als ein selbstbezogenes Mitleid zu verstehen, Schiller fokussiert Goethe in seinen dramentheoreti-
das im Zuschauer die Bereitschaft weckt, die eigenen schen Schriften nicht die implizite moralische Wir-
moralischen Positionen zu überprüfen (vgl. Wölfel kung der Tragödie auf den Zuschauer, sondern die
1971, 115 f.). Sowohl Gottsched als auch Lessing le- Darstellung der Ausweglosigkeit tragischer Situatio-
gitimieren die Darstellung des Tragischen mit des- nen auf der Bühne. Damit rückt er gänzlich vom auf-
sen unmittelbarer moralischer Intention. Das Thea- klärerischen Verständnis des Tragischen ab (vgl.
ter wird von Lessing als Schule der Humanität ver- Galle 2005, 156 f.).
standen und dient zur Erziehung des aufklärerischen Der sich mit Goethes »Prolog zur Eröffnung des
Menschen. Berliner Theaters am 26. Mai 1821« abzeichnende
Im Gegensatz zu Lessing und Gottsched definiert Paradigmenwechsel in der Rezeption des Tragischen
Friedrich Schiller die tragische Kunst über ihre äs- darf nach Profitlich jedoch keinesfalls als scharfe
thetische Wirkung als moralische Wirkung. In sei- Epochengrenze interpretiert werden. Insbesondere
nen Schriften zur Dramentheorie bestimmt er, in Schelling greift immer wieder auf Schillers Begriff
Anlehnung an Immanuel Kants Kritik der Urteils- des Erhabenen zurück (vgl. Profitlich 1999, 121 ff.).
kraft (1790) und Edmund Burkes A Philosophical Sowohl Schellings Philosophie, die das Moment des
Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime Tragischen im Zusammentreffen von Notwendigkeit
and Beautiful (1757), die Wirkung des Tragischen als bzw. Schicksal und Freiheit verortet, als auch Hegels
das Erhabene. geschichtsphilosophische Ästhetik stehen am Ende
Unter dem Erhabenen versteht Schiller die mora- einer Auseinandersetzung mit dem Tragischen, in
lische Autonomie des Menschen gegenüber den Na- welcher dieses als moralischer Impuls fungiert. In
turgesetzen (vgl. Galle 2005, 154). In seinem Aufsatz seinen Berliner Vorlesungen über die Ästhetik (1821)
»Über das Pathetische« (1793) legt er den Zweck der erweitert Hegel die Tragödientheorie mit seinem ge-
Kunst wie folgt fest: »Der letzte Zweck der Kunst ist schichtsphilosophischen Denken (vgl. Galle 2005,
die Darstellung des Übersinnlichen, und die tragi- 161). Der tragische Vorgang beruht bei ihm auf den
sche Kunst bewerkstelligt dies dadurch, dass sie uns Momenten der Selbstentzweiung und der Selbstver-
die moralische Independenz von Naturgesetzen im söhnung der sittlichen Natur, d. h. auf der Kollision
Zustand des Affekts versinnlicht« (Schiller 2009, von Pathos und dem Gegenpathos, das auf dem
69). Durch das auf der Bühne dargestellte Leiden, im »Prinzip der Besonderung« beruhe. »Das ursprüng-
Zuge dessen ein Protagonist im Konflikt mit Freiheit lich Tragische besteht nun darin, dass innerhalb sol-
und Notwendigkeit, Pflicht und Neigung steht, wird cher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich
beim Zuschauer zunächst das ästhetische Vergnü- genommen Berechtigung haben […]« (Hegel 1970,
gen, anschließend die Rührung und schließlich der 523). Im Aufeinanderprallen der dialektischen
34 I. Begriffe und Konzepte

Kräfte – unreflektierte Sittlichkeit und subjektive sie in drey Theilen (1688) zu nennen (vgl. Profitlich
Moralität – ist ihre Versöhnung angelegt. »Über der 1990, 25 ff.). Schings geht von der Spannung zwi-
blossen Furcht und tragischen Sympathie steht des- schen den verschiedenen kátharsis-Auslegungen als
halb das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie Reaktion auf die platonischen Vorwürfe gegen die
durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit ge- Tragödie aus, wobei er zwei Interpretationen der ká-
währt […]« (Hegel 1970, 526). Dadurch fallen für tharsis differenziert: kátharsis als Reinigung und ká-
Hegel das Moment der Tragik und der Dialektik zu- tharsis als Mäßigung der Leidenschaften. Die erste
sammen (vgl. Szondi 1968, 21 f.). Deutung der kátharsis steht klar in der Tradition der
Aristoteles-Auslegungen von Heinsius und Min-
turno, Letzterer bezeichnet die kátharsis erstmals als
3.1.4 Das Tragische als selbstreflexives consolatio (Trost): Der Mensch erlange durch die
Moment Gewöhnung an das Schreckliche Gefasstheit (vgl.
Schings 1971, 36). Dagegen gehen die christlichen
Die zweite Aneignungsstrategie des Tragischen be- Moralisten, Vertreter der Nürnberger Schule, welche
stimmt dieses als selbstreflexives Moment. Die von die kátharsis als Mäßigung verstehen, von einer di-
Martin Opitz geprägte Übersetzung der antiken Tra- rekten Affekt-Tugend-Beziehung aus (vgl. Schings
gödie als ›Trauerspiel‹ (vgl. Menke 2010, 27) beein- 1971, 27). Für die Bestimmung der aristotelischen
flusste die Auseinandersetzung mit dem barocken kátharsis greifen die Barockpoetiker auf die rhetori-
Drama und Theater maßgeblich. So zeichnen sich in sche Trias von docere-delectare-movere zurück und
der Rezeption des barocken Trauerspiels zwei be- kombinieren diese mit dem horazischen prodesse
deutende Perspektiven auf den komplexen Gegen- und delectare (vgl. Profitlich 1999; Schings 1971). In-
stand ab: Während die literaturgeschichtliche Per- dem auf der Bühne dem Zuschauer die Laster und
spektive den Affekt des Tragischen als consolatio, als Tugenden vor Augen geführt werden, werde dieser
Trost bzw. als Beruhigung der menschlichen Ge- durch sie belehrt (vgl. Schings 1971, 38). Durch die
fühle interpretiert, deutet die zweite Definition als Darstellung der vanitas (die Vergänglichkeit des irdi-
philosophische Perspektive – maßgeblich geprägt schen Lebens) und dem memento mori (Bewusstsein
von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trau- über die Präsenz des Todes) sollen die Leidenschaf-
erspiels (1928) –, das Tragische als Melancholie. Das ten der Zuschauer diszipliniert, bzw. immunisiert
Trauerspiel als »Spielen vor Traurigen« fungiert werden und so als stoische Selbstbehauptung sowie
nach Bettine Menke jedoch nicht bloß als historische als Beständigkeit (constantia) gegen das Schicksal
Form des Theaters, sondern als theatrales Verhalten wirken (vgl. Profitlich 1999, 26).
zur Theatralität des Schauspiels (vgl. Menke 2010, Die zweite Deutung des Tragischen als selbstrefle-
28 f.). xives Moment ist von Walter Benjamin geprägt und
Mit der Deutung des Tragischen als selbstreflexi- bezieht sich sowohl auf den Rezipienten, der als Me-
ves Moment im Sinne der consolatio versucht Hans- lancholiker »das traurige Spiel auf der Bühne« be-
Jürgen Schings in seinem Aufsatz »Consolatio Tra- trachtet (vgl. Menke 2010, 123), als auch auf das
goediae« (1971) den Affekt des Tragischen historisch Theater als Darstellungs- bzw. Kunstform (vgl.
zu kontextualisieren und fokussiert den Wider- Menke 2007, 6 f.). Rezeptionsästhetisch betrachtet
spruch zwischen christlichem Stoizismus und aristo- findet die Melancholie ihren Ausdruck durch die
telischer Tradition. Letztere war unter anderem Darstellung der historischen Situation, die als eine
durch die Aristoteles-Auslegungen Antonio Sebasti- Geschichte des Verfalls gelesen wird (vgl. Bürger
ano Minturnos (u. a. De Poeta, 1559), dem neulatei- 1974, 94 f.). Das Gefühl der Trauer resultiert aus dem
nischen Aristoteles-Kommentator von Daniel Hein- Anblick der Maskenhaftigkeit der Welt und ist ge-
sius, und Robortellos In librum Aristotelis De arte po- mäß Menke als Dispositiv zu verstehen. Dieses wie-
etica explicationes (1548) geprägt (vgl. Schings 1971, derum markiert den engen Zusammenhang vom
20 ff.). Als wichtige Barockpoetiken sind Opitz’ Buch Begriff der Melancholie des Zuschauers und dem
von der deutschen Poeterey (1624), Sigmund von Bir- Begriff der Allegorie (vgl. Menke 2010, 131), der den
kens Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst / oder produktionsästhetischen Aspekt des Tragischen im
Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy (1679), Georg Sinne der künstlerischen Werkkonstruktion (vgl.
Philipp Harsdörffers Poetischer Trichter (1648) und Bürger 1974, 94 f.) beleuchtet. Peter Bürger schlüs-
Albrecht Christian Rotths Vollständige Deutsche Poe- selt in seiner Theorie der Avantgarde (1974) den Be-
3. Wirkungskategorien 35

griff der Allegorie als Bruchstück gegenüber einem hat (Wellbery 2007, 204), basiert auf der Gegenüber-
organischen Symbol auf, wobei diesem erst durch stellung zweier Kunstprinzipien: dem Apollinischen
das Zusammenfügen der isolierten Realitätsele- als der »Kunst des Bildners« und dem Dionysischen
mente ein Sinn verliehen wird (vgl. Bürger 1974, als der »Kunst der Musik« (Nietzsche 2004, 19).
93 f.). Benjamins Begriff der Allegorie prägt das Ver- Während das Apollinische die Funktion des Ein-
ständnis der avantgardistischen Montage, die als grenzens einnimmt, ist das Dionysische Ausdruck
Fragment dem organischen Kunstwerk, d. h. einem der Überschreitung bzw. Aufhebung der Grenzen
in sich geschlossenen Werk (vgl. Spörl 2004, 126), (vgl. Wellbery 2007, 205 f.). Szondi deutet auf die
gegenübersteht (vgl. Bürger 1974, 95). In der Mon- Ähnlichkeiten dieser beiden Kunstprinzipien mit
tage wird die Verfahrensweise des Allegorikers als Schopenhauers Begriffen Vorstellung und Wille
Melancholiker ausgedrückt, wobei unter Melancho- (vgl. Szondi 1961, 47). Für Nietzsche manifestiert
lie nicht die Melancholie des Zuschauers gegenüber sich der tragische Vorgang in der Zerstückelung des
dem Gezeigten, sondern die Fixierung auf das Ein- Dionysos – »dem ursprünglich Einen« – im Mythos.
zelne – auf die Bruchstücke der Wirklichkeit – als Indem der dionysische Zustand durch das Prinzip
Kunstprinzip verstanden wird (vgl. Bürger 1974, 96). des Apollinischen in Szene gesetzt wird, wird nach
Benjamin untersucht in seiner Reflexion über das Szondi die »Gegenüberstellung von Individuation« –
barocke Trauerspiel zum einen die Potentiale des der Zerstückelung im Mythos – und dem »ursprüng-
theatralen Spiels gegenüber dem poetischen Text lich Einen« objektiviert. Im Gegensatz zu Schopen-
(vgl. Menke 2007, 7) und leitet zum andern aus sei- hauers Resignation gehe das Tragische durch die
ner Analyse Begriffe für eine Ästhetik der Moderne Zerstückelung in der Individuation als das »Unzer-
ab (vgl. Bürger 1974, 92 ff.). störbar-Mächtige« hervor und spende dadurch den
»metaphysischen Trost« (Szondi 1961, 47). Somit
kann für Nietzsche das Gefühl der Unlust gegenüber
3.1.5 Das Tragische als anthropologische der Welt, die Schopenhauersche Resignation, durch
Konstante das Spiel bekämpft werden, »denn nur als aestheti-
sches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig
Die dritte Aneignungsstrategie bestimmt das Tragi- gerechtfertigt« (Nietzsche 2004, 41). Mit dieser Be-
sche als anthropologische Konstante, d. h. als ein Le- stimmung wendet Nietzsche zum einen die negative
bensphänomen. Diese Deutung des Tragischen ist Deutung der Daseinskontingenz, d. h. den Pessimis-
besonders durch die Philosophie Arthur Schopen- mus der griechischen bzw. christlichen Philosophie,
hauers und Friedrich Nietzsches gekennzeichnet. in ein bejahendes Lebensgefühl um (vgl. Wellbery
Wenn Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vor- 2007, 201) und verlagert zum anderen Schopenhau-
stellung (1819) die Tragödie als Plattform für die ers Metaphysik in die Ästhetik (vgl. Szondi 1961,
Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens be- 46). Neben der Umkehrung des Pessimismus in ein
zeichnet, dann ermöglicht die tragische Bühne den lebenssprühendes Bejahen, kann auf eine zweite
Einblick des Menschen in das Wesen der Welt. Der Funktion des Tragischen bei Nietzsche hingewiesen
Mensch verneint angesichts »der wechselseitigen werden: Die Darstellung einer Urwirklichkeit, einer
Zerstörung von Natur- und Menschengeschichte« archaischen Realität (vgl. Galle 2005, 168). Im Ge-
seinen eigenen Lebenswillen (Galle 2005, 166 f.). gensatz zu Schelling und Hegel läuft das Tragische
Galle verweist darauf, dass Schopenhauer mit dieser bei Nietzsche nicht auf eine perspektivierte Versöh-
Deutung des Tragischen eine neue Form der káthar- nung aus, sondern verdeutlicht eben die »vorzivilisa-
sis konzipiert, in der die Erkenntnis des Menschen torische Einheit von Leiden und Vitalität« (Galle
zur Resignation führt (vgl. Galle 2005, 166). Obwohl 2005, 167).
Schopenhauers Verständnis der Tragödie mit dieser Im Hinblick auf das Tragische als Wirkungskate-
Deutung der kátharsis durchaus wirkungsästheti- gorie wird von Dramatikern im 20. Jahrhundert
sche Aspekte der Tragödie thematisiert, steht das als (und im Gefolge auch von der Forschungsliteratur)
urmenschlich verstandende Gefühl der Resignation v. a. die Unmöglichkeit bzw. Unangemessenheit der
im Zentrum. Tragödie vermerkt. So stellt Bertolt Brecht schon
Nietzsches Theorie des Tragischen in Die Geburt 1930 in »Voraussetzung der ›Tragik‹« fest, dass die
der Tragödie (1872), die weder einen Bezug zu in- Tragik bzw. die Tragödie der Bourgeoisie vorbehal-
haltlichen noch zu formalen Aspekten der Tragödie ten bleibt, denn Tragik setze eine bestimmte Welt-
36 I. Begriffe und Konzepte

ordnung voraus, die angesichts der modernisierten Humanistische Tradition und aufklärerische Erkenntnis-
Welt nicht mehr möglich sei (vgl. Galle 2005, 170). kritik. Tübingen 2003.
Menke, Bettine: Das Trauerspiel-Buch. Bielefeld 2010.
So verliert auch Hegels Basistheorem der tragischen Menke, Christoph: Tragödie im Sittlichen. Frankfurt a. M.
Kollision auf der Bühne an Gültigkeit (Lehmann 1996.
2002). Nach 1945 – vor dem Hintergrund der histo- Meyer-Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturge-
rischen Erfahrung von Shoah, Weltkrieg und einer schichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005.
geopolitischen Spannungssituation, die eine Zerstö- Nicolai, Friedrich: »Abhandlung vom Trauerspiele«. In: Bi-
bliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste,
rung des Planeten in zynischer Rationalität bedachte Bd. 1. Hg. v. Friedrich Nicolai u. Moses Mendelssohn,
– schien die Tragödie als Form der Sinndeutung un- Leipzig 1757, 17–68.
möglich. Stattdessen plädierte etwa Friedrich Dür- Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem
renmatt in Theaterprobleme (1955) für eine konse- Geiste der Musik [1993]. Stuttgart 2004
Platon: Politeia, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. v.
quente Hinwendung zur Komödie. Im Gegensatz Burghard König. Hamburg 2006.
dazu greift etwa Heiner Müller in seinen Versuchen Profitlich, Ulrich: Tragödientheorie. Texte und Kommentare
einer dramatischen Darstellung von Geschichte auf vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek b. Hamburg
Walter Benjamins Geschichtsphilosophie zurück 1999.
(vgl. Heeg 2005, 367). Eine Rückgewinnung der Tra- Schadewaldt, Wolfgang: »Furcht und Mitleid? Zur Deu-
tung des Aristotelischen Tragödiensatzes«. In: Ders.: An-
gödie als Form bzw eine Rehabilitierung des Tragi- tike und Gegenwart. Über die Tragödie. München 1966.
schen bleibt programmatisch aus. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Kunst.
Darmstadt 1960.
Schiller, Friedrich: Vom Pathetischen und Erhabenen.
Schriften zur Dramentheorie. Stuttgart 2009.
Literatur Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über dramatische
Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch [1982]. Übers. u. Kunst und Literatur. Stuttgart u. a. 1966.
hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994. Schings, Hans-Jürgen: »Consolatio Tragoediae. Zur Theo-
Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels rie des barocken Trauerspiels«. In: Grimm, Reinhold
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Burkert, Walter: »Griechische Tragödie und Opferritual«. 1980, 19–56.
In: Ders.: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung.
den Griechen. Berlin 1990. Wiesbaden 1972.
Burke, Edmund: Philosophische Untersuchungen über den Spörl, Uwe: Basislexikon der Literaturwissenschaft [2004].
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[1984]. Hg. v. Werner Strube, Hamburg 2011. Szondi, Peter: Versuch über das Tragische [1956]. Frankfurt
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde [1974]. Frankfurt a.M 1964.
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Hg. v. Louis Forestier, Paris 1963. (Hg.): Tragödie. Trauerspiel. Spektakel. Berlin 2007, 199–
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Diderot, Denis: Oeuvres esthétiques. Hg. v. Paul Vernière, Gottsched bis Lessing«. In: Grimm, Reinhold (Hg.):
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thetik. Frankfurt a. M.1970.
Hölderlin, Friedrich: Gesänge. Die Trauerspiele des Sophok-
les. Nachtgesänge. In: Sämtliche Werke, Briefe und Doku-
mente. Bd. 10. Hg. v. Dietrich E. Sattler. München 2004. 3.2 Das Komische
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Heiner F.
Klemme, Hamburg 2009.
Latacz, Joachim: Einführung in die griechische Tragödie. Obgleich das Tragische den Leit- und in vielerlei
Göttingen 1993. Hinsicht auch den Zieldiskurs der westlichen Thea-
Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. ter- und Dramentheorie bestimmt, ist das Komische
Stuttgart 2003.
Look, Reinhard: »das Tragische«. In: Philosophisches Wör-
sowohl in historischer als auch in theaterpraktischer
terbuch. Bd. 10. Basel 1998. Sicht von vergleichbarer zentraler Bedeutung.
Martinec, Thomas: Lessings Theorie der Tragödienwirkung. Gleichwohl fehlt ihm bisweilen eine systematische,
3. Wirkungskategorien 37

theoretische Nobilitierung. So beginnt der Diskurs sondern auch hinsichtlich der Form der Darstellung
um das Komische mit einer für die weitere Theorie- bzw. der Haltung des Publikums: Das Komische
geschichte symptomatischen Leerstelle, nämlich muss ›schmerzfrei‹ sein, denn ansonsten käme das
dem legendären Fehlen der aristotelischen Schrift dargestellte »Verderben« in seiner Wirkung ja dem
zur Komödie. So ist die Dramentheorie des Komi- Tragischen gleich. Dieses »Unschädlichkeitspostu-
schen, das etymologisch eindeutig aus der Komödie lat« (Schwind 2001, 333) bestimmt das Komische als
hervorgeht (Schwind 2001, 332), auf einige wenige Phänomen der Oberfläche.
Anmerkungen in der Poetik angewiesen, die v. a. seit Die Flut der Komiktheorien, die sich bemerkens-
der Renaissance systematisch weiterentwickelt und werterweise nicht zu nachhaltigen Theorietraditio-
zu einer grundlegenden, literarischen Form verbun- nen verdichten, sondern oftmals den Gestus einer
den wurden. Neuere Theorien, v. a. im 20. Jahrhun- Neustiftung begrifflicher Ordnung bemühen (Grei-
dert, bestimmen das Komische hingegen weniger ner 2006, 86), lässt sich in einer ersten Sichtung nach
aus gattungs- oder ästhetiktheoretischen Überle- der Funktion des Lachens sortieren: So findet sich
gungen, sondern stellen anthropologische Erwägun- auf der einen Seite die Betonung des disziplinieren-
gen ins Zentrum. Das Lachen erscheint hier als con- den Moments des Verlachens, auf der anderen Seite
ditio humana schlechthin, das in ästhetischen Kon- die Idee einer »Komik der Heraufsetzung« (Greiner
texten nur unterschiedlich gerahmt wird. 2006, 89). In dieser Gegenüberstellung tritt beson-
Klaus Schwind hat in seinem Überblick darauf ders die soziale Dimension von Lachen und Komik
verwiesen, dass die etymologische Wurzel des Be- hervor, mithin also jenes Moment, das im Lachen
griffs zwar eindeutig in der griechischen Antike des Theaters gerade deshalb von so großer Bedeu-
liege, dass aber erst in einer Terenz-Übersetzung von tung ist, weil es dem sozialen Charakter der Kunst-
1499 das deutsche Wort komisch nachweisbar ist, das form Theater entspricht.
sich aber nicht früher als nach 1740 aus dem engeren Die Komik der Herabsetzung ist vornehmlich als
Verwendungskontext der Komödie löst (Schwind ein Moment sozialer Affirmation und Disziplinie-
2001, 337 f.). »Im Deutschen wandert der Begriff in rung zu sehen (Klotz 1987); Bernhard Greiner be-
der Mitte des 18. Jahrhunderts innerhalb einer Zeit- schreibt folgenden Mechanismus:
spanne von nur wenigen Jahrzehnten als eine Wahr-
»Der komische Held ist […] nicht an sich komisch, son-
nehmungserfahrung aus Literatur und Theater, aus
dern vor einem Horizont bestimmter Erwartungen oder
einem explizit künstlerischen Bereich in lebenswelt- Normen. […] Die kognitive Funktion der Komik der Ge-
liche Wahrnehmungsbereiche ein« (Schwind 2001, genbildlichkeit bzw. der Herabsetzung kann so darin er-
333). kannt werden, Normen zur Debatte zu stellen, zu verspot-
Im Folgenden entspann sich der Versuch einer ten bzw. zu problematisieren, was in destruktiver wie affir-
mativer Hinsicht geschehen kann.« (Greiner 2006, 89)
begrifflichen Differenzierung gegen das als pejorativ
begriffene Lächerliche; im Licht neuerer Theorien Zentral an Greiners Bestimmung ist zum einen das
aber, die das anthropologische Momentum betonen, Moment des Vergleichs bzw. der Gegenbildlichkeit,
erscheint dies als eine nur graduelle Unterscheidung. das sich in vielen Komödien bspw. als eindeutige Ge-
Für die theoretische Diskussion sind die wenigen genüberstellung sozialer Gruppen wiederfindet, wie
Anmerkungen zur Komödie in der Poetik eine zent- etwa ›Stadt‹ vs. ›Land‹ oder ›jung‹ vs. ›alt‹. Wichtig
rale Referenz; so führt Aristoteles aus: ist aber auch, dass Greiner den wertungsoffenen
Charakter des Lachens betont: So ist das Lachen kei-
»Die Komödie ist […] Nachahmung von schlechteren
neswegs, wie mithin behauptet, per se subversiv und
Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von
Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche emanzipatorisch, sondern kann – gerade in populä-
am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit ren Formen – auch eindeutig affirmativ sein. Gleich-
Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz wohl, und dies lässt sich an unterschiedlichen For-
und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche men der dramaturgischen Absicherung erkennen,
Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck
von Schmerz.« (Poet. 1449a) ist das Lachen in seiner Ereignishaftigkeit immer
auch potenziell mehrdeutig.
Aristoteles’ Definition trägt deutlich die Züge der Henri Bergson, dessen Studie Le Rire (1900) zu
Abgrenzung gegen die Tragödie: Nicht nur hinsicht- den einflussreichsten Komiktheorien des 20. Jahr-
lich des Personals – eine Forderung, die sich später hunderts gezählt werden kann, betont denn auch
als Ständeklausel (vgl. Kap. I.2.5) verfestigen sollte –, den sozialen Charakter des Lachens, wenn er kon-
38 I. Begriffe und Konzepte

statiert: »Unser Lachen ist stets das Lachen einer auffällig, wenn nach Bachtin für diesen Körper auch
Gruppe« (Bergson, 1948, 9). Als »soziale Geste« die scheinbar unhintergehbare Grenze des Todes
(Bergson 1948, 16) trägt es den Charakter des Tadels sich verschiebt:
oder der Strafe gegen eine »mechanische Starrheit, »[I]m grotesken Körper [wird] durch den Tod nichts We-
da wo wir geistige Rührigkeit und Gelenkigkeit for- sentliches beendet. Der Tod betrifft ja nicht den kollektiven
dern« (Bergson 1948, 11). Körper, im Gegenteil, dieser wird in einer neuen Genera-
Diese Starrheit kann, so Bergson, sowohl äußer- tion erneuert. Die Ereignisse des grotesken Körpers entwi-
ckeln sich immer an der Grenze zwischen zwei Körpern,
lich-physischer Natur sein, aber auch auf bestimmte
quasi in ihrem Schnittpunkt: der eine Körper trägt seinen
Charaktereigenschaften zielen. Oftmals wird dies Tod bei, der andere seine Geburt, sie sind zusammenge-
schon in sprechenden Namen der Figuren deutlich, schlossen zu einem zweileibigen Motiv.« (Bachtin 1987,
die diese wie eine Maske vor sich tragen. So lässt sich 363)
die Typenkomödie in ihren unterschiedlichen histo- Diese Zweileibigkeit markiert den radikalen Gegen-
rischen Ausprägungen wie ein Tugend- bzw. Laster- entwurf zum neuzeitlichen Körperverständnis. Die
spiegel der jeweiligen Zeit lesen. Diese moralische mit diesem Körper verbundene Form der Komik un-
bzw. gruppenkonstituierende Funktion kann die Ko- terscheidet sich nicht nur graduell in der Wertung der
mik aber nur erfüllen, wenn das Unschädlichkeits- komischen Figur, sie ist von einer kategorial entge-
postulat erfüllt wird, so dass der Betrachter der ko- gengesetzten Perspektive auf das Menschsein geprägt,
mischen Figur und ihrem Schicksal gegenüber un- zielt das eine Lachen auf die Bestätigung einer histo-
empfindlich bleibt. risch-sozialen Norm, bekräftigt das andere Lachen
Basiert die Komik der Herabsetzung auf einer die gemeinsame vorzivilisatorische Kreatürlichkeit.
klaren Grenzziehung zwischen der lachenden Dies wird an der unterschiedlichen Fassung des
Gruppe und ihrem ausgesonderten Objekt, gründet Unschädlichkeitspostulats deutlich: Der karneva-
die Komik der Heraufsetzung in einem »Freisetzen leske Körper bringt den Zuschauer nicht in eine –
und Bejahen unterdrückter Kreatürlichkeit« (Grei- für die Eigengruppe affirmative – Distanz, sondern
ner 2006, 89). er wird vielmehr lachend Teil jener Unbegrenztheit,
Das Zentrum dieser auf das Lachen als vorzivili- die das Kreatürliche als unhistorisches, mithin als
satorischer conditio humana zielenden Theorietradi- ›ewiges‹ Prinzip alles Lebendigen begreift. In der
tion ist Michail Bachtins Arbeit zum karnevalisti- »endlosen Kette körperlichen Lebens« (Bachtin,
schen Körper (Bachtin 1987). Bachtin bestimmt die- 360) tritt der mögliche Schmerz des Einzelnen zu-
sen Körper in Abgrenzung gegen das Körperbild, rück zugunsten des im Lachen bekräftigten Prinzips
das sich mit der Frühen Neuzeit entwickelt: »Der alles Lebendigen. Die Zerstückelungen und Höllen-
groteske Körper ist […] ein werdender. Er ist nie fertig fahrten des Hanswurst (und seiner Verwandten)
und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begrif- agierten szenisch dieses Konzept aus (Kreuder
fen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper; er 2010). Rudolf Münz hat in diesen Figuren, die deut-
verschlingt die Welt und läßt sich von ihr verschlingen liche Züge von trickster-Figuren aufweisen, einen
[…]« (Bachtin 1987, 358). In seiner Unabgegrenzt- allgemeinen Kulturmechanismus gesehen, den er als
heit öffnet sich der groteske Körper für andere Kör- Harlekin-Prinzip bezeichnet hat (Münz 1998).
per und schließlich – in der Betonung seiner Materi- In der Differenz dieser beiden theoretischen Mo-
alität – auch dem Kosmos gegenüber, als Teil dessen delle wird auch die Schwierigkeit einer Gattungsthe-
er verstanden wird (Bachtin 1987, 360). In diesem orie der Komödie erkennbar, denn in den histori-
Sinne ist er ein kollektiver Körper; das Lachen über schen Phänomen finden sich oftmals beide Typen
ihn erzeugt keine Abgrenzung, sondern ist die Aner- nebeneinander bzw. in kaum unterscheidbarer Ver-
kenntnis einer im Zivilisationsprozess verdrängten windung: Man denke nur an Shakespeares Falstaff,
eigenen Kreatürlichkeit. So versteht Bachtin ihn der zweifelsohne über einen im Bachtinschen Sinne
denn auch nicht als sozialen Körper – tatsächlich grotesken Körper verfügt, gleichzeitig aber in die
liegt seine Existenz jeglicher Sozialität voraus –, son- moralisch perspektivierte Disziplin eines Dramas
dern als leiblichen Körper. Seine Leiblichkeit ist aber eingebunden ist. Die Auseinandersetzung Gott-
keine individuelle, sondern eine gattungsmäßige, die scheds mit dem Stegreiftheater des 18. Jahrhunderts
alle Menschen bzw. alles Lebendige miteinander ver- (vgl. Kap. III.6 und III.9) offenbart sich in diesem
bindet. Diese Offenheit gegenüber bzw. dieses Ver- Sinne als die Verhandlung zwischen einer sozialisie-
wobensein mit der materiellen Welt wird besonders renden und disziplinierenden Funktion von Theater
3. Wirkungskategorien 39

im Zeichen der Komik. Bernhard Greiner hat auf die Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler
systematische Dimension dieser Auseinanderset- Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar 2005. 170–75.
Kreuder, Friedemann: Spielräume der Identität in Theater-
zung hingewiesen, wenn er die Komödie als genui- formen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010.
nes Theaterereignis in der Spannung zwischen Intel- Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Zur Historiogra-
lekt und körperlicher Erfahrung bestimmt (Greiner phie von Theatralitätsgefügen. Berlin 1998.
2006, 87). Aus diesem Blickwinkel erschließt sich Schwind, Klaus: »Komisch«. In: Barck, Karlheinz u. a.
auch die Gattungsdifferenz nochmals neu: (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart/Wei-
mar 2005, 332–384.
»Die Tragödie unterwirft als eine Todesmaschinerie den Peter W. Marx
Körper dem Gebot, Zeichen zu sein für die Sinnordnung,
die sie (im Untergang des Helden) setzt – als Vorgang auf
der Handlungsebene wie der des Diskurses, d.i. des Thea-
tergeschehens. Demgegenüber macht sich in der Komödie
auf beiden Ebenen das Unterworfene, der Körper mit sei-
nem Lustanspruch – der dargestellte Körper wie der reale 3.3. Das Wunderbare
des Schauspielers  –, an der unterwerfenden Macht, den
Ordnungs- und Sinnsystemen, gerade geltend.« (Greiner Im Katalog der ästhetischen Kategorien nimmt das
2006, 6) Wunderbare eine Sonderstellung ein; die Randstän-
Die Frage nach der Widerständigkeit des Körperli- digkeit bzw. der Status des Anachronismus, der es
chen gegen seine Vereinnahmung korrespondiert aus heutiger Perspektive umgibt, verdankt sich v. a.
mit der Denkfigur der Spannung von Textualität vs. der aufklärerischen Diskussion des 18. Jahrhun-
Performativität. Führte man diese Überlegungen derts, die vornehmlich das Schöne in das Zentrum
weiter, so wäre darüber hinaus auch nach dem Ver- der Kunstbetrachtung stellt.
hältnis zu fragen, das zwischen einer affirmativen So komplex und wechselvoll die Geschichte des
Grundhaltung der Komödie und ihrer Ereignishaf- Wunderbaren ist (vgl. als Überblick Barck 2005), so
tigkeit besteht. Ein weiteres Desiderat einer Theorie widersprüchlich ist sie auch im Hinblick auf Drama
des Komischen ist die Einbeziehung medialer Diffe- bzw. Theater: Während seit dem 18. Jahrhundert das
renzen über das Verhältnis von Drama und Theater Schöne zur Leit- und Zielkategorie der Kunstbe-
hinaus auf Phänomene wie Film, Comic, digitale trachtung wird, so ist das Tragische das Zentrum der
Spiele etc. Bedenkt man die zwar unterschiedlich ge- poetologischen Diskussion des Dramas. Gleichwohl
fasste, aber in beiden Modellen wichtige Stellung des verdient das Wunderbare als Teil- bzw. Schattenge-
Unschädlichkeitspostulats, so ist zu fragen, inwie- schichte eine Betrachtung, deren systematische Auf-
fern sich das Komische in unterschiedlichen media- arbeitung aber immer noch als Desiderat der For-
len Rahmungen verändert, etwa wenn die körperli- schung zu betrachten ist.
che Präsenz eines Theaterakteurs durch das abstrak- Die theoretische Unschärfe der Kategorie des
tere grafische oder fotografische Erscheinen des Wunderbaren gründet nicht zuletzt in der Vieldeu-
Akteurs ersetzt wird. Aspekte wie etwa Gewalt/Leid tigkeit des Begriffs, der zum einen durch alltags-
und Komik, wie sie bspw. der Slap-Stick schon im sprachliche (Teil-)Synonyme überlagert wird und im
Namen führt, erhalten dann eine neue Akzentuie- Laufe der Zeit signifikante semantische Verschie-
rung, und Aspekte einer historisierenden Annähe- bungen durchläuft (vgl. zur Wortgeschichte Stahl
rung und einer anthropologischen Perspektive ver- 1975, 1–24). So ist der Ausdruck ›wunderbar‹ im
binden sich zu einer gemeinsamen Fragestellung. Deutschen überhaupt erst ab 1500 gebräuchlich, be-
wegt sich aber bis ins 19. Jahrhundert in einem se-
mantischen Feld, das auch Neben- oder Teilbedeu-
Literatur tungen wie ›wunderlich‹, ›seltsam‹ oder ›sonderbar‹
umfasst. Insgesamt ist für die Wortentwicklung bis
Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als
Gegenkultur [1965]. Frankfurt a. M. 1987. ins 19. Jahrhundert aber v. a. die Loslösung des Be-
Bergson, Henri: Das Lachen. [1900]. Meisen a. Glan 1948. griffs aus einem zunächst religiös definierten Feld
Greiner, Bernhard: Die Komödie. Eine theatralische Sen- hin zur ästhetischen Betrachtung zu verzeichnen:
dung: Grundlagen und Interpretationen. Tübingen/Basel »Bedeutungsgeschichtlich ergab sich eine fortschrei-
2
2006.
Klotz, Volker: Bürgerliches Lachtheater. Komödie – Posse –
tende Säkularisierung des originär religiös bezoge-
Schwank – Operette. Reinbek 1987. nen, d. h. der Sphäre des Numinosen entstammen-
Kreuder, Friedemann: »Komisches« In: Fischer-Lichte, den Wortes. […] Anfangs- und Endpunkt der wort-
40 I. Begriffe und Konzepte

geschichtlichen Entwicklung stehen somit fest. Sie scheinlichkeit hinreichend fand« (Stahl 1975, 108).
reicht – salopp formuliert – von der Bezeichnung Gottscheds strategische Legitimation des Wun-
des Messias bis hin zum Titel eines Comic-Helden« derbaren verbindet sich mit einer symptomatischen
(Stahl 1975, 15). Offenheit der Kategorie, denn die semantischen Va-
Karlheinz Barck weist auf einen weiteren Dis- riationen verbinden sich mit der Erkenntnis, dass
kursstrang hin, wenn er mit Referenz auf Alexan- der Begriff keineswegs – unserem heutigen Sprach-
der Gottlieb Baumgarten den Begriff der thaumat- gebrauch durchaus widersprechend – vornehmlich
urgia aesthetica als Verbindung von Kunst und positiv zu verstehen ist: »Sowohl das Gute als das
Wunderbarem bestimmt. In Georg Friedrich Mei- Böse kann wunderbar werden, wenn es nur nicht
ers Übersetzung wird dieser Zusammenhang als was Gemeines und Alltägliches, sondern was Unge-
Wechselverhältnis von Neugier, Novität und Wun- meines und Seltsames ist; imgleichen wenn es von
derbarem offenbar: »Die Kunst, das Neue und großer Erheblichkeit zu sein scheint, welches aus
Wunderbare in schönen Gedanken zu erhalten, dem Einflusse zu beurteilen ist, den es in die Welt
und die Neubegierde samt der Verwunderung zu hat« (Gottsched 1972, 119).
erwecken, wird die aesthetische Thaumaturgie ge- Anders als im Diskurs um das Schöne konstruiert
nannt (Thaumaturgia aesthetica)« (Meier 1754, der Diskurs des Wunderbaren keine innere, stabile
332 f.). Verbindung zu einer ethischen Wertigkeit. Im Ge-
Für die Poetiken des 18. Jahrhunderts wird das genteil, als Wirkungskategorie ist gerade die Ambi-
Erregen der Neugier, mithin also das Sensationelle valenz ein konstitutives Markenzeichen des Wun-
als Teil der Kunst, problematisch. Beispielhaft kann derbaren. Damit steht es für das 18. Jahrhundert in
man dies an Johann Christoph Gottscheds Critischer Nachbarschaft zum Begriff des Erhabenen (Subli-
Dichtkunst (1730) erkennen, wenn er zunächst ein- men), mit dem es in den zeitgenössischen Diskussio-
mal das strategische Kalkül des Wunderbaren vertei- nen auch zunehmend zusammenfällt. So schreibt
digt: »Daher mußten auch die Poeten auf etwas Un- Carsten Zelle mit Blick auf den Schweizer Kunsttheo-
gemeines denken, dadurch sie die Leute an sich zie- retiker Johann Jacob Bodmer: »Die Wirkung des
hen, einnehmen und gleichsam bezaubern könnten. Schönen ist ein ›Ergötzen‹, ein reines Vergnügen,
Der Grund dieser Bemühung steckt in der menschli- das aus dem intellektuellen Vergleich von Urbild
chen Neugierigkeit; und die Wirkungen haben’s ge- und Abbild entspringt. Das Erhabene dagegen rührt
wiesen, daß sie nicht vergebens gewesen« (Gott- das ›große Herz‹ mit einer gemischten Empfindung
sched 1972, 104). – einem Wechselspiel von Schrecken und Entzü-
Das Wunderbare ist für Gottsched also ein reines cken« (Zelle 1991, 68).
Mittel zum Zweck, allerdings eines, das wohl dosiert In dieser wirkungsästhetischen Perspektive fallen
werden muss, weil es per definitionem seiner aufklä- nicht nur das Wunderbare und das Erhabene zusam-
rerischen Hauptforderung nach der Wahrschein- men (Zelle 1991, 69), sondern Ersteres verlagert sich
lichkeit der Dichtung entgegenläuft. So stellt Gott- auch von einer ästhetischen Erfahrung am Kunst-
sched die paradoxe Forderung auf, das Wunderbare werk, wie es bei Baumgarten definiert war, hin zu ei-
dürfe nicht völlig unplausibel sein, wenn es die Dich- ner Erfahrung, die vornehmlich an der Natur zu ma-
tung als ganze nicht gefährden soll: »Das Seltsame in chen ist – ähnlich wie Kant dies in der Kritik der Ur-
allen Arten muß noch natürlich und plausibel blei- teilskraft für das Erhabene formuliert.
ben, wenn es die Bewunderung, nicht aber ein Ge- Diese Entwicklung kann einen Hinweis darauf
lächter erwecken soll« (Gottsched 1972, 122). liefern, warum das Wunderbare in den Ästhetiktheo-
Für Karl-Heinz Stahl ist diese Widersprüchlich- rien seit dem 18. Jahrhundert so sehr in den Hinter-
keit ein Hinweis darauf, dass man Gottscheds Forde- grund tritt: Nicht nur, weil der Rationalismus der
rung nach Wahrscheinlichkeit nicht im Sinne eines Aufklärung sich gegen jeglichen ›Wunderglauben‹
ästhetischen Realismus, sondern eher im Sinne in- und das naive ›Staunen‹ stellte, sondern auch weil
nerer Kohärenz zu verstehen sei: »Der im Wunder- das Wunderbare als Erfahrungsmoment weniger in
baren offenkundigen Contradictio in adjecto wurde der Kunst als eben in der Naturerfahrung verortet
von Gottsched die Widersprüchlichkeit wenn nicht wurde. Erst im Kontext der Diskussionen um post-
genommen, so doch erheblich gemildert, weil er die moderne Ästhetik konnte das Erhabene, bezeich-
Wahrscheinlichkeit publikumsbezogen interpre- nenderweise aber nicht das Wunderbare, eine Re-
tierte und darüber hinaus eine hypothetische Wahr- naissance erfahren.
3. Wirkungskategorien 41

Die Verschiebung von der Kunst zur Natur folgt rae et Artis« (»Theater der Natur und Kunst«; vgl.
aber einem argumentativen Bogen, der sich schon Bredekamp 2004, 239) entwirft, das in einer bewusst
bei Gottsched vorgezeichnet findet und der für das unsortierten Mischung unterschiedlichste Kuriosa
Verhältnis von Wunderbarem und Drama bzw. vereint: technische Errungenschaften wie Otto von
Theater spezifisch ist, denn die Sichtbarkeit der sze- Guerickes Kugeln, anatomische Modelle, Fernrohre,
nischen Darstellung birgt eine besondere Gefahr: Schattentheater etc. Im Zentrum dieser Idee steht
Gottsched warnt – mit Referenz auf Horaz – davor, die »Verbindung des poetisch Wunderbaren mit
dass das Wunderbare gerade auf der Bühne immer dem technisch Wunderbaren als einer Kunst der Er-
im Ruch des Unwahrscheinlichen sei. Auch Aristo- findung« (Barck 2005, 746). Hier ist das Wunder-
teles hatte diese Problematik in seiner Poetik ausge- bare Zentrum und Produkt einer szenischen, per-
führt, wenn er schreibt: »Indes, das Ungereimte, die formativen Praxis, die sich fast gänzlich von einer
Hauptquelle des Wunderbaren, paßt besser zum poetisch-literarischen Vorstellung gelöst hat. Das
Epos, weil man den Handelnden nicht vor Augen Wunderbare wird gerade nicht durch das Drama-
hat« (Poet. 1460a). tische erzeugt, dieses kann, so Leibniz, allenfalls zu-
Für Gottsched kulminiert dieses Momentum des fällig hinzutreten: »Die Aufführung könnte jeder-
Sensationellen, des Effektheischenden in der Oper, zeit mit einigen Geschichten oder Komödien ver-
die für ihn zum Inbegriff einer auf blinde Wirkung mischt werden« (Leibniz zit. n. Bredekamp 2004,
setzenden Kunstform wird: 239).
»Weil aber seichte Geister und ungelehrte Versmacher Damit wird erkennbar, wie die Spannung, die sich
dazu nicht fähig sind, daher kommt es, daß man uns anstatt in Gottscheds Polemik gegen die »Opern voller Ma-
des wahrhaftig Wunderbaren mit dem falschen aufhält, an- schinen und Zaubereien« (Gottsched 1972, 120)
statt vernünftiger Tragödien ungereimte Opern voller Ma- Bahn bricht, durch das Interesse an Naturwissen-
schinen und Zaubereien schreibet, die der Natur und wah-
schaft und Technik verstärkt wird. Gleichwohl findet
ren Hoheit der Poesie zuweilen nicht ähnlicher sind als die
geputzten Marionetten, lebendigen Menschen. Solche Pup- sich das Wunderbare auch in der Bühnenpraxis des
penwerke werden auch von Kindern und Unverständigen 18. Jahrhunderts, allerdings in der benannten symp-
als erstaunenswürdige Meisterstücke bewundert und im tomatischen Verschränkung von ethischer Ambiva-
Werte gehalten. Vernünftige Leute aber können sie ohne lenz und dem Maschinell-Spektakulären. So hat
Ekel und Gelächter nicht erblicken und würden lieber eine
Dorfschenke voll besoffener Bauren in ihrer natürlichen bspw. Friedemann Kreuder mit Blick auf die
Art handeln und reden als eine unvernünftige Haupt- und »Höllenfahrten«-Stücke des Josef Felix Kurz-Bernar-
Staatsaktion solcher Oper-Marionetten spielen sehen. don das Zusammenwirken von nicht-wahrscheinli-
(Gottsched 1972, 120 f.) cher Handlung, szenischen Effekten und einem pro-
Gottscheds Verdikt gegen die Oper stellt einen grammatisch nicht-bürgerlichen Identitätsentwurf
zentralen Zusammenhang des Wunderbaren heraus, herausgearbeitet (Kreuder 2010). Die große Bedeu-
nämlich die Verbindung mit dem spektakulären Ef- tung des Maschinell-Sensationellen schlägt sich
fekt, der für Gottsched v. a. in der (überbordenden) auch in der gebräuchlichen Gattungsbezeichnung
Verwendung der Bühnenmaschinerie zum Aus- Maschinenkomödie nieder (Rommel 1935).
druck kommt. Es ist im Wortsinn der deus ex ma- Im 19. Jahrhundert findet sich das Wunderbare,
china, in dem das Religiös-Numinose des Wunder- auch wenn es in den ästhetischen Theorien kaum
baren mit dem Sensationellen amalgamiert ist. noch vorkommt, in Verbindung mit dem
Nach Barck können Spätrenaissance und Barock Schrecken/»Wunderlichen« in unterschiedlichen
als »Jahrhundert des Wunderbaren« (Barck 2005, populären Theaterformen, so bspw. im englischen
737) gelten. Damit ist auch die große Nähe zwischen Melodrama (Shepherd 1999), den Feerien sowie den
Drama, Theater und Wunderbarem gekennzeichnet ab der Jahrhundertmitte aufkommenden Ausstat-
– allerdings weniger im Sinne eines dramaturgi- tungsstücken (Leonhardt 2007, 226–278) bzw. dem
schen bzw. poetologischen Konzepts als mit Blick sensational drama (Voskuil 2002).
auf eine Bühnenpraxis, deren immer komplexer Im deutschsprachigen Raum ist es v. a. das Wie-
werdende Technik die Vorherrschaft einer Ästhetik ner Volkstheater, das hier eine eigenständige Form
des Staunens belegt (vgl. Tkaczyk 2011.). ausprägt, die Zauberposse (Weisstein 1902). Wich-
Paradigmatisch für diese Entwicklung ist Gott- tigster Vertreter dieser Gattung ist Ferdinand Rai-
fried Wilhelm Leibniz‹ Schrift Drôle de Pensée (Ge- mund, dessen Stücke wie Der Bauer als Millionär
dankenscherz; 1675), in der er ein »Theatrum Natu- (UA 1826) oder Der Alpenkönig und der Menschen-
42 I. Begriffe und Konzepte

feind (UA 1828) auch heute noch auf den Spielplä- Das Erhabene. Ästhetik im Widerstreit. Interventionen
nen zu finden sind. zum Werk von Jean Francois Lyotard. Weinheim 1991,
55–73.
In seinem Überblick weist Barck darauf hin, dass Peter W. Marx
es gerade im Kontext der historischen Avantgarde
im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zu
einem neuen Interesse am Wunderbaren kommt,
besonders im französischen Surrealismus. So lassen
sich etwa Alfred Jarrys Ubu Roi (1896) oder Jean
Cocteaus Les Mariés de la tour Eiffel (1921) im Span-
nungsfeld einer Ästhetik des Wunderbaren verorten.
Insgesamt jedoch überlagert im theoretischen Dis-
kurs das Erhabene/Sublime das Wunderbare.
Mit Blick auf die literatur- und theatergeschichtli-
che Forschung lässt sich konstatieren, dass eine ein-
gehendere Diskussion des Wunderbaren im Sinne
eines »unscharfe[n] Begriff[s] […], der die Sinnlich-
keit und Passion reklamiert und in die Ästhetik zu-
rückholt« (Barck 2005, 772) noch aussteht.

Literatur
Barck, Karlheinz: »Wunderbar«. In: Ders. u. a. (Hg.): Ästhe-
tische Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2005, 730–73.
Bredekamp, Horst: Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der
Natur und Kunst. Berlin 2004.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen
Dichtkunst vor die Deutschen. In: Ders.: Schriften zur Li-
teratur [1730]. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1972,
12–196.
Kreuder, Friedemann: Spielräume der Identität in Theater-
formen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010.
Lazardzig, Jan: Theatermaschine und Festungsbau. Parado-
xien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin
2007.
Leonhardt, Nic: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und
Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899). Bielefeld 2007.
Meier, Georg Friedrich: Anfangsgruende aller schoenen
Wissenschaften. Erster Theil, andere Auflage. Halle im
Magdeburgischen 1754.
Rommel, Otto: Die Maschinenkomödie. Leipzig 1935.
Shepherd, Simon: »Blood, Thunder and Theory: The Ar-
rival of English Melodrama«. In: Theatre Research Inter-
national 24.2 (1999), 145–51.
Stahl, Karl-Heinz: Das Wunderbare als Problem und Ge-
genstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhun-
derts. Frankfurt a. M. 1975.
Tkaczyk, Viktora: Himmels-Falten. Zur Theatralität des
Fliegens in der Frühen Neuzeit. München u. a. 2011.
Voskuil, Lynn M. »Feeling Public: Sensation Theater, Com-
modity Culture, and the Victorian Public Sphere«. In:
Victorian Studies 44.2 (2002), 245–74.
Weisstein, Gotthilf: »Geschichte der Zauberpossen«. In:
Spemanns goldenes Buch des Theaters. Eine Hauskunde
für Jedermann. Berlin/Stuttgart 1902.
Zelle, Carsten: »Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang
doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und
Breitinger«. In: Welsch, Wolfgang/Pries, Christine (Hg.):
4. Drama – Dramaturgie 43

4. Drama – Dramaturgie Beiden Begriffsfeldern gemein ist ein primär pro-


spektiver Charakter von Dramaturgie: Sie arbeitet
Die auf die altgriechischen Begrifflichkeiten der dra- gerade entstehenden oder zukünftigen Theaterereig-
maturgía, der Herstellung und Erarbeitung eines nissen zu (vgl. Kotte 2005, 207). Während sich Be-
Dramas, und des dráma érgon, des ›Tuns‹ eines Dra- grifflichkeiten wie mise en scène oder Aufführungs-
mas bzw. von Handlung, zurückgehende Bezeich- analyse auf konkret bestehende, vergangene Insze-
nung Dramaturgie verweist auf eine Reihe nicht de- nierungstexturen beziehen (auch dort, wo die
ckungsgleicher Felder. Zunächst sind mit Dramatur- Produktion nach wie vor auf dem Spielplan steht),
gie in einem allgemeineren Sinne die Techniken des beschreibt Dramaturgie v. a. Aspekte der konzeptu-
kompositorischen Aufbaus von Dramen und die da- ellen Vorarbeit, der Einrichtung sowie der vermit-
mit verbundenen poetologischen Theorien be- telnden künstlerisch-ästhetischen Begleitung wie
schrieben. So kennzeichnet der Begriff ›Dramaturg‹ auch der weiteren gesellschaftlichen Kontextualisie-
in seinen entsprechenden Varianten in angelsächsi- rung dramatischer Werke und Aufführungen. Im
schen, französischen und slawischen Sprachen den Zentrum von Dramaturgie stehen einerseits die Ex-
Dramatiker, Stückautor bzw. Theaterautor. In die- ploration des szenisch-theatralen Potentials, die Er-
sem Sinne befasst sich Dramaturgie als Lehre des probung der Wirksamkeit dramatischer Handlun-
strukturellen ›Dramenbaus‹ und der funktionalen gen, Situationen und ihrer Verkettung, andererseits
Anordnung der dramatischen Grundelemente in deren Vermittlung im Aufführungsereignis und
Hinblick auf die szenische Realisation eines Theater- über dieses hinaus. Dramaturgie ist somit gekenn-
textes sowohl mit dessen äußerer formaler Architek- zeichnet als Serie transformatorischer Prozesse: als
tur (etwa hinsichtlich von Gattungskonventionen) Ausführung von Handlungen im wörtlichen Sinne
als auch der jeweiligen Gestaltung der inneren des griechischen drama ergon. Diese Handlungen
Handlungs- und Bedeutungsstruktur sowie überdies befördern die vermittelnde Beziehung zwischen dra-
mit der Interaktion zwischen diesen beiden Ebenen matischen Texten, Techniken und Konzepten und
wie auch mit dem weiteren textexternen Kontext des ihrer jeweiligen szenisch-theatralen Realisierung so-
Dramas. Das Augenmerk liegt dabei nicht zuletzt bei wie der daraus resultierenden Wirkung auf das Pub-
der Wirkung auf das Publikum, die bereits Aristote- likum. Dabei analysiert Dramaturgie immer auch
les mit seinem kátharsis-Begriff in der Poetik als dra- die Wirksamkeit von Drama und ist als in ihrem We-
maturgischer Urschrift herausgestellt hatte (s. Kap. sen (selbst-)kritisch-reflektierende Geste aufzufas-
I.2). Dramaturgie verweist derart auf Prinzipien des sen.
gemeinhin Dramatischen (vgl. Staiger 1961) und be- Als relationaler Prozess weist Dramaturgie not-
gegnet uns als Theorie und Praxis des Dramas auch wendigerweise über die Grenzen des Dramentextes,
in anderen Medien, allen voran in Film und Fernse- auch über das ästhetische Feld an sich hinaus. Sie ist
hen. Demgegenüber bezeichnet Dramaturgie gerade stets auf ein historisch situiertes konkretes Theater
im deutschen Sprachraum, aber auch in einem spe- und seine Erfordernisse bezogen, sowohl was die
zielleren Sinne das Berufs- und Arbeitsfeld des Dra- materiell-pragmatischen Produktionsbedingungen
maturgen als künstlerischer Berater der Theaterlei- betrifft (Theaterarchitektur, Szenografie, finanzieller
tung und Mitarbeiter an Inszenierungsprojekten so- Produktionskontext, Schauspielstile, theatrale Kon-
wie die weiteren Aufgaben und Tätigkeiten innerhalb ventionen) als auch hinsichtlich der soziokulturellen
der entsprechend benannten Dramaturgie-Abtei- Rolle und Position von Theater und seiner verschie-
lung, wie sie im Theatersystem der deutschsprachi- denen Erscheinungsformen im Kontext der Gesell-
gen Länder institutionalisiert ist. Zur Dramaturgie schaft und ihrer lebensweltlichen Realität (etwa hin-
in diesem Sinne gehören neben der Entwicklung von sichtlich Publikumsstruktur, kultureller »Wert« und
Stücken und Produktionen und somit gewisserma- »Kapital« von Theater im Sinne Bourdieus, Theater
ßen neben der Anwendung jener poetologisch-dra- als Bildung, Kunst oder Vergnügen). Entsprechend
maturgischen Kompositionstheorien, dabei ggf. hat Dramaturgie stets jenseits der zentralen künstle-
auch der Bearbeitung, Einrichtung oder Überset- risch-ästhetischen immer auch eine konkret politi-
zung existierender Texte, zusätzlich auch die Ver- sche und gesellschaftliche Dimension, nicht nur im
mittlung zwischen Autoren, Theaterdirektion, Re- Kontext von explizit politsch engagierten Dramen-
gisseuren und anderen Mitarbeitern der Theaterpro- texten. Im Kontext der dramaturgischen Tätigkeit
duktion sowie nicht zuletzt dem Publikum. bildet Dramaturgie die Brücke zwischen (mindes-
44 I. Begriffe und Konzepte

tens) zwei derartigen materiellen und lebensweltli- zen ebenso wie die neue, von Konrad Ekhof beför-
chen Kontexten: dem der Entstehungszeit eines Thea- derte Darstellungsästhetik die Grundideen des
tertextes und den je gegenwärtigen sowie speziell si- neuen bürgerlichen Theaters um, wie es sich sowohl
tuativen Bedingungen seiner Produktion. Ist auf der dem höfischen Repräsentationsschauspiel als auch
dramatischen Inhaltsebene eine weitere chronotopi- dem populären Vergnügungsspektakel entgegen-
sche Ebene abgebildet, multiplizieren sich diese Di- stellt. Gerade im Sinne dramaturgischer Vermittlung
mensionen. komplettiert die Veröffentlichung dieser kurzen
Texte die Situation und Situierung der gespielten
Dramen, indem es ihre Struktur wie Aufführung re-
flektiert und verhandelt. Als Begleitmaterial und
4.1 Lessing: Dramaturgie diesseits ›kritisches Register‹ nehmen die Texte der Hambur-
des Dramentextes gischen Dramaturgie – auch dort, wo sich Lessing aus
verschiedenen Gründen zusehend resigniert von der
Die Etablierung des Begriffs wie auch des Berufsfel- direkten Kommentierung des Spielplans und der
des der Dramaturgie ist v. a. mit Gotthold Ephraim aufgeführten Stücke verabschieden wird – die Rela-
Lessing verbunden. Seine Bemühungen um die Be- tionierung des künstlerischen Theaterprogramms
gründung einer nicht mehr höfischen, aufgeklärt- vor. Die ästhetische wie methodologische Diskus-
bürgerlichen Dramatik und Theaterkultur kulmi- sion etwa über die auf der neuen bürgerlichen Bühne
nierten in der Hamburgischen Dramaturgie (1767– aufzuführenden Stücke, über die Gegenstände der
69). Lessing entfernte sich dramentheoretisch von Tragödie, die Menschlichkeit ihrer Protagonisten
der Regelpoetik Gottschedscher Prägung und füllte und die Auseinandersetzung mit den zentralen
die Formen des höfischen Repräsentationsparadig- Schauspiel- wie Zuschauprinzipien von Einfühlung
mas auf neue Weise mit bürgerlichen Inhalten. Nicht und mitleidender Identifikation sind nicht nur
zuletzt setzte er sich neuerlich mit Aristoteles’ Poetik Randnotizen. Sie stellen vielmehr, aus dramaturgi-
auseinander. Statt sich von aristotelischen Prinzi- scher Perspektive, als Reflexion und aktive, an das
pien, wie sie durch die Renaissancerezeption als nor- Publikum addressierte Vermittlungsarbeit eine di-
mativer Regelkatalog konventionalisiert waren, ab- rekte Umsetzung des bis heute dem deutschen Stadt-
zuwenden, findet Lessing dessen dramaturgische und Staatstheatersystem zugrunde liegenden, sich
Konzepte vom höfischen Klassizismus ähnlich kom- aus dem bürgerlichen Wertekanon der Aufklärung
promittiert und korrumpiert wie die bürgerlichen speisenden Selbstverständnisses von Theater als Bil-
Protagonistinnen seiner Dramen. Er formuliert in dung und kritischer Praxis dar. Die intendierte mo-
der Hamburgischen Dramaturgie eine neue, auf das ralische ›Erziehung‹ des Publikums, die Aktivierung
sich herausformende bürgerliche Theater abgestellte seiner kritischen Einstellung, die Affirmation des
Lesart, welche die starre Ständeklausel außer Kraft Selbstverständnisses und der Tugenden – all diese
setzt und die Wirkungskategorien phóbos und éleos Aspekte realisieren sich nicht allein durch die ge-
als bürgerliche Tugenden von Furcht und Mitleid spielten Stücke und ihre Handlungen, sondern kris-
neu deutet (vgl. Kap. I.2). Auch der kátharsis gibt tallisieren sich geradezu in Dramaturgie, jener
Lessing eine aufklärerisch-erzieherische Auslegung neuen Theaterpraxis diesseits des Dramentextes,
(vgl. Lessing 1981, 237 ff., 383 ff.). von der Spielplangestaltung über die Analyse und
Diese dramentheoretische Innovation erschöpft Kontextualisierung der Stücke und ihrer Aufführun-
aber nicht die dramaturgische Relevanz der Ham- gen.
burgischen Dramaturgie: Sie ist nicht nur als Schrift Dramaturgie als theatrale Institution und Funk-
über Dramaturgie aufzufassen, sondern selbst als tion platzierte sich derart bereits in ihrem Grün-
dramaturgischer Akt zu sehen. Lessing verfasste die dungsmoment im deutschen Theatersystem gerade
104 Stücke als seriell veröffentlichte Theaterpublika- an jener vermittelnden Schwelle, welche Theater
tion, welche 1767/68 den letztlich scheiternden Ver- und soziale Wirklichkeit verbindet. Nicht nur in
such begleitete, unter Leitung von Johann Friedrich Hinblick auf die von ihm theoretisierte Transitorik
Löwen ein privatwirtschaftlich finanziertes Ham- des Kunstwerkes ist die Zeitlichkeit des Theaters für
burger Nationaltheater zu etablieren. Lessing war Lessing in der unmittelbaren Gegenwart verankert.
dort als Dramaturg beschäftigt. Seine Rezensionen, Den derart direkten Zeitbezug als unmittelbare In-
Kritiken und theatertheoretischen Reflexionen set- tervention hatte er nicht zuletzt in seinem in Ham-
4. Drama – Dramaturgie 45

burg uraufgeführten Stück Minna von Barnhelm Einleitung). Sie ist nicht zuletzt Theorie dieses Me-
(1767), seinem bürgerlichen Lustspiel vor dem Hin- dienwechsels, Praxis der Transformation. Im sich im
tergrund des soeben zuende gegangenen siebenjäh- 19. Jahrhundert zunehmend weitenden Hiatus zwi-
rigen Krieges, unter Beweis gestellt. Der Erstdruck schen Text und Inszenierung begann sich der Dra-
behauptete programmatisch das letzte Kriegsjahr maturg nicht zufällig zeitgleich mit dem Aufstieg des
1763 als Entstehungsdatum dieses Stückes, das Goe- Regisseurs zur zentralen künstlerischen Figur im
the rückblickend noch 1812 als »erste aus dem be- kontinentaleuropäischen Theater zu etablieren.
deutenden Leben gegriffene Theaterproduktion von
spezifisch temporärem Gehalt« herausstellte. (Goe-
the 1981, 281) Die an die Öffentlichkeit gerichtete
Publikation der Hamburgischen Dramaturgie kom- 4.2 Brecht: Dramaturgie als
plementierte derart die Absicht der Herstellung ei- dialektischer Diskurs
ner kritischen Öffentlichkeit. Sie stellte Zeitgenos-
senschaft unter Beweis. Derart sind jene heute kaum Erst wo derart Wirksamkeit als Resultat künstleri-
mehr rezipierten, stark zeitbezogenen weiten Teile scher Strategie verstanden wird und Veränderbar-
der 104 Stücke keineswegs als Manko zu verstehen, keit wie Veränderung durch die künstlerische Idee
sondern gerade als Realisation von Dramaturgie, die die affirmative Reproduktion einer bestehenden re-
sich nicht mehr als überzeitliches Regelsystem ver- präsentativen Ordnung in Kunst ersetzten, konnte
steht. sich Dramaturgie als dynamischer theatraler Prozess
Damit ist die geistesgeschichtliche Voraussetzung definieren. Wirksamkeit und Veränderbarkeit sind
für Dramaturgie in ihrem heutigen Sinne historisch freilich auch Schlagworte, die besonders eng mit der
situiert: Erst als das Schreiben und Aufführen von Dramen- und Theatertheorie Bertolt Brechts ver-
Dramen mit der bürgerlichen Aufklärung im 18. bunden sind, der – nach Lessing – die wohl nachhal-
Jahrhundert nicht mehr allein als Vollzug festge- tigste Wirkung im Feld der Dramaturgie hinterließ.
schriebener Regeln begriffen wurde (vgl. Kap. III.9), Dramentheoretisch relevant ist nicht zuletzt seine
sich somit der Übergang »vom künstlichen zum na- Auffassung von dialogischer Figurenrede, welche
türlichen Zeichen« vollzog (Fischer-Lichte 1994, auch das epische Theater noch beibehält, als Aus-
91 f.), öffnete sich auch jener Spalt zwischen gegebe- druck soziopolitischer Realitäten und materieller
ner Tradition, idealer Vorstellung sowie gelebter Ge- Seinsbedingungen des Bewusstseins dieser Figuren.
genwart mit ihren neuen Werte- und Wissenssyste- Dieses zentrale Diskurskonzept erstreckt sich auch
men von objektiver wissenschaftlicher Kategorisie- jenseits der Rede und umfasst gerade im berühmten
rung bis hin zum Nationalstaat und der damit Begriff des Gestus (vgl. Kap. II.1) auch körperlich-
assoziierten national-bürgerlichen Kulturwerte so- szenische Handlungen. Der Beitrag Brechts zur dra-
wie nicht zuletzt auch der sich ebenfalls neu heraus- maturgischen Theorie und Praxis reicht aber, ähnlich
kristallisierenden Auffassung von »Kunst«. Die ak- wie bei Lessing, weit über sein eigenes dramatisches
tualisierende Vermittlung des Dramas, seine auf Werk und die darin realisierten Kompositionsprinzi-
sinnliche Erfahrung abgestellte Realisierung und pien wie auch über seinen Einfluss auf Konzeptionen
Ver-Gegenwärtigung von Vergangenheit sowie die des politischen Theaters hinaus.
darauf bezogenen künstlerischen Strategien, aber Vor allem das heutige Verständnis von Produkti-
auch seine Wirkung auf das Publikum im Sinne des onsdramaturgie ist mit Brechts Arbeitsweise assozi-
aufklärerischen Erziehungsideals wurden zu neuar- iert, auch wenn sich der Begriff selbst erst mit der
tigen Problemstellungen. Eben dort setzte Drama- Regietheater-Generation der 1970er Jahre weithin
turgie (gleichzeitig mit der parallel und aus nämli- an den Theatern durchsetzte: sowohl in der DDR
chen Motiven sich konstituierenden Literaturkritik) unter Werner Hechts Leitung der Dramaturgie am
mit ihrer vermittelnden und, im weiten Sinne des Berliner Ensemble als auch im Kontext von Peter
Wortes, »interpretierenden« Intervention zwischen Steins West-Berliner Schaubühne mit ihren »Pro-
literarischem Dramentext und seiner szenisch-thea- duktionsdramaturgen« Botho Strauß und Dieter
tralen Aufführung an. Sturm. Der Begriff unterstreicht die für das 20.Jahr-
Dramaturgie ist entsprechend »irgendwo auf hal- hundert zentrale Verschiebung des Akzents von der
bem Wege zwischen Theorie und Praxis, zwischen immanenten dramaturgischen Analyse und Bear-
Denken und Tun« situiert (Theaterschrift 1994, 12, beitung eines ›Werkes‹ im Hinblick auf seine Repro-
46 I. Begriffe und Konzepte

duktion und Illustration hin zum umfassenden dra- Diskussionen – neben dem Dramaturgen nehmen
maturgischen Prozess, der die kompositorischen der Philosoph, der Schauspieler, die Schauspielerin
Formen wie die Inhalte der Dramen als Theatertexte sowie der Beleuchter als stellvertretender Arbeiter –
und Inszenierungen in Bezug zur Lebenswelt sowohl derart buchstäblich in Szene gesetzt sind (vgl. Brecht
der Entstehungs- als auch der Aufführungszeit setzt. 1993). Mit seinem analytischen Gespür sowie aus-
Ein derartiger Ansatz durchzog bereits die frühen führlichem theaterhistorischen Wissen stellt sich der
Arbeiten Brechts, in denen sich seine Auffassung Dramaturg in den Dienst des Philosophen und ver-
von Inszenierung als Bearbeitung, Adaption und oft mittelt zwischen dessen theoretischen Ideen (eines
radikale Neukontextualisierung eines Stückes oder »Thaeters«) und dem pragmatischen Blickwinkel
Stoffes für die Bühne andeutete. Text und Hand- der (hier das aristotelische Theater und seine kon-
lungsfabel sowie Dramaturgie und Konzept sollten ventionelle Dramaturgie vertretenden) Schauspieler,
sich in der gegenwärtigen Aufführung als dialekti- ohne dabei einseitig Partei zu ergreifen: diese Dra-
sche Komplementäre ergänzen. Erneut unterstreicht maturgenfigur ist verkörperte Dialektik. Im Sinne
dies die Funktion von Dramaturgie als Vermittlung Lessings hatte sich Dramaturgie als Vermittlung im
zwischen ›alten‹ Texten und aktuellen Kontexten. Sinne der aufklärerischen Erziehung des neuen Bür-
Dramaturgie in diesem Sinne war freilich keine Er- gertums verstanden, auf die Auswahl, Analyse und
findung Brechts. Bereits im 19. Jahrhundert hatten Bearbeitung der Theatertexte zugeschnitten war.
Theaterleiter so konträrer Intentionen wie Heinrich Gerade die politisch brisanten Krisenjahre der Wei-
Laube mit seiner Forcierung realistischen Ensemble- marer Republik verlangten nach vergleichbarer ver-
spiels und Franz von Dingelstedt mit seinem bild- mittelnder Intervention durch Theater, deren spezi-
haften Historienstil, die allseits bahnbrechenden fisch dramaturgische Wirkung auf das jenseits der
Meininger wie auch Naturalismus-Pionier Otto Vorstellung ausgerichtet war. Schon die Hamburgi-
Brahm produktionsdramaturgische Recherche sche Dramaturgie deutete zudem die zentrale Rolle
avant la lettre betrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhun- der kritischen Reflexion über die internen theatralen
derts arbeiteten explizit so bezeichnete Dramaturgen Prozesse an; ein Aspekt, der sich in Brechts Praxis
wie Arthur Kahane (mit Max Reinhardt) und Julius kritischer ›Notate‹ sowie der umfassenden Doku-
Bab (mit Leopold Jessner) den neuen Regiestrategen mentation und Archivierung seines gesamten Schaf-
zu. Brecht knüpfte an die konträren Tendenzen die- fensprozesses nochmals intensivierte. Zudem war
ser oftmals unerhörten dramaturgischen und thea- nun der noch neue Fokus auf die mediale Transfor-
tralischen Visionen an: an die politische Zeitgenos- mation von (gerade klassischen) Stücktexten in der
senschaft Jessners und Erwin Piscators ebenso wie szenisch orientierten Einrichtung der Inszenierung
an den Geist von Illusionsbühne und opulenten hinzugetreten. Dabei zeugt Brechtsche Dramaturgie
Theaterspektakeln, für die v. a. Reinhardt stand. Ent- auch von den neuen medialen Vermittlungs- und
sprechend oszillierte auch das Regietheater nach Repräsentationsstrategien audiovisueller Medien,
dem Zweiten Weltkrieg von seinen Gründern der nicht nur in der direkten Integration etwa von Fil-
1960er und 1970er Jahre wie Stein und Peter Zadek men im Theater (so bei Piscator), sondern gerade
bis hin zu den Protagonisten des 21. Jahrhunderts auch in der dramaturgischen Fruchtbarmachung fil-
wie Michael Thalheimer und Thomas Ostermeier mischer Prinzipien wie der Montage.
zwischen den scheinbar divergenten Tendenzen von Mit Brecht ist derart der relationale Aspekt von
Historisierung und verfremdender Stilisierung: Dramaturgie modellhaft ausgeführt: Dramaturgie
Beide Ansätze sind doch gleichermaßen in ihrem nimmt ihren Platz zwischen Text und Inszenierung,
Wesen ›dramaturgisch‹. Gerade über den dramatur- zwischen geschichtlichem Kontext und unmittelba-
gischen Zugriff auf die Dramen behaupten die Re- rer soziopolitischer Gegenwart, zwischen Bühne und
gisseure aus verschiedenen Blickwinkeln und mit Publikum, zwischen Theaterkunst und Theatertheo-
verschiedensten Absichten die jeweilige Relevanz ih- rie ein. Ganz im Sinne der epischen Verfremdungs-
rer Inszenierungen der Dramentexte. theorie und ihrer Betonung der Distanz erlaubt die-
In seinem zentralen theoretischen wie performa- ser dramaturgische Blick einen Perspektivwechsel,
tiven Textfragment über Dramaturgie Der Messing- die Verschiebung der Aufmerksamkeit diesseits wie
kauf (1937/51) führt Brecht symbolisch den Drama- jenseits der Oberfläche des dialogischen Sprechtex-
turgen aus dem ungastlichen Büro mit seinen Sta- tes des Dramas, aber ebenso jenseits der Oberfläche
peln ungelesener Skripte direkt auf die Bühe, wo die der alltäglichen Lebenswelt und ihrer Konventionen,
4. Drama – Dramaturgie 47

wie auch jenseits der Darstellungsstrategien ›kulina- Theatertexte die Bezeichnung ›Drama‹ ab, die sie al-
rischer‹ Massenunterhaltung. Dabei gibt es in keiner lein für Texte anwenden mag, die noch auf die szeni-
Hinsicht mehr hierarchische Barrieren. Dramaturgie sche Darstellung einer von Figuren getragenen Ge-
wird als gleichberechtigter kreativer Schaffenspro- schichte ausgerichtet bleiben. Gleichermaßen geht
zess neben Regie und Schreiben aufgefasst, der sich sie weiterhin von einer im Hinblick auf ihre szenische
als kollektiver Prozess zusehends vom Dramaturgen Aufführung verfassten, sprachlich vermittelten Text-
als Person ablöst. Käthe Rülicke wird 1956 die Arbeit gattung aus und entwirft entsprechend eine explizit
am Berliner Ensemble entsprechend beschreiben: so bezeichnete »dramaturgische Analyse« als Lektü-
»Dramaturgen im herkömmlichen Sinne gibt es an restrategie (Poschmann 1997, 288–343). Sie sieht die
unserem Theater gar nicht. Unsere Dramaturgen ästhetische Innovation solcher »nicht mehr dramati-
machen Regieassistenz und umgekehrt arbeiten die schen Theatertexte« v. a. in einer je individuellen
Regisseure in der Dramaturgie« (Brief Rülickes im Neubestimmung der szenischen Situation und thea-
Brecht-Archiv, zit. von Luckhurst 2006, 149; vgl. tralen Kommunikation. Es sei charakteristisch, dass
auch Rülicke-Weiler 1966). Dramaturgen wurden die neuen Textformen die theatralische Dimension –
derart zu den Ermöglichern solcher dramaturgischer verstanden »weder als Struktur- noch als Bauele-
Prozesse, welche die inneren Prinzipien der Werke ment […] sondern ein operatives Vermögen« – nun
und die externe Lebenswelt miteinander verschrän- »durch Eigenarten sprachlicher Gestaltung nach-
ken wie auch diese Prozesse kritisch reflektierend empfinden« (Poschmann 1997, 42 f.). Der Theater-
begleiten und öffentlich artikulieren. In der jüngeren text impliziert also nicht mehr allein seine Bühnen-
Vergangenheit zeugen Arbeitspraxis wie Schriften realisation, sondern verlegt den Schauplatz seiner
prominenter Dramaturgen wie Marianne Van Kerk- Theatralität in den Text und in die Sprache selbst:
hoven, Carl Hegemann, Stefanie Carp und Erwin Das Drama, um mit Poschmann an diesem Begriff
Jans von aktuellen Manifestation eben dieser drama- festzuhalten, ist nicht mehr Medium, sondern Inter-
turgischen Prozesse (vgl. van Kerkoven 2002; Hege- medium. Es handelt sich somit bei den von Posch-
mann 2005; Jans 2006; Carp 2008). mann untersuchten Theatertexten wie auch bei wei-
teren Autoren des Gegenwartstheaters gerade um
ein Drama von (und nicht mehr nur vermittels)
Sprache sowie um das Drama der Wahrnehmung
4.3 Dramaturgie als analytischer und Rezeption. Während konventionelle repräsenta-
Prozess: Wahrnehmung, tive Dramaturgie die von Poschmann als Figuration
Erfahrung, Ereignis und Narration bezeichneten dramaturgischen As-
pekte in den Vordergrund rückte (vgl. Poschmann
1997, 48), verschiebt sich nun die Dominante auf die
4.3.1 »Text-Theatralität« autoreferenziell-funktionale sowie die kommunika-
tiv-relationale dramaturgische Achse.
Wo selbst Brecht formal am dialogischen Wechsel-
spiel zwischen Handlung (Fabel) und Figur sowie
der Veränderbarkeit der Situation durch die »drama- 4.3.2 Postdramatisches Theater
tische Kollision« (Hegel 1970, 523) festhielt, entwi-
ckelten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts alterna- In ähnlichem Sinne manifestiert sich Dramaturgie
tive Formate und Spielarten dramatischer Texte, auch in Hans-Thies Lehmanns Studie der postdra-
welche v. a. die verbliebenen Parameter traditioneller matischen Theaterformen der 1980er und 1990er
Darstellungsästhetik in Frage stellten (vgl. Kap. II.1). Jahre an zentraler Stelle. Während Poschmann v. a.
Figur und Handlung wurden in solchen zeitgenössi- auf geschriebene Theatertexte einging, ergänzt Leh-
schen Dramenformen als leitende Kompositions- mann die Untersuchung um nicht mehr auf Textvor-
und Analysekategorien herausgefordert und abge- lagen basierende Stücke und Performances. Die Be-
löst. Zu den wichtigsten und innovativsten Vertre- ziehung zwischen Textvorlage und ihrer Inszenie-
tern einer derart eigenständigen »Text-Theatralität« rung verschwindet aus dem Zentrum der
(vgl. Finter 1990a; Birkenhauer 2005) gehören v. a. theoretischen und analytischen Aufmerksamkeit.
Samuel Beckett, Heiner Müller und Elfriede Jelinek. Auch Lehmann erteilt dem Begriff des Dramas eine
Gerda Poschmann lehnt für dieses Korpus neuerer Absage, das er v. a. als geschlossene, auf Nachah-
48 I. Begriffe und Konzepte

mung ausgerichtete Totalität eines »fiktiven und fin- mungsgewohnheiten. Medien stellten nicht mehr
gierten Text-Kosmos« versteht (Lehmann 1999, 89). nur neue, auch dramaturgisch nutzbare Kompositi-
In einer zentralen dramaturgischen Reflexion hin- onsprinzipien zur Verfügung wie bei Brecht; viel-
terfragt Lehmann die Gegenüberstellung von klas- mehr nehmen sie eine grundlegende Repositionie-
sisch-aristotelischem und modernem Drama. Sowohl rung der Zuschauer bzw. Mediennutzer und ihrer
Brechts episches Theater wie auch absurdes Theater Rolle vor. Die Erwartung partizipatorischer, nicht
bleiben für ihn noch immer dem Paradigma der mehr nur unidirektional rezipierender Teilnahme,
restlos erfassbaren Dramen-Welt verpflichtet, das die den einzelnen Zuseher in der anonymen Masse
alle theatralen Mittel und ihre jeweiligen Eigendyna- des Auditoriums anspricht, ihn ggf. (etwa in zeitge-
miken weiterhin dem dominanten Text-Kosmos un- nössischen One-on-One Performances) heraushebt,
terordne. Die zeitgenössische, nicht zuletzt von den ihm aber auch ein wunschgemäßes Erlebnispro-
Avantgarden des 20. Jahrhunderts sowie der Perfor- gramm garantieren soll, bei dessen Ausbleiben der
mance Art und Live Art seit den 1960er Jahren be- Eintrittspreis zurückgeklagt wird, sind direkte Re-
einflusste Dramaturgie lasse jenes »fürs dramatische sultate dieser neuen Einstellung gegenüber Medien-
Theater kennzeichnende Geflecht von Textdomi- nutzung nicht nur im Theater, das sich diesen Rah-
nanz, Figurenkonflikt, und Totalität einer wie im- menbedingungen nicht entziehen kann.
mer auch grotesken ›Handlung‹ und Welt-Abbil-
dung« hinter sich (Lehmann 1999, 87). Nicht mehr
Illusion, nachahmende Darstellung und Abbildung 4.3.4 Interaktivität
von Handlung sind als Kern der theatralen Konstel-
lation ausgemacht, sondern vielmehr die dramatur- Entsprechend spielen Interaktivität und elektro-
gische Intensivierung der Zeichenpräsentation und nisch-digitale Medien im von den ›Dramaturgien
ihrer Erfahrung: Es rückt das Reale der theatralen des neuen Jahrtausends‹ handelnden Schlusskapitel
Kommunikationssituation und das performative Er- von Cathy Turner und Synne Behrndts Studie zur
eignis von Repräsentation selbst in den Vordergrund Dramaturgie (vgl. Turner/Behrndt 2008) eine zent-
dramaturgischer Praxis. Text, Raum, Zeit und Kör- rale Rolle. Ihre Ausführungen zur szenischen Ver-
per sind nicht mehr als hierarchisch strukturierte räumlichung jenseits von Repräsentationsräumen
Teilelemente aufgefasst, deren Zeichenhaftigkeit in (sowohl bezogen auf Theaterbauten als auch auf fik-
einer finalen Synthese aufginge. An die Stelle der auf tional dargestellte Orte), zu nicht mehr textbasierter
die Darstellung einer Handlungsfabel und der dar- Projektarbeit wie zu postdramatischen Texten stel-
aus resultierenden Wirkung ausgerichteten konven- len einen wichtigen aktuellen Anschluss zu Leh-
tionellen Dramaturgie tritt nun ein primär struktu- manns als historisch verstandener Aufarbeitung der
rell operierendes Organisationsprinzip. neueren Theaterästhetik der 1980er und 1990er
Jahre dar. Wo dieser bereits parataktische Strukturen
jenseits von Dominanten und Hierarchien, eine Be-
4.3.3 Neue Medien tonung der simultanen dramaturgischen Achse, die
Überfülle von dichten Zeichennetzen und auf musi-
Zu diesen traditionellen Theatermitteln treten im kalisch-rhythmische oder visuelle Logiken abstel-
postdramatischen Kontext nicht zuletzt elektroni- lende dramaturgische Prinzipien des postdramati-
sche Medien als allmählich selbstverständlich ge- schen Theaters herausgestellt hat, verbleiben nach
nutzte dramaturgische wie dramatische Techniken. dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts v. a. der
Das Aufkommen und v. a. die massenhafte Verbrei- Einbruch des Realen in die Aufführung und die stra-
tung von Fernsehen in den 1980er Jahren und der tegische Hervorhebung der theatralen Ereignishaf-
elektronischen Computermedien um die Wende tigkeit als weiterhin bestimmende dramaturgische
zum 21. Jahrhundert sind in ihrer Relevanz für Dra- Dominanten auch neuester Formen des Gegenwarts-
maturgie wie Dramentheorie des postdramatischen theaters – auch dort, wo sich sowohl zeitgenössische
Theaters mindestens so wichtig wie die Berücksich- Regie wie Dramatik das Formenrepertoire wie den
tigung von Film im Kontext Brechts. Gerade die klassischen Werkekanon des Dramas nun aus post-
digitale Globalisierung verstärkte die mit dem Auf- dramatischer Perspektive jenseits der Dekonstruk-
kommen analoger audiovisueller Medien einset- tion neu aneignen. Wo diese Dramaturgien weiter-
zende Ausformung neuer Seh- und Wahrneh- hin den Augenblick der Aufführung akzentuieren,
4. Drama – Dramaturgie 49

geschieht dies nicht mehr so sehr im Hinblick auf 4.4 Dramatische Situationen,
eine der Repräsentationsästhetik entgegengestellte dramaturgische Handlungen
Betonung theatraler Gegenwärtigkeit und scheinbar
unmittelbarer Präsenz. Vielmehr spiele eine »Dra- Zusammenfassend kann Dramaturgie somit zu-
maturgie der Begegnung« die zentrale Rolle (Tur- nächst als Gesamtheit der auf die szenisch-theatrale
ner/Behrndt 2008, 202 f.), in deren Verlauf die Zu- Realisation bezogenen Kompositionsprinzipien be-
schauer gerade mit der sich performativ entfalten- schrieben werden, als gewissermaßen tiefenstruktu-
den Konstitution von Sinn und Sinnlichkeit wie relle Textur, welche das semantische wie kinetische
auch von Erfahrung und Gegenwärtigkeit konfron- Potenzial szenischen Spiels dynamisch aufspannt,
tiert sind und sich als an diesen Prozessen aktiv teil- wie es sich sodann in der und durch die jeweilige
habend erfahren. Aufführung performativ realisieren und artikulieren
wird. Eugenio Barba versteht Dramaturgie exempla-
risch als ›Anatomie‹ der als lebender Organismus (er
4.3.5 Wirkungsästhetik nennt es »szenisches bios«) imaginierten Auffüh-
rung (Barba 2010, 9). Mike Pearson und Michael
Damit ist erneut hervorgehoben, dass Dramaturgie Shanks sprechen von den »konnektiven Netzwer-
keinesfalls als allein produktionsästhetischer Aspekt ken« der Dramaturgie, welche eine »kulturelle as-
aufzufassen ist, sondern immer auch die einzelnen semblage« aus Orten, Menschen, Körpern, Objekten,
Zuschauer und deren Erleben der Aufführung mit Texten, Geschichten, Stimmen und Architekturen
einschließt. Diesem Aspekt versucht nicht zuletzt als immer schon miteinander verbunden und ver-
eine dezidiert dramaturgisch ausgerichtete Theater- woben vorstellt (Pearson/Shanks 2001, 89 f.). Cathy
theorie gerecht zu werden. Marco De Marinis stellte Turner beschreibt schließlich Dramaturgie als »Ar-
schon in den 1980er Jahren Überlegungen zu einer chitektur« der Inszenierung, verstanden als »Kon-
Dramaturgie des Zuschauers an (vgl. De Marinis zept von Ereignis-Strukturen in Raum und Zeit, und
1987). Patrice Pavis ging über den konventionellen eben nicht mehr der Privilegierung entweder von
Ansatz der Theatersemiotik hinaus, indem er mit Zeit oder Raum, von Aufführung oder materieller
Lyotard verschiedene energetische Felder semioti- Struktur, von Subjekt oder Objekt« (Turner 2010,
scher Vektoren in sein Konzept der mise en scène zu 153). Turner führt dabei den vom Politologen Maar-
integrieren sucht, wobei dieser Begriff keinesfalls auf ten A. Hajer aus dem Theaterbereich für seine Diszi-
ein (auktoriales) Regiekonzept oder die außer- plin (mit Bezug auf die Philosophie Kenneth Burkes
sprachlichen Aspekte eines Dramas und seiner In- sowie verschiedene soziologische Ansätze) adaptier-
szenierung zu reduzieren ist (vgl. Pavis 2003). Ra- ten Begriff der Dramaturgie in diesem erweiterten
chel Fensham führte schließlich die im theaterwis- Verständnis wieder in den Bereich von Theaterper-
senschaftlichen Kontext lange verabschiedeten formance zurück (vgl. Hajer 2005). Entsprechend
Kategorien von Genre und Gattungen wieder in die eines neueren Verständnisses in Architektur wie
aktuelle Diskussion ein. Sowohl für Autoren und Re- Soziologie ist Dramaturgie, der etwas statisch an-
gisseure wie auch Zuschauer seien Kenntnisse und mutenden Metaphorik zum Trotz, als fluides Envi-
Annahmen über Gattungskonventionen stets erster ronment konzeptualisiert: die Differenz zum starren
Orientierungs- und Anknüpfungspunkt im Verste- ›Gebäude‹ einer einmal fixierten Strategie oder eines
hensprozess. Gerade diese stellten somit einen zent- bloß auszuführenden Produktionskonzepts ist gera-
ralen Aspekt der relationalen Begegnung zwischen dezu entscheidend.
Publikum und Aufführung dar: Für Fensham sind Nicht zuletzt die bei Turner gewonnenen Prinzi-
Gattungskonventionen die Brücke zwischen drama- pien zeigen auf beispielhafte Weise das gegenwärtige
turgisch-kritischer Analyse und einer systemati- Bedürfnis nach dezidiert dramatischen Strukturen
schen Erkundung der körperlich-sinnlichen Aspekte auch innerhalb zeitgenössischer, auch postdramati-
der Erfahrung von Text- und Inszenierungstheatra- scher Performanceformate; Turner ist selbst sowohl
lität. Entsprechend ihrer kulturwissenschaftlichen Theaterwissenschaftlerin wie auch Performerin der
Auffassung des Gattungsbegriffes sind diese bei ihr site-specific performance Gruppe Wrights & Sites, die
stets als verkörperte Erfahrungsparameter verstan- schon im Namen die Brücke zwischen play-wrights
den, nicht als abstrakt-formale Beschreibungskate- und Performance Art schlägt und nicht mehr in
gorien (vgl. Fensham 2009). überlebter Geste auf der Opposition von dramati-
50 I. Begriffe und Konzepte

schem Theater und alternativer Performance insis- wurf des »Theaters der Grausamkeit« (Das Theater
tiert. Solche Dramaturgiekonzepte sind nicht mehr und sein Double, 1938) vorsah – auf Texttheater,
gegen das Drama definiert. Nicht zuletzt hinterfra- Drama, und auch auf Dramenklassiker verzichten zu
gen sie in ihrer Reflexion und Reformation zentraler müssen. Dramaturgie bildet derart die Grundlage
dramaturgischer Kategorien wie der Handlung die auch für einen entsprechend revidierten Dramenbe-
Rolle des als handelndes Individuum aufgefassten griff, der sich von seiner alleinigen konservativen Fi-
Subjekts in diesem Kontext. Hier beerben neuere xierung auf Literaturtheater westeuropäischer (und
dramaturgische Modelle die poststrukturalistischen allem voran bürgerlich-aufklärerischer Prägung)
Revisionen verwandter Begrifflichkeiten, allen voran und seinen philosophisch-ideologischen Grundla-
von Autorschaft und Rezeption. Roland Barthes’ gen zu lösen vermag und so die »Geschlossenheit
Konzeption der écriture erscheint auf exemplarische der Repräsentation« im Spiel der theatralen Wieder-
Weise relevant (vgl. Barthes 2006). Obgleich Drama- holung zu denken und zu dekonstruieren vermag
turgie in ihrer Entstehung und Ausformung seit dem (vgl. Derrida 1976).
18.  Jahrhundert mit der ästhetischen Ideologie des Als zentraler Inhalt einer solchen (minimalen)
bürgerlichen Idealismus verknüpft war, vermag sie Definition von Dramaturgie mag erneut der wörtli-
derart ihre Relevanz auch über diesen historischen che Begriffsinhalt selbst herangezogen werden:
Kontext hinaus als genuin produktive analytische drama als Handlung – verstanden als szenisches
Kategorie zu behaupten. Gerade wo sich aristoteli- Handeln, das eben keineswegs auf die fiktionale Ak-
sche mímēsis (und fürderhin neuzeitlich aufgefasste tion von Figuren beschränkt ist. Im aufführungsbe-
Repräsentation) von Welt sowie die szenische Dar- zogenen Handlungsbegriff der Theateranthropolo-
stellung dialogisch verhandelter Konflikte zwischen gie Eugenio Barbas etwa sind alle Interaktionen zwi-
subjekthaft handelnden Figurencharakteren als le- schen Figuren, aber auch Interaktionen im Raum,
diglich mögliche Variablen, aber keineswegs mehr Lichtwechsel, Musik- und Klangakzente usf. erfasst:
notwendige Norm innerhalb der dramatisch-szeni- »Alles, was direkt auf die Aufmerksamkeit und das
schen Konstellation erwiesen haben, öffneten sich Verstehen der Zuschauer wirkt, auf ihre Emotionen
über das Feld der Dramaturgie theoretisch-konzep- und ihre Kinesthetik, ist eine Handlung« (Barba
tuelle Perspektiven für die Zukunft von Drama in 1991, 68). Die Aufgabe der Dramaturgie wird nicht
den post-strukturalistischen, post-modernen, post- mehr im Hinblick auf narrative Darstellung be-
dramatischen und post-kolonialistischen Zusam- stimmt, sondern als formal-strukturelle Verknüp-
menhängen der Gegenwart. Selbst und gerade dort, fung dieser Handlungsvektoren sowohl im synchro-
wo Dramaturgie bislang keine jahrhundertelange nen Moment des szenischen Augenblicks wie in der
Tradition entwickeln konnte, wurde dieses Konzept konkatenativen Verknüpfung im Ablauf der Auffüh-
gerade in der Überwindung der dominanten realisti- rung (vgl. Barba 1991). Im Gegensatz dazu vertritt
schen Sprechtheater-Formel zum bevorzugten Be- etwa Bernd Stegemann weiterhin eine mimetisch
zugspunkt, etwa – wie bei Turner – im Kontext sog. ausgerichtete Konzeption einer »dramatischen Situ-
»devised performance« in England, oder in post-ko- ation« – verstanden als sprachlich artikulierte
lonialistischen Theaterzusammenhängen (vgl. Thea- mímēsis einer grundlegend menschlichen »existen-
terschrift 1994; Turner/Behrndt 2008 und 2010; zialistischen Situation«, als vergegenwärtigende
Barba 2010). Darstellung menschlichen Daseins und Handelns
Gerade Dramaturgie ist somit die dramentheore- (Stegemann 2009, 9–41). Er argumentiert keines-
tische Kategorie, welche tradierte Ordnungs- und wegs für ein textorientiertes Literaturtheater, wirft
Erklärungsmodelle (etwa die Zentrierung auf »das den postdramatischen Theaterkonzeptionen aber
Werk«, auf »Originalität« oder die Intention des Au- die »Verweigerung der Situation als spielerisches Er-
tors in romantischer Tradition) im Sinne der analyti- eignis« zugunsten reiner Autoreflexivität vor (Stege-
schen und ästhetischen Re-Orientierung abzulösen mann 2009, 36). Diese münde in Selbstgenügsam-
vermag, welche nicht zuletzt Prozesshaftigkeit und keit, die auf nichts mehr jenseits der Darstellung ab-
Kollektivität als wesentliche theatrale Aspekte auch ziele. Im Sinne der hier vorgenommenen Betonung
und gerade von Drama anerkennt. Derart ließ sich des relationalen Aspektes von Dramaturgie ist die-
die Reproduktion des Logos des schriftlich fixierten sen Bedenken zuzustimmen. Allerdings bleibt im
Textes und seiner assoziierten Hierarchiestrukturen Beharren auf mimetischen Bezug selbst die Verding-
überwinden, ohne dabei – wie noch Artauds Ent- lichung dieser mimetischen Relation gerade im glo-
4. Drama – Dramaturgie 51

balen Medienkapitalismus der Gegenwart außen und ›evokative‹ Ebenen von Dramaturgie). All diese
vor. Auch vermag die duale Oppositionssetzung von dramaturgischen Handlungselemente auf ihren je-
Mimesis/Narration auf der einen und selbstreflexi- weiligen Achsen fügen sich freilich erst in ihrer ab-
ver Performance (Theater als Theater) auf der ande- sichtsvoll strukturierten Präsentation, als geformter
ren Seite nicht die wichtige ›lebensweltliche‹ Dimen- Ablauf zu einem Drama. David Williams bezeichnet
sion zu erfassen, welche den Zuschauer als in einem Dramaturgie entsprechend als »rhythmisierte as-
konkreten historischen Kontext verortet addressiert semblage von Orten, Leuten, Texten und Dingen«
und diese Situation nicht zwangsläufig in ein reprä- (Williams 2010, 197). Derart ist die dramaturgische
sentatives »als ob« transzendieren muss. Diese dritte, Konfiguration als prozessorientierte Situation, als
auch sinnlich-konkrete dramaturgische Achse, die konstitutive Relationsstruktur eines kommenden
auf die Relation von Theater und außerkünstleri- Ereignisses bestimmt, die eben nicht zuletzt gerade
scher Lebenswelt abzielt, ist nicht zu vernachlässigen auch auf die Erfahrung des Publikums ausgerichtet
(Matzat 1982, 56 ff.). ist. Diese komplexen dramaturgischen Relationen
Somit lässt sich also die das (auch zeitgenössi- von Drama stellen einerseits Verbindungen hin-
sche) Drama konstituierende dramaturgische Kon- sichtlich der (meist) fiktionalen Darstellungsebene,
stellation in drei zentralen, in derartig erweitertem anderseits zwischen dem Drama und jenen multip-
Sinne aufgefassten »Handlungsachsen« von Drama len Verbindungen zur Welt her, wie sie sich eben –
beschreiben: auf auseinanderstrebende Weise – sowohl im Kon-
text seiner Entstehung als auch im unmittelbaren
1. Temporal-funktionale Achse: die synchrone wie
Kontext seiner Inszenierung herstellen. Allein in der
lineare Anordnung einzelner Handlungsmo-
Aufführung (und ihrer Erfahrung) tangieren und
mente und -sequenzen, von Bildern, Körpern,
überschneiden sich diese Relationen und es stellt
Klängen, Raumaspekten und anderer szenischer
sich die gemeinsame Welt der dramatischen Situa-
»Kraftlinien« (Pavis 2003, 8) in der dramatischen
tion her.
Grunddimension der Zeit. Diese dramaturgische
Dimension definiert die Eigengesetzlichkeit des
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52 I. Begriffe und Konzepte

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Williams, David: »Geographies of Requiredness: Notes on die Literatur und Malerei strukturell – entsprechend
the Dramaturg in Collaborative Devising«. In: Turner/ der von ihnen verwendeten Zeichen – trennt. Dem
Behrndt 2010, 197–202. Drama kommt hierbei eine Zwischenstellung zu, in-
Peter M. Boenisch sofern es im Bezug auf seine theatrale Aufführung
gedacht wird: Obwohl auch der Poesie zugehörig, sei
das Drama »für die lebendige Malerei des Schauspie-
lers bestimmt« und müsse sich deshalb strenger »an
die Gesetze der materiellen Malerei« halten (Lessing
1990, 36). »Die Kunst des Schauspielers«, schreibt
Lessing im fünften Stück der Hamburgischen Dra-
maturgie (1767–69), stehe »zwischen den bildenden
Künsten und der Poesie« (Lessing 1985, 210). Als
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 53

Theater, d. h. vermittelt durch den Schauspieler, sind Seiten: etwa als ›Lesedrama‹ (vgl. Kap. III.14) oder
Dramen demnach Zeit- und Raumkunst zugleich, unter den Vorzeichen »postdramatischen Theaters«
»sichtbare« und »transitorische Malerei« (ebd.). (Lehmann 1999). Die Notwendigkeit, eine solche
Mit Blick auf das Verhältnis von Theater und Gattungsgeschichte überhaupt zu skizzieren, ergibt
Drama wird die Grenzziehung zwischen Literatur sich aus dem Einfluss, den die von ihr gezogenen
auf der einen und bildender Kunst auf der anderen Differenzbestimmungen auf die Praxis und theoreti-
Seite im Moment ihrer strukturellen Begründung sche Reflexion von Theater bis heute – noch in den
durch Lessing problematisch. Ebenso prekär ist die Versuchen ihrer ›Überwindung‹ – haben.
zweite Grenzziehung: die zwischen den poetischen
Gattungen. Berücksichtigt man nur die sog. Haupt-
gattungen, ist dies bereits am Schwanken zwischen
triadischen und tetradischen oder pentadischen Sys- 5.1 Von der Regelpoetik der Frühen
temen abzulesen, die neben Drama, Lyrik und Epik Neuzeit bis zur Ausdifferenzie-
auch im 19. Jahrhundert noch didaktische Poesie rung des triadischen Gattungs-
bzw. beschreibende Dichtung als Hauptgattungen
kennen (vgl. Trappen 2001, 22 f.), ganz zu schweigen
systems um 1800
davon, dass Lyrik in Gattungssystemen vor dem 18.
Jahrhundert kaum als singulärer Sammelbegriff vor- Die in der europäischen Tradition einflussreichsten
kommt (vgl. Szondi 1974b, 9–40). Konzeptionen des Gattungssystems sind jene, die
Zusätzlich verkompliziert wird die Rede von den auf der triadischen Einteilung in die ›Hauptgattun-
literarischen Gattungen durch eine weitere Grenz- gen‹ Drama, Lyrik und Epik beruhen. Sie finden sich
ziehung, die schon Aristoteles vornimmt: die Unter- verstärkt ab dem 18. Jahrhundert und erhalten ihre
scheidung zwischen Geschichtsschreibung und ausführlichste Begründung mit der Philosophie des
Dichtkunst (Poet. 1451b 1–10), d. h. zwischen ver- deutschen Idealismus. Als Einflüsse auf die Entste-
meintlich ›nicht-fiktionalen‹ und ›fiktionalen‹ For- hung triadischer Gattungskonzeptionen werden ge-
men. Für die Frage nach dem Platz des Dramas als nannt: Erstens die Verschiebung von normativen
Gattung hat sie eine historisch untergeordnete Be- Gattungsbestimmungen auf Grundlage der klassi-
deutung, gewinnt aber an Relevanz z. B. in Käte zistischen Regelpoetik hin zur Aufwertung der Ei-
Hamburgers Logik der Dichtung (1957), die das Fik- gengesetzlichkeit individueller Kunstwerke im Rah-
tionalitätskriterium gegen das triadische Gattungs- men der Genieästhetik, deren normativ-essentialis-
system wendet. Dramatik und Epik werden bei ihr tische Seite sich in einer anthropologischen und
zur fiktionalen bzw. mimetischen Gattung zusam- geschichtsphilosophischen Überlagerung des Gat-
mengefasst, deren Texte grundsätzlich »Nicht-Wirk- tungsbegriffs zeigt (vgl. Willems 1981). Zweitens die
lichkeit« konstituierten, während die lyrische Gat- Proliferation von Gattungen im Sinne »historischer
tung dadurch gekennzeichnet sei, dass sie je »subjek- Textgruppen« bzw. ihrer Untergruppen wie Briefro-
tive, existentielle« Wirklichkeitsaussagen treffe man, bürgerliches Trauerspiel usw. (Hempfer 1997,
(Hamburger 1994, 227). 651), auf die das triadische Modell mit der Reduk-
Die Position des Dramas im System der literari- tion auf vermeintlich übergreifende und überzeitli-
schen Gattungen soll im Folgenden, um normative che »Naturformen« (Goethe 2000b, 187) reagiert,
oder essentialistische Diskurse nicht zu verdoppeln, ein Vorgang, den Voßkamp als »Doppelheit von His-
als Geschichte der Differenzbestimmungen unter- torisierungsdruck und Systematisierungszwang« be-
sucht werden, auf denen eine solche, historisch vari- schreibt (Voßkamp 1988, 38). Drittens die Ausein-
able, Positionierung beruht. Dabei ist zum einen die andersetzung mit dem Verhältnis von Gattungspoe-
Historizität jeglichen Gattungssystems mitzubeden- tik und mímēsis-Konzept, in deren Folge Lyrik als
ken bis hin zur Möglichkeit, auf ein solches – oder Sammelbegriff für verschiedene lyrische Formen
auch auf den Begriff Drama – ganz zu verzichten. eingeführt werden konnte (vgl. Scherpe 1968; Ge-
Zum anderen muss die Geschichte dieser Positionie- nette 1990, 36–49), und viertens die bereits ange-
rung in Bezug auf die unterschiedlichen Versuche sprochene medientheoretische Ausdifferenzierung
reflektiert werden, das Verhältnis von Drama und der Künste, der in Hegels Vorlesungen über die Ästhe-
Theater zu fassen, inklusive der ebenfalls differen- tik (1820/21; postum 1830–35) die Abgrenzung der
zierenden Emanzipationsbestrebungen auf beiden Poesie zu den in ihr aufgehobenen ›materiell-stoffli-
54 I. Begriffe und Konzepte

chen‹ bildenden Künsten und der ›gegenstandslos- von tragen« (Politeia III, 395c-d), so wie sie den Zu-
innerlichen‹ Musik entspricht (vgl. Hegel 1986, 3, schauern möglicherweise ›schlechtes Sein‹ vor-
222–225). machten. Darüber hinaus würden mimetische
Künstler nur Trugbilder produzieren, da sie – gemäß
der platonischen Ideenlehre – lediglich Erscheinun-
5.1.1 Aristoteles und Platon: ›Redekriterium‹ gen, nicht aber das ›ursprünglich Seiende‹ abbilde-
als Differenzbestimmung ten (vgl. Politeia III, 597d-e). Bekanntermaßen zieht
Platons Sokrates im zehnten Buch der Politeia dar-
Die Regelpoetiken der Frühen Neuzeit entstehen im aus die Konsequenz, dass die »Nachbildnerei« (Po-
Anschluss an antike Texte, denen sie autoritativ-nor- liteia X, 607c) aus dem idealen Staat zu verbannen
mativen Charakter zuschreiben, v. a. der Ars poetica sei.
(ca. 20 v. Chr.) des Horaz und der – um 1500 ›wie- Die aristotelische Verteidigung der mímēsis hebt
derentdeckten‹ – aristotelischen Poetik. Obwohl sie damit an, dass jene an Stelle der dihḗgēsis als Grund-
auch übergreifende Gattungseinteilungen vorneh- lage aller Dichtkunst gesetzt wird (vgl. Puchner
men, sind ihnen diese weniger wichtig als die darun- 2002, 23 f.). Wenn die Poetik das sokratische Rede-
ter gefassten Subgattungen bzw. Textgruppen (z. B. kriterium wieder aufnimmt, ist es insofern verän-
Tragödie oder Komödie). Die übergreifenden dert, als es nicht mehr mímēsis (Drama) und Nicht-
ebenso wie die Subklassifikationen beruhen auf den mímēsis (Dithyrambos) unterscheidet, sondern zwei
bei Aristoteles genannten Differenzkriterien: Art, Arten von mímēsis differenziert: Es sei möglich,
Mittel und Gegenstand der Darstellung (vgl. Poet. schreibt Aristoteles, »entweder zu berichten – in der
1447a). Für die übergreifende Klassifikation am Rolle des anderen, wie Homer dichtet, oder so, dass
wichtigsten ist die Frage nach der Art der Darstel- man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Fi-
lung, das sog. Redekriterium, mit dem Aristoteles guren als handelnde und in Tätigkeit befindliche
ebenso wie Platon operiert. Letzterer lässt Sokrates auftreten zu lassen« (Poet. 1448a). Neben der diege-
im dritten Buch der Politeia (ca. 387 v. Chr.) sagen, tischen (berichtenden) und der dramatischen (›han-
dass »von der gesamten Dichtung und Fabel einiges delnden‹) mímēsis gibt es, anders als bei Platon,
ganz in Darstellung besteht […], die Tragödie und keine eigens ausgewiesene Mischform. Vielmehr
Komödie, anderes aber in dem Bericht des Dichters wird die berichtende Darstellungsweise noch einmal
selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben unterteilt in den Dichter, der selbst spricht, und je-
finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden nen, der in eine Rolle schlüpft.
wie in der epischen Dichtkunst und auch vielleicht Hinsichtlich der Positionierung des Dramas
anderwärts, wenn du mich verstehst« (Politeia III, durch Aristoteles wird für die westliche Dramen-
394b-c). Hier wird die ›mimetische‹ Kunst der Tra- und Theatergeschichte zum einen bedeutsam, dass
gödie und Komödie, bei denen der Dichter ›nachah- die Poetik in der Form, wie sie uns überliefert ist, v. a.
mend‹ andere Menschen sprechen lasse (vgl. Politeia die Tragödie – die Komödie aber nur am Rande –
III, 393c), von der ›nicht-mimetischen‹ Kunst des behandelt. Hier beginnt eine wirkmächtige Engfüh-
Dithyrambos unterschieden, bei dem der Dichter rung von Drama und Tragödie, in der eine Unterka-
»ohne Nachahmung« selbst erzähle (Politeia III, tegorie (Tragödie) als Leitgattung für den Oberbe-
393c-d). Das Epos erscheint als Mischgattung aus griff (Drama) fungiert. Ihre Zentralstellung für die
diesen beiden Darstellungsarten. poiētikḗ téchnē insgesamt drückt sich auch darin aus,
Anders als bei Aristoteles ist Platons Leitbegriff dass der Tragödie siebzehn, dem Epos hingegen bloß
für die Dichtung nicht mímēsis, sondern dihḗgēsis, vier der überlieferten 26 Kapitel gewidmet sind. Von
d. h. Erzählung. Deshalb kann Platon die Dithyram- großer Wichtigkeit ist zum anderen, dass Aristoteles’
ben als außermimetische Gattung führen, gegen die Aufwertung der mímēsis dem antitheatralischen Zug
die mimetische (dramatische) Kunst abgewertet ihrer platonisch-sokratischen Verdammung nicht
wird. Vorzuwerfen sei dieser Darstellungsweise entgeht. Vielleicht als Zugeständnis an Platon heißt
nicht nur, dass sich der Dichter hinter dem Nachge- es in der Poetik, dass die Inszenierung (ópsis) das
ahmten »verberge« (Politeia III, 393c), sondern »Kunstloseste« an der Tragödie sei und ihre Wir-
auch, dass ›Schimpfliches‹ nachgeahmt werden kung »auch ohne Aufführung [agṓnos] und Schau-
könne. Alle, die mímēsis betrieben, gerieten in die spieler [hypokritṓn] zustande« komme (Poet. 1450b).
Gefahr, dass sie »von der Nachahmung das Sein da- Im Hintergrund dieser Aussage steht u. a. der Vor-
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 55

wurf, dass »ein gebildetes Publikum […] der Ges- Auch die übergreifende Gattungseinteilung nach
ten« nicht bedürfe, und sich die Tragödie daher – im dem Redekriterium weist eine andere Hierarchisie-
Gegensatz zum Epos – »an ein ungebildetes [Publi- rung als bei Aristoteles auf. Es handelt sich um eine
kum]« wende (Poet. 1462a). Deshalb geht die zen- dreigliedrige Einteilung, die an Platon erinnert, aber
trale Positionierung, die Aristoteles dem Drama (als über die spätantike Ars grammatica des Diomedes
Tragödie) im Gattungssystem zuweist, mit dessen vermittelt ist (vgl. Trappen 2001, 58–60). Scaliger
potenzieller Loslösung aus dem Bereich des Thea- unterscheidet erstens die Redeweise der einfachen
tralen einher. Der Vulgaritätsvorwurf richte sich Erzählung (narratio simplex), als deren Vorbild ihm
»nicht gegen die Dichtkunst, sondern gegen die der römische Dichter Lukrez gilt. Als zweites zählt er
Kunst des Interpreten« (Poet. 1462a). Nur weil das die »dialogetische Gattung« auf, die aus Gesprächen
Drama bzw. die Tragödie »auch ohne bewegte Dar- (dialogi) bestehe und auch »dramatisch« genannt
stellung ihre Wirkung [tue], wie die Epik« (Poet. werde. Ihre älteste Untergattung sei das Hirtenge-
1462a), kann sie bei Aristoteles zur höchsten Gat- dicht (die Pastorale) und dann die Komödie, aus der
tung aufsteigen. Befreit vom Theater und damit vom wiederum die Tragödie entstanden sei (»e quo na-
Vorwurf des Vulgären, zeichne sich die Tragödie da- tum tragicum«). Die dritte ›Hauptgattung‹ ist wie bei
durch aus, dass sie kátharsis als die »von der Kunst Platon die gemischte (mixtum), bei der »der Dichter
angestrebt[e] Wirkung« besser erreiche als das Epos sowohl selbst spricht als auch Unterhaltungen vor-
(Poet. 1462b). führt« (Scaliger 1994–2011, Bd. VI, 93). Für Scaliger
entspricht diese »gemischte Darstellungsweise […]
dem epischen Gedicht, das deshalb auch unter allen
5.1.2 Scaliger und Opitz: Dichtungen an erster Stelle steht, da es alle Stoffe
Präskriptive Gattungsbestimmung enthält« (ebd., 95).
als Exklusionsverfahren Wird dem Epos hier der höchste Platz in der Gat-
tungshierarchie zugewiesen, erwähnt Scaliger an-
Die Aristoteles-Rezeption seit der italienischen Re- schließend die Möglichkeit einer alternativen Rang-
naissance steht, wie bereits angedeutet, unter dem folge nach dem Nobilitätsgrad der jeweiligen Gat-
Vorzeichen einer Harmonisierung der Poetik mit der tungen: hier stehen lyrische Formen wie Hymnen,
Ars poetica und der rhetorischen Tradition. Dabei Päane oder Oden an erster und zweiter Stelle; den
werden die antiken Referenztexte als normative Re- dritten Platz teilt sich das Epos mit der Tragödie und
gelwerke eines wesentlich monolithischen Denkens einigen Komödienarten, während andere Komö-
aufgefasst (vgl. Carlson 1984, 37 f.). Trotzdem und dienarten den vierten Platz vor Hochzeitsgedichten,
trotz der ihnen zugeschriebenen Autorität erlaubt Satyrspielen, Elegien etc. einnehmen (vgl. ebd.,
sich manche Poetik selbstbewusst Abweichungen 94 f.). Nach dieser gattungstheoretischen Grundle-
gegenüber den antiken Autoren. Insbesondere ist gung beschreiben die restlichen 54 Kapitel des ersten
dies der Fall bei den Poetices libri septem (Sieben Bü- Buches unterschiedliche Einzelgattungen in einer
cher über die Dichtkunst, postum 1561) des italieni- Reihenfolge, die vorwiegend chronologisch gedacht
schen Gelehrten Julius Caesar Scaliger, der europa- scheint, insofern sie mit der Pastorale als vermeint-
weit bekanntesten Poetik der Renaissancezeit (sechs lich ältester ›dramatischer‹ Gattung beginnt. Ob-
Auflagen bis 1617), für die Scaliger in Anspruch wohl Kapitel 4–39 v. a. ›dramatische‹ Gattungen be-
nimmt, dass sie exakter gearbeitet sei als die Poetik handeln und Ausführungen etwa zum antiken Thea-
des Aristoteles (vgl. Trappen 2001, 39). terbau bieten (vgl. Hulfeld 2007, 46–50), ist die
Im Anschluss an das horazische »aut prodesse Reihung der Einzelgattungen dem Strukturprinzip
[…] aut delectare« (Ars poetica, 333) behauptet Sca- der übergreifenden Gattungshierarchie (im Sinne
liger die unterhaltsame Belehrung (docere cum delec- des Redekriteriums) nicht eindeutig unterworfen.
tatione) als Ziel aller Dichtung; was Aristoteles Besonders deutlich wird das am Beispiel der Satire
mímēsis (imitatio) nenne, sei lediglich Mittel zu die- (vgl. Scaliger 1994–2011, Bd. VI, Kap. 21 u. 40), die
sem Zweck (vgl. Weinberg 1942, 339–341; 353). Da- nach dem Redekriterium wieder in drei Untergat-
mit geht eine Abwertung des kátharsis-Begriffs ein- tungen differenziert wird, die ihrerseits den vorher
her, der von Scaliger als untauglich abgelehnt wird, genannten Obergattungen entsprechen: die »einfach
weil er nicht für jeden Stoff Geltung habe (vgl. Scali- erzählende, die dramatische und die gemischte«
ger 1994–2011, Bd. VI, 132 f.; Kappl 2006, 288 f.). (ebd., 189). Dieser unsystematische Zug in Scaligers
56 I. Begriffe und Konzepte

Gattungsreihung lässt sich zum einen mit dem Voll- Der regelpoetische Normierungsdruck erreicht
ständigkeitsanspruch seiner Poetik erklären, der die seine stärkste Ausprägung im absolutistischen
»möglichst vollständige Kompilation verfügbaren Frankreich des 17. Jahrhunderts. Mithilfe u. a. der
Wissens« über die ebenfalls formulierten »theoreti- 1635 gegründeten Académie française institutionali-
schen Gedanken und erklärenden Überleitungen« sieren Kardinal Richelieu und sein Nachfolger Ma-
stellt (Hulfeld 2007, 49). Zum anderen hängt die sys- zarin eine Kulturpolitik, bei der Tragödie, Komödie
tematische Schwäche damit zusammen, dass es den und Epos als die ›großen‹ Gattungen bestimmt und
Regelpoetiken der Frühen Neuzeit darum geht, nor- den Regeln der später sog. doctrine classique (Bray
mativ auf die dichterische Praxis zu wirken. Im 1966) unterworfen werden: der Lehre von den drei
Dienste der »exakte[n] Reglementierung einzelner Einheiten, dem Wahrscheinlichkeitsprinzip (vrai-
Dichtarten« (Scherpe 1968, 14) scheint es wichtiger, semblance), der Vorschrift von der Beachtung des
diese genau zu beschreiben als ihre Zugehörigkeit zu decorum (bienséance) sowie der aus der antiken Rhe-
einem bestimmten Redemodus zu bestimmen. torik abgeleiteten Aufteilung in einen ›hohen‹ (Tra-
Versuchen die Poetices libri septem noch eine Bin- gödie) und einen ›niedrigen‹ Stil (Komödie). Den
dung von Ober- und Untergattungen, fehlen Sam- ›kleineren‹, meist lyrischen Formen wird in diesem
melbegriffe wie Drama, Epik oder gar Lyrik in ande- Kontext weniger Beachtung geschenkt (vgl. Bray
ren Regelwerken des 16. und 17. Jahrhunderts oft 1966, 354). So behandelt Nicolas Boileaus Art poé-
völlig, etwa bei dem von Scaliger beeinflussten Mar- tique (1674) die ›großen‹ Gattungen Tragödie, Ko-
tin Opitz. Dessen Buch von der deutschen Poeterey mödie und Epos im dritten Gesang getrennt von
(1624) orientiert sich nur an Stil und Inhalt einzel- Textgruppen wie der Elegie, der Ode, dem Sonett
ner Textgruppen (z. B. Tragödie, Komödie, Satire, oder der Satire, die im zweiten Gesang ohne über-
Epigramm, Ekloge, Elegie, etc.) ohne übergreifende greifende Klassifikation aneinandergereiht werden
Klassifikationen vorzunehmen. Geliefert werden (vgl. Genette 1990, 35). René Rapins im gleichen
stattdessen Differenzkriterien, mit denen Texte, die Jahr erschienene Réflexions sur la Poétique machen
diesen widersprechen, aus einer bestimmten Text- die Abwertung der ›kleinen‹ Gattungen noch deutli-
gruppe ausgeschlossen werden. Normativ-präskrip- cher. Ihnen zufolge gibt es nur drei perfekte Formen
tive Gattungskonzeptionen wie diejenigen von Scali- der Poesie (»espèces de poème parfait«), nämlich
ger und Opitz setzen allgemeingültige und überzeit- Tragödie, Komödie und Epos bzw. heroisches Ge-
liche Regeln (praecepta) für jede Gattung voraus. dicht (poème héroïque). Textgruppen, die sich nicht
Diese Regeln lassen sich an Mustertexten (exempla) auf diese Gattungen zurückführen lassen – wie für
studieren und werden zur Nachahmung (imitatio) Rapin die Satire auf die Komödie – seien »nichts an-
empfohlen (vgl. Willems 1981, 97–105). Für jede deres als Arten unvollkommener Dichtung [›ne sont
Textgruppe gibt es insofern einen »Idealtypus«, den que des espèces du poème imparfait‹]« (Rapin
»die einzelnen historischen Konkretisationen an- 1674/1970, 71; vgl. Genette 1990, 35–36).
streben müssen«, um Beispiele ihrer Gattung zu sein Von Italien und Frankreich ausgehend haben die
(Hempfer 1973, 57). Da kein Text »zugleich die Idee Regelpoetiken einen kaum zu überschätzenden Ein-
der Tragödie und die Idee der Komödie verwirkli- fluss auf Gattungsgeschichte und -theorie des Dra-
chen kann«, sind Gattungsmischungen in einem sol- mas ausgeübt. Die Frage nach der Position des Dra-
chen System zumindest implizit verboten (Hempfer mas als übergreifender Kategorie im Vergleich etwa
1973, 58). So heißt es bei Opitz z. B. über die Komö- zum Epos rückt bei ihnen jedoch in den Hinter-
die, dass jene Dichter im Irrtum seien, »welche heu- grund, auch dort, wo sich – wie bei Scaliger – eine
tiges tages Comedien geschrieben […] die Keyser Hierarchisierung der Gattungen noch findet. Der
vnd Potentaten eingefuehret; weil solches den regeln normative Anspruch der Regelpoetiken bedingt ei-
der Comedien schnurstracks zuewieder laufft« nen Fokus auf einzelne Textgruppen, etwa die dra-
(Opitz 2002, 30). Hier wird das aristotelische In- matischen Einzelgattungen Komödie und Tragödie,
haltskriterium (Gegenstand der Darstellung) – in die voneinander abgegrenzt werden sollen und de-
seiner normativen Verdichtung auf die sog. Stände- ren Vermischung als Regelverstoß erscheint. Dessen
klausel – als Exklusionsverfahren gegenüber Texten ungeachtet erfreut sich die Mischform der Tragiko-
gebraucht, die als ›fehlerhafte‹ aus dem Gattungssys- mödie im frühen 17. Jahrhundert großer Beliebtheit
tem an sich und damit aus dem Bereich der Dicht- und zeitigt mit Corneilles Le Cid (1637) einen der
kunst überhaupt ausgeschlossen werden. größten Publikumserfolge der Französischen (Vor-)
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 57

Klassik. Auch unter dem Eindruck der sog. Querelle deren »Nachahmungen« es kein »Vorbild« gebe, da
du Cid, dem unter Beteiligung der Académie fran- die in ihr »Redenden […] lachen und weinen, hus-
çaise geführten Streit darüber, ob sein Stück den Re- ten und schnupfen nach Noten«, ist hinlänglich be-
geln des Anstands, der Wahrscheinlichkeit und der kannt (Gottsched 1973b, 367). Trotzdem schreibt er
drei Einheiten entspreche, ändert Corneille – zu- nicht einfach eine Verfallsgeschichte von den alten
nächst ohne größere Überarbeitung des Stücktexts – zu den neuen Künsten, z. B. lobt die Critische Dicht-
die Gattungsbezeichnung ab 1648 von Tragi-comédie kunst Ballette in der Form »allegorische[r] Tanz-
auf Tragédie. Auf theoretischer Ebene wird dieses spiele« als mögliche Alternative zu Oper und Ope-
Vorgehen durch die Pratique du théâtre (1657) des rette (Gottsched 1973b, 387).
Abbé d’Aubignac gestützt, der zwar betont, Tragödie Die Erfindung ›geglückter‹ neuer Gattungen ist
und Komödie seien »zwei so sehr voneinander ge- bei Gottsched freilich daran gebunden, dass sie dem
schiedene Dichtungen [›deux Poèmes tellement dis- Vernunft- und Natürlichkeitsbegriff Genüge tun,
tinguez‹]«, dass sie auf keiner Ebene miteinander der ihm in den ›Regeln der Alten‹ bereits niederge-
korrespondieren könnten »ohne gegen die Kunst legt scheint. Zur Vermittlung von Regelpoetik und
und den Brauch zu sündigen [›sans pécher contre Vernunftbegriff behauptet er nämlich eine ›natürli-
l’Art & contre l’Usage‹]« (Aubignac 1971, 135), zu- che Ratio‹ der Antike: Die Griechen hätten als »die
gleich aber Tragödien mit glücklichem Ausgang er- vernünftigsten Leute von der Welt […] die wahrhaf-
laubt (ebd., 128). ten Schönheiten der Natur« entdeckt und »aus ge-
nauer Betrachtung wohlgerathener Meisterstücke
die Regeln heraus [gebracht], aus welchen alle ihre
5.1.3 Gottsched: Moraldidaxe und ›Sinnlich- Schönheit den Ursprung hatte« (Gottsched 1973a,
keit‹ als Kriterien der Gattungshierarchie 180). Trotzdem wählt Gottsched seine exempla zum
Studium der Vorschriften (praecepta) nicht primär
Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Criti- aus der griechischen Antike, sondern nennt v. a. la-
schen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) strebt teinische Dichter und die Autoren der Französi-
nach der Vermittlung einer normativ-präskriptiven schen Klassik. Er versteht diese Beispiele als Instan-
Gattungskonzeption im Sinne von Scaliger oder zen, durch welche die ›natürlichen Regeln‹ tradiert
Opitz mit dem Vernunftbegriff der Aufklärung. würden (vgl. Gottsched 1973a, 181–182). Sie kön-
Zwischen den früheren Regelpoetiken und Gott- nen junge Menschen »zum guten Geschmacke in der
scheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Poesie […] bringen« und den Unterschied zwischen
Deutschen liegt die zunächst im Kontext der Franzö- der überzeitlichen »wirkliche[n] Schönheit« – Ein-
sischen Klassik ausgetragene Querelle des Anciens et zelwerke bzw. Gattungen nach den Idealen ›natürli-
des Modernes, die Debatte um den Rang der zeitge- cher Vernunft‹ – und dem »Geschmacke [der] Zei-
nössischen (modernen) Künste im Vergleich zur ten« lehren (Gottsched 1973a, 182–183).
Antike. Wiewohl Gottscheds Position zur Querelle Wie bei Opitz werden die untersuchten Einzelgat-
nicht einfach zu bestimmen ist (vgl. Pago 1989), tungen in der Critischen Dichtkunst nach keinem
führt die 4. Auflage der Critischen Dichtkunst (1751) übergreifenden Kriterium zu Hauptgattungen zu-
zumindest eine übergreifende Sortierung der Einzel- sammengefasst, wenngleich ihre Reihung nicht ›sys-
gattungen nach »Gedichten, die von den Alten er- temlos‹ scheint, sondern – mit starken Verschiebun-
funden« und »Gedichten, die in neuern Zeiten er- gen zwischen der vierten und früheren Auflagen –
funden worden« ein (Gottsched 1973b, 416). Tragö- eine Art Entwicklungsgeschichte der Poesie
die und Komödie gehören zur ersten Kategorie, die vorstellen könnte (Scherpe 1968, 39–49). Zudem
Oper zur zweiten; wurden diese Einzelgattungen in lässt Gottsched die Beschreibung der Einzelgattun-
den früheren Auflagen als »Schauspiele« nacheinan- gen auf einen »allgemeinen Theil« folgen, der u. a.
der abgehandelt (Gottsched 1973b, 361), rückt die »Von den dreyen Gattungen der poetischen Nachah-
Oper in der Fassung von 1751 als »Schauspiel« und mung« handelt (Gottsched 1973a, 195–224). Als
»singende Dichtkunst« (Gottsched 1973c, 144) zwi- erste (Haupt-)Gattung erscheint dort die »bloße Be-
schen Cantaten und »Wirthschaften, Mummereyen schreibung oder sehr lebhafte Schilderey von einer
und Ballette«, die vorher kein eigenes Kapitel hatten natürlichen Sache« (Gottsched 1973a, 195). Erwähnt
(Gottsched 1973b, 555). Gottscheds Ablehnung der werden in diesem Zusammenhang Vergil und Ho-
von ihm als ›unnatürlich‹ empfundenen Oper, für mer. Die zweite »Art der Nachahmung« geschehe,
58 I. Begriffe und Konzepte

»wenn der Poet selbst die Person eines andern spie- Gattung: Für Gottsched untergliedern sich die Fa-
let oder einem, der sie spielen soll, solche Worte, beln in »epische«, die – an die Bestimmung der ers-
Geberden und Handlungen vorschreibt und an die ten Gattung erinnernd – »bloß erzählet«, und in
Hand giebt, die sich in solchen und solchen Umstän- »theatralische«, die »wirklich gespielet und also le-
den für ihn schicken« (Gottsched 1973a, 197 f.). bendig vorgestellt« werden (Gottsched 1973a, 207).
Handle es sich innerhalb der ersten Gattung um Nach diesen Ausführungen ist eine ›theatralische
»Beschreibungen […] der Gemüthsbeschaffenhei- Poesie‹ ohne (moralische) Fabel ebenso denkbar wie
ten«, gehe es hier um »Ausdrückungen« derselben eine ›nicht-theatralische‹ (epische) Fabel; die ›theat-
(Gottsched 1973a, 222). Als Beispiele nennt Gott- ralische Poesie‹ aber liegt als ›Gattung‹ zwischen den
sched zum einen lyrische Formen, etwa die »Klagge- von Gottsched bestimmten ›Arten der Nachah-
dichte, die Canitz und Besser auf ihre Gemahlinnen mung‹.
gemacht«, insofern er diese als Nachahmungen eines In jüngerer Zeit wurde versucht, den Aspekt der
zuvor empfundenen Schmerzes begreift, der im Mo- Sinnlichkeit, das »Maß, in dem ein Gedicht auf die
ment der lyrischen Produktion schon abgeschwächt Psyche des Lesers [sic!] Eindruck macht«, als das zu-
sein müsse (Gottsched 1973a, 198–199). Zum ande- grunde liegende Kriterium der Gattungseinteilung
ren beruhe »fast die ganze theatralische Poesie« auf im ›allgemeinen Theil‹ der Critischen Dichtkunst zu
dieser zweiten Gattung (Gottsched 1973a, 199). interpretieren (Trappen 2001, 131). Dies lasse sich
Lassen sich diese Differenzierungen noch weitest- aus Gottscheds Hierarchisierung der Gattungen
gehend mit dem Redekriterium in Einklang bringen, schließen, derzufolge ›Ausdrückungen‹ höher zu be-
ist das bei der dritten ›Hauptgattung‹ nicht mehr der urteilen seien als ›Beschreibungen‹, die Fabel aber
Fall. Bei ihr handelt es sich um die »Fabel«, definiert als »Hauptwerck in der Poesie« den höchsten Wert
als »eine unter gewissen Umständen mögliche, aber besitze (Gottsched 1973a, 202). Tatsächlich ist Sinn-
nicht wirklich vorgefallene Begebenheit, darunter lichkeit eine zentrale Kategorie der Critischen Dicht-
eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt« kunst, insofern die Fabel einen »lehrreichen morali-
(Gottsched 1973a, 204). Die Critische Dichtkunst schen Satz […] recht sinnlich und auf eine ange-
verwendet den Begriff Fabel sowohl zur Bezeich- nehme Art fast handgreiflich« machen soll
nung einer Textgruppe, z. B. im Sinne der »äsopi- (Gottsched 1973a, 215). Dennoch kann ›Sinnlich-
schen Fabeln« (Gottsched 1973a, 203), als auch, um keit‹ nicht als einziges übergreifendes Differenzkri-
den aristotelischen mythos-Begriff ins Deutsche zu terium der Critischen Dichtkunst gelten. An dieser
übertragen (Gottsched 1973a, 202). Verbunden sind Fehlbestimmung, wie z. B. Trappen sie vornimmt,
beide Bedeutungen durch den hohen Stellenwert, zeigt sich noch einmal die Komplexität der Gott-
den die Moraldidaxe in Gottscheds Poetik ein- schedschen Gattungsdifferenzierung. Die Art, in der
nimmt. Um etwa eine Tragödie zu schreiben, soll die Fabel Moral versinnlicht, ist laut Gottsched näm-
sich der Dichter zunächst einen »moralischen Lehr- lich ›theatralisch‹ oder ›episch‹. Wenn aber die ›Aus-
satz« wählen, den er den »Zuschauern auf eine sinn- drückung‹ eine höhere Sinnlichkeit besitzen soll als
liche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine die ›Beschreibung‹, macht es keinen Sinn, der (er-
allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit seines Satzes zählenden) ›epischen Fabel‹ wiederum eine höhere
erhellet« (Gottsched 1973b, 317). An dieser Bestim- Sinnlichkeit als der (theatralen) ›Ausdrückung‹ zu-
mung ist nicht nur eine moralisierende Verengung zuschreiben. Die Hierarchisierung bei Gottsched be-
des mythos-Begriffs zu erkennen, sondern auch, dass ruht demnach auf zwei Kriterien, die aufeinander
die dritte ›Hauptgattung‹ Fabel in einem merkwür- zurückverweisen: der sinnlichen Qualität im Schritt
digen Spannungsverhältnis zu den ersten beiden von der ersten zur zweiten Gattung; und der didakti-
Gattungen ›Beschreibungen‹ und ›Ausdrückungen schen Qualität im Übergang zur dritten, innerhalb
von Gemüthsbeschaffenheiten‹ steht. Einerseits ist der es dann wieder verschiedene Stufen von Sinn-
Scherpe zuzustimmen, dass die Differenzierung der lichkeit geben mag.
drei Gattungen bei Gottsched »auch die Dichtung als Für die Positionierung des Dramas im System der
Nachahmung erklärt […], der keine Fabel zugrunde literarischen Gattungen und mit Blick auf das Ver-
liegt« (Scherpe 1968, 33; vgl. Gottsched 1973a, 222). hältnis zum theatralen Ereignis ist diese wenig be-
Andererseits ist die ›theatralische Poesie‹ sowohl auf achtete Komplexität der Gottschedschen Gattungs-
die zweite – grundlegend als Spiel definierte – Gat- hierarchisierung von großem Interesse. Erstens zeigt
tung bezogen, als auch eine Subkategorie der dritten sich an ihr paradigmatisch der Konflikt zwischen ei-
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 59

ner deskriptiven Gattungsvielfalt, aufgrund derer bildliche an, nur lasse sich deren ›Genie‹ nicht mit-
die ›theatralische Poesie‹ nicht einfach der (morali- hilfe von Regeln fassen. Laut Lessing können diese
schen) Fabel zugeschlagen werden kann, und einer nur auf das Äußere der antiken ›Muster‹ zielen und
präskriptiven Bestimmung von Kunst: bei Gottsched zu einer »mechanischen Einrichtung« führen; ein
als Medium versinnlichter Didaktik. Auf der Ebene ›Genie‹ wie Shakespeare hingegen komme den
der Einzelgattungen entspricht ihr die (deskriptive) »Mustern der Alten […] im Wesentlichen« näher
Behandlung vermeintlich ›abzulehnender‹ Kunst- (Lessing 1997, 501).
formen wie der Oper, die auf Grundlage des Natür- Diese Gegenüberstellung präsentiert eine Argu-
lichkeits- und Vernunftkriteriums in andere Formen mentationsfolge, die später auch für die theoretische
(z. B. das ›allegorische Tanzspiel‹) überführt werden Begründung der Genieästhetik im Sturm und Drang
sollen. Zweitens begründet die Einführung der Sinn- typisch wird: Erstens: Es gibt einen überzeitlichen
lichkeit als Differenzkriterium zwischen Kunst und ›Zweck der Tragödie‹, den die antiken Beispiele er-
Philosophie, die »für den großen Haufen der Men- reichen. Zweitens: Der Klassizismus französischer
schen viel zu mager und zu trocken« sei (Gottsched Prägung verfehlt diesen Zweck, gerade weil er die
1973a, 221), eine Aufwertung des ›versinnlichten‹ ›Muster der Alten‹ kopiert; im gleichen Zug ›ent-
(aufgeführten) Dramas. Die größere Anschaulich- fremdet‹ er sich und seine Rezipienten von Wahrheit
keit der dramatischen bzw. ›theatralischen‹ Fabel er- und Natur. Drittens kann die Verbindung zwischen
gibt sich mitunter daraus, dass sie »wirklich gespielet Antike und Neuzeit nicht in einer Übereinstimmung
und […] lebendig vorgestellt« wird (Gottsched der äußeren Form bestehen, sondern nur ›im We-
1973a, 207). Die Vorrangstellung des Dramas gegen- sentlichen‹, wie es das ›Genie‹ erfasst und dadurch
über dem Epos wurzelt bei Gottsched also u. a. aus die Kunst zur Natur zurückführt. So beschreibt Goe-
dem Umstand, dass das Drama potenziell Theater the die Begegnung mit Shakespeare als Ausbruch aus
ist. Dem Theater freilich nutzt dies wenig, insofern der ›unnatürlichen‹ Regelhaftigkeit des 18. Jahrhun-
es damit den vermeintlichen Leitprinzipien der derts: »Und was will sich unser Jahrhundert unter-
Dichtkunst (Nachahmung der Natur, Vernunft, Mo- stehen, von Natur zu urteilen. Wo sollten wir sie her
ral) unterworfen wird und auf ein regelmäßiges kennen, die wir von Jugend auf alles geschnürt und
›dramatisches Modell‹ verengt werden soll. geziert an uns fühlen […]« (Goethe 2000c, 227); be-
kanntermaßen findet Goethe die Antwort bei Shake-
speare: »Natur! Natur! nichts so Natur als Shake-
speares Menschen« (Goethe 2000c, 226).
5.2 Gattungstheorie um 1800: Der – auch im Horizont der Genieästhetik vor-
Die Trennung von ›innerem ausgesetzte – Natürlichkeitsanspruch der Kunst ist
Wesen‹ und ›äußerer Form‹ nicht mehr, wie bei Gottsched, durch die Nachah-
mung vermeintlich überzeitlicher Regeln verbürgt,
sondern vollzieht sich geradezu in Abweichung von
Gottscheds Versuch, zwischen Vernunftprinzip, Na- ihnen. Grundlegend hierfür ist die Historisierung
türlichkeitsanspruch und Regelpoetik zu vermitteln, des Naturbegriffs, wie Johann Gottfried Herder sie
stößt im Deutschland des 18. Jahrhunderts auf Wi- vornimmt. Bei ihm führt die Wandelbarkeit der Na-
derspruch. Gegen die ›regelmäßigen Franzosen‹, de- tur in die wesentliche Geschichtlichkeit aller Dra-
ren Dichtkunst Gottsched ins Deutsche bringen men- und damit auch der Gattungstheorie: »Sopho-
wollte, wird der von ihm als ›regellos‹ verurteilte kles’ Drama und Shakespeares Drama sind zwei
Shakespeare zum Leitbild erhoben. Im berühmten Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen
17. Literaturbrief (1759), in dem Lessing wünscht, gemein haben« (Herder 1993, 499–500; vgl. Szondi
»dass sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater 1974a, 67). Obwohl es sinnvoll ist, die Genieästhetik
vermengt hätte«, heißt es über Shakespeare und im Horizont von »Norm und Abweichung« zu be-
Corneille: »Der Engländer erreicht den Zweck der schreiben (Fricke 1981), da sie die Eigengesetzlich-
Tragödie fast immer, so sonderbare und ihm eigene keit einzelner Werke gegen normierende Gattungs-
Wege er auch wählet; und der Franzose erreicht ihn begriffe ausspielt, erscheint Shakespeares Drama bei
fast niemals, ob er gleich die gebahnten Wege der Al- Herder explizit nicht als Normabweichung. Dessen
ten betritt« (Lessing 1997, 499/501). Wie Gottsched Gestalt müsse weder verurteilt noch verteidigt wer-
erkennt Lessing die Kunst der Antike als eine vor- den, sondern erkläre sich aus der geschichtlichen
60 I. Begriffe und Konzepte

Wandlung von ›griechischer‹ zu ›nordischer Natur‹: beschränkt, dass aus keinem ›Meisterwerk‹ überzeit-
»In Griechenland entstand das Drama, wie es in liche Regeln gewonnen werden können; sein »Shake-
Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland speare-Bild gestattet nur Nachfolge im typologi-
wars, was es in Norden nicht sein kann. In Norden schen, nicht im dramentechnischen Sinn« (Osinski
ists also nicht und darf nicht sein, was es in Grie- 2007, 178). Für die Gattungstheorie bedeutet dies
chenland gewesen« (Herder 1993, 499). Die geschlos- letztlich, dass sie sich zugunsten eines ›individuali-
sene Form des Dramas (Klotz 1969) habe der Einheit sierenden Verfahrens‹ fast aufgeben muss: Die »Na-
und Simplizität griechischer ›Natur‹ entsprochen; turmethode« des Gattungsvergleichs, so Herder, be-
der Vielfalt und Disparatheit der modernen ›Natur‹ stünde darin, »jede Blume an ihrem Ort zu lassen,
stehe sie als etwas Gekünsteltes gegenüber; in Her- und dort ganz wie sie ist, nach Zeit und Art, von der
ders Worten: als »Puppe« ohne »Geist, Leben, Natur Wurzel bis zur Krone zu betrachten« (Herder 1991,
[und] Wahrheit« (Herder 1773/1993, 505). 576).
Anders als die ›Regelpoetik‹ erfasse das ›Genie‹
die ›Natur‹ der spezifischen geschichtlichen Situa-
tion; deshalb seien die Werke des ›Genies‹ den ›Re- 5.2.1 Von der Historisierung der Gattungs-
geln‹ der Gattung nicht nur vorgängig, sondern be- theorie zu Goethes ›Naturformen‹
stimmten diese als historisch kontingent. Logisch
konsequent folgert Herder, dass selbst aus der Kunst Herders Historisierung der Dramen- und Gattungs-
Shakespeares keine überzeitlichen ›Regeln‹ abgelei- theorie bleibt in einer Aporie gefangen: Obwohl das
tet werden können. Sein Aufsatz endet mit dem antike ›Drama‹ vom Shakespeareschen geschieden
»traurige[n] und wichtige[n] […] Gedanke[n], dass wird, bis zu dem Punkt, an dem sie kaum mehr ›den
auch dieser große Schöpfer von Geschichte und Namen gemein‹ haben, sind beide in einem norma-
Weltseele immer mehr veralte!« (Herder 1993, 520). tiven Wertesystem aufeinander bezogen. Das liegt
Für die Gattungstheorie um 1800 ergeben sich daran, dass Herder eine Trennung von als historisch
aus diesen Setzungen folgende Problemstellungen: kontingent gedachter ›äußerer Form‹ und überzeitli-
Erstens sprengt »die Einsicht in die Geschichtlich- chem bzw. organisch wachsendem ›innerem Wesen‹
keit von Poesie und Poetik […] die geschlossene des Dramas vollzieht. Die Gattung Drama ist ihm
Gruppe der kanonisierten, in Gattungspoetiken im- nicht äußerlich-formal bestimmt, sondern dadurch,
mer wieder thematisierten Gattungen« (Zymner dass ihre historischen Aktualisierungen jeweils der
2003, 24). Daraus folgt nicht nur die generelle Unab- ›Natur‹ des Zeitalters entspringen. Durch diese zent-
schließbarkeit der Reihe von Einzelgattungen, son- rale Positionierung der (über Herders Genese-Be-
dern auch die Brüchigkeit übergreifender Gattungs- griff als historisch wandelbar gedachten) ›Natur‹,
bezeichnungen, wenn etwa »Sophokles’ Drama und kehrt die Vorstellung einer absoluten Norm wieder,
Shakespeares Drama […] kaum den Namen gemein gegen die sich Herder in Auseinandersetzung mit
haben« (Herder 1993, 499–500). Zweitens bedingt der Französischen Klassik wendet (vgl. Szondi
die Abwendung von der Annahme überzeitlicher 1974a, 53). Nur aus einem normativen Natürlich-
Regeln eine Verschiebung vom Deduktions- zum In- keitsanspruch heraus kann er bestimmen, dass de-
duktionsverfahren (Hempfer 1973, 128–130), das im ren Dramen keine ›natürlichen‹ Vertreter ihrer Gat-
Kontext der Genieästhetik jedoch an ›Mustertexte‹ tung seien, sondern ›Nachäffungen‹ auf Grundlage
gebunden bleibt; waren diese vorher durch ›tra- missverstandener Regeln (vgl. Herder 1993, 504).
dierte‹ Kanonisierungen festgelegt, legitimieren sie Herder behauptet, dass es einen Zweck des Dramas
sich jetzt über die ›Genialität‹ des Autors. Für die gebe, der für alle Zeiten gültig sei, und den die fran-
Gattungstheorie wird hier v. a. die Vorstellung prob- zösischen Autoren verfehlen würden: »[…] nichts
lematisch, dass das ›Genie‹ die Gattungen transzen- mehr und minder, als eine gewisse Erschütterung des
diere: bei Shakespeare, so Herder, sei »jedes Stück Herzens, die Erregung der Seele in gewissem Maß
[…] History im weitsten Verstande, die sich nun und von gewissen Seiten, kurz! eine Gattung Illusion,
freilich bald in Tragedy, Comedy, u.s.w. mehr oder die wahrhaftig! noch kein Französisches Stück zu-
weniger nuanciert. – Die Farben aber schweben da wege gebracht hat, oder zuwege bringen wird« (Her-
so ins Unendliche hin […]« (Herder 1993, 520). der 1993, 505). Mit der Übernahme des Rührungs-
Drittens ist die Reichweite der induktiven Methode kriteriums gerät Herders Dramen- und Gattungs-
in Herders historisierender Genieästhetik dadurch theorie in den doppelten Horizont von »historischem
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 61

Denken« und »Wirkungsästhetik, ohne dass die Ge- ten entstandenen denken kann, muss ihm Śakuntalā
gensatzspannung beider ausgetragen würde« als Mischform erscheinen: Es sei, schreibt Herder im
(Szondi 1974a, 79). In diesem Spannungsverhältnis dritten Brief, ein »dramatisiertes Epos« bzw. »ein
steht die formale Gestaltung auf der Seite des histori- Episches Drama« (Herder 1792/1998, 60/64).
schen Denkens, während das vermeintlich überzeit- Für Herders Positionierung des Dramas im Sys-
liche ›Wesen‹ der Gattung (Natürlichkeit, rührende tem der literarischen Gattungen ist wichtig, dass
Wirkung, etc.) – d. h. der Maßstab, nach dem die diese Vermischung nicht einfach auf formeller
Angemessenheit der Form beurteilt wird – jenseits Ebene – d. h. an der »Schlaube« – geschieht, sondern
formaler Kriterien zu liegen scheint. Im die Verschmelzung zweier »Wesenheiten« oder
»Shakespear«-Aufsatz (1773) nutzt Herder das Bild »Kerne« darstellt. Von hier führt eine logische Linie
von der (historisch kontingenten) »Schlaube zu Goethes berühmt gewordener Unterscheidung
[Schale]« und dem »Kern«, der als »Frucht« orga- zwischen »Dichtarten« und »Naturformen der Poe-
nisch in ihr wächst (Herder 1993, 500). sie« (Goethe 2000b, 187), die dieser ebenfalls in ei-
Die Unterscheidung von »Kern« und »Schlaube« nem Text entwickelt, der sich mit dem Verhältnis
ist keineswegs trennscharf; mitunter werden struk- von ›europäischer‹ und ›außereuropäischer‹ Kunst
turelle Prinzipien dem ›Innen‹ zugeschlagen, wenn beschäftigt: den Noten und Abhandlungen zum bes-
es z. B. in den Briefen »Über ein morgenländisches seren Verständnis des West-Östlichen Divans (1819).
Drama« (1792) heißt, dass der »Zusammenhang der Zu den Dichtarten zählt Goethe historische Text-
Teile also, Einheit, Fortgang und Interesse der Hand- gruppen wie die Allegorie, die Ballade, den Roman
lung […] die Seele des [‚westlichen’] Drama[s]« seien oder die Ode (Goethe 2000b, 187). Ihnen stellt er die
(Herder 1998, 65; Hervorh. M.B.). Die Differenz zur Naturformen als »Dichtweisen« gegenüber: »die klar
»Schlaube« wird allerdings klar, wenn es in der Fort- erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die
führung des Satzes heißt, dass diese strukturellen persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama«
Prinzipien nicht an formale ›Regeln‹ wie die »klein- (Goethe 2000b, 187). Bisweilen würden diese Dicht-
liche Rücksicht auf Ort und Zeit« gebunden seien weisen ›rein‹ vorkommen, z. B. das Epos bei Homer,
(Herder 1998, 65). Mit der Trennung von ›äußerer meist aber seien sie innerhalb eines Einzelwerks
Form‹ und ›innerem Wesen‹ ist Herder früher Ver- oder einer ›Dichtart‹ vermischt. Beim »französi-
treter einer Entwicklung, die Willems für die Gat- schen Trauerspiel« z. B. sei »die Exposition episch,
tungstheorie des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet die Mitte dramatisch, und den fünften Akt, der lei-
hat (vgl. Willems 1981, 193–242) und deren Ausläu- denschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man
fer sich im 20. Jahrhundert bei Emil Staiger finden, lyrisch nennen« (Goethe 2000b, 188).
wenn dieser die Sammelbegriffe Lyrik, Epik und Die Unterscheidung von »Kern« und »Schlaube«
Dramatik von den »Seinsweisen« des Epischen, Lyri- kehrt hier insofern wieder, als es sich nach Meinung
schen und Dramatischen scheidet (Staiger 1972). Goethes bei den Dichtarten um »äußer[e] zufällig[e]
Mit der Historisierung der Gattungstheorie, wie sie Formen handelt«, bei den Naturformen hingegen
für Herder skizziert wurde, geht die Tendenz einher, um die »inneren notwendigen Uranfänge« der Gat-
den historischen Gattungen oder Einzelwerken ›we- tungen (Goethe 2000b, 189). Die ambivalente Histo-
senhafte‹ Gattungsbegriffe gegenüberzustellen. In risierung im Stile Herders greift mit aller Deutlich-
seinen »Briefen über ein morgenländisches Drama« keit, wenn Goethe vorschlägt, den Zusammenhang
behandelt Herder das von Georg Forster übersetzte der ›äußeren‹ Dichtarten und der ›inneren‹ Natur-
indische Stück Śakuntalā (ca. 400 v. Chr.) als ein dra- formen in einem Kreis schematisch darzustellen, um
matisches ›Meisterwerk‹, das dem ›indischen We- ihre schwer zu fassende Ordnung verstehen zu kön-
sen‹ so entspreche wie Shakespeare dem ›nordi- nen: »Man wird sich […] einigermaßen dadurch
schen‹ und Sophokles dem griechischen (vgl. Kap. helfen, dass man die drei Hauptelemente [Drama,
III.3.2). Da das ›indische Drama‹ – anders als das Lyrik und Epik] in einem Kreis gegen einander über
›westliche‹ – jedoch nicht den Naturbegriff, sondern stellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element
das Heilige in seinem »Kern« habe, kann Herder es einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beispiele,
im System der literarischen Gattungen nicht ›rein‹ die sich nach der einen oder der andern Seite hinnei-
auf der Seite des Dramatischen positionieren. Aus gen, bis endlich die Vereinigung von allen dreien er-
seiner eurozentrischen Perspektive, die kein generi- scheint und somit der ganze Kreis in sich geschlos-
sches ›Wesen‹ außerhalb des vermeintlich im Wes- sen ist« (Goethe 2000b, 188). Einem solchen »Gat-
62 I. Begriffe und Konzepte

Abb. 1: Julius Petersens


»Gattungsrad« (1925)

tungsrad«, wie Julius Petersen es 1925 – der Idee 5.2.2 Goethe und Schiller: Qualitative
Goethes folgend und auf Grundlage der spätantiken Gattungstypologie und das ›Wesen‹
Rota Vergilii – entworfen hat (Petersen 1925; vgl. des Dramas
Müller-Dyes 1978, 55–60, s. Abb.), ist einerseits eine
zeitliche Abfolge eingeschrieben, insofern die inne- Zusammen mit Schillers Ȇber naive und sentimen-
ren Formen – Drama, Lyrik, Epik – den äußeren als talische Dichtung« (1795) sowie dem gemeinsamen
vorgängig (als ›innere notwendige Uranfänge‹) ge- Aufsatz »Über epische und dramatische Dichtung«
dacht werden; besonders deutlich bei Petersen, wo (1797, pub. 1827) bilden Goethes Noten und Abhand-
im Zentrum des Kreises das Wort »Urdichtung« ein- lungen zum besseren Verständnis des West-östlichen
gezeichnet ist. Der Germanist und Theaterwissen- Divans den zentralen Korpus klassischer Gattungs-
schaftler Petersen denkt dabei an den »mimische[n] theorie, auf den sich fast alle nachfolgenden Arbeiten
Tanz als ursprünglichste Ausdrucksform« und »thea- mehr oder weniger ausführlich beziehen (vgl. Wil-
tralischen Keim« der Gattungen, aus dem sich »lyri- lems 1981, 231). Am Briefwechsel der beiden Dich-
sche, epische und dramatische Formen entwickeln« ter, den Goethe 1828/29 in sechs Bänden edierte,
würden, »ohne dass die eine aus der andern hergelei- zeigt sich besonders deutlich, dass die genannten
tet werden« könne (Petersen 1925, 78). Bei Goethe Problemstellungen der Gattungstheorie um 1800 –
ist es die Form der Ballade, die Drama, Lyrik und Historisierung der Gattungsbegriffe, Aufwertung des
Epik »wie in einem lebendigen Ur-Ei« vereine (Goe- Einzelwerks und Vermischung der Gattungen – eng
the 2000a, 400). Andererseits erlaubt die Kreisform zusammengehören. Mehr als einmal bedauert Goe-
eine potenziell unbegrenzte Anordnung der »bis ins the, dass es in der Moderne zu einer Gattungsmi-
Unendliche mannigfaltig[en]« Dichtarten (Goethe schung komme (vgl. z. B. den Brief vom 23.12.1797;
2000b, 188), die systematisch aber immer auf ihre Goethe/Schiller 1955, 452), die ihm die ›reinen‹ anti-
Mitte bezogen bleiben, und dadurch die vermeint- ken Dichter über sich selbst und seine Zeitgenossen
liche Zeitlosigkeit der Naturformen verbürgen. stelle (Brief vom 29.11.1795; Goethe/Schiller 1955,
122). Schiller nimmt demgegenüber eine vermit-
telnde Position ein, wenn er die Gattungsmischung –
Herder nicht unähnlich – als eine notwendige Folge
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 63

der Zeit erklärt. Über das Verhältnis von Epos und diese eine Menge Mittelgattungen entstanden sind«
Drama, gefasst in der Figur des Rhapsoden und des (Schelling 1984, 290). Bei Schiller ist die Frage nach
Mimen, schreibt Schiller: »Weil wir einmal die Be- ›Reinheit‹ und ›Vermischung‹ der Form jedoch
dingungen nicht zusammen bringen können, unter mehr als bloß eine Epochenfrage. Wie Peter Szondi
welchen eine jede der beiden Gattungen steht, so gezeigt hat, sind jenem ›naiv‹ (›natürlich rein‹) und
sind wir genötigt, sie zu vermischen. Gäb es Rhapso- ›sentimentalisch‹ (›reflektiert mischend‹) zugleich
den und eine Welt für sie, so würde der epische Dich- geschichtsphilosophisch an Antike bzw. Moderne
ter keine Motive von dem tragischen zu entlehnen gebundene, und übergeschichtlich-typologische Be-
brauchen […]« (Brief vom 29.12.1797; Goethe/Schil- griffe: »Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht
ler 1955, 459). Für den Dramatiker sei zudem das mehr erwartet wird, und kann eben deswegen der
Theater die beste Kontrollinstanz, um die Gattungs- wirklichen Kindheit in strengster Bedeutung nicht
mischung in den Grenzen zu halten, die seiner Kunst zugeschrieben werden« (Schiller 1905, 202; vgl.
zuträglich sei: »[Ich] wüßte nicht, was einen bei einer Szondi 1973). Insofern ist auch die ›Naivität‹ oder
dramatischen Ausarbeitung so streng in den Gren- ›Reinheit‹ einer Gattung erst der ›sentimentalischen‹
zen der Dichtart hielt‹, und […] so sicher darein zu- Kunst als ›Bestreben‹ eingeschrieben.
rückführte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung Zusätzlich zur Bestimmung des Dramatischen als
der wirklichen Repräsentation […]« (Brief vom einer ›persönlich handelnden‹ Form (in Goethes No-
26.12.1797; Goethe/Schiller 1955, 455). Damit wer- ten und Abhandlungen) behaupten Goethe und
den die Bedingungen der Zeit an die Vorstellungs- Schiller folgende ›Qualitäten‹ als Differenzkriterien
kraft und letztlich an das Empfinden des Dichters ge- für das Drama im ›Reinzustand‹, wobei ihnen
bunden; mögliche ›Abweichungen‹ des Einzelwerks durchweg das ›Epos‹ als Kontrastfolie dient: Erstens
zur Gattung erscheinen deshalb nicht als Regelverlet- sei die Rezeptionshaltung beim Drama vom Gesche-
zung, weil sie im ›Genie‹ des Dichters und in seiner hen auf der Bühne bestimmt, während der Leser des
Auffassung der historischen Situation begründet lie- Epos »nach [s]einem subjektiven Bedürfnis […] län-
gen: »Ich bin Ihrer Meinung«, antwortet Goethe am ger oder kürzer verweilen« könne; ein Unterschied,
Ende des Briefwechsels zum Aufsatz »Über epische den Schiller als Differenz von Bewegungsvorgängen
und dramatische Dichtung«, »dass man nur deswe- fasst: beim Drama bewege sich die Handlung ›vor‹
gen so strenge sondern müsse, um sich nachher wie- dem Rezipienten, beim Epos der Rezipient ›um‹ die
der etwas durch Aufnahme fremdartiger Teile erlau- Handlung (Brief vom 26.12.1797; Goethe/Schiller
ben zu können. Ganz anders arbeitet man aus 1955, 455). Schiller verknüpft dies mit dem zweiten,
Grundsätzen als aus Instinkt, und eine Abweichung, bekannteren Unterschied zwischen der ›absoluten
von deren Notwendigkeit man überzeugt ist, kann Gegenwärtigkeit‹ des Dramas – gedacht als ›Bewe-
nicht zum Fehler werden« (Brief vom 30.12.1797; gung‹ – und der ›absoluten Vergangenheit‹ des Epos,
Goethe/Schiller 1955, 460). gedacht als ›Stillstand‹ von Handlung (Goethe/
Wie in diesem Zitat gibt es im Briefwechsel sowie Schiller 1955, 455–56; vgl. auch Goethe 2000d, 249).
in den gattungstheoretischen Arbeiten von Schiller Dazu gehört, dass das epische Gedicht laut Goethe
und Goethe zwei gegenläufige, voneinander abhän- »immer vor und zurück geht«, weshalb »alle retar-
gige, Bewegungen: zum einen das Streben nach einer dierenden Motive« – also auch diejenigen im Drama
Sondierung der Gattungen als ›Naturformen‹, deren – »episch« seien (Brief vom 19.4.1797; Goethe/Schil-
jeweilige Qualitäten essentialistisch festgeschrieben ler 1955, 91). Drittens unterscheide sich das Drama
werden; zum anderen die Vermischung dieser ›Qua- – genauer gesagt die Tragödie – dadurch, dass sie
litäten‹ im Einzelwerk oder in den verschiedenen »den nach innen geführten Menschen« und »per-
›Dichtarten‹, begründet aus den Gegebenheiten der sönlich beschränktes Leiden« vorstelle; das Epos
Epoche und dem ›Instinkt‹ des Dichters. In der Ge- hingegen den »außer sich wirkenden Menschen:
genüberstellung von Antike und Moderne sind diese Schlachten, Reisen«, etc. (Goethe 2000d, 250).
Bewegungen einer historischen Zeitfolge unterwor- Aus der Gegenüberstellung von Drama und Epos
fen, deren Annahme typisch für gattungstheoreti- entwickeln Schiller und Goethe auch ihre vielleicht
sche Überlegungen um 1800 ist: Bei Schelling z. B. wichtigste Begründung für die Notwendigkeit von
erscheint die antike Poesie »am strengsten begrenzt Mischformen in der Moderne. Bei Goethe erscheint
in allen Formen«, während die moderne »ineinein- sie zunächst als Widerspruch zwischen dem Streben
anderfließender, mischender« sei, »daher durch des Künstlers nach ›Reinheit‹ und dem Wunsch des
64 I. Begriffe und Konzepte

Publikums nach ›sinnlicher Darstellung‹: »Sie wer- findet, ist die Trennung der Gattungen in ›Naturfor-
den hundertmal gehört haben, dass man nach Le- men‹ und ›Dichtarten‹. Diese erscheint als Lösungs-
sung eines guten Romans gewünscht hat, den Ge- versuch für die verschiedenen Probleme, die sich der
genstand auf dem Theater zu sehen, und wie viel Gattungspoetik um 1800 stellen, insofern sie mit den
schlechte Dramen sind daher entstanden« (Brief überzeitlich gedachten ›Naturformen‹ auf die Histo-
vom 23.12.1797; Goethe/Schiller 1955, 452). Schil- risierung und Proliferation der Gattungsbegriffe
ler stimmt Goethes Einschätzung zu, dass alle Gat- ebenso reagiert wie auf die Schwierigkeit, konkrete
tungen »zum Drama, zur Darstellung des vollkom- Einzelwerke noch den Musterpoetiken unterzuord-
men Gegenwärtigen« sich hindrängen (Brief vom nen. Die als Kennzeichen der Moderne wahrgenom-
23.12.1797; Goethe/Schiller 1955, 452), modifiziert mene Gattungsmischung wird so einem ›doppelten‹
diese jedoch an entscheidender Stelle. Seiner idea- Geschichtsmodell eingegliedert, das die historischen
listischen Kunstauffassung gemäß definiert er das Wandlungen des Dramenbegriffs und die Folge ver-
›Wesen‹ aller Dichtkunst als ein doppeltes: Einer- schiedener Textgruppen – von den vermeintlich
seits mache sie »alles sinnlich gegenwärtig, und so ›reinen‹ Gattungen der Antike zu modernen ›Misch-
nötigt sie auch den epischen Dichter, das Gesche- formen‹ – als Äußerlichkeiten akzeptiert, während
hene zu vergegenwärtigen«; andererseits sei sie die ›Naturformen‹ als ›innere Wesenheiten‹ zeit-
durch ihre Idealität bestimmt und »entfernt alles und geschichtslos bleiben.
Nahe«. Auf diese Weise »nötigt sie den Dramatiker, Wegen der ›Geschichtslosigkeit‹ dieses Modells
die individuell auf uns eindringende Wirklichkeit gehören Goethe und Schiller für Szondi zur »Prähis-
von uns entfernt zu halten und dem Gemüt eine po- torie der idealistischen Poetik« (Szondi 1974b, 43;
etische Freiheit gegen den Stoff zu verschaffen« Hervorh. M.B.). Sie stehen am Anfang dessen, was
(Brief vom 26.12.1797; Goethe/Schiller 1955, 456). Szondi den Wandel von der ›normativen‹ zur ›spe-
Insofern Schiller die von ihm bestimmten Wesens- kulativen‹ Gattungspoetik nennt, und deren Höhe-
züge der Dichtkunst an je eine ihrer Hauptgattun- punkt er mit Hegels Vorlesungen zur Ästhetik er-
gen knüpft (Drama = Sinnlichkeit; Epos = Idealität), reicht sieht. Der entscheidende Unterschied zwi-
kann er das Streben nach dem Dramatischen positiv schen Goethe/Schillers ›nicht-mehr-normativer‹
wenden und ihm eine Gegenbewegung zur Seite Gattungspoetik und dem ›spekulativen‹ System He-
stellen: »Die Tragödie in ihrem höchsten Begriffe gels liegt darin, dass die Geschichtslosigkeit der ›Na-
wird also immer zu dem epischen Charakter hin- turformen‹ bei diesem – wie ansatzweise schon bei
aufstreben und wird nur dadurch zur Dichtung. Das den Brüdern Schlegel – einer historisch-dialekti-
epische Gedicht wird eben so zu dem Drama herun- schen Folge der sog. Hauptgattungen weicht. In
terstreben und wird nur dadurch den poetischen Schillers Gegenüberstellung von Drama und Epos
Gattungsbegriff ganz erfüllen […]« (Brief vom vollenden sich die beiden Gattungen gegenseitig wie
26.12.1797; Goethe/Schiller 1955, 456). In der in einer Kreisbewegung: jedes Beispiel der jeweiligen
Wortwahl freilich zeigt sich, dass Idealität und Sinn- Form strebt zur anderen ›hinauf‹ bzw. ›herunter‹.
lichkeit für Schiller nicht gleichwertig sind: noch in Der dialektischen Methode hingegen erscheinen je
der Notwendigkeit, ›Wesenszüge‹ zu mischen, wird zwei ›Hauptgattungen‹ als These und Antithese, die
dem zum Drama ›herunterstrebenden‹ Epos die hö- von der dritten ›Hauptgattung‹ in einer Synthese
here Position im System der literarischen Gattun- aufgehoben werden. Damit nimmt die dialektische
gen zugedacht. Gattungsbegründung ein Verfahren auf, das sich
strukturell schon bei Platon findet. Es handelt sich
um den »Gedanke[n], dass die drei Gattungen, dem
Gesetz der Dialektik gehorchend, einander nicht
5.3 Von der Romantik zu Hegel: fremd und auch nicht ebenbürtig sind, sondern die
Die dialektische Hierarchisierung dritte Gattung aus der Synthesis der ersten beiden
des Gattungssystems ihren Ursprung hat« (Szondi 1974b, 21–22). War in
der Tradition Platons die gemischte Gattung meist –
nach dem Redekriterium begründet – das Epos, ist
Die für die Geschichte der Gattungstheorie einfluss- diese in der spekulativen Gattungstheorie üblicher-
reichste Setzung, die sich bei Herder, in den Überle- weise das Drama, da die Differenzierung der Gat-
gungen Goethe/Schillers und bei den Romantikern tungen nicht mehr auf formalen (äußerlichen) Krite-
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 65

rien, sondern auf ›inneren Wesenheiten‹ beruht, die hundert. Sie schlägt die lyrischen Formen zunächst
insbesondere bei Hegel geschichtsphilosophisch an dem mimetischen Prinzip zu, um dessen Gültigkeit
das Werden der Menschheit gebunden sind (vgl. Ge- für die Gattungspoetik in einem zweiten Schritt in-
nette 1990, 49–56). frage zu stellen (vgl. Genette 1990, 39–49). Solange
Von Schelling über die Brüder Schlegel bis hin zu mímēsis, in der Nachfolge des Aristoteles, als Nach-
Hegel werden diese ›Wesenheiten‹ der Hauptgattun- ahmung von Handlung gedacht wurde, konnten die
gen mit den Begriffen subjektiv und objektiv gefasst. als ›gefühlsbestimmt‹ definierten lyrischen Formen
So schreibt etwa Friedrich Schlegel: »Als Form hat nur schwer einer Hauptgattung untergeordnet wer-
die epische offenbar den Vorzug. Sie ist subjectiv-ob- den. Ein Lösungsversuch besteht in Gottscheds be-
jectiv. Die lyrische ist bloß subjectiv, die dramatische reits zitierter Definition des ›Klaggedichts‹ als Nach-
bloß objectiv« (Schlegel 1957, 47–48). Wird hier das ahmung eines Schmerzes, der im Moment der Nie-
Epos zur synthetisierenden (›subjektiv-objektiven‹) derschrift nicht mehr vorhanden sei (vgl. Gottsched
Form erhobenen, weist Schlegel diesen Platz an an- 1973a, 198–199). Dieses Verfahren findet sich bei
derer Stelle dem Drama zu: »Epos = objektive Poesie, Charles Batteux vorgeprägt, der ebenfalls im 18.
Lyrik = subjektive, Drama = Objektiv-Subjektive« Jahrhundert ein zunächst triadisches Gattungssys-
(Schlegel 1957, 175). Mit Szondi lässt sich Schlegels tem entwickelt, das von der einfachen These ausgeht,
Schwanken zwischen den beiden Reihungen als dass sich alle Künste – auch die Lyrik – auf einen ein-
Konkurrenz zweier geschichtsphilosophischer Auf- zigen Grundsatz, nämlich den der Nachahmung, re-
fassungen verstehen (vgl. Szondi 1974b, 131–151), duzieren lassen. Dass auch Lyrik auf dem mímēsis-
von denen die erste (mit dem Epos an höchster Prinzip beruhen müsse, begründet der v. a. in
Stelle) die »eigentlich Schlegelsche« sei (Szondi Deutschland rezipierte Batteux mit dem Verweis auf
1974b, 134). Im Sinne einer romantischen Kunst- Drama und Theater: Wenn bei den Schauspielern,
und Geschichtsphilosophie setzt sie den Roman als »die auf der Schaubühne so lebhafte Leidenschaften
moderne epische Form an das Ende der historischen zeigen […] alles erdichtet, künstlich, nachgeahmt«
Entwicklung und an die Spitze der Gattungen, die sei, müsse dies auch für die ›lyrische Poesie‹ gelten
sich in ihm aufheben: »Wie unsre Dichtkunst mit (vgl. Batteux/Schlegel 1976, 48). Dass Batteux’ Über-
dem Roman«, schreibt Schlegel im Gespräch über die setzer Johann Adolf Schlegel dem widerspricht, ver-
Poesie (1799), »so fing die der Griechen mit dem hindert nicht den Aufstieg der Lyrik zu einer Haupt-
Epos an und löste sich wieder darin auf« (Schlegel gattung, sondern verweist auf die zweite Verschie-
1967, 335). Demgegenüber entspricht die andere, bung im Verhältnis von mímēsis-Begriff und
wirkmächtigere Reihung, die mit den Ästhetiken Gattungstheorie. Auf Grundlage der lyrischen
Hegels und Friedrich Theodor Vischers standardi- Dichtkunst müsse die Empfindung stehen, da es sich
siert wird und die das Drama zur höchsten Gattung sonst um ›hohle Rhetorik‹ handle, so Schlegel; je-
erhebt, einer klassizistischen Kunst- und Geschichts- mand, der z. B. einen Psalm nachahmt, müsse – um
philosophie, insofern sie die antike Tragödie über dies ›wahrhaftig‹ zu tun – die nachgeahmten »Emp-
die ›moderne‹ Gattung des Romans stellt (vgl. findungen […] in sein Herz übertragen« (Batteux/
Szondi 1974b, 134). Schlegel 1976, 50).
Als ›synthetische‹ – und damit höchste – Gattung Entsprechend dieser Verschiebung taucht Lyrik in
kennt die spekulative Gattungsästhetik entweder den Gattungspoetiken des 19. Jahrhunderts als die
Drama oder Epos (in der ›modernen‹ Form des Ro- ›innerliche‹, ›subjektive‹ Kunstform auf, die als sol-
mans). Voraussetzung für die dialektische Methode che am ehesten mit der Musik verwandt sei; bei Au-
ist jedoch die Annahme einer weiteren ›Hauptgat- gust Wilhelm Schlegel heißt es, Lyrik sei »der musi-
tung‹, die als Antithese fungieren kann. Entgegen ei- kalische Ausdruck von Gemütsbewegungen durch
nem »Missverständnis«, das »tief in unserem litera- die Sprache« (Schlegel 1966, 40), und Hegel weist ihr
rischen Bewusstsein oder Unterbewusstsein verwur- im dialektischen System seiner Ästhetik einen analo-
zelt« ist (Genette 1990, 8), kann sich die gen Platz zur Musik zu. Wie die Poesie die sich anti-
Gattungstrias Drama-Lyrik-Epik nicht auf die Ge- thetisch gegenüberstehenden ›materiell-stofflichen‹
schichte der Poetik seit Platon und Aristoteles beru- bildenden Künste und die ›gegenstandslos-innerli-
fen. Dass die verschiedenen lyrischen Formen zu ei- che‹ Musik aufhebe (vgl. Hegel 1986, 3, 222–225),
ner ›Hauptgattung‹ Lyrik zusammengefasst werden, wird das Drama als Aufhebung des ›objektiven‹ Epos
beruht auf einer doppelten Entwicklung im 18. Jahr- und der ›subjektiven‹ Lyrik gedacht. Hegel schreibt:
66 I. Begriffe und Konzepte

»Begebnisse auszurunden ist die Aufgabe der epi- lerei und Musik. Entscheidend ist hierbei, dass das
schen Poesie, insofern sie eine in sich totale Hand- subjektiv-lyrische Prinzip – d. h. das ›treibende Pa-
lung […] in Form des breiten Sichbegebens poetisch thos‹, die inneren Beweggründe der individuell
berichtet und damit das Objektive selbst in seiner »handelnden Charaktere« (Hegel 1986, 3, 490) –
Objektivität herausstellt« (Hegel 1986, 3, 321 f.). Der nicht nur der äußeren, objektiv-epischen Handlung
Inhalt der Lyrik hingegen sei »das Subjektive, die in- zugrunde liegt, sondern selbst den ›wahrhaften In-
nere Welt, das betrachtende empfindende Gemüt, halt‹ der Poesie durchscheinen lässt: »die ewigen
das […] bei sich als Innerlichkeit stehen bleibt und Mächte, das an und für sich Sittliche, die Götter der
sich deshalb auch das Sichaussprechen des Subjekts lebendigen Wirklichkeit, überhaupt das Göttliche
zur einzigen Form und zum letzten Ziel nehmen und Wahre« (Hegel 1986, 3, 480). Möglich wird dies,
kann« (Hegel 1986, 3, 323). Das Drama erscheint viertens, dadurch, dass das Drama bei Hegel – wie
hier als die höchste Kunst, da es Lyrik und Epos ver- schon bei Goethe und Schiller – als Kunst der
bindet: Wie das Epos bringe es »ein Geschehen, Tun, »unmittelbare[n] Gegenwärtigkeit« definiert wird
Handeln zur Anschauung«, von dem es jedoch die (Hegel 1986, 3, 474), während das Epos ein vergan-
»Äußerlichkeit« abstreife und »an deren Stelle als genes Ereignis zur Anschauung bringe (vgl. Hegel
Grund und Wirksamkeit das selbstbewusste und tä- 1986, 3, 504). In seiner ›Gegenwärtigkeit‹ arbeite das
tige Individuum« setze (Hegel 1986, 3, 477). Bei He- Drama selbst dialektisch: Die »dramatische Hand-
gel erhält das Drama so den höchsten Platz unter den lung beruht […] wesentlich auf einem kollidierenden
literarischen Gattungen, da es als subjektiv-objektive Handeln« von Charakteren und Prinzipien, so dass
Kunst die Lyrik – das Subjektiv-Individuelle – und im Lauf der Handlung »die Kollision sich ebenso
die Epik – das Objektiv-Totale – in sich bewahre und sehr den Zwecken und Charakteren gemäß heraus-
auf eine höhere Stufe bringe. Ihre Bedeutung erhält stelle, als ihren Widerspruch aufhebe« (Hegel 1986,
diese ›Aufhebung‹ dadurch, dass das Drama mit ihr 3, 485). Aus diesem Grund betrachtet Hegel die Ein-
dem Zweck aller Kunst am nächsten komme, den heit der Handlung als unverletzliches dramatisches
Hegel als die »sinnliche Darstellung des Absoluten« Prinzip; am Ende eines Dramas muss die Kollision,
bestimmt (Hegel 1986, 1, 100), d. h. des ›Geistes‹, der welche die Handlung antreibt, zu ihrer ›Aufhebung‹
»zum wahren Begriffe seines absoluten Wesens ge- gelangt sein (vgl. Hegel 1986, 3, 485 f.).
langt« (Hegel 1986, 1, 103). Bezogen auf das Verhältnis von Drama und Thea-
Die Behauptung, dass unter allen Gattungen v. a. ter ist festzustellen, dass das Drama seine Position in
das Drama das ›Absolute‹ sinnlich darstellen könne, der Hegelschen Gattungshierarchie neben den be-
beruht auf mehreren Grundannahmen, die Hegel im reits genannten Gründen auch der »äußere[n] Exe-
Verlauf seiner Ästhetik expliziert. Erstens ist der ›ab- kution des dramatischen Kunstwerks« verdankt
solute Geist‹ der Zielpunkt seines philosophischen (Hegel 1986, 3, 504–518). Wenngleich die Rede das
Gesamtsystems, in dem die Kunst, die jenen sinnlich einzige »der Exposition des Geistes würdige Ele-
darstellen soll, nicht die höchste Stufe einnimmt, ment« sei, entbehrt sie »der vollen, auch sinnlichen
sondern ihrerseits von der Philosophie ›aufgehoben‹ Realität äußerer Erscheinung« (Hegel 1986, 3, 504).
wird. Zweitens haben die einzelnen Stufen nicht rein Insofern sich das Epos auf die Vergangenheit und die
systemischen Charakter, sondern entsprechen einer Lyrik auf die innere subjektive Welt konzentriere,
geschichtlichen Abfolge hin zum ›absoluten Geist‹, falle dies nur beim Drama ins Gewicht, da jenes
d. h., dass mit dem Drama das ›Ende der Kunst‹ ge- »eine gegenwärtige Handlung ihrer Gegenwart und
kommen ist. Dieses macht den ›absoluten Geist‹ be- Wirklichkeit nach darzustellen bemüht« sei (Hegel
reits greifbar, der in Hegels System erst mit der Phi- 1986, 3, 504). Damit werde das Drama zur einzigen
losophie zu haben ist (vgl. Menke 1996, 44–53). poetischen Gattung, die sich nicht nur auf die Mittel
Drittens sei nur die Rede das »der Exposition des der »Poesie als solche« verlassen könne, sondern »die
Geistes würdige Element« (Hegel 1986, 3, 474); da- Beihilfe fast aller übrigen Künste« brauche (Hegel
mit bleiben der ›materiell-stofflichen‹ Malerei und 1986, 3, 504–505). Aus dieser Argumentation heraus
der ›gegenstandslos-innerlichen‹ Musik die sinnli- beharrt Hegel gegen die romantische Vorstellung
che Darstellung des ›absoluten Geistes‹ verwehrt. vom ›Lesedrama‹ (Hegel 1986, 3, 506–511) auf dem
Die Poesie wiederhole diese, wiederum als ge- unlösbaren Zusammenhang von Drama und Thea-
schichtliche Abfolge gedachte, Dialektik, da das ter. Umgekehrt bedeutet dies, dass er »die von der
Drama Lyrik und Epos in sich aufhebe wie jene Ma- Poesie unabhängigere theatralische Kunst« der
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 67

Oper, des Balletts und des Improvisationstheaters Stoff in bezug auf das Drama […] von episierender,
nicht akzeptieren kann (Hegel 1986, 3, 515–518). lyrisierender, formzersetzender Wirkung« sei
Die Form des Theaters, mit deren Hilfe das Drama (Lukács 1981, 62). Ähnlich untersucht Szondis The-
die höchste Stelle im System der literarischen Gat- orie des modernen Dramas (1956) epische Tenden-
tungen erreicht, ist für Hegel das, was er »Schauspie- zen in der Dramatik auf Grundlage der Prämisse,
lerkunst« nennt: »Ihr Prinzip besteht darin, dass sie dass sich die »Problem[e] der Gegenwart« als Wi-
zwar Gebärde, Aktion, Deklamation, Musik, Tanz derspruch zwischen dramatischer Form und inhalt-
und Szenerie herbeiruft, die Rede aber und deren licher Aussage »im Innern des konkreten Werks«
poetischen Ausdruck als die überwiegende Macht finden ließen (Szondi 1963, 11 f.).
bestehen lässt« (Hegel 1986, 3, 510).

5.4.1 ›Anthropologische Grundtatsachen‹


und Gattungssynthesis
5.4 ›Überwindungsversuche‹:
Gattungssynthesis, Nominalis- Wenn Hegel in Bezug auf die historische Bindung
mus und Historisierung der Gattungsbegriffe davon spricht, dass »die ersten
großen Taten und Begebnisse der Völker gemeinhin
mehr epischer als dramatischer Natur« seien (Hegel
Als ›Überwindungsversuche‹ der Gattungstrias wer- 1986, 3, 476), klingt ein weiteres Element der Ästhetik
den im Folgenden jene Ansätze seit dem 19. Jahr- an, das in der Gattungstheorie des frühen 20. Jahr-
hundert verstanden, die sich gegen eine oder meh- hunderts wiederkehrt. Es handelt sich um die Ver-
rere der basalen Grenzziehungen im System der lite- wendung der Begriffe episch, dramatisch und lyrisch
rarischen Gattungen wenden bzw. das Drama aus im Sinne vor-ästhetischer Kategorien, etwa als ›an-
der Trias herauszulösen versuchen. Obwohl sich thropologische Grundtatsachen‹ in Staigers Grund-
diese nicht durchgehend auf ihr Verhältnis zum He- begriffen der Poetik (1946). Für Staiger lässt sich die
gelschen Systemdenken reduzieren lassen, entspre- Bedeutung des ›Lyrischen‹ »vor einer Landschaft er-
chen die ›Überwindungsversuche‹ weitgehend den fahren […], was ›episch‹ ist, etwa vor einem Flücht-
drei Möglichkeiten, die Szondi als Wege der Gat- lingsstrom; den Sinn von ›dramatisch‹ prägt mir
tungstheorie nach Hegel formuliert hat: Erstens die vielleicht ein Wortwechsel ein« (Staiger 1972, 8).
Besinnung auf anthropologische oder psychologi- Während er so Hegels Verbindung von philosophi-
sche ›Grundtatsachen‹ im Sinne Staigers (1946) oder scher Betrachtungsweise und Gattungsbegriff über-
Robert Hartls (1924), die im Folgenden mit gat- nimmt, zieht sich Staiger vom historischen Grund
tungssynthetischen Positionen verbunden werden; der Ästhetik zurück (vgl. Szondi 1963, 10–11). Seine
zweitens die grundsätzliche Ablehnung aller Gat- Einschätzung, dass sich zwar nicht das Wesen von
tungstheorie z. B. im Nominalismus Benedetto Cro- Drama, Lyrik und Epik bestimmen ließe, wohl aber
ces (1903/1930); drittens der von Szondi beschrit- jenes des Dramatischen, Lyrischen und Epischen
tene Weg, eine Gattung wie das Drama »auf […] his- (Staiger 1972, 8), bedeutet eine Rückkehr zum dop-
torisiertem Boden« zu beschreiben (Szondi 1963, pelten Geschichtsmodell der Goetheschen ›Natur-
11). Hinzu treten strukturalistische oder sprachlogi- formen‹, die sich gleichsam geschichtslos in den his-
sche Positionen z. B. bei Käte Hamburger (1957) und torischen Textgruppen wiederfinden. Die Seinswei-
Manfred Pfister (1977). sen des Lyrischen, Epischen und Dramatischen
Hegels Einfluss auf die Gattungstheorie des 19. unterscheidet Staiger durch ihren Welt- wie durch
und 20. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen. Am ihren Zeitbezug: Als Modus der Erinnerung beziehe
folgenreichsten wird die der dialektischen Stufen- sich das Lyrische auf die Vergangenheit und bleibe in
folge zugrunde gelegte Historisierung, die Gattung weltferner Innerlichkeit gefangen; als Modus des
und geschichtliches Moment verknüpft. Sie findet Gedenkens stelle das Epische ein Ereignis als gegen-
ihren expliziten Widerhall z. B. in den Überlegungen wärtig vor und erkunde die noch unbekannte Welt;
des jungen Georg Lukács zur epischen Form des Ro- als Modus des Entwerfens sei das Dramatische durch
mans als »Ausdruck der transzendentalen Obdach- Spannung auf die Zukunft gekennzeichnet, in einer
losigkeit« der Moderne (Lukács 1983, 32) und in Welt, die es nicht in ihrem objektiven Dasein, son-
dessen Einschätzung, dass »das moderne Leben als dern in ihren subjektiven Bezügen interessiere (Stai-
68 I. Begriffe und Konzepte

ger 1972, 124–125 u. 154–155). Obwohl sie eine un- Musik als dionysischer Ekstase (vgl. Nietzsche 1972);
tergeordnete Rolle spielen, verwendet Staiger auch bei Wagner das ›Kunstwerk der Zukunft‹ als Aufhe-
die Sammelbegriffe Drama, Lyrik und Epik: In der bung des Gegensatzes von Musik (als dem Bereich
Gattungsbezeichnung »lyrisches Drama« bezeichne des Gefühls) und Dichtung (als dem Bereich des
der Begriff Drama »eine Dichtung, die für die Bühne Verstands) im ›musikalischen Drama‹ (vgl. Wagner
bestimmt« sei (Staiger 1972, 8), während ›lyrisch‹ 1852/1984). Haben die szenischen Elemente bei He-
die Seinsweise der Dichtung im oben genannten gel lediglich die Aufgabe, die Rede als Element der
Sinn meine. Anders als in einem vorwiegend ›dra- Poesie zu stützen, ist bei Wagner die Dichtkunst als
matischen‹ Drama werde der Zuschauer »nicht hin- Rede unvollkommen: Nur mithilfe der Musik kann
gerissen, sondern […] eingewiegt« (Staiger 1972, sie ihren Mangel an Gefühl überwinden und die
26). dichterische Absicht als »vollständige Mittheilung
Wie die Goetheschen ›Naturformen‹ weisen Stai- derselben aus dem Verstande an das Gefühl« ver-
gers ›Seinsweisen‹ zumindest implizit auf die Mög- wirklichen (Wagner 1984, 126).
lichkeit einer Dichtung hin, die das Wesen aller Gat-
tungen synthetisieren und sich damit dem Gattungs-
system entwinden würde. Mit den Überlegungen 5.4.2 Nominalismus und Aufwertung
Friedrich Schlegels kennt bereits die frühromanti- des Einzelwerks
sche Poetik diese auch in Petersens ›Gattungsrad‹
formulierte Idee einer Dichtkunst als ›Urdichtung‹, Ein gegenläufiger ›Überwindungsversuch‹ zu den
die zwar im Zentrum, doch jenseits des eigentlichen gattungssynthetisierenden besteht in der Aufwer-
Gattungssystems steht. Bei Schlegel ist Gattungssyn- tung des Einzelwerks, die teilweise noch an den Set-
these nicht bloß ›Urdichtung‹, sondern Anfangs- zungen der Genieästhetik partizipiert, sich aber
und Zielpunkt der Poesie, wenn es im bereits zitier- meist von Hegels Historisierung der Ästhetik her-
ten Gespräch über die Poesie vom Roman heißt, dass schreibt. Die radikale Variante, etwa bei Croce, be-
die ›romantische‹ Dichtkunst mit diesem beginne trachtet Gattungen nur als Sprachfiktionen, die kei-
und ende (Schlegel 1967, 335). Im 116. Athenäums- nerlei ›inneren‹ Zusammenhang zwischen Einzel-
Fragment schreibt Schlegel: »Die romantische Poe- werken stiften können (vgl. Croce 1930). Croces
sie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestim- Ästhetik unterscheidet zwischen einem intuitiven
mung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der oder expressiven Erkennen, das für die Kunst ty-
Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der pisch sei, während die Wissenschaft auf ein rationa-
Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. les oder logisches Erkennen hinwirke (vgl. Hempfer
Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität 1973, 38–39). Gegenüber dem eigentlich ästheti-
und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mi- schen (intuitiven bzw. expressiven) Erkennen kann
schen, bald verschmelzen« (Schlegel 1798/1967, das wissenschaftliche für Croce nur bestehen, wenn
182). Die so verstandene ›progressive Universalpoe- es sich als zweite Stufe aus jenem ableite. Die »Lehre
sie‹ bewegt sich notwendigerweise weg vom Drama: von den künstlerischen und literarischen Gattun-
in Schlegels Denken entspricht ihr der Schritt von gen« sei ein »Triumph des intellektualistischen Irr-
der Gattungspoetik zur Romantheorie, da der Ro- tums«, weil sie die wissenschaftliche mit der ästheti-
man alle übrigen Dichtarten im Sinne einer »pro- schen Ebene verwechsle (Croce 1930, 38). Mit den
gressiven Einheit« umfasse (Szondi 1974b, 150). Gattungen glaubt sie ästhetische Regeln zu finden,
Demgegenüber basiert ein verwandter ›Überwin- die dem künstlerischen Ausdruck in Wirklichkeit
dungsversuch‹ des literarischen Gattungssystems ge- nachträglich hinzugefügt und deshalb keinerlei Aus-
radezu auf einer Neubestimmung des Dramas als sagekraft auf Ebene der Kunstwerke hätten: »Jedes
synthetischer Kunst, die über die Hegelsche ›Aufhe- wahre Kunstwerk hat eine festgelegte Gattung ver-
bung‹ hinausgeht. Vermittelt u. a. durch Schopen- letzt und auf diese Weise die Ideen der Kritiker ver-
hauer, versuchen Wagners Idee des Musikdramas wirrt, die dadurch gezwungen wurden, die Gattung
und Nietzsches Überlegungen zur Geburt der Tragö- zu erweitern […]« (Croce 1930, 40).
die aus dem Geist der Musik (1872) jene Grenzzie- Adornos Ästhetische Theorie (postum 1970)
hung zurückzunehmen, die Poesie und Musik schei- stimmt dieser Auffassung einerseits zu: »Wohl nie
det. Bei Nietzsche erscheint die (antike) Tragödie als hat ein Kunstwerk, das zählt, seiner Gattung ganz
Verschmelzung von Epos als apollinischer Form und entsprochen« (Adorno 1993, 297). Andererseits
5. Dramatik-Lyrik-Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen 69

richtet sie sich gegen Croces »ästhetischen Nomina- 1963) und das »Lyrische« (Szondi 1975) ein –,
lismus«, da dieser »mit den Gattungen das Moment möchte er diese Ausdrücke explizit nicht als Qualitä-
der Allgemeinheit bloß kassiert, anstatt im Ernst es ten im Sinne Staigers verstanden wissen. Vielmehr
aufzuheben« (Adorno 1993, 297). Für Adorno ist es sollen dramatisch, episch und lyrisch nur struktu-
gerade die Reibung zwischen Einzelwerk und Gat- relle Züge der Gattungen bezeichnen, von denen sie
tung, die das künstlerische Moment ausmacht, doch abgeleitet sind: etwa das »epische Ich« oder den
letztlich zur Auflösung des Gattungssystems führen »dramatische[n] Dialog« (Szondi 1963, 13). Der
muss: »Den Gattungen wurde das einzelne Werk Gattungstrias kommt hier eine neue Funktion zu, in-
nicht dadurch gerecht, dass es ihnen sich subsu- sofern das Drama nicht mehr im System der Gattun-
miert, sondern durch den Konflikt, in welchem es sie gen untersucht wird, sondern die strukturellen
lange rechtfertigte, dann aus sich erzeugte, schließ- Merkmale der verschiedenen ›Hauptgattungen‹ ins
lich tilgte« (Adorno 1993, 300). Wie die ›Tilgung‹ Drama hineingeholt werden, um dort ›Krisenmo-
der Gattung durch das Einzelwerk innerhalb der mente‹ eines spezifischen historischen Modells zu
künstlerischen Darstellung produktiv werden kann, bezeichnen.
zeigt Adornos »Versuch, das Endspiel zu verstehen« Während Szondi bereits durch seine Terminolo-
(1961) paradigmatisch an Becketts Fin de Partie gie streng auf das triadische System bezogen bleibt,
(1957): Das Stück entfalte seinen historischen Au- versucht Lehmann das System der literarischen Gat-
genblick – die Situation nach Auschwitz und Hiro- tungen zu überschreiten: In kritischer Auseinander-
shima – nicht durch Darstellung, sondern in der setzung mit Szondi bezeichnet er »die Episierungs-
Zerrüttung der dramatischen Form, die auf die »Ex- tendenz und das lyrische Drama selbst« als Mo-
plosion des metaphysischen Sinns« in der Moderne mente der Wandlung, »die Theater und Drama
verweise (Adorno 2003, 282). einander entfremdete und immer weiter von einan-
der entfernt hat« (Lehmann 1999, 43). In Lehmanns
Anspruch, eine Ȋsthetische Logik des neuen Thea-
5.4.3 Historisierung des Dramenbegriffs ters« zu entfalten (Lehmann 1999, 15), bleibt das Pa-
radigma des postdramatischen Theaters jedoch in
Wenngleich sie sich auf einen einzigen Text konzent- dem gattungspoetischen Diskurs gefangen, den er
riert, gehört Adornos Beckett-Interpretation – zu- mit der Lösung von Drama und Theater zu über-
sammen mit Lukács’ Entwicklungsgeschichte des mo- schreiten versucht (vgl. Marx 2005, 112–113).
dernen Dramas (1911) und Szondis Theorie des mo-
dernen Dramas – zu einer Reihe von Arbeiten, die
den Fokus auf die ›Krisenmomente‹ innerhalb eines 5.4.4 Strukturalistische und Sprachlogische
scheinbar verbürgten Gattungsmodells bzw. dessen Positionen
Ablösung durch ein anderes legen. Besonders deut-
lich ist sowohl die Historisierung als auch der Fokus Bereits im Titel Logik der Dichtung (1957) ist ange-
auf Formkrisen bei Szondi und in seiner Nachfolge deutet, dass Hamburger ihre Gattungstheorie nicht
bei Hans-Thies Lehmann, die – jeweils im kritischen aus ästhetischen bzw. poetologischen Gesichtspunk-
Rückgriff auf Hegel – eine Historisierung des Dra- ten heraus entwickelt, sondern auf Grundlage
mas als spezifische Erscheinung der Neuzeit an- sprachlogischer Überlegungen. So kommt sie zu dem
strengen. Szondi verwendet den Begriff ›Drama‹ Schluss, dass Drama, Lyrik und Epik nicht im Sinne
deshalb nur für eine »bestimmte Form von Bühnen- des triadischen Systems differenziert werden kön-
dichtung«, wie sie »im elisabethanischen England, nen, sondern nur zwei Hauptgattungen bilden. Diese
v. a. aber im Frankreich des siebzehnten Jahrhun- unterscheiden sich nach dem Fiktionalitätskrite-
derts entstand und in der deutschen Klassik weiter- rium: Während die lyrische Gattung subjektive
lebte« (Szondi 1963, 12–13). Die ehemalige ›Haupt- Wirklichkeitsaussagen treffe (vgl. Hamburger 1994,
gattung‹ wird mit dem Ausdruck ›Dramatik‹ belegt 227), würden Dramatik und Epik einen »mimetisch-
und zum reinen Sammelbegriff für »alles für die fiktionalen Charakter« besitzen, aufgrund dessen sie
Bühne Geschriebene« (Szondi 1963, 13). Obwohl als Gattung zusammengehörten (Hamburger 1994,
Szondi in den Grenzen einer historisierten Gat- 157): »Die Ursache, dass die beiden Letzteren [er-
tungstheorie operiert – als »Gegenmomente« zum zählende und dramatische Dichtung] das Erlebnis
Drama stellen sich bei ihm das »Epische« (Szondi der Nichtwirklichkeit, die erstere [lyrische Dich-
70 I. Begriffe und Konzepte

tung] aber das der Wirklichkeit vermitteln, ist nichts menen der Intermedialität, so dass die Auseinander-
anderes als die logische und damit auch sprachliche setzung mit den im deutschsprachigen Theater der
Struktur, die ihnen zugrunde liegt« (Hamburger 2010er Jahre populären Romanbearbeitungen für
1994, 12). Innerhalb der mimetischen Hauptgat- die Bühne eher im Zusammenhang mit der theatra-
tung, die Drama und Epik zusammenfasst, erlaubt len Umsetzung von Filmstoffen bzw. ›filmischer Äs-
Hamburger aber die weitere Differenzierung, dass thetiken‹ im Theater geführt wird. Für den Theater-
dem Drama im Gegensatz zur Epik die »Erzählfunk- kritiker Peter Kümmel hängt die verstärkte Bühnen-
tion« fehle; in ihm sind »die Gestalten dialogisch ge- bearbeitung von Romanstoffen damit zusammen,
bildet« (Hamburger 1994, 158). Nur aus dieser dass man die Darstellung von dramatischen Ge-
»strukturellen Tatsache« – nicht etwa aus dem zu- schehnissen an den Film delegiert habe: »Das kann
grunde liegenden Stoff oder dem Begriff der Hand- das Kino besser, also lässt man es« (Kümmel 2010,
lung – ergibt sich für Hamburger die Aufführbarkeit 43). Bemerkenswert an Kümmels Text ist, dass er ei-
des Dramas: »die Beschränkung auf die dialogisch nerseits die Erkenntnis erhält, dass eine Romanbear-
erzeugte Gestaltenbildung bringt ihre mimische beitung für das Theater wie z. B. Guy Cassiers
Möglichkeit mit sich« (Hamburger 1994, 158). Proust-Projekt (2003–2005) weder mit dem Begriff
Das Fehlen der Erzählfunktion ist auch für Pfis- der ›Dramatisierung‹ zu greifen ist noch eine ›Epi-
ters strukturalistische Studie Das Drama (1977) sierung‹ des Dramatischen, sondern höchstens des
grundlegend: »Dramatische Texte unterscheiden Theaters darstellt: »Eine Begebenheit auf dem Thea-
sich […] von episch-narrativen dadurch, dass sie ter zeichnet sich heute […] dadurch aus, dass sie als
durchgehend im Modus der Darstellung stehen, dass ›vollkommen unspielbar‹ gilt« (Kümmel 2010, 43).
nirgends der Dichter selbst spricht« (Pfister 2001, Unter Rückgriff auf Goethes und Schillers Aufsatz
20). In expliziter Ablehnung normativ-deduktiver »Über epische und dramatische Dichtung« hält
Gattungstheorien macht Pfisters strukturalistisch- Kümmel jedoch daran fest, dass das Theater eine Be-
semiotische Methode – wie Hamburgers sprachlogi- gebenheit als »vollkommen gegenwärtig« darzustel-
sche Herangehensweise – das implizite Versprechen, len habe (Kümmel 2010, 43), ähnlich wie Pfister und
zwischen normativen und strukturellen Differenz- Hamburger die fehlende Erzählerfunktion als
kriterien des Dramatischen unterscheiden zu kön- ›strukturelle Tatsache‹ und unabdingbares Diffe-
nen. Staigers »Differenzqualität der Spannung« zählt renzkriterium des Dramas sehen. An Kümmels Po-
für Pfister zu den Ausläufern eines »deduktive[n] chen auf die ›Gegenwärtigkeit‹ des Theaters, die das
und historisch einseitige[n] Denken[s] in triadi- ›dramatische Geschehen‹ auf die Bühne zurückho-
schen Gattungssystemen« (Pfister 2001, 18). Für die len und den Roman vertreiben soll, zeigt sich noch
von ihm aufgestellten Differenzkriterien hingegen einmal die Problematik aller gattungstheoretischen
erhebt er – ähnlich wie Hamburger – den Anspruch, Differenzkriterien ebenso wie ihr anhaltender Ein-
dass sie unabdingbare ›strukturelle Tatsachen‹ seien. fluss auf die Wahrnehmung von Drama und Theater.
Aufgrund dieser Kriterien unterscheide sich das
Drama einerseits von den anderen Gattungen, wie
im Falle des Redekriteriums bzw. der fehlenden Er- Literatur
zählfunktion, andererseits von »nichtliterarische[n]
Aufführungsaktivitäten« durch das Differenzkrite- Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [1970]. Frankfurt
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72 I. Begriffe und Konzepte

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Ausgabe in 16 Bänden. Hg. v. Eduard von der Hellen. Bd. nicht mehr der schriftlich fixierte Text im Zentrum
12: Philosophische Schriften. Stuttgart/Berlin 1905, der Inszenierungs- und Aufführungspraxis steht,
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gleichrangige Elemente erachtet werden. Das gilt
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rie und Literatursoziologie. Frankfurt a. M. 1973, 47–99. Theater her für die Literatur leistet. Aufgrund dieser
Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Hg. v.
Senta Metz u. Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt a. M.
Ambivalenz ist das postdramatische Theater ein Un-
1974a. tersuchungsgegenstand der, ebenso wie das Drama
Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie II. Hg. v. und das traditionell textzentrierte Theater, sowohl
Wolfgang Fietkau. Frankfurt a. M. 1974b. für die Theater- wie für die Literaturtheorie von Re-
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Gattungen. München 1988, 38–48. griff erstmals Mitte der 1980er Jahre in Umlauf, wo
Wagner, Richard: Oper und Drama [1852]. Hg. v. Klaus er zunächst zur Beschreibung einer neuen szeni-
Kropfinger. Stuttgart 1984. schen Darstellungsform diente. Andrzej Wirth er-
Weinberg, Bernard: »Scaliger versus Aristotle on Poetics«.
In: Modern Philology 34.4 (1942), 337–360. klärte 1987: »Theater war niemals mit Literatur
Willems, Gottfried: Das Konzept der literarischen Gattung. gleichzusetzen; auch das Sprechtheater nicht. Das ist
Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, heute klarer erkennbar als früher, weil das Sprech-
insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers. Tübingen 1981. theater seine Monopolstellung verloren hat zuguns-
Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positio-
nen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003.
ten der post-dramatischen Formen der Soundcol-
Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stutt- lage, der Sprechoper und des Tanztheaters« (Wirth
gart/Weimar 2010. 1987, 83). Richard Schechner, der den Begriff zur
Michael Bachmann Beschreibung der Ästhetik des »Happenings«
6. Theater jenseits des Dramas: Postdramatisches Theater 73

wählte, verband mit der Diagnose nicht nur den lung neuer Analysekonzepte beschränkt. Häufig ist
größtmöglichen Abstand einer künstlerischen Dar- auf der Theorieebene, analog zur Praxis, mit der An-
bietung zu einer literarischen Vorlage, sondern for- erkennung einer nicht-repräsentationalen Ästhetik
mulierte damit zugleich eine Kritik an der Verwen- auch ein ideeller Anspruch verbunden. Erika Fi-
dung überholter Analyseinstrumentarien, die nach scher-Lichte etwa spricht angesichts nicht-repräsen-
wie vor ein textbasiertes Theater voraussetzten: tationaler Praktiken vom »Entwurf einer Utopie«
»Obviously, the post-dramatic theater of happenings (Fischer-Lichte 2002, 296). Das postdramatische
cannot be discussed using orthodox analytical me- Theater fordere, anders als traditionelle mimetische
thods« (Schechner 1988, 21). Im Jahr 1991 konsta- Theaterformen, »dem Zuschauer andere Haltungen
tierte Hans-Thies Lehmann mit Blick auf die Ästhe- ab als die des Nachvollzuges einer Narration. Das
tik Robert Wilsons und Pina Bauschs: Die »Formen Gegenwartstheater lässt vielmehr seine Wahrneh-
des neuen und neuesten Theaters der (Post-)Mo- mung selbst zum Thema werden, indem es die Gren-
derne weisen ihrerseits in die Richtung eines Thea- zen zwischen Fiktion und Realität und zwischen Zu-
ters jenseits des Dramas, sie sind postdramatisch« schauern und Akteuren verschiebt oder mit der Auf-
(Lehmann 1991, 2). Obwohl derlei Tendenzen v. a. merksamkeit des Publikums spielt« (Fischer-Lichte
auf die Emanzipation des Theaters vom Text zurück- 2006, 6). Gemeinsamer Bezugspunkt einer Kategori-
zuführen seien, ließen sie sich, wie Lehmann darü- sierung (Wirth, Lehmann) ist zum einen die Auffas-
ber hinaus diagnostizierte, auch in der literarischen sung, dass das postdramatische Theater entschei-
Praxis nachweisen (vgl. Lehmann 1991, 3). Der Be- dend vom gesellschaftlichen Einfluss der elektroni-
griff des postdramatischen Theaters erreichte erst- schen (Massen-)Medien seit den 1960er Jahren
mals 1999 mit Lehmanns namengebender, als Essay geprägt sei und damit eine Reaktion auf die Mediali-
bezeichneter Studie Postdramatisches Theater (1999) sierungsprozesse des 20. Jahrhunderts darstelle.
einen historiografischen und systematischen Zu- Zum anderen korreliert die Vorstellung von einem
schnitt. Lehmann argumentiert in seiner Studie ge- postdramatischen Theater mit dem Konzept der
gen die Prämisse, das europäische Theater sei in ers- Postmoderne, das die Kritik an der linearen Fort-
ter Linie dramatisches Theater: »Theater wird still- schrittslogik der Moderne beinhaltet. Wesentlichen
schweigend als Theater des Dramas gedacht. Zu Bezugsrahmen für Praxis und Theorie des postdra-
seinen bewusst theoretisierten Momenten gehören matischen Theaters gleichermaßen bildet dabei die
die Kategorien ›Nachahmung‹ und ›Handlung‹ so- poststrukturalistisch orientierte Diskurs- und Sub-
wie die gleichsam automatische Zusammengehörig- jektkritik sowie die Kritik an Ursprungs- und Identi-
keit beider. […] Das dramatische Theater steht unter tätsvorstellungen der Moderne, wie sie u. a. von Mi-
der Vorherrschaft des Textes. Im Theater der Neu- chel Foucault, Jacques Derrida und Gilles Deleuze
zeit war die Aufführung weithin Deklamation und formuliert worden ist.
Illustration des geschriebenen Dramas. Auch wo Obwohl die Theorie des postdramatischen Thea-
Musik und Tanz hinzukamen oder vorherrschten, ters mit den Linearitäts- und Identitätskonzepten
blieb der ›Text‹ im Sinne von nachvollziehbarer nar- der Moderne bricht, behauptet das Fortschrittspara-
rativer und gedanklicher Totalität bestimmend« digma nach wie vor nicht nur in der Praxis, sondern
(Lehmann 1999, 20). Das postdramatische Theater auch in zahlreichen Studien zum postdramatischen
hingegen stellt »eine Abwendung von […] Traditio- Theater seine Gültigkeit. In der Praxis wie der Theo-
nen der dramatischen Form« dar, darüber hinaus rie bezieht das postdramatische Theater zahlreiche
habe es sich nicht an den subventionierten Staats- Impulse aus der Ästhetik und Programmatik der
und Stadttheatern entwickelt, vielmehr sei es an den historischen Avantgardebewegungen. Schon dort
Bereich des experimentell gesonnenen und künstle- ging es in so unterschiedlichen Strömungen wie Fu-
risch risikobereiten Theaters gebunden (Lehmann turismus, Surrealismus und Dadaismus und bei so
1999, 29, 34 ff.). Das postdramatische Theater, so unterschiedlichen Künstlern wie Filippo Tommaso
Lehmann einige Jahre später, sei auch »als Fort- Marinetti, Wsewolod Meyerhold, Wladimir Maja-
schritt der Potentialität des Theaters lesbar« (Leh- kowski, Edward Gordon Craig, Antonin Artaud, Os-
mann 2006, 172). kar Schlemmer und Hugo Ball nicht nur darum, an
Innerhalb der Theaterwissenschaft bleibt die der Spitze des kulturellen Wandels zu stehen, son-
Analyse des postdramatischen Theaters damit nicht dern diesen mithilfe der Kunst zu einem Besseren zu
auf die Ebene seiner Beschreibung und die Entwick- führen. So waren die historischen Avantgardebewe-
74 I. Begriffe und Konzepte

gungen von der Überzeugung getragen, »dass es ei- sinnlichen Erkenntnis gegenüber der rationalen
nen allgemeinen Fortschritt der Menschheit und ih- (Baumgarten, Kant) bewirkte nicht nur eine Befrei-
rer Freiheit in der Geschichte gebe und dass der ung der Kunst von äußeren Zweckbestimmungen,
Fortschritt unweigerlich sei« (Böhringer 1978, 94). sondern auch eine rege Debatte über den Status und
Die Mittel für dieses eschatologische Programm er- die Funktion der Einzelkünste innerhalb des Kunst-
gaben sich demgemäß aus einer Ästhetik, die sich systems. Im Gefolge von Lessings Privilegierung der
auf ideeller wie inhaltlicher und formalästhetischer Dichtkunst gegenüber der bildenden Kunst im Lao-
Ebene in Opposition zu einer als bürgerlich, und da- koon (1766) und von Herders Betonung der synäs-
mit verbunden rückschrittlich interpretierten thetischen Qualität von Poesie, die musikalische und
Kunstauffassung verstand. Aus historiografischer visuelle Elemente in sich vereine, kam es schließlich
Perspektive lassen sich Erhalt und Weiterentwick- nicht nur zu einer Anerkennung der »Einbildungs-
lung dieser teleologischen Topoi von den histori- kraft als maßgebliches produktives und rezeptives
schen Avantgardebewegungen bis hin zur Neoavant- Organ«, sondern schließlich auch zu einer
garde der 1960er und 1970er Jahre v. a. über das »gewisse[n] Balance zwischen den Künsten unterei-
Prinzip von Inklusion und Exklusion beschreiben. nander, die eine durchgängige, im ästhetischen Dis-
Auf dem Theater umfasst dieses Telos jedoch nicht kurs mehrheitlich akzeptierte Hierarchisierung
nur die Absage an die Reproduktion einer literari- nicht mehr zulässt« (Heibach 2010, 89). Mit Richard
schen Vorlage und eine mimetische Darstellungs- Wagner erreichte die Aufführung schließlich jene
weise, sondern auch die Besinnung auf die Verwen- besondere Geltung, die in der Würdigung ihrer Mul-
dung genuin szenischer Gestaltungsmittel. »Entlite- timedialität ebenso zum Ausdruck kommen sollte,
rarisierung« und »Retheatralisierung« bilden die wie in der Anerkennung der Reziprozität von Pro-
Stichworte, mit denen diese Entwicklung innerhalb duktion und Rezeption. Dreh- und Angelpunkt
der Theaterhistoriografie beschreibbar wird. Damit hierfür sind Wagners theoretische Schriften Die
ist nicht die Vertreibung der Literatur als solcher aus Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der
dem Theater gemeint, sondern vielmehr die Aner- Zukunft (1850) und Oper und Drama (1851) sowie
kennung der Gleichrangigkeit theatraler Gestal- seine Festspielkonzeption. Das Drama findet zu sei-
tungsmittel auf dem bzw. für das Theater. Der ner Vollendung allein durch die Aufführung, in der
sprachlichen Artikulation jenseits ihrer Semantisier- sowohl alle nicht zur dramatischen Handlung gehö-
barkeit, Lauten, Geräuschen und den Ausdrucks- renden Elemente beseitigt und die unbedingte Ab-
möglichkeiten des Körpers wird jeweils ein Eigen- stimmung der Medien (Orchester, Gebärde,
wert zugebilligt, der nicht nur nicht mehr an eine Stimme) aufeinander gewährleistet sind. Im Rah-
schriftlich fixierte Textvorlage gebunden sein muss, men dessen bedarf die Utopie vom Fest als Ort ech-
sondern der, darüber hinaus, die Grenzen der Kom- ter Communitas keiner literarischen Vorlage zur Be-
munikationsfunktion von Sprache vorführt (Fi- stätigung ihrer selbst, sie wird vielmehr beglaubigt
scher-Lichte 1995). Insofern zeigt sich, dass das von durch die Zusammenkunft von Künstlern und Zu-
diesen Entwicklungen beeinflusste postdramatische schauern.
Theater wesentlich mit der Bedeutung zu tun hat, Die funktionale Differenzierung von Dichtern,
die man der Aufführung auch in Hinblick auf die Li- Komponisten und Regisseuren führte im 19. Jahr-
teratur als genuin theatraler Ausdrucksform bei- hundert vor allen Dingen zu einem praxisgeleiteten
misst. Der Begriff ›postdramatisches Theater‹ kann Ausloten der Möglichkeiten theatraler Gestaltung
deshalb als einer der jüngsten Markierungspunkte jenseits eines schriftfixierten Literaturbegriffs (vgl.
eines vielschichtig reflektierten Spannungsverhält- Heibach 2010, 232 ff.). Zwar dominiert auch bei
nisses betrachtet werden, in das die Medien Text Konstantin Stanislawski und Max Reinhardt noch
und/versus Theater von je her eingespannt sind und die Bindung des Theaters an eine literarische Vor-
in dem der Gedanke der »wechselseitigen Emanzi- lage. Doch das neue Selbstverständnis der Schau-
pation« (Lehmann 1999) eine der Prämissen dar- spielkunst –  psychologisierend-realistisch bei Sta-
stellt. nislawski, stilisiert-konstruktivistisch bei Meyerhold
Die Reflexion darüber beginnt spätestens mit der –, die Neubewertung der Raumsituation als theatrale
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also zu jener Versammlungssituation und die damit verbundene
Zeit, in der auch die Autonomisierung und Reflexi- Neuentdeckung des Zuschauers als Akteur im Sinne
vierung der Künste einsetzt. Die Aufwertung der eines aktiven Zuschauers führten zu einem Ver-
6. Theater jenseits des Dramas: Postdramatisches Theater 75

ständnis von Aufführung, das diese nicht mehr als kontextbezogene Perspektive, die kulturwissen-
bloße Reproduktion kanonischer Texte begreift. Die schaftliche (Diskurs-)Entwicklungen in den Blick
Petrifizierung des ehernen Textkorpus’ , so die Hal- nimmt, so lässt sich von einer chronologischen Ab-
tung, könne nur durch die Inszenierung auf dem folge vom dramatischen zum postdramatischen
Theater wieder verlebendigt werden. So schrieb Theater ohnehin nicht mehr sprechen. Denn insge-
Reinhardt: »Seine [des Theaters] Aufgabe ist es, das samt betrachtet bringen diese ästhetischen Tenden-
Wort aus dem Grab des Buches herauszuheben, ihm zen auch die weltanschauliche und erkenntnistheo-
Leben einzuhauchen, es mit Blut zu erfüllen, mit retische Disposition zum Ausdruck, die unter dem
dem Blut von heute, und es damit in eine lebendige Schlagwort »Krise der Repräsentation« in den geis-
Beziehung zu uns zu bringen, so dass wir es aufneh- teswissenschaftlichen Diskurs eingegangen ist: Diese
men und es in uns Frucht tragen lassen« (Reinhardt meint nicht nur die Krise einer ästhetischen Abbild-
1924, 457). Doch auch Bertolt Brecht, der mit sei- funktion in den (theatralen) Künsten, sondern auch
nem epischen Theater (vgl. Kap. III.15) die schein- die Krise eines metaphysischen Realismusbegriffs,
bar größte konzeptionelle Distanz zu einem traditio- der mithin den Konstruktcharakter von Erkenntnis
nellen Theaterbegriff systematisch projektierte, in- zum Ausdruck bringt.
dem er den Gedanken der Identifikation durch den Ebenso wie um 1900 Reflexionen über den Auf-
der Distanzierung des Zuschauers ersetzte, hielt führungsbegriff die Bühnenpraxis beeinflussten und
noch an einem herkömmlichen Literaturbegriff fest, ein Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten des
dessen Zentrum nach wie vor die Fabel bildete. Textes bzw. der Sprache überhaupt zum Vorschein
Schließlich durften die szenischen Verfremdungs- brachten, zeitigten sich auch Effekte dieser Entwick-
techniken auch nur so weit gehen, dass sie Brechts lungen innerhalb der Literatur. Das Drama, so kons-
pädagogischen Impetus, die Zuschauer durch die os- tatierte Hans-Peter Bayerdörfer, gerät vor dem Hin-
tentative Brechung des fiktiven Scheins zu reflektier- tergrund veränderter »Selbstwahrnehmung im
ten, mündigen Individuen zu erziehen, nicht unter- Sinne von Körperwahrnehmung, Körperausdruck
wanderten. Hierin gleicht der gesellschaftsfunktio- und Körperbewegung« unter »Rechtfertigungs-
nale Aspekt der Verfremdungstheorie durchaus der druck« (Bayerdörfer 1995, 249). Keineswegs kam es
geschichtsphilosophischen Konzeption Schillers, die aber zu einer Abkehr vom Dialog, der unter gat-
dieser in Über die ästhetische Erziehung des Men- tungsdifferenzierenden Gesichtspunkten das Zent-
schen in einer Reihe von Briefen bereits 1795 formu- rum dramatischer Kommunikation bildet. Im Ge-
liert hatte. Das weist auf eine weitreichende ideenge- genteil, »explizit monodramatische Entwürfe des
schichtliche Kontinuität in der Auffassung hin, wel- Schauspieltheaters, […] latente oder offene Techni-
chen Zwecken Theater und Literatur zu dienen ken der Monologisierung des Dialogs, […] die Ver-
hätten. Dasselbe geschichtsphilosophisch unterlegte änderung der Spielrichtung über die Rampe hinweg,
Vertrauen in die politisch-revolutionäre Kraft des […] die Ersetzung vom verbal-dialogischem Spiel
Theaters zeichnet auch Erwin Piscators Konzeption durch die Vielfalt nonverbaler Ausdrucks- und
des »Totaltheaters« (zusammen mit Walter Gropius, Spielformen« (Bayerdörfer 1995, 243) widerlegen
1927) aus. Es sollte die Massen, insbesondere das so- die Behauptung vom totgesagten Dialog im Drama
genannte Proletariat, ansprechen und einen zentra- wie auf dem Theater seit jener Zeit und v. a. das
len Beitrag für eine neue sozialistische Gesellschafts- Nichtvorhandensein der sprachlichen Artikulation
ordnung leisten. Vor allem die Integration des neuen im Drama, wie sich an Texten Tschechows, Strind-
Mediums Film, die Piscator vornimmt, zeigt eine zu- bergs, Cocteaus, Tardieus und Becketts belegen lässt.
nehmende Dehierarchisierung theatraler Gestal- Schließlich tragen theatrale Darstellungsformen au-
tungsmittel und eine Dynamisierung der Auffüh- ßerhalb des genuin für die Bühne produzierten
rung an. Zudem gilt die multimediale Ästhetik des Kunsttheaters zu einer Neujustierung des ›Wahr-
Piscatorschen Theaters als ein früher Beleg für die nehmungsradius‹, was als theatrale Ausdrucksform
sich im Folgenden immer weiter ausdifferenzierende zu gelten habe, bei. Dazu zählen Darstellungsweisen
Wechselwirkung unterschiedlicher Medien auf dem des Zirkus ebenso, wie des Jahrmarkts, des Varieté,
Theater, die sich schließlich auch an den Rückkop- der Music-Hall sowie rituelle Praktiken. Gleichwohl
pelungseffekten verschiedener Erzählweisen und ist zu berücksichtigen, dass dieser Perspektivwech-
Dramaturgien ablesen lässt. Erweitert man die thea- sel, der auf Theorieebene Phänomene außerhalb des
terwissenschaftliche Binnenperspektive um eine Kunsttheaters integriert, auch mit der Genealogie
76 I. Begriffe und Konzepte

methodologischer theaterwissenschaftlicher An- garde bis zu den ästhetischen Praktiken der jüngeren
sätze zu korrelieren ist: Der Einfluss ethnologischer, Gegenwart, wie sich an Goldbergs Kommentar er-
soziologischer, religionswissenschaftlicher und an- kennen lässt: »Performance in the United States be-
thropologischer Studien von Émile Durkheim über gan to emerge in the late thirties with the arrival of
Arnold von Gennep und Clifford Geertz bis hin zu European war exiles in New York. By 1945 it had be-
Erving Goffman und Victor Turner führte über- come an activity in its own right, recognised as such
haupt erst zu einer Neubewertung dessen, was unter by artists and going beyond the provocations of ear-
der Rubrik »Darstellung« jenseits einer literatur- lier performances« (Goldberg 2001, 121). Während
und bühnenzentrierten Kunstpraxis zu subsumieren sich in den 1990er Jahren auf Theorieebene eine
sei. Beleg für diese erweiterte Perspektive ist schließ- Konzentration auf die Performance Art bemerkbar
lich der in den 1990er Jahren weiträumig diskutierte machte – das untitled event von John Cage aus dem
Begriff der Theatralität, der auch theatrale Praktiken Jahr 1952 wird zum bedeutenden Datum der perfor-
außerhalb des Kunsttheaters unter den heuristischen mativen Wende –, um die Korrelation von Perfor-
Kategorien von Aisthesis, Kinesis und Semiosis bzw. mativitätstheorem und ästhetischen Phänomenen
Inszenierung, Wahrnehmung, Performance und abseits der textzentrierten Praxis zu erläutern, zeich-
Korporalität zu erfassen sucht. net sich in den vergangenen Jahren eine »Entschär-
Parallel hierzu wurden Formen szenischer Prä- fung des Konfliktes« zwischen Literatur und Theater
sentation der Neoavantgarde der 1960er und 1970er ab, die »Grenzziehungen zwischen den künstleri-
erörtert, die auch dem Bereich der bildenden Kunst schen Gattungen und Formationen durchlässiger er-
zugeordnet werden und die nun das Problem einer scheinen lässt« (Tigges 2008, 11).
trennscharfen Gattungsdifferenzierung überhaupt
erst aufwerfen: Die Performance Art lässt sich weder
zuverlässig als alleinige Ausdrucksform der bilden-
den Kunst noch des Theaters bezeichnen. Zudem 6.3 Wirkungsfeld
gelangten analog zur Befragung herkömmlicher Me-
thoden auch historiografische und kulturelle Pers- Das Überschreiten der Gattungsgrenzen und der da-
pektiven ins Wanken. Innerhalb der Theaterwissen- mit verbundene Mangel einer exakten Bestimmung
schaft wird die traditionell eurozentristische Pers- des postdramatischen Theaters, die angibt, wo genau
pektive zugunsten einer interkulturellen erweitert. die Trennlinie zwischen dramatischen, postdramati-
Gleichwohl dominierte, zumindest im Bereich der schen und anderen performativen Darstellungsfor-
Performance Studies, bis in die 1990er Jahre der men verläuft, gehört zu den Grundcharakteristika
Blick aus angloamerikanischer Sicht: Die Schriften dieser Ästhetik und wird in der Theorie auch als sol-
der Performance-Theoretikerinnen RoseLee Gold- che verteidigt. So schreibt der amerikanische Thea-
berg, Bonnie Marranca und Peggy Phelan tragen terwissenschaftler Richard Schechner: »Is Perfor-
zwar dazu bei, die Ausdifferenzierungen der Perfor- mance Studies a ›field‹, an ›area‹, a ›discipline‹? […]
mance Art und die damit einhergehenden Wechsel- Performance Studies is ›inter‹ – in between. It is in-
wirkungen zwischen bildender Kunst und Theater tergeneric, interdisciplinary, intercultural  –  and
verstärkt als diskursive Praxis zu beobachten. Auf therefore inherently unstable. Performance Studies
methodischer Ebene zeigt sich aber, dass durch die resists or rejects definition. […] Accepting ›inter‹
historiografische Neujustierung einerseits eine neue means opposing the established of any single system
Zäsur geschaffen wurde, indem schließlich ein Para- of knowledge, values, or subject matter« (Schechner
digmenwechsel in den Künsten (und Wissenschaf- 1998, 357 u. 360 f.). Trotz dieser im Kontext post-
ten) festgestellt wurde, der als »performative Wende« strukturalistisch orientierter Identitätskritik zu ver-
(Fischer-Lichte 1998) in den Diskurs eingegangen ortenden Selbstbeschreibung lässt sich das postdra-
ist: Der Fokus wird weniger auf die mimetische, re- matische Theater in drei übergeordnete, wenngleich
präsentationale Funktion von Kunst gelegt als viel- sich überschneidende Kategorien klassifizieren: 1.
mehr auf deren Handlungsdimension. Zum anderen Postdramatisches Texttheater, 2. Postdramatische
verweist gerade die Stärkung nicht-repräsentationa- Inszenierungspraxis und 3. Performance Art.
ler Ästhetiken innerhalb der Theorie auf das ideelle
und (implizit) geschichtsphilosophische Kontinuum
von der historischen Avantgarde über die Neoavant-
6. Theater jenseits des Dramas: Postdramatisches Theater 77

6.3.1 Postdramatisches Texttheater schlug etwa Manfred Pfister Differenzkriterien vor,


die einer Offenheit gegenüber innovativen Theater-
Unter ›postdramatisches Texttheater‹ werden jene texten und theatralen Grenzformen Rechnung tra-
Tendenzen der literarischen Praxis subsumiert, die gen sollen: Plurimedialität, Kollektivität von Pro-
postdramatische Schreibweisen in schriftlich fixier- duktion und Rezeption, Überlagerung von innerem
ten Texten erkennen lassen. Bis zum Ende des 19. und äußerem Kommunikationssystem, Performati-
Jahrhunderts bürgte gerade die behauptete Ununter- vität der Sprache (Pfister 2001, 33). Während derlei
scheidbarkeit von Drama und Theater für die Ein- heuristische Instrumentarien v. a. die mediale Spezi-
haltung des Realismusprinzips als Norm und mithin fizität der jeweiligen Text- bzw. Darstellungsform zu
die theatrale Darstellung der fiktionalen Welt des beschreiben erlauben, verlangt der durch die szeni-
Dramas, deren Bezugspunkt sie zugleich bildete, für schen Erneuerungen herausgeforderte Wandel der
den als Standard erachteten Illusionismus auf dem literarischen Produktion nach einem neuen Ver-
Theater: Drama und Theater begründen als Einheit ständnis von Textualität, das nicht mehr auf schrift-
erst jene Norm, die den Primat des Realismus zum lich fixierte Texte beschränkt bleibt. Die im Zuge des
Zentrum aller Kunstproduktion erklärt. Die später Strukturalismus und ferner des Poststrukturalismus
von der Theorie als Auflösungsprozesse interpretier- entwickelte Intertextualitätstheorie, die entschei-
ten Entwicklungen des Dramas um 1900 waren ein dende Impulse von der These bezog, dass auch kul-
Symptom dafür, dass Episierungs- und Lyrisierungs- turelle Phänomene wie Texte zu lesen seien, fand
tendenzen des Dramas, Drama und Theater sich Anwendung sowohl als Analysemethode wie als äs-
voneinander entfernten. Diese »Krise des Dramas« thetische Strategie. Mit der Interntextualitätstheorie
von der Peter Szondi in seiner Theorie des modernen entwickelte Julia Kristeva Michail Bachtins Dialogi-
Dramas (Szondi 1956, 20) spricht, kann allerdings zitätstheorem weiter, das davon ausging, dass der
nur auf der Folie dessen einsichtig gemacht werden, Roman, analog zum mittelalterlichen Karneval, von
wovon sich die neuen Tendenzen abheben. Die Rede einer Vielzahl von Stimmen durchzogen sei und da-
von der ›Absolutheit des Dramas‹ (vgl. Kap. II.6) her das Potential zur Subversion der Offizialkultur
(Szondi 1956, 15) geht von einer idealtypischen Be- in sich berge. Kristevas eigener, ebenfalls ideologie-
stimmung aus, in der die zeitliche Verfasstheit des kritischer Impetus ist hingegen von der Überzeu-
Dramas, die Gegenwärtigkeit, die conditio sine qua gung getragen, dass sich nicht allein der Roman,
non bildet, deren genuine Artikulationsform Rede sondern jeder Text aus einer Vielzahl von Zitaten zu-
und Gegenrede zweier Personen darstellt. Erst die sammensetze und jeder Text die Vereinnahmung
Störung dieser Bedingung durch Kommentare, und Verwandlung des anderen Textes sei. Diese
Spiel-im-Spiel-Szenen, das Sprechen »ad spectato- Form der auch als Logozentrismuskritik beschriebe-
res« und andere Formen der Episierung macht nach nen Subjektkritik fand Widerhall auch in der Ausei-
Szondi die Krise des Dramas als Krise des modernen nandersetzung mit dem Begriff der Autorschaft wie
Subjekts verstehbar, die im Drama nicht mehr durch sie von Roland Barthes in Der Tod des Autors (1968)
die (aristotelischen) Prinzipien von Wahrscheinlich- und von Michel Foucault in Was ist ein Autor? (1969)
keit und Notwendigkeit adäquat dargestellt werden vorgebracht wurde. Beide gingen gleichermaßen
kann. davon aus, dass jeder Schreibende selbst ein Ge-
Die Konvergenz von im weitesten Sinne »nicht schriebener sei und es folglich eine individuelle, sin-
mehr dramatischen« Texten (Poschmann 1997) auf guläre Urheberschaft von Texten nicht gebe. Der
der einen und erkenntnistheoretischen Positionen sich hier andeutende Weg der Diskursivierung und
zur Krise der Repräsentation auf der anderen Seite Reflexivierung von Sprache in literarischen Texten
machte sich schließlich auch bemerkbar in der Ab- offenbart sich in der literarischen Praxis schließlich
sage an idealtypische und essentialistische Wesens- als eine nicht mehr an das Sprechersubjekt gebun-
bestimmungen, mit denen man sowohl den schrift- dene Figurenrede. Texte von so unterschiedlichen
lich fixierten Text, das Drama, als auch das Theater, Autoren wie Heiner Müller (u. a. Hamletmaschine,
vom 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. 1979 – UA in französischer Sprache; Germania. Tod
Jahrhunderts zu definieren versuchte. Gegenüber in Berlin, 1978) und Elfriede Jelinek (u. a. Wolken.
den zwangsweise in Aporien mündenden Definiti- Heim, 1988; Totenauberg, 1992) oder Rainald Goetz
onsversuchen vom Wesen des Dramas auf der einen (Jeff Koons, 1999) lassen sich nicht mehr angemessen
und vom Wesen des Theaters auf der anderen Seite dadurch beschreiben, dass man sie allein als Mittel
78 I. Begriffe und Konzepte

begreift, die Grenzen der Kommunikation vorzu- in den Blick. Dazu gehört etwa die Bindung der
führen. Die Integration und Neukontextualisierung Schreibweise an die Phonetik, die durchgehende
unüblicher Textsorten im dramatischen Zusammen- Kleinschreibung und die Verwendung typografi-
hang wie etwa Gedichte, Romane, philosophische scher Zeichen ebenso wie das Ins-Verhältnis-Setzen
Schriften, wissenschaftliche Texte und journalisti- der Schrift zum weißen, die Schrift umgebenden
sche Reportagen hat eine Diskursivierung der Spra- Umfeld, wie die Texte Jelineks, Jon Fosses und Sarah
che zur Folge. Hier wird eine ästhetische Strategie Kanes veranschaulichen.
verfolgt, die sowohl das Bewusstsein der Ursprungs- Damit einhergehend wurden auf der Theorie-
losigkeit des intentionalen Sprechakts, als auch die ebene herkömmliche Analysemodelle wie das der
Reflexion über ästhetische Funktionsweisen bein- Semiotik, das ein realistisches Paradigma voraus-
haltet. Der Begriff ›Drama‹ wird damit zu einer his- setzt und dementsprechend davon ausgeht, dass die
torischen Größe, die anzeigt, dass es sich dabei um fiktionale Welt auf eine außerästhetische Wirklich-
eine literarische Gattung handeln müsse, die der keit zu beziehen sei und infolgedessen die ästheti-
Einhaltung bestimmter Strukturprinzipien wie einer schen Zeichen entsprechend entschlüsselt werden
kausalen Handlungsfolge, psychologisierenden Fi- könnten, zunehmend problematisch. Das Modell
gurendarstellungen und der Kohärenz von Raum der Performativität ermöglicht es demgegenüber,
und Zeit bedürfe. Die Adäquatheit veränderter for- von einem Zwei-Welten-Modell abzusehen und so-
malästhetischer Ausdrucksformen wie inhaltlicher wohl die Herstellung von Realität und Diskursen
Sujets wurde schließlich über den Begriff Theater- und deren Effekte im und durch das Ästhetische als
text ausgedrückt, der das Problem der Gattungs- auch die Rückkoppelung des Szenischen im Textuel-
grenzen sichtbar werden ließ und dadurch ermög- len erklärbar zu machen. Zugleich wurde mit dem
lichte, gerade die Akzeptanz der Überschreitung von Modell des Performativen die Unabschließbarkeit
Gattungsgrenzen begrifflich zu markieren. Her- und Offenheit des Produktions- wie Rezeptionspro-
kömmliche dramaturgische Strukturierungen des zesses auf methodologischer Ebene konstatiert: Die
Textes, die einem linear-sukzessiven Textverlauf fol- Rezeption ist nicht mehr als passive Aufnahme des
gen und die einzelnen Handlungen der Figuren auf Produktionsgeschehens aufzufassen; der Zuschauer
eine Motivation zurückführen, rückten in den Hin- ist vielmehr aktiver Produzent einer Vielzahl mögli-
tergrund und wurden ersetzt durch alternative Dra- cher Bedeutungen.
maturgien, die nicht-linearen Strukturprinzipien
von Zirkularität, Repetition, Simultaneität und Sta-
sis folgen. Die Zurücknahme der Darstellungsfunk- 6.3.2 Postdramatische Inszenierungspraxis
tion der sprachlich-symbolischen Zeichen des
schriftlich fixierten Texts in »nicht-mehr dramati- Das postdramatische Theater lässt sich auf der
schen« Texten, die andererseits die Materialität der Ebene der literarischen Praxis ebenso identifizieren
sprachlichen Zeichen kenntlich macht, zeitigte wie auf der Ebene der szenischen, die sich auf einen
schließlich auch ihren Effekt auf das Verständnis Text bezieht. Die wechselseitige Emanzipation von
von Theatralität in Bezug auf den Text. Der schriftli- Text und Theater im Laufe des 20. Jahrhunderts
che Text stellt theatrale Zeichen in Rechnung, die er hatte zur Folge, dass die Inszenierung nicht mehr als
selbst, qua medialer Verfasstheit, nicht besitzt szenische Umsetzung eines vorgeschalteten Arte-
(Poschmann 1997). Der Begriff Texttheatralität be- fakts, des literarischen Texts, fungiert und dass sie
zeichnete demgemäß zweierlei: Zum einen diejenige somit den Status einer untergeordneten, weil bloß
Qualität eines Textes, die eine szenische Theatralität reproduzierenden Kunst hinter sich lassen konnte.
impliziert und zum anderen die performative Di- Insofern gilt die postdramatische Inszenierungspra-
mension der Sprache, die auch als Inszenierung der xis von Texten als eine bewusst akzentuierende und
Sprache bezeichnet werden kann. Parallel hierzu interpretierende Auseinandersetzung mit der
machte sich innerhalb der Praxis auf textuell-grafi- schriftlichen Textvorlage. Regietheater, Werktreue,
scher Ebene eine Akzentverschiebung von her- Inszenierung und Aufführung sind Begriffe, die
kömmlichen literarischen hin zu postdramatischen dementsprechend im Rahmen dieser Entwicklung
Schreibweisen bemerkbar: Die grafische Darstellung neu bewertet werden. Bereits der in den 1980er Jah-
der Theatertexte selbst rückt nach dem Prinzip der ren sich etablierende Begriff Regietheater verweist
Konkreten Poesie die visuelle Dimension des Textes auf die Emanzipation des Theaters als autonomer
6. Theater jenseits des Dramas: Postdramatisches Theater 79

Kunstform sowie auf den Aspekt der Interpretation Demgegenüber bezeichnet die Aufführung den in
des schriftlichen Texts durch den Regisseur, eine der jeweiligen Produktions- und Rezeptionssitua-
Praxis, die von Regisseuren wie Peter Zadek, Claus tion sich immer wieder neu und unvorhersehbar
Peymann und Peter Stein verfochten und umgesetzt vollziehenden Akt der Realisierung der Inszenie-
wurde. Obwohl die Grenzen zwischen Regietheater rung im Hier und Jetzt der jeweiligen Gegenwart,
und einer postdramatischen Inszenierungspraxis ein Akt, der im postdramatischen Theater tendenzi-
bisweilen fließend sind, kann man feststellen, dass ell verstärkt wird. Der literarische Text bildet also
sich der Schwerpunkt von der Umsetzung eines als nicht mehr das Fixum, dessen Historizität es auf der
nach wie vor vorrangig erachteten Dramas im Regie- Bühne adäquat umzusetzen gilt. Vielmehr wird er
theater auf die verstärkte Miteinbeziehung der Kör- als Potential begriffen, die Bedeutung seiner Aussa-
perlichkeit der Darsteller, der Materialität der szeni- gen und deren Kontexte für die Gegenwart fruchtbar
schen Elemente sowie des bisweilen vehementen zu machen. Die sich daraus ergebenden »dramati-
Eingriffs am Text in der postdramatischen Inszenie- schen und ästhetischen Transformationsprozesse«
rungspraxis verlagert, wie die Inszenierungen Frank und die damit verbundene »Frage nach Traditions-
Castorfs, Christoph Marthalers und Luk Percevals entkoppelungen oder -ankoppelungen« erweisen
zeigen. sich als »unabdingbar« (Tigges 2008, 11). Als Aus-
Methodische Konsequenzen manifestieren sich druck des Bedürfnisses, sich von der bestimmenden
schließlich hinsichtlich des Umgangs mit den Be- Vorlage eines fertig vorgegebenen Textes zu befreien,
griffen Inszenierung und Aufführung. Während In- ist es auch zu verstehen, wenn Künstler wie René
szenierung und Aufführung innerhalb der Theater- Pollesch oder die Gruppe Forced Entertainment ihre
wissenschaft der 1980er noch weitgehend synonym Texte erst während des Inszenierungsprozesses ent-
verwendet werden und die Inszenierungsanalyse stehen lassen. Die Gruppe Rimini Protokoll radikali-
v. a. im Rahmen eines semiotischen Analyseansatzes siert dieses Vorgehen noch. Sie arbeitet nach dem
Aufführungsanalyse zugleich ist, die Inszenierung Prinzip der sogenannten »offenen Autorschaft«, in-
darüber hinaus in erster Linie als Transformation ei- dem sie Texte und Berichte von Personen aus dem
nes schriftlichen Texts in einen szenischen aufgefasst Alltag integriert und diese zugleich von in erster Li-
wird, wandelt sich dieses Verhältnis parallel zur Aus- nie nicht-professionellen Schauspielern aufführen
differenzierung einer postdramatischen Theaterpra- lässt. Als besondere Herausforderung für die Ana-
xis. Die Beziehung von Inszenierung und Auffüh- lyse erweist sich darüber hinaus das Verfahren von
rung wird schließlich in dem Sinne problematisiert, Regisseuren, die postdramatische Theatertexte zu-
dass sie Planbarkeit und Unplanbarkeit des szeni- gleich an eine postdramatische Inszenierungspraxis
schen Ablaufs zum Thema macht. Patrice Pavis be- koppeln und die Intention einer postdramatischen
zeichnet die Aufführung als »Gesamtheit dessen, Ästhetik in doppelter Hinsicht ausloten, wie etwa bei
was auf der Bühne zu sehen und zu hören ist, ohne der Inszenierung Nicolas Stemanns von Jelineks Ul-
bereits rezipiert und als Bedeutungssystem […] be- rike Maria Stuart (2006). Stemann verwendete nur
schrieben worden zu sein.« Die Inszenierung ist ein Drittel des Textes von Jelinek, von dem die Auto-
demgegenüber die »Koordinierung verschiedener rin ihrerseits lediglich Fragmente im Internet veröf-
Materialien (Signifikantensysteme) in einem be- fentlicht hatte: Leerstellen und Offenheiten von Text
stimmten Raum und einer bestimmten Zeit für ein und Inszenierung überlagern sich und führen da-
bestimmtes Publikum« (Pavis 1989, 14). Willmar durch wechselseitig im Akt der Aufführung die Be-
Sauter stellt das Wechselverhältnis von Aufführung fragung von Autorschaft vor.
und Inszenierung in Rechnung und versteht die
Aufführung als »Konkretisierung einer Inszenie-
rung«, die Inszenierung wiederum sei »eine theore- 6.3.3 Performance Art
tische Konstruktion, deren sich sowohl die Theater-
schaffenden als auch die Forscher bedienen« (Sauter Die sich seit den 1950er Jahren in USA, Europa und
1995, 292 f.). Inszenierung wird also verstanden als Japan ausdifferenzierende und auf die szenischen
die vorbereitete, erprobte und gegebenenfalls von Experimente der historischen Avantgarde zurück-
sämtlichen und nicht nur vom Regisseur am Gestal- reichende Ästhetik der Performance Art hat Impulse
tungsprozess Beteiligten festgelegte Strategie, eine aus der bildenden Kunst wie aus dem Theater bezo-
Aufführung auf eine bestimmte Weise zu realisieren. gen. Die Performance Art, auch als Happening,
80 I. Begriffe und Konzepte

Body Art, Living Art, Aktionskunst und Art Aktuell 6.4 Handlung
bezeichnet, steht für eine Ästhetik, die sich gegen die
traditionelle Abbildfunktion in den Künsten richtet. Der Begriff der Handlung, der im Drama zum einen
Anders als das Theater der Repräsentation soll die bezogen wird auf die inhaltliche Verfasstheit des
Performance Art eine »als unmittelbar intendierte dramatisch-theatralen Gesamtgeschehens, auch be-
Erfahrung des Realen« (Lehmann 1999, 241) für zeichnet als Plot, und zum anderen die Aktion einer
Künstler wie Zuschauer gleichermaßen ermögli- Figur bezeichnet und damit Situationsveränderung
chen. Die Performances operierten seither dement- meint, wird im postdramatischen Theater einer um-
sprechend mit den Mitteln des Zufalls, verließen fassenden Neubewertung unterzogen. Die Anerken-
herkömmliche Aufführungsorte wie Theater und nung einer nicht-repräsentationalen Ästhetik im
Museen und stellten die Auseinandersetzung mit postdramatischen Theater hat dazu geführt, dass fik-
dem eigenen Körper in den Mittelpunkt der sich im tive Handlungen nicht auf außertheatrale Gegeben-
jeweiligen Hier und Jetzt vollziehenden Auffüh- heiten bezogen sein müssen, wenn man von Hand-
rungssituation. Beispielhaft zu nennen wären hier lung spricht. Zentral hierfür ist die Rede von der
etwa die Performances von John Cage, Vito Acconci, »performativen Wende« (vgl. Fischer-Lichte 1998)
Jim Dine, Chris Burden, Marina Abramović und den in den Künsten. Die Entwicklungsgeschichte des
Wiener Aktionisten bis hin zu Carolee Schneeman Performativitätstheorems zeigt dabei, dass sich
und Gilbert & George. Der Gestus der Opposition sprachtheoretische und theatertheoretische Kon-
ist nicht nur gegen eine illusionistische Darstellungs- zepte überlagern: Während die pragmatisch ausge-
weise der Künste gerichtet. Vor allem von Seiten der richtete angloamerikanische Sprachphilosophie, al-
bildenden Kunst richten sich derlei Performances len voran John L. Austin (insbesondere mit How to
zugleich gegen herrschende Gesetze des Kunstmark- do things with words?, 1962), die These aufstellte,
tes: »A museum might well have purchased a Pol- dass die Konzentration der Philosophie auf die
lock, but it could never purchase the action of Pol- Wahrheitsfähigkeit der Sprache von deren vielfälti-
lock painting – the event itself, the real work« (Sayre gen und performativen Funktionen ablenke und in-
1989, 4). Prozessualität und die Überschreitung der folgedessen das Augenmerk auf die lange Zeit ver-
Gattungsgrenzen bilden zentrale Kategorien zur Be- nachlässigte Handlungsdimension von Sprache
schreibung der Performance Art, die immer auch richtete, stellte die theatrale Praxis wie ihre Theorie
eine Institutionenkritik impliziert. Dazu zählen, wie die Handlungsdimension theatraler Akte ins Zen-
Jerome Rothenberg bereits Mitte der 1970er Jahre trum ihrer Artikulation wie Analyse: Die Aktionen
ausführte, Aspekte wie »a continuum, rather than von Künstlern insbesondere der Performance Art
barrier, between music and noise; between poetry verweisen nicht auf ein außerhalb ihrer Produktio-
and prose […] between dance and normal locomo- nen liegendes Anderes, sondern konstituieren
tion […], no hierarchy of media in the visual arts, no Handlung im Akt ihrer Hervorbringung. Die Hand-
hierarchy of instrumentation in music«, »a move lungsdimension bleibt damit, so der Anspruch, nicht
away from the idea of ›masterpiece‹ to one of the auf den Bereich des Ästhetischen beschränkt. Viel-
transientness and self-obsolence of the art-work« mehr ist im Rahmen einer postdramatischen Thea-
(Rothenberg 1977, 11). Der schriftlich fixierte Text, terpraxis davon auszugehen, dass theatrale Akte
wenn vorhanden, übernimmt in der Performance Handlungen hervorbringen, die ihrerseits soziale
Art häufig den Status eines multisequenziellen Netz- Wirklichkeit konstituieren und somit das »Gelingen
werks, dessen Logik nicht der Linearität sonstiger sozialer Prozesse, wie auch deren Veränderbarkeit«
schriftlich fixierter Texte folgt, sondern diese auffä- bewirken (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001, 9–24).
chert. Der Begriff ›Hypertext‹ bezeichnet hier die
Verlinkung unterschiedlicher Texttypen – insbeson-
dere auch mit elektronischen, computergesteuerten
Formen der Textproduktion –, deren Effekt eine 6.5 Figur und Subjekt
multilineare und -perspektivische Darstellung ist
mit dem Ziel einer Dehierarchisierung von Inhalten Im traditionellen Drama, wo es auf Handlungsebene
und deren Schreibweisen. um die nachvollziehbare Veränderung einer Situa-
tion im Rahmen einer kohärenten Raum-Zeit-
Struktur geht, ist nach Pfister »die dialektische Bezo-
6. Theater jenseits des Dramas: Postdramatisches Theater 81

genheit der Kategorien von Figur und Handlung evi- wissenschaft mit neuen Konzepten zum Verständnis
dent« (Pfister 2001, 220). Das Wechselverhältnis von der Figur und des Darstellers. Die Kategorie der Fi-
Figur und Handlung ist somit auch für das Theater guration soll gegenüber der herkömmlichen Analyse
konstitutiv, denn eine Figurendarstellung kommt der Figur, die sich einer Semantisierbarkeit entzie-
ohne die Darstellung einer Handlung ebenso wenig henden Anteile eines Textes, einer Inszenierung bzw.
aus wie eine Handlungsdarstellung ohne die Darstel- Aufführung sowie die Wechselwirkungen von Äs-
lung einer Figur. Während nun aber im traditionel- thetik, Medialisierung und Rezeption beschreiben:
len Drama die ontologische Differenz zwischen rea- Figuration meint hier ausdrücklich den Prozess der
len Charakteren und fiktiven Figuren betont wird, »Figurwerdung« als »Potentialität einer Bedeutungs-
wandelt sich dieses Verhältnis im postdramatischen bildung« ohne schon je die Figur als Fixum im Blick
Theater grundlegend. Die Subjekttheorien des Post- zu haben (Brandl-Risi/Ernst/Wagner 2000, 22). Da-
strukturalismus haben zudem die Vorstellung eines bei veranschaulicht gerade der Begriff ›Figuration‹
mit sich identischen, intentional handelnden Indivi- das integrative Moment einer postdramatischen Äs-
duums einer nachhaltigen Umwertung unterzogen: thetik, das nun als eine Art Bindeglied der nun nicht
Das autonome Subjekt, so die Basisformel dieser mehr trennscharf zu bestimmenden Gattungen fun-
Subjektkritik, sei eine Illusion. Während Foucault gieren kann: Im Tanztheater etwa, wo das Verhältnis
diskursanalytisch das Subjekt als ein kontingentes zwischen Figur und Figuration von jeher abstrakter
Produkt von Machtkonstellationen auffasst, die als ausfiel als im traditionellen Texttheater, lässt sich ge-
diskursive Formationen beschreibbar sind, löst Der- rade anhand zeitgenössischer Ästhetiken etwa von
rida über das sprachtheoretische Verfahren der William Forsythe, Trisha Brown und Meg Stuart von
Dekonstruktion den Gedanken der Identität des einer permanenten Transfiguration und Umschrei-
Subjekts dahingehend auf, dass er die Möglichkeit bung im Bewegungsablauf sprechen. Die Fokussie-
stabiler Sinnordnungen ausschließt. Das Eingebun- rung auf das Prozessuale macht mithin deutlich,
densein eines jeden sprachlichen Zeichens in einen dass variable Konstellationen und Konfigurationen
Kontext und seine Angewiesenheit auf die Wieder- nicht auf zuvor festgelegten Darstellungsmustern
holbarkeit (Iterabilität) verhindere die Festlegung ei- und Perspektivierungen basieren, sondern diese und
nes einheitlichen Sinns. Vor allem die Gender-For- damit den Raum, in dem sie sich befinden, erst her-
schung hat sich derlei erkenntnistheoretischer vorbringen (vgl. Brandstetter 2007, 16). Insbeson-
Ansätze bedient und den Gedanken von der Kon- dere auch Figuren-, Puppen- und Objekttheater
struktivität der Geschlechter hervorgehoben. Die markieren hier die dynamische Grenze zwischen Ei-
neue Perspektive auf das Subjekt als gleichwohl offe- genem und Fremden, zwischen Subjekt und Objekt,
nes Resultat permanenter und prozessualer Konsti- zwischen Belebtem und Unbelebtem, gerade weil die
tutionsakte kommt im postdramatischen Theater in nicht-menschliche Figur, das unbelebte Objekt im
zahlreichen variablen Auseinandersetzungen mit Akt des Zur-Schau-Stellens die Fragilität von Identi-
Körperbildern zum Tragen. Im Gegensatz zum tra- tät, wie sie das postdramatische Theater themati-
ditionellen Drama und seiner Realisierung, wo Figu- siert, ausagiert (vgl. Wagner 2003).
ren nach dem Grad der Autonomie ihrer Hand-
lungen in Personifikation, Typ und Individuum
differenziert werden können und je nach Entwick-
lungsverlauf als offene oder geschlossene, als ein- 6.6 Sprache und Dialog
oder mehrdimensionale Figurenkonzeptionen be-
schrieben werden können, wird im postdramati- Die Sprache, die im Drama das zentrale Kriterium
schen Theater das Modell von einer in sich der Subjektkonstitution bildet, und zwar auch dann
geschlossenen Figur, deren Handlungsakte auf eine noch, wenn ihre Kommunikationsfunktion und die
logische Ursache rückführbar sind, unterlaufen. Artikulierbarkeit sprachlicher Inhalte, wie etwa im
Dazu gehört auch die Überschreitung und Entgren- Theater Samuel Becketts, zur Disposition stehen,
zung damit verbundener dichotomer Kategorisie- verändert sich im postdramatischen Theater dahin-
rungen wie Subjekt-Objekt, Natur-Kultur, Innen- gehend, dass ihre Verbindung zum Sprechersubjekt
Außen etc. Dieser im poststrukturalistischen Dis- aufgelöst wird. Der meist auf die Sprachkrise des 19.
kurs auch als Dezentrierung des Subjekts Jahrhunderts zurückgeführte Verdacht, die persönli-
bezeichneten Verschiebung begegnet die Theater- che Welterfahrung des Einzelnen lasse sich sprach-
82 I. Begriffe und Konzepte

lich nicht adäquat vermitteln, schlägt sich im post- ges‹ Nacheinander festgelegt, als die narrative Prä-
dramatischen Theater in einer immer stärker wer- sentation, die eine Umstellung von ganzen Abschnit-
denden Monologisierung des Dialogs bzw. einer ten und eine Auffächerung und Verzweigung der
zunehmenden Dialogisierung des Monologs nieder. Geschichte in nebeneinanderher laufende Hand-
Die Verbindung von Sprache und Sprechersubjekt lungsphasen kennt« (Pfister 2001, 274). In der Diffe-
löst sich auf; die Figuren fungieren nun nicht mehr renz von Spielzeit und gespielter Zeit wird der Fikti-
als fiktive Subjekte, sondern als Textträger, Verlaut- onalitätsgrad der dargestellten Handlung deutlich,
barungs- oder Diskursinstanzen von Inhalten, die wobei durch die spezifische Strukturierung der Er-
nicht mehr unbedingt logisch auf einen intentiona- eignisse der Handlung diese in einer mythischen
len Sprechakt bezogen sein müssen. Figuren artiku- Vorzeit, einer historisch fassbaren Vergangenheit, in
lieren nicht mehr intentionale Sprechakte, sondern der Jetzt-Zeit der Rezipienten oder in unfixierter
produzieren einen Polylog, eine Mehrstimmigkeit, ahistorischer Überzeitlichkeit angesiedelt werden
die vorführt, dass viele Sprachen und Sprecher Ur- kann (Pfister 2001, 360). Die Rücknahme der Fik-
heber und Vermittler der (singulären) Figurenrede tion und die im Gegenzug damit verbundene Auf-
sind. Wie Marianne Schuller angesichts dieser Praxis wertung der Realzeit des sich im »Hier und Jetzt«
formuliert hat, manifestiert sich die »Dialogizität der vollziehenden Geschehens manifestiert sich im post-
Rede […] die den Texten ein szenisches oder drama- dramatischen Theater nun auf der Ebene der Zeit-
tisches Moment verleiht« in der Weise, dass das lichkeit in einer Betonung der Kategorien Präsenz
Wort »seine ungewußte/unbewußte Konstitutions- und Ereignis: »Vor den Logos treten im postdramati-
bedingung mit sich führt« (Schuller 1990, 161). Der schen Theater Atem, Rhythmus, das Jetzt der fleisch-
doppelte Bezugspunkt, der die Texte auf der Bühne lichen Präsenz des Körpers« (Lehmann 1999, 262).
kennzeichnet ist jedoch, Theresia Birkenhauer zu- Im postdramatischen Theater verweisen ›Ereignis‹
folge, sowohl im dramatischen, wie im postdramati- und ›Präsenz‹ nicht allein auf einen produktionsäs-
schen Theater evident: »[I]n ihren Elementen sind thetischen Modus, auf die performative Handlungs-
sie auf eine darzustellende Szene bezogen, in ihrem dimension gegenüber den traditionell repräsentatio-
kompositorischen Kalkül auf den Prozess der Dar- nalen Ästhetiken. Die Kategorien ›Ereignis‹ und
stellung, das Hören und das Sehen der Zuschauer« ›Präsenz‹ erhalten zugleich einen philosophischen
(Birkenhauer 2008, 256). und auch ideologiekritischen Geltungsanspruch, der
wiederum mit der Kritik an der Repräsentation in
Verbindung steht. Phelan etwa weist dem Epheme-
ren politisches Potential zu. Es ermögliche die
6.7 Zeit und Raum (männliche) Politik der Repräsentation zu durchbre-
chen und diese zu subvertieren (Phelan 1993, 149).
Die für das traditionelle Drama charakteristische Eine nicht-repräsentationale Ereignis-Ästhetik be-
Unterstellung einer Zeit-Raum-Kohärenz, also die wirke aber auch, so eine andere Lesart, eine »ästheti-
Forderung, sämtliche Ereignisse einer Handlung sche Erfahrung«, die jegliche rationalen Kriterien
hätten in einem logisch nachvollziehbaren Raum- transzendiere. Der auf Heideggers Ereignis-Philoso-
Zeit-Kontinuum abzulaufen, wird im postdramati- phie zurückreichende Entwurf von »ästhetischer Er-
schen Theater zugunsten einer mehr oder weniger fahrung« betont das dem Verstand Inkommensura-
stark ausgeprägten Kongruenz von Spielzeit und ge- ble und rückt mithin die existienzielle Bedeutung
spielter Zeit verschoben. Den zentralen Unterschied von »ästhetischer Erfahrung« ins Zentrum (vgl.
zu narrativen Texten wie etwa dem Roman bildet im Mersch 2002; Gumbrecht 2004). Ebenso wie die fik-
traditionellen Drama zunächst das Fehlen einer ver- tionale Zeit im postdramatischen Theater zugunsten
mittelnden und distanzierenden Erzählerinstanz, der Betonung des Hier und Jetzt in den Hintergrund
die das beliebige Umstellen der Chronologie, Raf- tritt, wandelt sich auch die Bedeutung des Raumes.
fungen und Dehnungen erlaubt, während demge- Die seit den historischen Avantgardebewegungen
genüber durch das Fehlen dieser Instanz innerhalb übliche Praxis, herkömmliche Spielstätten wie Thea-
einer dramatisch-szenisch geschlossenen Einheit ter und Museen zu verlassen, hat Folgen für den
»allein das Raum-Zeitkontinuum der dargestellten Umgang mit und die Wahrnehmung von theatralen
Handlung den Textablauf« bestimmt. Die dramati- Räumen. Mit Foucault werden Räume nicht mehr
sche Geschichte ist damit stärker auf ein ›einsinni- allein als schlichtweg gegebene Örtlichkeiten, son-
6. Theater jenseits des Dramas: Postdramatisches Theater 83

dern als »Heterotopien« (Foucault 2005), Orte, die lesch hat schließlich zu einer Neubewertung des Me-
die vielfältigen Bedeutungen, die ihnen qua Histori- dienbegriffs geführt: So spricht etwa Christopher
zität und Kontext beigemessen werden, mittranspor- Balme davon, dass bei ›Intermedialität‹ zu differen-
tieren, begriffen. Das Verlassen von traditionellen zieren sei zwischen (1) der Transposition eines Stof-
Spielstätten führt darüber hinaus zu einer Aufwer- fes oder eines Textsegments aus einem Medium in
tung der spezifisch räumlichen Situation, wie sie ein anderes, (2) einer besonderen Form der Intertex-
dann insbesondere von der sogenannten »Site-Spe- tualität und (3) dem Versuch, in einem Medium die
cific-Art« und der Installationskunst mitvollzogen ästhetischen Konventionen und/oder Seh- und Hör-
wird. Analog zu einer Kritik am geschlossenen gewohnheiten eines anderen Mediums zu realisie-
Werkbegriff erhebt die installative Kunst, gerade ren. Als plausibel erweist sich demzufolge die von
weil sie ›Offenes zulässt‹, den Anspruch, den Raum Balme geforderte Verschiebung wissenschaftlicher
»nicht nur als einen von bestimmten Bedeutungen Analysen von einer herkömmlichen ästhetischen
durchzogenen [zu] reflektieren«, sondern zugleich Betrachtungsweise hin zu einer medientheoreti-
auch »an sich selbst eine extern soziologische Per- schen und mediengeschichtlichen, die auch die
spektive auf den Ort von Kunst [zu] eröffnen« (Re- wechselseitigen Rückkoppelungseffekte von Wahr-
bentisch 2003, 263). nehmen und Produzieren berücksichtigt (vgl. Balme
2004).

6.8 Intermedialität
6.9 Kritik des postdramatischen
Nachdem das zeitgenössische Theater sich nicht Theaters
mehr auf das traditionelle Texttheater beschränkt,
sondern längst auch elektronische Medien wie Film, Die in den Feuilletons notorisch geführte Debatte
Video und Internet als gleichberechtigte Gestal- um das Regietheater und den Status des literarischen
tungsmittel einsetzt, hat auch die Theorie ihren Fo- Texts auf dem Theater, deren Positivbild meist recht
kus verstärkt auf mediale Interaktionen gerichtet. diffus ausfällt, ist nichts anderes als eine Wiederauf-
Neben medienkritischen Positionen, die zunächst in lage der Werktreue-Debatte, die innerhalb der Thea-
der Verwendung elektronischer Medien auf der terwissenschaft ungefähr zur selben Zeit verabschie-
Bühne eine Bedrohung der genuinen Live-Situation det wurde, als der Begriff des postdramatischen
des Theaters sahen (vgl. Phelan 1993), hat in den Theaters in Umlauf gelangte. Obwohl auf Praxis- wie
USA vor allen Dingen Philip Auslander für einen er- auf Theorieebene eine vielfältige und ausdifferen-
weiterten Begriff von ›Liveness‹ plädiert. Er begreift zierte Auseinandersetzung mit postdramatischen
die elektronischen Informationstechnologien nicht Schreibweisen und Spielformen zu verzeichnen ist,
als Gegner einer als authentisch interpretierten Live- wurde auch Kritik an bestimmten Parametern des
Kunst des Theaters, sondern als integrativen Be- postdramatischen Theaters artikuliert. Vor allem die
standteil der mediatisierten Kultur (Auslander im postdramatischen Theater ausagierte Dezentrie-
1999). In Deutschland hat jenseits ontologischer Be- rung des Subjekts ziele, wie Birgit Haas in ihrem Plä-
stimmungen eine intensive Auseinandersetzung mit doyer für ein dramatisches Drama (2007) urteilt, am
Medialisierungsprozessen eingesetzt, die sich zu- politischen Anspruch des postdramatischen Thea-
nächst dem Wechselverhältnis von Text und Bild so- ters vorbei. Sie erst habe dazu geführt, dass dramati-
wie Literatur und Film und schließlich dem Thema sche Spielformen in den 1990ern auf der Bühne na-
Intermedialität auf dem Theater zuwandte (vgl. hezu vollkommen verschwunden seien. Die Ableh-
Meyer 2001; Boenisch 2002). Fortan wurden auch nung von Geschichte, Handlung und Figur im
die Darstellungs- und Wirkungsweisen von Präsen- postdramatischen Theater löse »den begrifflichen
tationsformen wie Übertragungen von Sportereig- Anspruch an die Klärung der Realität in der sich
nissen, Beerdigungen, Gottesdiensten, Talkshows, endlos fortsetzenden Dekonstruktion auf«, das post-
Parteitagen und Wahlkampfveranstaltungen in dramatische Theater werde zu einem »selbstreferen-
Fernsehen und Rundfunk untersucht. Dieser Pers- ziellen Theater«, das nur noch »die Spiegelungen der
pektivwechsel analog zu den theatralen Praktiken Hyperrealität« wiedergebe (Haas 2007, 42 f.).
etwa eines Christoph Schlingensief und René Pol-
84 I. Begriffe und Konzepte

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7. Interkulturelle Dramaturgie 85

7. Interkulturelle Dramaturgie lich zusammenfällt. Obwohl es durchaus Versuche


gab, die Dramenform rein literarisch nachzuempfin-
Unter dem Begriff ›interkulturelle Dramaturgie‹ den, geht die Rezeption der europäischen Dramatik
lassen sich Bestrebungen fassen, bei denen es im meistens mit einer Begegnung mit dem Medium
weitesten Sinne zu einem Austausch zwischen Dra- Theater einher, sei es durch Besuche in Europa
menformen unterschiedlicher kultureller Proveni- durch Eliten, sei es durch Gastspiele europäischer
enz kommt. Es handelt sich mit anderen Worten um und amerikanischer Theatertruppen vor Ort.
Kontakt zwischen kulturellen Traditionen, wobei
der Begriff ›Kultur‹ im Folgenden verhältnismäßig
eng gefasst wird. Nicht behandelt werden sollen in-
nereuropäische Austauschprozesse, sondern nur 7.1 Die Rezeption außereuropäischer
diejenigen zwischen europäischen und außereuro- Dramentraditionen
päischen Dramentraditionen. Der Fokus soll ferner
vornehmlich auf Dramatik und nicht auf theatralen Die Auseinandersetzung europäischer Dramatiker
Ausdrucksmitteln im weiteren Sinne (Inszenierung, mit außereuropäischen Dramentraditionen be-
Bühnenbild, Kostüm und Schauspielkunst) liegen, schränkt sich im Wesentlichen auf zwei Erschei-
obwohl sich hier seit dem 17. Jahrhundert zahlreiche nungsformen: das klassische Sanskrit-Drama und
Einflüsse nachweisen lassen (Stichwort: chinoiserie, das japanische Nō-Theater, wobei die Rezeption der
japonisme). Gegenstand ist ebenfalls nicht der ganze beiden Traditionen ca. ein Jahrhundert auseinander-
Bereich der exotischen Sujets, die seit der Frühen liegt. Das Interesse am Sanskrit-Theater beginnt be-
Neuzeit aus dem europäischen Drama nicht wegzu- reits im ausgehenden 18. Jahrhundert, während die
denken sind. Noch viel intensiver ist die Rezeption Dramen des Nō erst um 1900 einem breiteren, aber
des europäischen Dramenmodells auf der anderen immer noch kleinen Publikum bekannt werden.
Seite der kulturellen Handelsrouten. Die ab Ende des Mit der Veröffentlichung des Sanskrit-Dramas
18. Jahrhunderts einsetzende und seit Mitte des 19. Śakuntalā von Kālidāsa (vgl. Kap. III.3.2) durch den
Jahrhunderts alle Erdteile umfassende Verbreitung in Indien tätigen englischen Richter und Orientalis-
europäischer Kultur im Kielwasser des Kolonialis- ten William Jones im Jahr 1785 in Kalkutta wurde
mus brachte künstlerische Ausdrucksformen mit zum ersten Mal der literarischen Öffentlichkeit Eu-
sich, die in Kulturräumen wie dem indischen Sub- ropas ein Werk vorgestellt, das in formaler Hinsicht
kontinent, in Japan, China und Korea intensive Aus- dem europäischen Drama zu entsprechen schien,
einandersetzungen mit der europäischen Dramen- aber dennoch einem völlig anderen kulturellen Zu-
form auslösten und zu zahlreichen Adaptionsversu- sammenhang entstammte und darüber hinaus stilis-
chen führten. tische Charakteristika aufwies, die dem europäi-
Aufgrund der Vielschichtigkeit der historischen schen Drama unbekannt waren. Erst mit der Neu-
Breitenwirkung des Phänomens wird der Beitrag das veröffentlichung des Dramas 1789 in London
Thema in vier Aspekten beleuchten: (1) die Rezep- begann aber die eigentliche und bemerkenswerte
tion außereuropäischer Dramentraditionen; (2) das Rezeptionsgeschichte des bekanntesten Sanskrit-
europäische Drama im außereuropäischen Kontext; Dramas. 1790 und 1792 folgten rasch weitere Ausga-
(3) postkoloniale Dramatik; (4) Drama als ideologi- ben in London, 1796 eine weitere in Edinburgh. Eine
scher Begriff. In diesem Zusammenhang ist aus ei- deutsche Übersetzung von Georg Forster erschien
ner interkulturellen Perspektive zu erörtern, wie das 1791, dicht gefolgt von dänischen, französischen
europäische Dramenmodell eigentlich zu definieren und etwas später italienischen Übersetzungen.
ist, stellt es doch ein großes Reservoir an formalen Johann Wolfgang von Goethe, seinerzeit Inten-
Möglichkeiten bereit, von der Antike über das mit- dant des Weimarer Hoftheaters, las das Werk in
telalterliche Passionsspiel bis hin zu konkurrieren- Forsters Übersetzung und erwog ernsthaft, es für die
den Modellen des offenen (Shakespeare) und ge- Bühne zu adaptieren, indem er beispielsweise die in
schlossenen Dramas (Molière und Racine). Hinzu prākrit, der Alltagssprache, verfassten Stellen in
kommt die äußerst einflussreiche Tradition des rea- deutsche Dialekte übertragen wollte. Trotz der nicht
listischen Dramas, v. a. im Zuge einer internationa- erfolgten Aufführung gilt es als gesichert, dass das
len Ibsen-Rezeption (vgl. Fischer-Lichte 2010), des- Vorspiel im Theater in Faust I (1819) an das Vorspiel
sen Ausbreitung mit der kolonialen Expansion zeit- des Śakuntalā angelehnt ist. In beiden Vorspielen
86 I. Begriffe und Konzepte

wird explizit auf die metatheatrale Rahmung des ge- die Nō-Aufführungen in Japan gesehen hatten (vgl.
samten Dramas hingewiesen. Jahre später rühmte Scholz-Cionca/Balme 2008). Gleichwohl war das
Goethe in dem Aufsatz Indische Dichtung (1817) Interesse innerhalb der europäischen Theater- und
»die allernatürlichsten Zustände, hier aber in die Re- Literaturavantgarde, angeregt durch Beschreibun-
gionen der Wunder, die zwischen Himmel und Erde gen und verschiedene Übersetzungen, beachtlich.
wie fruchtbare Wolken schweben, poetisch erhöht, Unter den Interessenten finden wir, neben den oben
und ein ganz gewöhnliches Naturschauspiel, durch erwähnten, prominente Namen wie Ezra Pound, Ed-
Götter und Götterkinder aufgeführt« (Goethe 1960, ward Gordon Craig, Paul Claudel und Jacques
130). Copeau. Da außer Claudel kaum einer von ihnen Ja-
Die begeisterte Rezeption des Dramas stand in pan besucht hatte, verdankten sie ihr Wissen über
engem Zusammenhang mit der Romantik und de- die japanische Theaterform europäischen Japan-
ren Suche nach antiklassischen Dramenmodellen. In Kennern und Übersetzern wie Noël Péri, William
seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Lite- George Aston, Basil Chamberlain, Lafcadio Hearn,
ratur (1809) stellt August Wilhelm Schlegel bei Karl Florenz, Ernest Fenollosa, und Arthur Waley.
Kālidāsas Śakuntalā »im Bau des Ganzen eine so Eine Schlüsselrolle spielten die von Ernest Fenol-
auffallende Ähnlichkeit mit unserem romantischen losa besorgten und von Ezra Pound überarbeiteten
Schauspiel« [gemeint ist hier Shakespeare] fest, dass und herausgegebenen Übersetzungen ins Englische.
er kaum glauben könne, der Übersetzer Jones hätte Der Amerikaner Fenollosa war 1878–1890 Professor
dies nicht bewusst so angelegt (Schlegel 1809, 37). für Politische Ökonomie an der kaiserlichen Univer-
Friedrich Schlegels Sanskrit-Begeisterung kommt in sität in Tokio gewesen und v. a. als Experte für japa-
dem von ihm verfassten Hauptmanifest der roman- nische Kunst bekannt. Seine postum veröffentlich-
tischen Schule, der Geschichte der alten und neueren ten Übersetzungen einiger Nō-Dramen erschienen
Literatur (1815) deutlich zum Ausdruck: »Es ist hier 1916 unter dem Titel ›Noh‹ or Accomplishment: A
nicht die hohe Kunstanordnung der Griechen, nicht Study of the Classical Stage of Japan und stellten nicht
der ernste, strenge Styl, wie in ihren Tragödien. Aber nur poetische Übertragungen, sondern auch Erläu-
ein liebevolles, tiefes Zartgefühl beseelt alles, der terungen zur Verfügung, so dass die klassische japa-
Hauch der Anmut und kunstloser Schönheit ist über nische Dramenform zum ersten Mal einer breiteren
das Ganze verbreitet« (Schlegel 1846, 145). Eindruck Öffentlichkeit bekannt wurde. Der prominenteste
und Wirkung dieses einen Dramas auf die europäi- Rezipient dieser Übersetzungen war der irische
sche Kunst- und Dramendiskussion im 19. Jahrhun- Dichter William Butler Yeats, der vermutlich erste
dert sind kaum zu überschätzen. Den Untersuchun- europäische Dramatiker, der den Prinzipien des Nō
gen von Savarese zufolge hatte »jede zivilisierte euro- nachempfundene Stücke verfasste. Seine Einleitung
päische Nation« eine Version des Dramas, allein in zu einer weiteren Ausgabe der Fenollosa-Übertra-
Deutschland gab es um die zwanzig (Savarese 2010, gungen, Certain Noble Plays of Japan: From the Ma-
196). Am wichtigsten wohl war die Einsicht, dass ein nuscripts of Ernest Fenollosa (1916), stellt, abgesehen
solches aus einer fernen Zeit und Kultur stammen- von ihrer Bedeutung als Rezeptionsdokument, einen
des Werk als Beleg für das Postulat angeführt wer- Schlüsseltext symbolistischer Theatertheorie dar. In
den konnte, Drama sei eine universelle Kunstform unmittelbarer Auseinandersetzung mit diesen Tex-
und nicht nur eine spezielle Errungenschaft der ten entstehen die berühmten Four Plays for Dancers
abendländischen Antike. (1921), die das mythische Zeitalter des mittelalterli-
Ebenso weitreichend wie die Begegnung mit chen Japans auf das sogenannte ›heroische Zeitalter
Śakuntalā war die Rezeption des japanischen Nō- Irlands‹ übertragen. Sowohl das reduzierte masken-
Dramas, die Ende des 19. Jahrhunderts in Europa tragende Figurenpersonal (drei bis fünf Personen)
einsetzt. Die erste Phase dieser Rezeptionsgeschichte als auch die vorgesehene, beinah leere Bühne mit
(ca. 1900–1940) war durch indirekte Vermittlung ge- drei Musikern sind dem Nō-Theater nachempfun-
kennzeichnet: Kaum ein Dramatiker oder Schrift- den. Auch wenn das vierte Stück, Calvary, die christ-
steller hatte vor dem Zweiten Weltkrieg Nō auf der liche Passion und nicht die irische Mythologie zum
Bühne gesehen. Die wichtigsten Dramatiker, die sich Thema hat, sieht Yeats offensichtlich in der Wieder-
intensiv mit dieser Form auseinandergesetzt hatten, auferstehung des Heilands eine Parallele zu den
wie William Butler Yeats und Bertolt Brecht, kann- Geisterfiguren (shite), die eine der zentralen Gattun-
ten nur Übersetzungen oder bestenfalls Personen, gen des Nō charakterisieren.
7. Interkulturelle Dramaturgie 87

Grob gesprochen korrespondierte diese erste Re- hatte. Brechts Bearbeitungen tragen den Titel Der Ja-
zeptionsphase mit der um 1900 einsetzenden antina- sager und der Neinsager (1930) und bilden zwei mit-
turalistischen Theaterreformbewegung. Zu ihren ge- einander verknüpfte Antworten auf die dem Stoff
meinsamen Prinzipien zählt eine dezidierte Opposi- zugrunde liegende Frage nach dem Verhältnis zwi-
tion gegen das kommerzielle Theater mit seinem schen Individuum und Gemeinschaft. Brechts Fas-
Fokus auf virtuose Schauspieler, seichte Unterhal- sung ist sprachlich so eng an das Original angelehnt,
tung und psychologischen Realismus. Ziel des anti- dass sie nur bedingt als eigenständiges Werk be-
naturalistischen Theaters war es schließlich, das trachtet werden kann. Die entscheidende Änderung
Theater zur Kunstform, analog zur Dichtung und bei Brecht ist die Bewertung der Katastrophe, der
Malerei, zu erheben und eine antimimetische Thea- Tod eines Knaben, der von einer Gruppe ins Tal hin-
terästhetik zu entwickeln. Mit der Bewegung ging abgestürzt wird. Stirbt der Knabe im Original auf-
auch ein erneutes Interesse an spirituellen Aspekten grund eines religiösen Brauchs – wegen seiner Er-
einher, die in der Kunst einen Religionsersatz sah. In krankung darf er die Pilgerreise zum Heiligtum
diesem Zusammenhang schien das Nō-Theater als nicht fortsetzen – so steht die Brechtsche Fassung im
Beleg für die Existenz einer ungebrochenen Tradi- Zeichen einer säkularisierten Entscheidungssitua-
tion, die offenbar noch unmittelbaren Kontakt zu ih- tion, bei der der Einzelne zugunsten des (kommu-
ren kultischen Ursprüngen unterhielt. Das ausge- nistischen) Kollektiven geopfert wird. Was Brecht an
prägt hieratische Wesen des Nō-Theaters, das dem Stück dramenästhetisch interessierte, war die
scheinbar nur wenigen Eingeweihten zugänglich distanzierende Erzähl- und Darstellungsweise der
war, bot weiteres Belegmaterial für eine alternative, Nō-Ästhetik, die starke Affinitäten zum eigenen
»aristokratische« (Yeats) Theaterform, die dem zeit- Konzept eines epischen Theaters aufwies. So begin-
genössischen Theater realistisch-kommerzieller Prä- nen sowohl Taniko als auch der Jasager mit einer
gung gänzlich enthoben war. Selbsteinführung der Figuren, die gleichsam über
Einem ähnlich symbolistisch geprägten Interesse sich selbst berichten. Diese Akzentverschiebung von
an den mythisch-spirituellen Aspekten der Nō- Mimesis zur Diegesis hat Martin Puchner als Bei-
Dramatik folgt der französische Dichter und Dra- spiel für Brechts Suche nach einem diegetischen,
matiker Paul Claudel, der zwischen 1921 und 1927 also erzählenden Theater bezeichnet (vgl. Puchner
französischer Botschafter in Japan war. Dort sah er 2006). Somit fungiert die interkulturelle Rezeption
ungefähr ein Dutzend Aufführungen und beschäf- als Lösungsanreiz für kulturinterne Innovationsbe-
tigte sich mit englischen und französischen Überset- strebungen.
zungen. Diese Erfahrungen übten einen unmittelba-
ren Einfluss auf seine eigene, stark religiös geprägte
Dramatik aus, insbesondere im Bereich der Traum-
darstellung, der geisterhaften Figur des shite und der 7.2 Europäische Dramatik in außer-
Exploration einer retrospektiven Dimension, eine europäischen Kulturräumen im
Vorform der Rückblende. Alle diese Elemente fin- 19. und 20. Jahrhundert
den sich in seinen späteren Werken wie dem mehr-
stündigen Drama Der seidene Schuh (1925), La
Femme et sa ombre (1922/1926) sowie dem Libretto Die Rezeption europäischer Dramatik außerhalb der
zur Oper Christophe Colombe (1927). Grenzen der euroamerikanischen Länder und Kul-
Angesichts dieser ausgesprochen elitären, symbo- turen ist ein äußerst komplexes Phänomen, das sich
listisch angehauchten Theaterauffassung, die für etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit unter-
eine bestimmte Richtung der Moderne charakteris- schiedlicher Intensität abspielt. Neben der oft be-
tisch ist, scheint das Interesse des politischen Dra- schriebenen Aufnahme des europäischen Theaters
matikers Bertolt Brecht in den 1920er und 1930er in Japan und China (vgl. Powell 2002; Mackerras
Jahren an der Nō-Dramatik ungewöhnlich. Brecht 1975) haben sich etwas früher ähnliche Prozesse in
lernte 1929 Nō durch die Übersetzungen von Arthur Ländern des Nahen Ostens zugetragen. Auf Letztere
Waley (The No Plays of Japan, 1921) in der Fassung soll, weil sie viel seltener behandelt werden, zunächst
von Elisabeth Hauptmann kennen, die wiederum eingegangen werden. In fast allen Ländern und Kul-
Kurt Weill das Nō-Stück Taniko oder Der Wurf ins turen wird die europäische Dramenform selbst mit
Tal als Vorlage für eine Schuloper vorgeschlagen ihren besonderen, auf Dialog fixierten Konventio-
88 I. Begriffe und Konzepte

nen als Novum aufgefasst und im Geiste eines künst- pel, Smyrna, Beirut oder Alexandria, wo es ständig
lerischen Technologietransfers zunächst von einer Berührung mit europäischem Theater gab, und
europäisch geprägten Elite affirmativ rezipiert. Leit- Städten und Regionen, die sich weiter weg von den
kultur ist in dieser Epoche die französische und ent- Kontaktzonen befanden. Erst im 19. Jahrhundert
sprechend intensiv wird die französische Dramatik, kommt es zu einer intensiven Rezeption europäi-
in allererster Linie Molière, als Vorbild verwendet. scher Dramatik und Theaterformen in den Kulturen
Die Rezeptionsprozesse selbst gestalten sich recht des Mittleren Ostens. Mittelmeerstädte wie Alexan-
unterschiedlich und decken eine große Bandbreite dria und Beirut mit ihrer kosmopolitischen Bevölke-
an Gestaltungsmöglichkeiten ab, die von epigonalen rung bilden Einfallstore für diese Rezeptionspro-
Nachahmungen bis hin zu synkretischen, die auto- zesse.
chthonen Darstellungsformen (meistens Musik und
Tanz) einbeziehenden Werken reichen. Die Geburtsstunde einer arabischen Dramatik euro-
Obgleich der Islam ein strenges Bilderverbot päischer Prägung wird gewöhnlich auf das Jahr 1848
kennt, das über die Jahrhunderte auch auf figürliche in Beirut datiert. In diesem Jahr wurde eine Bearbei-
Darstellungen jeglicher Art übertragen wurde, las- tung des L’Avare (1668) von Molière durch Marun
sen sich in islamischen Kulturen dennoch vielfältige al-Naqqash unter dem Titel Al Bakhil aufgeführt. Es
theatrale Formen, die von Manifestationen des Pup- folgten weitere Stücke, die auf arabische und europä-
pen- bzw. Schattenspiels über groß angelegte ›Passi- ische Stoffe zurückgriffen, obgleich die Aufführun-
onsspiele‹ wie das iranische Ta’zije bis hin zu perfor- gen zumeist durch Laien besorgt wurden. In Ägyp-
mativen Erzähltraditionen reichen, feststellen. Das ten kommt die gleiche Funktion dem in Kairo gebo-
Theater in seiner europäischen Ausprägung etabliert renen Juden italienischer Abstammung James Sanua
sich verhältnismäßig spät in islamischen Ländern. zu. Sanua (auch als Ya’qub Sannu oder Abu Naddara
Erst im 19. Jahrhundert erfolgt ein Import westlicher bekannt) hatte in Italien mit Unterstützung des Khe-
Theaterformen, die sich im Laufe weniger Jahr- diven studiert und war mit europäischen Theater-
zehnte als feste Institution etablieren. Dennoch hat formen bestens vertraut, als er 1870 in Kairo anfing,
das Genre Drama bzw. das Medium Theater v. a. in Komödien bzw. Singspiele mit Musik und Tanz in
der arabischen Gesellschaft, wie Friederike Panne- arabischer Sprache zu schreiben und aufzuführen.
wick es formuliert, »eine zweischneidige und um- Da einige Werke aktuelle Themen mit einem zeitkri-
strittene Sonderstellung inne« (Pannewick 2000, 2). tischen Akzent behandelten (Polygamie, Haschisch-
Während in Ägypten dieser Prozess im Zuge hege- sucht), überlebte sein Theater nur zwei Jahre und Sa-
monialer Bestrebungen europäischer Staaten erfolgt, nua widmete sich fortan dem Journalismus im fran-
entwickelt sich im restlichen Osmanischen Reich zösischen Exil. Gleichwohl genoss Sanua zunächst
Theater aus einem Wechselspiel zwischen europäi- die Unterstützung des auf Modernisierung und Eu-
schen Formen und verschiedenen einheimischen ropäisierung erpichten Khediven Ismail Pasha, der
Vermittlungsinstanzen. wenige Jahre zuvor zwei Theater, eine Comédie und
In den muslimisch geprägten Ländern des osma- ein Opernhaus, in Kairo erbauen ließ. Die Überset-
nischen Reichs, deren Bevölkerung jedoch recht he- zung europäischer Dramen ins Arabische bzw. die
terogen war und Juden, koptische Christen sowie ar- Verfassung eigener Werke nach europäischem, dra-
menische orthodoxe Christen umfasste, kam es nur maturgischem Vorbild wurde von einer auf Kultur-
selten zur Berührung mit dem europäischen Thea- transfer beruhenden Modernisierungsideologie der
termodell. Obwohl es durchaus volkstümliche Dar- arabischen Elite getragen. Ausgehend von Syrien
stellungsformen wie etwa das türkische Schatten- (oder genauer von nach Ägypten ausgewanderten
theater Karagöz oder die berühmten Sufi-Tänze der Syrern) entwickelte sich zur gleichen Zeit ein kom-
Derwische gab, stellte das islamische Bilderverbot merziell orientiertes musikalisches Theater, das Gat-
ein Problem dar, das der Rezeption mimetischer tungen wie Operette und Singspiel in arabischer
Aufführungsformen immer wieder entgegenwirkte. Sprache und mit arabischer und europäischer Musik
Dies galt erst recht für das Auftreten von Frauen, was aufführte. Dieses auf den einheimischen Geschmack
ja auch in Europa erst im 17. Jahrhundert mehr oder abgestimmte »Adaptationstheater« (Pannewick) eta-
minder akzeptiert wurde. Unterscheiden muss man blierte sich ausgehend vom kulturellen Zentrum
auch zwischen den unter osmanischer Herrschaft Ägypten im Laufe des 20. Jahrhunderts im ganzen
stehenden Mittelmeerstädten wie etwa Konstantino- Mittleren Osten. Dass es sich bei der Dramatik um
7. Interkulturelle Dramaturgie 89

eine völlig neue ästhetische Form handelte, sieht nete Visualisierung (Zentralperspektive) aus. Da das
man u. a. daran, dass Neologismen in die arabische westliche Theater und v. a. das Drama für Moderni-
Sprache eingeführt wurden, um ädaquate Bezeich- sierung standen, wundert es nicht, dass sie nach der
nungen zu finden. Während das Wort für Theater, Republikgründung durch Atatürk 1922 staatlicher-
masrah, arabischen Ursprungs ist, wurden für seits stark gefördert wurden.
Drama und die verwandten Gattungen die europäi-
schen Bezeichnungen einfach übernommen: drama, In Japan findet die Begegnung mit der europäischen
tragedia, comedia. Dramatik im Rahmen des groß angelegten Moder-
nisierungsprogramms der Meiji-Restauration statt.
Zeitgleich mit den Bestrebungen in Ägypten gab es Nach 1868 schickt Japan tausende Studenten in den
ähnliche Versuche in der Türkei, eine neue Dramatik Westen, um die Geheimnisse westlicher technologi-
einzuführen. Die türkische Theatergeschichtsschrei- scher Überlegenheit kennenzulernen. Die Rückkeh-
bung (vgl. And 1963, 1987) betrachtet das Jahr 1870 rer brachten nicht nur Blaupausen für Industriean-
als das Geburtsjahr des autochthonen Theaters west- lagen und Waffentechnologie, Gesetzesvorlagen als
licher Ausrichtung. In diesem Jahr nämlich erhielt Grundlage für moderne Institutionen, sondern auch
der Armenier Agop Vartovyan (Güllü Agop) vom wundersame Bühnentexte mit sich, in denen zeitge-
Großwesir für seine in den 1860er Jahren gegrün- nössische Themen in der Alltagssprache vor einer
dete Ottomanische Theatercompagnie im Gedik- täuschend echten Kulisse aufgeführt werden sollten.
paşa-Theater in Istanbul die ausschließliche Erlaub- Die erste als shinpa (neue Schule) bekannte Reaktion
nis, Stücke in türkischer Sprache aufzuführen. Mit auf diese westliche Kulturtechnik verbindet europäi-
den Worten des türkischen Theaterhistorikers Metin sche und japanische Darstellungskonventionen,
And: »the company prepared the way for a genuinely ohne jedoch neue Werke nach europäischem Vor-
national Turkish theatre by introducing Turkish ac- bild zu verfassen. So kommt es zu einer Modernisie-
tors in original Turkish plays« (And 1987, 164). Al- rung des Nō, insofern als nun auch zeitgenössische
lerdings erweist sich die von And gefeierte ›natio- Themen und Stoffe auf der Nō-Bühne aufgeführt
nale‹ Perspektive beim näheren Hinsehen als das Er- werden. Die eigentliche Auseinandersetzung mit der
gebnis interethnischer Vermittlung. Denn der europäischen Dramaturgie geschieht kurz nach 1900
Armenier Agop arbeitete mit armenisch- und tür- unter dem Begriff shingeki (neues Theater) und äu-
kischsprachigen Schauspielern, Letztere in unterge- ßert sich zunächst in Übersetzungen europäischer
ordneten Funktionen. Auch in dieser Phase dienen Werke (insbesondere Shakespeare, aber auch Ibsen).
die Komödien Molières als wichtigste Vorlage, sei es In der Zwischenkriegszeit entsteht dann eine junge
in Form von Übersetzungen oder als Adaptationen, Generation progressiver Dramatiker, die Stücke
um eine eigene türkischsprachige Dramatik zu ent- nach europäischem Vorbild im Stile des Realismus
wickeln. mit sozialkritischem Akzent verfassen. Nach 1945
Die wechselhafte Geschichte des Theaters westli- etabliert sich shingeki so flächendeckend, dass es
chen Zuschnitts im Osmanischen Reich spiegelt in zum neuen Mainstream des japanischen Theaters
vielerlei Hinsicht die problematische, zwischen Be- avanciert. Gleichzeitig gibt es gewagte Experimente
wunderung und Ablehnung oszillierende Einstel- mit internationaler Resonanz, wie etwa die Fünf
lung des Sultanats und der Kulturelite dem Abend- Modernen Nō-Stücke (1956) des Yukio Mishima.
land gegenüber wider. Es steht außer Frage, dass für Nach 1960 entstehen erste post-shingeki Bestrebun-
die Elite im Osmanischen Reich das Theater gleich- gen als Reaktion auf interne Widersprüche und in
sam in einem metonymischen Verhältnis zur Ver- Tuchfühlung mit antirealistischen Entwicklungen in
westlichung stand und damit zum Inbegriff der Mo- Europa und den USA (Theater des Absurden, vgl.
dernisierung wurde. Im Vergleich zur autochthonen Kap. III.13.6, episches Theater, vgl. Kap. III.15). Es
Darstellungstradition, die sich im Wesentlichen auf gibt Experimente außerhalb der Guckkastenbühne
das beliebte Karagöz-Theater und die ebenfalls po- und mit flexibleren und offenen Bühnenformen, so
puläre Orta Oyunu, eine improvisierte Form des Ka- dass Japan heute eine vielfältige Theater- und Dra-
ragöz mit lebenden Darstellern, beschränkt, zeich- menlandschaft aufweist, die von den klassischen
nete sich das westliche Theater durch seine Ver- Formen bis hin zur Postdramatik reicht.
schriftlichung (Dramentexte, Libretti, Partitur) und
seine nach strengen technologischen Regeln berech-
90 I. Begriffe und Konzepte

7.3 Postkoloniale Dramatik Westafrika und die Karibik. Eine in der Kolonialzeit
ausgebildete Generation von Dramatikern und Thea-
Der Terminus ›postkoloniale Dramatik‹ bezeichnet terregisseuren stellte v. a. den britischen Literatur-
vielfältige Tendenzen im internationalen Theater und Theaterkanon infrage, indem sie in eigenen Stü-
nach 1945. Streng genommen handelt es sich um cken ihre kulturelle Herkunft nicht nur themati-
Dramen, die im Kontext der Entkolonialisierung der sierte, sondern die damit zusammenhängenden
ehemaligen europäischen Territorien, v. a. der briti- Darstellungsformen (Tänze, Lieder, Rituale) einbe-
schen und französischen, entstanden. Wenn man zog. Zu den führenden Exponenten dieser (ersten)
bedenkt, dass 1945 ein Großteil der Erdfläche noch Generation gehören der Nigerianer Wole Soyinka,
unter direkter und indirekter Kolonialherrschaft die karibischen Lyriker und Dramatiker Derek Wal-
stand, so handelt es sich beim postkolonialen Thea- cott und Aimé Césaire sowie der indische Dramati-
ter potenziell um vielfältige und weit verbreitete ker Girish Karnad. Ihre wichtigsten Stücke und In-
Theaterphänomene. Umstritten ist nach wie vor die szenierungen entstanden überwiegend erst nach der
zeitliche Dehnung des postkolonialen Zeitalters. Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Länder und wurden
Anstelle genauer Epochengrenzen – etwa die Entlas- vom Optimismus dieser Periode maßgeblich getra-
sung in die Unabhängigkeit – geht man von einem gen. Das große Thema der politischen Identitätsfin-
Zeitkontinuum aus, das in der kolonialen Vergan- dung in äußerst heterogenen, von den ehemaligen
genheit einsetzt und bis heute fortdauert. Ebenfalls Kolonialherren oft willkürlich geschaffenen politi-
schwer definierbar ist die geokulturelle Verortung. schen Gebilden erhielt im Theater (aber auch in der
Mit der Entstehung großer Diaspora-Kulturen in Literatur und bildenden Kunst) ein kulturelles Pen-
den westlichen Metropolen findet ein Rückexport dant. Erst in den 1970er und verstärkt in den 1980er
postkolonialer Theaterformen statt; sie entstehen Jahren entwickelten sich analoge Tendenzen in den
überall dort, wo die für Postkolonialismus konstitu- sogenannten Siedlerkolonien wie Australien, Neu-
tiven Prozesse kultureller Vermischung und Rei- seeland, Kanada und Südafrika. International be-
bung stattfinden. kannt wurde das politisch engagierte Theater aus
Angesichts der schwierigen Eingrenzung der den südafrikanischen Townships, das die letzten
räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Phäno- Jahre des Apartheid-Regimes mit einer Mischung
mens ist die Geschichte des postkolonialen Theaters aus Musik, politischem Kabarett und autochthonen
umstritten. Geht man von einem bis in die Kolonial- Darstellungsformen dokumentierte.
zeit zurückreichenden Zeitkontinuum aus, so muss Angesichts der geokulturellen Vielfalt des Phäno-
man alle Theaterformen als postkolonial bezeich- mens ist es schwierig, klare Tendenzen zu identifi-
nen, die nachweislich unter dem Einfluss der Kolo- zieren. Folgt man Balme (Balme 1995) sowie Gilbert
nialherrschaft entstanden sind. Dazu gehörte bei- und Tompkins (Gilbert/Tompkins 1996), so wären
spielsweise das im 19. Jahrhundert in Indien ent- jedoch folgende thematische und formale Schwer-
standene Parsi-Theater. Die in Bombay ansässigen punkte des postkolonialen Theaters bis Anfang der
Parsen, ein Kaufmannsstand persischen Ursprungs, 1990er Jahre auszumachen:
erkannten das kommerzielle Potential der von den (1) Eine Auseinandersetzung mit dem europäi-
Engländern eingeführten Theaterformen. Die in der schen Theaterkanon im Sinne einer Relektüre. Be-
Gujarati-Sprache verfassten und mit aufwendiger vorzugte Texte sind Shakespeares The Tempest
Ausstattung inszenierten Stücke adaptierten be- (1611) und Othello (1604), die einen offensichtli-
kannte mythologische Stoffe sowie Begebenheiten chen ›kolonialen‹ Horizont aufweisen, aber auch an-
aus der indischen Geschichte. Auch die in den tike Dramen wie Medea (ca. 430 v. Chr.) oder Die
1940er Jahren in Nigeria entstandene Yoruba Folk Bakchen (ca. 405 v. Chr.).
Opera vermischte britisches Unterhaltungstheater (2) Auf formaler Ebene finden sich häufig Versu-
mit indigenen Musik- und Tanzformen, ohne jedoch che, indigene Rituale, Zeremonien oder Feste wie
einen explizit künstlerischen Anspruch zu verfolgen. Karneval in Theateraufführungen zu integrieren.
Nimmt man die Nachkriegszeit des letzten Jahrhun- Diese Strategie dient einerseits dem Nachweis eige-
derts als Ausgangspunkt, so entstehen postkoloniale ner Theatertraditionen, führt andererseits zu einer
Theaterstücke mit einem ästhetisch-programmati- Intensivierung nonverbaler Ausdrucksmittel.
schen Anspruch erst Ende der 1950er und verstärkt (3) Raumexperimente dienen dazu, sowohl indi-
in den 1960er Jahren. Schwerpunkte sind Indien, gene raumsemantische Vorstellungen als ›theaterge-
7. Interkulturelle Dramaturgie 91

recht‹ zu etablieren (Gegendiskurs zur Wohnzim- In der jüngeren Diskussion wird auch in diesem
mer-Dramatik des europäischen Realismus) als auch Zusammenhang seltener von Inter- als von Trans-
alternative Historiografien zu implementieren, denn kulturalität gesprochen, weil dieser Begriff am ehes-
in vielen indigenen Kulturen sind Raum- und Ge- ten den einschlägigen Phänomenen gerecht wird. Es
schichtsvorstellungen untrennbar verbunden. geht hier v. a. um eine dynamischere, der Prozessua-
(4) Ein zentrales Thema und Ausdrucksmittel des lität der Migrationen entsprechende Sichtweise. Die
postkolonialen Theaters ist natürlich die Sprache. Fokussierung auf Migration als ästhetisches Phäno-
Postkoloniale Stücke setzen auf vielfältige Weise men markiert eine verhältnismäßig neue Entwick-
Zwei- und Mehrsprachigkeit einschließlich Kreoli- lung in den Geisteswissenschaften, die dieses Feld
sierungen ein. Diese Strategie dient nicht nur dazu, bisher den empirischen Sozialwissenschaften über-
einen soziokulturellen ›Zustand‹ mimetisch abzubil- ließen.
den, sondern funktioniert in der Aufführungssitua- Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang das
tion je nach Zusammensetzung des Publikums als ›frühe‹ Drama der Autorin Emine Sevgi Özdamar,
Ein- und Ausgrenzungsmechanismus. Auch die Tra- Karagöz in Alamania (1982, UA 1986), das – abgese-
ditionen autochthoner Mündlichkeit (Geschichten- hen von der Uraufführung am Frankfurter Schau-
erzählen) finden häufig Verwendung. spielhaus – bisher keine nennenswerte Bühnenre-
(5) Der Körper wird auf vielfältige Weise in post- zeption erfahren hat, aber umso interessanter ist, da
kolonialen Stücken und Aufführungen thematisiert es hinsichtlich der grotesken Elemente, der intertex-
und inszeniert. Mal geht es um Gegenentwürfe zu tuellen Anspielungen und v. a. in seiner formalen
kolonialen Konstruktionen des indigenen Körpers, Anlehnung an das türkische Schattentheater ein Pa-
mal werden kulturspezifische Körperinszenierun- radebeispiel für synkretisches Theater postkolonia-
gen bewusst traditionalistisch eingesetzt: Der be- ler Provenienz darstellt.
malte, tätowierte oder maskierte Körper steht oder Eine dominante Rolle spielt der deutsch-türki-
tanzt neben komplexen metaphorischen und inter- sche Autor Feridun Zaimoglu. Mit seinem Text Ka-
textuellen Gestaltungen. Häufig finden sich Verbin- naksprak: 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft
dungen mit geschlechtsspezifischen Fragen, da es im (1995) schuf er praktisch im Alleingang eine neue
postkolonialen Theater zunehmend nicht nur um Sprache für das, was zunächst ›Gastarbeiter-‹ und
die binäre Differenzkategorie westlich-indigen geht, später ›Migrantenliteratur‹ genannt wurde. Mit sei-
sondern auch die Kategorie des Indigenen eine Bin- nen hybriden, zwischen Interview und freier Nach-
nendifferenzierung und Befragung im Sinne der dichtung oszillierenden, vor keiner Obszönität zu-
Gendertheorie erfährt. rückschreckenden Texten etablierte er, auch für das
Weil die Kolonialherrschaft Deutschlands frei Theater, eine neue Textsorte, die sich nur durch die
nach Hobbes ekelhaft, tierisch und verhältnismäßig postkoloniale Theorie erschließen ließe. Zumindest
kurz war und bereits 1918 zu Ende ging, lassen sich ist er der nach wie vor am meisten untersuchte und
analoge Entwicklungen im Bereich der deutschspra- gespielte deutsch-türkische Autor. Dass er auch re-
chigen Dramatik kaum beobachten. Allerdings las- gelmäßig für das Theater (im Verbund mit Günther
sen sich postkoloniale Theorien und Perspektiven Senkel) schreibt – zu seinen Bühnenwerken gehören
auf das noch recht junge Phänomen der Migranten- Klassiker-Bearbeitungen wie Othello und Nathan
dramatik bzw. -theater anwenden. In den letzten Jah- Messias sowie seine Interview-Texte wie Kanak-
ren ist diese Entwicklung immer stärker in den Blick sprak, Schwarze Jungfrauen oder Schattenstimmen –
der Forschung gerückt, nicht zuletzt weil die dokumentiert ein neues Stadium in der deutschspra-
deutsch-türkische Bevölkerung rein quantitativ ein chigen interkulturellen Dramatik. Auffallendstes
wichtiger kultureller Faktor geworden ist. Auch Stilmerkmal seiner Bühnentexte ist die ›Relexifizie-
wenn sich die Migrationserfahrung der Türken in rung‹ türkischer Sprachelemente ins Deutsche, was
Deutschland nicht als postkoloniales Phänomen im ein für postkoloniale Dramatik typisches Verfahren
engeren Sinne bezeichnen lässt, so erfüllen die hier beschreibt, womit grammatikalische Strukturen,
untersuchten Dynamiken eine Reihe von Kriterien, Sprichwörter oder andere Ausdrücke in eine meis-
die man in postkolonialer Literatur klassischer Art tens europäische Zielsprache übersetzt werden. Dar-
identifiziert hat: hybride Identitätsbildung, Mimi- unter bildet sich eine Art Palimpsest, das unter der
kry, writing back, Destabilisierung von Grenzen, um Oberfläche der Zielsprache immer bemerkbar ist
nur einige zu nennen. und gewisse Irritationen auslöst.
92 I. Begriffe und Konzepte

7.4 Drama als Streitbegriff Der andere wesentliche Einfluss geht zurück auf
die antinaturalistische Revolution im modernen
Die Rezeption der europäischen Dramenform in au- Theater, wie sie von Brecht, Artaud, Grotowski und
ßereuropäischen Kontexten wurde regelmäßig von Peter Brook propagiert wurde. Besonders deren In-
Debatten begleitet, die häufig im Geist einer defizitä- teresse an nicht-europäischen Aufführungsformen
ren kulturellen Selbstanalyse getragen wurden. Mehr bildet ein Bindeglied zu den postkolonialen Drama-
als bei Epik und Lyrik, wo es fast immer struktur- tikern, die nach Formen des theatralen Ausdrucks
äquivalente Formen in den Zielkulturen gab, er- suchen, in denen nicht mehr die logozentrische
schien die Gattung des Dramas, zumal in ihrer redu- westliche Tradition im Mittelpunkt steht. Dabei sind
zierten Idealform mit ausschließlicher Fokussierung die dramen- und theatertheoretischen Überlegun-
auf die »zwischenmenschliche Aussprache im Dia- gen von breiteren kulturtheoretischen Gedanken be-
log« (Szondi) aus kulturkomparatistischer Perspek- gleitet, die sich um Fragen von Tradition, Imitation,
tive eine eigentümliche europäische Erfindung zu Erneuerung und Rückgriff drehen. Die Frage »Wo
sein. Die Definition des ›Dramas‹ und dessen Wert- ist unser Drama?« hängt damit mit der Suche nach
schätzung als abendländische Kulturleistung bilden Wurzeln in einem kolonialen bzw. postkolonialen
ein Thema, das die Dramentheorie seit Ende des 18. Kontext zusammen. Die Antwort darauf steht in ei-
Jahrhunderts begleitet. Schon August Wilhelm nem metonymischen Verhältnis zur gesamtkulturel-
Schlegel fragte Anfang des 19. Jahrhunderts in sei- len Selbstdiagnose.
nen Vorlesungen über dramatische Kunst und Litera- Im arabischen Raum dreht sich die Debatte zu-
tur: »was ist dramatisch? Die Antwort dürfte vielen nächst um die Frage, warum die arabische Kultur die
leicht dünken: wo verschiedene Personen redend Dramenform angesichts der zentralen Vermittler-
eingeführt werden, der Dichter aber in eigener Per- rolle, die die arabische Sprache im Mittelalter bei der
son gar nicht spricht« (Schlegel 1809, 29–30). Schle- Überliefung der aristotelischen Poetik spielte, die
gel beantwortet seine eigene Frage mit einem kultur- zeitweise nur in arabischer Übersetzung bekannt
geschichtlichen Überblick, der vom antiken Grie- war, nicht adoptierte. Die meisten Antworten darauf
chenland über Indien bis nach China reicht. Vor tragen stark kulturalistische Züge, d. h. sie gehen von
allem dem »ganze[n] vordere[n] asiatische[n] Mor- vermeintlich wesenhaften Differenzmerkmalen aus,
genland« (Schlegel 1809, 36) attestiert er ein Fehlen die die arabische Kultur immer in Vergleich zum an-
dramenanaloger Darstellungsformen. tiken Griechenland setzen. Dabei werden noch bis
Was man unter Drama im kulturvergleichenden ins 20. Jahrhundert hinein teilweise orientalistische
Kontext versteht, ist keineswegs eine Selbstverständ- Denkschemata unkritisch übernommen. So wird die
lichkeit, sondern die Frage stellt ein ideologisch Konfliktstruktur des europäischen Dramas als ›un-
und kulturell umstrittenes Diskursfeld dar. Es han- arabisch‹ bezeichnet. Auch wird der Schicksalbegriff
delt sich dabei um eine Kunstform, die beinahe aus- als mit dem Islam nicht kompatibel aufgefasst.
nahmslos aus eurozentrischer Perspektive überlie- Gleichwohl argumentierte der führende ägyptische
fert und daher im kolonialen und postkolonialen Dramatiker Tawfiq Al-Hakim in der Einleitung zu
Kontext Gegenstand intensiver ideologischer Refle- seiner Version des König Ödipus (1949), dass es zwi-
xion wurde. Dabei fungierte die koloniale Theater- schen der arabischen und der griechischen Tradition
und Dramentradition nicht nur als Feindbild, sie keine fundamentale, sondern nur eine vorüberge-
konnte andererseits auch eine Reihe von Einflüssen hende Trennung gebe, die nun vor der Überwin-
und Vorbildern anbieten. So war etwa die Wiederbe- dung stehe (vgl. Carlson 2005). Diese Debatten, die
lebung der irischen folk tradition in der Zeit um in Pannewick (vgl. Pannewick 2000) ausführlich er-
1900, die sich um Autoren wie William Butler Yeats, örtert werden, spiegeln letztlich die spannungsvolle
John Millington Synge und dem Abbey Theatre voll- und keineswegs abgeschlossene Geschichte der In-
zog, besonders in den 1950er Jahren für Künstler in teraktion zwischen europäischen und muslimisch
der Dritten Welt, die ihrerseits im Prozess der Selbst- geprägten Kulturen wieder.
definition begriffen waren, eine wichtige Quelle der Angesichts des Bildungsmonopols der Kolonial-
Inspiration. Sowohl Soyinka (Nigeria) als auch Wal- mächte ist es wenig verwunderlich, dass Argumente
cott (anglophone Karibik) geben an, sie hätten starke und Bezugsrahmen europäisch geprägt sind. Erst in
Einflüsse von dieser Bewegung erhalten, speziell in den 1960er Jahren setzt unter afrikanischen Intellek-
der Frühphase ihrer Arbeit. tuellen und Dramatikern eine kritische Hinterfra-
7. Interkulturelle Dramaturgie 93

gung dieser Denktradition an. In dieser Zeit beginnt Apollonischen und Dionysischen zugrunde, das er
in Nigeria, also in den ersten Jahren der Unabhän- mit äquivalenten Gottheiten aus der Yoruba-Kosmo-
gigkeit, eine sich intensivierende Auseinanderset- logie umfunktioniert. Dabei versteht Soyinka die
zung seitens nigerianischer Intellektueller und Dra- den Yoruba-Schöpfungsmythen inhärente Dramatik
matiker mit der eigenen Theatertradition. Betrachtet – thematisch dominieren Kämpfe und Niederlagen
man diesen vehementen Neuansatz genauer, dann der Götter – nicht nur als Drama im metaphorischen
deutet sich an, dass das Bewusstsein für eine nicht Sinne, sondern er versteht sie zugleich ganz wörtlich
mehr dem realistischen Literaturtheater verhaftete als reale Darbietungen, z. B. in Form von Tanzfesten
Theaterästhetik offenbar erst durch eine intensive der Verehrer einzelner Gottheiten. Es ist Soyinkas
Beschäftigung mit der Theatralität der eigenen Kul- Intention, den von ihm substanziell umdefinierten
tur entsteht. Die Arbeiten versuchen zwischen euro- europäischen Terminus ›Tragödie‹ auf die afrikani-
päisch tradierten Diskursen einerseits und einem sche Tradition rituell bedingter Theatralität anzu-
immer stärker werdenden afrozentrierten Blick, der wenden.
die theatralen Ausdrucksformen der jeweils eigenen Solche Argumentationsfiguren, die ihre europäi-
Kultur mit anderen Maßstäben messen will, ande- sche Provenienz nicht verleugnen können, haben in-
rerseits zu vermitteln. An zwei Aspekten lässt sich zwischen Gegenreaktionen provoziert. So dekon-
dieser Prozess der Vermittlung festmachen: Ausge- struiert der nigerianische Theaterwissenschaftler
hend von Aristoteles wird das Verhältnis zwischen Biodun Jeyifo (vgl. Jeyifo 1990) mit diskursanalyti-
Ritual und Theater entwicklungsgeschichtlich be- schen Mitteln solche Ansätze. Er identifiziert drei
stimmt und die Definition des Dramas handlungs- separate wissenschaftliche Diskurse: eine von euro-
und konfliktorientiert festgelegt. Diese Diskussion päischen Wissenschaftlern bestimmte Frühphase;
weist zudem zwei gegensätzliche Facetten auf: eine einen afrozentristischen Gegendiskurs, dem er unter
konfirmatorische und eine opponierende. In einem anderem Soyinka zurechnet; und einen neueren in-
konfirmatorischen Diskurs werden die traditionel- terkulturell ausgerichteten Diskurs mit einem
len afrikanischen Darstellungs- und Theaterformen Schwerpunkt auf ideologischen und sozialen Funk-
uminterpretiert, um sie in ein Erklärungsparadigma tionen des Theaters.
mit strukturellen Parallelen zur europäischen Dra- Da sich solche Debatten, für die die hier genann-
mentradition einzuordnen. Dabei rekurrieren die af- ten Namen und Kulturen nur pars pro toto stehen
rikanischen Theoretiker auf die sich an Aristoteles können, in vielen Ländern finden, kann man ab-
entzündende Debatte über den Ursprung des Thea- schließend feststellen, dass die europäische Dramen-
ters im Ritual bzw. auf den Ursprung des mittelalter- form in allen ihren Ausprägungen und getragen
lichen Theaters im christlichen Ritus. durch das ebenfalls importierte Medium des Thea-
Der wohl bekannteste Beitrag zu dieser Debatte ters eine ungeheure konfliktgeladene, aber gleich-
stammt vom nigerianischen Literaturnobelpreisträ- wohl produktive kulturelle Wirkung entfaltete, inso-
ger und Dramatiker Soyinka. Auch Soyinka kommt fern als die Beantwortung der Frage »Was ist
in seinem Aufsatz The Fourth Stage (1967/1976) Drama?« zu weitreichenden künstlerischen und wis-
nicht ohne zahlreiche Verweise und Anspielungen senschaftlichen Reflexionen führte.
auf die griechische Mythologie aus. In dieser äußerst
einflussreichen Arbeit unternimmt Soyinka den
Versuch, die traditionellen Darstellungsformen der
Yoruba in eine europäische Diskurstradition zu stel- Literatur
len und dabei zugleich eine eigenständige mythopo- And, Metin: A History of Theatre and Popular Entertain-
etische Ästhetik zu schaffen. Was seine Intention an- ment in Turkey. Ankara 1963.
geht, so ist Soyinkas Essay als künstlerisches Mani- And, Metin: »Culture, Performance and Communication
in Turkey«. In: Symbolism and World View in Asia and
fest zu lesen, in vielerlei Hinsicht Nietzsches Schrift Africa. Performance in Culture 4 (1987), xxi-221.
Die Geburt der Tragödie (1872) vergleichbar, der So- Balme, Christopher: Theater im postkolonialen Zeitalter:
yinka viel verdankt. Wie Die Geburt der Tragödie ar- Studien zum Theatersynkretismus im englischsprachigen
tikuliert Soyinka ein künstlerisches Programm, das Raum. Tübingen 1995.
Carlson, Marvin (Hg.): The Arab Oedipus. Four Plays. New
auf einer sehr persönlichen Mythosinterpretation York 2005.
beruht. Seiner Argumentationslinie liegt das durch Fischer-Lichte, Erika u. a. (Hg.): Global Ibsen. Performing
Nietzsche berühmt gewordene dyadische Modell des Multiple Modernities. New York/Abingdon 2010.
94 I. Begriffe und Konzepte

Gilbert, Helen/Tompkins, Joanne: Post-colonial Drama: 8. Intermediale Dramaturgie


Theory, Practice, Politics. London/New York 1996.
Jeyifo, Biodun: »The reinvention of theatrical tradition: cri-
tical discourses on interculturalism in the African thea-
tre«. In: Fischer-Lichte, Erika u. a. (Hg): The Dramatic 8.1 Begriffsbestimmung
Touch of Difference: Theatre Own and Foreign. Tübingen
1991, S.239–252. Der zusammengesetzte Begriff ›intermediale Dra-
Goethe, Johann Wolfgang von: Kunsttheoretische Schriften maturgie‹ ist bislang in der Theaterwissenschaft
und Übersetzungen. In: Ders: Werke. Berliner Ausgabe.
Bd. 18. Berlin 1960. nicht näher bestimmt. Dramaturgie (vgl. Kap. I.3)
Mackerras, Colin: The Chinese Theatre in Modern Times. kann als Terminus gelten, der seit dem 18. Jahrhun-
From 1840 to the Present. London 1975. dert zum festen Bestandteil der Theatertheorie ge-
Pannewick, Friedrike: Das Wagnis Tradition: Arabische hört; Phänomene und Begriffe der Intermedialität
Wege der Theatralität. Wiesbaden 2000.
Powell, Brian: Japan’s Modern Theatre: A Century of Change
hingegen finden erst seit rund einem Jahrzehnt Ein-
and Continuity. London 2002. gang in die theaterwissenschaftliche Forschung und
Puchner, Martin: Theaterfeinde: Die anti-theatralischen Theoriebildung. Die Intermedialitätsforschung
Dramatiker der Moderne [2002]. Freiburg 2006. zeichnet sich durch eine interdisziplinäre Ausrich-
Savarese, Nicola: Eurasian Theatre: Drama and Perfor- tung aus, welche Theater-, Musik-, Kunst- und Me-
mance between East and West from Classical Antiquity to
the Present [1992]. Holstebro u. a. 2010. dienwissenschaft umspannt. Wichtige Impulse ge-
Schlegel, August Wilhelm: Über dramatische Kunst und Li- hen seit den 1980er Jahren zudem von der Literatur-
teratur. Vorlesungen. Erster Teil. Heidelberg 1809. theorie aus, welche komplementär den Begriff der
Schlegel, Friedrich von: Sämtliche Werke. Bd. 1. Wien 1846. Intertextualität stark macht. Problematisch für eine
Scholz-Cionca, Stanca/Balme, Christopher (Hg.): Nō Thea-
tre Transversal. München 2008.
Bestimmung intermedialer Dramaturgie ist aller-
Soyinka, Wole: Myth, Literature and the African World. dings, dass die Frage, ob und in welcher Weise Thea-
Cambridge 1976. ter und Drama ein Medium sei, im Fach kontrovers
Christopher Balme diskutiert wird. Während die einen davon ausgehen,
dass Theater und Drama zwar multi- oder plurime-
diale Aspekte aufweisen können, selbst aber keine
Medien darstellen, verschreiben sich andere einer
grundsätzlichen medientheoretischen und medien-
historischen Reflexion der Begriffe. Erstere verste-
hen unter Medien v. a. die materiellen Träger einer
Botschaft, die sich ontologisch von anderen Medien
unterscheiden lassen, Letztere denken Medien als
Sphäre der Transformation, in der verschiedene
Wahrnehmungskonventionen kollidieren und zuei-
nander in Beziehung gesetzt werden.

8.2 Phänomene

Von der Sache her wird dann von intermedialer Dra-


maturgie gesprochen, wenn das Zusammenspiel und
das Zusammenwachsen einzelner, meist technischer
Medien gemeint sind. Der Schwerpunkt intermedia-
ler Dramaturgie liegt bislang auf der Entwicklung
und Erprobung neuer künstlerischer Formate für
das zeitgenössische Drama und Theater. Vor allem
der Einsatz von portablen Videokameras, von Pro-
jektionsflächen aller Art, aber auch die Manipula-
tion von Stimmen und die Einspielung von Klängen
und Musik haben in den letzten 30 Jahren zu einem
8. Intermediale Dramaturgie 95

grundlegenden Wandel der Mittel des Theaters und schiedliche Foren der Massenkommunikation: Mai-
seiner Dramaturgien geführt. Die Arbeiten der ame- linglisten, Podiumsdiskussionen, Fernsehauftritte
rikanischen Theateravantgardisten, u. a. John Jesu- und die politische Demonstration auf bzw. die Blo-
run, Laurie Anderson, die Wooster Group, Robert ckade und Besetzung von öffentlichen Orten wie
Wilson, Robert Lepage oder die Builders Associa- Bahnhöfen und Rathäusern. Derartige Produkte in-
tion, wären ohne diese technischen Innovationen termedialer Dramaturgie propagieren einen Auffüh-
nicht möglich. Auffälliges Merkmal dieser Art von rungsbegriff, der sich auf zahlreiche ›mediale Büh-
intermedialer Dramaturgie sind daher Aufführun- nen‹ bezieht. Intermediale Dramaturgie speist sich
gen, die deutlich auf einen Zuschauer hin konzipiert also im zeitgenössischen Theater von der Sache her
werden, der von der Comic-, Fernseh- und Film- aus zwei Quellen: aus der Zunahme und Konvergenz
wahrnehmung und weniger von der Literatur her medientechnischer Artefakte und der Zunahme an
geprägt ist. Die intermediale Dramaturgie weist da- Aufführungskulturen in einer ausdifferenzierten
bei eine hohe Durchlässigkeit zu anderen Darstel- Medienlandschaft.
lungsformen auf, etwa dem experimentellen Film,
der Installationskunst, der interaktiven Medien-
kunst und der Klangkunst.
Neuere Tendenzen intermedialer Dramaturgie 8.3 Geschichte
zeichnen sich seit den 1990er Jahren mit einem
Wandel der theatralen Kommunikation ab, die jen- Die Geschichte des Theaters, des Dramas und der
seits von Inhalten und Stoffen erneut das Spezifische Dramaturgie ist geprägt durch intermediale Experi-
des Theaters als einer sozialen Situation betont. Da- mente. Die theoretischen Versuche, die genuine In-
bei werden die institutionellen, ökonomischen und termedialität von Theater und Drama zu beschrei-
kulturelle Rahmungen des Theaters zum Thema der ben, sind zahlreich; zu denken wäre etwa an den
Aufführungen. Diese Aufführungen, die häufig poli- ›Wettstreit der Künste‹ (Paragone) in der Renais-
tisch motiviert sind, übersteigen die engere Bestim- sance und des Frühbarock, an die häufig bemühten
mung des Theaters als einem leiblichen Vollzug ei- Vergleiche von szenischen Darstellungen mit denen
ner Handlung in Ko-Präsenz des Zuschauers. Sie fü- der Malerei und der Literatur im 18. Jahrhundert, an
gen diesem Theatermodell eine intermediale die Ausdifferenzierung der Gattungen ebenso wie an
Vermittlungsschleife hinzu, die gerade auch die Ver- die Syntheseversuche im Konzept des Gesamtkunst-
breitungsmedien ins Kalkül zieht. Damit reagieren werkes im 19. Jahrhundert. Die Programmatik der
sie auf den Umstand, dass die zeitgenössische gesell- historischen Avantgarden wiederum ist in hohem
schaftliche und ästhetische Kommunikation seit Maße auf der Folie intermedialer Konstellationen
rund 150 Jahren auf massenmediale Distribution mit dem Aufkommen technischer Medien zu verste-
ausgerichtet ist. Theater wird so als Teil einer Me- hen. Die Digitalisierung ab Mitte der 1980er Jahre
dienlandschaft gedacht, in der die theatrale Situation schließlich vervielfältigte die Möglichkeiten inter-
eine spezifische Teilöffentlichkeit darstellt. Diese Re- medialer Dramaturgie, insofern sie mannigfaltige
lation, die das Theater zu anderen Medien und Me- Transformationen und Kombinationen einzelner
diennutzungen ausbildet, weist über die Bestim- Medien in Aussicht stellte und noch stellt.
mung des Theaters als Vollzug einer ästhetischen Bereits für das altgriechische Theater und seine
Handlung im Hier und Jetzt hinaus. Als Beispiel uns überlieferte Poetik des Dramas lässt sich die in-
seien Arbeiten wie Chance 2000 (1998) oder Passion termediale Reflexion konstatieren. Aristoteles unter-
Impossible. Sieben Tage Notruf Deutschland – Eine scheidet in der Poetik (entstanden nach 335 v. Chr.)
Bahnhofsmission (1997) des Aktionskünstlers und sechs Teile der Tragödie: Mythos, Charakter, Spra-
Regisseurs Christoph Schlingensief genannt. Schlin- che, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik
gensief nutzte etablierte Theater wie die Berliner (vgl. Kap. I.2.4). Die Inszenierung (opsis) ist jener
Volksbühne oder das Hamburger Schauspielhaus als Teil der Tragödie, der konkrete Hinweise auf das in-
ein Podium für politisch-theatrale Aktionen im so- termediale Zusammenspiel der Bühnenmittel wie
zialen Raum; die Theater figurierten dabei als Heim Raum, Maske, Sprechen und Körpersprache gibt.
für Obdachlose oder als Partei der Arbeitslosen. Allerdings findet sie bei Aristoteles nur marginale
Schlingensiefs Inszenierungen umfassten neben der Beachtung. Seine Beschreibung der attischen Tragö-
Aufführung von körperlichen Aktionen unter- dien und Komödien nämlich ist selbst medienspezi-
96 I. Begriffe und Konzepte

fisch, sie beruht weitestgehend auf den überlieferten Dramatik und des Theaters, welcher sich mit deren
schriftlich fixierten Rollentexten. Die Inszenierung, Herauslösung aus dem Ritual und der christlichen
so folgert Aristoteles, sei »das Kunstloseste«, die Tra- Liturgie zu Beginn der Neuzeit ankündigt, werden
gödie käme auch ohne »Aufführung und Schauspie- die einzelnen Theatermittel schärfer voneinander
ler zustande« (Poet. 1449b21–1450b20, 19–25). abgegrenzt. Denn die Verwendung der Zeichen ist
Aristoteles ebnet mit dieser Gewichtung der Be- nun nicht mehr durch übergeordnete Instanzen,
standteile des Dramas den Weg für ein Theaterkon- etwa die religiöse Heilslehre, den Kult oder das
zept, das die Dominanz des schriftlich fixierten Dra- Nachahmungspostulat, geregelt. Folglich muss be-
mas etabliert. Intermediale Fragestellungen bezie- stimmt werden, ob jede Kunstform über bestimmte
hen sich diesem Theaterkonzept entsprechend v. a. Zeichen verfügt und wie deren Repräsentationsleis-
auf den Aspekt der Umsetzung des Dramas in der tung jeweils zu bestimmen ist. Dieser Wandel der
Aufführung und sind dem Drama nachgeordnet. Repräsentation wurde im Begriff des »künstlichen
Eine zweite Fragestellung intermedialer Drama- Zeichens« (Fischer-Lichte 1989, 91) gefasst. Der
turgie ist bei Aristoteles auszumachen, bezogen auf Theaterdichter Christlob Mylius widmet sich in sei-
das Drama und seine Mittel: Wie sollen die Teile der nem Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst
Tragödie gestaltet werden, wenn man deren Wir- eine freie Kunst sei (1750) einer Bestimmung thea-
kung optimieren will? Hier argumentiert Aristoteles traler Zeichen. Die Schauspielkunst stellt für Mylius
medienspezifisch, indem er hervorhebt, was das dabei jene Mitte dar, die sich zwischen der starren
Drama gegenüber anderen Gattungen und Künsten »Bildsäule« und der »Lesung« des Dramas ab-
besonders auszeichnet. Er führt etwa aus, dass die zeichne. Diese Argumentationsfigur wird von Les-
Dramatik im Gegensatz zu Lyrik und Epik, Hand- sing in Laokoon oder über die Grenzen der Malerei
lung nachahme (Poet. 1447a8–1448a1, 5–7). Dabei und Poesie (1766) grundsätzlich ausformuliert. Les-
sei die Handlung in der Tragödie von der Hand- sing bestimmt dabei die Medialität von Poesie und
lungsvielfalt im Epos unterschieden. Denn für die Malerei derart: Poesie habe Handlungen zum Ge-
Auswahl der Handlung in der Tragödie gelte, dass genstand und vollziehe sich in linearer Anordnung,
dasjenige zu betonen sei, was zur Knüpfung und Lö- Malerei umgekehrt habe Körper zum Gegenstand
sung des dramatischen Konfliktes notwendig ist und und könne seine Zeichen simultan auf einer Fläche
den Eindruck entstehen lässt, man sei »bei den Er- anordnen. Darauf aufbauend bestimmt Lessing in
eignissen, wie sie sich vollziehen, selbst zugegen« der Hamburgischen Dramaturgie (1767–69) das
(Poet. 1454b19–1455a21, 51 f.). Ein Epos könne hin- Theater und die Schauspielkunst im engeren Sinne
gegen »die gesamte Handlung« darstellen (Poet. als eine »transitorische Malerei« (Lessing 1985, 210).
1455b24–1456a32, 59). Diese Argumentation hebt In Frankreich ist wiederum die tableau-Theorie von
also die Medialität der Kunstform Drama hervor, Denis Diderot als wichtiger Beitrag zur intermedia-
nämlich dramatische Konflikte und Handlungen len Bestimmung von Drama und Theater zu nen-
darzustellen, indem sie diese von der Medialität an- nen. Diderot rückt dabei die flüchtige Szene in die
deren Kunstformen unterscheidet. Nähe des statischen Bildes, um damit der dramati-
Ähnliches gilt für Bestimmung der Charaktere, schen Handlungsabfolge, wie sie die Dramenpoetik
deren Gestaltung Aristoteles im Vergleich zur Male- vorschreibt, einen Kontrapunkt der Stillstellung auf
rei schildert. So wie ein Bild kräftige Farben und der Ebene der Inszenierung und der Dramaturgie
»klare Umrisszeichnungen« (Poet. 1450b1–1450b5, entgegenzusetzen (vgl. Kap. II.5).
23) benötige, um zu wirken, so sollten auch die Cha- Die Aufwertung der Regie und der Inszenierung
raktere der Tragödie klar und brillant erscheinen. zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sie sich etwa bei
Diese gegenseitige Erhellung der Künste, v. a. der Adolphe Appia, Edward Gordon Craig, Jacques
Dichtung und der Malerei, wird von Horaz schließ- Copeau, Max Reinhardt, Konstantin Stanislawski
lich in der Formel ut pictura poesis gefasst: Die Dich- oder Wsewolod Meyerhold ausmachen lässt, schließt
tung sei wie ein Gemälde (Horaz 1988, 361). v. a. an die Diskussion der Intermedialität des Thea-
Der von Aristoteles überlieferte Vergleich des ters im 18. Jahrhundert an. Die neue Plastizität der
Theaters mit der Literatur und der Malerei durch- Reliefbühnen bei Appia ebenso wie die Metaphorik
zieht die Dramenpoetik und Theatertheorie bis ins der Puppe zur Bestimmung von Schauspielstilen bei
18. Jahrhundert. Insbesondere mit dem Wandel der Craig sind explizite Anleihen bei Malerei und Plastik
gesellschaftlichen und ästhetischen Funktion der als Schwesterkünsten des Dramas und Theaters.
8. Intermediale Dramaturgie 97

Ein typisches Beispiel intermedialer Dramaturgie


ist das Bühnenwerk Relâche/Entre’acte von René
Clair und Jean Börlin aus dem Jahr 1924.
In diesem Werk wird der Film Entre’acte von René
Clair zum konstitutiven Teil eines Ballettabends
Relâche, der durch das schwedische Ballett um den
Tänzer und Choreografen Börlin gegeben wird.
Entre’acte bedeutet ›musikalischer Zwischenakt‹ und
entsprechend füllt der Film die rund 20 Minuten
dauernde Pause zwischen den beiden Akten des Bal-
letts. Das Theaterpublikum macht also über die
Filmeinspielung Gebrauch von einer Wahrneh-
mungskonvention, die sich mit dem Kino herausge-
bildet hat. Schaut man auf die Akteure dieser Insze-
nierung, so fällt auf, dass die intermediale Drama-
turgie ein Effekt der Entgrenzung der Künste ist: Als
Regisseur fungiert der französische Maler und Gra-
fiker Francis Picabia, Protagonisten des Abends sind
neben dem Ballettensemble u. a. der Konzeptkünst-
ler Marcel Duchamp, der Fotokünstler Man Ray, der
Komponist Eric Satie und der Filmregisseur René Abb. 1: Relâche/Entre’acte. Jean Börlin und Inge Frïss
Clair. Diese Zusammenarbeit verschiedener Künst- auf der Bühne
ler geht über die Verwendung von Projektionen und
Filmen etwa im politischen Theater von Brecht (vgl. ters im 19. Jahrhunderts ist die Ausdifferenzierung
Kap. III.15) und Piscator insofern hinaus, als hier von Singen und Sprechen. Sie zeigt sich in einer Nu-
die Wahrnehmungskonventionen des Theaters und ancierung der Gattungen, die u. a. das Sprechtheater,
die etablierte Hierarchie der Aufgabenteilung zwi- Musikdrama, Tanzdrama, die Rezitation und Lesung
schen Darsteller, Regisseur, Ausstatter, Bühnenbild- von Literatur, die Tableaux vivants und die Stegreif-
ner und Komponist grundsätzlich in Frage gestellt spiele umfasst, wobei die Sparte Sprechtheater in ih-
werden. ren Aufführungen wiederum Untergruppen wie die
Ähnliche Grenzüberschreitungen lassen sich Tanzeinlage, das Singspiel, die Couplets kennt.
auch für die Bühne des Bauhauses nachweisen. Das Hinzu kommen die szenischen Unterhaltungsfor-
Triadische Ballett (UA 1922) von Oskar Schlemmer mate wie das Kabarett, das Varieté, die Revue. Pro-
beispielsweise zeigt in 12 Tänzen das Zusammen- grammatisch wird die akustische Intermedialität in
spiel von Raum, Figur und Bewegung. Das Aus- der Opernreform Richard Wagners. Sein politisch
druckspotential des Tänzerkörpers wird extrem zu- und ästhetisch motiviertes Konzept des Gesamt-
rückgenommen, wie man es auch in der Arbeit mit
Masken kennt. Der Tänzer erscheint v. a. plastisch,
analog zu einer kinetischen Skulptur. Der bildende
Künstler Schlemmer denkt also die szenische Aktion
des Theaters intermedial, d. h. v. a. von der Malerei
und Plastik her, die Bühne ist ihm ein Reflexionsme-
dium zur Erweiterung der visuellen Ausdrucksmit-
tel und zur Aufnahme neuer, v. a. kinetischer Gestal-
tungsmittel in die bildende Kunst.
Neben der Verbindung von Theater und bilden-
der Kunst ist eine weitere intermediale Konstellation
zu erwähnen, die v. a. im 19. Jahrhundert maßgebli-
chen Einfluss auf die Dramaturgie hatte: die akusti-
sche Intermedialität zwischen Stimme, Sprechen, Abb. 2: Relâche/Entre’acte. Jean Börlin und Darsteller in
Singen und Musik. Eine prägende Stilistik des Thea- der Schlussszene des Films
98 I. Begriffe und Konzepte

Abb. 3: Triadisches Ballett von Oskar Schlemmer (UA 1922)

kunstwerkes konzipiert die intermediale Dramatur- chens und der Nationalsprachenpolitik des 19. Jahr-
gie v. a. vom Rhythmus her, welcher zum bestim- hunderts auch eine interkulturelle Komponente.
menden Prinzip für die ihm verwandten Ausdrucks-
mittel des Tanzes und des Dramas wird. Diese an
Nietzsche orientierte Idee nennt Wagner im Gegen-
satz zur italienischen und französischen Oper ›Mu- 8.4 Forschungslage
sikdrama‹ und führt sie historisch auf das antike
Theater zurück. Malerei, Skulptur und Architektur ›Intermediale Dramaturgie‹ ist auch eine For-
sollten sich dem Organisationsprinzip des Rhyth- schungsrichtung der Theater-, Kunst-, Musik- und
mus unterordnen, so dass eine harmonische Syn- Medienwissenschaft. Der ältere Begriff der Drama-
these der einzelnen Künste gelingt. Die Verlegung turgie und der jüngere der Intermedialität werden
des Orchesters von der Bühne in den Graben, wie es dort wechselseitig aufeinander bezogen und zur Dis-
in Wagners 1876 in Bayreuth realisiertem Festspiel- position gestellt: Welche Dramaturgie eignet sich für
haus praktiziert wurde, belegt deutlich, wie interme- intermediales Theater und umgekehrt, wie ist Dra-
diale Dramaturgie auf der Trennung und anschlie- maturgie möglich, wenn Intermedialität die Produk-
ßenden Synthese von Ton und Bild beruht (Wagner tion und Rezeption von Theater und Drama be-
1888, 231). Dieses Denken in getrennten Elementen stimmt?
setzt sich fort, wenn man die sprachlich-stimmliche Im Sinne dieser reziproken Fragestellung können
Dramaturgie in den Blick nimmt, die Wagner für die zwei Argumentationslinien unterschieden werden.
Partien seines Musikdramas fordert: den »deutschen Die erste geht vom Drama und der Dramaturgie aus
bel canto« (Wagner 1888). Der Gesang der deut- und setzt dieses in das Verhältnis zur Begrifflichkeit
schen Texte soll dabei verständlich sein für die deut- der Intermedialität. Versteht man unter dem in der
schen Zuhörer, zugleich aber den Wohlklang der ita- Theaterwissenschaft geläufigeren Begriff Dramatur-
lienischen, vokalreichen Sprache als einem Erbe der gie diejenigen konzeptuellen oder textlichen Vorga-
Operntradition bewahren. Die intermediale Drama- ben, nach denen eine Handlung aufgeführt werden
turgie des Gesangs hat also auf der Ebene des Spre- soll, so kann intermediale Dramaturgie wahlweise
8. Intermediale Dramaturgie 99

auf das Drama und seine Umsetzung, bzw. auf Thea- mit Blick auf das Literatur- und Sprechtheater der
ter- und Aufführungskulturen, die skriptbasiert Nachkriegszeit vergegenwärtigen. Dieses ist gekenn-
sind, bezogen werden. Entscheidend ist für beide zeichnet durch eine Kluft, die sich zwischen der je-
Theaterkulturen, die des literarischen und die des weils zeitgenössischen Dramenproduktion und dem
nicht-literarischen Theaters, dass die Frage nach der kulturellen Erbe der Klassiker auftut. Der Sparte
Intermedialität hier v. a. die nach der Umsetzung ei- Sprechtheater werden dabei zwei divergierende
ner Vorlage meint. Wie kann man dem Einsatz von Funktionen zugesprochen: Sie soll ein Medium sein,
Medien im Prozess einer Inszenierung eine deutli- welches der jeweils aktuellen Dramatik und den
che dramaturgische Handschrift oder Konzeption Möglichkeiten zeitgenössischer Dramaturgien ver-
geben? Diese Fragerichtung orientiert sich an der pflichtet ist, zugleich soll sie als Ort der Bewahrung
Medienspezifität der einzelnen Medien, die im Pro- und Erinnerung des kulturellen Erbes der Dramenli-
zess der Produktion einer Theateraufführung zum teratur fungieren. In Folge dieses doppelten gesell-
Tragen kommen. Die Erforschung der Medienspezi- schaftlichen Auftrags zwischen Aktualität und Be-
fität interessiert sich beispielsweise dafür, welche wahrung sind die seit dem 18. Jahrhundert tradier-
Konstanten und Veränderungen ein schriftlich no- ten Dramaturgien, die zuvorderst auf die Kohärenz
tierter Text erfährt, wenn er mit den Mitteln der von Rollentext, Figur und Ausdrucksgebärde setzen,
Bühne wie Licht, Kostüm, Requisite, Stimme, Spre- von einer inneren Spannung gekennzeichnet. Spä-
chen oder Bewegung in jeweils einer anderen Mate- testens im Regietheater der 1970er Jahre hat sich
rialität erscheinen soll. Teile der textlichen Bedeu- dann der dramaturgische Zugriff auf die ›Klassiker‹
tungsstruktur etwa können dann akustisch umge- radikal geändert, die Norm werktreuer Inszenierung
setzt werden, können etwa in Musik, Geräusch, wurde radikal in Frage gestellt. Jenseits einer norma-
Prosodie und Stimmlichkeit ihre Form finden. Wie- tiven Bestimmung dessen, was das Sprechtheater
derum andere Teile der Vorlage können im Bühnen- leisten soll, kann man im Regietheater auch einen
bild, in der Beleuchtung, in der Kostümgestaltung Reflex auf eine gewandelte Mediendramaturgie und
ihre Entsprechung finden. Man könnte diese For- gewandelte Wahrnehmungskonventionen erblicken.
schungsrichtung als utilitaristisch motiviert bezeich- Insbesondere das Kino ist seit seiner massenhaften
nen, insofern Medien hier als spezifische Mittel oder Akzeptanz als Unterhaltungsmedium dazu angetre-
Werkzeuge der Inszenierung gelten und dem Dra- ten, die Dramaturgie klassischer Dramen nicht nur
maturgen zur Verfügung stehen. zu beerben, sondern durch die ihm eigenen visuel-
Der medienspezifischen Bestimmung von Inter- len und akustischen Mittel auch zu erweitern. Im
medialität als Mittel und Werkzeug steht die relatio- Umkehrschluss müssen dann Theaterdramaturgen
nale Bestimmung von Intermedialität entgegen. darauf reagieren, dass andere Medien weit wir-
Eine relationale Bestimmung ist von der Einsicht ge- kungsvoller die Kohärenz von Figur, Rollentext und
tragen, dass Medien dem Sinn und ihrer Funktion Ausdruck umsetzen können und das Publikum diese
nach eine Sphäre des ›Dazwischen‹ bezeichnen kön- Wirkungen sodann als Wahrnehmungskonvention
nen. Auf die Dramaturgie bezogen wäre dieses Da- verinnerlicht. Diese Wechselwirkung zwischen dem
zwischen jener Akt der Übersetzung und Transfor- Medium Theater und dem Medium Film, bzw. Ra-
mation, mit welchem im Literaturtheater ein schrift- dio und Fernsehen steht etwa im Mittelpunkt der
licher Text in einen gesprochenen und verkörperten von Philip Auslander angestoßenen Debatte um die
Text überführt wird. Die Frage nach den Relationen Liveness des Theaters (Auslander 1999). In diesem
zwischen Text und Körper bzw. zwischen Drama Sinne wirkt die Intermedialität zwischen Film und
und Theater stellt sich v. a. dort, wo diese Überset- Theater auf den Begriff und die Praxis der Drama-
zung nicht reibungslos gelingt. Eine relationale Be- turgie zurück.
griffsbestimmung intermedialer Dramaturgie führt Man kann also mediengeschichtlich argumentie-
dazu, den Begriff von Dramaturgie und Drama ren und grundsätzlich unter Dramaturgie auch eine
ebenfalls zur Disposition zu stellen. Sie ist der Er- logische und historische Antwort auf eine interme-
kenntnis geschuldet, dass mediale Einflüsse eine diale Problemstellung verstehen, mit denen sich
Dramaturgie insofern infrage stellen können, als sie Dramatiker und Theatermacher darüber klar zu
in der Lage sind, deren Wirkabsichten zu konterka- werden versuchen, was unter den gegebenen media-
rieren. len Bedingungen überhaupt zur Aufführung ge-
Man kann sich die Aktualität dieser Forschung bracht werden kann. Stellt man den theaterwissen-
100 I. Begriffe und Konzepte

schaftlich eng umrissenen Begriff der Dramaturgie nicht dasjenige hervor, was sich dem Transfer von ei-
zur Disposition, wie es sich in der Forschung ab- nem Medium ins andere widersetzt. Die Idee der
zeichnet, so muss die Funktion und Begrifflichkeit Medientransparenz geht vielmehr von der Einsicht
von Intermedialität näher bestimmt werden. aus, dass alle Medien eine gemeinsame Eigenschaft
aufweisen: Sie können hinter ihren Inhalt zurücktre-
ten. Dieser Gedanke geht zurück auf die Arbeiten
des kanadischen Medientheoretikers Marshall
8.5 Medientheoretische McLuhan, denen gemäß die Form eines Medium als
Intermedialitätsforschung Inhalt eines anderen Medium figurieren könne
(McLuhan 1992, 18). Die Form eines Mediums wird
In der Theaterforschung wurde bislang die »pluri- demnach transparent, sie verschwindet hinter dem
mediale Darstellungsform« (Pfister 2001, 24 ff.) des Inhalt. Zugleich kann diese Form in einem anderen
Dramas reflektiert, eine Bestimmung des Theaters Medium wiederum zum Inhalt werden. Wir sehen
als Medium steht, wie gesagt, aus. In der jüngeren eine Fernsehsendung und erst im Moment, da wir
Forschung zeichnet sich jedoch eine theoretische ein anderes Medium, etwa eine Zeitung wählen und
Konturierung des Intermedialitätsbegriffs ab, die es dort vielleicht eine Fernsehkritik oder eine Pro-
erlaubt, das Verhältnis von Theater und Drama als grammankündigung dieser Fernsehsendung lesen,
eine spezielle Form einer medientheoretisch allge- wird uns die mediale Form des Fernsehens bewusst.
meiner bestimmten Intermedialität zu entfalten. Wir lernen also etwas über das Medium Fernsehen,
Diese Perspektive reiht Theater und Drama in eine wenn deren Form, etwa die Länge der Sendung, die
umfassendere Mediengeschichte ein (vgl. Kattenbelt Dramaturgie, Kameraregie oder Moderationsweise
2006, 29–39; Ernst 2006, 33–45). zum Inhalt eines anderen Mediums wird.
Dieser Forschungsrichtung liegt die Differenz Die von McLuhan v. a. an populären Verbrei-
von Medienspezifik und Medientransparenz zu- tungsmedien gewonnene Einsicht in die Medien-
grunde. Medienspezifische Fragestellungen heben transparenz wurde durch den Systemtheoretiker Nik-
hervor, welcher Gehalt eines – meist technisch ge- las Luhmann aufgenommen und als Funktionsme-
dachten – Mediums in ein anders Medium transfe- chanismus ausformuliert (Luhmann 1997, 198 f.).
riert werden kann. Diese Ansätze zeichnen sich häu- Luhmann setzt dabei die basale Unterscheidung von
fig durch eine ontologische Zentrierung des Medi- Form und Medium, verschreibt sich also einem rela-
enbegriffs aus. Medien sind demnach materielle tionalen Medienbegriff. Diesem Ansatz zufolge sind
Träger von Botschaften. Der Schauspielerkörper Medien gerade keine materiellen Träger, sondern lo-
etwa ist ein materieller Träger der schauspieleri- cker oder fest ›gekoppelte‹ Entitäten, die nur in einer
schen Rede. Das Celluloid ist ein materieller Träger spezifischen Form sinnlich erfahrbar sind und Bot-
für das Filmbild und den Filmton. Trifft nun der schaften überbringen können. Diese Form aber, die
Schauspielerkörper auf die Filmkamera, so werden man wahrnimmt und decodiert, ist selbst nicht das
Teile seines Ausdrucks transferiert und auf Celluloid Medium. Beide Konzepte, die von McLuhan und
gebannt. Der körperlich-materielle Aspekt wird da- Luhmann, sind dezidiert gegen eine ontologische
bei nur teilweise übertragen, so dass man deutlich oder materielle Bestimmung von Medialität gewen-
eine Medienspezifik des Theaters mit körperlicher det, welche eher die Idee eines Kanals oder Contai-
Anwesenheit von jener des Films mit körperlicher ners für Botschaften propagiert. Intermediale Frage-
Abwesenheit unterscheiden kann. stellungen hingegen favorisieren Momente des
Fraglich ist allerdings, was geschieht, wenn der Übergangs, des Bruchs, des Wandels der Seh- und
Schauspieler in seiner Spielweise die Wahrneh- Hörkonventionen.
mungskonvention des Films übernimmt und etwa Fragt man danach, welche medialen Einflüsse un-
mit Abwesenheiten arbeitet. So kann er etwa Stimme gehört und unsichtbar die Botschaft beeinflussen, so
und Körper trennen, oder körperliche Bewegung weist dies über die engere theaterwissenschaftliche
suspendieren, kurz: er kann die Montage und den Fachdiskussion hinaus und knüpft an erkenntnis-
Filmschnitt in seine Spielanlage übernehmen. theoretische, ästhetische und kunsttheoretische so-
Hier kommt die Denkfigur der Medientranspa- wie kunsthistorische Fragestellungen an. Denn die
renz in Spiel. Im Gegensatz zum Begriff der Medien- Dramaturgie ist aus dieser Perspektive nicht mehr
spezifität hebt jener der Medientransparenz nun eine Vorgabe, die mit Mitteln verschiedener Media-
8. Intermediale Dramaturgie 101

lität und Materialität sinnlich umgesetzt wird. Inter- und Inszenierung von Handlung sprechen kann. Die
mediale Phänomene und die Begrifflichkeit der In- von Medientheoretikern wie Friedrich Kittler oder
termedialität betonen vielmehr die Mittelbarkeit von Norbert Bolz postulierte Position, technische Me-
Drama, Dramaturgie und Theater als Darstellungs- dien stellten ein ›Apriori der Wahrnehmung und des
prozess. Diese Mittelbarkeit wird mit dem Zusatz Menschen‹ dar, zielt just darauf ab, die Möglichkeit
›inter‹ (= dazwischen) hervorgehoben. einer Dramaturgie in Frage zu stellen und sie durch
den Akt einer technischen Selbstprogrammierung
zu ersetzten (Kittler 1986, 167; Bolz 1990, 84). Me-
dien entzögen sich demnach dem planbaren Zugriff
8.6 Perspektiven eines Dramaturgen und erzählten stattdessen v. a.
die Geschichte ihrer eigenen Programmierung und
Intermediale Dramaturgie hat entsprechend der Durchsetzung einer Wahrnehmungskonvention.
Reichweite medientheoretischer Begrifflichkeiten Denkt man diese Einsicht in die Ko-Evolution
viele Perspektiven; hier soll lediglich auf einige As- von Wahrnehmungskonventionen und Medientech-
pekte hingewiesen werden, die für die Theaterwis- nik weiter, so lassen sich zwei weitere Differenzie-
senschaft anschlussfähig und wichtig sind. Christo- rungen ausmachen, welche die Möglichkeit von
pher Balme hat für die Theaterwissenschaft drei Dramaturgie als planvolle Anleitung szenischer
Ebenen intermedialer Dramaturgie unterschieden: Handlung infrage stellen: Eine betrifft den histori-
schen Geltungsanspruch der Dramaturgie, eine wei-
(1) Ein Inhalt, Stoff wird von einem Medium in ein
tere betrifft die Selbstreflexivität der Wahrnehmung.
anderes übertragen. Beispiel: Adaption eines Ro-
Wenn gilt, dass Medien und Wahrnehmungen ei-
mans auf dem Theater, im Film, Hörstück etc.
nem raschen Wandel unterliegen, so erlangen Dra-
(2) Eine Form wird in einem anderen Medium um-
maturgien nur für historisch situierte Akteure und
gesetzt. Beispiel: Drama und Theater.
Zuschauer ihre Geltung. Diese Einsicht gilt auch für
(3) Eine Wahrnehmungskonvention des einen Me-
die Dramaturgie des schriftzentrierten Literaturthea-
diums wird in einem anderen Medium umge-
ters. Lange jedoch hat man in literarischen Dramen
setzt. Beispiel: Filmpräsentation im Live-Me-
zuvorderst eine Form und einen Inhalt gesehen, die
dium Theater (Balme, 2004, 14 ff.).
mehr oder weniger konstant überliefert werden. Die
Die beiden ersten Verfahren der intermedialen historische Situierung von Akteuren und Zuschau-
Transformation sind in der Dramaturgie geläufig ern wurde als ein nachrangiges Problem behandelt,
und können auf eine lange Historie des Dramas und bzw. als Kulturverfall gewertet, den man mit Bildung
der Dramentheorie bezogen werden. Das dritte Ver- kompensieren müsse. Andere Wahrnehmungskon-
fahren, die Transformation von Wahrnehmungs- ventionen, etwa eine mehr auf Bilder oder Aktionen
konventionen, stellt die Dramaturgie aktuell vor orientierte Erwartungshaltung, stehen aus dieser
große Herausforderungen. Denn eine Dramaturgie Perspektive in Konkurrenz zu einer Wahrneh-
entwirft Lösungen zur Anleitung szenischer Hand- mungskonvention des Literaturtheaters, die als zent-
lungen. Bezieht man dieses utilaristische Verständ- rale Elemente die Handlung, die Geschichte und die
nis von Dramaturgie nun auf die Einsicht, dass Figuren kennt. Hans-Thies Lehmann leitet aus die-
Wahrnehmungskonventionen dramaturgisch gestal- ser Konkurrenz der Medien einen Auftrag an das
tet werden sollen, so stellt sich die Frage, ob Wahr- Theater ab, Reflexionsmedium anderer Medien zu
nehmung in gleicher Weise wie ein Inhalt oder eine sein: »Theater ist kein Massenmedium. Dies zu er-
Form einen dramaturgischen Zugriff erlaubt. Vor al- kennen ist höchste Zeit, es zu reflektieren umso
lem technische Medien haben in ihren rasanten Ent- dringender« (Lehmann 1999, 409). Die Reflexion
wicklungsschüben seit Mitte des 19. Jahrhunderts anderer Medien auf der Bühne kann dabei die Züge
vor Augen geführt, dass sich Wahrnehmungskon- von Purismus annehmen, wie er v. a. durch Peter
ventionen scheinbar in Abhängigkeit nicht von Dra- Brooks Formel vom Theater als leerem Raum reprä-
maturgien, sondern vom jeweils realisierten Stand sentiert wird (Brook 2004). Sie kann zeitgleich auch
der Technologien entwickeln. Dieser Wandel wurde die Einbeziehung der anderen Künste, der Architek-
zu Beginn des 20. Jahrhunderts als schockartig erlebt tur, Illusionsmalerei, Lichtskulptur und Klangkunst
und beschrieben. Die Frage stellt sich damit, ob man bedeuten, für welche exemplarisch das Theater von
hier noch von Dramaturgie als planvoller Handlung Robert Wilson steht. Wie auch immer die Gemenge-
102 I. Begriffe und Konzepte

lage aussieht, fest steht seit dieser Akzentverschie- besonders hervorhebt, dass sich hier ein Dialog
bung von Inhalt und Form hin zur Wahrnehmung: vollzieht, der als konsequente und quasi natürliche
Der ideale Zuschauer als Adressat und die Norm ei- Abfolge von Repliken gedacht ist. Im intermedialen
ner Wahrnehmungskonvention, die für Theater Austausch zwischen Theater und Film aber erfährt
gelte, wird ersetzt durch eine Bandbreite unter- der Zuschauer zugleich zweierlei: Der Film verfügt
schiedlicher Zuschauergruppierungen, die mit di- anders als das Theater über eine Großaufnahme.
vergierenden Wahrnehmungskonventionen ausge- Der ›klassische‹ Theaterdialog wiederum und seine
stattet sind. ästhetische Formsprache der Natürlichkeit ist ein
Damit wäre die Selbstreflexivität der Wahrneh- Effekt der Montage distinkter Repliken. Beide Ein-
mung angesprochen. Theater stellt nur eine Option sichten hatten und haben bekanntlich Folgen für die
neben anderen Medienangeboten dar. Die Zu- Dramaturgie des Theaters. Man verzichtet darauf,
schauer und Akteure wiederum machen von dieser dass die Bühnenhandlungen und Dialoge im mime-
Option einen eigenen und keineswegs immer glei- tischen Verhältnis zur Lebenswelt und zum natürli-
chen Gebrauch, d. h. sie aktivieren aus einer Band- chen Sprechen stehen. Handlungen und Repliken
breite eingeübter Wahrnehmungsmuster spezifische können vielmehr wie eine Großaufnahme still ge-
Haltungen, mit denen sie nun Theater wahrnehmen stellt und ausgestellt werden. Intermediale Drama-
oder Dramen lesen. Diese Optionalität stellt nicht turgie macht in diesem Sinne Gebrauch von etwas,
nur den Geltungsanspruch des semiotischen Norm- was weder dem Film noch dem Theater zur Verfü-
begriffs sowie den der Wahrnehmungskonvention gung steht, sondern was nur mittelbar im Zusam-
in Frage. Sie führt notgedrungen auch dazu, ein be- menspiel der beiden Medien erscheint. Entspre-
stimmtes Maß an Reflexivität der Wahrnehmung chend befragt eine intermediale Dramaturgie, die
anzunehmen (Fischer-Lichte u. a. 2006). Denn wer sich auf die Erforschung von Mittelbarkeit des Dra-
auswählt, muss Wissen oder Kompetenzen über den mas und Theaters einlässt, den Begriff Dramaturgie
Bereich aufweisen, worauf sich die Wahl bezieht. in seiner utilaristischen Auslegung als Lehre der Be-
Phänomene wie die Verwechselung der Wahrneh- reitstellung theatraler Mittel. Denkt man diese Be-
mungskonvention von ›dokumentarisch‹ und ›fikti- fragung der Dramaturgie weiter, so ist klar, dass
onal‹ sind heute nicht mehr im gleichen Maße mög- auch das Drama oder das Skript einer Aufführung
lich, wie dies etwa noch zur Hochzeit des Radios in neben seinem jeweiligen semantischen Gehalt v. a.
der Zwischenkriegszeit galt. Orson Welles’ Hörspiel auch in seiner Schriftlichkeit, d. h. seiner spezifi-
The War of the Worlds löste 1938 eine Panik aus, weil schen Medialität von Interesse ist. Dramaturgie
es als Live-Reportage über den Besuch von Außerir- kann demnach als ein Vorgang verstanden werden,
dischen wahrgenommen wurde. Ein vergleichbarer der sich zwischen Theater und Drama verorten lässt
Schockeffekt wäre in Zeiten des Internets und mobi- und die intermediale Transformation der beiden
ler Kommunikation kaum denkbar. Medien bedenkt.
Beide Aspekte, die Historisierung von Zuschau-
erhaltungen und die Reflexivität der Wahrnehmung Beispiel: Bildbeschreibung
stellen die Dramaturgie in ihrer Planbarkeit vor Welche Dramaturgie eignet sich für die Gestaltung
neue Aufgaben. Die intermediale Dramaturgie geht intermedialer Aufführungen? Wie wirkt sich umge-
also über das rein additiv gedachte multi- und pluri- kehrt die Intermedialität auf die Idee der Dramatur-
mediale Deutungsschema hinaus und stellt den Be- gie und des Dramas aus? Man kann sich die Rele-
griff von Dramaturgie selbst in Frage. Man muss vanz beider Fragestellungen verdeutlichen, wenn
sich diese Historisierung und Reflexivität tatsäch- man den Text Bildbeschreibung (1984) von Heiner
lich als praktische Mediengestaltung, als Handwerk, Müller in der Inszenierung durch Laurent Chétou-
vorstellen. Intermedial in diesem Sinne ist etwa je- ane (2007) heranzieht. Schauen wir zunächst auf die
ner Effekt, wenn der Dialog, also eine in Drama und Dramaturgie der Aufführung. Müllers Text fordert
Theater gleichsam konventionalisierte Form, in ei- in besonderer Weise zu einer Reflexion intermedia-
nem Film übernommen wird. Dabei geschieht es ler Dramaturgie heraus, denn es ist kein Drama, wel-
implizit, dass nun die Form des Dialogs auf die In- ches mit Regie- und Spielanweisungen, Dialog und
haltsebene des Filmes gehoben wird. Das kann etwa Monolog, Figuren und Handlungen der Intermedia-
geschehen, in dem man über Kameraeinstellungen lität einer Aufführungssituation einen Rahmen vor-
und Schnittverfahren wie Schuss- und Gegenschuss gibt. Es handelt sich vielmehr bei diesem Text um
8. Intermediale Dramaturgie 103

die Beschreibung eines Bildes in einem einzigen,


fortlaufenden Satz. Der Text bietet lediglich das Ge-
rüst einer Theateraufführung (Skript), enthält sich
aber jeglicher näherer Bestimmungen für den Ein-
satz körperlicher, akustischer und visueller Theater-
mittel. Das aber heißt, dass die Möglichkeiten der
Umsetzung prinzipiell unendlich sind.
Chétouane löst das Problem, indem er die sper-
rige Schriftlichkeit des Textes und die schier unend-
liche Kette von Halbsätzen szenisch ausstellt. Als
Tänzer ungeübt im Bühnensprechen, rezitiert er
sichtbar konzentriert Halbsatz für Halbsatz. Er ver- Abb. 4: Laurent Chétouane/Heiner Müller,
zichtet dabei auf deutende Betonungen oder eine ei- Bildbeschreibung (2007)
gene Interpretation des Inhalts. Eine formale Über-
setzung des Textes wird vielmehr mit Blick auf Text und Aufführung steht nun eine zweite Ebene in-
den leeren Bühnenraum und im Bewegungsreper- termedialer Dramaturgie zur Seite: Wie reflektieren
toire des Darstellerkörpers ersichtlich. Bestimmten Dramatiker in ihrem Schreiben die intermediale
Bildsujets kann offensichtlich eine Bewegung oder Dramaturgie? Dies lässt sich mit Blick auf die Genese
eine Stellung im Raum zugeordnet werden. Der Zu- des Textes verdeutlichen. Neben einigen literarischen
schauer kann also sehen, dass es eine Entsprechung Prätexten diente Müller auch eine Bühnenbildskizze
des Textinhaltes mit der gewählten Form der Dar- und Szenen des Hitchcock-Thrillers The Birds (1963)
stellung gibt. Zugleich sieht er aber, dass sich dieses als Vorlage für Bildbeschreibung. Das bedeutet, be-
Stück Prosa gerade nicht in den Körper oder den reits die Genese des Textes ist, wie das Textgenre der
Raum überführen lässt. Der Raum erscheint immer Ekphrasis überhaupt, intermedial, nämlich zwischen
zuerst als Raum, der Tänzerkörper als Tänzerkörper. Schrift und (laufendem) Bild situiert. Man kann in
Das aber bedeutet, dass der Zuschauer verschie- dieser Form dramatischer Produktion also einen in-
dene Wahrnehmungskonventionen in dieser Auf- termedialen Einfluss ausmachen und entsprechend
führung aktivieren muss. Mal hört er die Rezitation von einer gewandelten Form des Dramas und der
von Literatur, mal sieht er tänzerische Bewegung, Dramaturgie unter dem Einfluss intermedialer Kon-
dann wieder sieht er bestimmte Bühnenhandlungen figurationen ausgehen. Konkret auf Müllers Stück
und Raumanordnungen, die man von der Perfor- bezogen heißt dies: Das Drama stellt eine intermedi-
mance Kunst her kennt. Die drei Wahrnehmungs- ale Kollision zwischen der literarischen Form einer
konventionen verschmelzen freilich nicht. Ganz Bildbeschreibung und der dramatischen Form eines
deutlich wird diese Trennung der Elemente, wenn es Monologs dar. Die Konsequenz dieser Kollision ist,
zu einer performativen Selbstreflexion der drei Ebe- dass dieses Drama nicht mehr handelt, weil es sich
nen von Text, Sprechen und Tanz kommt. Ein Wort auf die Suspension der Handlung im Bild einlässt.
des Textes, das Wort »Himmel«, figuriert als Objekt Hier haben wir es also nicht nur mit einer Dramatur-
auf der Bühne: in Form eines mit Kreide beschriebe- gie in Hinblick auf die Intermedialität der Auffüh-
nes Podest. rung zu tun, sondern umgekehrt auch mit dem Ein-
Der Tänzer nun richtet dieses Podest, welches fluss von Intermedialität auf das Konzept des Dramas
den Inhalt »Himmel« trägt, in dem Moment auf, da als Handlung und damit der Dramaturgie selbst.
der Text das Sprechen des Wortes »Himmel« ver-
langt. Es kommt zur dreifachen Ansprache: Der Zu-
schauer liest das Wort auf der Tafel, zugleich hört er Literatur
den Tänzer sprechen und sieht den Tänzer, der die Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch [1982]. Übers. u.
Tafel wie ein Demonstrationstransparent vor sich hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994.
hält. In diesem Moment bewirkt die intermediale Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized
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104 I. Begriffe und Konzepte

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1986. Wolf-Dieter Ernst
105

II. Annäherung an das Drama


in analytischer Perspektive

1. Grundelemente (1): Im Kontext des Dramas wird synonym zuweilen


auch der Begriff Charakter verwendet. Dies ist je-
Bausteine des Dramas doch verwirrend, da der Begriff umgangssprachlich
(Figur, Handlung, Dialog) für die psychische Wesensart eines Menschen steht.
Man könnte im Zusammenhang mit der Dramen-
Für die analytische Annäherung an das Drama sol- analyse allenfalls vom ›Charakter einer Figur‹ spre-
len zunächst seine elementaren Bausteine erläutert chen, um deren psychischen Eigenheiten zu be-
werden. Es sind dies die Figur, die Handlung und der schreiben. Der Terminus Person, der ebenfalls oft als
Dialog (vgl. Kafitz 1989, 12–40). Diese drei Elemente Synonym verwendet wird, umfasst hingegen zu viel,
kommen in den meisten Definitionen von Drama weil er die gesamten körperlich-seelischen Eigen-
(vgl. Kap. I.1) vor, doch weit wichtiger ist, dass sie schaften eines Menschen umfasst. Manfred Pfister
sich in nahezu jedem Drama direkt finden lassen begründet seine Wahl des Terminus Figur mit dem
oder ihr Fehlen als programmatisches Spiel mit den Hinweis, dass dieser deutlich mache, dass es sich
Konventionen deutlich markiert ist. eben nicht um eine psychische Entität, sondern um
Im Folgenden werden verschiedene Definitions- eine literarische Konstruktion handele (vgl. Pfister
versuche der drei Begriffe präsentiert und unter- 2001, 221 f.).
schiedliche Ausprägungen der Elemente erläutert. Abzugrenzen ist ferner der Terminus Rolle. Unter
Im Anschluss wird auf die Problematik ihrer wech- der Rolle wird derjenige Teil einer Figur verstanden,
selseitigen Bezogenheit eingegangen, welche wie- der bereits vor der Verkörperung durch den Schau-
derum auf die Definitionen rückwirken. spieler konzeptionell, gegebenenfalls schriftlich in
einem Drama, vorliegt. Die Rolle besteht aus einer
Auswahl von Eigenschaften, biografischen Angaben,
Haltungen und Verhaltensweisen, welche der Autor
1.1 Figur zur Charakterisierung zur Verfügung stellt. In dem
er sie spielt, ergänzt der Schauspieler die Rolle mit
1.1.1 Begriff seiner eigenen Person zu einer Figur (auf der
Bühne). Er verleiht ihr eine optische und akustische
Zuerst soll die Figur erläutert werden. Die Reihen- Erscheinung, ergänzt sie mit seinem Bewegungsre-
folge bedeutet aber keine Gewichtung der Elemente. pertoire und gestaltet sie durch Rhythmisierung und
Auch wenn es auf den ersten Blick scheinen mag, als Dynamisierung. Die Figur steht so in einem Span-
entstünden Handlung und Dialog stets aus den Fi- nungsverhältnis zwischen Rolle und Schauspieler.
guren, sind auch andere Akzentuierungen möglich. Anders ausgedrückt, ergibt sich die Figur aus der
Der Begriff Figur (lat. figura: Gestalt, Aussehen, Summe von Rolle und Schauspieler: Rolle + Schau-
Erscheinung) bezeichnet im Allgemeinen eine sinn- spieler = Figur. Im Falle eines bloß gelesenen und
lich wahrnehmbare Gestalt oder Form. In den Küns- nicht in einer Aufführung wahrgenommenen Dra-
ten steht er für eine Einheit innerhalb des künstleri- mas übernimmt die Vorstellungskraft des Lesers den
schen Ausdrucksmittels (z. B. rhetorische Figur, mu- Teil des Schauspielers. Er ergänzt die von Autoren
sikalische Figur, geschlossener Bewegungsablauf im zur Verfügung gestellten Informationen im Kopf zu
Tanz). Im Drama und im Theater meint er die im einer Figur: Rolle + Imagination = Figur.
Bühnengeschehen (re-)präsentierten Personen, ob Über die Mitarbeit des Schauspielers an der Figu-
sich diese nun schriftlich wie im gelesenen Drama renkonstruktion gibt es zwei grundlegend verschie-
oder körperlich im inszenierten Drama manifestie- dene Ansichten, welche sich im Laufe der Geschichte
ren. verändert haben, die jedoch beide auch heute noch
106 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

Vertreter finden. Einerseits wird die Arbeit des 1.1.2 Die dramatische Figur in der Geschichte
Schauspielers als Mithilfe bei der Kreation der Figur
gesehen, d. h. der Schauspieler wird zum Co-Autor Die Entstehung des Dramas kann im antiken Grie-
der Figur. Andererseits sind Verfechter der sog. chenland des 6. Jahrhunderts v. Chr. in den Wett-
Werktreue (vgl. Kap. II.7) der Meinung, dass der kämpfen der Tragödiendichter an den städtischen
Schauspieler die Intention des Dramatikers nie voll Dionysien (ab 535 v. Chr.) gesehen werden (vgl. Kap.
und ganz erfüllen kann, und so gewissermaßen ein III.2). Es soll jedoch betont werden, dass hier ledig-
Makel der Figur bedeutet. lich von der Entstehung des Dramas, also der litera-
Wie sich der Schauspieler der Rolle nähert, ist Ge- rischen Vorlage für ein Bühnengeschehen, die Rede
genstand der Schauspieltheorie: »Die Geschichte und ist. Die Frage nach dem Ursprung des Theaters im
Theorie der Schauspielkunst ist von der teilweise lei- Allgemeinen ist eine komplexere, die in diesem Kon-
denschaftlich geführten Auseinandersetzung zwi- text jedoch weniger von Belang ist (vgl. Kotte 2005,
schen Anhängern der erlebnismäßigen Einfühlung S. 233 ff.). Mit der Entstehung des Dramas ist auch
des Schauspielers in die Rolle und Befürworter der die Entstehung von Figuren im hier relevanten Sinne
kalkulierten Distanz zwischen Schauspieler und zu sehen. Während erst nur ein Erzähler, bzw. Sän-
Rolle geprägt« (Platz-Waury 1999, 88 f.). Im psycho- ger, und der Chor auf der Bühne waren, führte Ais-
logischen Realismus wurde von Regisseuren wie Sta- chylos den zweiten Schauspieler ein. Dies ermög-
nislawski ein realistischer Schauspielstil gefordert, lichte erstmals den Dialog zwischen zwei Figuren
welcher Figuren so darstellt, als wären sie Menschen auf der Bühne. Später führte Sophokles den dritten
aus unserer Wirklichkeit, psychologisch stringent, Schauspieler ein. Im Theater der Antike wurde jede
dynamisch und ›lebensecht‹. Brecht forderte im Ge- Figur von einer Maske markiert. Es war gut möglich,
gensatz dazu eine Distanz des Schauspielers zur dass diese Maske während einer Aufführung von
Rolle. So wird unweigerlich das Rollenspiel betont, verschiedenen Schauspielern getragen wurde, aber
da Schauspieler und Rolle nicht zu einer Einheit ver- stets dieselbe Figur darstellte. Die Formel wäre hier
schmelzen. Der Streit zwischen Vertretern der beiden also umzuformulieren: Rolle + Maske = Figur.
Extrempositionen existiert heute jedoch kaum noch; Aristoteles fordert für die Figuren, bei ihm »Cha-
vielmehr wird mit den zahlreichen Varianten zwi- raktere« genannt, vier Merkmale: Tüchtigkeit, Ange-
schen den beiden Polen gespielt. Theaterschauspieler messenheit, Ähnlichkeit und Gleichmäßigkeit.
oszillieren oft bewusst zwischen Rollenidentifikation Tüchtig können alle Personen sein, bei Sklaven und
und Rollendistanz, während sich für die Figurenge- Frauen sei es jedoch weniger angemessen. Ebenso
staltung in Film und Fernsehen ein psychologisch- sei bspw. nicht angemessen, wenn eine Frau »in der-
realistischer Darstellungsstil fast konkurrenzlos als selben Weise tapfer oder energisch ist wie ein Mann«
Norm durchgesetzt hat. (Poet. 1454a15). Mit Ähnlichkeit ist vermutlich ge-
Zur Leistung des Schauspielers und des Dramati- meint, dass sich die Figuren auf ähnlichem sittlichen
kers kommt die des Zuschauers, der die Figur inter- Niveau wie die Zuschauer befinden sollen. Unter
pretierend rezipiert und somit in seiner Wahrneh- Gleichmäßigkeit versteht Aristoteles eine charakter-
mung mitgestaltet. Gerade bei vielgespielten Klassi- liche Konstanz durch das ganze Drama hindurch.
kern führt diese zu einer Synthese im Gedächtnis des Wenn ein Charakter ungleichmäßig sei, dann solle
Rezipienten, welche neben der Rollenfigur aus ver- er dies wenigstens »auf gleichmäßige Weise« sein,
schiedenen bekannten Darstellungen der Figur be- also durchgehend schwankend (Poet. 1454a25).
steht. So hat ein regelmäßiger Theatergänger z. B. von In der Commedia dell’arte (auch Commedia itali-
Hamlet wahrscheinlich ein Bild im Kopf, welches sich ana) hingegen spricht man eher von Typen als von
aus dem Dramentext einerseits, aus verschiedenen Figuren. Sie trugen zwar Eigennamen, diesen waren
ihm bekannten bildlichen und szenischen Darstellun- jedoch jeweils klare Charaktereigenschaften zuge-
gen andererseits zusammensetzt (vgl. Carlson 2003). wiesen. So ist Arlecchino stets der naive, fröhliche
Es gilt also, »dass die F[igur] auf der Bühne nicht als Diener, Pantalone ein kränklicher, geiziger Reicher,
ontologische Einheit aufzufassen ist, sondern als Kon- Colombina die verführerische Magd. Bei solchen
strukt, welches sich erst in einem je spezifischen Ver- Typen dominieren die exemplarischen Charakter-
hältnis von Rolle und individuellem Schauspieler züge gegenüber einer individuellen Psychologisie-
konstituiert und durch die Wahrnehmung der Zu- rung. So werden ihre Handlungen von eindimensio-
schauer vollzogen wird« (Roselt 2005a, 105). nalen Neigungen geleitet. Natürlich gilt es zu beden-
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 107

ken, dass auch die Figuren der Commedia dell’arte Schauspielern eine distanzierte Spielweise. Sie sollen
von den jeweiligen Schauspielern individuell gestal- die Figuren zeigen, den Text zitieren, wirkliche Vor-
tet wurden. Die Komödien beruhten auf Szenarien, gänge wiederholen (Brecht 1967, 655). Diese nicht-
welche das Grundraster des Stückes vorgaben. Die einfühlende Spielweise ermöglicht Figuren, welche
einzelnen Szenen wurden improvisatorisch von den nicht hermetisch abgeschlossen sind. Von den Figu-
Schauspielern ausgearbeitet und mit eigenen Nuan- ren wird ausschnitthaft das gezeigt, was für die Aus-
cen versetzt. sage des Stückes wichtig ist. Brüche sind nicht nur
Noch schematischer konzipiert als die Typen sind erlaubt, sondern erwünscht als eines von vielen Mit-
Allegorien. Es handelt sich um Personifikationen von teln, um zu verhindern, dass sich der Schauspieler in
abstrakten Begriffen wie Tugenden, Laster, ›die Zeit‹ die Rolle einfühlt und den Zuschauer in einen Bann
oder ›der Tod‹. Sie können innerhalb eines Stückes zieht.
untereinander, mit Typen oder mit psychologisier- Die Linie des psychologischen Realismus brach
ten Figuren in Kontakt treten. Sie kommen vorwie- jedoch weder mit der Avantgarde noch mit Brecht
gend in den geistlichen Spielen des Mittelalters (vgl. ab, sondern lief parallel zu deren Bestrebungen wei-
Kap. III.4) vor, sind jedoch auch in der heutigen ter. So findet er sich auch in der gegenwärtigen Dra-
Dramatik vereinzelt anzutreffen (vgl. Pfister 2001, matik, wenn auch in neueren, weniger rigiden For-
244). men (z. B. Marius von Mayenburgs Eldorado, 2004),
Im Naturalismus und Realismus hatten die Figu- in dem realistische, relativ konventionelle Figuren in
ren psychologisch stringent, komplex und ›lebens- einem ungewöhnlichen Mix aus verschiedenen Gen-
nah‹ zu sein (vgl. Kap. III.11). Die Dramen lebten res auftreten). Der Wunsch von Regisseuren, Dra-
von den Figuren, ihren inneren Konflikten und psy- maturgen und Schauspielern nach plastischen,
chologischen Entwicklungen innerhalb des Stückes. schlüssigen Anlagen von Figuren in neuen Stücken
Paradebeispiele sind die Dramen Tschechows, in de- ist nach wie vor vorhanden (vgl. Kap. III.18).
nen die Handlung oft äußerst schnell nacherzählt ist, Doch es existieren darüber hinaus Dramen- und
deren Figuren und ihre Beziehungen untereinander Theaterformen, die mit anderen Figurenkonzepten
aber umso komplexer sind. Die Figuren haben einen operieren. Eine von vielen Tendenzen in der zeitge-
starken inneren Konflikt. Oft handelt es sich dabei nössischen Dramatik ist der weitgehende Verzicht
um einen Wunsch, dem sie aus gesellschaftlichen auf eine Figurenbezeichnung innerhalb des Textes.
oder intrinsischen Gründen nicht nachgehen kön- Theatertexte dieser Art bestehen aus Textflächen, al-
nen. lenfalls aus Repliken, kaum aber aus Situationen
Gegen ein solch realistisches Figurenkonzept oder Dialogen. Oft bleibt im Text selbst unklar, wer
wandte sich Edward Gordon Craig in den ersten gerade spricht. Die Repliken haben entweder gar
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Er postulierte: keine Zuteilung (z. B. in 4.48 Psychosis von Sarah
Schafft den schauspieler ab, und ihr schafft die mittel ab, Kane, 2000) oder aber diese wird lediglich mit Buch-
durch die ein unechter bühnen-realismus entstanden und staben oder Ziffern gekennzeichnet (z. B. in Kanes
in die blüte gekommen ist. Und nicht länger wird es auf der Crave, 1998). Diesen Textträgern fehlt nicht nur der
bühne lebendige wesen geben, die uns verwirren, indem sie Name, sondern auch das Geschlecht, der Ansatz ei-
kunst und realität vermischen, nicht länger wirkliche lebe-
ner Biografie und die klare Abgrenzung von ande-
wesen, an denen die schwachheit und das zittern des flei-
sches sichtbar sind. Der schauspieler muss das theater räu- ren. Es ist aber wichtig zu berücksichtigen, dass bei
men, und seinen platz wird die unbelebte figur einnehmen der Aufführung solcher Texte durch die Versinnli-
– wir nennen sie die übermarionette, bis sie sich selbst ei- chung durch den Schauspieler und die Wahrneh-
nen besseren namen erworben hat. (Craig 1908, 11) mung des Zuschauers trotzdem plastische Figuren
Auch Brecht (vgl. III.15) wandte sich von der rea- entstehen. Dasselbe gilt für das (postdramatische)
listischen Abbildung des Lebens auf der Bühne ab, in Theater, dem nicht einmal mehr ein vorgefertigter
dem er unter anderem die Figuren schematisch Text zugrunde liegt. Man denke hier zum Beispiel an
zeichnete. Oft tragen sie Namen, die bereits einen Christoph Marthalers Murx den Europäer! Murx
Hinweis auf ihre Charakterzüge oder ihre Funktion ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! (1993) an der Berliner
in der Gesellschaft geben (z. B. diverse Figurenna- Volksbühne. Trotz der Abwesenheit einer Handlung
men in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, 1941, im engeren Sinne und äußerst wenig Text entstehen
welche an Schlüsselfiguren des deutschen National- hier für den Zuschauer sehr wohl klar erkennbare
sozialismus erinnern). Zudem forderte er von seinen Figuren.
108 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

1.1.3 Statische und dynamische Figuren- 1.1.5 Konfiguration


konzeptionen
Im Gegensatz zur qualitativ beschreibenden Figu-
Grundsätzlich ist zwischen statischen und dynami- renkonstellation eines Dramenabschnitts hat die
schen Figurenkonzeptionen zu unterscheiden. Eine Konfiguration quantitativen Charakter (vgl. Pfister
statische Figur bleibt im Verlauf des Stückes bzw. der 2001, 237). Sie drückt aus, welche Figuren sich zu ei-
Aufführung hinsichtlich ihrer Eigenschaften gleich. nem bestimmten Zeitpunkt auf der Bühne befinden.
Möglicherweise verändert sich dabei aber die Wahr- Die Konfigurationsstruktur eines Stückes oder einer
nehmung dieser Figur aufgrund einer dosierten In- Aufführung kann tabellarisch übersichtlich darge-
formationsvergabe, bspw. weil einzelne Charakter- stellt werden, wobei die Zeilen die einzelnen Figuren
züge oder die biografische Vorgeschichte erst suk- und die Spalten die einzelnen Auftritte darstellen.
zessive preisgegeben werden, worauf der Rezipient Mit 1 kann die An- und mit 0 die Abwesenheit be-
die Taten oder Werthaltungen der Figur neu bewer- zeichnet werden, gegebenenfalls können anwesende,
tet. Eine dynamisch konzipierte Figur hingegen ver- aber inaktive oder stumme Figuren mit (1) markiert
ändert ihre Charaktermerkmale innerhalb des Stü- werden.
ckes oder der Aufführung; dies kann kontinuierlich Bei der Erarbeitung einer Inszenierung ist eine
(Wandel) oder sprunghaft (Umschwung) als logi- solche Übersicht für die Erstellung von Probenplä-
sche oder behauptete Konsequenz der Ereignisse ge- nen äußerst nützlich, aber sie hat auch bei der theo-
schehen. In der Komödie finden sich allgemein retischen Dramen- oder Aufführungsanalyse ihre
mehr statische Figuren, während in der Tragödie Funktion. Mit ihrer Hilfe kann auf einen Blick fest-
eher dynamische Figuren vertreten sind. Auch ha- gestellt werden, ob es konkomitante Figuren gibt,
ben Hauptfiguren eher eine Tendenz, dynamischer welche immer gemeinsam auf- und abtreten. Sie
zu sein als Nebenfiguren. weisen in jeder Spalte denselben Wert auf. Alterna-
tive Figuren hingegen haben in keiner Spalte eine 1
gemeinsam, da sie sich nie gleichzeitig auf der Bühne
1.1.4 Figurenkonstellation befinden. Eine Figur A dominiert über Figur B,
wenn A an jeder Konfiguration von B beteiligt ist
Unter Figurenkonstellation ist das Geflecht der Be- und darüber hinaus noch weitere Konfigurationen
ziehungen der Figuren untereinander zu verstehen. eingeht. Eine Figur, welche als einzige in allen Konfi-
Prinzipiell besteht dieses aus den positiven, negati- gurationen vorkommt, dominiert über alle übrigen
ven oder neutralen Einstellungen jeder Figur gegen- Figuren. Die szenische Distanz kann ermittelt wer-
über jeder anderen. Einige davon sind leicht zu um- den, in dem gezählt wird, in wie vielen Spalten zwei
schreiben: ›A liebt B‹, ›C ist die Tochter von D‹ oder Figuren eine unterschiedliche Ziffer aufweisen.
›E liegt im Streit mit F‹. Andere wiederum sind kom- Diese Zahl ist jedoch insofern nicht sehr aussage-
plexer und müssen detaillierter umschrieben wer- kräftig, da es sich bei den Spalten ja nicht um gleich-
den. Figurenkonstellationen lassen sich mit einer mäßige Zeitabschnitte handelt, sondern um Auf-
Grafik übersichtlich darstellen: Die Figurenbezeich- und Abtritte einzelner Figuren. Es kann also sein,
nungen werden hierbei je nach Gruppierung ange- dass zwei Figuren zwar nur in wenigen Konfigurati-
ordnet und ihre Beziehungen mittels unterschiedli- onen gemeinsam auf der Bühne sind, dies jedoch
cher, beschrifteter Verbindungslinien dargestellt. So zeitlich einen großen Teil des Stückes ausmacht. Die
können z. B. Protagonist und Antagonist ins Zent- Konfigurationsdichte wird ermittelt, indem die An-
rum gestellt werden oder Figuren können nach Zu- zahl der mit 1 besetzten Tabellenzellen durch die
gehörigkeit zu Konfliktparteien optisch gruppiert Gesamtzahl der Zellen dividiert wird. Wenn sämtli-
werden. che Figuren dauernd auf der Bühne anwesend sind,
Betont werden muss, dass sich Figurenkonstella- beträgt die Konfigurationsdichte 1 (vgl. Pfister 2001,
tionen in den allermeisten Fällen im Laufe des Stü- 236–240).
ckes verändern. Es müssen also für ein Stück meh-
rere solche Grafiken erstellt werden, oder aber eine,
die den zeitlichen Verlauf berücksichtigt.
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 109

1.1.6 Charakterisierung Figur mit der Art und Weise, wie sie über sich selbst
spricht, bereits wieder implizit charakterisiert;
Die konkrete Art, wie die einzelnen Figuren charak- ebenso eine Figur, die über eine andere spricht (Pfis-
terisiert werden, hängt zwar einerseits vom gewähl- ter 2001, 250–264).
ten Figurenkonzept ab, andererseits aber hat jedes In der szenischen Darstellung treten explizit-auk-
Figurenkonzept bezüglich der Charakterisierungs- toriale Techniken zugunsten der implizit-figuralen
techniken einen gewissen Spielraum (Pfister 2001, tendenziell in den Hintergrund. Für den Zuschauer
252). Die Figuren können entweder auktorial cha- ist kaum unterscheidbar, welche Informationen zu
rakterisiert werden, wenn der Autor dem Rezipien- einer Figur vom Dramatiker stammen, welche vom
ten direkt Informationen über eine Figur vermittelt, Umsetzungsteam, welche intendiert und gestaltet
oder figural, wenn die Information von der Figur sind, und welche von z. B. körperlichen Gegebenhei-
bzw. dem Wechselspiel der Figuren ausgeht. Bei der ten des Schauspielers her stammen, bewusst oder
auktorialen Charakterisierung ist zwischen explizi- unbewusst eingesetzt (»Hinkt die Figur oder hat der
ter und impliziter zu unterscheiden. Die explizit- Schauspieler auf dem Weg zum Theater einen Miss-
auktoriale Charakterisierung findet im Nebentext tritt gemacht?«).
statt, einerseits in Personenbeschreibungen im Per-
sonenverzeichnis (so sind schon Geschlecht, Alter
und sozialer Stand wichtige Merkmale bei der Figu- 1.1.7 Gestus
rencharakterisierung) oder in den Regieanweisun-
gen, andererseits durch deutlich sprechende Namen Entscheidend für die Wahrnehmung einer Figur in
(z. B. »Gottlieb Biedermann« in Frischs Biedermann der Aufführung ist außerdem der Gestus des Schau-
und die Brandstifter). Die implizit-auktoriale Cha- spielers. Dieser von Brecht geprägte Begriff bezeich-
rakterisierung geschieht z. B. durch Namensgebung, net einen »Komplex einzelner Gesten der verschie-
die zwar realistisch ist, jedoch auch einen charakteri- densten Art zusammen mit Äußerungen, welcher ei-
sierende Wirkung hat (z. B. die orientalisierenden nem absonderen Vorgang unter Menschen zugrunde
Namen wie Selim Bassa oder Osmin in Mozarts Ent- liegt und die Gesamthaltung aller an diesem Vor-
führung aus dem Serail, 1782). Eine weitere, wichti- gang Beteiligten betrifft (Verurteilung eines Men-
gere Form der implizit-auktorialen Charakterisierung schen durch einen anderen Menschen, eine Bera-
ist die Gegenüberstellung von korrespondierenden tung, einen Kampf und so weiter) oder einen Kom-
oder kontrastierenden Figuren. Dabei werden Figu- plex von Gesten und Äußerungen, welcher, bei
ren entweder gleichzeitig oder nacheinander in eine einem einzelnen Menschen auftretend, gewisse Vor-
ähnliche Situation gestellt. Der Rezipient nimmt ihre gänge auslöst  … Ein Gestus bezeichnet die Bezie-
unterschiedlichen Reaktionen wahr, welche wiede- hungen von Menschen zueinander« (Brecht 1970,
rum zusätzlich von den Figuren selbst thematisiert 92). Der Gestus beschreibt also eine Haltung gegen-
werden können oder auch nicht. über einem Vorgang oder einem Thema, welche ver-
Den auktorialen stehen die figuralen Charakteri- bal und/oder nonverbal geäußert wird. Diese kann
sierungstechniken gegenüber, welche auf der Ebene einerseits von der Figur, ebenso aber auch vom
der agierenden Figuren angesiedelt sind. Implizit Schauspieler selbst zum Ausdruck gebracht werden,
gibt eine Figur außersprachlich (körperliche Eigen- wobei die beiden Haltungen nicht übereinstimmen
schaften, Gestik, Mimik, Maske, Kostüm) und müssen. Brecht schlug einen zeigenden Gestus vor,
sprachlich (Stimmqualität, Dialekt, Soziolekt, bei dem sowohl dem Schauspieler wie auch dem Zu-
sprachliches Verhalten) viel über sich preis. Explizit schauer stets klar ist, dass die Handlung gezeigt und
kann sie das als Eigenkommentar im Dialog oder nicht durchlebt wird. Dieser Gestus trägt dazu bei,
Monolog tun, in dem sie über sich selbst spricht. Sie den theatralen Charakter der Situation immer wie-
kann jedoch auch von einer anderen Figur in einem der in Erinnerung zu rufen.
Dialog oder Monolog charakterisiert werden
(Fremdkommentar). Dies kann jeweils in An- oder
Abwesenheit der entsprechenden Figur geschehen 1.1.8 Schauspieler und Figur
und bevor oder nachdem der Rezipient die Figur
selbst kennengelernt hat. Bei der explizit-figuralen Wie eingangs erwähnt, trägt der Schauspieler in der
Technik ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich eine Inszenierung in hohem Maße zur Figurenkonstruk-
110 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

tion bei. Er beeinflusst mit seinem Körper, seinem sich über die verschiedenen Rollen erstreckt. Diese
Schauspielstil und seinem Gestus die Charakterisie- Bühnenfigur präsentiert dann je nach Stück eine
rung, aber auch die grundlegende Figurenkonzep- andere Rollenfigur. Ein Beispiel eines solchen
tion. Ein einfühlender, veristischer Stil erzeugt eine Schauspielers ist Josef Bierbichler (z. B. Die Kopien,
andere Figurenbeschaffenheit als etwa eine clow- Schaubühne Berlin 2003; John Gabriel Borkmann,
neske Überzeichnung. Schaubühne Berlin 2008).
Es ist das Spannungsfeld zwischen Rolle und (po- Am entgegengesetzten Ende der Skala gibt es aber
tenziellem) Aus-der-Rolle-Treten, welches eine immer auch eine Tendenz, den Anteil des Schauspie-
Hauptattraktion des Theaters ausmacht. Zu unter- lers an der Figur möglichst klein zu halten. Diese Li-
schiedlichen Zeiten war die Tendenz zu den beiden nie ist bereits in den Theorien Craigs und der Avant-
Polen unterschiedlich stark. Während z. B. Stanis- garde zu sehen. Interessanterweise wendeten sich
lawski ein einfühlendes Spiel forderte, verlangte beide gegen den realistischen Schauspielstil.
Brecht die sichtbare Distanz von Schauspieler und
Rolle. Eine solche Distanz erfordert immer auch ein
Erkennbarwerden des Schauspielers selbst, da seine
Person zwangsläufig zum Vorschein kommt, wenn 1.2 Handlung
er sich von der Rolle entfernt. Diese Linie hat sich im
Theater der Gegenwart stark entwickelt und ver- 1.2.1 Begriff
schiedene Ausprägungen angenommen. Das Aus-
der-Rolle-Treten wurde in unterschiedlichen Thea- Schon die Tatsache, dass der Begriff Drama vom alt-
terformen gang und gäbe. Schauspieler wenden sich griechischen Wort dran für Handlung stammt (vgl.
direkt an das Publikum und kommentieren mehr Kap. III.2.1), weist auf die Wichtigkeit der Handlung
oder weniger privat das Bühnengeschehen, die Figu- als grundlegendem Element des Dramas hin. Hand-
ren oder ihre eigene Arbeitsweise. Bei dieser Spiel- lungen können zwar Gegenstand aller Literaturgat-
weise sind für den Zuschauer zwei Figuren wahr- tungen sein, doch nur im Drama, bzw. im Theater,
nehmbar: die fiktive Figur innerhalb des Stückes und schaut der Rezipient direkt den agierenden Figuren
das, was der Zuschauer als ›Privatperson‹ des Schau- zu. Zwar kann es vorkommen, dass diese Figuren
spielers identifiziert. Letztere kann aber ebenso fiktiv eine bestimmte Handlung ›bloß‹ nacherzählen, in-
sein wie Erstere. Ebenso wie die Figuren im Drama dem sie davon berichten, doch in diesem Fall kann
vom Autoren konstruiert sind, können solche ver- der Akt des Erzählens selbst als Tätigkeit, also als
meintlichen Privatpersonen vom Schauspieler und Handlung aufgefasst werden, da er ja auf der Bühne
Regieteam konstruiert und im Vorfeld festgelegt vollzogen wird, statt als relativ statischer, passiver li-
werden. Der Schauspieler vertritt möglicherweise terarischer Text vorzuliegen, wie in der Epik oder
unter seinem Namen Meinungen und Haltungen, Lyrik (vgl. Kap. I.4).
die sich nicht vollständig mit seinen eigenen decken. Wenn man Handlung in diesem Sinne bloß als
Ähnlich verhält es sich bei jenen Theaterformen, bei Tätigkeit auffasst, gibt es keinen Zweifel, dass Thea-
denen die Akteure nur unter ihrem eigenen Namen, ter stets Handlung aufweist. Der Mensch tut immer
also ›als sie selbst‹ auftreten. Je nach Intention und irgendetwas, auch wenn er bloß dasitzt. Der Begriff
Fähigkeiten kann das Verhalten des Akteurs zwi- wird jedoch in der Dramenanalyse wie in der Thea-
schen ganz privat und gespielt oszillieren; wichtig ist terwissenschaft auf unterschiedliche Weise verwen-
nur, dass der Zuschauer es als privat wahrnimmt. det. Unter Handlung wird meist die Abfolge von Ge-
Beim Heraustreten aus der Fiktion begibt sich der schehnissen verstanden, welche den zeitlichen Ver-
Akteur auf dieselbe Realitätsebene wie der Zu- lauf eines Stückes kennzeichnen, oder nach Lessing
schauer. Der Zuschauer kann die verhandelten Hal- eine »Verknüpfung von Begebenheiten« (Lessing
tungen und Probleme nicht als ›nur Theater‹ abtun, 1786, 215).
sondern wird direkt mit ihnen konfrontiert.
Das Zeigen der Figur im Brechtschen Sinne lässt
sich vielleicht am leichtesten bei jenen (Star-) Schau- 1.2.2 Geschichte und Fabel
spielern erkennen, welche sich von Rolle zu Rolle
nicht groß unterscheiden, sondern stets sehr ähnlich Pfister führt den Begriff Geschichte ein, da dieser li-
spielen. Sie kreieren so eine Bühnenfigur, welche teraturtheoretisch weit weniger vorgeprägt sei (Pfis-
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 111

ter 2001, 268). Für eine Geschichte fordert er das Deutschland beriefen sich bspw. Martin Opitz und
Vorhandensein »eines oder mehrerer menschlicher Johann Christoph Gottsched im Kampf gegen Thea-
bzw. anthropomorphisierter Subjekte, einer tempo- terformen, die ohne Textgrundlage auskamen, auf
ralen Dimension der Zeiterstreckung und einer spa- diese Regeln. Diese Aneignungen basierten teilweise
tialen Dimension der Raumausdehnung« (Pfister auf problematischen Übersetzungen und Deutungen
2001, 265). Die Geschichte ist jedoch nicht auf der einzelner Schlüsselbegriffe, die sich teils bis heute
Ebene der Darstellung situiert, sondern auf der halten. So wurde z. B. in der französischen doctrine
Ebene des Dargestellten. Auf der Ebene der Darstel- classique aus Aristoteles’ Forderung nach der Einheit
lung entspricht ihr die Fabel. Im Vergleich zur Ge- der Handlung das System der drei Einheiten von
schichte beinhaltet die Fabel bereits einen gestalte- Handlung, Ort und Zeit (vgl. Kap. III.8).
ten Aufbau. Die einzelnen Elemente sind hinsicht-
lich einer intendierten Wirkung strukturiert und
gestaltet. Diese Struktur wird Dramaturgie genannt 1.2.3 Stückfabel vs. Spielfabel
(vgl. Kap. I.3).
Im Englischen werden für die Begriffe Geschichte Ferner ist in der Dramenanalyse zwischen Stückfa-
und Fabel story und plot verwendet, zwei Begriffe, bel und Spielfabel zu unterscheiden. Die Stückfabel
die insbesondere im Bereich des Films, oft auch im ist die Fabel, die allein aus dem Stücktext gezogen
Deutschen, verwendet werden. Fabel und plot ent- werden kann, d. h. die Geschichte, wie sie das Drama
sprechen dem Begriff Mythos bei Aristoteles, wobei erzählt. Die Spielfabel ist die Fabel, die von der Insze-
dieser den Mythos nicht nur als wichtigstes Element nierung eines Dramas erzählt wird. Ein Drama be-
der Tragödie erachtete, sondern auch normative Re- sitzt also so viele Spielfabeln wie Inszenierungen,
geln für seine Beschaffenheit formulierte (Poet. weil hier aus der im literarischen Text vorliegenden
1449b 30 ff.). So soll der Mythos abgeschlossen sein, Stückfabel durch Regieentscheidungen und die kon-
d. h. Anfang, Mitte und Ende haben, und eine ange- krete Darstellung der Schauspieler eine eigenstän-
messene Größe aufweisen, d. h. einen übersichtli- dige Spielfabel entsteht. Streng genommen muss
chen, aber genügend großen Umfang, so dass sich man sogar feststellen, dass die von den Produzenten
ein Umschlag vom Glück ins Unglück oder vom Un- erstellte Spielfabel sich nie genau decken wird mit
glück ins Glück vollziehen kann. Der Mythos soll in der Spielfabel, die jeder einzelne Rezipient nacher-
sich eine Einheit bilden, also nichts beinhalten, des- zählen würde, weil dessen individuelle Wahrneh-
sen Fehlen keine Folgen hätte. Außerdem formu- mung jeweils zu einer eigenständigen Spielfabel
lierte Aristoteles inhaltliche Regeln: Der Mythos führt.
solle einen Wendepunkt (Peripetie) enthalten, bei Doch was, wenn das Drama oder die Inszenie-
dem das Angestrebte ins Gegenteil umschlägt; ferner rung gar keine Geschichte erzählt? Nicht immer lässt
eine Wiedererkennung (Anagnorisis), bei der der sich eine Handlung im engeren Sinn erkennen.
Held entscheidendes Wissen erfährt; sowie ein Nicht immer kann von einer Konfliktentfaltung zwi-
schweres Leid (Pathos) (vgl. Kap. I.2.4). schen verschiedenen Figuren die Rede sein, welche
Diese Forderungen waren schon zu Aristoteles’ für die temporale und spatiale Dimension des Ge-
Zeiten keine empirische Beschreibung, sondern eine schehens sorgen würden. Es gibt Dramen, die nicht
idealtypische Forderung, so dass man sie historisch mit einer Fabel nacherzählt werden können. Und
betrachten muss. So finden sich in der Dramen- und doch wird dort immer auch gehandelt. Wie Gesine
Theatergeschichte eine Fülle von Formen, die kei- Danckwart schreibt: »Nichthandlungen lassen sich
neswegs diesen Regeln folgen. Nicht erst Brecht, der sehr schlecht nacherzählen, und doch passiert etwas.
sein Theater explizit »antiaristotelisch« nannte, ver- Es wird getan« (Danckwart 2009, 302). Dieses Tun
wendete diesen Regeln entgegengesetzte Prinzipien kann auch »Handeln« oder »Handlung« genannt
(vgl. Kap. III.15). Schon christliche Passions- und werden, wenn mit der Verwendung des Begriffs
Osterspiele im Mittelalter etwa hatten episodenhaf- nicht ein kausal-logischer Ablauf mit Anfang, Mitte
ten Charakter. Auch in der Folgezeit finden sich eine und Ende impliziert wird. Der Begriff bezeichnet
Reihe von Theater- und Dramenformen, deren dann »die Art und Weise, mit der Akteure körperli-
Struktur keineswegs aristotelisch war. Erst mit der che Äußerungen im Rahmen einer Aufführung voll-
Französischen Klassik gewinnt Aristoteles’ Poetik ziehen« und wird »als Synonym für die kinästheti-
für das europäische Drama normative Bedeutung: In schen, gestischen, mimischen und stimmlichen Ak-
112 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

tionen des Schauspielers verwendet« (Gronau 2005, kritischer Weise, indem sie zugleich mit ihr und ge-
136). gen sie arbeiten« (Poschmann 1997, 97).
Viele solcher nicht fabelorientierten Theaterfor- Monologische Theatertexte (auch Monodramen
men enthierarchisieren die Mittel des Theaters. Sie genannt), wie bspw. Patrick Süskinds Der Kontrabaß
sehen den Text als ein den übrigen Mitteln Gleich- (1989), stehen an der Schwelle zwischen Nutzung
wertiges. Die andern Mittel wie Musik, Bewegung, und Überwindung der dramatischen Form, denn
Raumgestaltung oder Licht sind dem Text nicht un- dadurch, dass durch das Fehlen einer binnenfiktio-
tergeordnet, sondern haben selbst gestalterische nalen Kommunikation die äußere in den Vorder-
Aussagekraft. Seit Lehmanns Prägung des Begriffes grund tritt, haben sie immer eine episierende Struk-
werden diese Formen als »postdramatisches Thea- tur. Ohne den Zuschauer käme es nicht zu der für
ter« bezeichnet, obwohl sie natürlich weit vor dem die theatrale Situation konstitutiven kommunikati-
Begriff schon existierten (vgl. Lehmann 1999) (vgl. ven Konstellation.
Kap. I.6). Theatertexte, welche die dramatische Form über-
winden, verzichten mitunter vollständig auf Narra-
tion und Figuration, wobei bei ihrer Inszenierung,
1.2.4 Nicht-dramatische Theatertexte wie bereits erwähnt, dennoch zu einem gewissen
Grad Figuren entstehen. Diese sind jedoch vom Text
Andererseits existieren auch Theaterformen, welche allein nicht vorgegeben. Ein prominentes Beispiel ei-
zwar keine Fabel aufweisen, aber sehr wohl einen ner Überwindung der dramatischen Form ist El-
Text als Grundlage haben. Gerda Poschmann spricht friede Jelineks Wolken.Heim (1988). Außerdem exis-
von »nicht mehr dramatischen Theatertexten« tieren viele Mischformen von Texten, die nicht
(Poschmann 1997). Sie unterscheidet grundsätzlich durchgehend einem Typus zuzuordnen sind.
zwischen Theatertexten, welche die dramatische Mit Blick auf solche nicht-dramatische Theater-
Form nutzen, etwa solchen, welche sie kritisch nut- texte und das postdramatische Theater wird deut-
zen: monologischen Theatertexten; Mischformen lich, dass die Handlung im Sinne einer Fabel nicht
und solchen, welchen die dramatische Form über- mehr als konstitutives Element für theatrale Ereig-
winden. Zu denen, die die dramatische Form nut- nisse bestimmt werden kann, weil sich viele Theater-
zen, gehören all jene Texte, die klar identifizierbare formen einer solchen Bestimmung entziehen. Ver-
Figuren und eine narrative Handlung aufweisen. steht man Handlung aber nicht als Fabel, sondern als
Dabei beruht die »Verständigung mit dem Publikum Geschichte (Pfister), als die Art und Weise, wie sich
[…] wesentlich auf der traditionellen Theaterkon- die Schauspieler (bzw. anthropomorphisierte Sub-
vention des ›als ob‹« (Poschmann 1997, 66). jekte) auf der Bühne verhalten, so kann der Begriff
Die dramatische Form kritisch zu nutzen, bedeu- für alle Theaterformen verwendet werden.
tet, »sie sich nicht als selbstverständliche Konven-
tion des Theaters dienstbar zu machen, sondern sich
ihrer als einer heute fragwürdigen […] Vereinba- 1.2.5 Geschehen und Situation
rung zwar zu bedienen, sie dabei jedoch als solche
zugleich bewußt zu machen, von innen heraus zu Ebenso uneinheitlich wie Handlung wird der Begriff
hinterfragen, zu demontieren« (Poschmann 1997, Geschehen verwendet. Meistens wird er für Bestand-
88). Diese Dramen unterscheiden sich auf den ersten teile der Geschichte verwendet, in denen die Figuren
Blick nicht eindeutig von jenen, die die dramatische nicht handlungsmächtig sind, d. h. nicht in der Lage
Form problemlos nutzen. Sie weisen narrative und sind, die Situationen zu verändern. Solche statischen
figurative Elemente auf, doch die dargestellte Ge- Situationen können nur durch eine Intervention von
schichte ist nicht mehr eindeutig zu erschließen und außen oder das Hinzutreten neuer Figuren verändert
tritt zugunsten ihrer Wirkung in den Hintergrund. werden (vgl. Platz-Waury 1999, 108; Pfister 2001,
Dies ist bei Metadramen sowie beim absurden und 270 f.). Anz hingegen definiert allgemeiner Gesche-
epischen Theater der Fall (vgl. Kap. III.13.6 sowie hen als »Veränderung einer bestehenden Situation A
III.15). »Zentral ist dabei nicht mehr die szenische zu einer neuen Situation B« (Anz 2007, 127). Und ein
Darstellung einer Fiktion, sondern die Autoreflexion Geschehen gelte dann als Ereignis, wenn es beson-
des Theaters. Brecht und die Absurden nutzen glei- ders folgenreich sei, also die Unterschiede zwischen
chermaßen die traditionelle dramatische Form in Situation A und Situation B erheblich seien.
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 113

Die Situation ergibt sich aus der »Gesamtheit der schen Theaters wird oft auch von ›Brüchen‹ gespro-
im Moment gegebenen Umstände« (Kotte 2005, chen.
209), welche durch die Antwort der ›5 W’s‹ (Wer, Die Bestimmung von Vorgängen und Drehpunk-
Wann, Was, Wo, Warum) erschlossen werden kann. ten ist ein wichtiges Instrument der Dramen- und
Die Ausgangssituation schließt die Gegebenheiten Aufführungsanalyse. Sie ermöglicht erst die genaue
ein, die zu Beginn des Dramas oder des theatralen Beschreibung der Handlung auf der Bühne oder im
Ereignisses vorzufinden sind. Im theatralen Kontext Dramentext. Insbesondere im nicht-dramatischen
ist zu unterscheiden zwischen der Situation auf der Theater ist die Beschreibung einzelner Vorgänge es-
fiktiven Ebene der Repräsentation und der außer- senziell, da keine übergreifende Fabel erstellt werden
theatralen Situation, welche die Akteuren und Zu- kann. Dabei können Vorgänge sowohl in der Mikro-
schauer einschließt. Erstere ist im Stücke und/oder struktur einzelner Abschnitte bestimmt werden wie
der Inszenierung zu suchen. Ihr Wahrnehmungs- auch in der Makrostruktur eines ganzen Dramas
subjekt und wahrnehmendes Objekt befinden sich oder einer Aufführung. Die Festlegung und Gewich-
beide innerhalb der repräsentationalen Fiktion des tung der Drehpunkte und Vorgänge ist außerdem
Dramas. Letztere beschreibt die vorliegende thea- eine der wichtigsten Vorarbeiten einer Dramen-
trale Situation an sich. Diese tritt besonders dann in inszenierung. So kann bestimmt werden, welche
den Vordergrund, wenn die Anliegen der Theater- Dynamik das Stück haben soll, mit welchem Grund-
macher nicht primär über die fiktionale Ebene kom- gestus gespielt wird und welche Themen, Geschich-
muniziert werden oder eine solche gar nicht exis- ten und Anliegen ins Zentrum gerückt werden sol-
tiert. Besonders bei interaktivem Theater, sowie len.
wenn seitens der Zuschauer eine Unklarheit über die (Pfister nennt dass, was wir eben »Vorgang« ge-
Rahmung des Geschehens besteht, vermischen sich nannt haben, »Handlung«, was zwar mit der Ver-
die außertheatrale Situation und die der fiktionalen wendung des Begriffes im Alltag korrespondiert, je-
Ebene in der Wahrnehmung. doch der Verwendung des Begriffes im literarischen
Kontext als »Verknüpfung von Geschehnissen« wi-
derspricht. Für diese Verwendung führt er den Be-
1.2.6 Vorgänge und Drehpunkte griff »Handlungssequenz« ein, welche in mehrere
Handlungsphasen gegliedert werden kann (Pfister
Eine Handlung kann in einzelne Vorgänge aufgeteilt 2001, 269). Diese Terminologie ist jedoch wegen der
werden, wobei ein Vorgang eine Aktion und den Verwechslungsgefahr nicht zu empfehlen.)
Gestus, mit dem diese durchgeführt wird, beinhaltet
(vgl. Kotte 2005; Kotte 2009). Die Aussagen von Ak-
tion und Gestus können sich widersprechen und in 1.2.7 Vermittlung der Handlung
Kombination als Vorgang eine dritte Bedeutung er-
halten. Wie aus den vorangehenden Ausführungen deutlich
Drehpunkte bezeichnen Wendungen im Gesche- geworden ist, kann Handlung ganz unterschiedlich
hen. Im dramatischen Theater können sie die Fabel vermittelt werden. Sie kann unmittelbar im Hier und
in eine neue Richtung lenken, im nicht-dramati- Jetzt stattfinden, wie im Fall von Theaterereignissen
schen den Gesamtverlauf des Abends einer Wende mit stark performativem Charakter. Oder sie ist fik-
zuführen. Entsprechend ihrer Auswirkung können tiv und wird durch ihre szenische oder narrative
Drehpunkte nach Figuren-, Szenen- oder Fabel- Darstellung repräsentativ vermittelt. Sie kann also
bzw. Handlungsdrehpunkten unterschieden werden. präsentiert oder repräsentiert werden. Zu bemerken
Bei einem Figurendrehpunkt ändert sich aufgrund ist, dass auch im zweiten Fall neben der fiktiven
eines Ereignisses das Denken oder Handeln einer Handlung durch die Tatsache, dass die Aufführung
einzelnen Figur. Bei einem Szenendrehpunkt schlägt hier und jetzt stattfindet und dafür ein Handeln nö-
die Beziehung der beteiligten Figuren um. Hat ein tig ist, stets auch eine performative Handlung vor-
Figuren- oder ein Szenendrehpunkt so starke Aus- handen ist. Diese liegt jedoch in diesem Fall tenden-
wirkungen, dass die gesamte Handlung in einer ziell nicht im Vordergrund.
neuen Richtung verläuft, so kann von einem Hand- Außerdem kann eine Handlung szenisch darge-
lungsdrehpunkt (oder Fabeldrehpunkt) gesprochen stellt oder narrativ vermittelt werden. Man spricht
werden. Insbesondere im Kontext des postdramati- von offener oder verdeckter Handlung (vgl. Pfister
114 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

2001, 276.). Die narrative Vermittlung wird oft ge- 1.2.8 Haupt- und Nebenhandlung
nutzt, wenn eine Handlung nicht szenisch darstell-
bar ist, weil dies aus technischen, räumlichen oder Obwohl die Begriffe Haupt- und Nebenhandlung
personellen Gründen nicht möglich ist oder wenn eine klare Abgrenzung und Hierarchisierung sugge-
ihre Darstellung auf offener Bühne gegen gesell- rieren, kann diese in der Dramenanalyse nicht ein-
schaftliche Tabus verstieße. Doch die verdeckte deutig vorgenommen werden. Auch wenn bei vielen
Handlung hat nicht nur Ersatzfunktion, sie kann Dramen durch strukturelle Merkmale bestimmbar
auch in einer programmatischen, dramaturgischen ist, welche Handlung im Zentrum liegt und welche
Entscheidung begründet liegen. dieser bloß zuarbeiten oder eine unterhaltende
Eine narrative Präsentation ist, im Vergleich zur Funktion haben, kann dies auf der Ebene der Spiel-
szenischen, immer figurenperspektivisch geprägt. fabel eine radikale Umdeutung erfahren.
Vermittelt wird hier nicht allein die Handlung, son- Hinzu kommt, dass in vielen zeitgenössischen
dern auch die Haltung der Figur dieser gegenüber. (dramatischen und nicht-dramatischen) Theatertex-
Zudem ist der Akt des Erzählens selbst auch wieder ten Haupt- und Nebenhandlungen nicht klar unter-
Handlung, da er durch eine Informationsvergabe die schieden werden können. Oft sind mehrere gleich-
stückimmanente Situation und/oder die theatrale wertige Handlungsstränge vorhanden, die sich nicht
Situation verändert. Gerade auch durch mehrfache oder kaum hierarchisieren lassen. Viel lohnenswer-
Präsentation von ein und derselben Handlung durch ter ist es, die Handlungen zu beschreiben und allen-
verschiedene Figuren und/oder ihre szenische Dar- falls graduell zu gewichten.
stellung können interessante Spannungsverhältnisse In diesem Sinne kann auch die von Gustav Frey-
aufgebaut und Charakterisierungen vorgenommen tag aufgestellte Forderung, für Dramen einen Span-
werden. nungsbogen mit einem Wendepunkt zu definieren
Verdeckte Handlungen können ›zeitlich ver- (vgl. Freytag 1993, 105–125; vgl. Kap. I.1), kaum rea-
deckt‹ sein, d. h. es wird von Vergangenem berich- lisiert werden. Es mag einige Dramen geben, für die
tet, das entweder vor dem Beginn der im Drama Einleitung, Steigerung, tragisches Moment, fallende
dargestellten Geschichte oder in der Zeit zwischen Handlung, Moment der letzten Spannung und Kata-
Fabelbeginn und aktueller Szene stattfand. Typisch strophe genau und in dieser Reihenfolge bestimmt
für die Darstellung solch verdeckter Handlungen ist werden können, für Aufführungen im Allgemeinen
der Botenbericht, bei dem ein (räumlich und zeitlich und unzählige Dramen ist dieses Schema jedoch
entferntes) Ereignis von einem Boten geschildert nicht haltbar.
wird.
Andere verdeckte Handlungen können nur
›räumlich verdeckt‹ sein, d. h. sie sind zum Zeit-
punkt des Erzählens zwar für den Erzähler, nicht 1.3 Dialog
aber für den Theaterzuschauer sichtbar. Kleist nutzt
dies als zentrales Stilmittel in Penthesilea (1808), 1.3.1 Begriff
wenn das Kampfgeschehen ausführlich dargestellt
wird. Er erstattet gewissermaßen ›live‹ Bericht von Der Begriff Dialog stammt vom griechischen diálo-
einem Geschehen, das hinter, neben oder vor der gos, was Wechselrede oder Unterhaltung bedeutet.
Bühne stattfindet. Narrative Passagen dieser Art Ein Dialog findet zwischen zwei oder mehreren Per-
werden Teichoskopie (›Mauerschau‹) genannt nach sonen statt und unterscheidet sich somit definito-
einer Episode in Homers Illias (Buch 3, Vers 121– risch vom Monolog, bei dem nur eine Person spricht
244), in der Helena von der trojanischen Mauer aus (Einzelrede, Selbstgespräch).
Priamos die Haupthelden der Achäer zeigt. Der Dialog hat einen ähnlichen Status als definie-
Im Monodrama oder Monolog ist der Anteil der rendes Grundelement des Dramas wie Figur und
verdeckten Handlung sehr hoch. Durch das Fehlen Handlung (vgl. Kafitz 1989, 32–40), einige Theoreti-
eines Spiel- und Dialogpartners (auf der Bühne) und ker sehen in ihm auch das Spezifikum der Gattung
der narrativen Grundstruktur fällt die Vorausset- Drama schlechthin (vgl. Kap. I.1), obwohl es eine
zung für zahlreiche offene Handlungen weg. Reihe von Texten gibt, die ohne Dialog im eigentli-
chen Sinn auskommen. Auch wenn eine solche
Grundsätzlichkeit problematisch ist, kann verallge-
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 115

meinernd gesagt werden, dass das Drama diejenige Platzhalter, um auf jene erotischen Handlungen und
Gattung ist, bei der der größte Teil der Informations- Momente der Sinnlichkeit hinzuweisen, für die ihm
vergabe in Dialogen stattfindet. Gemeint sind hier keine Sprache zur Verfügung stand (vgl. Kafitz 1993,
vorläufig die Dialoge innerhalb des Textes oder der 192).
Aufführung, nicht also die Kommunikation zwi- Der Stil der dramatischen Sprache kann zwischen
schen Werk und Rezipienten, die im Moment der höchst stilisierter Kunstsprache (bspw. in Versform)
Rezeption jeder Literaturform stattfindet. Der Dia- und Alltagssprache sein, wobei auch die ästhetische
log ist dasjenige der drei Grundelemente, welches Überformung der stilisierten Sprache von den Figu-
unvermittelt wahrgenommen wird. Figur und ren zumeist nicht thematisiert wird; für die fiktive
Handlung können nur über die sprachliche und au- Welt der Bühne ist diese Sprache dann die Norm. Es
ßersprachliche Kommunikation, im weitesten Sinne gibt auch Dramen, in denen die Figuren auf ganz un-
also den Dialog, vermittelt werden. terschiedlich gestaltete Arten sprechen. In diesen
Fällen gibt die individuelle Sprache Auskunft über
den Charakter, den Bildungsstand oder die soziale
1.3.2 Dramatische Sprache Herkunft der Figuren. Ein Beispiel dafür ist Büch-
ners Woyzeck (1875), wo an den umgangssprachli-
Geht man vom schriftlichen Drama aus, so ist die chen Repliken der einzelnen Figuren ihr sozialer
Sprache, zum größten Teil in Form von Dialogen, Status wie auch ihre Charakter (z. B. Woyzecks
der Träger von Informationen und wird durch Ängstlichkeit) hörbar werden.
Handlungsanweisungen und Beschreibungen des Die dramatische Sprache befindet sich in einer
Nebentextes ergänzt. Im Dialog drücken die Figuren widersprüchlichen Situation. In der Regel wird hier
ihre Haltungen gegenüber Ereignissen und Personen Sprache aufgeschrieben, die dann auf der Bühne
aus, sie verhandeln Konflikte, beschreiben Situatio- wieder laut gesprochen werden soll. Diese Überset-
nen und charakterisieren dabei immer auch implizit zung von einem Medium in ein anderes färbt die
sich selbst bzw. einander. Sprache immer. Oft wird diese Färbung bewusst ein-
Geht man jedoch vom inszenierten Drama oder gesetzt und die Sprache wird künstlerisch gestaltet,
von Aufführungen ohne Textgrundlage aus, ist die wobei dies mehr oder weniger auffällig geschehen
Verbalsprache nur für einen Teil der Informations- kann. Wenn die Sprache möglichst natürlich, mög-
vergabe verantwortlich. Viele Informationen werden lichst ›lebensecht‹ klingen soll, wird versucht, diese
über Gesten und physische Handlungen transpor- Färbung minimal zu halten. Es gilt also zu bedenken,
tiert. Hier muss also bei der Analyse auch der dass die Sprache im Drama immer eine künstliche
schweigende Teil des Dialogs berücksichtigt werden, ist, es sei denn der Theatertext bestünde aus einer
der in der reinen Dramenanalyse gemeinhin nur Collage aus Gesprächsprotokollen wie dies z. B. beim
dann bemerkt wird, wenn er etwa durch die Regie- Stück Der Kick (2005) von Gesine Schmidt und And-
anweisung »schweigt« explizit thematisiert wird. res Veiel oder anderen dokumentarischen Stücken
Doch im theatralen Ereignis wird anteilsmäßig pro der Fall ist (vgl. Kap. III.16). Doch auch dieser ›na-
Kopf insgesamt sehr oft mehr geschwiegen als ge- türliche‹ Text wird in der Inszenierung von jeman-
sprochen. Während eine Figur spricht, sind die an- dem gesprochen, der selber andere Worte oder eine
deren meistens still. Und zwischen Repliken und Di- abweichende Satzstruktur wählen würde. Es entsteht
alogabschnitten gibt es stille Handlungen. Wie ge- in der Aufführungssituation also wieder eine artifi-
schwiegen wird, ist entscheidend. Ob einer als zielle Situation.
Antwort auf die Replik ›Verzeih mir!‹ zum Kuss an-
setzt oder sich abwendet und geht, entscheidet es-
senziell über den weiteren Verlauf der Handlung. 1.3.3 Inneres und äußeres Kommunikations-
Beides kann schweigend geschehen und muss trotz- system
dem als Teil des Dialogs gewertet werden. Einige
Dramatiker haben versucht, diese Momente jenseits Bei der Analyse der dramatischen Sprache sollte
des Sprechens durch Interjektionen (das berühmte also ihrem artifiziellen Charakter stets Rechnung
Kleistsche »Ach«) oder durch die Interpunktion zu getragen werden. Außerdem hat der Dialog im
markieren: So nutzt etwa Grillparzer in Die Jüdin Drama die Besonderheit, dass sich in ihm zwei
von Toledo (1872) den langen Gedankenstrich als Kommunikationssysteme überlagern. Einerseits
116 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

kommunizieren die Figuren des Dramas im inneren 1.3.4 Polyfunktionalität der dramatischen
Kommunikationssystem untereinander. Sie teilen Sprache
sich ihrem Gegenüber auf der binnenfiktionalen
Ebene mit, so wie wir uns im Alltag mit unseren Vor dem Hintergrund dieser doppelten Kommuni-
Mitmenschen unterhalten. Andererseits dient die- kationsstruktur muss die Polyfunktionalität der dra-
ser Dialog letztlich der Kommunikation zwischen matischen Sprache genauer betrachtet werden. Wie
der Inszenierung, d. h. dem Autor, dem Regisseur, Sprache dies immer tut, erfüllt sie bereits im inneren
dem Schauspieler bzw. dem Theaterteam, und dem Kommunikationssystem mehrere Funktionen
Zuschauer. Dieses äußere Kommunikationssystem gleichzeitig. Mit einer Replik kann eine Figur Infor-
ist der Grund, weshalb das theatrale Ereignis statt- mationen vermitteln, Gefühle zum Ausdruck brin-
findet und somit Existenzgrund für das innere gen, eine andere Figur zu einer Handlung motivie-
Kommunikationssystem. ren, eine Frage stellen usw. Gleichzeitig kann eine Fi-
Unterschiedliche Theaterformen verschränken gur innerhalb des inneren Kommunikationssystems
die beiden Kommunikationssysteme auf unter- mithilfe der Sprache soziale Positionen festigen und
schiedliche Weise. Das innere Kommunikationssys- sich und andere charakterisieren. Dies alles kann di-
tem kann im Sinne der ›vierten Wand‹ vom Zu- rekt und wörtlich geschehen oder aber verschlüsselt
schauer vollkommen abgeschlossen sein. Autoren in Anspielungen und Bildern. Die innere Kommuni-
wie Ibsen, Strindberg oder Tschechow wollten die Il- kation des Theaters funktioniert also im Wesentli-
lusion eines möglichst hermetisch abgeschlossenen chen analog zur Kommunikation im realen Alltag.
Mikrokosmos erzeugen und vermieden jegliche Ein- Darüber hinaus erhält jede Replik eine Funktion
bezugnahme des Publikums; hier bleibt die Absolut- im äußeren Kommunikationssystem, denn alle
heit des Dramas (vgl. Kap. II.6) gewahrt. Andere sprachlichen Äußerungen im inneren Kommunika-
Theaterformen durchbrechen die innere Kommuni- tionssystem dienen zugleich der Informationsver-
kation, indem sie auf das Publikum Bezug nehmen. gabe für den Leser/Zuschauer. Diese deckt sich nicht
Dies geschieht durch direkte Ansprache oder indi- in jedem Fall mit der Informationsvermittlung des
rekter durch monologische Abschnitte. Auch eine inneren Kommunikationssystems in demselben Mo-
distanzierte Haltung des Schauspielers gegenüber ment, vielmehr kann es zu charakteristischen Asym-
der Rolle oder dem Geschehen ist eine Form der metrien kommen. Mit dramatischer Ironie wird
Kommunikation des äußeren oder »vermittelnden bspw. die Situation bezeichnet, in der eine auf der
Kommunikationssystems« (Platz-Waury 1999, Bühne gesprochene Replik für das Publikum eine
61 ff.). Solche Brechungen der Illusion vermitteln andere Bedeutung hat als für die Figuren, weil das
Haltungen des Theaterteams zum Gespielten und Publikum über einen Informationsvorsprung ver-
heben dessen Fiktivität hervor. Eine besondere Kon- fügt. Es gibt aber auch die Konstellation, in der die
vention der Publikumsansprache stellen Prolog und Figuren über mehr Wissen verfügen als das Publi-
Epilog dar. Hier wird vor oder nach dem zentralen kum (Informationsrückstand des Zuschauers).
Bühnengeschehen eine Ansprache ans Publikum ge- Diese Lücke kann entweder durch epische Publi-
halten, welche das Geschehen kommentiert. Eine kumsansprachen gefüllt werden oder die Informa-
solche Ansprache kann in der Rolle, als Kommentar tion muss, wenn die Theaterform epische Momente
einer Figur, oder als ›Privatperson‹, als Kommentar nicht vorsieht, dialogisch vermittelt werden.
des Schauspielers, erfolgen. Ebenso wichtig wie die konkret in Repliken ent-
Die direkte Ansprache an das Publikum kann ent- haltene Information ist jene Informationsvermitt-
weder als Improvisation in der konkreten Auffüh- lung, die über die Form der Repliken, also über die
rungssituation erfolgen oder für bestimmte histori- Sprachgestaltung erfolgt. Die Art und Weise wie eine
sche Epochen zum konstitutiven Moment der Gat- Figur sich über eine Tatsache ausdrückt, sagt im
tung werden bzw. eine eigene Gattung, wie das Kontext des Dramas oft mehr aus, als die Tatsache
Nachspiel (vgl. John 1991), begründen. Die Rah- selbst, weil dank der Figurenperspektive die Aussage
mung der Aufführung durch Pro- bzw. Epilog dient immer auch zur Charakterisierung der Figur bei-
oftmals der Einstimmung des Publikums sowie der trägt.
Etablierung der theatralen Situation, wie man bei- Pfister hat die unterschiedlichen Funktionen der
spielhaft an Shakespeares A Midsummer Night’s dramatischen Sprache im Anschluss an Roman Ja-
Dream (1595/96) erkennen kann. kobsons Katalog der Sprachfunktionen folgender-
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 117

maßen beschrieben: Durch die referenzielle Funktion den Texten des absurden Theaters (z. B. Becketts
wird Handlung oder Geschehenes narrativ, also rein Warten auf Godot, 1953) ist die phatische Funktion
sprachlich dargestellt. Wenn sich diese referenzielle stark.
Funktion primär im äußeren Kommunikationssys- Die metasprachliche Funktion des Dialogs tritt
tem manifestiert, hat die Rede epischen Charakter. dort in den Vordergrund, wo die Sprache selbst zum
Die expressive Funktion verweist auf den Sprecher Thema wird. Dies geschieht im inneren Kommuni-
selbst zurück und ist besonders im äußeren Kom- kationssystem bspw. da, wo Missverständnisse auf-
munikationssystem von Belang. Im Drama wird eine geklärt oder thematisiert werden. Ebenso kann eine
Figur zu einem großen Teil »durch die Wahl ihrer Figur auf eine Ausdrucksweise des Dialogpartners
Redegegenstände, durch ihr sprachliches Verhalten implizit oder explizit Bezug nehmen. Oft macht sie
und durch ihren Sprachstil« charakterisiert (Pfister sich damit über das Gegenüber lustig. Im äußeren
2001, 156). Da der Zuschauer nicht direkt am Dialog Kommunikationssystem hat der Dialog dann eine
beteiligt ist, sondern die Situation von außen be- metasprachliche Funktion, wenn das Drama bzw.
trachtet, zielt die expressive Funktion nicht unmit- das Theater an sich thematisiert werden. Dies ge-
telbar auf ihn. schieht z. B. implizit, wenn mit theatralen Konventi-
Die appellative Funktion hat v. a. im inneren Kom- onen gespielt oder gebrochen wird. Das Theater und
munikationssystem eine große Wichtigkeit. Im seine Eigenheiten können aber auch explizit in epi-
Sinne des argumentativen Charakters des dramati- schen Reden thematisiert werden.
schen Dialogs versuchen Dramenfiguren oft, ihre Die poetische Funktion der Sprache realisiert sich
Dialogpartner in ihrer Haltung umzustimmen, sie dann, wenn die Beschaffenheit der Sprache selbst
zu beeinflussen oder zu einer Handlung zu überre- das Hauptinteresse des Textabschnittes beansprucht.
den. Je nach Hierarchie der Figuren kann eine appel- Diese Funktion kommt in den meisten Fällen nur im
lative Rede auch die Form eines Befehls annehmen. äußeren Kommunikationssystem zum Tragen. Poe-
Die appellative Funktion der Sprache ist deshalb im tisch gestaltete Dialoge werden nur in sehr seltenen
Theater so wichtig, weil sie stets eine Situation ver- Fällen von den Figuren selbst bemerkt bzw. themati-
ändert. Geht der Dialogpartner auf die Aufforde- siert.
rung oder den Umstimmungsversuch ein, so läuft Es gilt noch einmal zu betonen, dass Textpassagen
die Handlung in eine neue Richtung. Verweigert er nie nur eine Funktion innehaben, sondern dass sich
dies jedoch, entsteht ein Konflikt. Weniger vorder- stets mehrere Funktionen überlagern. Damit unter-
gründig ist die appellative Funktion im äußeren, ver- scheidet sich der dramatische Dialog noch nicht von
mittelnden Kommunikationssystem. Obwohl es Dialogen im Alltag oder von narrativen Texten. Die
durchaus theatrale Ereignisse gibt, die eine explizit Besonderheit des dramatischen Dialogs manifestiert
appellative Funktion haben, z. B. Lehrstücke und sich darin, dass zwischen dem äußeren und dem in-
Thesendramen, fordern die meisten keine klare Um- neren Kommunikationssystem eine Funktionsver-
stimmung oder Handlung. Anders ist es natürlich schiebung stattfindet.
bei theatralen Ereignissen mit interaktivem Charak-
ter. Hier wird das Publikum explizit zu einer Hand-
lung aufgefordert und muss sich dafür oder dagegen 1.3.5 Aktionaler vs. nicht-aktionaler Dialog
entscheiden.
Die phatische Funktion dient der Herstellung und Im aktionalen Dialog vollzieht sich mit jeder Replik
Aufrechterhaltung der Kommunikation. Sie hat v. a. situationsveränderndes Handeln. Hier werden also
im äußeren Kommunikationssystem eine hohe mit jeder Replik im inneren Kommunikationssys-
Wichtigkeit. Der Autor oder das Theaterteam müs- tem Informationen vergeben, welche die Situation
sen dem Leser oder Zuschauer ja einen Anreiz ge- für die Figuren verändern. Beim nicht-aktionalen
ben, bei der Sache zu bleiben. Doch auch im binnen- Dialog hingegen wird »nicht unmittelbar handlungs-
fiktionalen Kommunikationssystem hat die phati- bezogen ein Thema entfaltet« (Pfister 2001, 196).
sche Funktion oft einen sehr hohen Stellenwert. Da Hier werden im äußeren Kommunikationssystem
der Dialog im Drama nicht nur Träger von Informa- Informationen an den Zuschauer weitergegeben.
tionen ist, sondern oft der Dialog selbst bzw. seine Die Informationsvergabe ändert die Situation für die
Unmöglichkeit Thema ist, wird auf der Bühne oft Figuren jedoch nicht, was bei einem Informations-
zum Selbstzweck kommuniziert. Insbesondere in rückstand des Publikums bzw. dessen Behebung der
118 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

Fall ist. Doch auch Kommentare oder Witze fallen in lermeisten Fällen zweifellos beantwortbar. Das
den Bereich des nicht-aktionalen Dialogs, wenn zweite, strukturelle Kriterium hingegen ist nur gra-
diese ans Publikum gerichtet sind. Im absurden The- duell zu bewerten. Ob eine Rede einen genügend
ater (vgl. Kap. III.13.6) wird der Dialog, so Peter großen Umfang habe und wirklich eine innere Ge-
Szondi mit Blick auf Beckett, so sehr der Handlungs- schlossenheit aufweise, ist nur mit ›eher ja‹ oder
dimension entkleidet, dass er zur reinen Konversa- ›eher nein‹ zu beantworten.
tion wird (vgl. Szondi 1963, 87–90). Aktionale und Es gilt zu bemerken, dass der Monolog sich eher
nicht-aktionale Dialogteile liegen jedoch immer als eine Sonderform des Dialogs darstellt denn als
sehr nahe beieinander und können nur in der Theo- völlig eigenständige Kategorie, denn die dramatische
rie klar getrennt werden. In der Praxis stellt sich der Rede ist immer an ein Gegenüber gerichtet, auch
Sachverhalt eher als graduelle Skala zwischen den wenn dies in manchen Fällen das eigene Ich oder das
beiden Reinformen dar. Wann eine Replik situati- Publikum ist. Auch ein Subjekt des äußeren Kom-
onsverändernd ist, ist eine Ermessensfrage. munikationssytems kann ein (wenn auch stummer)
Wie hoch der Anteil an eher aktionalem oder Dialogpartner sein. Dies soll hier deshalb erwähnt
nicht-aktionalem Dialog ist, ist eine Frage des Gen- werden, weil sich der Monolog sprachlich nicht
res. Im analytischen Drama, z. B. in Sophokles‹ Kö- zwingend vom Dialog abhebt.
nig Ödipus (434 v. Chr.), ändern zahlreiche der Rep-
liken die Situation für die Figuren. Während der
Sachverhalt Schritt für Schritt aufgedeckt wird, er- 1.3.7 Monologhaftigkeit und Dialoghaftigkeit
halten sie Informationen, welche ihre Haltungen ge-
genüber den andern Figuren oder dem Geschehenen Die beiden Definitionskriterien des Monologs lassen
verändern. In nicht-dramatischen Theatertexten sich beibehalten, wenn man nach dem situativen
hingegen ist der Anteil an eher aktionalem Dialog Kriterium entscheidet, ob eine Textpassage ein
eher klein, was angesichts der relativen Unwichtig- Mono- oder Dialog sei, und eine Skala hinzunimmt,
keit von Handlung in solchen Texten nicht verwun- die nach dem strukturellen Kriterium die Monolog-
derlich ist. haftigkeit oder Dialoghaftigkeit einer Rede bestimmt.
Die Anwendung beider Kriterien in Kombination
kann also zu dialogischen Monologen oder monolo-
1.3.6 Monolog gischen Dialogen führen (Pfister 2001, 180–219).
Um die strukturelle Skala sinnvoll anwenden zu
Schwerer als der Begriff Dialog ist Monolog zu defi- können, muss die Bedeutung der relativen Abge-
nieren. Der Monolog wird im Allgemeinen durch schlossenheit geklärt werden. Nach Jan Mukařovský
zwei Kriterien vom Dialog abgehoben: »(1) das situa- kommt es bei Dialogen »an den Übergängen der ein-
tive Kriterium der Einsamkeit des Sprechers, der zelnen Repliken zu scharfen semantischen Rich-
seine Replik als Selbstgespräch an kein Gegenüber tungsänderungen« (Mukařovský 1967, 117). Man
auf der Bühne richtet, und (2) das strukturelle Krite- kann also sagen, dass eine Textpassage umso dialogi-
rium des Umfangs und des in sich geschlossenen Zu- scher sei, je häufiger und heftiger semantische Rich-
sammenhangs einer Replik« (Pfister 2001, 180). Das tungsänderungen auftreten. »Eine störungsfreie
erste Kriterium schließt also längere Einzelreden in Zwei- oder Mehrwegkommunikation zwischen zwei
Anwesenheit anderer Figuren, wie z. B. Botenbe- oder mehreren Figuren, die zueinander in einem
richte, aus, das zweite jedoch schließt sie ein, da sie Verhältnis der Polarität und Spannung stehen, in ih-
meist einen längeren Umfang als Dialogrepliken ha- ren Repliken ständig aufeinander Bezug nehmen
ben und in sich geschlossen sind. Im Englischen wer- und aufgrund prinzipieller Gleichberechtigung ein-
den die beiden Fälle klar unterschieden: soliloquy be- ander jederzeit unterbrechen können, so dass sich
zeichnet das Selbstgespräch ohne Adressaten, mono- eine ausgewogene quantitative Relation ihrer Repli-
logue eine in sich geschlossene Einzelrede. ken ergibt« (Pfister 2001, 182), wäre hiernach ein
Das situative Kriterium ermöglicht eine eindeu- idealtypischer dialogischer Dialog.
tige Zuordnung. Ob eine Figur alleine auf der Bühne Beim dialogischen Monolog ist die Textpassage
ist, bzw. sich alleine wähnt oder während der Rede einer sich alleine auf der Bühne befindenden Figur
von den andern Figuren keine Notiz nimmt, ist – zu- zugeordnet, die darin mehrere Standpunkte ein-
mindest in der konkreten Inszenierung – in den al- nimmt, etwa in dem sie, im Sinne eines ›inneren
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 119

Dialogs‹, einen inneren Konflikt aus verschiedenen oder zu einem imaginierten Subjekt (eine Gottheit,
Perspektiven ausbreitet, sich an ein imaginiertes Ge- ein Verstorbener, das Schicksal) spricht. Das mono-
genüber oder das Publikum wendet. logische Beiseite hat den Charakter des ›lauten Den-
Auf der gegenüberliegenden Seite der Skala liegt kens‹ und wird nur in seltenen Fällen von den übri-
die Monologhaftigkeit. Während im sehr monologi- gen Figuren partiell oder vollständig wahrgenom-
schen Monolog wenig Spannung liegt und er somit men bzw. thematisiert.
im Drama nur über kurze Strecken vorkommen Mit einem Beiseite kann aber auch das Publikum
wird, ist der monologische Dialog ein facettenreich ganz direkt angesprochen werden. Diese Repliken
eingesetztes Stilmittel. ad spectatores durchbrechen das binnenfiktionale
Auch kann von einem monologischen Dialog ge- Kommunikationssystem und erfüllen eine epische
sprochen werden, wenn es aufgrund eines vollstän- Vermittlungsfunktion. Es kann damit z. B. ein Infor-
digen Konsenses zwischen den am Dialog beteilig- mationsvorsprung des Publikums geschaffen wer-
ten Figuren zu keinen semantischen Richtungsände- den, indem eine Figur eine Tat ankündigt, wie etwa
rungen kommt. Man spricht zuweilen auch von die Titelfigur aus Shakespeares Richard III. (1597) in
einem ›Monolog in verteilten Rollen‹. Sarah Kanes ihrem Auftrittsmonolog. Es kann aber auch eine In-
4.48 Psychosis hat über weite Stellen diese dramatur- formationslücke geschlossen werden, indem eine Fi-
gische Struktur, wie auch die Diskurs-Stücke von gur den Zuschauer über eine den Figuren bekannte
René Pollesch (vgl. Kap. III.18). Ein solcher mehr- Vorgeschichte informiert. Oder aber eine Figur
stimmiger Monolog ist dadurch erkennbar, dass die drückt eine Meinung aus, welche die übrigen Figu-
Zuordnung der Sprecher zu den Repliken vertauscht ren nicht erfahren sollten. Das Beiseite ad spectatores
werden kann, ohne dass sich die Bedeutung des Dia- schafft eine gewisse ›Komplizenschaft‹ zwischen Zu-
logs wesentlich verändern würde. schauer und Figur (vgl. Pfister 2001, 195).
Auch können die Beteiligten eines Dialogs in Ein Beiseite-Sprechen muss aber nicht immer
Wechselrede beziehungslose Reden halten. Sie wech- monologisch von einer Figur alleine erfolgen. Eine
seln sich zwar ab, ihre Repliken beziehen sich jedoch Gruppe von Figuren kann sich auch konspirativ
nur auf die vorangehenden eigenen, nicht auf die der über andere unterhalten oder sich gemeinsam ans
Gesprächspartner. Nach Pfister kann dies auf gestör- Publikum wenden.
ter Kommunikation durch physische oder psychi-
sche Kommunikationsunfähigkeit oder -willigkeit
der Beteiligten beruhen. Durch Missverständnisse 1.3.9 Chor
reden die Dialogpartner aneinander vorbei. Solche
Dialoge könnten auseinandergerissen und die Repli- Der Chor nimmt im dramatischen Dialog eine Son-
ken der einzelnen Figuren gebündelt werden und derposition ein. Er stand in der griechischen Antike
man würde dabei stringente Monologe erhalten. Al- am Beginn der europäischen Dramengeschichte und
lerdings kann es sich auch – jenseits solcher ›realisti- verschwand dann weitgehend zugunsten von indivi-
scher‹ Deutungen um ein Stilmittel handeln, wie im duellen Figuren. Doch immer wieder wurde der
absurden Theater. Chor von einzelnen Autoren in ihren Stücken einge-
Ein monologischer Dialog ist auch vorhanden, setzt und übernahm dabei unterschiedliche Funkti-
wenn eine Figur eine Textpassage klar dominiert. onen. In der deutschen Klassik wurde er als Sprach-
Die übrigen Dialogpartner beteiligen sich zwar spär- rohr des Dichters aufgefasst. Der Dichter wiederum
lich mit Zwischenfragen oder -rufen, worauf der wurde aufgefasst als »idealisierter Zuschauer«, der
Redner aber weitgehend nicht eingeht. als Sprecher der gesamten Menschheit agiert (Schle-
gel 1966, 64 f.). In der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts wurde der Chor, auf Aristoteles rekurrie-
1.3.8 Beiseite-Sprechen rend, als Mitspieler eingesetzt und behandelt, jedoch
als einer, der in die Handlung nicht eingreift und
Das Beiseite-Sprechen nimmt eine Sonderstellung vom Konflikt nicht direkt betroffen ist. Es folgten
im dramatischen Dialog ein. Es kann als monologi- eine Reihe Inszenierungen, die »den Ch[or] als un-
sches Beiseitesprechen stattfinden, indem der Spre- entschieden oder statisch geführte, kollektiv mur-
cher sich der Gegenwart anderer Figuren auf der melnde Gruppe von Schauspielern von meist älteren
Bühne bewusst ist, jedoch trotzdem zu sich selber Männern oder Frauen« realisierten (Hass 2005, 50).
120 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

Im Gegenwartstheater rückt der Chor wieder ver- 1.4.2 Figur – Handlung


stäkt in den Vordergrund und erhält eine größere
Variationsbreite der Haltungen und vielfältigeren Der Zusammenhang zwischen den Figuren und der
Ausdrucksspielraum. Als Regisseur und Theoretiker Handlung eines Dramas wurde oft und kontrovers
schenkte Einar Schleef dem Chor schließlich maxi- diskutiert. Es existierte in der Geschichte ein regel-
male Aufmerksamkeit und setzte ihn auf unter- rechter Rangstreit zwischen den beiden. Aristoteles
schiedliche Weise ein. Ein Beispiel ist seine Inszenie- hielt explizit die Handlung für wichtiger: »Der wich-
rung von Jelineks Ein Sportstück 1998 am Wiener tigste Teil ist die Zusammenführung der Gescheh-
Burgtheater, bei dem der Einsatz des Chores zur nisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von
Hauptsache das Verschwinden des Individuums in Menschen, sondern von Handlungen und von Le-
der Masse symbolisierte (vgl. Baur 1999). benswirklichkeiten« (Poet. 1450a15 f.). Zahlreiche
Autoren der Neuzeit schufen im Gegensatz dazu
aber Charakterdramen, so z. B. Shakespeare (Hamlet,
1602; Othello, 1604) oder Molière (Der Geizige, 1668;
1.4 Interdependenzen der Der eingebildete Kranke, 1673). Das Primat der
elementaren Bausteine Handlung oder der Figuren blieb eine umkämpfte
Variable. Sie hängt historisch stark vom Welt- und
1.4.1 Dialog – Figur Menschenbild der jeweiligen Zeit ab (zum histori-
schen Wandel vgl. Kafitz 1989, 13–21).
Wie eingangs erwähnt, beeinflussen und bedingen Jenseits von dieser Dominanzfrage gilt es festzu-
sich die drei Elemente Figur, Handlung und Dialog halten, dass die Elemente Figur und Handlung defi-
im schriftlichen und im inszenierten Drama wech- nitorisch bereits voneinander abhängen. Eine Hand-
selseitig. Die Wirkung des einen schlägt sich nieder lung braucht stets ein ausführendes Subjekt. Eine Fi-
in der Wirkung der beiden andern. Eine generelle gur agiert immer auf eine Art und Weise, führt also
Hierarchie kann nicht definiert werden, denn sie eine Handlung aus. Die unterschiedliche Gewich-
hängt vom Autor (oder Theaterteam) und seinem tung schlägt sich in den Formulierungen der ver-
Konzept der drei Begriffe ab. schiedenen Definitionen nieder (vgl. Werling 1989,
Betrachtet man die Interdependenz von Dialog 34 ff.).
und Figur von der Seite des Rezipienten, so stellt
man fest, dass der Dialog maßgeblich die Wahrneh-
mung einer Figur bestimmt. Beim gelesenen Drama 1.4.3 Handlung – Dialog
überwiegt der dialogische Anteil meist den Anteil
des Nebentextes, in der Regel sind es v. a. die Repli- Mit den Interdependenzen von Handlung und Dia-
ken, die die Figuren chakterisieren. Im inszenierten log kann im Drama selbst, insbesondere aber in sei-
Drama kommt der Schauspieler als wichtiger Mitge- ner Inszenierung gespielt werden. Ob die Aktion
stalter der Figur dazu; sein Körper und sein gesti- mit dem Gesagten übereinstimmt oder ihr entge-
sches Repertoire sind ebenso wichtige Figurenge- genläuft, hat maßgebliche Auswirkungen auf den
stalter wie der Inhalt des Gesprochenen. Gestus eines Vorgangs. Die sprachliche Aussage
Wenn man das Verhältnis von Dialog und Figur kann je nach Handlung eine neue Bedeutung erhal-
jedoch vom Autor her betrachtet, so stellt man fest, ten. Zudem kann eine Handlung, wie wir gesehen
dass es im Grunde die Figur ist, welche die Beschaf- haben, auch rein über den Dialog vermittelt wer-
fenheit des Dialogs steuert. Je nach dem wie ein Au- den, wenn sie nicht dargestellt werden kann oder
tor eine Figur darstellen will, wird er den Dialog ge- soll. Im Gegensatz dazu gibt es Textpassagen, die
stalten. scheinbar unabhängig von der Handlung stehen
Die Gestaltung der Sprache wirkt sich aber nicht (z. B. Witze oder Kommentare). Der Bezug zur
nur auf die Beschaffenheit der einzelnen Figuren Handlung wird jedoch vom Rezipienten hergestellt.
aus, sondern überhaupt auf die generelle Figuren- Die Aussage steht auch hier im Kontext von Hand-
konzeption eines Dramas. Der Dialog entscheidet lung und Dialog. Außerdem verweisen solche nicht-
mit, ob die Figuren mehrdimensionale, realistische handlungsbezogenen Reden stets auf die Figur zu-
Menschen mit Biografie darstellen sollen oder ledig- rück, was sich wiederum im Verlauf der Handlung
lich Träger von Textflächen. niederschlägt.
1. Grundelemente (1): Bausteine des Dramas (Figur, Handlung, Dialog) 121

Der Bezug von Handlung und Dialog verändert Gronau, Barbara: »Handlung«. In: Fischer-Lichte, Erika/
sich auch in jenen Theatertexten, welche keine Dia- Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon
Theatertheorie. Stuttgart/Weimar 2005.
loge im engeren Sinn, sondern eher Textflächen oder Hass, Ulrike: »Chor«. In: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch,
einen dramatischen Diskurs präsentieren. Hier ist Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theater-
bei einer Inszenierung bei der Findung der körperli- theorie. Stuttgart/Weimar 2005.
chen Handlung umso mehr Kreativität gefordert, da John, David G. The German Nachspiel in the Eighteenth
der Dialog keine Handlung im engeren Sinn bein- Century. Toronto u. a. 1991.
Kafitz, Dieter. Grundzüge einer Geschichte des deutschen
haltet, sondern lediglich eine Argumentationslinie Dramas von Lessing bis zum Naturalismus. Frankfurt
oder Diskursentwicklung, welche den zeitlichen a. M. 21989.
Verlauf kennzeichnet. Kafitz, Dieter. »Die subversive Kraft der Sinnlichkeit in
Es wird also klar, dass die elementaren Grund- Franz Grillparzers ›Die Jüdin von Toledo‹. In: Zeitschrift
für deutsche Philologie 112 (1993), 188–214.
bausteine des Dramas Figur, Handlung und Dialog Korthals, Holger: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Bei-
ein Dreiecksverhältnis bilden. Die Gestaltung des ei- trag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin
nen wirkt sich unmittelbar auf die Gestaltung der 2003.
anderen zwei aus. Die einzelnen Bausteine können Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft. Eine Einführung. Köln
zwar unterschiedlich gewichtet werden, es kann je- 2005.
Kuba, Alexander: »Geste/Gestus«. In: Fischer-Lichte,
doch auf keines der drei verzichtet werden. Ebenso Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler
können Figur, Handlung und Dialog nie vollkom- Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar 2005.
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122 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

2. Grundelemente (2): tungen, sondern auch in anderen Medien realisiert


sind: im Roman ebenso wie in Film und Fernsehse-
Formprinzipien der drama- rie, und selbst digitale Computerspiele stützen sich
turgischen Komposition auf dramatische Grundmuster. Brenda Laurel emp-
fahl bereits in der Pionierzeit des Game-Design ge-
Auf den ersten Blick erscheint die kompositorische rade Aristoteles’ Poetik sowie die Wirkungsmecha-
Formgebung des Dramas wenig kompliziert, sofern nismen der griechischen Tragödie als Pflichtstu-
man darunter die Verknüpfung der im vorangegan- dium für jeden angehenden Dramatiker virtueller
genen Kapitel dargestellten Grundbausteine des Spielewelten (vgl. Laurel 1991). Dieser erweiterte,
Dramas versteht. Schon Aristoteles betonte entspre- auf Emil Staigers Auffassung des »Dramatischen« als
chend in seiner Poetik (vgl. Kap. I.2), dass (gemäß allgemeinem Stilprinzip der Herstellung von Span-
seines Primats des mythos) die Zusammenfügung nung zurückgehende Begriffsumfang (Staiger 1961,
von Geschehnissen als »der erste und wichtigste Teil 143 ff.) soll hier wieder gezielt im Hinblick auf kom-
der Tragödie« anzusehen sei, der gemeinsam mit der positorische Prinzipien von Theatertexten einge-
adäquaten Größe wesentlich zur Schönheit des Wer- grenzt werden. Es soll darum gehen, den Blick ge-
kes beitrage (Poet. 1450b21–25, 25). Bei aller Anti- rade auf jene Mittel und Strategien zu lenken, die
Aristotelik wird auch Brecht noch bestätigen: »Auf Drama in seiner theatralen Medialität auszeichnen:
die Fabel kommt alles an. Sie ist das Herzstück der als im Spiel der Aufführung vermittelte »plurimedi-
theatralischen Veranstaltung« (Brecht 1993, 92). Da- ale Darstellungsform« (Pfister 2001, 24), als »ge-
mit bleibt Drama als Kunstform verstanden, in der mischte Kunst« (Wellek/Warren 1972, 248), somit
»auf einem besonderen Raum von Rollenträgern ein als literarischer Text, der integraler Bestandteil einer
Geschehen agiert wird« (Kayser 1968, 170). Geht spezifisch szenischen Dynamik der zur fiktionalen
man aber von einem erweiterten Begriff des Thea- Interaktion »querstehenden« charakteristischen
tertextes aus (vgl. Poschmann 1997, 39–54) erschöpft »Theatron-Achse« ist (Lehmann 1999, 230).
sich die Komposition von Drama keineswegs mehr
allein in der Anordnung des chronologischen Hand-
lungsablaufs der story im dramatischen Verlauf des
plot, im Entwerfen dramatischer Spannungsbögen 2.1 Dramaturgische Analyse:
sowie der Entwicklung von Figurencharakteren. Drama als Handlung
Nicht allein die Vielfalt zeitgenössischer »nicht mehr
dramatischer Theatertexte«, so Poschmanns Begriff, Für jene form- und strukturgebenden Prinzipien und
auch ›Dramen‹ nicht-europäischer ›Theater‹- Prozesse, die gerade hinsichtlich der syntaktischen
Kulturen (die Anwendbarkeit der Begrifflichkeiten Komposition allgemein dramatischer Elemente die
sei an dieser Stelle nicht weiter diskutiert) (vgl. Kap. Differenz des Dramas gegenüber anderen Textgat-
III.3) legen einen komplexeren Blick auf die syntak- tungen und Medien begründen, wird hier der bereits
tischen Organisationsprinzipien nahe. Entspre- eingeführte Begriff der Dramaturgie herangezogen
chend soll im vorliegenden Kapitel versucht werden, (vgl. Kap. I.4). Eine dramaturgische Analyseperspek-
Begrifflichkeiten ungeachtet ihrer Provenienz aus tive zeichnet dementsprechend in Ergänzung, zuwei-
der konventionellen Dramenanalyse so weit als len gar in Abgrenzung zu textorientierten Ansätzen
möglich ohne implizite Normsetzungen zu entfal- der Literatur- und Kulturwissenschaft gerade die
ten. Dabei sei auch bedacht, dass die mit dem engen Spur jener medialen Eigenarten des Dramas nach,
Dramenbegriff assoziierten Formaspekte wie die die sich auf die entscheidende theatral-szenische Di-
mimetische Relationierung von Handlung, Figuren mension beziehen. Drama ist dabei, allem voran,
und Dialog sowie konventionalisierte dramatische nicht mehr allein als Darstellung (Repräsentation)
»Baupläne« (gerade wo Letztere wiederum primär von Handlung, sondern selbst als Handlung zu ver-
vom Handlungsverlauf abgeleitet werden, etwa in stehen, die unmittelbar auf die Aufmerksamkeit und
den Basisdefinitionen einer mit dem Tod des Helden das intellektuelle Verstehen, und gleichermaßen auch
endenden Tragödie, der mit der Hochzeit endenden auf die Emotionen und die körperlich-sinnliche Er-
Komödie) gerade in der vom elektronisch-digitalen fahrung der Zuschauer wirkt. Diesen Aspekt betonte
medialen Umfeld geprägten Kultur des frühen 21. bereits die klassische Wirkungsästhetik, etwa wenn
Jahrhunderts nicht nur in anderen literarischen Gat- August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 123

dramatische Kunst und Literatur (1808) die theatrali- Hierbei handelt es sich um notwendigerweise ab-
sche Qualität dramatischer Texte dahingehend be- strahierte Ebenen eines komplexen relationalen Ge-
stimmte, dass diese »auf eine versammelte Menge zu füges, welche isoliert sind, gerade um die grundle-
wirken, ihre Aufmerksamkeit zu spannen, ihre Teil- genden Verknüpfungsprinzipien und –probleme des
nahme zu erregen« wüssten (Schlegel 1966, 35 f.). Dramas vor Augen zu führen. Aus semiotisch orien-
Damit markiert Schlegel zu Beginn des 19. Jahrhun- tierter Sicht beschreibt Mario Andreotti solche dra-
derts den Beginn einer Entwicklung, die über die Ak- maturgischen Gefüge als »syntaktische Tiefenstruk-
tivierung der Zuschauer im Kontext der Theater- tur«, die dann in verschiedenen historischen Kon-
avantgarde um 1900 zum epischen Theater Brechts ventionen und Gattungsnormen ihre jeweilige
und weiter zur Performance Art und den »postdra- konkrete Ausformung erfahren und den oberflächli-
matischen« Formen zeitgenössischer Theatertexte chen »Bau« des Dramas – seine konkrete Hand-
(etwa paradigmatisch bei Autoren wie Roland lungsgestaltung und szenische Komposition – unter-
Schimmelpfennig, Elfriede Jelinek und René Pol- mauern (Andreotti 1996). Andreotti führt von ei-
lesch) reicht: einem Drama, das der Ebene der wir- nem derartigen Ansatz ausgehend vor, wie sich der
kenden Vermittlung, dem – mit Pfister – »äußeren Übergang vom traditionellen zum modernen Drama
Kommunikationssystem« des Dramas (Pfister 2001, gerade im Wandel solcher Tiefenstrukturen mani-
91 f.) (wieder) die gleiche zentrale Bedeutung wie den festierte. Ein dramaturgischer Analyseansatz akzen-
Ebenen der fiktionalen Darstellung zukommen lässt tuiert die derartige dialektische Durchdringung der
(zu in diesem Sinne dramaturgisch grundierten Ana- »Oberflächenstrukturen« – etwa der im Plot reali-
lyseansätzen Barba 1991, 2010; Barry 1970; Becker- sierten Thematik; der repräsentierten Figurentypen
man 1970; Birkenhauer 2005, 2008; Poschmann und -charaktere – und der basalen dramaturgischen
1997; Stamm 1955; Styan 1965, 1975). Im klassischen Formprinzipen in je spezifisch historisch situierten
Dramenparadigma, das sich durch »Absolutheit« Kristallisationen (Andreotti 1996).
auszeichnete (Szondi 1965), war diese Ebene weitge- Diesen diversen Formen und Gattungen ist ge-
hend negiert (vgl. Kap. II.6). meinsam, dass sie – entsprechend Eugenio Barbas
Eine dramaturgisch orientierte Analyse geht über grundlegender Definition von Dramaturgie – als
semiotische Strukturanalysen hinaus und vollzieht drama-ergon, als »Tun von Handlung« (actions at
gerade diese vermittelnde Bewegung nach: Sie be- work) aufgefasst werden können (Barba 1991, 69).
trachtet das Drama als sich in der dynamischen Solche dramatischen Handlungen sind für Barba
Handlung zwischen einem Theaterereignis und des- nicht nur auf der Figuren- und Fiktionsebene ange-
sen Zuschauern konstituierend. Dramaturgie, nun siedelt. Alle theatralen Zeichensysteme – Sprache,
in ganz anderem Sinne als bei Aristoteles hand- Körper, Licht, Musik, Rhythmik, Raum, Klang, Kos-
lungszentriert, ordnet derart dramatische Elemente tüm, Maske etc. – sind vielmehr handelnd beteiligt.
und Aktionen – Figuren, Dialog, Plot, sprachliche Ein dramatischer Handlungsverlauf besteht aus dem
wie außersprachliche Zeichen – in Hinblick auf drei plot der erzählten Geschichte, aber ebenso aus den
miteinander in Beziehung stehende Ebenen an: szenisch-theatralen Elementen von Lichtwechseln,
1. die Ebene der Narration einer dargestellten Bewegungssequenzen, dem Bühnenbild und seinen
Handlung, die (unter dem Begriff mythos) schon Requisiten, aus Bewegung im Raum, Musikstücken
bei Aristoteles im Zentrum stand (dramatische und einem Soundtrack: Sie alle stellen für Barba als
Repräsentation/Fiktion), theatrale Handlungen direkte Verbindungen zwi-
2. die Ebene der im Spiel handelnden Darstellung schen Drama und Publikum her. In ihrer gedruckten
als (primär intellektuell vermittelter) sinnhafter Verbreitung bestehen Theatertexte des westlichen
Zusammenhang, der Bedeutung (szenische Inter- Typus freilich zum größten Teil aus Figurenrede.
pretation/Vermittlung 1) sowie Während sich eine literaturwissenschaftlich ausge-
3. die Ebene der auf die Darstellung gerichteten und richtete Werkanalyse v. a. auf die sprachlich-dichte-
durch die Aufführung hervorgerufenen Auf- rische Ausgestaltung der gesprochenen Dialoge und
merksamkeit, damit der sinnlichen Erfahrung der auch Monologe konzentrieren wird, sieht die drama-
beiden anderen Ebenen, wie sie im Dramentext turgische Analyse dieses literarische Textsubstrat ge-
selbst präfiguriert ist (theatrale Präsentation/Ver- rade als ein zu spielendes: als Anweisung für Schau-
mittlung 2). spieler, Regisseure, Bühnenbildner, und immer da-
bei auch – selbst (und gerade!) im Monolog – als
124 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

Anrede des Publikums. Mit Barbas Dramaturgiebe- -arten im System des Dramas, somit auf parallele
griff lässt sich somit die zentrale Interdependenz Kombinationsebenen. Aus semiotischer Perspektive
sprachlicher und außer-sprachlicher Zeichen, von sind somit sowohl die konkatenative als auch die si-
repräsentierter Rede und szenischer Darstellung, in multane Dimension als synchrone Syntagmen zu be-
den Fokus nehmen; ein solches Verständnis schließt trachten, von denen aus sich jeweils ebenso viel-
somit explizit alle drei oben genannten dramaturgi- schichtige Paradigmen auf allen sprachlichen und
schen Ebenen ein und bleibt auf exemplarische nicht-sprachlichen Zeichenebenen öffnen. Zudem
Weise gerade nicht auf die repräsentierte fiktionale operieren diese multidimensionalen Verknüpfun-
Spielhandlung reduziert. gen, Wechselwirkungen und Spannungen der bei-
den syntagmatischen Dimensionen des Dramas so-
wohl auf den inneren wie äußeren Kommunikati-
2.1.1 Isotopische ›Textur‹ des Dramas: onsachsen des Dramas. Gerade diese komplexen
Linearität und Simultaneität Verschränkungen machen somit dramatische Hand-
lung aus, die im eingeführten erweiterten Sinne stets
Nicht nur Barbas an universellen theatralen Prinzi- auch mit dem Publikum handelt.
pien orientierte Perspektive der Theateranthropolo- Sie stellt sich nicht zuletzt aus den sich synchron
gie, auch konventioneller situierte Analysemodelle wie diachron ergebenden Relationen und Transfor-
haben längst den exklusiven Fokus auf dramatische mationen innerhalb dieser simultan-konkatenativen
Grundelemente wie Figur und Handlung abgelegt. (Doppel-)Textur des Dramas her. Mit Andreotti
Beispielhaft geht etwa Bernard Beckerman in seinen können wir dabei zwei elementare kohärenzstif-
Dramenanalysen von den präsentierten Zeit- tende Organisationsprinzipien ausmachen. Er wen-
»Segmenten« aus (Beckerman 1970). Theatrale det das in der strukturalistischen Semantik v. a. von
Handlung besteht für ihn gerade aus einer Schich- Algirdas Julien Greimas geprägte Konzept der Isoto-
tung solcher »Segmente«, welche den Spannungsbo- pie auch auf die Dramenanalyse an (Andreotti 1996,
gen – bezogen auf die erlebende Erfahrung der Zu- 26–34). Es spürt der Rekurrenz bedeutungstragen-
schauer – auffächern. Wo Beckerman somit Drama der »Seme« nach, wobei ein Sem gleichsam den se-
bereits als Handlung in der Zeit beschrieb, lassen mantischen »Atomkern« darstellt (der Begriff der
sich mit Barba zwei grundlegende zeitliche Achsen Isotopie war von Greimas in den 1950er Jahren in
dramatisch-dramaturgischer Handlung und ihrer der Tat aus der Nuklearphysik entliehen worden).
Verknüpfung präzisieren: Barba bezeichnet sie mit Diese gewissermaßen »kleinsten bedeutungstragen-
den Begriffen von (linear-diachroner) Konkatena- den Einheiten« der Seme wirken im Drama aber
tion und (parallel-synchroner) Simultaneität (Barba eben nicht nur auf der Ebene der sprachlichen Zei-
1991, 69). Diese beiden dramaturgischen Achsen äh- chen, sondern sie verknüpfen gerade auch die diver-
neln dem im Handwerkszeug der semiotisch-struk- sen Zeichenebenen, von Sprache über Kostüm und
turalistischen Textanalyse seit Saussure etablierten Raum zu Bewegung, Sound und Licht. Als grundle-
Begriffspaar von Syntagma und Paradigma (vgl. gendes Prinzip isotopischer Verknüpfung lässt sich
Saussure 1967, 147 ff.). Die syntagmatische Achse nun nicht nur die Wiederholung des nämlichen
verweist dabei auf die (linear verkettende) Kombina- Sems auf verschiedenen Ebenen ausmachen, son-
tion der Worte bzw. Zeichen. Die zweite Dimension, dern auch die signifikante Kontrastierung und Op-
von Saussure auch als die Ebene der »verwandt- position von Isotopien. Davon ausgehend lassen sich
schaftlichen Beziehungen« den »nachbarschaftli- die jeweils auf Szenen-, Akt- oder Stückebene domi-
chen Beziehungen« auf der syntagmatischen Achse nanten, bedeutungsrelevanten Isotopie- bzw. Oppo-
beigestellt, bezeichnet die Strukturalistik als »Para- sitionsketten bestimmen. Obgleich sich Guido Hiß
digma« (Saussure 1967, 147 ff.). Allerdings verweist mit seinem auf die Inszenierungsanalyse ausgerich-
die simultane Dimension des Dramas im Unter- teten Ansatz des »theatralischen Blicks« von ihm zu
schied zur paradigmatisch-linguistischen Beziehung engen klassifikatorischen Systemen der Theaterse-
zu im Syntagma nicht selektierten äquivalenten Aus- miotik abzugrenzen sucht, lässt sich sein ähnlich ge-
drücken (etwa »ein Mann« statt »der/dieser/jener« artetes Konzept der »Korrespondenzbedeutung«, die
Mann) nicht auf abwesende Ausdrucksalternativen, sich als ästhetische Synthese im Wahrnehmungsakt
sondern auf die multidimensionale, plurimediale aus den »Tiefenäquivalenzen« verschiedener Aus-
Gleichzeitigkeit verschiedener Zeichenebenen und drucksebenen konstituiert (Hiß 1993, 24; 31 ff.), in
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 125

nämlichem Sinne auch für eine dramaturgisch aus- mantiker – Schlegel und Tieck in Deutschland;
gerichtete Dramenlektüre und die Analyse ihrer ein- Lamb und Hazlitt in England – wurde Shakespeare
geschriebenen szenisch-theatralen Dimensionen zum Mythos und ›Originalität‹, im vielfachen Sinne
fruchtbar machen, wie sie sich schon vor jeder kon- des Wortes, zum Maßstab. Die nun erscheinenden
kreten Inszenierung bereits im Theatertext als deren Ausgaben hatten dabei freilich nicht nur zu definie-
entscheidende mediale Merkmale manifestieren. ren, was denn nun diesen »Originaltext« eigentlich
Diese charakteristische multi-dimensionale, iso- darstelle: auch Szenenanweisungen, Aktmarkierun-
topische Textur ist das Feld der Dramenanalyse: In gen und dergleichen mussten von den Editoren re-
ihrer Gesamtheit – und nicht schon auf der fiktiona- konstruiert und eingefügt werden. Im Kontrast dazu
len Darstellungsebene von Handlung, Figur und stehen Stücke etwa von George Bernard Shaw, in de-
Sprache allein – etabliert sie die textuelle Kohärenz nen nicht selten die gedruckten Szenenanweisungen
des Dramas. In modernen und nicht zuletzt postdra- länger sind als die gesprochenen Dialoge. Diese Ten-
matischen Theatertexten, in denen die fiktionale Re- denz setzte sich im 20.  Jahrhundert konsequenter-
präsentationsebene weitgehend zurückgedrängt ist, weise bis zum völligen Verschwinden gesprochener
ist eine solche Analyse fundamentaler isotopischer Figurenrede fort, etwa in Stücken Samuel Becketts,
Ordnungsmuster besonders relevant, da oft erst so in Franz Xaver Kroetz’ Wunschkonzert (1973) oder
das präzise Verstehen der Funktionsweise dieser Peter Handkes Die Stunde, da wir nichts von einan-
Stücke ermöglicht wird. Doch auch im klassischen der wußten (1992) (vgl. Kap. II.3).
Drama kann dieses Gebot eine komplexe Herausfor-
derung darstellen, fixieren dramatische Textvorla-
gen westlicher Tradition doch in der Regel primär 2.1.2 Der »szenische Text«:
die (dialogische) Figurenrede. Dies änderte sich erst, Außersprachliche Dramenzeichen und
als Dramen nicht mehr allein für das Spiel und die raum-zeitliche Komposition
Inszenierung auf der Bühne geschrieben wurden,
sondern auch im Hinblick auf die gedruckte Publi- Solche Dramen bestehen rein aus Nebentext. Dieser
kation – die ihrerseits auf die künftige Aufführung Terminus hat sich, zur Unterscheidung vom Haupt-
in einem »Theater von morgen« ausgerichtet gewe- text der Figurenrede, in der Nachfolge Roman Ingar-
sen sein mag (exemplarisch etwa Georg Büchners dens eingebürgert, der den Nebentext als »die vom
erst postum aufgeführte Dramen). Im europäischen Verfasser gegebenen Informationen für die Spiellei-
Kontext vollzieht sich zwischen der zweiten Hälfte tung« definierte (Ingarden 1960, 403). Für Ingarden
des 17. Jahrhunderts und dem 19. Jahrhundert eine bezog sich der Nebentext gerade auf Aspekte, die in
nahezu vollständige Literarisierung des Dramas und einer Inszenierung in konkrete Realität zu überset-
damit seine Abspaltung vom Bühnenspektakel. Ex- zen waren (vgl. Ingarden 1960, 220), während der
emplarisch ist der Fall Shakespeares: Er schrieb seine Begriff oftmals auch in Bezug auf alle Aspekte des
Stücke für die Aufführung allein, jeglicher Hinweis gedruckten Dramentextes angewandt wird, die nicht
auf die simultane dramatische Ebene war unnötig, Figurenrede sind, von der Namensgebung der Figu-
da Shakespeare selbst mit seiner Truppe, den Lord ren bis zu den Sprechermarkierungen (vgl. Schmid
Chamberlain’s Men und später den King’s Men, die 1985). Die französische Theaterwissenschaftlerin
Stücke am Globe Theater einstudierte und nicht sel- Anne Ubersfeld schlug dafür den (auf die griechi-
ten als Schauspieler mitwirkte. Die aus der Zeit er- sche Antike zurückgreifenden) Begriff der Didaska-
haltenen Drucke haben den Status heutiger im Inter- lien vor (vgl. Ubersfeld 1981). Im Sinne der media-
net veröffentlichter heimlicher Aufnahmen einer len Konstitution von Drama als »aufzuführender
Theater- oder Konzertaufführung; sie basieren oft- Text« sind diese Elemente auch als textuelle Mani-
mals auf Mitschriften oder Erinnerungen, waren festation einer »impliziten Inszenierung«, als »Tran-
also keineswegs vom Dramatiker autorisiert. Erst die skription einer gedachten Theateraufführung« zu
postum veröffentlichte Folioausgabe edierte die Stü- verstehen (Höfele 1991, 18, 20). Theresia Birken-
cke sorgfältiger. Bis ins 19. Jahrhundert hinein blie- hauer baut ihre Theorie der Struktur von »Texten für
ben Shakespeares Stücke jedoch Tradition im wörtli- das Theater« auf dem erweiternden Begriff des »sze-
chen Sinne; sie wurden nicht nur über die Zeit wei- nischen Textes« auf, der »alle Elemente des geschrie-
tergereicht, sondern dabei auch fleißig bearbeitet benen Textes, die die raumzeitliche Struktur der
und ›verbessert‹. Erst mit der Generation der Ro- Darstellung betreffen«, umfasst (Birkenhauer 2005,
126 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

102). Sie entwirft ein nicht mehr hierarchisches Mo- Szene und zwischen den Schauspielern untereinan-
dell dieses szenisch-orientierten Sub-Textes jenseits der« (Mukařovský 1975, 88).
der Figurenrede. Bei der Analyse des szenischen Textes sind dabei
Wie Birkenhauer gerade an Theatertexten Tsche- stets auch dramatische und theatrale Konventionen
chows und Heiner Müllers ausführt, lässt sich dieser zu berücksichtigen. Auf Shakespeares Bühne im
»zweite Text«, wie sie ihn auch bezeichnet, als eigen- Globe-Theater etwa kam man nahezu ausschließlich
ständig und autonom auffassen: »Er verhält sich re- mit indirekter Wortkulisse aus und setzte auf die da-
flexiv und kontrastiv zum dramatischen [Text], nicht durch freigesetzte Vorstellungskraft und Phantasie
als dessen Ergänzung« (Birkenhauer 2008, 22). Wäh- des Publikums. Typischerweise sprach man damals
rend die klassisch-absolute Dramenform die Einheit davon, »Theater zu hören«, was somit nichts mit ei-
und Komplementarität der beiden Textebenen be- ner Privilegierung von Sprache und Dialog zu tun
hauptet, ist der fiktionalen Darstellungsebene in hat, sondern von der imaginativen Performativität
modernen Dramen nicht erst in konkreten Inszenie- des Mediums zu dieser Zeit kündet. Neuere For-
rungen, sondern bereits in der angelegten szeni- schungen zur Französischen Klassik haben auch die
schen Textur des Dramentextes jener zweite Text an oftmals als monoton und einförmig beschriebene
die Seite gestellt. In beiden Fällen gibt der szenische Alexandriner-Sprache v. a. Corneilles und Racines
Text direkte Hinweise auf die synchrone Dimension wieder in den Kontext eines theatral-dramatischen
der Dramentextur: Er konstiuiert sich gerade durch Ganzen gesetzt, die in ihrer Dynamik erst in der si-
die originär theatralen Mittel der Bühne, etwa in multanen Interaktion sowohl mit paralinguistischen
akustischen und visuellen Zeichen oder den Raum- und prosodischen Konventionen als auch mit der
dispositionen. Der szenische Text kann in konkreten formalisierten rhetorischen Gebärdensprache der
Inszenierungsanweisungen formuliert sein, die etwa Zeit zum vollen Leben erwacht: Als vielfach überse-
die Wiedergabe der zu sprechenden Figurenrede be- hener ›Nebentext‹ fand die szenische Textdimension
treffen (ihren sogenannten »paralinguistischen« As- des klassischen französischen Dramas in den Dra-
pekt), das Verhalten des Schauspielers, seine Mimik, mendrucken des 17.  Jahrhunderts ihren Nieder-
Gestik und Interaktion mit anderen Figuren oder schlag in einer sehr spezifischen, später herausedi-
seine Aktionen im Raum, oder durch explizit im Ne- tierten und erst jüngst wieder rekonstruierten Ver-
bentext artikulierte Konkretisierungen von Bühnen- wendung von Interpunktion (vgl. Forestier u. a.
bild, Requisiten, Kostümen, Musik und Geräuschen. 2007; Riffaud 2007). Dem steht das bürgerliche Illu-
Abgesehen von solchen direkten (expliziten) Regie- sionstheater gegenüber, dessen Konventionen wie-
anweisungen können sich auch indirekte (implizite) derum im Naturalismus und dem modernen Drama
Regieanweisungen finden, etwa wenn sich Figuren ihre Grenzen wie auch Aufhebung fanden.
in ihrer dialogischen Rede dazu äußern, wie sie Pfister schlägt als analytische Kategorien bei der
selbst oder eine andere Figur sich verhalten (»Ich Erfassung der simultanen szenischen Dimension
habe Angst«, »Du zitterst ja«), oder aber ihre Umge- vor, zunächst die Unterscheidung zwischen sprachli-
bung beschreiben. Nicht zuletzt konstituiert der sze- cher und außersprachlicher Handlung (er spricht
nische Text somit die räumliche und zeitliche Struk- hierbei von »Informationsvergabe«) vorzunehmen,
tur des Dramas, die sich innerhalb der simultanen sodann zwischen einem »analytischen«, die Figu-
und konkatenativen dramaturgischen Achsen ent- renrede ergänzenden etwa mimischen Spiel, und ei-
faltet und somit direkt die theatrale Erfahrung der nem synthetischen Kontrast, in dem außersprach-
das Publikum affizierenden szenischen »Handlung« lich simultane Theaterzeichen (von Gestik bis hin zu
im Sinne Barbas präfiguriert. Dieser chronotopische Geräuschen oder Bühnenbild) in eine dramatisch
Zeitraum ist dabei, mit Jan Mukařovský, als kompo- spannungsreichere szenische Relation gegenüber
nierte Setzung eines dynamischen Rhythmus zu ver- oder neben der Figurenrede treten (Pfister 2001,
stehen, konstituiert durch Auftritte, Abgänge, Relati- 39 ff.). Grundsätzlich lassen sich in Pfisters Analyse-
onen der Figuren im szenischen Bühnenraum: »Der kategorien die zwischen den sprachlich über die Fi-
dramatische Raum ist weder mit der Bühne noch gurenrede und jene durch andere Theaterzeichen si-
überhaupt mit dem dreidimensionalen Raum iden- multan vermittelten Informationen auf einer Skala
tisch, sondern entsteht in der Zeit durch die aufein- zwischen »Identität« und »Diskrepanz« platzieren
anderfolgenden Veränderungen der räumlichen Be- (Pfister 2001, 73). Unter dem Begriff der »Komple-
ziehungen zwischen dem Schauspieler und der mentarität« erfasst Pfister schließlich jene Fälle ge-
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 127

rade in Dramen des Naturalismus und Expressionis- 2.2 Zeitlichkeit des Dramas als
mus, in denen die Anweisungen des Nebentextes der dramaturgisches Grundprinzip
Figurenrede nicht widersprechen, sie aber gewisser-
maßen ersetzen – und auf der Bühne somit Figuren Bereits bei der Herausarbeitung der verschränkten
erscheinen, die der Rede nicht mehr souverän mäch- dramaturgischen Dimensionen von simultanem Mo-
tig sind und (hinsichtlich der fiktional-dramaturgi- ment und konkatenativem Verlauf als fundamentalen
schen Ebene, bewusst oder öfters unbewusst) über theatralen Handlungsdimensionen sowie des szeni-
nicht-sprachliche Zeichen reagieren und kommuni- schen Texts als raum-zeitliche Kompositionsstruk-
zieren. Ein rein szenisch orientiertes Beispiel dieses tur des Dramas zielte unsere Aufmerksamkeit auf
Komplementaritätsprinzips lässt sich in den Dumb jene Wirkungsdimension ab, die im Drama auf-
Shows des elisabethanischen Theaters ausmachen, grund seiner medialen Eigenart auf besondere Weise
welche (ähnlich den sich spiegelnden Haupt- und zum Tragen kommt: Zeit und Zeitlichkeit. Lessing
Subplots der Stücke) eine allegorisch-emblematische bestimmte in seiner einflussreichen ästhetischen
»Wiederholung« der dramatisierten Sinnidee mit Schrift Laokoon (1766) die Dichtkunst (Poesie) als
Mitteln der Pantomime darbieten (Pfister 2001, 73– Kunst in der Zeit, da sie die Worte aufeinanderfol-
77). gend anordnet, und stellte ihr die bildende Kunst ge-
Der szenische Text des Dramas addressiert aber genüber, welche Farben und Formen nebeneinander
nicht nur in diesem Sinn die »intrafiktionale Thea- im Raum strukturiert. Drama, so wird deutlich, geht
tralität« der Darstellung (Poschmann), sondern – über die Dichtkunst bzw. Literatur hinaus, in dem es
gerade in neueren Theatertexten auf im Lehmann- einen Zeit-Raum aus Synchronität und Linearität er-
schen Sinne »querstehende« Weise – die Dramatur- öffnet. Dieser originär dramatisch-theatrale Chro-
gie der äußeren, theatralen Präsentationsdimension. notop im Sinne Bachtins (vgl. Bachtin 2008) lässt
Was Poschmann in ihrer emphatischen Argumenta- Zeitlichkeit, allerdings weit jenseits der dargestellten
tion für ein postdramatisches Literaturtheater als Handlung, eine besondere Rolle spielen: Die Wahr-
»Texttheatralität« beschreibt, entspringt dabei der nehmung und Erfahrung dieses speziellen multi-di-
Materialität der Sprache, wo diese »Sinn nicht dar- mensionalen Zeit-Raums ist im Drama stets ent-
stellt, sondern Sinngebungsprozesse herstellt« (Po- scheidendes Moment der theatralen Präsentation
schmann 1997, 340), sich selbst somit als Sprache, als sowohl hinsichtlich des Verstreichens von Zeit wie
Diskursraum inszeniert (z. B. Theatertexte Thomas auch hinsichtlich des unwiderruflichen Vergehens
Bernhards und Elfriede Jelineks). Doch freilich las- des gegenwärtigen Moments. Schon eine oberfläch-
sen sich nicht nur in postdramatischen Theatertex- liche Analyse wird in jedem Drama eine Schichtung
ten der Gegenwart kompositorische Signale analy- mehrerer Zeitebenen feststellen:
sieren, welche die rein referenziell-fiktionsgenerie- 1. den unmittelbaren Augenblick der dramatisch-
rende Ebene transzendieren und gleichzeitig (oder, fiktionalen Gegenwart, der konventionell meist in
im Extremfall: stattdessen) auf die außerszenische der Exposition (s.u.) konkretisiert wird, etwa als
Vermittlungsdimension des Theaters abstellen, und/ »Irinas Namenstag« im 1. Akt von Tschechows
oder diese autoreflexiv ausstellen. Neben die gerade Drei Schwestern (1901);
im klassisch-absoluten Drama Repräsentation und 2. den linear-chronologischen zeitlichen Verlauf der
Interpretation dirigierende dramaturgische Ver- dargestellten Handlung, wobei jener Moment, an
knüpfung von Isotopien und Figurenperspektiven dem die szenisch präsentierte Handlung einsetzt,
ist somit die plurimediale und multidimensionale als point of attack bezeichnet wird;
szenisch-theatrale Handlungstextur zu stellen – ge- 3. die plot-Zeit, welche die zuvor genannten beiden
rade dort, wo die simultan-außersprachlichen und Ebenen kurzschließt; entsprechend der jeweiligen
außerszenischen Ebenen durch dramaturgische szenischen Komposition kann die plot-Zeit auch
Komposition gleichsam zum Verschwinden ge- vom streng linearen Ablauf der fiktionalen Hand-
bracht werden. lung abweichen, so etwa durch Rückblenden und
Erinnerungen, oder aber einen Botenbericht ent-
sprechend der Konvention der griechischen Tra-
gödie, welcher aus der präsentierten Gegenwart
auf einen chronologisch früheren Handlungs-
punkt der Fabel verweist; oder jene zeitlichen
128 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

Endlosschleifen Beckettscher Prägung, welche holen können. Und, sie können zum Buch oder der
den chronologischen Fortgang einer fiktionalen DVD greifen, wann immer sie wollen, diese entspre-
Handlung zum Erliegen bringen; chend auch jederzeit weglegen oder stoppen. All dies
4. die theatrale Zeit der Aufführung, vom Publikum bleibt dem Theaterpublikum verwehrt, welches dem
erlebt sowohl als Dauer (»the two hours traffic of Drama stets als Kollektiv rezipierender Individuen
our stage«, auf die etwa der Prolog in Shakes- entgegentritt. Das Verlassen und Unterbrechen der
peares Romeo und Juliet, 1595/96, verweist) wie Vorstellung wird stets zum Akt, der in die Auffüh-
auch als unmittelbar erlebte Gegenwart, das hic et rung selbst eingreift.
nunc des theatralen Spiels (vgl. Aston/Savona Dramen werden zudem stets allein in der präzise
1991, 25–31). terminierten (für einen bestimmten Tag, zu einer
bestimmten Uhrzeit) und fixierten (der Zuschauer
Die dramaturgische Analyse nimmt nun nicht allein kann die Aufführung nicht anhalten, auch die Pause
die sprachlich gestaltete und vermittelte Repräsenta- ist festgelegt) sukzessiven Konkatenation von Mo-
tion einer fiktionalen Zeit, sondern gerade diese fik- menten simultanen Geschehens vermittelt. Diese
tionale Zeitlichkeit in ihrer Relation zur theatralen spezifische, zeitlich strukturierte Erfahrung des Dra-
Aufführungszeit und ihrer Erfahrung in den Blick: mas und seines charakteristischen medialen »Zeit-
so hinsichtlich der Länge – will man, wie Regisseur Raums« ist somit als grundlegendes dramaturgi-
Peter Stein im Jahr 2000, Goethes Faust gänzlich un- sches Verknüpfungsprinzip auszumachen, das die
gekürzt auf die Bühne stellen? – wie auch hinsicht- dialektische Wechselwirkung der dramatischen
lich des theatralen Augenblicks – was hält der Text Handlungen mit dem theatralen Handeln zwischen
unter synchron-simultaner Perspektive an Hand- Bühne und Zuschauer besonders ausstellt. Eine reine
lungsangeboten bereit? Lektüre, ebenso wie das spätere Nachschlagen im ge-
Wo sich dabei auch in der literaturwissenschaftli- druckten Stücktext, hat notwendigerweise einen ka-
chen Dramenanalyse die Auffassung durchgesetzt tegorial anderen Rezeptionsstatus, der für die Ana-
hat, dass die Realisation in der Aufführung – die lyse nicht relevant ist.
Möglichkeiten und Bedingungen der szenischen Die viel zitierte ephemere Vergänglichkeit und
Präsentation in einer Theatervorstellung sowie die die physische Live-Präsenz der Darstellung auf der
hieraus resultierenden Dynamiken – stets zumin- Bühne mögen charakteristische Merkmale des Thea-
dest analytisch mitzudenken sind, geht diese Ein- ters sein, doch als originär dramaturgisches Gestal-
sicht doch in ihren Implikationen noch weit über die tungsprinzip des Dramas kommt v. a. eine spezifi-
Auffassung der auch auf Romane oder Gedichte an- sche Zeit-Räumlichkeit zum Tragen. Im Drama geht
wendbaren Idee eines Barthes’schen, durch den Le- es, so könnte man frei nach Michel Serres argumen-
ser realisierten Lektüre-Aktes hinaus. Wo diese noch tieren, immer auch um die Gestaltung der Differenz,
immer einen gedruckten Text lesen, präfiguriert der gar die kreative oder technologische Aufhebung des
Theatertext in seiner szenischen Dimension, in der unentrinnbaren »In-der-Zeit-Seins« unserer Le-
auf die sinnliche Erfahrung abstellenden theatralen bensaktualität, der realen Zeit und ihrer Erfahrung.
Handlungsdimension, die Transposition in ein an- In seiner szenisch-theatralen Dimension macht
deres Medium. Nur für das Drama wird aus diesem Drama diese Dimensionen von Zeitlichkeit selbstre-
Grund gerade auch der vierte Aspekt des obigen flexiv erfahrbar, indem sein »Zeit-Raum« uns als
Zeitschemas dramaturgisch relevant. Natürlich Zuschauer zu einer minimalen Distanz zu uns selbst
spielt sich auch z. B. die Lektüre eines Romans so- als »im Moment« seienden Menschen setzt. Wir be-
wohl in einem konkreten Präsens des Lesens als obachten uns im Zuschauen immer auch selbst da-
auch in der zeitlichen Sukzession der Lektüre ab: Die bei, wie die Zeit vergeht, in der wir stecken. Diese
Leser werden im Regelfall ein Wort nach dem ande- Optionen sind als zentraler Aspekt bereits im szeni-
ren, eine Seite nach der nächsten, ein Kapitel nach schen Text selbst angelegt und nicht erst allein durch
dem anderen wahrnehmen. Ihnen bleibt es dabei konkrete Inszenierungen hinzugefügt. Die jeweils
aber jederzeit möglich, die Lektüre selbstbestimmt realisierten dramaturgischen Kompositionsstruktu-
zu strukturieren, ohne damit in unmittelbare Inter- ren bringen nicht zuletzt unsere Zeiterfahrung als
aktion mit dem Stück zu treten; eine Pause einzule- Zuschauer entweder, im Sinne des alternative Erfah-
gen, vorzublättern, zurückzuschlagen, ähnlich wie rungen bietenden Eskapismus, zum Verschwinden
auch die Zuseher einer DVD überspringen, wieder- hinter der dargestellten fiktionalen Zeit der Illusion,
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 129

oder aber sie akzentuieren gerade die Differenz die- der angesprochenen Zeit-Dauer des Dramas: Die
ser zeitlichen Orientierungen, die »verschobenen (real-)zeitliche Ausdehnung von Drama weist nur
Zeitrechnungen« (Birkenhauer 2005, 103). eine relativ geringe Varianz innerhalb feststellbarer
historischer Paradigmen auf. Wenn wir heute von ei-
ner Theateraufführung sprechen, denken wir na-
2.2.1 Sukzession und Konzentration hezu automatisch an einen »Theaterabend«. Das
klassische Theaterfestival im antiken Athen, die
In Bezug auf traditionelle Dramenkonzeptionen Nachmittage im Globe-Theater im elisabethani-
wurde festgestellt: »Die dramatische Handlung be- schen Vergnügungsviertel außerhalb der Londoner
steht in der sukzessiven Vergegenwärtigung von vor- Stadtmauern, das kontinentaleuropäische Hof- und
weggenommener Zukunft und nachgeholter Vergan- Bürgertheater, die in privaten Kammerbühnen her-
genheit« (Pütz 1970, 11). Dieser allein auf die Pro- ausgebrachten Dramenexperimente des frühen
gression der dramatisch-fiktionalen Zeitebene 20. Jahrhunderts – sie alle weisen auf unterschiedli-
bezogenen Feststellung sind die szenisch-theatralen che Standardformate der realen raum-zeitlichen
Dimensionen hinzuzufügen: Selbst wo die fiktional- Ausdehnung einer Dramenaufführung hin. Diese
repräsentierte Zeit notwendigerweise ein anderes fallen in sich jeweils wesentlich kongruenter aus als
Tempo als die erlebte Realzeit der Aufführung kon- etwa das breite Spektrum diversester Romanum-
stituiert und wo diese zudem auf der szenischen fänge. Oftmals sind diese dramaturgisch-tempora-
Plot-Zeit-Ebene nahezu beliebig manipulierbar ist, len Gestaltungskonventionen pragmatischer Natur:
werden doch all jene Zeitstrukturen (die Ebenen 1 Vor Verbreitung der elektrischen Beleuchtung
bis 3 des obigen Schemas) stets notwendigerweise konnte der einzelne Akt in den geschlossenen Hof-
vom linearen Zeitverlauf der Aufführung tangiert theatern Europas nicht länger dauern, als die Brenn-
und im erlebenden Wahrnehmen des Publikums dauer der Kerzen erlaubte. Ähnlich setzte der zu er-
derart geradezu überformt. Wie Pfister diese Korre- wartende Sonnenuntergang der möglichen Ausdeh-
lation beispielhaft am Botenbericht herausarbeitet, nung eines elisabethanischen Stückes auf der
»schreitet auch bei einem solchen Bericht von Ver- halboffenen Shakespearebühne unter freiem Him-
gangenem im Berichten selbst als szenisch präsen- mel eine natürliche Grenze. Als solche gewisserma-
tiertem Vorgang die Sukzession auf der Ebene der ßen natürlichen Begrenzungen der Dramendauer
Darstellung und des Dargestellten auf die Zukunft technologisch behoben waren, führte die techni-
zu« (Pfister 2001, 362). Im stets unweigerlich sukzes- sierte Moderne der Industrie- und jüngsten Digital-
siven Verlauf des Dramas als einem zu erlebenden kulturen ihre eigenen Formate auch und gerade
szenisch-theatralen Augenblick nach dem nächsten durch jeweils dominante kulturell-mediale Seh- und
wird jenes unentrinnbare »In-der-Zeit-Sein« dem Erlebensgewohnheiten ein. In den zurückliegenden
Drama eingeschrieben, das Theater und Leben ver- Jahrzehnten fällt auf, dass gerade Kinofilm und
bindet und dem man allein im Moment des Todes zu Theateraufführung hinsichtlich ihrer zeitlichen Aus-
entkommen vermag. Als Grundaspekt der dramati- dehnung nahezu identische Formatkonventionen
schen Zeitlichkeit ist somit das Prinzip der Sukzes- aufweisen, die sich, in etwa, bei einem Standard von
sion auszumachen: Drama spielt sich stets als suk- 90 Minuten eingependelt haben. Gleichermaßen
zessive Verkettung szenisch-multidimensionaler wird die einstmals im Theater obligatorische Pause,
Momente ab. Damit ist noch keineswegs ein äquiva- die auch eine wichtige theatersoziologische Rolle
lent linear-progressiver Handlungsverlauf auf der spielte, immer unpopulärer, und selbst große Klassi-
Ebene der Darstellung festgeschrieben. ker (Shakespeare, Goethe) werden heute bevorzugt
Der besondere sukzessive Verlaufscharakter als pausenlos durchgespielt.
grundlegender Aspekt von (stets primär temporal, Der Umfang eines Dramas ist mit solchen jeweils
auf den beiden Achsen von Synchronität und Kon- historisch konventionalisierten Dimensionen einer
katenation organisierender) Dramaturgie führt uns Theateraufführung kongruent und von dieser thea-
nicht zuletzt auch zur grundlegenden Irreversibilität tralen zeitlichen Dauer bedingt – und eben nicht von
der dramatischen Rezeptionssituation zurück (Pfis- den Erfordernissen der darzustellenden dramati-
ter 2001, 63 f.). Wo sich Drama stets in der Zeit ab- schen Handlung: Die mögliche zeitliche Dauer eines
spielt, und Dramaturgie diese Zeit organisiert, zeigt Dramas ist im Regelfall beschränkt. Auch im außer-
sich auch ein recht pragmatischer Aspekt bezüglich europäischen Kontext stellen vielstündige oder gar
130 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

mehrtägige Aufführungen eher die Ausnahme dar. manen entsprachen Theateraufführungen, die sich
Aristoteles betonte, wieder ausdrücklich die drama- über Stunden bis nach Mitternacht hinzogen und
tische Handlung in den Blick nehmend, die Notwen- dennoch nur einen geringen Teil der Handlungs-
digkeit einer »adäquaten Größe« als zentralen As- stränge (geschweige denn des Textmaterials) auf die
pekt einer gelungenen Anordnung dramatischer Bühne bringen konnten. Zudem waren die Zu-
Handlung. Er empfahl dabei »eine Ausdehnung, die schauer mit sich überkreuzenden Zeitebenen auf der
sich dem Gedächtnis leicht einprägt« (Poet. 1450b5– Ebene der dargestellten Zeit konfrontiert, mehrere
6, 27). Demzufolge lässt sich die Konzentration als Handlungen spielten sich gleichzeitig ab, und das
zweites grundlegendes zeiträumlich-dramaturgi- dem Zuschauer begegnende Figurenpersonal war
sches Formprinzip bestimmen: Während Literatur, schlechterdings unübersichtlich. Gerade das Beispiel
um Hegel zu paraphrasieren, die Totalität des Welt- Castorfs ist auch besonders dienlich, um zu illustrie-
zustandes in den Blick zu nehmen vermag, verlangt ren, warum es notwendig bleibt, diese fundamen-
das Drama nach dem »Hervorstechen der einfache- talen zeiträumlichen dramaturgischen Prinzipien
ren Kollision« (Hegel 1971, 272). Dies betrifft so- hier hervorzuheben: Eine literaturwissenschaftliche
wohl die Komplexität der dramatisch dargestellten Analyse eines Dramas als Text wird nicht nur dazu
Handlung als auch die zeitliche Ausdehnung des tendieren, das Moment der konkreten sinnlichen
Dramas als auf das Publikum einwirkende Hand- Erfahrung des Dramas weitgehend auszublenden;
lung, unabhängig davon, ob man den Grund nun in sie nimmt zudem die Gleichzeitigkeit und Gleich-
beschränkter Aufnahmefähigkeit des Publikums wertigkeit aller sukzessive vermittelten Momente in
oder in spezifischen Konventionen und Gegeben- einem (heuristisch imaginierten) Textganzen an.
heiten verortet. In diesem Sinne ist auch die von Gerade für die Dramenanalyse sollte aber nicht da-
Aristoteles beschriebene »Ganzheit« des Dramas rüber hinweggesehen werden (und gerade Castorf
aufzufassen: Dramatisch komplett zu sein, bedeutet machte dies nicht nur in seinen Romaninszenierun-
gerade nicht die Realisierung jener in der narrativen gen deutlich), dass eine derartige angenommene Ge-
Literatur möglichen Detailfülle, sondern gerade im genwärtigkeit eines (eher räumlich denn zeitlich zu
Gegenteil maximale Ökonomie sowohl in der zeitli- imaginierenden) Textganzen lediglich Konstrukt ist:
chen Ausdehnung als auch in der dramaturgischen Im Akt des Zuschauens findet das Drama stets im
Konzentration auf das Unentbehrliche. Aristoteli- momentanen Übergang zwischen dem, was schon
sche »Ganzheit« als dramaturgischer Imperativ, der wieder vergangen ist, und dem, was noch geschehen
gerade in der geschlossen-finalen Dramenform rea- wird, statt. Es ist also weit weniger durch den oft als
lisiert ist (s.u.), verweist damit auf eine historisch charakteristisch für das Theater herausgestellten
spezifische Interpretation der medialen Bedingun- Aspekt der unmittelbaren Präsenz als geradezu we-
gen dramatischer Sukzession und Konzentration: Sie sentlich durch ebenjene temporale Sukzession des
werden im Kontext der klassischen Dramentheorie Dramas bestimmt. Dieser vielbeschworene Unmit-
so ausgelegt, »daß sich das Ganze verändert oder telbarkeitscharakter stellt sich in der theatral-drama-
durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt tischen Rezeptionserfahrung gerade erst aus dem
oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Verschwinden der schon wieder abwesenden Ge-
Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar genwart her, in ihrem Aufgehen in dem, was nun
nicht ein Teil des Ganzen« (Poet. 1451a35–36, 29). Vergangenheit ist, und gerade dem spezifisch dra-
Wie so oft wird die zentrale Rolle von Konventio- matischen Spannungsfeld mit der noch folgenden,
nen v. a. dort deutlich, wo diese Übereinkünfte noch nicht präsenten Zukunft, die im nächsten Mo-
durchbrochen werden. Die mediale Bedingtheit sol- ment ihrerseits wieder vergangen sein wird. Drama
cher dramaturgischen Prinzipien führte exempla- markiert derart den Moment dieser Wandlung – ein
risch Frank Castorfs vierteiliger Zyklus von Thea- wesentlicher, dynamischer Aspekt von Drama, der
teradaptionen von Romanen Fedor Dostojewskis einer immer schon die Gesamtheit des (ob literari-
vor (Volksbühne Berlin, 1999–2005): Die Bühnen- schen oder theatral präsentierten) Dramentextes in
fassungen verweigerten sich gerade den Prinzipien den Blick nehmenden analytischen Perspektive zu
dramatischer Konzentration und Sukzession. Sie entgleiten droht. Eine dramaturgisch orientierte
übersetzten nicht nur die Handlungsinhalte, son- Dramenanalyse versucht, für diese wesentliche suk-
dern auch die medial-formalen Strukturprinzipien zessive Zeit-Räumlichkeit von Drama sensibel zu
der Romane direkt auf die Bühne. Den dicken Ro- bleiben. Manfred Pfister entwickelte mit den Kate-
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 131

gorien seines Drama als Kommunikation (und da- lität werden hier »gleichermaßen zu Thema und
mit Handlung) auffassenden Modells, das sich auf Handlungsträger und damit geradezu zum Protago-
die Verfahren der stets sukzessiv erfolgenden Infor- nisten« (Poschmann 1997, 298 f.). Die besondere
mationsvergabe als zentralem Merkmal dramaturgi- Herausforderung gerade solcher zeitgenössischer
scher Formgestaltung konzentriert, einen Ansatz, Theatertexte liegt in der Verschiebung des Fokus
der diesen Aspekten auch in der literaturwissen- von der fiktionalen Darstellungsdimension hin auf
schaftlich orientierten Textanalyse gerecht zu wer- semantisierte und, wie Poschmann herausstellt, the-
den sucht. Indem seine Analyse stets die dialektische atralisierte Formaspekte hin, welche die Dramen-
Verschränkung von innerem Kommunikationssys- analyse am Text erfassen kann, eine Inszenierung
tem der dramatischen Darstellung und äußerem aber nicht mehr unmittelbar mimetisch darstellen
Kommunikationssystem der dramatischen Vorstel- und abbilden kann. Poschmann spricht dabei vom
lung im Blick behält, legt er ein wichtiges Instru- »Tauschwert« der Texttheatralität für szenisch-in-
mentarium vor, das in der Dynamisierung semio- szenierte Theatralität auf der Bühne (Poschmann
tisch-strukturalistischer Kategorien eine dem origi- 1997, 328). Es ist festzuhalten, dass auch auf die Per-
när dual-dialektischen Handlungscharakter des formativität von Sprache abstellende Signale im ab
Dramas adäquate, über eine oberflächliche Textana- dem 17. Jahrhundert allmählich konventionalisier-
lyse hinausdenkende Wendung des analytischen Bli- ten Drucksatz des Dramas (ob explizit als Szene be-
ckes auch auf tiefenstrukturelle »Energien« lenkt, zeichnet, durchnummeriert oder nicht, ob ander-
wie sie sich mit Jean-François Lyotard begreifen las- weitige Markierungen), gleichermaßen wie auf diese
sen – ohne dabei jemals einen rigorosen intersubjek- Dimension abstellende Kompositionsprinzipien,
tiven Anspruch aufzugeben. stets Abschnitte isolieren und als strukturelle Ein-
heiten im dramaturgischen Bauplan ausweisen. De-
ren Kohärenz stellt sich nicht mehr allein durch re-
2.2.2 Zeitlichkeit und Dramentext: präsentationale Stimmigkeit oder semantische Iso-
Akt, Szene, beat topie her, sondern bevorzugt über dramaturgische
Kompositionsprinzipien und die performative Di-
Gleichzeitig dürfen wir aber auch nicht die Bedeu- mension des szenischen Textes.
tung jener sukzessiv-segmentierenden Signale über- Somit stellt sich eine Szene in ihrer Minimaldefi-
sehen, die uns auch ohne konkrete Aufführung vor nition als Grundsegment im stets sukzessiven zeitli-
Augen bei der Lektüre des Dramentextes begegnen: chen Verlauf des Dramas dar. In der Aufführung fin-
der Unterteilung in eine Abfolge aus Akten und Sze- den diese grundlegenden Signale szenische Entspre-
nen, die schon im Druckbild Sinn- und Handlungs- chungen, die ebenfalls eine erste, die Rezeption des
abschnitte markieren. Sie lehnen sich an historisch- Publikums strukturierende Wirkung zeitigen. Die
konventionalisierte Formgebungsprinzipien an, so Nutzung von Bühnenraum, Auftritte und Abgänge,
etwa an das klassische Ideal der fünfaktigen Struk- Musikintervalle, Wechsel in der Beleuchtung, das
tur, an alternative Strukturparadigmen des moder- Fallen des Vorhangs, maschinell orchestrierte Ver-
nen Dramas oder an Konventionen des »nicht-mehr änderungen des Bühnenbildes und ähnliche Signale
dramatischen« Theatertextes der Gegenwart. Solche vermitteln – längst vor und unabhängig von jeder
Signale steuern unweigerlich die Lektüre, Rezeption der dramatischen Darstellungsfiktion zugeordneten
und studierende Analyse. Durch die formale Ein- konkreten Semantik – Informationen über die syn-
grenzung hervorgehobener Textsegmente werden – taktische Struktur des Dramas, so über auf der Plot-
auch und gerade dort, wo diese etwa wie im postdra- ebene situierte Wechsel des Orts und/oder der Zeit,
matischen Theatertext Jelineks oder Polleschs Ket- über Veränderung der Textflächen-Struktur und
ten primär assoziativ verknüpfter Wortflächen dergleichen. Als Theaterzuschauer wissen wir doch
darstellen – stets als minimal kohärente Einheit auf- immer, dass ein Akt zu Ende gegangen ist, wenn das
gefasst. Wo die geschlossene Dramenform (s.u.) Licht angeht oder der Vorhang fällt. Die englische
längst keine Norm mehr darstellt, ist die Einheit der Renaissancedramatik vermittelte derartige Signale
Szene nicht mehr notwendigerweise durch drama- des szenischen Textes implizit, wenn sich die Bühne
tisch-fiktionale Kontinuität hergestellt, sondern am Ende der Akte leerte; der nächste Akt sollte mit
eben durch derartige texttheatrale Kohärenz- und dem allmählichen Auftritt einer zunehmenden An-
Verknüpfungsprinzipien: Sprache und ihre Materia- zahl von Figuren die Bühne erneut füllen. Die Dra-
132 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

maturgie der Französischen Klassik notierte jede Spannung auf den weiteren Verlauf der Handlung.
Veränderung im auf der Bühne anwesenden Figu- Auch die expositorische Vermittlung (s.u.) der Vor-
renpersonal durch Auftritte und Abgänge als neue geschichte fällt in Phèdre nicht präzise mit dem ers-
Szene. Wo Dramen für zunehmend elaborierte Ku- ten Akt zusammen, wie es theoretisch argumentie-
lissenbühnen und die sich damit verbreitende Illusi- rende normative Dramaturgiemodelle gerade für
onsästhetik verfasst wurden, stehen Szenenwechsel diese klassische Form einer Racineschen Tragödie
v. a. für Ortswechsel, egal ob sich zu Ende oder Be- vorschlagen würden, sondern sie reicht in den zwei-
ginn einer Szene Figuren auf der Bühne befinden. ten Akt hinein. Dies unterstreicht, dass solche Kon-
Ihrerseits werden sich Regisseure und Schauspieler ventionen, welche die Einheiten von Akten, Szenen,
immer daran machen, den Dramentext szenisch als Auftritten, Aufzügen strukturieren und die Erfah-
Abfolge von Auftritten zu visionieren und realisie- rungen und Erwartungen als gemeinsames Formen-
ren, selbst dort, wo sich Dramentexte noch nicht repertoire prägen, an dem Autoren, Theatermacher
(oder explizit nicht mehr) als wohledierte, in Szenen und Publikum gleichermaßen teilhaben, einen wei-
und Akte unterteilte und durchnummerierte szeni- teren medial bedingten Aspekt theatral-dramaturgi-
sche Ablaufpläne präsentieren. Auf- und Abtritte scher Form und ihrer historischen Spezifizität dar-
von Schauspielern, somit die Veränderung des auf stellen. Dramen liefern uns, wie Max Herrmann be-
der Bühne anwesenden Personals, stellen eine büh- tont, stets auch einen zumeist »unbeabsichtigten
nenpragmatisch gewonnene fundamentale drama- Abdruck vergangener Theaterverhältnisse« (Herr-
turgische Basiseinheit der szenisch-sukzessiven Seg- mann 1914, 4).
mentation dar, ob im Kontext der figuralen Reprä- Gleichzeitig bestimmt aber auch das Erkenntnis-
sentation oder jenseits von Darstellungsfiktion. interesse der Dramenlektüre selbst die jeweils anzu-
Ebenso stellt der Wechsel des szenografischen Ar- legenden analytischen Kategorien und ihre Brauch-
rangements – etwa durch Aktion von Bühnenarbei- barkeit; die akademische Theaterwissenschaft wird
tern, den Einsatz elaborierter Kulissentechnik, oder eine andere Feinkörnigkeit in ihrer Analyse wählen
nur eine veränderte Lichteinstellung auf leerer als Theaterpraktiker bei der Lektüre eines Dramas
Bühne – jenseits jedes rein handlungsdramaturgisch auf der Theaterprobe. Eine (gerade im anglo-ameri-
gewonnenen Kriteriums von Ortswechseln u.dgl. kanischen Theaterbetrieb) weithin verbreitete praxis-
eine wichtige segmentierende Referenzeinheit dar. orientierte Systematik des analytischen Segmentie-
Es besteht eine enge Verbindung zwischen den rens beruht dabei auf den einflussreichen Schau-
Arrangements der gedruckten Dramenform, jenen spieltheorien Konstantin Stanislawskis. Sie stellt v. a.
szenischen Struktursignalen sowie theaterpragmati- auf eine für das realistische Illusionstheater zuge-
schen Gegebenheiten. Die Brenndauer der Kerzen schnittene schauspielerbezogene Textanalyse ab. In
wurde erwähnt. Die daraus resultierende Gleichför- seiner Arbeit des Schauspielers (1924) schlägt Stanis-
migkeit eines aus fünf Akten von annähernd glei- lawski die Unterteilung des sukzessiven Szenenver-
cher Dauer konstituierten Stückes arbeitete aber zu- laufs in actions und beats vor (Stanislavski 2008).
dem ihrerseits dem klassischen Idealempfinden har- Unter action ist dabei die von einer Figur tatsächlich
monischer Symmetrie zu. Wie Pfister in einer physisch oder aber psychologisch-intentional ausge-
knappen exemplarischen Analyse von Racines führte Handlung bezeichnet, die zur Veränderung
Phèdre (1677) gezeigt hat, entspricht die Segmentie- der Situation führt, welche (hier konträr zur Ver-
rung in die fünf Akte dort keineswegs allein den wendung der Termini bei Pfister) als ›Ereignis‹
Handlungsphasen (Pfister 2001, 308 ff.). Gemäß (event) bezeichnet wird. Ein beat stellt sodann die
dem rein handlungslogischen Analysekriterium ei- kleinste Handlungseinheit dar, wobei die jeweilige
ner völligen Veränderung der Situation ergeben sich Unterteilung den pragmatischen Entscheidungen
drei Phasen – von »impasse«, Scheinlösung und Lö- der konkreten Inszenierung folgen wird. Indikato-
sung (Pfister 2001, 309) –, deren Gliederung nicht ren solcher Einheiten sind Auftritte und Abgänge
mit dem formalen Arrangement der symmetrischen ebenso wie Themenwechsel im Dialog und andere
fünf Akte übereinstimmt. Gerade im Sinne eines Veränderungen in der szenischen Dynamik zwi-
›cliffhangers‹, wie ihn heute die Seriendramaturgie schen Figuren. Während der Terminus Assoziatio-
des Fernsehens kennt, fallen die Aktschlüsse nicht nen an die Rhythmik einer musikalischen Partitur
mit dem Abschluss einer solchen Handlungsphase weckt und Stanislawski in der Tat davon spricht, dass
zusammen, sondern mitten hinein, generieren somit sich die einzelnen beats zur Partitur des Stückes zu-
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 133

sammenfügen, hat die Bezeichnung zumindest der (1937), in dem der zweite Akt zwanzig Jahre später
Legende nach einen wesentlich profaneren Hinter- spielt als die ihn umgebenden Akte (und somit in
grund: Als Stanislawski, der im Russischen von ei- der unmittelbaren Gegenwart zumindest der Entste-
nem kusok, wörtlich also Appetithäppchen oder Bis- hungszeit und ersten Aufführungen des Stückes).
sen sprach, in den 1930er Jahren in Paris unterrich- Ganz abgesehen von der szenischen Plot-Struktu-
tete, übersetzte er dies mit breitem russischen rierung und der Anordnung der fiktiven Chronolo-
Akzent in das englische »bit«. Die amerikanische gie stellen sich entlang der »äußeren« sukzessiven
Stanislawski-Schülerin Stella Adler nahm davon die Achse der theatralen Zeit-Textur wiederkehrende
missverstandene Aufforderung des Meisters, »beats« Strukturformen und -momente ein, die in den fol-
zu analysieren und zu studieren, zurück in die USA genden Abschnitten herausgearbeitet werden: die
(vgl. Lewis 1958; Merlin 2007). Konzentration semantischer Dichte am Dramenan-
fang (Exposition) und Dramenende, die Propulsion
auf ein finales Moment restloser Auflösung hin so-
wie die Auffaltung im Stückverlauf von einem initia-
2.3 Kompositionsprinzipien len dramatischen Knoten aus (analytisches Drama).
dramatischer Zeit-Räume
Wo wir zuvor das grundlegende Prinzip theatraler 2.3.1 Exposition und Dramenschluss
Sukzession als den zwangsläufigen Verlauf der szeni-
schen Repräsentation entlang der zeitlichen Achse Aus dieser Perspektive sind in der Eröffnungsphase
seiner theatralen Präsentation konstatiert hatten, eines Dramas keineswegs allein Aspekte der Vorge-
können wir zudem auch eine »innere Sukzession« schichte von analytischem Interesse, wie sie sich auf
des Dramas (Pfister 2001, 361 f.) ausmachen. Sie be- der fiktionalen Handlungschronologie vor dem
zieht sich in einem engeren Sinne auf den zeitlichen point of attack abgespielt hat, jenem Einsetzen der
Ablauf der dargestellten Handlungen. Schon nach szenisch präsentierten fiktionalen Gegenwart. Die
Aristoteles’ erwähntem Ideal eines »dramatischen Exposition verschränkt diesen Moment mit der
Ganzen«, das »Anfang, Mitte und Ende« habe (Poet. Chronologie der Fabel: Pfister definiert den klassi-
1450b25–30, 25), ist Drama also keineswegs beliebig schen Terminus als »Vergabe von Informationen
gestaltbar, sondern folgt bestimmten Anforderun- über die in der Vergangenheit liegenden und die Ge-
gen und Prinzipien. Es wäre aber zu einfach, diese genwart bestimmenden Voraussetzungen und Gege-
drei Termini direkt mit dem (chronologischen) benheiten« (Pfister 2001, 124). Daneben spielt aber
Handlungsverlauf als Anfang, Mitte und Ende der auch der davon zu unterscheidende ›dramatische
dargestellten Handlung aufzufassen. Auf die chrono- Auftakt‹ eine Rolle, der mit der »Aufmerksamkeits-
topische Struktur des binnenfiktionalen Kommuni- weckung des Rezipienten und der atmosphärischen
kationssystems bezogen, verweist uns dieses innere Einstimmung« (Pfister 2001, 124) zu tun hat. Beide
Sukzessionsprinzip auf die Konvention, dass aufein- Aspekte fallen im klassischen Dramenmodell, etwa
anderfolgende Abschnitte (Szenen, Akte) des Dra- in den Tragödien der Französischen Klassik, zusam-
mas im Normalfall auch in der fiktionalen Chrono- men, während Shakespeare (so im spektakulären
logie aufeinanderfolgen mögen. Ebenso konventio- Schiffbruch am Auftakt von The Tempest, 1610/11)
nell akzeptieren wir chronologische Zeitsprünge primär das Interesse des Publikums sichert, sich der-
zwischen Szenen und Akten. Rückblenden aber, in art die fiktionale Handlung und die auf Prosperos
denen etwa ein Akt vor den ihn umgebenden Akten Insel führende Vorgeschichte erst später entfaltet,
spielt, stellen genauso wie parallele Handlungsse- wobei v. a. der unmittelbar folgende Dialog zwischen
quenzen (in denen etwa aufeinanderfolgende Szenen Prospero und Miranda gewissermaßen den fiktio-
zeigen, was sich in fiktionaler Chronologie gleich- nal-inhaltlichen Kontext nachreicht. Im Unterschied
zeitig abspielt), stets besonders markierte Ausnah- dazu etabliert der Dialog zwischen Oreste und Py-
men dar – nicht zuletzt weil sie eben mit dem aktuel- lade in Racines Andromaque (1667) die expositori-
len Zeiterleben des Publikums im Verlauf der Auf- schen Grundlagen vollständig, bevor erst mit der
führung in Konflikt stehen (Pfister 2001, 361 ff.). Ein folgenden Szene (und nach dem Abtreten Pylades)
prominentes Beispiel, das auch Pfister heranzieht, die dargestellte Handlung in Gang gebracht wird
findet sich mit J.B. Priestleys Time and the Conways (Pfister 2001, 122–37). Als confident (Vertrauter)
134 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

bzw. »protatische Figur« artikuliert Pylade hier die Selbst der Dramenschluss kann noch expositori-
Neugier des noch uninformierten Publikums und sche Information enthalten, die sowohl für Figuren
stellt Fragen an dessen Stelle. Diese Rolle auf der äu- als auch das Publikum zusätzliche Informationen
ßeren dramatischen Kommunikationsachse ist dabei einführt und somit das bisher Geschehene in eine
dennoch ganz im Sinne der Politik des absoluten neue Perspektive rückt, nicht zuletzt im sich sozusa-
klassischen Dramas auch intern restlos motiviert, da gen rückwärts entfaltenden analytischen Drama
sich die beiden Freunde vermeintlich sechs Monate (s.u.). Dem Dramenende als Schlusspunkt der szeni-
nicht gesehen haben und sich so über das neueste schen Präsentation kommt jedoch unabhängig von
Geschehen austauschen. Im Gegensatz dazu stehen der Komposition der Exposition eine markierte Stel-
Prolog und Erzählerfigur, nicht zuletzt auch, weil lung zu. Bereits die antike Dramentheorie beschrieb
diese scheinbar sowohl außerhalb der dramatisch re- die auf den Schluss bezogenen Aspekte von Lysis
präsentierten Handlung stehen (sie durchbrechen (Auflösung), Peripetie (Handlungsumschwung) und
den abgeschlossenen fiktionalen Kosmos) als auch Anagnorisis (Wiedererkennen) (vgl. Poet. 1452a22–
außerhalb des realen Erfahrungszeitraums der Auf- 1452b14, 35–37 und Poet.1454b19–1455a22, 51–53).
führung (es handelt sich um einstudiertes Schau- Die Französische Klassik entwickelte ihre Theorie
spiel). Ein paradigmatisches Beispiel der Fiktionali- des dénouement als Auflösung des dramatischen
sierung einer noch monologisch strukturierten ex- Konfliktes in die Katastrophe des Dramenendes (in
positorischen Prologsequenz stellt der Auftakt von der Tragödie) bzw. in eine glückliche Wendung (in
Shakespeares Richard III (1597) dar, mit der sich die der Komödie). Auf fiktionaler Handlungsebene
Titelfigur in Tradition der allegorischen vice-Figur kommt das Drama, gemäß dieser klassischen Kon-
(Personifikation der Sünde) der englischen Morali- vention, somit zu seinem Abschluss. Das Dra-
tätenspiele selbst vorstellt und charakterisiert (vgl. menende ist dabei von einer Reihe historisch variab-
Kap. III.5). Auf simultaner dramaturgischer Ebene ler Konventionen markiert, die sowohl hinsichtlich
können zudem auch außersprachliche Zeichen, vom der repräsentierten Fiktion wie der Ebene der szeni-
Bühnenbild bis zu Kostüm und Musik, zur Vermitt- schen Präsentation wirksam werden. Eine der ältes-
lung expositorischer Information beitragen. ten Konventionen zum Dramenschluss stellt der
Bereits Goethe und Schiller reflektierten in ihrem Auftritt eines deus ex machina in der antiken Tragö-
berühmten Briefwechsel ausführlich die Problema- die dar: das Erscheinen eines Gottes, der die Lösung
tik der Exposition. Sie mache »dem Dramatiker viel des Dramas durch den Eingriff von außen herbei-
zu schaffen, da man von ihm ein ewiges Fortschrei- führt. Noch in der Französischen Klassik finden sich
ten fordert, und ich würde das den besten dramati- säkularisierte Varianten dieser Dramenlösung, etwa
schen Stoff nennen, wo die Exposition schon ein Teil im Auftritt des königlichen Kommissars am Ende
der Entwicklung ist« (Goethe 1970, 288). Mit Pfister von Molières Tartuffe (1664). Während die – ur-
ist nun die Gegebenheit der Informationsvergabe in sprünglich ja bei religiösen Festspielen am Fuße der
den Vordergrund gestellt und das problematische Akropolis uraufgeführten – griechischen Tragödien
Ineinssetzen von dramatischer Exposition und sze- durch den Auftritt der Götter am Dramenende den
nischer Auftaktstellung verabschiedet. Hier zeigt mythologisch ohnehin vertrauten dargestellten
sich, dass das Spektrum dramaturgischer Strukturen Handlungsverlauf explizit in das entsprechende
wesentlich vielschichtiger ist als der lineare Verlauf Wertesystem einordnen, affirmiert der Auftritt eines
von »Anfang, Mitte und Ende« einer fiktionalen Ge- königlichen Repräsentanten gleichermaßen die Mo-
schichte: Die Vorgeschichte kann (wie bei Racine, narchie Ludwig XIV. zu Zeiten Molières. Eine wei-
und entsprechend parodiert am Auftakt von Io- tere Funktion gerade dieses Auftrittes am Ende des
nescos Kahler Sängerin, 1950) am Drameneingang Tartuffe ist die Herstellung der »poetischen Gerech-
expliziert oder über den Dramenverlauf verteilt wer- tigkeit«: eine Konvention, die im europäischen
den, sie kann streng isoliert oder in die Dramen- Drama bis zum 18. Jahrhundert normativ wirkte
handlung integriert vorgestellt werden und monolo- und die in Brechts – auf John Gays Beggars Opera
gisch oder dialogisch vermittelt sein. Die Exposition von 1728 basierender – Dreigroschenoper (1928) sa-
wird, wie meistens, auf die Vergangenheit, kann aber tirisch umgekehrt wird, wenn der Gauner Macheath
ebenso – wie in der Weissagung der Hexen am Auf- ebenfalls durch königliche Intervention in letzter Se-
takt von Shakespeares Macbeth (1611) – auf die (fik- kunde vor dem Schafott bewahrt wird. Eine weitere
tionale) Zukunft weisen. am Dramenende wirksame Konvention ist etwa der
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 135

graduelle Auftritt des gesamten Figurenpersonals dominant teleologischen, auf ein Ende hin orientier-
(und damit Schauspielerensembles) im Laufe der ten Kausal-Logik, die von einem finalen Blickpunkt
letzten Szene, der dann in einen durch die Dramen- aus sämtliche Stränge des Dramas restlos auflöst und
handlung nicht unbedingt motivierten finalen Tanz integriert. In einer für die deutsche Dramenge-
münden mag (etwa in den englischen Komödien der schichte klassischen Debatte machten Goethe und
Shakespeare-Zeit). Zudem ist der Dramenschluss Schiller in ihrem Briefwechsel von 1797 das Drama-
oftmals durch verschiedenartige zusammenfassende tische gerade in einer derartigen ›vorwärtsdrängen-
Wertungen geprägt, welche gewissermaßen »die den Endbezogenheit‹ der einzelnen Teile des Dra-
Moral von der Geschichte« explizit ausbuchstabie- mas aus, der sie die Selbständigkeit der einzelnen
ren und dem Publikum mitgeben; diese mag sowohl Teile eines epischen Textes gegenüberstellten (Goe-
durch einen handlungsinternen oder einen aus der the 1970, 320). Diese Endbezogenheit ist hier aber
Handlung heraustretenden Epilog artikuliert wer- nicht oberflächlich mit jener Handlungsspannung
den (auch hier liefern Shakespeare-Dramen reich- auf den Ausgang des Plots hin zu verwechseln, wie
haltiges Beispielmaterial). sie auf geradezu klischeehafte Weise in Kriminalge-
Einem derartigen sogenannten »geschlossenen schichten zum Tragen kommt: In der Spannung, wie
Dramenende«, das die dargestellten Konflikte auf- diese denn ›ausgehen‹, wer der Mörder war, usf.
löst, steht der »offene Schluß« gerade des modernen Dramatische Finalität ist zuvörderst im idealisti-
Dramas gegenüber (Pfister 2001, 138–141). Gera- schen Kontext der klassischen Dramaturgie zu situ-
dezu paradigmatisch treten am Ende von Brechts ieren: in ihrem Bezug auf die Präsentation von Ideen
Der Gute Mensch von Sezuan (1943) die Götter auf, (etwa der des Menschlichen an sich in Goethes Iphi-
doch in Verkehrung der deus-ex-machina Konven- genie, 1779), dem die aktuell repräsentierte Hand-
tion sehen auch sie »betroffen / den Vorhang zu und lung eher nachgeordnet ist. Es lassen sich somit zwei
alle Fragen offen« (Der gute Mensch von Sezuan, Dimensionen ausmachen, in denen das Finalitäts-
Brecht 1993, 407). Entsprechend münden auch an- prinzip auf die jeweilige dramaturgische Strukturie-
dere moderne Klassiker, etwa die Dramen Samuel rung der Dramen zu wirken vermag: Zum einen be-
Becketts, nicht mehr in einer abschließenden Auflö- zieht sich Finalität auf die Zielstrebigkeit und Zielge-
sung des dramatischen Konflikts. Wie Pfister richtig richtetheit der sukzessiven Präsentation, die ohne
herausstellt, sind die allein an der dargestellten Umwege und Abwege als buchstäblicher Fortschritt
Plot-Ebene ausgerichteten (und somit primär litera- vom Auftakt zum Ende führt. Entsprechend setzt
turwissenschaftlichen) Unterscheidungen von ge- Staiger die Finalität des Dramatischen den anderen
schlossenem und offenem Schluss als relativ zu literarischen Grundformen entgegen: »Der Zweck
betrachten: Für den Zuschauer schließt die Theater- des Dichters liegt nicht, wie in der Epik, in jedem
vorstellung auch mit einem offenen Schluss ab. Punkt der Bewegung, auch nicht in der Art der Be-
Beide Konventionen verweisen auf ein jeweiliges wegung, wie in der Lyrik, sondern in ihrem Ziel«
Weltbild, und auch im scheinbar offenen Dramen- (Staiger 1961, 163). Dies bedeutet, und damit kommt
schluss – etwa bei Brecht oder Beckett – sei das Pub- der zweite zentrale Aspekt der Finalität ins Spiel,
likum keineswegs in seiner Erfahrung dieses finalen dass sich das Drama spätestens von seinem Schluss
Momentes ›offen‹, sondern »aufgrund impliziter Be- aus betrachtet als präzise komponiertes Ganzes dar-
wertungssignale zur Kritik an dem System aufgefor- bietet: Jeder Bestandteil ist streng zweckmäßig und
dert, das dieses Dilemma hervorbringt« (Pfister absichtsvoll eingesetzt in Hinblick auf das Gesamt-
2001, 140). bild des Dramas als Text, nicht nur als Verlauf. Alle
Elemente bauen aufeinander auf und sind als Kom-
ponenten eines geschlossenen, auch in diesem Sinne
2.3.2 Finalität ›finalen‹ fiktionalen Kosmos in sich verschränkt. Im
Extremfall zeigen sich einzelne Szenen als unver-
In einem allgemeinen Sinn streben die meisten Dra- setzbare Bestandteile einer engmaschig geknüpften
men, wie auch immer ihre narrative Struktur im De- Text-Architektonik.
tail orientiert und ihr Ende strukturiert sein mag, als Finalität übermalt derart auch das Moment der
Folge des dramaturgischen Grundprinzips der Suk- sukzessiven Entwicklung in einem Gesamtzusam-
zession auf das Stückende zu. Der Begriff der Finali- menhang, ebenso wie sie die Simultaneität des Dra-
tät markiert aber im Besonderen die Variante einer mas an dessen diachrone Achse kettet: Sie verabsolu-
136 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

tiert die dramaturgische Konkatenation. Klotz gewissermaßen einheitlich getaktet, unabhängig von
spricht von der »reinen Sukzession« (Klotz 1992, jeder sich aufdrängenden Erlebnisqualität von Zeit,
41), in der kein einzelner Moment, keine einzelne in der temporeiche, drängende Aktionen in einem
Szene sich selbst genügt, sondern stets auf absolute anderen sensorischen Timbre präsentiert wären als
Weise »final« einem größeren Ganzen zuarbeitet. etwa ruhige, nach innen gewendete Reflexionspassa-
Für den Zuschauer bedeutet dies die Fokussierung gen o. ä. Klotz spricht von der Überlagerung des sze-
weg vom Moment hin auf den Zusammenhang: »Er nischen Augenblicks, der »Entgegenwärtigung« dra-
erblickt nicht Punkte, die ihn mitreißend gefangen- matischer Gegenwart: »Der Augenblick hat keine Ei-
nehmen, sondern Linien; nicht die Szene A oder F genmacht, er ist vorwegbestimmt durch ständig
einzeln, in ihrer eigengewichtigen, unverwechselba- aktualisierte Vorgeschichte und teleologisch geprägt
ren Gegenwart, sondern mit ihnen das System der durch die starke Spannung dem Ende entgegen«
Beziehungen. Geradeso wie der Betrachter eines Bil- (Klotz 1992, 41).
des, einige Schritte zurücktretend, das Kraftfeld des Im Unterschied zu den elementaren Prinzipien
Details verläßt, stattdessen aber den Zusammen- dramatischer Sukzession und Konzentration handelt
hang des Ganzen besser erfaßt« (Klotz 1992, 44). es sich bei Finalität, wie bereits angedeutet, um ein
Für die grundlegende Textstruktur der Dramen historisch-kontingentes Merkmal dramaturgischer
bedeutet Finalität also eine Tendenz der einzelnen Formsprache. Sie setzt sich als Resultat einer neu-
Teile zu Unselbständigkeit und relationaler Ver- zeitlich-aufklärerischen Weltsicht, somit eines weit
knüpfung: Akte und Szene gewinnen ihre Bedeu- über das Drama oder Literatur an sich hinausrei-
tung allein in Bezug auf das Ziel, den Ausgang des chenden geistesgeschichtlichen Paradigmenwech-
Dramas. Sofern Nebenhandlungen vorhanden sind, sels als dramaturgisches Kompositionsprinzip durch
sind auch diese Bestandteil eines final orientierten und ist somit im Kontext des bürgerlichen, auf Iden-
Kalküls dramatischer Interdependenz, selbst wo sol- tifikation mit Figuren beruhenden Illusionstheaters
che Subplots zunächst noch als relativ eigenständig zu situieren. Lessing artikulierte in seiner Hamburgi-
erscheinen mögen. Im Kontext der dramaturgischen schen Dramaturgie (1767–69) das exemplarische
Finalität entdecken sich diese aber allmählich als Modell jener neuartigen Entwicklungsdramaturgie,
notwendige Bestandteile der zentralen Haupthand- wie sie geistesgeschichtlich auch eng mit der Etablie-
lung und somit dieser nachgeordnet. Die Aufmerk- rung der bürgerlichen Moderne und ihres auf Indi-
samkeit und v. a. Spannung der Zuschauer ist vor- vidualität basierenden Subjektbegriffs verknüpft ist,
nehmlich auf diesen Ausgang einer dramatischen sich aber auch in den ebenfalls strikt zielorientierten
Entwicklung gerichtet, welche dem Publikum derart Produktionsverhältnissen der zunehmenden me-
einerseits als sukzessiv-final präsentiert wird, jedoch chanischen Industrialisierung manifestiert. Die fi-
hinsichtlich des fiktionalen Handlungsverlaufes als nale Endbezogenheit als Formprinzip steht somit im
zumindest prinzipiell offen hinsichtlich des ihm direkten Verhältnis zur dramatischen Charakterent-
noch unbekannten Ausgangs erlebt bleibt. Damit wicklung, die durch Motivation, Absichten und
lässt sich dramatische Finalität von einer, wie Brecht grundsätzliche Handlungsmöglichkeiten und Ent-
es formuliert, auf den »Gang« der Handlung (und scheidungen von Figuren deren Schicksal im Grund-
eben weniger ihren Ausgang) gerichteten epischen satz nun als (innerhalb der fiktional-finalen Welt)
Dramaturgie unterscheiden, in der den einzelnen selbstbestimmt auffasst. Im Extremfall der idealis-
Bestandteilen wesentlich größere szenische Autono- tisch geprägten klassischen ›absoluten‹ Dramaturgie
mie zukommt (Brecht 1993, 74–86). Dies zeigt sich ›entstofflicht‹ die zentrale Figur als Repräsentant ei-
zudem im Verhältnis der identifizierten Zeitebenen: ner Ideenposition die von ihm ausgeführte Hand-
Ganz im Sinne von Szondis Postulat der klassischen lung, die nicht mehr direkt szenisch präsentiert wird
»Absolutheit« des Dramas (vgl. Szondi 1965) (vgl. (man denke noch an die spektakulären Gefechtssze-
Kap. II.6) überformt die szenische Eigenzeit des nen in Shakespeares Dramen), sondern sich als Ge-
Dramas hier sowohl die real-theatrale Zeit der Auf- dankenwelt und Reflexion indirekt vermittelt und
führung als auch die fiktionale Zeit der dargestellten gerade dadurch der Logik der Welt enthoben und in
Handlung. Direkt aus dramatischer Finalität resul- einen eigenen dramatischen Chronotopos eingeglie-
tiert ein einheitlicher, ungebrochener Zeitfluss, der dert ist.
das beste Bild für das Funktionsprinzip dramati- Das Finalitätsparadigma wird spätestens mit der
scher Finalität abgibt. Die zeitliche Sukzessivität ist fragmentarischen Ausschnitthaftigkeit des moder-
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 137

nen, ›offenen Dramas‹ (s.u.) wieder durchbrochen. sowie den Vermittlungsprozess auf der äußeren
Mit Reinhold Grimm (1963) lässt sich der klassi- »Theatron-Achse« wieder eher in den Vordergrund
schen Finalität dort eine zirkuläre Struktur gegen- rücken.
überstellen, die eben nicht mehr einem Höhepunkt
entgegenstrebt, sondern ein thematisches Zentrum
umkreist. Diese einer progressiv-linearen Entwick- 2.3.3 Analytisches Drama
lung entgegenstehende Tendenz lässt sich an Stü-
cken Brechts und Becketts exemplarisch vorführen. Wie Szondi betont, setzen etwa Henrik Ibsens Dra-
Während jene modernen Dramen vom Zerbrechen men am Ende des 19. Jahrhunderts durch ihre analy-
der geistesgeschichtlichen Gewissheit des selbstbe- tische Struktur, die aus der präsentierten Gegenwart
stimmten, autonomen Individuums und der sinner- herausreicht, eines der Grundgesetze der klassischen
füllten Fortschrittlichkeit der Moderne künden, Dramaturgie außer Kraft, nach dem sich das Drama
skizziert die auf dramaturgischer Simultaneität be- geradezu ausschließlich im präsent-präsentierten
ruhende Struktur des europäischen Handlungsdra- Moment konstituiert und derart seine »Absolutheit«
mas aus Mittelalter, Renaissance und Barock einen behauptet (Szondi 1965, 22–31). In die einst konsti-
Gegenentwurf zu dramatischer Finalität unter ent- tutive gegenwärtige Gleichzeitigkeit von Darstel-
gegengesetzten Vorzeichen. Hier waren es als über- lung, Dargestelltem und Rezeption schleichen sich
zeitlich empfundene Ordnungen, welche den Aus- Momente analytischer Distanz, in der dramatische
gang des dramatischen Geschehens stets bereits in Fluchtlinien in die Vergangenheit das absolute Prä-
sich trugen. Wo Autoren wie Shakespeare und Gry- sens durchstoßen. Das Prinzip des analytischen Dra-
phius historische Ereignisse und legendenhafte Fi- mas ist allerdings mit dem final ausgerichteten klas-
guren zu den Helden ihrer Stücke machten, illust- sischen Drama nicht notwendigerweise inkompati-
rierten und affirmierten diese legendenhaften oder bel. Es bezeichnet eine Technik, in der die im Auftakt
historischen Geschichten als allegorische Darstel- präsentierte Situation im weiteren Verlauf der szeni-
lung etwa die religiöse christliche Heilsgewissheit schen Handlung sukzessive in ihren Bedingungen
oder die auf der (ebenfalls göttlichen) Harmonie von beleuchtet wird; der Ausgang ist somit bereits vorge-
Mikro- und Makrokosmos gründende Weltenord- zeichnet. Es wird somit kaum verwundern, dass
nung. Das dramatische Potenzial lag nicht in der auf Schiller den Begriff der »tragischen Analysis« im
einen Ausgang gerichteten Spannung oder der mit- Briefwechsel mit Goethe von 1797 (Goethe 1970,
leidenden Identifikation mit einer Figur, sondern in 370) am Beispiel eines Dramas exemplifiziert, das
der Konfrontation von konträren Positionen, von sich einerseits dem Paradigma neuzeitlicher Drama-
unzulässigen Abweichungen dieser Ordnung (etwa turgie entzieht, andererseits im Sinne der Spiegelung
der Usurpation eines Thrones, der über den zuge- der damaligen Gegenwart im klassisch-antiken Vor-
dachten Platz hinausstrebenden Ambition) bei be- bild ein Muster der neuen Charakterdramaturgie ab-
kanntem Ausgang. Mit ihren nicht selten auf der rei- zugeben scheint: Sophokles’ König Ödipus (ca. 434
nen Handlungsebene scheinbar unverbundenen v. Chr.). Die Zuschauer werden hier – über ihre ge-
multiplen Plotstrukturen oder den Handlungsfort- rade im antiken Präsentationskontext vorauszuset-
schritt unterbrechenden pantomimischen Einlagen zende Vertrautheit mit dem Mythos hinaus – in der
oder Reyen manifestieren diese nonfinalen Form- ersten Dramenszene explizit Zeugen, wie der Seher
prinzipien und formelhaft angewandten Gattungs- Teiresias den Titelhelden des (in der Vergangenheit
konventionen gerade jene ›größere‹ theologisch- liegenden) Mordes und der Blutschande bezichtigt.
harmonische Weltenordnung, welche durch das in- Mit Pfisters Termini lässt sich hier dem »Informati-
dividuelle Exempel bestätigt und anschaulich onsvorsprung« der Zuschauer das Unwissen des
gemacht wird. Im Sinne der beiden elementaren dra- Helden gegenüberstellen (Pfister 2001, 81 f.), der erst
maturgischen Achsendimensionen betont das finale im Verlaufe des Dramas diese Wahrheit entdecken
Drama der Neuzeit somit die linear-diachrone kau- wird: Die Spannung ist derart nicht mehr auf den
sale Handlungsverkettung innerhalb der szenisch- Ausgang, sondern auf die Art und Weise ausgerich-
fiktionalen Raumzeit, während sowohl das vormo- tet, in der sich diese Anagnorisis auch als das Aner-
derne Drama als auch Theatertexte des 20. Jahrhun- kennen dieser Schuld durch Ödipus vollzieht. So
derts und der Gegenwart ihrerseits gerade die spannt das analytische Dramenmodell hier beispiel-
synchron-simultanen dramaturgischen Koordinaten haft einen Bogen zwischen der (vor der präsentier-
138 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

ten Handlung liegenden) Vorgeschichte – die Er- chen Variationen seit der Antike und wurde v. a. von
mordung des eigenen Vaters Laios durch Ödipus, August Wilhelm Schlegel wieder in die Diskussion
seine Heirat mit der eigenen Mutter Iokaste – und gebracht und in jüngerer Zeit besonders durch Vol-
des präsentierten dramatischen Moments. In diesem ker Klotz als explizit dramaturgisches Kompositi-
klassischen Beispiel steht die analytische Dramen- onsprinzip erweitert. Das Begriffspaar weist über die
struktur mit der (ebenfalls von Goethe und Schiller rein handlungsimmanent aufgefasste Beschrei-
diskutierten) dramatischen Finalität im Einklang, bungskategorie geschlossener und offener Dra-
denn in König Ödipus ist das ganze Geschehen trotz menenden hinaus. Klotz versteht seine vorgeschla-
der gewissermaßen auf die Vergangenheit ausgerich- gene typologische Skala als Bestimmung jener dra-
tete Zeitachse auf den noch künftigen Moment die- maturgischen Eckpunkte, »die innerhalb einer
ser Anagnorisis der Hauptfigur hin ausgerichtet. Spanne von etwa 400 Jahren den Spielraum dramati-
Wie erwähnt, können unter den modernen Dra- scher Gestaltungsprinzipen abstecken« (Klotz 1992,
men gerade die Stücke Ibsens als exemplarisch für 20). Er sucht nach analytischen Kategorien, welche
analytische Dramenformen gelten. Die gegenwärti- sowohl über einen Dramen hermeneutisch als litera-
gen Welten Nora Helmers oder Hedda Tessmanns rische Texte interpretierenden Zugang als auch über
sind – wie nicht zuletzt der Mädchenname der ein primär von Gattungsformen und -konventionen
Hauptfigur im Dramentitel Hedda Gabler (1891) an- (wie Tragödie und Komödie) ausgehenden Ansatz
deutet – geradezu determiniert von in der drama- hinausweisen und dabei insbesondere die analyti-
tisch-fiktionalen Vergangenheit liegenden Ereignis- sche Sensibilität für das szenische Potenzial und die
sen wie der gefälschten Unterschrift Noras oder Hed- theatrale Realisierung der Dramen schärfen sollen
das Beziehung zu Ejlert Løvborg. In diesen Beispielen (Klotz 1992, 15 f.). Seinen Begriffsapparat übernahm
werden sowohl einzelne Figuren auf der Handlungs- Klotz auf erweiternde Weise v. a. vom Schweizer
ebene, aber auch dem Publikum im Verlauf des Dra- Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin. In den Kunstge-
mas nach und nach jene die dramatische Konstella- schichtlichen Grundbegriffen (1915) hatte dieser die
tion bestimmenden Kräfte offenbar. Jene retrospek- kennzeichnenden künstlerischen Gestaltungsprinzi-
tive Struktur analytischer Dramentechnik hat sich im pien von Renaissance- und Barockkunst kontras-
zeitgenössischen Drama längst ihrerseits wieder kon- tiert: einerseits, in der geschlossenen Form, »eine
ventionalisiert: Wo Ibsen derart die Normen des Darstellung, die mit mehr oder weniger tektoni-
pièce bien faite unterlief, geht im zeitgenössischen schen Mitteln das Bild einer in sich selbst begrenzten
Drama eine analytische Struktur durchaus mit den Erscheinung macht, die überall auf sich selbst zu-
Formen eines populären well-made play zusammen; rückdeutet, wie umgekehrt der Stil der offenen Form
so spielen etwa in Michael Frayns Copenhagen (1998) überall über sich hinausweist, unbegrenzt wirken
die drei ›realen‹ Hauptfiguren (die Atomphysiker will« (zit. n. Klotz 1992, 11). In der gegenüberstellen-
Werner Heisenberg und Niels Bohr sowie Bohrs Frau den Untersuchung exemplarischer Werke von Ra-
Margrethe) in der dramatischen Gegenwart des Jen- cine, Goethe und Schiller einerseits, Büchner, Lenz,
seits nach ihrem Tod nochmals entscheidende Mo- Wedekind und Brecht andererseits fokussiert Klotz
mente in der Entwicklung der Atomtechnik in den die unterschiedliche Ausgestaltung der dramaturgi-
1940er Jahren durch. Charakteristisch ist hier die re- schen Formparameter von Handlung, Personal,
trospektive Orientierung vom auf der Story-Zeitlinie Raum, Zeit, Sprache und Komposition in den beiden
letzten Kapitel aus, das ›Revue-passieren-Lassen‹ und Paradigmen. Das geschlossene Drama beschreibe
allmähliche Entfalten von in der Vergangenheit lie- den »Ausschnitt als Ganzes«, während das offene
genden, und somit in ihrem Verlauf nicht mehr ver- Drama »das Ganze in Ausschnitten« präsentiere
änderbaren Ereignisfolgen. (Klotz 1992, 216 ff.).
Die in den Dramen der französischen und der
deutschen Klassik auszumachende Formsprache des
2.3.4 Formprinzipien des geschlossenen geschlossenen Dramas insistiert somit auf dem bei
Dramas Aristoteles ausdrücklich artikulierten dramaturgi-
schen Ideal von Einheit und Ganzheit des Dramas:
Die bereits mehrfach angesprochene Gegenüberstel- »ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat«
lung von »geschlossener« und »offener Dramen- (Poet. 1450b25–30, 25). Der Anfang eines Dramas
form« beschäftigt die Dramentheorie in mannigfa- gründet somit nicht in der Vorgeschichte, jenseits
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 139

seines Horizonts liegenden Momenten, sondern in auf makroskopischer Ebene (dem Abzielen auf eine
sich selbst; nach dem Ende tritt nichts mehr ein. In allgemeine Idee) wie auf mikroskopischer Ebene
der sukzessiven Abfolge des Dramas ereignet sich (etwa bis in durchgehende Metaphern hinein) be-
nichts, was sich nicht aus dem Vorausgegangenen stimmt und die planmäßige Komposition des ge-
direkt und logisch ableiten ließe – auch wenn sich, schlossenen Dramas als strukturiertes Ordnungs-
sowohl für die Zuschauer als auch für die Figuren, ideal signalisiert.
diese gesteigerte Finalität des geschlossenen Dramas Um diese derart durchgeplante und extrem regle-
zuweilen erst vom Schluss her betrachtet restlos ma- mentierte Dramaturgie des geschlossenen Dramas
nifestiert. Hinsichtlich der dramaturgischen Zeit- hervorzuheben, zieht Klotz den Vergleich mit einem
struktur erweist sich dabei nicht unbedingt die viel- Duell heran, das die »Grundfigur des dramatischen
zitierte »Einheit der Zeit«, im Sinne der Beschrän- Geschehens« im geschlossenen Drama anschaulich
kung des szenisch dargebotenen Handlungsverlaufes verbildliche (Klotz 1992, 29 ff.). Die austarierte, bi-
auf ein Maximum von 24 oder 30 Stunden, entschei- polare Auseinandersetzung zweier profilierter Geg-
dend. Vielmehr ergibt sich die Geschlossenheit v. a. ner, von Protagonist und Antagonist, folgt, im
durch die Ausformung der dramatischen Sukzession Drama wie im Duell, festgeschriebenen Mustern.
als ein final orientierter, gleichmäßig fortschreiten- Klotz zieht, vornehmlich seine Beispiele des Cid
der Fluss. Dieser lässt kaum Raum für Ausbrüche (1637), der Iphigenie und des Torquato Tasso (1807)
aus dem chronologischen Ablauf – im Gegensatz zur auswertend, Parallelen bis ins Detail: Auch das Duell
episodischen Struktur des offenen Dramas, dessen ist der höfisch-aristokratischen Gesellschaft zuge-
Szenenfolgen oftmals zeitlich in ihrem Bezug oder ordnet, die das handlungstragende Figurenpersonal
Abstand zueinander unbestimmt bleiben (Pfister des geschlossenen Dramas abgibt. Die ›Waffe‹ des
2001, 366). In einem Musterfall der geschlossenen Dramas ist die Sprache. Dem reglementierten Ablauf
Dramenform wie Goethes Iphigenie gehen die ein- eines Duells entspricht der Wortwechsel im figura-
zelnen Szenen innerhalb eines Aktes nahtlos inein- len Dialog in erlesener, gleichermaßen regelhafter
ander über: mindestens eine Person bleibt stets auf und regelmäßiger Sprache, so etwa im rein rhetori-
der Bühne anwesend, und die zu Beginn der folgen- schen, stichomythischen Rededuell, in dem die Geg-
den Szene neu auftretenden Figuren werden in der ner kunstvoll phrasierte einzeilige Sentenzen austau-
Regel bereits in den letzten Zeilen der vorhergegan- schen. Die (verbalen) Auseinandersetzungen von
genen Szene als im Kommen begriffen angekündigt. Iphigenie und Thoas oder Maria Stuart und Elisa-
Der szenische Augenblick des geschlossenen Dra- beth sind Musterbeispiele solcher Dramenduelle der
mas ist somit »entgegenwärtigt« und dem absoluten geschlossenen Form. Wie auch Klotz weiß, stößt
Gesetz der dramatisch-finalen Eigenzeit unterwor- sein Gleichnis auf eine markante Grenze: Tatsächli-
fen (Klotz 1992, 41). Wo die präsentierte Handlung che, mit Waffen ausgeführte Kämpfe und Duelle fin-
Ausschnitt, Teil oder Kulminationspunkt einer wei- den im klassischen Drama der geschlossenen Form
teren dramatischen Entwicklung ist, präsentiert das in der Regel nicht statt. Im Unterschied zu den spek-
geschlossene Drama diesen Ausschnitt als ultimati- takulären Kampfszenen etwa in Shakespeares Dra-
ven pars pro toto. Wo es in seiner oftmals komple- men propagiert das streng stilisierte, geschlossene
xen, aber in der Exposition präzise dargelegten Ver- Drama eine idealistische Ideologie von Harmonie,
weistextur stets über sich hinausweist, bleibt es dabei Mäßigung und Ausgewogenheit, in der für einen
immer dramatisches Ganzes: Exposition, Erinnerun- weltlichen Kraftexzess kein Platz ist. Die derart mo-
gen, Reflexionen gliedern selbst auf der fiktional- derate geschlossene Form hält an der rationalen Er-
chronologischen Achse vorgängige Ereignisse dem fassbarkeit der Welt in Sprache fest, die mit aufge-
sukzessiven Fluss ein. Selbst unvorhergesehene klärtem Bewusstsein ineins gesetzt wird: Diese »ent-
Schicksalseinbrüche werden in diesen Fluss bruch- stofflichte« Welt, so Klotz, »erblickt auch noch dort
los integriert; sie sind oftmals reflektierend nach- Gesetz und Artikulation, wo Wahn oder leiden-
vollzogen oder berichtet und gerade nicht direkt sze- schaftliche Raserei lautwerden, wie in Passagen des
nisch präsentiert. Goetheschen Orest oder der Racineschen Phèdre«
Diese Ordnung zeitlichen Gleichmaßes, von Fi- (Klotz 1992, 91).
nalität und Kontinuität, entspricht einem Konti- Wo dennoch gewaltsame Begebenheiten die dra-
nuum des Themas und Inhalts, welches die Dramen matische Handlung prägen, sind diese von der
über einzelne Szenen oder Dialoge hinaus sowohl Bühne verbannt und mittelbar berichtet; im Extrem-
140 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

fall solcher dramatischer bienséance, wie sie die Drama allerdings ein neues Paradigma von kohä-
Französische Klassik auszeichnete, wird etwa nicht renzbildenden Mitteln und Formen eingeführt und
einmal das Wort »Tod« ausgesprochen. Dies lenkt ausdifferenziert. So verweist etwa die typische zykli-
die Aufmerksamkeit des Publikums von der hier sche Struktur, in der etwa das offene Stationendrama
nicht mehr unmittelbar szenisch präsentierten dra- Baal (1922) am Ende wieder zu seinem fiktionalen
matischen Begebenheit an sich auf die Reaktionen Ausgangsort, in die Schänke des Anfangs, zurück-
der Hauptfiguren beim Empfang dieser Botschaften kehrt, auf die im Dienste einer repräsentierten Aus-
um; der Zuschauer wird in Distanz zur dramatisch sage stehende dramaturgische Kalkulation.
repräsentierten Gegenwart versetzt. Nicht das äu-
ßerliche fiktional-dramatische Geschehen an sich,
sondern die innere Handlung, der Charakter der Fi- 2.3.5 Vom »Offenen Drama« (Klotz) zum
guren steht im Vordergrund. Der Fokus verschiebt »Offenen Theater« (Schechner)
sich zusehends von mythos und Fabel auf die vom
Drama inszenierte Ideenwelt und somit auf die Figu- Klotz setzt seine Beschreibung der offenen Form mit
ren und ihre Entwicklung. In Kombination mit der Shakespeare an, in dessen multiplen Plotstrukturen
reinen Finalität des geschlossenen Dramas führt er ein erstes Gegenmodell zum klassischen geschlos-
diese Mittelbarkeit zur Dämpfung der unmittelbaren senen Drama ausmacht, das konsequenterweise für
dramatischen (und damit eben auch szenisch-thea- die späteren Dramatiker der modernen offenen
tralen) Gegenwart, was sich auch auf die Konstruk- Form, von Grabbe, Lenz und Büchner hin zu Wede-
tion der austarierten und zu Sentenzen neigenden kind und Brecht, einen wesentlichen Bezugs- und
Figurenrede auswirkt: »Der Held spricht nicht aus Orientierungspunkt darstelle. Noch gibt es in ihren
der Situation heraus, spontan. Sein Sprechen räso- Werken Figuren, Handlungen und Dialoge: Nicht
niert, es spiegelt nicht das Plötzliche, noch das At- die Elemente des Dramas ändern sich in der offenen
mosphärische der Lage, des Ortes« (Klotz 1992, 43). Form, sondern ihre syntaktisch-dramaturgische
Wo das Drama nicht von seinen szenisch präsen- Verknüpfung. Wo der final orientierte Fortschritt
tierten Momenten, sondern von der Gesamtheit der und der totalisierende Blick auf die eine dramatische
allgemeinen vorgestellten Idee geprägt ist, durch- Gesamtidee weichen, kommt in der offenen Form
zieht das ideale Kompositionsprinzip ebenmäßiger gerade den einzelnen Szenen größeres Eigengewicht,
Proportionen und symmetrischer Architektur die zuweilen gar konkatenative Autonomie zu. Schon
dramaturgische Komposition des geschlossenen Lenz sah seine Soldaten (1776), die Klotz als frühes
Dramas auf allen Ebenen: von der Präsentation der Beispiel der modernen offenen Form anführt, v. a.
Handlung in den konventionellen fünf Akten bis hin von einem »Hauptgedanken« zusammengehalten,
zum fiktionalen Figurenpersonal, das die zentralen und nicht mehr durch eine (meist auch im Werktitel
Figuren von Protagonist und Antagonist von einem bezeichnete) Hauptfigur. Bei Lenz ebenso wie in
gleichermaßen symmetrisch abgezirkelten Kreis von Wedekinds Frühlingserwachen (1906) sind die auf-
Begleitern und Vertrauten umgibt. Proportionalität, tretenden Figuren Repräsentanten eines Kollektivs;
fein abgestimmte Analogien, symmetrisches Gleich- wo hingegen – von Büchners Woyzeck (1913) bis
gewicht und verschränkte formale Geometrie sind Brechts Baal – auch weiterhin zentrale Titelhelden
bestimmende Kompositionsprinzipien im geschlos- benannt sind, sind diese ähnlich der sie umgeben-
senen Drama (Klotz 1992, 67 ff.). Für Brecht stand den Welt zersplittert und zerrissen.
gerade das Prinzip der geschlossenen dramaturgi- Weder bei Büchner noch bei Brecht lässt sich
schen Form für die »Bürgerlichkeit« des Theaters, noch von einer mit dem geschlossenen Drama ver-
die er vehement hinsichtlich ihrer idealisierenden gleichbaren Finalität der Handlung sprechen, in die
»Verschmierung der Widersprüche« und ihrer »Vor- diese Hauptfiguren sorgfältig eingegliedert wären;
täuschung von Harmonie« kritisierte (Brecht 1993, sie sind vielmehr in ihre dramatische Welt geworfen.
706). Wo Brecht diese Geschlossenheit exemplarisch So sind sie auch im strikten Sinne des Wortes keine
aufhebt und sich von finaler Funktionalisierung und »Protagonisten« mehr. Selten treiben sie die Hand-
strenger hierarchischer Einheitlichkeit abwendet, lung voran, sie sind vielmehr Opfer der Umstände.
sind seine exemplarisch »offenen Dramen« freilich Die Welt an sich ist ihr anonymer Antagonist
nicht weniger dramaturgischen Form- und Kompo- schlechthin, der sich nicht mehr individualisieren
sitionsprinzipien unterworfen. Es ist im offenen lässt. Klotz bezeichnet diese zentralen Figuren des
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 141

offenen Dramas entsprechend als »Monagonisten« halb der Sprache anerkannt wurde, ist das offene
und argumentiert, dass bei Büchner auch Robes- Drama gerade auch eine Form, die ihre Wirkung aus
pierre nicht mehr die klassische Antagonistenrolle dem Zusammenspiel von sprachlichen und nicht-
gegenüber Danton spiele (Klotz 1992, 108). Damit sprachlichen Mitteln erzielt. Das geschlossene
diese offene, aspekthafte Darstellung einer fragmen- Drama ordnete die dramatischen Kollisionen der
tierten, zusammenhanglosen modernen Welt als fiktionalen Welt in der Sprache: In ihrer Einheitlich-
Drama gelingt, sind die isolierten, autonomen Sze- keit als stilisierte Kunst-Sprache vermochte sie jegli-
nen aber durch rekurrente dramaturgische Prinzi- che Gegensätze aufzuheben. Hier nun zerreißt die
pien verknüpft. So ergänzen sich diese einzelnen Sprache, Worte kollidieren nicht allein mit Realitä-
Szenen meist komplementär um einen thematischen ten, sondern mit anderen Worten, den Figuren
»Hauptgedanken« à la Lenz. Klotz macht dabei in ei- scheint die Sprache zu entgleiten, sie ergehen sich in
ner Reihe von Dramen die dominante Setzung der leeren Floskeln, zerbrochenem Satzbau und schei-
komplementären Stränge einer Kollektivhandlung nen zuweilen ›von der Sprache gesprochen‹ zu wer-
und Privathandlung aus (Klotz 1992, 101 ff.). Solche den.
»Integrationspunkte«, welche die dramaturgische Wo es im offenen Drama somit gerade um Dar-
Koordination des Dramas leisten, sind oftmals expli- stellung geht, die sich der klaren, rationalen sprach-
zit im Verlauf des Dramas artikuliert, so etwa in der lichen Artikulation entzieht, verändert dies auch die
umfassenden Bilanz am Ende der Soldaten, bei Baal Rolle der Sprache als dramatisches Zeichensystem,
im Choral zu Beginn des Dramas, im berühmten insbesondere hinsichtlich der Figurenrede. Klotz
Märchen der Großmutter aus Woyzeck oder der weist dazu beispielhaft auf das den Schauplätzen zu-
Friedhofsszene am Ende von Frühlingserwachen kommende Eigengewicht hin: Die Orte werden nun
(Klotz 1992, 112). als Räume »speziell« und heben sich von der charak-
Weitere syntaktisch-dramaturgische Kompositi- teristischen »Nirgendwoheit« des geschlossenen
onsprinzipien der offenen Dramenform, welche ei- Dramas ab (Klotz 1992, 47, 120). Enge Innenräume
nen Konnex herstellen und Kohärenz stiften, sind (Zimmer, Kerker etc.) stehen da z. B. weiten Natur-
metaphorische Bildketten und durchgängige Isoto- schauplätzen gegenüber (Landstraßen, Ufer etc.),
pien (s.o. 2.1.1) auf sprachlicher und nicht-sprachli- während auch akustische Signale – vom Glocken-
cher Ebene. Auch eine die thematische Struktur un- klang bis zu Liedern und Musik – als prominente au-
terstützende Anordnung der Szenen im Sinne von ßersprachliche Handlungszeichen als Paratext ne-
Variation und Opposition gehört zu den Montage- ben den gesprochenen Dramentext treten: »Der
prinzipien der offenen Dramaturgie, genau wie das Raum charakterisiert, was in ihm vorgeht. Er wirkt
konkatenative Prinzip zyklischer oder repetitiver gleich einem Katalysator, dasjenige sichtbar zu ma-
Muster. Oftmals stellen die Szenen auch explizit ihre chen, was die Handlung, auf sich allein gestellt, nicht
Fragmenthaftigkeit aus, etwa wo sie – gemäß der sichtbar machen könnte« (Klotz 1992, 127). Gleiches
rhetorischen Figur der Aposiopese – mitten im Satz gilt für die nun ebenso regelmäßig explizit oder im-
einsetzen oder abrupt abbrechen und derart ihren plizit im Dramentext ausgedrückte Körperlichkeit
willkürlichen Ausschnittcharakter betonen. Die der Figuren, ihr nonverbales Handeln im gestischen
temporale Dynamik, die den gleichmäßigen Zeit- und mimischen Repertoire ebenso wie die im Dra-
fluss des geschlossenen Dramas nun durchbricht, mentext enthaltenen Verweise auf körperliche
wird nicht nur als Wirkungsmacht auf die Charak- Schmerzen, Gefühle und Visionen. Auch Zeit und
tere innerhalb der fiktionalen Handlung ins Spiel ge- Zeitlichkeit werden schließlich vom absoluten Fak-
bracht, sondern wirkt gerade in ihrer Intervallhaftig- tor zu einem relativen, auf die szenisch-theatrale
keit auch auf die Wahrnehmung des Publikums, des- Präsentation reflektierenden Element. Auf typische
sen Fokus – im Unterschied zur Distanz und Weise bringt Thornton Wilder in The Long Christ-
Konzentration auf das dramatische Ganze – im offe- mas Dinner (1931) die Spanne von neunzig Jahren
nen Drama gerade auf die auch sinnliche Überfülle unter, indem er die immer im selben Esszimmer
der Situation, des dramatischen Augenblicks gerich- stattfindenden weihnachtlichen Familientreffen der
tet ist. Entsprechend entzieht sich das Geschehen Familie Bayard aneinandermontiert. Wo im offenen
auch auf fiktionaler Ebene der Reflexion in der Figu- Drama auf makroskopischer Ebene die Finalität in
renrede, die für das klassisch-geschlossene Drama eine (relative oder absolute) Autonomie der einzel-
kennzeichnend war: Wo dort nahezu nichts außer- nen Szene aufgeht, öffnet sich das Drama gleicher-
142 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

maßen auf der mikroskopischen Ebene des einzel- punkt seiner Studie zum postdramatischen Theater
nen Augenblicks der simultanen Dimension, welche (ein Begriff, den Schechner selbst in diesem Zusam-
die hierarchische Dominanz der Figurenrede als Sy- menhang einführte) bestätigt: dass Brechts episches
nonym des Dramentextes im geschlossenen Drama Theater, ebenso wie zahlreiche experimentellere Stü-
ablöst. Hier stellt die offene Form die besondere Her- cke der Moderne (etwa Miller und Albee), auf der
ausforderung an die Dramenanalyse, in der vielfar- nämlichen triadischen Dramaturgie aufbauen, wäh-
big-pluralen, scheinbar zentrifugalen Fülle all dieser rend selbst Euripides’ Bakchen (ca. 405 v. Chr.) eher
Handlungspartikel jene Fluchtlinien auszumachen, der dramatischen Dynamik in Stücken von Beckett,
welche gewissermaßen ›exzentrische‹ dramaturgi- Genet und Ionesco ähnele, die Schechner als vitalen
sche Ordnungspunkte darstellen. ›Lebensrhythmus‹ (im Sinne des Atmens, der Jah-
Eine solche streng symmetrische Gegenüberstel- reszeiten, und des Wechsels von Tag und Nacht)
lung von geschlossener und offener Form nach Klotz ohne aristotelischen Anfang, Mitte und Ende be-
hat freilich ihre Grenzen, gerade wo seine Beschrei- schreibt. Das Vergehen von Zeit ersetzt dabei den
bung der offenen Form außerhalb der besprochenen dominanten dramatischen Konflikt der Fabel als
Beispielskontexte eher vage ist und sich ihre Katego- zentrales dramaturgisches Wirkungsprinzip. Noch
rien nahezu ausschließlich als negative Kontrastfolie immer lässt sich ein Grundkonflikt zwischen zwei
der geschlossenen Form darstellen – und das theore- Kräften oder Instanzen ausmachen, der sich episo-
tische Modell gleichsam selbst eine strikt geschlos- disch explosionsartig entlädt, ohne je zu einer Lö-
sene Komposition an den Tag legt. Als Ansatz dra- sung zu führen. Schechner schlägt hier mühelos den
maturgischer Analyse formaler Kompositionsprin- dramaturgisch-analytischen Bogen von Beckett und
zipien kann sich Klotz’ Schema aber dennoch nicht Genet nicht nur rückwärts zu Euripides, sondern
zuletzt im Tandem mit vergleichbaren idealtypi- auch zu den formalen Kompositionsprinzipien der
schen Kontrastierungen als brauchbar erweisen. Happenings von John Cage und anderen. In all die-
Eine entsprechende Erweiterung kann, neben Szon- sen Beispielen des »offenen Theaters«, wie Schech-
dis erwähntem Prinzip des ›absoluten‹ Dramas, auch ner es bezeichnet, treten Regeln an die Stelle der Fa-
die von Bernard Beckerman getroffene Differenzie- bel, Handeln (activity) an die Stelle von Handlung
rung von intensive drama (von der Antike über die (action) (Schechner 1988, 22 f.). Tschechows Dra-
Französische Klassik bis zu Ibsen) und extensive men dienen Schechner schließlich als Beispiele, in
drama (Shakespeare) darstellen (Beckerman 1970) denen sich Konflikt gerade aus der Verknüpfung
sowie die vom einflussreichen US-amerikanischen beider dramaturgischer Prinzipien entwickelt: Das
Performancetheoretiker Richard Schechner entwi- triadische Handlungsgerüst steht nach wie vor im
ckelten Modelle dramatischer Handlung (Schechner Hintergrund von Stücken wie den Drei Schwestern,
1988, 16–28). Schechner verbildlicht das klassische doch werden die Erwartungen nicht mehr eingelöst:
Drama als Dreieck (bzw. als komplexere räumliche Die Dramaturgie löst sich zum Ende hin in ein »offe-
Pyramide), in dem die unteren Spitzen jene Kräfte, nes« Theater auf, bei dem nach wie vor das dramati-
Gruppen oder Individuen markieren, deren Konflikt sche Dreieck als »ghost«, so Schechner, im Hinter-
das Drama konstituiert. Diese Gegensätze werden grund ›geistert‹ und entsprechend nicht zuletzt die
schließlich vermittelt und in der Lösung des Kon- dramaturgische Relation zum Publikum konstitu-
flikts, welche die Spitze des Dreiecks/der Pyramide iert. Derartige ›Geisterspuren‹ der geschlossenen
markiert, aufgehoben. Die Orestie (458 v. Chr.) etwa Form scheinen geradezu charakteristisch für Dra-
zeichnet er über die drei Stücke als Konflikte zwi- men aus dem weiteren Umfeld der naturalistischen
schen den Eckpunkten Mord, Rache und Gerechtig- Periode um die Wende zum 20. Jahrhundert: in
keit nach, welche schließlich durch das Gericht der Arno Holz’ und Johannes Schlafs Die Familie Selicke
Athene aufgehoben werden. Auf den Seitenlinien (1890) etwa ist die klassische Einheit von Raum und
der Pyramide lassen sich zudem die drei am Konflikt Zeit aufs Strikteste angewandt. Das Stück spielt am
beteiligten Interessengruppen aufzeichnen: Familie Weihnachtsabend im Wohnzimmer einer armen
(bzw. Individuum), Staat und Götter. Schechner ar- kleinbürgerlichen Familie. Der geisterhafte Schatten
beitete an seinem Dreiecksmodell die dramatischen der klassischen idealen Ordnung manifestiert sich
Grundeigenschaften von completedness (Geschlos- somit nicht nur thematisch in der Stagnation der
senheit) und focus (Finalität) heraus und zeigte auf leer gewordenen bürgerlichen Werte, sondern auch
dieser Basis, was später Lehmann am Ausgangs- formal, indem die Einheit von Raum und Zeit das
2. Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition 143

Gefühl eines tatsächlich rein formal-konventionel- Forestier, Georges/Caldicott, Edric/Bourqui, Claude (Hg.):
len, aber bedeutungslos gewordenen erstarrten Wer- Le Parnasse du theatre. Les recueils d’œuvres complètes de
théâtre au XVIIe siècle. Paris 2007.
tegerüsts verstärkt (Pfister 2001, 334). Schechners
Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas [1863]. Hg. v.
Ansatz, der die Brücke zwischen textorientierter Klaus Jeziorkowski. Stuttgart 1983.
Dramenanalyse und zeitgenössischen Performance- Goethe, Johann Wolfgang v./Schiller, Friedrich v. Brief-
studien schlägt, durchbricht in seiner komplexen wechsel. Hg. v. Paul Stapf. Berlin 1970.
Zusammenschau einerseits die zumindest implizite Greimas, Algirdas Julien: Strukturale Semantik [1966].
Übers. v. Jens Ihwe. Braunschweig 1971.
Verknüpfung (bei Klotz, Szondi, aber auch Posch- Grimm, Reinhold: »Drama im Übergang. Pyramide und
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lung des Dramas; zum anderen vermag sein Ansatz Herder, Johann Gottfried: »Shakespeare ». In: Nicolai, Heinz
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die beiden als dramaturgisch entscheidend herausge-
Texte in zwei Bänden. Bd. I. München 1971, 300–320.
arbeiteten Ebenen theatralen Handelns gleichwertig Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Entwicklungen des Ideals
zu erfassen. Über die Gestaltung der fiktional-dra- zu den Besonderen Formen des Kunstschönen [Fortset-
matischen Dimension hinaus (mit ihren Elementen zung] In: Ders: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 2.
wie Figur und Handlung) ist hier »das Begreifen der Frankfurt a. M. 1971.
Herrmann, Max: Forschungen zur deutschen Theaterge-
im Text entworfenen theatralischen Kommunika- schichte des Mittelalters und der Renaissance. Berlin
tionsprozesse« (Poschmann 1997, 293) in den Mittel- 1914.
punkt der Analyse der dramatischen Syntax und der Hiß, Guido: Der theatralische Blick. Einführung in die Auf-
dramaturgischen Kompositionsprinzipien gerückt. führungsanalyse. Berlin 1993.
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144 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

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Stamm, Rudolf: »Dramenforschung«. In: Shakespeare-Jahr- Unter ›Regieanweisung‹ versteht man jene Elemente
buch 91 (1955), 121–135. des Textes, die nicht als Figurenrede konzipiert sind
Stanislavski, Konstantin: An Actor’s Work. Hg.v. Jean Be- und nicht der Organisation des Textes (durch Be-
nedetti. Abingdon/New York 2008.
Styan, John L.: The Dramatic Experience. A Guide to the nennung der Sprecherinstanz oder der Gliederung
Reading of Plays. Cambridge 1965. des Textes) zuzurechnen sind. Im Englischen spricht
Styan, John L.: Drama, Stage and Audience. London 1975. man von stage directions, für das Französische hat
Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas, 1880–1950 Anne Ubersfeld den aus dem Griechischen stam-
[1959]. Frankfurt a. M. 1965.
Ubersfeld, Anne: L’Ecole du spectateur. Paris 1981.
menden Begriff der didascalies vorgeschlagen (vgl.
Wellek, René/Warren, Austin: Theorie der Literatur. Frank- Ubersfeld 1981; Pavis 1996, 92).
furt a. M. 1972. Das für das Drama konstitutive Verhältnis von
Peter M. Boenisch Text und Szene findet seinen äußeren Ausdruck in
der Differenzierung von Haupt- und Nebentext (vgl.
Kap. III.2.1). Während der Haupttext als Figuren-
rede im engeren Sinne identifiziert werden kann,
umfasst der Nebentext sowohl das Verzeichnis des
Personals, die Gliederung des Textes bspw. in Akt,
Szene und Auftritt als auch die Hinweise für die sze-
nische Darstellung (vgl. Pfister 2001, 35). Für Letz-
tere gibt es im Deutschen keine einheitliche Bezeich-
nung; es finden sich neben ›Regieanweisung‹ oder
›-bemerkung‹ auch ›Bühnen-‹ oder ›Szenenanwei-
sung‹ (vgl. Detken 2009, 7–9). Während die äußerli-
che Identifikation dieser Hinweise oftmals schon
durch eine typografische Hervorhebung leicht ge-
macht ist – weswegen sie von Mauermann als direkte
Bühnenanweisung bezeichnet werden (vgl. Mauer-
mann 1911, 1) –, erweist sich eine methodische De-
finition als komplexer, weil oftmals auch das Ver-
hältnis von Text und Szene (vgl. Kap. II.7) mitange-
sprochen wird. Anke Detken hat sich gegen die
implizite Hierarchisierung der Benennung von
Haupt- und Nebentext gewandt und stattdessen vom
›Textraum‹ gesprochen (vgl. Detken 2009, 10): »Die
Regiebemerkungen sind nicht vom Dramentext ab-
lösbar und können diesem nur selten im Sinne eines
Paratextes an die Seite gestellt werden; vielmehr sind
sie für die Bedeutungsgenerierung konstitutiv. […]
Die Regiebemerkungen können als gleichsam letzte
Instanz jenseits der Figurenrede eine bedeutungs-
vereinigende Ebene schaffen« (Detken 2009, 386).
Im Sinne einer solchen konstitutiven Funktion
sieht Mauermann denn auch drei Gründe für die
Bühnenanweisung: »der Dichter verlangt eine be-
stimmte Art der Darstellung, die Bühnenanweisung
ist Dichtung selbst und endlich auch für den Leser
berechnet« (Mauermann 1911, 2). Die Regieanwei-
sung dient also nicht bloß als Vorschrift einer mögli-
3. Regieanweisung/Szenenanweisung 145

chen szenischen Darstellung, sondern hat verschie- bemerkung im 18. Jahrhundert v. a. für die bürgerli-
dene Referenzpunkte: »Je nachdem, wie die Regiebe- chen Theaterreformer zu einem zentralen literari-
merkungen formuliert sind, wird Unterschiedliches schen Mittel: zum einen, weil hier ausführlich
imaginiert: einerseits eine Aufführung – wenn die Gefühlsregungen bzw. nicht-sprachliches Handeln
Regiebemerkungen im Sinne einer ›eingeschriebe- vermerkt werden (bspw. Weinen), zum anderen,
nen Inszenierung‹ auf eine außerfiktionale Wirk- weil Alternativen zum Dialog (bspw. die stumme
lichkeit, ja auf die Bühne allgemein oder eine spezifi- Szene bei Diderot) geboten werden. Als literarisches
sche Bühnenform verweisen –, andererseits eine in- Mittel aber weisen diese Tableaux (vgl. Kap. II.5)
nerfiktionale Situation, wenn eine Vorstellung oder eine Annäherung des Dramas an das Lesedrama auf,
Gemütsverfassung evoziert wird und beide Text- denn oftmals wird hier mit großer Detailfreude eine
räume ineinander übergehen« (Detken 2009, 393). imaginäre Szene dem Leser vor Augen gestellt. So er-
Im Sinne dieser mehrfachen Referenz können die weist sich die Regiebemerkung hierbei gerade nicht
Regieanweisungen auch nur bedingt als theaterhis- als ›Brücke‹ zum Theater, sondern als Beleg der Au-
torische Quellen gedeutet werden. Sie geben aber tonomie des Textes: »Diderot setzt den Text absolut
Aufschluss über die historische Entwicklung des und arbeitet für ein imaginäres Theater, wobei er
Verhältnisses von Text und Szene sowie über die dem Leser Regiebemerkungen zur umfassenden
Entwicklung des Verständnisses vom Drama als Imaginierung von Situationen und Figuren bereit-
Textform sui generis: stellt und dem Zuschauer diese als Kontrollmittel
Während bspw. die überlieferten Texte der grie- nach dem Besuch einer Aufführung an die Hand
chische Antike keine direkten Szenenanweisungen gibt« (Detken 2009, 392).
aufweisen, finden sich in den frühen geistlichen Für das gesamte europäische Drama lässt sich um
Spielen des Mittelalters (vgl. Kap. III.4), wie etwa in 1800 im Kontext der Romantik eine solche Wende
der aus dem 10. Jahrhundert stammenden Ordo ad zum imaginären Theater feststellen: Die Regiebe-
visitandum sepulchrum ausführliche Szenenanwei- merkung wird zunehmend zu einer eigenständigen
sungen, die Kostüme, Requisiten und Handlungen Kommentarebene, die als literarisches Element die
der Darsteller vorschreiben. Der Umfang dieser Vor- tatsächliche Szene nahezu ersetzt (vgl. Burroughs
schriften, der die des Haupttextes deutlich über- 2007, 222).
steigt, ist auf die Einbindung des Szenischen in den Mit dem Aufkommen des Naturalismus im letz-
liturgischen Kontext zurückzuführen (vgl. Steiner ten Drittel des 19. Jahrhunderts verändert sich die
1969, 18). Gestalt der Regiebemerkung; sie entwickelt sich zur
Die Dramen des elisabethanischen Theaters ste- eigenständigen epischen Beschreibung, die die Le-
hen in der Spannung zwischen reinen Spieltexten, benswelt der Figuren charakterisiert, so etwa, wenn
die nur die notwendigsten Anweisungen aufweisen Gerhart Hauptmann zu Beginn von Vor Sonnenauf-
– sie regeln v. a. die Auf- und Abtritte der Figuren gang (1889) schreibt: »Das Zimmer ist niedrig; der
(vgl. Dessen 2009) und einem sich entwickelnden Fußboden mit guten Teppichen belegt. Moderner Lu-
Bewusstsein um die literarische Qualität, die auf ei- xus auf bäuerische Dürftigkeit gepropft.« Obwohl die
nen Leser zielt. So hat bspw. Ben Jonson seine Stücke Regiebemerkungen immer detaillierter werden und
für die Publikation umgearbeitet und dabei neue teilweise auch mit kleinen Skizzen sehr genaue Vor-
Szenenanweisungen eingefügt, die aber nicht mehr schriften für eine Inszenierung zu machen scheinen,
auf die Aufführungspraxis zielen, sondern auf die wird an der Sprachwahl erkennbar, dass sie nicht nur
Rezeption des Lesers (vgl. Giddens 2011, 80–85). technische Informationen enthalten, sondern viel-
Für das deutschsprachige Barockdrama des 17. mehr eine komplexe Charakterisierung der Szene
Jahrhunderts wiederum bilden die Regiebemerkun- bieten.
gen, gemeinsam mit ausführlichen und kommentie- Im Zuge der historischen Avantgarde vollzieht
renden Titeln, die mehr als eine reine Textgliede- sich eine Entliterarisierung und Retheatralisierung
rung bieten, einen konstitutiven Beitrag innerhalb der Bühne; das Drama als Zentrum der theatralen
der (nach Schöne) emblematischen Struktur des Darstellung wird abgelöst. Dies verändert aber auch
Textes: Das Zusammenspiel der unterschiedlichen die Position der Regiebemerkung: In Edward Gor-
Textebenen prägt die spezifische Textgestalt. don Craigs Szenar The Steps (1906) gibt es über-
Unter dem Primat der Wahrscheinlichkeit/Natür- haupt keine handelnden Figuren mehr, sondern nur
lichkeit der szenischen Darstellung wird die Regie- noch einen Ort, der (in einer Kombination von Bild
146 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

und Beschreibung) im Zentrum steht. Hier hat die Literatur


›Regiebemerkung‹ die Funktion des Haupttextes Dessen, Alan C.: »Stage Directions and the Theater Histo-
völlig übernommen. rian«. In: Dutton, Richard (Hg.): The Oxford Handbook
Die Neo-Avantgarde seit den 1960er Jahren hat of Early Modern Theatre. Oxford 2009, 513–27.
an solche Experimente angeschlossen. Peter Handke Detken, Anke: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkun-
hat mit Die Stunde, da wir nichts voneinander wuß- gen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009.
Giddens, Eugene: How to Read a Shakespearean Play Text.
ten (1992) ein »Schauspiel« (so die vom Autor vorge- Cambridge u. a. 2011.
nommene Gattungsbezeichnung) vorgelegt, das Mauermann, Siegfried: Die Bühnenanweisung im deutschen
gänzlich auf zu sprechenden Text verzichtet und Drama bis 1700. Berlin 1911.
stattdessen nur Figuren in Bewegung über einen Pavis, Patrice: Dictionnaire du théâtre. Paris 1996.
Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1977].
Platz beschreibt. Der Text verweist aber immer wie- München 112001.
der explizit auf das Theater und gibt mit dem Ein- Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theater-
schub »Pause« eine Rhythmisierung vor. text. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische
In Heiner Müllers Bildbeschreibung (1985) sucht Analyse. Tübingen 1997.
man solche Verweise vergeblich: Der Text besteht Steiner, Jacob: Die Bühnenanweisung. Göttingen 1969.
Tschauder, Gerhard. »Wer ›erzählt‹ das Drama? Versuch ei-
aus einem einzigen, sich über acht Seiten ergießen- ner Typologie des Nebentexts«. In: Sprache und Literatur
den Satz, der weder eine Sprecherinstanz benennt, 22.2 (1991), 50–67.
noch eine klare Handlungs- oder Bewegungslinie Ubersfeld, Anne: L’Ecole du spectateur. Paris 1981.
zeigt. Scheint es sich auf der einen Seite um einen Peter W. Marx
subjektiven Monolog zu handeln, so konstituiert
sich doch sprachlich kein Ich, das als stabile Sprech-
instanz fungieren könnte.
In dieser Tradition tritt der Text der Szene als
fremd gegenüber – eine Vermittlung oder eine Ima-
gination einer Inszenierung wird bewusst verweigert
bzw. dem Regisseur übertragen. Gerda Poschmann
hat mit Blick auf die postdramatische Theaterlitera-
tur der 1990er Jahre darauf verwiesen, dass diese Öff-
nung, die sich oft auch in einem veränderten Schrift-
bild der Texte niederschlägt, den literarischen Cha-
rakter der Bühnenanweisung verstärkt: »Indem
AutorInnen nicht […] mit Hilfe verbalsprachlicher
Symbolisierung über die Zeichen der Bühne verfü-
gen, sondern versuchen, für die Heterogenität,
Räumlichkeit, Vieldeutigkeit, Ikonizität und das dy-
namische Beziehungsgeflecht theatraler Zeichen
Entsprechungen in der Schrift zu finden, bestehen sie
ebenso auf dem Charakter des Theatertextes als eines
literarischen Kunstwerks, dessen Material aus
sprachlichen Zeichen besteht, wie sie die Zeichen der
Bühne in Rechnung stellen – nun allerdings nicht
durch verbalsprachliche Beschreibung imaginierter
Bühnenvorgänge und -bilder, sondern durch Anver-
wandlung spezifischer Merkmale des theatralen
Codes wie etwa der Raum- und Zeithaltigkeit und ei-
ner Poesie des Imaginären« (Poschmann 1997, 329).
Die Szenenanweisung fungiert hier nicht mehr als
autoritativer Versuch der Kontrolle der weiteren Re-
zeption des Textes, sondern entfaltet einen Möglich-
keitsbereich, der vom Theater aktiv in Anspruch ge-
nommen werden muss.
4. Erzählperspektiven im Drama 147

4. Erzählperspektiven »Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramati-


sche Urphänomen: sich selbst vor sich verwandelt zu
im Drama sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in
einem andern Leib, in einen andern Charakter ein-
Im Gegensatz zum Roman, bei dem die Position des gegangen wäre. […] Die Verzauberung ist die Vor-
Erzählers dem Rezipienten eine stabile Position ge- aussetzung aller dramatischen Kunst. In dieser Ver-
genüber der narrativen Handlung garantiert, fehlt zauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als
dem Drama eine solche »vermittelnde Erzählin- Satyr, und als Satyr wiederum schaut er den Gott
stanz« (Pfister 2001, 21). Daher ist bis heute die […]« (Nietzsche 2004, 55). Die Verwandlung war so
Frage nach dem mutmaßlichen Standpunkt des Re- vollständig, dass die Zuschauer, »wenn der tragische
zipienten, die Frage nach der Verteilung seiner Sym- Held auf der Bühne erscheint, nicht etwa den un-
pathien für bestimmte Figuren, ein zentrales Thema förmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine
der Forschung zu Drama und Theater. gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Vi-
Für Aristoteles’ Idealtypus der Tragödie war der sionsgestalt« (Nietzsche 2004, 57).
tragische Held, der Furcht und Mitleid und damit So wurde der Zuschauer von einem passiven Be-
beim Zuschauer eine Katharsis auslöst, zentral (vgl. obachter des öffentlichen Zeremoniells zu einem ak-
Kap. I.2). Um dies zu erreichen, forderte er den mitt- tiven Teilnehmer des Rituals – aktiv durch die Teil-
leren Charakter: »So bleibt der Held übrig, der zwi- nahme am Theater, das ja Teil des Dionysos-Festes
schen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist war, wie auch durch die Feier des Dionysos inner-
bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittli- halb der fiktiven Rahmung des Stücks.
chen Größe und seines hervorragenden Gerechtig- Eine solche religiös motivierte Identifikation des
keitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlech- Zuschauers war auch ein entscheidender Faktor bei
tigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück den mittelalterlichen Mysterienspielen (vgl. Kap.
erlebt, sondern wegen eines Fehlers […]« (Poet. III.4), die mit ihrer charakteristischen Mischung aus
1453a5–15). liturgischer Feier, Laienspiel und religiöser Hingabe
Der mittlere Charakter sollte zum einen die Wir- dem Zuschauer eine instabile Position zuwiesen.
kung der Tragödie erhöhen, indem er die bessere Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die be-
Identifikation des Publikums mit dem Protagonisten sonderen Raum-/Zeit-Strukturen ansieht: Viele
ermöglicht. Demgegenüber scheint Aristoteles’ For- Spiele erwähnen ausdrücklich den Gebrauch der
derung, dass das Personal der Tragödie von höhe- platea, des ›Bodens‹ vor dem Festwagen, als Spielflä-
rem Stand sein müsse (vgl. Kap. I.2.5), diesem Ziel che (vgl. Weimann 1967, 121–139). Dieser Einbezug
entgegenzustehen. Sein Konzept zielt aber darauf, des Zuschauerraums mag sicherlich auch praktische
dass gerade die Fallhöhe die affektive Wirkung er- Gründe gehabt haben, bedenkt man aber, dass ver-
höht, da der Zuschauer, wenn selbst den ›Großen‹ schiedentlich hervorgehoben wird, dass die platea
solches widerfahren könne, kaum auf Schutz vor den die Welt symbolisiert, so wird deutlich, dass die un-
Launen der Götter hoffen könne. Die Katharsis be- bekannten Autoren programmatisch darauf zielten,
ruht also auf der Fähigkeit der Zuschauer, sich mit das Publikum in die Sphäre des Spiels einzubezie-
dem Protagonisten ungeachtet seines Status zu iden- hen. Wenn Gott im Spiel auf der platea wandelnd
tifizieren. seine Schöpfung betrachtet, so wird im szenischen
Knapp 2000 Jahr später hat Friedrich Nietzsche Akt deutlich, dass die von Gott geschaffene Welt
die Position des Zuschauers in der antiken Tragödie ebenjene ist, auf der auch die Zuschauer stehen.
gänzlich umgedeutet. In seiner kreativen Lesart war In ähnlicher Weise bedienen sich die Spiele ver-
der tragische Held – ungeachtet von Stück oder Fi- schiedener Anachronismen, mittels derer die Welt
gur – immer Dionysos selbst, der einer Festlichkeit des mittelalterlichen Publikums mit den Tagen Jesu
vorstand. Der Chor hatte, so Nietzsche, die Aufgabe, zusammenfällt: Spricht Jesus auf der Bühne zu sei-
mithilfe von Musik und Tanz das Publikum in eine nen Jüngern, so hat dies eine Funktion innerhalb des
so mächtige Verzückung zu versetzen, dass die Spiels, richtet sich aber ebenso unmittelbar an das
Grenze zwischen den zuschauenden Individuen Publikum, das als Gemeinschaft der Gläubigen die
ebenso verschwand wie die Grenze zwischen Akteu- Position der Jünger Christi einnimmt und nun – in
ren und Zuschauern, ja letztlich wie die Unterschei- der Verschränkung von Spiel und (religiöser) Wirk-
dung von ›Wirklichkeit‹ und dionysischem Rausch. lichkeit – die Lehren unmittelbar von ihm empfängt.
148 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

An der Kreuzigungsszene des York-Zyklus (Aron- lange Gott (als ewiger Quell der Wahrheit) die Hand
son-Lehavi 2011) wird die instabile Positionierung des Autors zu führen schien, gab es eine eindeutige,
des Zuschauers besonders deutlich: Zu Beginn der heilsgeschichtliche fundierte, verbindliche Perspek-
Szene liegt Jesus (für die Zuschauer kaum sichtbar) tive. Mit dem aufklärerischen Anspruch, die Wahr-
auf der Bühne bzw. dem Wagen, auf dem das Spiel heit eigenständig erkennen zu können, verkompli-
stattfindet, und wird von römischen Soldaten ans zierte sich das Perspektivenverhältnis auf der Bühne,
Kreuz genagelt. Die Soldaten, die als ›handwerkli- was man an der Entwicklung der neuen Dramenfi-
che‹ Dilettanten gezeigt werden, reißen während- gur des Raisonneurs erkennen kann. Er fungierte als
dessen derbe und respektlose Scherze über Jesus. Sprachrohr des Autors und kann als Verlängerung
Die Forschung hat verschiedentlich darauf hinge- der auktorialen Perspektive auf die Bühne verstan-
wiesen, dass es sich hierbei um komische Einlagen den werden. Allerdings war er aufgrund seiner rand-
handelt, die das Publikum sicherlich zum Lachen ge- ständigen Position nur selten Protagonist des Dra-
bracht haben (Beadle/King 1984, 211 f.). Wenn je- mas und bot sich wegen seiner distanzierten Hal-
doch der gekreuzigte Jesus in der folgenden Szene tung auch kaum für eine emotionale Identifikation
aufgerichtet und das Kreuz auf der Bühne positio- des Publikums an.
niert wird, ändert sich die Perspektive des Publi- Bis ins 18. Jahrhundert wurden, gemäß der Stän-
kums radikal: Das Publikum, das sich eben noch la- deklausel, lediglich zwei Arten von Protagonisten
chend mit den Soldaten identifizierte, muss nun unterschieden: der höhere Charakter, der in Tragö-
schockiert die Folgen ihrer Arbeit erkennen. Dieser dien Furcht und Mitleid evoziert, und der niedere
Bruch markiert nicht nur einen besonderen Mo- Charakter, der in Komödien Spott und Hohn erregt.
ment der Spannung, er durchbricht auch den thea- Denis Diderot forderte Mitte des 18. Jahrhunderts
tralen Rahmen, weil das Publikum sich über seine einen ›mittleren‹ respektive ›bürgerlichen‹ Charak-
lachende Identifikation mit den Soldaten plötzlich ter und bot dadurch dem Publikum erstmals die
mitschuldig am Kreuzestod Jesu fühlen muss. Möglichkeit, sich mit einem gleichrangigen Charak-
Im Zuge der Säkularisierung des Theaters in der ter zu identifizieren. In den sog. Rührstücken (engl.
Renaissance verschob sich auch die Position des Zu- sentimental comedy; frz. comédie larmoyante) traf
schauers: Gründete seine Perspektive bis dahin in das Publikum auf moralisch einwandfreie Protago-
der göttlichen Weltordnung, so etablierte sich nun nisten ihrer eigenen sozialen Klasse, durchlitt mit ih-
ein als absolut gesetzter Begriff von Wahrheit und nen Intrige, Gefahr und Elend, um am Ende – im
Moral als Zentrum des Dramas. »Zum künstleri- Wortsinne zu Tränen gerührt – den Sieg des Helden/
schen Blickpunkt wurde die Relation der Wahrheit der Heldin triumphal mitfühlen zu können. Dieses
zur dargestellten Welt. Die Fixiertheit und Eindeu- schematische Muster bestimmte die Dramaturgie
tigkeit dieser Beziehungen, ihr strahlenförmiges Zu- der meisten populären Theaterformen bis weit ins
sammenlaufen zu einem einzigen Zentrum entspra- 19. Jahrhundert und erreichte im englischen Melo-
chen der Vorstellung von der Ewigkeit, Einheit und drama einen Höhepunkt. Im Gegensatz zu den Re-
Unbeweglichkeit der Wahrheit. Als einzige, einheit- naissancedramen, in denen der Zuschauer aufgefor-
liche und unveränderliche war die Wahrheit zu- dert war, die moralische Implikation des Stückes
gleich von hierarchischem Aufbau und enthüllte selbständig zu erkennen, ist das Publikum der Melo-
sich verschiedenen Bewußtseinsarten auf verschie- dramen keiner vergleichbaren Herausforderung aus-
dene Weise« (Lotman 1986, 375). gesetzt: Galt der moralische Charakter als gut und
Obwohl einzelne Dramen, wie zum Beispiel rechtschaffen, so spendete das Publikum dem Hel-
Hamlet, für die Identifikation des Publikums mit den enthusiastischen Beifall, während es gleichzeitig
dem Protagonisten geeignet waren und damit eine den Gegenspieler mit Ablehnung und Beschimpfun-
einfache Zuschauerperspektive zu implizieren schei- gen überhäufte. Der Zuschauer identifizierte sich
nen, nahm gerade das Renaissancepublikum häufig nicht nur allein wegen seiner Zugehörigkeit zu dem-
eine Perspektive außerhalb des Textes ein. Dies führt selben gesellschaftlichen Stand mit dem Protagonis-
zu einer doppelten Verortung des Zuschauers: Er in- ten des Melodramas, sondern besonders infolge der
teragierte als Gegenüber der Figuren sowohl mit den klaren Figurenzeichnung.
Schauspielern auf der Bühne als auch mit dem rest- Nahezu zeitgleich mit dieser eindeutigen Moral-
lichen Publikum im Zuschauerraum. Zielpunkt war dramaturgie des Melodramas hat die Romantik in
die Suche nach der tieferen Wahrheit des Stückes. So ihren Dramen ein sehr viel widersprüchlicheres Bild
4. Erzählperspektiven im Drama 149

von Moralität entworfen, indem der Genie-Autor Charakteren in ihrer natürlichen Umgebung, um
seine sehr persönliche moralische Sichtweise prä- dem Zuschauer die Möglichkeit zu bieten, die Um-
sentierte. Dementsprechend konzentriert sich die stände, in denen die Individuen ihre Persönlichkeit,
Handlung dieser Dramen, die allerdings nur selten Angewohnheiten und Einstellungen ausbilden, zu
zur Aufführung kamen, ganz auf den dominanten beobachten und dadurch die gesellschaftlichen Ent-
Zentralcharakter, der als fiktive Figur den Stand- wicklungen zu verstehen. Entsprechend zeigt die
punkt des Autors repräsentiert. Stand die Figur des Handlung auf der Bühne immer ein Stück aus dem
Raisonneurs immer außerhalb der Handlung und ›wirklichen Leben‹, das der Zuschauer wie unter
kommentierte diese, loteten die Autoren des roman- dem Mikroskop betrachtet. Zu den besonderen
tischen Dramas die vielen Facetten der Psyche ihrer Merkmalen naturalistischer Autoren wie Henrik Ib-
Helden aus, deren Dreistigkeit und Unbedingtheit sen und George Bernard Shaw gehört ihre Figuren-
sie aber kaum für eine Identifikation des Publikums konstruktion. Gerade weil alle Figuren Teil eines un-
empfahl. Gleichwohl standen sie so zentral in diesen kontrollierbaren Systems sind und eine bereits vor-
Texten, dass sie die Perspektive der Zuschauer domi- bestimmte Rolle erfüllen, ist keine Figur nur Held
nierten. oder Gegenspieler. Gerade diese Figurenzeichnung
Eine besondere Ausprägung erfährt dieses ro- soll dem Publikum die Einnahme einer möglichst
mantische Konzept der ›Seelenerforschung‹ im Mo- objektiven Perspektive erlauben. Doch auch Natura-
nodrama. Die Wurzeln dieser Form lassen sich bis lismus und Realismus scheiterten an den techni-
ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Eine theoreti- schen Aspekten, die sowohl das Drama als auch des-
sche Fundierung leistete erst Nikolai Evreinov in sei- sen Umsetzung betrafen: Zum einen entsprach der
nen Vorlesungen »Einführung in das Monodrama« fehlerhafte Protagonist des Naturalismus genau
(1908, publiziert 1912), als er das Monodrama als Aristoteles’ Forderung nach einem ›mittleren‹ Cha-
»the kind of dramatic presentation which, while rakter, der sich im Gegensatz zu den unglaubwür-
attempting to communicate to the spectator as fully digen, perfekten Figuren des Melodramas hervor-
as it can the active participant’s state of mind, dis- ragend zur Identifikation eignete. Zum anderen
plays the world around him on stage just as the ac- etablierte das imposante Bühnenbild der Guckkas-
tive participant perceives the world at any given mo- tenbühne eine magische, beinahe traumhafte Welt,
ment of his existence on stage« (Evreinov 1981, 187) die das (im noch dazu verdunkelten Zuschauerraum
definierte. Evreinov fordert eine narrative Perspek- sitzende) Publikum überwältigte und es seine Um-
tive, die gänzlich der Psyche des zentralen Protago- welt vergessen ließ. Somit fühlte sich der Zuschauer
nisten entspricht; im idealen Monodrama würde entgegen allen naturalistischen Zielen sowohl emo-
dies dazu führen, dass die Zuschauer sich so sehr mit tional als auch intellektuell in die Protagonisten ein
dem Protagonisten identifizierten, dass sie das Ge- und wurde von der Handlung auf der Bühne gänz-
fühl hätten, emotional mit der Bühnenfigur zu ver- lich eingenommen.
schmelzen. Obwohl im 19. Jahrhundert viele Stücke Gerade dieser Aspekt des naturalistischen und
geschrieben wurden, die versuchten, Evreinovs realistischen Theaters veranlasste Bertolt Brecht
Definition des Monodramas zu entsprechen, ist (vgl. Kap. III.15) zur Entwicklung seines Konzepts
fraglich, ob diese vollständige Identifikation jemals des epischen Theaters. Im Gegensatz zum Theater
erreicht wurde. Darüber hinaus wirft Evreinovs The- des Naturalismus soll das Publikum in Brechts Thea-
orie die Frage auf, inwiefern überhaupt eine Identifi- ter eine kritische Distanz zur gezeigten Handlung
kation über ethnische und Geschlechterdifferenzen auf der Bühne wahren. Um den dazu nötigen Ver-
möglich ist: »An historical imagination which allows fremdungseffekt zu erzeugen, setzte Brecht v. a. beim
one to imagine what it is like to be the Lone Ranger Schauspielstil an. Während Stanislawski von seinen
can be enriching, but it can similarly be dangerous to Schauspielern die vollständige Identifikation mit der
forget that one is actually Tonto« (Elaine Reuben, zit. darzustellenden Figur forderte, sollte sich der
n. Carnicke 1989, 76). Brechtsche Schauspieler stets der Darstellung seiner
Einen Gegenentwurf zu dieser extremen Subjekti- Rolle bewusst bleiben. Solange sich der Schauspieler
vität des Monodramas bietet die intendierte Objekti- nicht mit seiner Rolle identifiziere, würde, nach
vität naturalistischer und realistischer Stücke (vgl. Brecht, auch die Identifikation des Publikums mit
Kap. III.11). Emile Zola definierte den Naturalismus dem Protagonisten verhindert werden. Um die Mys-
als mimetische wissenschaftliche Beobachtung von tifikation der Bühne, wie sie im 19. und frühen 20.
150 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

Jahrhundert stattgefunden hatte, zu unterbinden, Theaters per se absurd, weil schon allein der arbeits-
legte Brecht den Theaterapparat offen. Damit sich teilige Produktionsprozess »the theater’s inevitable
der Zuschauer stets der Theatersituation bewusst heteroglossia« (Carlson 1992, 319) konstituiere.
blieb, wurde zum Beispiel das Saallicht angelassen Mit dem Aufkommen poststrukturalistischer
oder dem Publikum das Essen, Trinken und Rau- Theorien und der Diskussion von Gender- und
chen während der Vorstellung erlaubt. Zusätzlich zu Identitätsfragen gewinnt die Problematik von Zu-
den bereits aufgezählten Mitteln wurde der Span- schaueridentifikation und narrativer Perspektive
nungsaufbau der Szenen mit Musikeinlagen und eine neue Dimension. Einer der prominentesten
Kommentaren aus dem Zuschauerraum gestört oder Einwände ist derjenige des »männlichen Blicks«, der
gar unterbrochen. Das Ziel war dabei, die emotio- unter anderem von Laura Mulvey und Teresa de
nale Einfühlung des Zuschauers in das Schicksal des Lauretis in den 1980er Jahren im Horizont kritischer
Protagonisten zu verhindern und stattdessen auf die Filmtheorie diskutiert wurde. Die Filmmaschinerie
sozialen und politischen Missstände in der Gesell- und deren Konventionen seien maßgeblich von ei-
schaft zu verweisen. Es ist jedoch erwiesen, dass der ner männlichen Sichtweise und der Annahme eines
anfängliche Schock, den die Techniken des epischen männlichen Publikums bestimmt. Gerade weil diese
Theaters bewirkten, bald überwunden war und das Perspektive fester Bestandteil der Filmkonvention
Bedürfnis des Publikums nach Empathie gegenüber und deren Rezeption ist, ist sie für das Publikum
dem Protagonisten genauso wie im naturalistischen kaum erkennbar. Folglich identifiziert sich der Zu-
Theater befriedigt werden konnte. schauer, unabhängig vom Geschlecht des Filmema-
Die Forschung zur narrativen Perspektive sind chers, immer mit dem männlichen Protagonisten,
seit Anfang des 20. Jahrhunderts besonders von während die weiblichen Figuren stets einer Verding-
Michail Bachtins Arbeiten zum Roman beeinflusst. lichung anheimfallen. Jill Dolan weitete diese Kritik
Während er den Roman als »heteroglossisch« im auf das Theater aus: »The female spectator is placed
Sinne einer vielschichtigen Mehrstimmigkeit von in an untenable relationship to representation. If she
unabhängigen und individualisierten Charakteren identifies with the narrative’s objectified, passive wo-
innerhalb einer narrativen Struktur bestimmt, kons- man, she places herself in a masochistic position. If
tatiert er für das Drama: »Die Repliken des dramati- she identifies with the male hero, she becomes com-
schen Dialogs zerreißen nicht die dargestellte Welt, plicit in her own objectification« (Dolan 1991, 13).
machen sie nicht vielschichtig; im Gegenteil, um Kritische Ansätze wie jener Dolans, die sowohl
wirklich dramatisch zu sein, bedürfen sie der mono- Genderdifferenzen als auch grundsätzlich die Idee
lithischen Einheit dieser Welt. Im Drama muß sie einer stabilen Subjektivität infrage stellen, sind heute
aus einem Stück gemacht sein. Jede Schwächung die- fester Bestandteil einer postmodernen bzw. postdra-
ser Einheitlichkeit führt zur Schwächung der Dra- matischen Theaterästhetik (vgl. Kap. I.6 sowie
matik« (Bachtin 1971, 22). Mit dieser Kontrastie- III.18), in deren Zentrum die Unmöglichkeit einer
rung wendet sich Bachtin allerdings gegen das (in einheitlichen, verbindlichen Erzählperspektive steht
der Forschung oftmals zentral gesetzte) Konzept des – falls es eine solche überhaupt jemals gegeben hat.
dramatischen Konflikts (vgl. Kap. I.1); einen solchen
kann es nach Bachtin nicht geben, ohne das Drama
als Form zu zerstören, so dass die Figuren nach Literatur
Bachtin eigentlich nur Strohmänner für die Argu- Aronson-Lehavi, Sharon: Street Scenes. Late Medieval Ac-
mentation des Autors sind. Vor dem Hintergrund ei- ting and Performance. Hampshire/New York 2011.
ner langen Tradition der Dramen- und Theatertheo- Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch [1982]. Übers. u.
rie, die das Theater als Ort und Quelle einer echten hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994.
Auseinandersetzung gegensätzlicher und differen- Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs [1963].
Übers. v. Adelheid Schramm. München 1971.
zierter Stimmen begreift, hat Marvin Carlson Beadle, Richard/King, Pamela M. (Hg.): York Mystery
Bachtins Argument verworfen. Nicht nur würden Plays: A Selection in Modern Spelling. Oxford 1984.
Kenner und Theaterkünstler angesichts von Autoren Carlson, Marvin: »Theatre and Dialogism«. In: Reinelt,
wie Shakespeare, Calderón oder Ibsen der Vorstel- Janelle G./Roach, Joseph R. (Hg.): Critical Theory and
Performance. Ann Arbor 1992, 312–323.
lung, es gebe keine unterschiedlichen Stimmen und Carnicke, Sharon: The Theatrical Instinct: Nikolai Evreinov
das Drama sei monolithisch, heftig widersprechen, and the Russian Theatre of the Early Twentieth Century.
für Carlson ist die Vorstellung eines monologischen New York 1989.
4. Dramaturgien der Unterbrechung und der Diversität: Tableaux, Intermezzi, Nachspiele 151

Dolan, Jill: The Feminist Spectator as Critic. Anna Arbor 5. Dramaturgien der
1991.
Evreinov, Nikolai: »Introduction to Monodrama«. In: Se- Unterbrechung und der
nelick, Laurence (Hg.): Russian Dramatic Theory from
Pushkin to the Symbolists: An Anthology. Austin 1981. Diversität: Tableaux,
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte [1970].
München 1986.
Intermezzi, Nachspiele
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik. Stuttgart 2004.
Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1977]. Sowohl poetologische Äußerungen, insbesondere
München 112001. seit dem späteren 18. Jahrhundert, als auch lange
Weimann, Robert: Shakespeare und die Tradition des Volks- einflussreiche dramentheoretische Positionen des
theaters. Soziologie, Dramaturgie, Gestaltung. Berlin 20. Jahrhunderts, etwa die Vorstellung der »ge-
1967.
Kurt Taroff (Übersetzung: Alexandra Portmann)
schlossenen Form« (Klotz 1985) oder auch die der
»Absolutheit« des Dramas (Szondi 1956, 15) (vgl.
Kap. II.6), implizieren einen sich von der aristoteli-
schen Poetik abgeleitet verstehenden Handlungsbe-
griff, der – in Verbindung mit den Konzepten von
Figur und Dialog – konstitutiv für das Verständnis
›des Dramas‹ werden sollte. Dieses Konzept von
Handlung fokussiert auf ihre Einheit und Ganzheit,
Vollständigkeit und Geschlossenheit, somit auf die
Unentbehrlichkeit der Teile und deren Unverrück-
barkeit, und schließt damit explizit ›Überflüssiges‹
aus. Die so verstandene dramatische Handlung ist
gemäß den Bedingungen von Finalität und Kausali-
tät organisiert und durch das Prinzip der ungebro-
chenen Progression gekennzeichnet.
Diesen Programmen entgegen stehen Auffüh-
rungspraktiken, die – und zwar bereits in den Dra-
mentexten Lessings, Goethes oder Schillers selbst –
ausschmückende, bremsende Momente in den Hand-
lungsfluss einbeziehen, insbesondere die Praxis der
Tableaux, die situationshervorhebend reflexiv und
retardierend wirken. Mit Tableaux ebenso wie mit
Intermezzi und Nachspielen kommen dramatische
Formen und dramaturgische Strukturen in den
Blick, die – beleuchtet aus der jeweiligen theatralen
Praxis – das Konzept eines ›dramatischen Flusses‹
als lediglich theoretische Setzung ausweisen. Es ste-
hen damit Erscheinungen zur Diskussion, die sich
durch eine besondere Organisation von Zeit aus-
zeichnen und in denen unterschiedliche Strategien
der Aufmerksamkeitslenkung zwischen Kohärenz-
stiftung und Zerstreuung wirksam werden. Die hier
diskutierten Erscheinungsformen des Dramatischen
erweisen in besonderem Maße, dass die überliefer-
ten Texte erst innerhalb der sie hervorbringenden
Theaterpraktiken aufschlussreich betrachtet werden
können.
152 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

5.1 Temporalität und Diversität musikalische Darbietungen, gesungene Szenen, ge-


sprochene Szenen, Feuerwerk, akrobatische Einla-
Lessing fordert in der Hamburgischen Dramaturgie gen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts prägen das
(1767–69) für das gelungene Drama »eine vollstän- »Prinzip der Zusammenhanglosigkeit« und ein zer-
dige Handlung, die für sich ein wohlgeründetes streuter Blick die Wahrnehmung dieser »Nummern-
Ganzes ausmacht« (Lessing 1996, 393) und in der programme« (Fischer-Lichte 1996, 64 f.).
sich die Ereignisse als »fataler Strom« entfalten, der Die Reformbestrebungen des 18. Jahrhunderts
die Figuren »dahin reißt« und nicht als bloßer »Teig zielten demgegenüber auf die Homogenität der Auf-
auf das Drahtgerippe von Akten und Szenen« zu ver- führungserfahrung: Strukturbestimmend sollte
stehen ist (ebd., 377 f.). Insbesondere diese Vorstel- nunmehr das eine Drama sein, dessen Handlung der
lung einer Progression lässt sich prononciert in den Logik des chrónos unterworfen ist. Bis dieser Prozess
poetologischen Äußerungen Schillers und Goethes der Homogenisierung gegen Ende des 19. Jahrhun-
wiederfinden. Für Schiller ist die dramatische Hand- derts auf breiter Ebene zur dominanten Auffüh-
lung gekennzeichnet durch das »Gesetz des intensi- rungspraxis wurde, blieb das ›gemischte Programm‹
ven und rastlosen Fortschreitens und Bewegens« für Aufführungen prägend, das dann von Varieté
(Brief an Goethe, 26.12.1797, Nr. 395; Goethe 1990, und Revue abgelöst wurde (vgl. Bayerdörfer 1996,
473). Goethe identifiziert als Definiens des Dramati- 37). Bis ins 19. Jahrhundert lässt sich in den Spielplä-
schen das »ewige Fortschreiten« (Brief an Schiller, nen keine Vorstellung von Gattungspurismus fin-
22.4.1797, Nr. 304; Goethe 1990, 333). Noch für den: So wurden in Italien Opern mit nachfolgendem
Friedrich Theodor Vischer zeichnet sich das Drama Ballett gegeben, im viktorianischen England meh-
dadurch aus, dass es »vorwärts drängend, spannend rere Dramen hintereinander gespielt sowie Dramen
und durchschlagend« ist, »ganz bewegte Linie, die oder Opern gemischt mit spektakulären Einlagen
vorwärts geht, ganz Bahn« (Vischer 1923, 279). von Akrobaten aufgeführt.
Diese Vorstellung einer sich linear entfaltenden, un-
wiederbringlich verstreichenden Zeit prägt selbst
dramenanalytische Konzeptionen des 20. Jahrhun-
derts. »Geschlossen«, im Sinne von Volker Klotz, re- 5.2 Kontinuität und Unterbrechung
alisiert sich die Verknüpfung von Ereignissen in ei-
ner »äußerlich sichtbaren, ungebrochenen Hand- Das Prinzip der Diversität sowie intermittierende
lungslinie« (Klotz 1985, 27), als »reine Sukzession« Formate und Funktionen prägen die Aufführungs-
und »Entgegenwärtigung« (Klotz 1985, 41). praxis dramatischer Texte, die mit Vor- und Nach-
Der dramentheoretischen Setzung von Progres- spielen, Zwischenspielen sowie – insbesondere im
sion, Kontinuität und Kohärenz entgegen stehen die 19. Jahrhundert – mit vor- und zwischengeschalteter
Erfahrungen von Aufführung, die, wie Bayerdörfer Schauspielmusik präsentiert wurden. Pfister spricht
argumentiert, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein von »Segmentierungssignalen« (Pfister 2001, 314)
nicht der Logik der linear verstreichenden Zeit wie Zwischenspielen, die zu einer stärker das Publi-
(chrónos), sondern derjenigen des kairós als des kum adressierenden, »epischen Informationsver-
günstigen/entscheidenden Augenblicks folgen (vgl. gabe« (Pfister 2001, 314) tendieren, im Gegensatz zu
Bayerdörfer 1996). Theateraufführungen werden ge- zwei anderen »textexternen« Segmentierungssigna-
mäß der Logik des kairós von den Theaterbesuchern len, nämlich der Pause und dem Vorhang (vgl. Pfis-
als nicht-einheitliche, heterogene Folge von Ereig- ter 2001, 314). Durch die Unterbrechung werde der
nissen nach dem Modell des Festes wahrgenommen, Rezipient »aus dem fiktionalen Raum und der fiktio-
gekennzeichnet durch Diversität und Variabilität nalen Zeit der dramatischen Situation in die reale
seiner Bestandteile (vgl. Bayerdörfer 1996, 34 f.). Deixis seiner Zuschauersituation zurückverwiesen«
Charakteristisch für Aufführungen noch des 18. (Pfister 2001, 314).
Jahrhunderts ist eine nicht festgelegte Aneinander- Diese Operation des Einziehens einer vermitteln-
reihung von Darbietungen, die unterschiedliche den Instanz der Kommunikation zwischen Bühne
emotionale Tonlagen adressieren, einen unter- und Zuschauern und damit impliziten Reflexion der
schiedlichen Grad von Publikumseinbeziehung auf- Zuschauersituation konterkariert das Modell der
weisen und die verschiedenen Sinne in unterschied- »Absolutheit« des Dramas (vgl. Szondi 1956, 15),
licher Weise ansprechen: Tänze, Pantomimen, dessen Absolutheit gegenüber Autor und Publikum
4. Dramaturgien der Unterbrechung und der Diversität: Tableaux, Intermezzi, Nachspiele 153

gerade das Fehlen eines vermittelnden Kommunika- form die vorige Form, etwa im Falle des Tableau das
tionssystems impliziert. Mit Blick auf die Auffüh- Visuelle das Akustisch-Dialogische. Dies impliziert
rungspraxis der Diversität steht jedoch auch die Idee im Falle des Tableau einen Tempowechsel der Ver-
des bürgerlichen Illusionstheaters in einem gewissen langsamung zur Zeitökonomie des Bildes und der
Grad zur Disposition, wenn spektakuläre Attraktio- Bild-Betrachtung. In diesem Sinne verkörpert das
nen wie Akrobaten noch im 19. Jahrhundert eine Tableau eine Unterbrechung der Kohärenz und Ein-
übliche Zwischenakt-Unterhaltung bildeten. Erst heitlichkeit von Handlung. Anknüpfend an Klotz’
aus der Perspektive der normativen Dramenpoetik Konzept der »offenen Form« diskutiert Pfister eine
heraus erscheint es begründet, in solchen Fällen von »Ebene der Negation struktureller Geschlossenheit«,
Aussetzen der Kontinuität, Einschieben und Unter- nämlich das »Aufbrechen der linearen Finalität der
brechen zu sprechen, beruht doch die Praxis und die Handlungsabläufe und ihr Ersetzen durch zyklische,
Wahrnehmung der Aufführung nicht in erster Linie repetitive oder kontrastive Ordnungsprinzipien«
auf einer Vorstellung von Kontinuität, Kohärenz und (Pfister 2001, 324). Hierunter fällt auch der Wechsel
Fluss, sondern eher auf der Erfahrung von Diversi- von »bewegtem Bühnengeschehen« und »statuari-
tät, Abwechslung und Kontrast. Dies umso mehr, als scher Ruhe« (Pfister 2001, 324), somit die Struktur
bei der Betrachtung der Aufführung intermittie- des Tableau. Strukturell ähnliche Unterbrechungen
rende Praktiken auch von Seiten des Publikums in von innen realisieren sich in der Abfolge von Arie
den Blick kommen müssten. Die Aufführungspraxis und Rezitativ in der Oper, von Solo-Nummern oder
dramatischer Texte wäre zu betrachten innerhalb ei- Pas de deux im Handlungsballett, in der intermittie-
ner theaterhistoriografischen Perspektive auf Inter- renden Funktion von Bühnenmusik, der Gattung
aktionen zwischen Bühne und Zuschauerraum, Dar- des Comédie-ballet, die gerade charakterisiert ist
stellern und Zuschauern/-hörern bzw. des Hand- durch den Wechsel der Darstellungsformen, wie
lungsspielraums und der Aufmerksamkeitsökonomie auch in der im ausgehenden 18. Jahrhundert ge-
des Publikums. Zu rechnen ist bis weit in das 19. pflegten Form des Melodrams, bei der ebenfalls der
Jahrhundert hinein mit mobilen Zuschauern, die ›dramatische Fluss‹ unterbrochen ist, indem Sprache
eine verteilte bzw. zerstreute Aufmerksamkeit auf- mit Pantomime und Musik alterniert und die jewei-
weisen und fiktionale, geschlossen konzipierte ligen Affekte und Situationen zweifach hintereinan-
Handlungen vielfach durch Applaus und andere Re- der gezeigt werden.
aktionen unterbrechen. Auch wenn die so verstandene Unterbrechung als
In zweifacher Hinsicht lassen sich intermittie- Variation und Abwechslung funktioniert, so verliert
rende Formate als Unterbrechung oder Wechsel be- sich das Moment der Überraschung, sobald die Er-
schreiben. Im ersten Fall lässt sich innerhalb der wartung der Unterbrechung selbst zur aufführungs-
Aufführungsstruktur eine Unterbrechung als Ergän- praktischen Realität wird. Unterbrechung in diesem
zung von außen, von jenseits der dramaturgischen Sinne meint nicht ›Störung‹, sondern das Erwart-
Logik ausmachen. Die über Aktgrenzen hinaus bare, bereits Traditionsbildende. So verselbständi-
wirkmögliche Verbindung wird im Falle von Inter- gen sich die Dramaturgien der Unterbrechung und
mezzi, Vor- und Nachspielen durch fremden Zusatz des Einschubs immer wieder zu Gattungen eigenen
(sowohl auf der Ebene der Darstellungsmittel, der Rechts wie im Falle der italienischen Intermezzi, aus
narrativen Struktur als auch des dramatischen/thea- denen Formen der Opera buffa des 18. Jahrhunderts
tralen Genres) unterbrochen. Im Sinne der beschrie- entstehen, oder auch der englischen Interludes der
benen Programmatik der Ereignisfolge handelt es Tudor-Zeit. Auch noch die Verselbständigung der
sich hierbei weniger um das Aussetzen von Kohä- kleinen (einaktigen) Form, die im 19. Jahrhundert
renz als um Dramaturgien der Akkumulation, die aus den älteren Zwischen-, Vor- und Nachspielen
sich als Wechsel der Atmosphäre, der Tonlage, der hervorgeht, ist nach Bayerdörfer getragen von der
Publikumseinbeziehung realisieren (etwa in einem zeitlichen Disposition des Augenblicks und der visu-
komischen Intermezzo in einer Tragödie). ellen Kategorie des Tableau, insofern für die gefor-
Im zweiten Fall handelt es sich um eine Form von derte Kürze die dort entwickelten Strategien der Prä-
interner Unterbrechung, die als dramaturgisches gnanz und Evidenz einschlägig sind (vgl. Bayerdör-
Mittel innerhalb eines Zusammenhangs weniger fer 1996, 41).
übergreifend als punktuell realisiert wird. Hier un-
terbricht eine Darstellungs- und Wahrnehmungs-
154 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

5.3 Dramaturgie der Verdichtung: traktiv erscheinen ließ. Erscheint das Tableau im
Tableaux Theater zunächst als Paradigma einer neuen Schau-
spielästhetik, die Diderot zur Erfindung des bürger-
Dass die auf den ersten Blick heterogenen intermit- lichen Theaters dient, so zielt der Einwand der Thea-
tierenden Phänomene auch in anderer Weise in ei- terästhetik gegen das Bilderstellen auf dem Theater
nem Abhängigkeitsverhältnis stehen, wurde ebenso schnell auf dessen ausmalende Qualität, die dem neu
argumentiert. Goodden leitet die visuelle Dramatur- definierten Prinzip des Dramatischen zu widerspre-
gie des Tableau bei Diderot, die zu einem großen Teil chen scheint. Der Beginn des ›Theaters des Dramas‹
auf stummer Pantomime beruht, von älteren For- mit Diderot bzw. Lessing steht unter dem Zeichen
men der Einschübe ab, z. B. von getanzten entr’actes einer aporetischen Konstellation. Die Theaterpraxis
im Jesuitentheater des frühen 18. Jahrhunderts oder arbeitet sich an diesem Widerspruch ab, die Dra-
den spectacles optiques von Servandoni in den men- und Theatertheorie münzt den Widerspruch
1730er/40er Jahren mit lebendigen Darstellern, die alsbald in einen Vorwurf – defizitäres Theater – um,
mythologische Tableaux in Serie zeigten (vgl. Good- und Diderot erkennt, dass die Bildbeschreibung für
den 1984, 400–402). Neuartig in Diderots Konzep- seine Zwecke das bessere Theater ist. Kafitz resü-
tion des Tableau ist jedoch die konsequente Darstel- miert, dass das Tableau als Mitte des 18. Jahrhun-
lung von Milieu und Gefühlszustand durch visuell- derts hervortretende Darstellungsform »zunächst
pantomimische Inszenierung gepaart mit Dialog eher unbemerkt, später in gesteigertem Maße das
und Monolog anstelle von Handlung etwa im Ein- Aristotelische Handlungsdrama zu durchsetzen be-
gangstableau des Père de famille (1760) (Diderot ginnt« (Kafitz 1989, 26) und zunehmend strukturbe-
1758/1980a, I/1–I/5, 191–200; vgl. Szondi 1973, 18). stimmend insbesondere für die Dramatik des Sturm
In Diderots Definition grenzt sich der coup de und Drang, Georg Büchners und Franz Grillparzers,
théâtre als Handlungsumschwung vom Tableau ab, aber auch für das naturalistische Drama wird. Insbe-
das als theatrale Situation und Stellung der Figuren sondere an Aktschlüssen wurden Tableaux einge-
auf der Bühne dem Modell der Malerei folgt und für setzt, wobei sich das Problem der Unterbrechung der
die Malerei ein Modell sein soll (vgl. Diderot, Handlungssukzession hier nicht im selben Maße
1757/1980b, 91–93). Tableaux und Pantomimen stellt, da der Schritt zurück in eine lineare, fort-
springen in Diderots Dramen da ein, wo die gespro- schreitende Zeit nicht erfolgen muss. Das Schluss-
chene Sprache nicht ausreichend ist oder – gemessen Tableau ist programmatisch entfaltet in Goethes
an der von ihm postulierten universellen Verständ- Proserpina (1778/79) und entwickelte sich zum Stan-
lichkeit der Gestensprache – nicht ›natürlich‹ genug; dard der Bühnenproduktionen nicht nur der rüh-
gewährleistet werden soll damit die Eindeutigkeit renden ›Familiengemälde‹ von Iffland, Kotzebue
und Lesbarkeit der Zeichen. Diderot entwirft die (Menschenhaß und Reue, 1789), aber auch Schiller
Dramaturgie der Tableaux als Abfolge von Situatio- (Wilhelm Tell, 1803/04) und anderer, sondern wirkte
nen im Sinne einer »succession de tableaux«, einer in der Tradition der Melodramen bis weit ins 19.
»Reihe von Gemälden« (Diderot 1980a, 417; Diderot Jahrhundert hinein. Gezeigt werden konnte im Tab-
1986, 390), zu denen sich die Bewegung der theatra- leau die nach der Krise wiederhergestellte familiäre
len Konfiguration verdichtet. Harmonie und Restituierung bürgerlicher Ideale, die
Zum Problem wird dabei die Frage der Zeit: Die alle Beteiligten vereint in einer Pantomime, deren
Zeit des Bildes und die Zeit des Theaters scheinen wichtigster Bestandteil die Träne ist und, entspre-
nicht kompatibel. Da das Gemälde als Vorbild der chend der Gattungstradition der comédie larmo-
Theater-Tableaux eine potenziell unendliche Dauer yante, des gemischten Genres, die Tränen des Publi-
(auch der Betrachtung) aufweist, muss der Import kums über den glücklichen Ausgang provoziert und
des Bildmodells in das Theater die Auflösung von sie mit ideologisch-affirmativer Wegzehrung nach
fortschreitender Handlung in den Stillstand der Hause entlässt (vgl. Berger 1989).
Bild-Zeit mit sich bringen. Da Diderot gleichzeitig Die dramaturgische Form/Funktion des Tableau
aber die dargestellte Handlung mit dem Anspruch wird in der Folge einerseits zu einer Gattungsbe-
der Wahrscheinlichkeit versieht, kollidiert das Tab- zeichnung (›Gemälde‹, ›Familiengemälde‹, ›Bild‹),
leau-Prinzip mit eben dem Anspruch auf Natürlich- andererseits zu einer Unterteilungseinheit eines
keit und Wahrscheinlichkeit der Darstellung, der das Dramas, die im Gegensatz zur Aktstruktur nicht auf
Modell des Gemäldes für die Bühne ursprünglich at- die Ebene der Handlung, sondern als thematische
4. Dramaturgien der Unterbrechung und der Diversität: Tableaux, Intermezzi, Nachspiele 155

Unterteilungseinheit auf Atmosphäre, Milieu oder optische Attraktionen, Musik, Tanz oder kleine sze-
Zeit verweist (vgl. Pavis 1998, 376 f.). In den Melo- nisch-verbale Darbietungen geboten wurden, häufig
dramen etwa von Pixérécourt, Hubert oder Anicet- mit mythologischen Sujets oder komischen Alltags-
Bourgeois lässt sich die nach Meisel gattungsbestim- szenen. Die Bedeutung und Wertschätzung der In-
mende »pictorial dramaturgy« (Meisel 1983, 44 f.) termedien überstieg Mitte des 16. Jahrhunderts be-
als eine Reihung effektiver, zum Bild geronnener Si- reits die des Dramas selbst (vgl. Dangel-Hofmann
tuationen in einer »serial discontinuity« (Meisel 1996, 1014). In der Regel nicht oder nur lose mit der
1983, 44 f.) nachvollziehen. Melodrama in diesem Handlung des Dramas verbunden, können diese als
Sinne entfaltet sich als Serie von Zuständen, Verhält- rein musikalische (intermedi non apparenti) oder sze-
nissen, ausgedrückt in Posen und Konfigurationen, nische Intermedien (intermedi apparenti) in gesunge-
charakterisiert durch Dauer und im Tableau kristal- nen Szenen, Tänzen, v. a. moresche und mascherate,
lisierte überdeutliche Lesbarkeit (vgl. Brooks 1976, vielleicht improvisierten Possen, bestehen, aber auch
48). Dieses Moment der Evidenz als unmittelbarer mit Akrobaten, Gauklern, dressierten Tieren oder
visueller Verständlichkeit prägt die Darstellungsthe- Wundermaschinerien aufwarten. Insbesondere die
orie des Tableau im Theater des 18. und 19. Jahrhun- intermedi aulici bei höfischen Festen in Italien seit
derts, auch in jenen Techniken der szenisch-akusti- dem 16. Jahrhundert (etwa die Florentiner Interme-
schen Vergegenwärtigung und Aufhebung der Chro- dien) erlauben eine in erster Linie visuelle Erfahrung
nologie im prägnanten Augenblick, die die Oper des von spektakulärer Prachtentfaltung, abgelöst im 17.
19. Jahrhunderts (›kontemplatives Ensemble‹, Mas- Jahrhundert durch die Oper. Vergleichbare Praktiken
senszenen der Grand Opéra) ausprägt. finden sich in den englischen masques und intermè-
des oder Ballett-entrées und Comédie-ballets am
französischen Königshof (etwa Molière/Lully: Le
Bourgeois gentilhomme, 1670).
5.4 Intermittierende Formen: Im Sinne von Parallele, Kontrast, Kommentar,
Intermezzi, Nach- und Vorspiele Kritik finden Zwischenspiele in das deutsche Ba-
rockdrama (Gryphius) Eingang, beeinflusst durch
Innerhalb der dem Prinzip der Diversität folgenden Clownspossen und Singspiele bei englischen Wan-
Strategie des Wechsels bezeichnen Intermezzi bzw. dertruppen und die niederländischen Reyen (vgl.
Intermedien nicht in erster Linie eine dramatische Kap. III.7). Die Attraktivität der Einlagen führt zur
Gattung, sondern insbesondere seit der frühen Neu- Verselbständigung der Form im Sinne eigener Gat-
zeit eine theatrale Praxis der Einlage ›zwischen‹ et- tungen, so etwa der Interludes der Tudor-Zeit (Med-
was, insbesondere zwischen einzelnen Akten einer vall, Heywood), die ihren Ursprung ebenso in der
Aufführung (entr’acte); parallel dazu jedoch auch die Einlage zwischen den Gängen eines (privaten) Fest-
zwischen einzelnen Gängen eines Festbanketts ein- banketts nahm (vgl. Southern 1973) wie die spani-
gelegten Aufführungen. Die formale Unbestimmt- schen entremeses seit Ende des 15. Jahrhunderts
heit und große Bandbreite theatraler Praktiken des (auch pasos, später sainetes; Lope de Rueda, Cervan-
Einschubs korrespondiert mit dem spärlichen Quel- tes, Lope de Vega, Calderón), die auch gesungen
lenmaterial bezüglich ihrer konkreten Gestalt. (zarzuela) und getanzt (baile) wurden. Ebenso ent-
Intermittierende Funktion wird auch den Chor- wickelte sich aus dem italienischen Intermezzo des
szenen im antiken Theater zugeschrieben sowie pan- 17. Jahrhunderts als heiterer kleiner Form zwischen
tomimischen Interventionen in der römischen Ko- den Akten, die entweder instrumental, getanzt oder
mödie. Während die Bezeichnung Intermezzo sich als intermezzo comico per musica dargeboten wurde,
für musikalische Zwischenakte einer Opera seria des eine Form der komischen Oper, die erstmals mit
18. Jahrhunderts durchgesetzt hat, bezeichnen Inter- Pergolesis La serva padrona 1752 nicht mehr über
medien den früheren Zeitraum, in dem zur Markie- mehrere Zwischenakte verteilt aufgeführt wurde. Als
rung des Aktschlusses der italienischen Renaissance- kleine Einlageformen in theatralen Aufführungen
komödie (zum Teil auch in Tragödien), aber auch in hielten sich allerdings über das gesamte 19. Jahrhun-
jedem anderen größeren Zusammenhang (in italie- dert auch Gedichtrezitationen, Tableaux vivants,
nischen Pastoralen, in sacre rappresentazioni oder Pantomimen, akrobatische Einlagen und Virtuosen-
spanischen autos sacramentales), zur Erheiterung stücke. Aufführungsformen wie Varieté und Music
und Pausenfüllung oder auch zur Prunkentfaltung Hall in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts las-
156 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

sen sich als eine einzige Aneinanderreihung von Ouvertüre zu einer Oper als Einstimmung oder Stra-
Einlagen-Nummern verstehen. tegie der Konzentrations- und Aufmerksamkeitslen-
Praktiken separater Nachspiele gehen bis zum kung gegen die Optionen zur Zerstreuung im Thea-
griechischen Satyrdrama zurück, das seit dem 6. tersaal wirken konnten. Als verselbständigte Kurz-
Jahrhundert v. Chr. im Anschluss an den Tragödien- dramen wurden Nach-, Vor- und Zwischenspiele
wettbewerb bei den Großen Dionysien aufgeführt seit Ende des 19. Jahrhunderts in einer erneut additi-
wurde und nach den Satyrn benannt ist (vgl. Kap. ven Dramaturgie der Diversität als Einakterabende
III.2), die den Chor bilden. Das einzige vollständig aufgeführt (vgl. Kap. III.13). Von hier aus verknüp-
überlieferte Satyrspiel ist der Kyklops des Euripides fen sich ein letztes Mal die Praktiken des Intermittie-
(ca. 412–408 v. Chr.). Bernd Seidensticker weist ne- rens und der Unterbrechung, wie sie in Tableaux, In-
ben der Funktion der psychischen Entspannung ins- termezzi und Vor- und Nachspielen diskutiert wur-
besondere auf deren kultische Funktion hin, inso- den: Selbst noch die Karriere des Einakters als
fern durch den Auftritt der Satyrn die Rückbindung Experimentierfeld der Theateravantgarden um 1900
an den Charakter der ländlichen Dionysosfeste ge- lässt sich gemäß Bayerdörfer auf die zugrunde lie-
lang, der in den Tragödienaufführungen verloren gende Zeitlichkeit des Augenblicks (als Moment der
gegangen war, und damit die Satyrspiele in diesem Krise), und insofern auf die erprobten Strategien der
Sinne Höhepunkt der Tetralogien wurden (vgl. Sei- Evidenz und Prägnanz, zurückführen (vgl. Bayer-
densticker 1999, 38). dörfer 1996, 53).
Im deutschsprachigen Raum setzt sich der Begriff
›Nachspiel‹ im 18. Jahrhundert gegenüber Exodium
und Nachkomödie durch und bezeichnet insbeson- Literatur
dere kurze (manchmal improvisierte) Verlachkomö- Bayerdörfer, Hans-Peter: »Einakter mit Hilfe des Würfels?
dien der deutschen Wandertruppen, die nach Trau- Zur Theatergeschichte der ›Kleinen Formen‹ seit dem
erspielen oder Komödien gegeben wurden und in 18. Jahrhundert«. In: Herget, Winfried/Schultze, Brigitte
zunehmend loserem Zusammenhang zum vorange- (Hg.): Kurzformen des Dramas. Gattungspoetische, epo-
henden Drama stehen. Neben Hanswurstiaden und chenspezifische und funktionale Horizonte. Tübingen
1996, 31–57.
Pickelherings-Possen treten Schäferspiele (z. B. der Berger, Willy R.: »Das Tableau. Rührende Schluß-Szenen
Gottschedin oder Gellerts), aber auch neue Texte im Drama«. In: Arcadia 24 (1989), 131–147.
von Kotzebue, Iffland, Möser und Gotter. Ende des Brooks, Peter: The Melodramatic Imagination. Balzac,
18. Jahrhunderts waren Nachspiele eine gewohnte Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New
Haven/London 1976.
Erscheinung, die ein Echo noch in Lessings Plänen Dahlhaus, Carl: Vom Musikdrama zur Literaturoper. Auf-
für Nachspiele mit Hanswurst (1784) und Goethes sätze zur neueren Operngeschichte. München 1989 [da-
Nachspiel zu Ifflands Hagestolzen (1815) haben, be- rin: »Zeitstrukturen in der Oper«, 27–40, sowie »Über
vor die Produktion dramatischer Nachspiele mit den das ›kontemplative Ensemble‹«, 41–49].
Forderungen reformerischer Dramenpoetik rapide Dangel-Hofmann, Frohmut/Pirrotta, Nino: »Interme-
dium«. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sach-
zurückgeht und anderen Praktiken des Nachspiels teil. Bd. 4. Kassel/Stuttgart 21996, Sp. 1011–1026.
weicht, die etwa eine Oper mit einem anschließen- Diderot, Denis: Le père de famille. Avec un discours sur la
den Ballett kombiniert. poésie dramatique [1758]. In: Œuvres complètes. 25 Bde.
Nach- und Vorspiele (als von einem als Hauptsa- Kritische Ausgabe. Hg. v. Herbert Dieckmann u. a., Bd.
10: Fiction 2: Le drame bourgeois, hg. v. Jacques u. Anne-
che betrachteten Drama separierte Darbietungen, Marie Chouillet u. a. Paris 1980a, 190–427.
also unterschieden von Epilog und Prolog) sind Pro- Diderot, Denis: Entretiens sur Le Fils Naturel [1757]. In:
dukte eines Rezeptionsverhaltens, das auch gegen Œuvres complètes. 25 Bde. Kritische Ausgabe. Hg. v.
Ende des 18. Jahrhunderts noch üblich war und das Herbert Dieckmann u. a., Bd. 10: Fiction 2: Le drame
»einzelne Elemente fokussierte, ohne ihren Zusam- bourgeois, hg. v. Jacques u. Anne-Marie Chouillet u. a.
Paris 1980b, 83–162.
menhang mit anderen Elementen zu berücksichti- Diderot, Denis/Lessing, Gotthold Ephraim: Das Theater
gen« (Fischer-Lichte 1996, 65). Während die Vor- des Herrn Diderot [1760]. Stuttgart 1986.
spiele der Neuberin dagegen programmatisch zwi- Fischer-Lichte, Erika: »Vom zerstreuten zum umfassenden
schen den einzelnen Teilen Kohärenz zu stiften Blick. Das ästhetische und zivilisatorische Programm in
den Vorspielen der Neuberin.« In: Herget, Winfried/
versuchten, blieben Praktiken des Vorspiels wie der Schultze, Brigitte (Hg.): Kurzformen des Dramas. Gat-
curtain raiser oder lever de rideau bis ins 19. Jahr- tungspoetische, epochenspezifische und funktionale Hori-
hundert weit verbreitet, die ähnlich der Funktion der zonte. Tübingen 1996, 59–86.
6. Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Modell 157

Frantz, Pierre: L’esthétique du tableau dans le théâtre du 6. Die »Absolutheit des


XVIIIe siècle. Paris 1998.
Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epo- Dramas« (Szondi) als
chen seines Schaffens, Münchner Ausgabe. Bd. 8/1: Brief-
wechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 analytisches Modell
bis 1805. Hg. v. Manfred Beetz. München 1990.
Goodden, Angelica: »›Une peinture parlante‹. The Tableau Als Kernstück seiner einflussreichen Theorie des mo-
and the Drame«. In: French Studies 38 (1984), 397–413. dernen Dramas, 1880–1950 (1956) führte der deut-
John, David G.: The German Nachspiel in the Eighteenth
Century. Toronto 1991. sche Literaturwissenschaftler Peter Szondi das Kon-
Kafitz, Dieter: Grundzüge einer Geschichte des deutschen zept der »Absolutheit des Dramas« ein: ein idealtypi-
Dramas von Lessing bis zum Naturalismus [1982]. Frank- sches Konstrukt, dem Szondi die neue Formsprache
furt a. M. ²1989. im modernen Drama gegenüberstellt. Ab 1880 mani-
Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama
[1960]. München 111985.
festiere sich eine ›Krise‹ der klassischen Konzeption
Landmann, Ortrun/Lazarevich, Gordana: »Intermezzo«. des ›absoluten Dramas‹, die schließlich zur Integra-
In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil. Bd. tion v. a. epischer Stilmittel ins Drama der ersten
4. Kassel/Stuttgart 21996, Sp. 1026–1048. Hälfte des 20. Jahrhunderts führen wird. Szondis An-
Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie satz wird nicht selten selbst die Verabsolutierung der
[1767]. In: Ders.: Werke. 8 Bde. Hg. v. Herbert G. Göp-
fert. Bd. 4: Dramaturgische Schriften. Darmstadt 1996. absoluten Dramenform und ihre zumindest implizite
Mamczarz, Irene: Les intermedes comiques italiens au Normsetzung vorgehalten. Diese Kritik trifft aber
XVIIIe siècle en France et en Italie. Paris 1972. weit eher auf die von Szondi beschriebenen Phäno-
Meisel, Martin: Realizations. Narrative, Pictorial, and Thea- mene zu als auf seine originäre Methode. Es geht ihm
trical Arts in Nineteenth-Century England. Princeton
1983.
nicht um die Normsetzung durch einen der Beschrei-
Niggestich-Kretzmann, Gunhild: Die Intermezzi des italie- bung spezieller historischer Spiel- und Textformen
nischen Renaissancetheaters. Diss. masch. Göttingen gewonnenen allgemeinen Begriff von Drama oder
1968. um Argumente für (oder gegen) die Zulässigkeit der
Pavis, Patrice: Dictionary of the Theatre. Terms, Concepts, sich von diesen Konventionen ablösenden Experi-
and Analysis. Toronto 1998.
Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1977]. mente und Innovationen. Im Mittelpunkt von Szon-
München 112001. dis Ansatz steht v. a. eine Historisierung von ver-
Seidensticker, Bernd: »Philologisch-literarische Einlei- meintlich überzeitlichen Formprinzipien. So präsen-
tung«. In: Krumeich, Ralf/Pechstein, Nikolaus/Ders. tiert er das klassisch-absolute Dramenmodell als eine
(Hg.): Das griechische Satyrspiel. Darmstadt 1999, 1–40.
Southern, Richard: The Staging of Plays Before Shakespeare.
konkret situierte historische Erscheinung, als Ent-
London 1973. wurf, der sich im westeuropäischen Kulturkreis, be-
Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt fördert durch die Aristotelesrezeption seit der Renais-
a. M. 1956. sance, allmählich als Norm durchgesetzt hat. Seine
Szondi, Peter: »Tableau und coup de théâtre. Zur Sozialpsy- Verabsolutierung erfuhr dieses Modell dann v. a. im
chologie des bürgerlichen Trauerspiels bei Diderot. Mit
einem Exkurs über Lessing«. In: Ders.: Lektüren und französischen Dramenmodell des 17. Jahrhunderts,
Lektionen. Versuche über Literatur, Literaturtheorie und wie es sich in den Dramen Corneilles, Molières und
Literatursoziologie. Frankfurt a. M. 1973, 13–43. Racines manifestierte (vgl. Kap. III.8), sowie in der
Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des deutschen klassischen Dramatik (Goethe, Schiller)
Schönen [1846–58]. 8 Bde. Hg. v. Robert Vischer. Mün-
(vgl. Kap. III.9). Szondi wendet sich sowohl gegen die
chen 21922/23. Bd. 6: Die Dichtkunst [1857]. München
2
1923. idealistische Lektüre von Dramen als reines »Surro-
Voss, Ursula: Der Sainete. Untersuchungen zu einer Gattung gat der Philosophie« (Szondi 1974, 272) wie auch ge-
des spanischen Volkstheaters – unter besonderer Berück- gen ahistorisch vorgehende werkimmanente »Stilkri-
sichtigung der Autoren Ramón de la Cruz, Ricardo de la tik« und ihre Erben. So bleibt etwa Volker Klotz in
Vega und Carlos Arniches. Berlin 1970.
Bettina Brandl-Risi seiner in ihrem dramaturgischen Ansatz durchaus
brauchbaren Gegenüberstellung von »geschlosse-
nem« und »offenem Drama« (Klotz 1992) in einer
»schiefen« Dualität gefangen, wie es Hans-Thies Leh-
mann formulierte: »Offen verhält sich zu geschlossen
wie unblau zu blau« (Lehmann 1986, 286).
In Szondis panoramischem »Röntgenbild« (Pavis
2007, 47) hingegen manifestiert sich ein historisie-
158 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

rendes Verständnis künstlerischer Formsprache, das Noch Ibsen und Tschechow werden in verschiede-
ihm erlaubt, die Differenzen zweier Phänomene nen Äußerungen darauf bestehen, dass die Rede ih-
nicht allein ex negativo aus sich selbst heraus zu er- rer Figuren nicht mit Haltungen oder Aussagen des
klären. Szondi schließt an ähnlich hegelianisch ge- Autors gleichzusetzen sei. Seine idealtypische Kon-
prägte Studien wie Walter Benjamins Ursprung des kretisierung fand das absolute Drama in der Archi-
deutschen Trauerspiels (1928) und v. a. Georg Lukács’ tektur der Guckkastenbühne. Der Rahmen ersetzt
Theorie des Romans (1916) sowie dessen »Soziologie die Rampe, die vormals noch als Bindeglied zwi-
des modernen Dramas« (1914) an. Wie diese Vorbil- schen szenischer Präsentation und dem Auditorium
der insistiert Szondi unter Berufung auf Hegel auf fungierte. Die Zuschauer werden vom partizipieren-
dem dialektischen Ursprung der Form im Inhaltli- den Publikum zu stummen, objektiven Zeugen, die
chen, wonach »der Inhalt nichts ist, als das Umschla- dem dargestellten Geschehen schweigend und inne-
gen der Form in Inhalt, und die Form nichts als das haltend aus der Distanz beiwohnen. Das Eindringen
Umschlagen des Inhalts in Form« (Hegel 1970, 264). des Publikums in die Bühnenwelt bzw. der Bühnen-
Die Historizität der Form ist damit nicht auf den fiktion in die Realität (in den »Ehrenplätzen« auf der
(werkexternen) Kontext beschränkt: Geschichte Bühne, den Impromptus und als Zugabe wiederhol-
wird als direkt in die Form eingeschrieben verstan- ten Bravourstücken, in Zwischenrufen, Szenenap-
den. Die dramatische Formsprache wird derart nicht plaus) weicht dem stillen Einfühlen, der restlosen
mehr als transhistorische Konstante begriffen (wie Identifikation – sowohl der Schauspieler, die nun
auf prototypische Weise in Gustav Freytags Technik restlos hinter ihren Rollen verschwinden, als auch
des Dramas von 1863), welche allenfalls in ihrer in- der Zuschauer. Mit dem neu eingeführten Vorhang
haltlichen Ausgestaltung Züge von Geschichtlichkeit werden sie ebenso in neue Distanz zur absoluten
annehme. Szondis Theorie des modernen Dramas, Spielhandlung gesetzt, wie diese physische und auch
1880–1950 betrachtet entsprechend zunächst die psychische Trennung durch die nun ermöglichte
auftretenden Widersprüche im Spannungsfeld kon- Abdunkelung des Zuschauerraumes während der
ventioneller, klassischer dramatischer Formen und Vorstellung befördert wird.
Inhalte, v. a. im Werk von Ibsen, Tschechow, Strind- Zusammenfassend lässt sich die Absolutheit des
berg und Hauptmann. Spätere Innovationen, etwa klassischen Dramas an drei Aspekten markieren, die
bei Brecht, Piscator, Bruckner, Pirandello, O’Neill allesamt mit der, wie Szondi betont, nun dominie-
und Wilder, werden sodann als Auflösung dieser renden Form der dialogischen Rede verknüpft sind:
Problematik in einer neuen ›modernen‹ Formspra- 1. Das Drama ist absolut präsent: Es existiert allein
che vorgestellt. im Moment und kennt keinen seine Eigen-Zeit
durchbrechenden Kontext; die Vergangenheit ist
durch Exposition ebenfalls vergegenwärtigt. Drama-
turgische Formen wie Prolog, Epilog oder Chor, die
6.1 Das absolute Drama über diesen absoluten Augenblick hinausweisen,
sind zugunsten des gegenwärtigen Dialogs ver-
Die Absolutheit des klassischen Dramas verweist drängt.
nun auf seine Ablösung von sämtlichen externen Be- 2. Das Drama ist absolut inter-subjektiv: Der Dia-
dingungen: Es »kennt nichts außer sich« (Szondi log als »zwischenmenschliche Ansprache«, wie ihn
1965, 15). Die fiktionale Welt der Darstellung prä- Szondi auch bezeichnet, konstituiert Drama qua
sentiert sich als vollständig von der realen Welt der zwischenmenschlicher Beziehungen und Konflikte,
Theater-Vorstellung getrennt. Verweise auf materi- die auf – tragische wie komische – (Sprech-)Akte zu-
elle Präsentations- und Vorstellungskonditionen, auf gespitzt sind: »Alles was diesseits oder jenseits dieses
Schauspieler wie auf Autor und Publikum klammert Aktes war, mußte dem Drama fremd bleiben«
das derart nun »primäre« Drama, wie Szondi es auch (Szondi 1965, 14). Entsprechend kennt das klassi-
bezeichnet, aus. Drama wird in diesem historischen sche Drama keinen Platz für das das moderne
Paradigma zur Kunst der reinen Illusion, streng ge- Drama interessierende Innen- oder Seelenleben sei-
trennt von der realen Lebenswelt. Im absoluten ner Figuren. Der Monolog wird als unmotiviert ab-
Drama sprechen allein die Figuren, nicht der Autor, gelehnt; subjektive Äußerungen sind etwa im Dialog
der als die dramatische Aussprache stiftende aukto- mit einer confidant(e)-Figur ebenfalls in den inter-
riale Instanz völlig abwesend ist (Szondi 1965, 15). subjektiven Raum verschoben, während alle jenseits
6. Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Modell 159

des Individuums stehenden gesellschaftlichen (ma- formalen Konventionen fest, doch die Thematik ih-
teriellen, objektiven) Aspekte in ihrer einzig mögli- rer Stücke unterminiert die Behauptungen dieser
chen dramatischen Aktualisierung im Dialog sub- Form: Die Faktoren der Absolutheit – Gegenwärtig-
jektiviert werden. Aus der Autonomie der dialo- keit, Zwischenmenschlichkeit, kausal-finaler Sinn-
gischen Rede ergibt sich so das dramatische zusammenhang – werden relativ, da sie selbst in die
Geschehen als Resultat des »polyperspektivischen« dramatische Relation eintreten. Der absolute Augen-
Arrangements korrespondierender und kontrastie- blick des klassischen Dramas ist bei Ibsen durch den
render Figurenperspektiven (Pfister 2001, 91). Einbruch von Vergangenheit aufgehoben, die als Er-
3. Das Drama ist absolut finale Sukzession: Jedes innerung ihrerseits gerade ihren Sitz im Inneren der
Element, und dabei v. a. jede Replik in einem Dialog, Charaktere hat; somit verdrängt Innerlichkeit das
zeitigt eine Folge, die in die abgeschlossene Kausal- Zwischenmenschliche. Ebenso ist die Präsenz des
kette der Dramenhandlung eingegliedert und in die- dramatischen Moments bei Tschechow gerade in der
ser syntaktischen Verknüpfung nicht verschiebbar Spannung zwischen einem nostalgischen Vergan-
ist. Die dem absoluten Drama eigene Zeitstruktur ist genheitsbezug und dem utopischen Traum eines
somit final determiniert. Jeder absolute Moment ge- künftigen Lebens aufgehoben. Die Gegenwart bleibt
winnt seine sinnerfüllte Bedeutung als Kettenglied allenfalls noch Auslöser, der Stichworte für die me-
dieses teleologischen dramatischen Prozesses, der lancholische Reminiszenz an das Gewesene oder die
eine Lösung, ein Ende verspricht. sehnsüchtige Wendung in eine andere Zukunft lie-
Diese drei grundlegenden Aspekte führen zur sti- fert. Der Dialog weicht zunehmend Monologen oder
lisierten Abstraktheit des absoluten Dramas: Dessen wird in ein ›Palaver‹ inhaltsleerer Konversation auf-
absolute Sprache, Zeit und Handlung lassen »das gelöst, die keine finale Handlungsorientierung mehr
zwischen den Menschen sich je gegenwärtig Ereig- kennt. Sprache ist nicht mehr das verbindende Me-
nende in höchster Reinheit hervortreten; der enge dium zwischenmenschlicher Aktion, sondern Aus-
Wortschatz wird gleichsam zum eigensten Besitz des druck entweder radikal subjektiver Reflexion, wo
Dramas und weist nicht, wie das naturalistische auf sich etwa Strindbergs Dramen durch die »subjektive
die Empirie, über es hinaus« (Szondi 1965, 85 f.). Linse eines zentralen Ichs« artikulieren (Szondi
Drama ist nicht in die vielschichtige materielle Sach- 1965, 74), oder – wie bei Hauptmann und später
lichkeit und notwendige Nebensächlichkeit der Rea- Fleißer, Horvath, Kroetz – entsubjektiviertes Me-
lität verstrickt, sondern – allemal seit Goethe und dium, determiniert durch politisch-ökonomische
Schiller – ganz auf die »dramatischen Kollisionen« Verhältnisse, dem Individuum selbst fremd und äu-
konzentriert. Wo nun etwa Tragödien der griechi- ßerlich. Das lyrische Drama Mallarmés, Maeter-
schen Antike oder Stücke Shakespeares dem neuen lincks und Hofmannsthals, dem Szondi eine spätere
idealistisch-philologischen Dramenkanon einge- detaillierte Vorlesungsreihe widmet (Szondi 1991),
schrieben werden, passt die filternde Vermittlung, sucht auf seine Weise, die Absolutheit des Dramas
nicht zuletzt der Übersetzungen, die Stücke und gerade in stilisierter sprachlicher Formgebung zu
Stoffe den Normen der Absolutheit an. Im 19. Jahr- behaupten und die unter dem Banner des Naturalis-
hundert war derart eine Dramenform standardisiert mus sich durchsetzende Vermischung der dramati-
und in Handbüchern wie dem Freytags als Maßstab schen Sprache und der realen Sprache, die von au-
gesetzt, erstarrte aber damit, wie Szondi nachweist, ßerhalb auf die Bühne drängt, zu problematisieren.
als rein äußerliche Schablone: Scribes Schema des Von Maeterlincks drame statique bis hin zu Be-
pièce bien faite stelle bereits eine »ungewollte Parodie ckett und seinen Erben kommt schließlich der final
des klassischen Dramas« dar (Szondi 1965, 87). orientierte dramatische Handlungsfluss zum Stehen:
Statt des Geschehens ist der (unentrinnbare) Zu-
stand neuer Träger des dramatischen Moments, das
Tragische verschiebt sich in die Gleichförmigkeit des
6.2 Vom Modernen Drama zum längst nicht mehr einmaligen gegenwärtigen Mo-
Postdramatischen Theater ments. Nach einer Epoche, die sich um eine Rettung
der dramatischen Form bemühte (vom Naturalis-
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts implodiert dieses mus über das lyrische Drama, den Erben des bür-
klassisch-absolute Dramenkorsett. Autoren wie Ib- gerlichen Trauerspiels bei Lorca bis hin zu Sartres
sen, Strindberg und Tschechow halten an gegebenen Existenzialismus) identifiziert Szondi die Episierung
160 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

des Dramas – die Einführung des Montageprinzips, Kennzeichnend für Lehmanns postdramatisches
von Spielleitern und Erzählern, expressionistischen Theater ist, dass »nach dem Drama« nichts mehr auf
Monologen etc. – als gemeinsame Tendenz der in einen dominierenden, gemeinsamen Nenner zu
seiner Studie so bezeichneten modernen »Lösungs- bringen sei, der sich – wie Szondis Tendenz der Epi-
versuche«. Gemeinsames Merkmal ist dabei nicht sierung – dem Dramatischen entgegensetzen ließe.
zuletzt das Durchbrechen der klassischen Absolut- Somit ist nach Beschreibungskategorien gefragt, die
heit durch eine neue Aufmerksamkeit für die Ver- sich nicht einfach dem klassischen dramatischen
mittlungsebene des – in Pfisters verbreiteter Termi- Formenreservoir (von Figur, Handlung, offener/ge-
nologie – »äußeren Kommunikationssystems« des schlossener Form etc.) widersetzen, sondern nach
Dramas (Pfister 2001, 91 f.), ja geradezu dessen ex- originär theatralen Kategorien, die diese Paradig-
plizite Ausstellung: nach Klotz lässt sich im Über- men aus sich heraus transzendieren – und damit im
gang vom 19. ins 20. Jahrhundert zwischen Rai- Sinne einer Hegelschen dialektischen Trias die Auf-
mund, Büchner, Wedekind und Horvath eine zu- hebung der Aufhebung vollziehen: Das postdramati-
nehmende »Dramaturgie des Publikums« feststellen sche Theater (Lehmanns Studie wie auch die darin
(Klotz 1998). untersuchte Theaterästhetik) hebt somit Szondi mit
Gerade aus dieser Verschiebung resultiert letzt- Szondi selbst auf. Die grundlegenden methodologi-
lich, was Lehmann in wohl prononciertester Fort- schen Prinzipien hinter Szondis Analyseansatz blei-
führung und Weiterentwicklung des Szondischen ben darob nicht nur unangefochten, sie sind gerade
Ansatzes als den Übergang vom modernen Drama in der durch sie bewirkten dialektischen Aufhebung
zum postdramatischen Theater herausgearbeitet hat ihrer selbst in ihrer Wirksamkeit bestätigt.
(Lehmann 1999). Exemplarisch für die Kritik an
Szondis Modell kritisiert Lehmann den den traditio-
nellen Gattungsmustern von Epik, Lyrik und Dra-
matik verhafteten Bezugsrahmen Szondis und sei- 6.3 Das analytische Prinzip der
nen rein auf die Textebene des Dramas und nicht auf historisierenden Strukturanalyse
dessen theatrale Realisation abstellenden Blickwin-
kel. Die Privilegierung des Epischen in den von Seine nachhaltige analytische Kraft gewinnt Szondis
Szondi vorgestellten »Lösungsversuchen« bleibt für Postulat des absoluten Dramas somit aus der Ver-
Lehmann gerade im Hinblick auf die Dramen- und schränkung präziser Strukturanalysen mit dem Au-
Theatergeschichte nach 1950 unzureichend: Brechts genmerk auf der historischen Spezifizität sowie so-
episches Theater (und gleichermaßen die anderen ziokulturellen Materialisierung dieser Form. Gerade
»Lösungsversuche«) seien viel eher als »Erneuerung als Ansatz zu einer »Theorie des Stilwandels«, wie sie
und Vollendung der klassischen Dramaturgie« (Leh- Szondi in einem Kapitel seiner Theorie des Moder-
mann 1999, 48) zu bewerten – nicht zuletzt, weil sie nen Dramas, 1880–1950 ausführt, kommt dem Kon-
strikt dem medienspezifischen Format »Literatur- zept des ›absoluten‹ Dramas letztlich sowohl auf
theater« verhaftet bleiben. Erst wo neben Pirandello, formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene gültige
Brecht und Wilder auch Craig, Artaud, Müller und Modellhaftigkeit zu. Im Sinne der Hegelschen Form-
Wilson Berücksichtigung finden und das zuneh- Inhalt-Dialektik sind Einsichten über Form und
mende Auseinanderklaffen von Drama als Form Formenwandel in ihrer konkreten historisch-inhalt-
und Theater als Medium in den Blick kommt, ist lichen Aktualität und somit ihrer sozio-kulturellen
man der Konsequenz aus der Auflösung der drama- Historizität verstanden und bewertet. Es sollte zu-
tischen Absolutheit tatsächlich auf der Spur. Leh- dem nicht übersehen werden, dass das Format des
mann präsentiert ein derartiges Panorama neuerer, ›absoluten‹ Dramas auch im 21. Jahrhundert bei-
auf die (Szondis epischem Fokus noch fremd blei- leibe nicht nur nach-, sondern ebenso stark fort-
bende) mediale Eigengesetzlichkeit des Theaters ab- wirkt: Das realistische well-made play bestimmt
stellenden Ansätze v. a. der 1980er und 1990er Jahre. nicht nur auf angloamerikanischen Bühnen weiter-
Es kann als Ergänzung des die theatrale Ebene aus- hin den dominanten Theaterdiskurs, es hat sich als
klammernden, immer noch dramatischen Blickwin- dramaturgisches blueprint gerade den neuen, techni-
kels Szondis verstanden werden; hier liegt die ent- schen Medien der vergangenen Jahrzehnte, von Film
scheidende mediale Differenz in den Argumentatio- und Fernsehen bis hin zum Computerspiel, einge-
nen Szondis und Lehmanns. schrieben (Auslander 2008). Diese vermitteln eine
6. Die »Absolutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Modell 161

auch auf das Theater zurückwirkende neuerlich ›ab- Aufhebung auf der nächsten Stufe der Entwicklung
solute‹ Rezeptionshaltung als perzeptorische Stan- wird in den thematisch verhüllten Formelementen
dardnorm, mit der sich gerade die postdramatischen vorbereitet, die schon die problematisch gewordene
Phänomene auf je spezifische Weise auseinanderset- alte Form birgt. Und der Wandel zum in sich wider-
zen. In diesem Zusammenhang bewährt sich, wie spruchslosen Stil vollzieht sich, indem die formal
Lehmann unter Beweis gestellt hat, der Szondische fungierenden Inhalte sich vollends zur Form nieder-
Ansatz nachhaltig, Formen der künstlerischen Pra- schlagen und damit die alte Form sprengen. […] Das
xis »als manifest gewordene Reaktionen auf die Dar- neue Stilprinzip ist vor dem Umbruch jeweils als
stellungsprobleme, die sich auf dem Theater stellen« antithetisches im Innern des alten aufzuweisen«
(Lehmann 1999, 19) zu lesen. Die verknüpfende (Szondi 1965, 78 f.). Dem charakteristischen Drei-
Analyse formaler Prinzipien (wie der dialogischen schritt der Hegelschen Dialektik folgend stehen sich
Redestruktur oder der Abgeschlossenheit des abso- nicht einfach zwei Gegenbegriffe gegenüber; eine
luten Dramas bei Szondi, die von Lehmann bearbei- einmalige Übergangssituation, die keine unmittel-
teten postdramatischen Zeichen und Aspekte) und bare Lösung des Widerspruchs leisten kann, vermit-
historisch-ideologischer Aspekte unterstreicht deren telt, um sodann zu verschwinden und allenfalls im-
dialektische Wechselwirkung. Darauf bezogene plizit weiterzuwirken. Szondis Studie zum moder-
Strukturanalysen, die sich – ähnlich wie Szondi und nen Drama kann heute selbst als derartiges sich
Lehmann – ein breiteres Arbeitsfeld als das einzelne selbst aufhebendes Übergangsphänomen gelten.
Werk oder das Werk-Corpus einzelner Künstler ste-
cken, ergänzen die in der theaterwissenschaftlichen
Theoriebildung dominierenden Ansätze von Werk- Literatur
und Textanalysen auf entscheidende Weise. Dabei Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized
mögen sich auf dieser Tradition aufbauende Arbei- Culture [1999]. Abingdon/New York 2 2008.
ten letztlich auch daran versuchen, jener Verschrän- Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas [1863]. Hg. v.
kung künstlerischer Formen und historischer Situa- Klaus Jeziorkowski. Stuttgart 1983.
tion präziser nachzugehen. Denn während Szondi Giles, Steve: »Szondi’s Theory of Modern Drama«. In: Bri-
tish Journal of Aesthetics 27.3 (1987), 268–277.
zwar auf der historisierenden Perspektive beharrt, Hays, Michael: »Drama and Dramatic Theory. Peter Szondi
bleiben nicht nur textexterne theatrale Aspekte, son- and the Modern Theater«. In: Boundary 2 11.3 (1983),
dern auch zentrale historische Phänomene (allen 69–81.
voran die Emergenz des Bürgertums) bemerkens- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Wissenschaft der Lo-
gik. In: Ders.: Werke, Bd. 8. Hg. v. Eva Moldenhauer u.
wert abwesend, und auch Lehmann bezieht sich ei- Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970/1986.
nerseits auf das spezifische kulturelle (und nicht zu- Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama
letzt mediale) Umfeld der 1980er und 1990er Jahre, [1960]. München 131992.
doch sind diese Bezüge weitgehend in kommentar- Klotz, Volker: Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne und
haften Verweisen und Bemerkungen eher angedeu- Publikum aufeinander eingehen. Würzburg 21998.
Lehmann, Hans-Thies: »Dramentheorie«. In: Brauneck,
tet, als dass sie in die weiterhin v. a. auf die imma- Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Be-
nente Ebene konzentrierten Analysen nachhaltig griffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek b.
historisierend eingingen. Hamburg 1986, 280–287.
Eine historisch sensibilisierte, dialektisch ausge- Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frank-
furt a. M. 1999.
richtete sowie nicht zuletzt medienspezifisch argu- Pavis, Patrice: »L’héritage de Peter Szondi pour la sémiolo-
mentierende Analyseperspektive vermag schließlich gie et la théorie de l’avant-garde théâtrale«. In: Ders.:
auch dazu zu verhelfen, die kontinuierliche Weiter- Vers une théorie de la pratique théâtrale: voix et images de
entwicklung theatraler Formen auch jenseits der la scène [1982]. Villeneuve 42007, 45–63.
dramatischen Dominanten nicht als linear verlau- Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1977].
München 112001.
fende historische Progression zu lesen (nun etwa als Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas,1880–1950
»Überwindung« des Dramas im Postdramatischen [1956]. Frankfurt a. M. 1965.
Theater), sondern besonders auf jene Manifestatio- Szondi, Peter: »Hegels Lehre von der Dichtung«. In: Ders.:
nen zu achten, die sich solcher Geradlinigkeit wider- Poetik und Geschichtsphilosophie I. Frankfurt a. M. 1974,
267–511.
setzen. Wie Szondi gezeigt hat, wird gerade dort der Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin-de-Siècle [1975].
die formale Innovation antreibende gesellschaftlich Frankfurt a. M. 31991.
situierte Widerspruch besonders kenntlich: »dessen Peter M. Boenisch
162 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

7. Drama und Performativität Benjamin Bennett verweist auf die komplexe Wir-
kung dieses Bezogenseins, wenn er dem Drama eine
Die viel beschworene Liminalität des Dramas zwi- »revolutionary force« zuspricht, weil es durch seinen
schen literarischem Text und szenischer Darstellung Bezug auf das Theater die Vorstellung des in sich ru-
hat immer wieder auch die Frage hervorgerufen, wie henden Systems der Literatur destabilisiere (Bennett
sich das Verhältnis von Drama und Theater im Ein- 2005, 48).
zelnen bestimmen ließe. Methodisch ist dieses Bezogensein auf die thea-
Während aus literaturwissenschaftlicher Perspek- trale Darstellung eine besondere Herausforderung,
tive die Bühne nur die »nicht-literarische Teilfunk- weil sie zunächst einmal die Frage aufwirft, inwiefern
tion, derer sich das dialogisch gebildete Sprachwerk dies in einer intrinsischen Qualität des Textes be-
bedienen kann (und nicht muß)« (Hamburger 1977, gründet ist. Diese stellt sich umso mehr als neuere
190) ist, wurde die ästhetische Ebenbürtigkeit des Theatertexte oftmals traditionelle Elemente wie dia-
Theaters gegenüber der Literatur nachgerade zum logischen Aufbau, Gliederung in Haupt- und Neben-
Gründungsmerkmal des theaterwissenschaftlichen text verweigern (vgl. Kap. II.3). Die üblichen Meta-
Diskurses (vgl. Hulfeld 2007). In diesem Sinne phern von ›Partitur‹, ›Bauplan‹ oder ›theatralem Po-
musste die Inszenierung/Aufführung zum Zentrum tential‹ (Totzeva 1995) implizieren letztlich immer
theaterwissenschaftlicher Reflexion werden, wäh- ein hierarchisches Verhältnis, das die szenische Dar-
rend das Drama in den Hintergrund trat. So be- stellung als ›Umsetzung‹ oder ›Übersetzung‹ des lite-
stimmt etwa Erika Fischer-Lichte den Dramentext rarischen Textes begreift. Dies ruft unvermeidlich die
als »Material« der Aufführung, wobei sie ihm expli- Diskussion über die Angemessenheit der Inszenie-
zit keine prägende oder strukturierende Funktion rung im Bezug auf den Text hervor, die oftmals unter
zuweist (vgl. Fischer-Lichte 2010, 93–100). dem Schlagwort der Werktreue geführt wird: Das
Gleichwohl kann eine solche Bestimmung nur Maß für das ›Gelingen‹ des theatralen Kunstwerks
bedingt überzeugen, zum einen weil – zumindest im wäre demnach das Befolgen der Vorgaben des literari-
westlichen Theater – die theatrale Umsetzung des schen Textes. Eine solche Sichtweise verkennt aber
Dramas immer noch eine wichtige Rolle spielt, zum zum einen die ästhetische und semiotische Eigenstän-
anderen weil das Drama auch in der Rezeption eine digkeit der szenischen Darstellung, zum anderen aber
größere Funktion übernimmt als andere Materia- auch die hermeneutische Differenz zwischen Text
lien. Insofern kann das Zusammentreffen zweier auf und Inszenierung, da die ›Intention‹ des Autors allein
den ersten Blick antagonistischer Prinzipien wie schon aufgrund der Vielzahl der an der theatralen
Textualität und Performativität als ebenso zentrales Darstellung Beteiligten als Referenzpunkt fragwürdig
wie paradoxes Kennzeichen des Dramas bestimmt erscheinen muss (vgl. Fischer-Lichte 2010, 96 f.).
werden (vgl. Kap. I.1). Auch Käte Hamburger ver- Im Kontext der Diskussion um postmoderne In-
weist auf dieses Spannungsverhältnis, wenn sie das tertextualitätsmodelle gab es in den 1990er Jahren
Drama nicht nur als sprachliches Kunstwerk ver- verschiedene Ansätze, das Verhältnis von Text und
steht, sondern auch auf die Mittel der Bühne bezo- Theater grundsätzlich neu zu fassen. So definiert
gen sieht: etwa Katharina Keim ausgehend von Theatralitäts-
Die dramatische Gestalt ist […] so gebaut, daß sie nicht modellen Theatralität als eine dem dramatischen
nur, wie die epische, im Modus der Vorstellung existiert, Text inhärente Kategorie (vgl. Keim 1998, 26–41); sie
sondern dazu bestimmt und angelegt ist, in den Modus der bezieht dies v. a. auf eine Dynamisierung bzw. Thea-
Wahrnehmung der Bühne hinüberzutreten, d. h. also in tralisierung der textuellen Strukturen, so wie sie dies
dieselbe physikalisch definierte Wirklichkeit wie die des
paradigmatisch in Heiner Müllers Hamletmaschine
Zuschauers. Dies aber bedeutet, daß sie unter dem doppel-
ten Gesichtspunkt der Dichtung und der (physischen) (1977) verwirklicht sieht. Hier wird im Lichte de-
Wirklichkeit entworfen wird und sie geprägt ist von den konstruktivistischer Textmodelle die Theatralität
Erscheinungsformen, die dieser Umstand, die physische des Textes als subversive Kraft verstanden: Müller
Wirklichkeit der Verkörperung der Fiktion, mit sich führt. »inszeniert so ein ›Theater der Wörter‹, das den der
Der Aspekt aber, der sich daraus ergibt, tritt keineswegs
erst in die Erscheinung, wenn wir das Drama auf der Bühne Sprache wie auch dem Theater zugrunde liegenden
sehen. Sondern dies ist für die Logik des Dramas das Ent- Repräsentationsanspruch bloßlegt und ihm die thea-
scheidende, daß es bereits als gedichtetes unter diesen bei- trale Repräsentation der grafischen und phoneti-
den Modi steht. (Hamburger 1977, 177) schen Materialität der sprachlichen Zeichen entge-
gensetzt« (Keim 1998, 77 f.).
7. Drama und Performativität 163

Drama, Script, Theater, and Performance

Script Performance

Drama Theater Abb. 1: Das Verhältnis Script-


Drama und Performance-
Theater nach Richard Schechner
(Schechner 2003, 72)

Gerda Poschmann wählt in ihrer Arbeit Der nicht der Sprache und schließt damit an Intertextuali-
mehr dramatische Theatertext (1997) einen ver- tätstheorien an (vgl. Poschmann 1997, 332–339).
gleichbaren Ansatz, geht aber über Keims Überle-
gungen hinaus, wenn sie grundsätzlich den Theater- Obwohl Poschmann sich um eine grundsätzliche
text – mit diesem Begriff will sie den engeren Begriff Kategorisierung bemüht, bleibt dieses Modell in sei-
des Dramas ersetzen – vornehmlich durch die prag- ner Ausrichtung auf das Phänomen des postdrama-
matische Ausrichtung des Textes auf eine szenische tischen Theaters (vgl. Kap. I.6) bezogen. Rückbli-
Darstellung und nicht mehr durch innere Merkmale ckend erscheint es symptomatisch, dass die Dramen
definiert sieht; diese Qualität definiert sie als Text- der 1990er Jahre als nahezu evolutionärer Flucht-
theatralität (vgl. Poschmann 1997, 42–44) und trifft punkt der Darstellung erscheinen; eine historische
folgende Unterscheidungen: Dimension ließe sich aus diesen Überlegungen nur
schwerlich gewinnen.
1. Mittelbare Texttheatralität ist dadurch bestimmt, Im Kontext der US-amerikanischen Performance
»daß die theatralischen Eigenschaften des Thea- Studies, deren Grundlage eben nicht die Auseinan-
tertextes […] als Tauschwert für eine szenische dersetzung mit der Literatur bzw. der Literaturwis-
Theatralität der Aufführung zu betrachten sind, senschaft, sondern die (An-)Erkenntnis des Perfor-
daß sie also von der primären Rezeption (Lektüre mativen als zentralem soziokulturellem Mechanis-
der Regie) in Zeichen der (imaginären oder rea- mus ist, haben sich alternative Überlegungen zum
len) Bühne zu übersetzen zu konkretisieren sind« Verhältnis von Drama und Theater entwickelt. So
(Poschmann 1997, 324). Das deutlichste Merkmal hat Richard Schechner in seiner Performance Theory
dieser Form wären die Bühnenanweisungen, wo- (1988) die Unterscheidung von script vs. drama vor-
bei Poschmann ausdrücklich darauf verweist, geschlagen, die parallel zur Unterscheidung von per-
dass diese nicht nur als Handlungsanweisungen formance vs. theater verläuft.
verstanden werden können, sondern im Gefüge Während script im weitesten Sinne als »something
des Textes auch eine eigenständige poetische that pre-exists any given enactment, which persists
Qualität gewinnen können (vgl. Poschmann from enactment to enactment« (Schechner 2010, 68)
1997, 328–332). definiert wird, erscheint das Drama als Sonderfall
2. Unmittelbare Texttheatralität umfasst »theatrali- des scripts, weil es auf einer Spezifierung der Funk-
sche Eigenschaften des Theatertextes […], die in tion des scripts beruht; es wird in seiner Form nicht
linguistischen Zeichen der Aufführung (zumeist aus dem Kanon der literarischen Formen oder Gat-
als Rede im Sprechtext, aber auch als Projektion tungen entwickelt, sondern aus seiner Funktion als
anderer Textschichten) wirksam werden können, Grundlage einer Handlung (enactment). So begreift
die also in Passagen zu verorten sind, die der Text Schechner das sich seit der Frühen Neuzeit etablie-
unmittelbar der sekundären Rezeption als sprach- rende Modell des literarischen Dramas nicht als
liches Geschehen und als Basis für Sinngebungs- Norm, sondern als besonders wirkmächtige kultu-
prozesse anbietet« (Poschmann 1997, 324). Ähn- relle Ausprägung. Analog definiert Schechner das
lich wie Keim fokussiert Poschmann mit diesem Theater als Sonderform der Performance, die er als
Begriff die Ereignishaftigkeit und Performativität grundlegendes kulturelles Phänomen begreift, das
164 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

gleichermaßen Sportwettbewerbe, Rituale, Zeremo- Burkes Modell wird von Worthen auf das Verhält-
nien etc. einschließt. Dieser Ansatz entgeht dem nis von Drama und Theater übertragen, wobei er
Problem der Hierarchisierung, weil er das Drama den Text als Ort der Erkundung des Theaters in allen
nicht aus der Tradition der literarischen Gattung seinen Facetten begreift – die Inszenierung des Tex-
heraus begründet, sondern aus der soziokulturellen tes vollzieht sich in ständiger Dialektik von Kontinu-
Praxis der Performance. Die Frage nach einer dem ität und Wandel: »Dramatic writing provides a me-
Text inhärenten Qualität des ›Dramatischen‹ oder ans for exploring acting, for interrogating bodies, for
›Theatralen‹ ist folglich nicht zu stellen. searching the desire to perform and to watch perfor-
Einen anderen Weg, der aber ebenfalls den Per- mance, to see ›this thing‹ appear again tonight with
formance Studies verpflichtet ist, wählt William B. the unerring recognition that its appearance will re-
Worthen, wenn er zunächst einmal feststellt, dass die place the writing we remember and instigate re-
Aufführung in ihrem Verlauf und ihrer Struktur membering anew« (Worthen 2010, 82).
nicht durch den Text bestimmt ist, sondern vielmehr Dabei ist es v. a. das Moment der permanenten
diesen ›arbeiten‹ lasse: »A stage performance is not Aneignung, das für ihn das Verhältnis von Drama
determined by the internal ›meanings‹ of the text, und Theater bestimmt: »The agency of dramatic wri-
but is a site where the text is put into production, ting, and so the act it constitutes, will change with
gains meaning in a different mode of production the agent, purpose, and scene in which it is perfor-
through the labor of its agents and the regimes of med« (Worthen 2010, 33).
performance they use to refashion it as performance Das Modell der agency des Textes verspricht eine
material« (Worthen 2003, 23). Später hat er diese Auflösung des mitunter als nahezu unversöhnlich
Überlegungen nochmals aufgegriffen und unter ei- antagonistisch begriffenen Verhältnisses von Tex-
nem neuen Gesichtspunkt erweitert: Dem Text, so tualität und Performativität: Ohne in die alten Mus-
Worthen, eigne eine spezifische agency, die sich ter einer hegemonialen Hierarchisierung zurückzu-
dann auf die szenische Darstellung auswirke fallen oder das Verhältnis von Drama und Theater
(Worthen 2010). Der englische Begriff agency lässt zu bagatellisieren, ist die Denkfigur eines dem Text
sich allerdings kaum angemessen ins Deutsche über- eingeschriebenen Handlungshorizonts hilfreich, die
setzen; seine etymologischen Wurzeln verweisen auf Wechselwirkungen zwischen Drama und szenischer
das Lateinische agentia bzw. facultas agendi, was die Darstellung zu beschreiben.
Möglichkeit/Fähigkeit zum Handeln impliziert. Ein kleines Beispiel kann den heuristischen Wert
Agency meint also einen spezifischen Handlungs- dieses Denkmodells verdeutlichen: Der englische Re-
horizont, den der Text aufspannt. gisseur Harley Granville Barker hat mit Blick auf
Worthen greift hierbei auf die Arbeiten von Ken- Shakespeares A Midsummer Night’s Dream das Bon-
neth Burke zurück, der in A Grammar of Motives mot geprägt: »Can even genius succeed in putting fai-
(1945) aus anthropologischer Perspektive eine ries in the stage? […] The fairies are the producer’s
Handlungstheorie entworfen hat, die er als drama- test« (Granville Barker 1974, 35). Die Herausforde-
tism bezeichnet und die eine Untersuchung von rung an den Regisseur, die »Fairies« des Textes auf die
Handlungen bzw. Motiven ermöglichen soll (vgl. Bühne zu bringen, ist eine Schlüsselstelle im Ver-
Puchner 2010, 162–166). Im Zentrum dieses Mo- ständnis des Textes, der sich das Theater nicht entzie-
dells stehen fünf Begriffe, deren Wechselwirkung als hen kann. Die Theatergeschichte freilich kennt die
Grundachse aller Handlungen dienen kann: unterschiedlichsten Darstellungsweisen, von Kinder-
elfen wie im viktorianischen Theater über erotische
act – scene – agent – agency – purpose
Frauenfiguren bis hin zum gänzlichen Verzicht – jede
Burke erklärt dieses Verhältnis so: »In a rounded der Darstellungen ist gleichermaßen ›legitim‹ und
statement about motives, you must have some word immer gleichermaßen auf den Handlungshorizont
that names the act (names what took place, in des Dramas zu beziehen, den sich die Inszenierung
thought or deed), and another that names the scene aneignet. Dabei gilt dies natürlich für alle Figuren des
(the background of the act, the situation in which it Dramas, aber phantastische Figuren mögen hierbei
occurred); also you must indicate what person or eine besondere Herausforderung darstellen, denn wie
kind of person (agent) performed the act, what me- könnte man Hamlet inszenieren, ohne die Frage nach
ans or instrument he used (agency), and the pur- dem Geist zu beantworten, oder wie Faust, ohne die
pose« (Burke 1945, xv). Frage nach dem Teuflischen des Mephisto zu klären?
7. Drama und Performativität 165

Worthens Modell erlaubt es schließlich auch, Literatur


diese ständigen Verschiebungen nicht als ›Abwei- Bennett, Benjamin: All Theater is Revolutionary Theater.
chungen‹ oder bloße ›Variationen‹ eines im Text Ithaca/London 2005.
vorgegebenen ›Kerns‹ zu beschreiben, sondern Burke, Kenneth: A Grammar of Motives [1945]. Berkeley
diese als Ausdruck einer grundlegenden Form kul- u.a 1969.
tureller Dynamik zu begreifen: »Different scenes, Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Eine Einführung
in die Grundlagen des Fachs. Tübingen 2010.
different kinds of theatre, will use the drama to per- Granville-Barker, Harley: »Preface to ›A Midsummer
form different kinds of act; uses afforded in one the- Night’s Dream‹«. In: Ders.: Prefaces to Shakespeare VI.
atre may not appear in another. The writing, the 1914. London 1974, 33–39.
text, cannot determine how it should be used or Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung [1957]. Frankfurt
a. M. u. a. 31977.
what it might mean, affordances arising in relation Hulfeld, Stefan: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle
to specific technologies of performance« (Worthen Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Zürich 2007.
2010, 33). Keim, Katharina: Theatralität in den späten Dramen Heiner
Gleichzeitig ermöglicht das Konzept der agency Müllers. Tübingen 1998.
auch, den Einfluss des Textes auf eine Inszenierung Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theater-
text. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische
neu zu bewerten: Auch wenn das literarische Thea- Analyse. Tübingen 1997.
ter nur eine historische Möglichkeit von Theater Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1977].
darstellt, so kann die Klassifikation des Textes als München 112001.
reines ›Material‹ für die Aufführung nicht völlig Puchner, Martin: The Drama of Ideas. Platonic Provocations
in Theater and Philosophy. Oxford/New York 2010.
überzeugen, denn sie verkennt das große semioti- Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in
sche Potential, das der Sprache eigen ist. So kann im Times of Theatrical Reenactment. London/New York
plurimedialen Gefüge einer Aufführung (Pfister 2011.
2001, 24–29) die Wirkung der Sprache im Hinblick Schechner, Richard: Performance Theory [1988]. London
2
auf die semiotische Dimension (zur Unterscheidung 2003.
Totzeva, Sophia: Das theatrale Potential des dramatischen
von semiotischer und phänomenologischer Analyse Textes. Ein Beitrag zur Theorie von Drama und Dramen-
vgl. Fischer-Lichte 2010, 81–88) eine größere Wir- übersetzung. Tübingen 1995.
kung entfalten als andere Materialien wie bspw. das Worthen, William B.: Shakespeare and the Force of Modern
Licht, die Kostüme oder die Dekoration. Dies gilt be- Performance. Cambridge 2003.
Worthen, William B.: Drama. Between Poetry and Perfor-
sonders im Hinblick auf die kulturelle Verortung ei- mance. Chichester 2010.
ner Inszenierung: Hier wirkt die agency des Textes Peter W. Marx
auch steuernd auf die Erwartungshaltung des Publi-
kums; dies ist keinesfalls bindend für die szenische
Gestaltung, für das Verständnis eines Dramas in ei-
ner historischen Epoche ist die Berücksichtigung
dieser Dimension aber unerlässlich.
Das Verhältnis von Drama und Theater erfährt
gegenwärtig aus theaterwissenschaftlicher Perspek-
tive eine Neubewertung, die auch mit einer Revision
des Performativitätsparadigmas zu tun hat. Die Ka-
tegorie der Ereignishaftigkeit, die lange Zeit als zent-
ral angesehen wurde, erfährt dabei eine kritische Re-
vision (vgl. Schneider 2011). Dieser Diskurs eröffnet
nicht nur einen neuen Dialog zwischen Literatur-
und Theaterwissenschaft, sondern kann auch dabei
helfen, die Frage nach dem ›Sitz im Leben‹ von
Drama und Theater als komplexem Interaktionspro-
zess von Textualität und Performativität zu verste-
hen.
166 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

8. Dramenanalyse nach zont bestimmt, sondern auch dessen Repräsentation


durch den Darsteller mit seiner Mimik, Gestik und
dem Ende der Gattungs- Proxemik sowie die Vermittlung komplexer nicht-
konvention sprachlicher, also visueller und akustischer Signale.
Die Theaterwissenschaft reagierte mit dem Ziel ei-
Mit den historischen Avantgardebewegungen um ner methodischen Emanzipation des Theaters von
1900, v. a. aber mit der Fluxus- und Performancebe- der Literatur und der damit verbundenen Aufwer-
wegung der 1960er und 1970er Jahre vollzogen sich tung des Szenischen sowie mit der Bereitstellung
im Bereich der darstellenden Künste Entwicklungen, von Analyseinstrumentarien, die den literarischen
die sich mit den Kategorien der traditionellen Dra- Text v. a. im Hinblick auf seine Inszenierung für die
menästhetik nicht mehr fassen ließen. Die vornehm- Bühne erachteten. Die von Erika Fischer-Lichte im
lich performativen, ereignishaft-darstellerischen Rahmen einer »Semiotik des Theaters« Anfang der
Präsentationsformen, die sich einer eindeutigen Zu- 1980er Jahre ausdifferenzierte Methode erlaubte – in
ordnung zu den traditionellen Gattungsgrenzen dar- Rekurrenz auf sprachwissenschaftliche Modelle –,
stellender versus bildender Kunst entzogen und zu- dem »Plurimedium« Aufführung eine Bedeutung als
gleich oftmals für großes öffentliches Aufsehen sorg- theatralem Text zugrundzulegen, der diesen als ei-
ten, sprengten deren mímēsis- und textbezogenen nen »strukturierte[n] Zusammenhang von Zeichen«
Rahmen und verlangten nach angemessenen Analy- (Fischer-Lichte 1995, 10) aufzufassen vermochte
sekategorien. Bislang war das Drama primär als lite- und somit gewährleistete, die sich in eben jenem
rarisch-fiktionale Gattung verstanden worden. Als Text vollziehende Bedeutungserzeugung nicht nur
deren Spezifikum galt (vgl. Pfister 2001, 18) entwe- auf einen außertheatralischen Bereich, sondern auch
der die Konfliktstruktur (Hegel, Brunettière, Ar- auf die historisch sich wandelnde theatralische
cher), die Synthese von epischer Objektivität und ly- Norm selbst zu beziehen. Der semiotische Analyse-
rischer Subjektivität (Hegel; Schelling; Vischer), die ansatz setzte damit letztendlich ein textbasiertes
Zeitdimension der Zukunft (Jean Paul; Vischer) Verständnis voraus, der zugleich die Richtung des
oder die Spannung (Staiger) (vgl. Kap. I.1). Demge- Analyseweges vorgab: Zuerst sollte der literarische
genüber wurde nun die Formenvielfalt dramatischer Text, dann, als Transformation begriffen, jener der
Texte jenseits deduktiver Vorannahmen und dicho- Aufführung zu interpretieren sein (vgl. Fischer-
tomer Ordnungsmuster – etwa jener Klassifikation, Lichte 1995). Dies implizierte zudem ein theoreti-
die Volker Klotz in Geschlossene und offene Form im sches Vorverständnis, wonach all die theatralen Ein-
Drama (1960) aufstellte (vgl. Kap. II.2.3) – zuneh- zelzeichen qua ihrer referenziellen Funktion stets als
mend anerkannt. Seitens der Literaturwissenschaft Abbildung von Wirklichkeit aufzufassen seien.
schlug etwa Manfred Pfister vor, als Unterschei- Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
dungsmerkmal zu anderen Textsorten zumindest sich vollziehende Etablierung neuer postdramati-
die Differenz von dramatischen und narrativen Tex- scher Theaterformen jenseits einer repräsentationa-
ten geltend zu machen (vgl. Pfister 2001, 19 f.). Ent- len Ästhetik (vgl. Lehmann 1999), die auch das
scheidend hierfür ist die je unterschiedliche Spre- Überschreiten von Gattungsgrenzen zunehmend in
chersituation: Während narrative Texte durch eine den theoretischen Blick rückte, führte schließlich zur
vermittelnde Erzählinstanz gekennzeichnet sind, Entwicklung eines neuen Paradigmas: Die Theorie
weisen dramatische Texte eine darstellende Figuren- des Performativen setzte sich nicht mehr mit einer
rede auf (vgl. Kap. II.4). Zudem schlug Pfister vor, Mimesis des Fiktiven, sondern mit dem Vollzug von
vier offene Differenzkriterien zu bestimmen, die es Handlungen, die Realität selbst herstellen, auseinan-
erlaubten, den dramatischen Text nicht allein als li- der. Allerdings lässt sich die Auflösung der Gat-
terarische Textform zu bestimmen, sondern diesen tungsgrenzen nicht allein als binnenästhetisches
immer auch im Hinblick auf seine szenische Realisa- Phänomen betrachten. Vielmehr handelte es sich um
tion zu untersuchen: Plurimedialität, Kollektivität einen vielschichtigen Prozess, der in enger Verbin-
von Produktion und Rezeption, Überlagerung von dung mit der Entwicklung in anderen Künsten und,
innerem und äußerem Kommunikationssystem so- auf Theorieebene, in den Kunst- und Geisteswissen-
wie die performative Kommunikation (vgl. Pfister schaften insgesamt stand: Zum einen hat v. a. die
2001, 33). In Rechnung gestellt werden sollte, dass poststrukturalistische Diskurskritik dazu beigetra-
nicht allein der literarische Text den Analysehori- gen, Identitätskonzepte und Ursprungserzählungen
8. Dramenanalyse nach dem Ende der Gattungskonvention 167

und damit auch essentialistische Wesensbestimmun- grenzen. Ehemals gültige Kategorien der Moderne
gen von literarischen Formen zu hinterfragen. Zum sollten verabschiedet werden, wie sich wiederum am
anderen hat die ›Institutionenkritik‹ (der Künste) Merkmalskatalog Ihab Hassans zur Postmoderne ab-
seit den 1960er Jahren dazu geführt, ehemals enge lesen lässt, der neben ästhetischen Fragestellungen
Grenzen einzelner Kunstgattungen und Untergat- auch darüber hinaus reichende gesellschaftliche
tungen aufzubrechen bzw. zu verschieben und zu Wertvorstellungen berührte: das Ausstellen von Un-
verflüssigen. Der Gattungsbegriff selbst und, analog, bestimmtheitsstellen innerhalb von Kunstwerken;
der Werkbegriff standen zur Disposition. Die sich Fragmentarisierung inhaltlicher und formaler Krite-
seit den historischen Avantgardebewegungen um rien; die Auflösung des Kanons als Subversion gängi-
1900 anbahnende, spätestens aber seit den 1960er ger Kunstkonventionen; die Konzentration auf
Jahren in den Künsten gängige Abkehr von typisch Oberflächenstrukturen statt auf Tiefendimensionen;
künstlerischen Produktionsstätten wie Theater, Mu- die Darstellung des Undarstellbaren; die Strategie
seen und Galerien und die damit verbundene Au- der Ironisierung und Karnevalisierung als Verweige-
ßerkraftsetzung normativer Regularien der Kunst- rung von eindeutigen Bedeutungszuordnungen; Hy-
produktion sowie der (ungeschriebenen) Gesetze bridisierung als Ausdruck von Genre-Mutationen;
des Theater- und Kunstbetriebs fand Ausdruck im Performanz als Zeichen aktiver und gleitender
Angriff auf den geschlossenen Werkbegriff. »All jene Grenzüberschreitungen und schließlich Immanenz
ästhetischen Phänomene«, so Rüdiger Bubner zur als Zeichen symbolhafter Verständigung abseits reli-
Auflösung des geschlossenen Werks in eine Vorstel- giöser Konnotationen (vgl. Hassan 1988). Das Zitie-
lung von Kunst als Prozess, »die nicht auf der festen ren formaler ästhetischer Kriterien und die damit
Grenzziehung zwischen Werk als zweiter Wirklich- verbundene Praxis, enge Gattungsgrenzen in Frage
keit und der gegebenen Realität aufbauen, sondern zu stellen, etwa in Form von Parodie und Ironisie-
mit der Einebnung der Grenzen spielen und ihre Ef- rung, ist dabei nicht ein Phänomen, das erst seit der
fekte aus der Zweideutigkeit verschwimmender De- Postmoderne auszumachen ist. Es reicht weiter zu-
finitionen ziehen, nehmen die Skepsis gegenüber der rück und ist im Grunde genommen elementarer Be-
Geschlossenheit des Werks in ihr Zentrum auf. Die standteil literarischer und künstlerischer Produktion
Bestrebungen in Richtung auf einen fließenden überhaupt. In der Auseinandersetzung einer jeweili-
Übergang von ›Kunst‹ und ›Leben‹ experimentieren gen Epoche mit ästhetischen Konventionen vergan-
bereits in einem Felde, wo die Sonderstellung eines gener Zeiten findet sich immer auch eine Über-
Werkes gar keinen Platz mehr hat« (Bubner 1989, schreitung der jeweils als Norm begriffenen Gestal-
33). Der sich hier artikulierende Vorbehalt gegen- tungsregeln. Doch erst mit dem Beginn der Moderne
über einer ontologischen Vorentscheidung, die seit um 1800 erkennt man an, dass die Auseinanderset-
der aristotelischen Poetik (vgl. Kap. I.2) dem Kunst- zung mit traditionellen Gattungskonventionen auch
werk ein eigenständiges Sein und damit einen onto- eine Reflexion über das eigene ästhetische Verfahren
logischen Ort der Wahrheit jenseits theoretischer und damit eine Selbstreflexion im Zuge der Autono-
Reflexion zugesteht, ist jedoch seinerseits auf ideolo- misierung der Künste darstellt. Als früher Beleg hier-
gische Vorannahmen zurückzuführen. Das »stabile für gilt etwa Louise Adelgunde Gottscheds frühauf-
Werkideal«, von dem sich die »Generation um 1960 klärerisches Lustspiel Das Testament (1745). Hier
emphatisch lossagte«, habe es nämlich, so Hans Bel- zeigt sich, dass die spezifische Verwendung der Ge-
ting, nie gegeben, es sei in Wahrheit »immer ein Pro- staltungsmittel in Form von Zitat und Gattungsparo-
dukt von Konflikten gewesen, auch von Konflikten die einer Strategie unterliegt, die Johann Christoph
zwischen der Kunst und den technischen Medien Gottscheds Regelpoetik Versuch einer Critischen
des Alltags […]« (Belting 2005, 67). Das Überschrei- Dichtkunst (1730) nicht Folge leistet bzw. Elemente
ten der Gattungsgrenzen, die Integration technischer einer von Gottsched abgelehnten älteren Komödien-
Medien in den künstlerischen Produktionsprozess form verwendet (vgl. Loster-Schneider 1999). Das
und die Mischung von »high« und »low«, wie sie Überschreiten von Gattungsgrenzen markiert also
etwa Leslie A. Fiedler in dem Plädoyer »Überquert grundsätzlich nicht nur eine Reflexion über den Ge-
die Grenzen, schließt den Graben!« (1969) verkün- brauch ästhetischer Regeln, sondern über deren
dete, implizierte nämlich neben dem Aufruf, enge Funktions- und Wirkungsweisen.
normative Regeln der Kunstproduktion hinter sich Im 20. Jahrhundert führte v. a. die Medialisierung
zu lassen, auch jenen zur Überwindung von Klassen- dazu, dass sich Dramaturgien und Narrationsweisen
168 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

der dramatischen Textform verändert haben. Die den Vordergrund, die mit strukturalistisch-herme-
Rückkoppelungseffekte medialer Erzählweisen, wie neutischen Interpretationsweisen nicht mehr auf-
sie in Film und Fernsehen entwickelt wurden, auf zuschlüsseln waren. Dabei ergaben die nicht-reprä-
die literarisch-theatrale Produktion, wurden inner- sentationale Ästhetik und die poststrukturalistisch
halb der Literatur- und Theaterwissenschaft seit geprägte Methodenbildung insofern ein Analogie-
Ende der 1990er Jahre ausführlich als Formen inter- verhältnis als sie beide die Annahme eines Zwei-
medialer Praxis beschrieben (vgl. Kap. I.7). Dabei Welten-Modells im Sinne einer gegebenen Sprache
zeigt sich, dass auch innerhalb der Filmwissenschaft hinter dem jeweiligen Sprechen nicht mehr teilten.
und ferner in den Handbüchern zum Verfassen von Die Absage an normativ-deduktive Analysekriterien
Drehbüchern der Begriff Drama einen zentralen führte zur Entwicklung unterschiedlicher, teils kon-
Stellenwert besetzte: Hier bezeichnete er nicht nur kurrierender Methoden. Gemeinsamer Bezugspunkt
ein Filmgenre, sondern auch die Dramaturgie des der v. a. seit den 1990er Jahren entwickelten Kon-
Drehbuchs, die, folgt sie einem Dreiaktschema mit zepte war das Anliegen, den umfassenden Entgren-
Konfliktstruktur, als dramatische Struktur firmierte zungstendenzen gerecht zu werden.
(vgl. Field 1996). Tendenzen, traditionell-dramati-
sche Gestaltungsregeln hinter sich zu lassen, konn- Performativität
ten sich insgesamt betrachtet aber vorwiegend in- Weniger als eng gefasste Analysekategorie, sondern
nerhalb der literarisch-theatralen Produktion be- als umbrella term, als umfassendes kulturwissen-
haupten und weniger in der nach wie vor eher an der schaftliches Paradigma, ist die Performativität zu ei-
mimetischen Abbildfunktion orientierten filmi- nem der zentralen Kriterien avanciert, die die kom-
schen Praxis. plexen und umfassenden Veränderungen in den
Insbesondere anhand der Figur, die für das tradi- Künsten und Wissenschaften seit den 1960ern nach-
tionelle Drama als Identität von Subjekt und Figu- vollziehbar machen sollen. Der ursprünglich von
renrede konstitutiv war, zeigte sich das Überschrei- John L. Austin in der Sprachphilosophie entwickelte
ten der Gattungsgrenzen als Herausforderung für Begriff der Performativität in How to do things with
die theatrale Produktion. Im postdramatischen words? (1962) machte, neben der Kommunikations-
Theater fielen die Präsentation einer Figur, verkör- funktion von Sprache, auch deren lange Zeit ver-
pert durch einen Schauspieler, dessen Präsenz sich nachlässigte Handlungsdimension geltend: Sprache
als unhintergehbar erweist, und deren sprachliche diene nicht allein der intersubjektiven sprachlichen
Artikulation häufig auseinander: Die Figurenrede Verständigung, sondern sei in hohem Maße Mög-
ließ sich nicht mehr auf das Sprechersubjekt bezie- lichkeit und Ausdruck von Handlungen und damit
hen. Vielmehr führte die häufig intertextuelle realitätskonstituierend. Die performative Wende in
Schreibweise und die damit einhergehende Diskur- den Künsten und Kulturwissenschaften zeigte an,
sivierung der Sprache dazu, dass der Urheber des je- dass die ehemals dominante referenzielle Funktion
weiligen Sprechakts nicht auszumachen ist. Alterna- des Theaters mit seiner Darstellung fiktiver Hand-
tive Begriffe wie »Textträger« oder »Figuration« (vgl. lungen, Figuren, Beziehungen und Situationen in
Brandl-Risi u. a. 2000) erlauben es, die im Text und den Hintergrund gerückt ist. Stattdessen stellten die
schließlich auf dem Theater sich bemerkbar ma- neuen performativen Ästhetiken, wie sie insbeson-
chende Dezentrierung des Subjekts begrifflich und dere durch Künstler der Performance Art entwickelt
methodisch nachzuvollziehen und die Figurenrede wurden, im Vollzug von Handlungen, Realität selbst
nicht mehr kausal auf das sprechende Subjekt zu be- her (vgl. Fischer-Lichte 2004). Im Anschluss an die
ziehen, sondern darüber hinausreichende Diskursi- Studien Michel Foucaults wurde u. a. innerhalb der
vierungsprozesse mitzubedenken. durch die Konzepte Judith Butlers geprägten Gen-
Die Verschiebungen innerhalb der Dramenästhe- der-Studien, die Subjektkonsitution durch be-
tik wiesen schließlich darauf hin, dass die Struktur- stimmte Macht- und Diskursregime untersucht. Das
merkmale dramatischer Texte eine Schwerpunktver- Interesse richtete sich dabei v. a. auf Techniken und
lagerung erfuhren, die zu einer Neubewertung der Akte von Verkörperungen sowie die Materialität des
ehemals zentralen Kategorien wie Handlung, Figur, Körpers und der Stimme des Darstellers (vgl. Kap.
aber auch der von Raum und Zeit führten. Die Ab- II.7).
kehr vom realistischen Theaterparadigma rückte
Unbestimmtheitsstellen ästhetischer Produktion in
8. Dramenanalyse nach dem Ende der Gattungskonvention 169

Atmosphäre leiblichen Kopräsenz von Darstellern und Zuschau-


Der Begriff der Atmosphäre als Kategorie ästheti- ern reduziert werden zu können. Ihm eignete ein in-
scher Erfahrung, die nicht mehr auf die strukturalis- tegrativer Ansatz, der das Ästhetische grundsätzlich
tische Analyse des »Kunstprodukts« bezogen bleibt, gegenüber dem Rationalen aufwertet und nicht zwi-
sondern den Akt des Wahrnehmens in den Fokus schen literarischer, theatraler bzw. Kunstproduktion
theoretischer Betrachtung rückte, nahm etwa seit unterscheiden will. Die Aisthesis ermögliche näm-
dem Jahr 2000 einen hohen Stellenwert im Rahmen lich, so Andreas Speer, die Erfahrung von Denkat-
der Betrachtung literarisch-theatraler Praktiken ein. mosphären »die ungeachtet ihrer Fragilität dem
Gernot Böhme etwa ging davon aus, dass für ästheti- Denken den Freiraum seiner Empfindungsfähigkeit
sche Erfahrung »das atmosphärische Spüren von bewahrt« (Speer 2007, 100).
Anwesenheit« grundlegend sei (Böhme 2001, 42).
Als universalistisches Theorem jenseits von kultu- Narration
rellen, ethnischen oder geschlechterspezifischen Der Vorbehalt gegenüber der im Drama zentralen
Codierungen entwarf Böhme die Kategorien des At- Kategorie der Geschichte, begriffen als geschlossene
mosphärischen und der Atmosphäre als »quasi ob- Narration, ist nicht allein ästhetischer Natur und
jektive« in actu sich vollziehende Wahrnehmungsge- nicht allein als Kritik am Realismus zu betrachten.
genstände, deren Eigenschaft ihm zufolge als »zwi- Er ist, analog zur Skepsis gegenüber dem Begriff Re-
schen Subjekt und Objekt« (Böhme 2001, 54) präsentation, auf ganz bestimmte Ursachen zurück-
changierend beschrieben werden kann. Die Aner- zuführen: Zur Disposition stehen lineare und teleo-
kennung der Atmosphären bzw. des Atmosphäri- logische Narrative der Moderne. Zudem gerieten
schen sollte den Blick auf diese besonderen Wahr- jene Kategorien v. a. auch deshalb in Verruf, weil
nehmungskategorien lenken, die von der Ästhetik durch den Einfluss der Kritischen Theorie einerseits
bisher vernachlässigt worden seien. Vor jeder weite- und eines klassenkämpferischen Gestus’ (post-)
ren sinnlichen Ausdifferenzierung, die zugleich eine brechtscher oder auch postmarxistischer Provenienz
Distanzierung des Atmosphärischen bedeutete, arti- andererseits, didaktische Ziele im Sinne eines eman-
kuliere sich in diesem Spüren von Anwesenheit das zipatorischen Prinzips im Vordergrund standen. Die
Spüren eines jeden Individuums als Wahrneh- an einem avantgardistischen Kunstbegriff orien-
mungssubjekt wie auch »das Spüren der Anwesen- tierte Maßgabe etwa im Sinne von Theodor W.
heit von etwas« (Böhme 2001, 45). Böhme verstand Adornos Ästhetischer Theorie (1970) lautete, daß nur
sein Konzept von ästhetischer Erfahrung auch als das Nicht-Identische jeder verdächtig zu nennenden
Kritik an der Naturwissenschaft, als Forderung einer Identifikation entgegenwirke. Ansonsten verharre
ästhetischen Erkenntnis der Natur, die von der Na- der Zuschauer beim Theater der Identifikation un-
turwissenschaft allein nicht zu leisten sei. Die »Pro- mündig vor der sogenannten ›Vierten Wand‹. Nun
duktion von Atmosphäre« sei dabei die zentrale und hat die Entwicklung einer interdisziplinär arbeiten-
eigentliche Aufgabe ästhetischer Produktion, auf Re- den Narratologie dazu geführt, ehemals enge Gat-
zeptionsseite führe diese zu handlungsentlastenden tungsbestimmungen und Grenzziehungen zu verlas-
Erfahrungen (Böhme 2001, 187 f.). Vor allem die Ka- sen. Die Kategorie der Narration als »cross medial
tegorie der Performativität führte innerhalb der phenomenon« (Meister 2005, XIII) erlaubte es, neue
Theaterwissenschaft zur Aufwertung dessen, was Konzepte von Narration zu entwickeln, die nicht
sich nicht über die sprachliche Kommunikation ver- mehr auf eine chronologische und kausallogische
mitteln lässt und schließlich dazu, dass auf dem The- Geschichte bezogen sein mussten.
ater auch die leibliche Präsenz des Darstellers jen- Im Zuge der Auflösung der Gattungsgrenzen war
seits der Dominanz sprachlicher Artikulation ein nicht mehr von einer scharfen Trennung zwischen
zunehmendes Augenmerk erfuhr. Das Konzept der dihḗgēsis (Roman, Epos etc.) und mímēsis (Drama,
Atmosphäre ging hier noch einen Schritt über die Film, Cartoon etc.) auszugehen (vgl. Grünzweig/
Konzentration auf das (postdramatische) Hand- Solbach 1999, 6): »Diegesis und Mimesis sind Dar-
lungsgeschehen, das auf das Bühnengeschehen bzw. stellungsformen […], die ungeeignet sind, Gattun-
die Intention des künstlerischen Herstellungsakts fo- gen zu definieren« (Grünzweig/Solbach 1999, 6).
kussiert bleibt, hinaus: Die Kategorie der Atmo- Des Weiteren wurde in der Narratologie darauf hin-
sphäre beschrieb v. a. einen rezeptionsästhetischen gewiesen, dass nicht mehr eine kohärente geschlos-
Modus, ohne auf die alleinige Beschreibung einer sene Handlung gemeint sein müsse, wenn man von
170 II. Annäherung an das Drama in analytischer Perspektive

Narration spricht. Geht man weniger von einem in- mationen. Theater der Neunziger Jahre. Berlin 1999, 27–
haltsbezogenen Narrationsbegriff als vielmehr von 42.
Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M.
einem solchen aus, der als formale Kategorie fun-
1989.
giert, so lasse sich grundsätzlich sagen, dass die spe- Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1997.
zifische zeitliche Ordnung und Strukturierung der Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Die Auffüh-
Einzelereignisse des Geschehnisablaufs die Narra- rung als Text [1983]. Bd. 3. Tübingen 1995.
tion erst ergeben, indem sie, darüber hinaus, ihre Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt
a. M. 2004.
Auswirkung auf bestimmte ästhetische Situationen Field, Syd: Das Handbuch zum Drehbuch. Übungen und An-
zeitigen (vgl. Riffaterre 1996). Nach der Krise der leitungen zu einem guten Drehbuch. Frankfurt a. M.
Narration wurde zudem im Feld der dramatisch- 8
1996.
theatralen Produktion seit den 1990er Jahren wieder Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1998.
eine Omnipräsenz des »Geschichten-Erzählens« dia- Grünzweig, Walter/Solbach, Andreas: »Einführung. Narra-
tologie und interdisziplinäre Forschung«. In: Diess.
gnostiziert. Produktionen von Christoph Marthaler, (Hg.): Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext.
der Gruppe She She Pop und des Performers Xavier Tübingen 1999, 1–15.
Le Roy zeigten, dass deren Dramaturgien einem Hassan, Ihab: »Noch einmal. Die Postmoderne« [1985]. In:
punktuellen »Story-telling« folgen, die das Telos ei- Hofmann, Gerhard (Hg.): Der zeitgenössische amerikani-
ner geschlossenen Narration unterbrechen. Vor al- sche Roman. Bd. 3. München 1988, 365–373.
Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Berlin
lem der rhetorische Modus der Anekdote unterlaufe 1999.
die auf Kausalität und Notwendigkeit angelegte Loster-Schneider, Gudrun: »Louise Adelgunde Gottscheds
Struktur einer geschlossenen Handlung (Brandstet- ›Testament‹. Ein ›parodistisches‹ Vermächtnis zur Gott-
ter 1999). Schließlich erlaubten die v. a. in der Litera- schedschen Komödienpoetik«. In: Böhn, Andreas (Hg.):
Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwen-
turwissenschaft entwickelten Begriffe wie Multiper-
dung: Gattungsformen jenseits von Gattungsgrenzen. St.
spektivität und Fokalisierung, wie sie etwa von Gérard Ingbert 1999, 59–84.
Genette entwickelt wurden (vgl. Genette 1998), dem Meister, Jan Christoph: »Introductio«. In: Ders./Kindt,
v. a. durch die intertextuelle Schreibweise veränder- Tom/Schernus, Wilhelm (Hg.): Narratology Beyond Lite-
ten Status der Figur gerecht zu werden, die nicht rary Criticism: Mediality, Disciplinarity. Berlin 2005, IX-
XVI.
mehr als mit sich identisches Subjekt fungierte. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1977].
München 112001.
Literatur Riffaterre, Michael: »Chronotopes in Diegesis«. In:
Mihăilescu, Călin-Andrei (Hg.): Fiction updated: Theo-
Belting, Hans: Szenen der Moderne. Kunst und ihre offenen ries of Fictionality, Narratology, and Poetics. Toronto
Grenzen. Hg. v. Peter Weibel. Hamburg 2005. 1996, 244 – 256.
Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als all- Speer, Andreas: »Denkatmosphären. Ein Versuch über das
gemeine Wahrnehmungslehre. München 2001. Ästhetische«. In: Goetz, Rainer/Graupner, Stefan (Hg.):
Brandstetter, Gabriele: »Geschichte(n) Erzählen im Perfor- Atmosphären. Interdisziplinäre Annäherung an einen un-
mance/Theater der neunziger Jahre«. In: Fischer-Lichte, scharfen Begriff. München 2007, 85–102.
Erika/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hg.): Transfor- Miriam Drewes
171

III. Gattungen des Dramas


im historischen Kontext

1. Drama und Theater – eine Abfolge von Skizzen historischer Konstellatio-


nen, die, im Zusammenhang gelesen, durchaus im
eine Wahlverwandtschaft? Sinne einer historischen Linie verstanden werden
können, deren Motor aber nicht ein ›inneres Form-
Das Verhältnis von Drama und Theater scheint aus gesetz‹, sondern die jeweils anders akzentuierte Aus-
heutiger, westlicher Perspektive von einer nachge- handlung von Textualität und Performativität ist.
rade natürlichen Bezogenheit, wenn nicht gar Be- Der methodische Anspruch eines solchen Vorge-
dingtheit geprägt zu sein: Im alltäglichen Sprachge- hens zielt aber eben auch nicht auf enzyklopädische
brauch erscheinen die beiden nur allzuoft als Syno- Vollständigkeit, sondern auf das Exemplarische der
nyme. Dabei stellt die oftmals konstatierte ›Öffnung‹ ausgewählten Konstellationen. Dies mag aus der
des literarischen Textes für eine szenische Darstel- Perspektive einer traditionellen Dramengeschichte
lung eine besondere Herausforderung für die gat- zu eigentümlichen Verschiebungen führen: So wird
tungstheoretische Betrachtung dar und hat auch die im Folgenden etwa das Drama der Frühen Neuzeit
liminale Position des Dramas im Besonderen be- am Beispiel des Elizabethanischen England disku-
gründet (vgl. Kap. I.1). tiert, während etwa das nahezu zeitgleiche Siglo de
Einer historischen Betrachtung hingegen stellt Oro (ca. 1550–1680), das mit Autoren wie Lope de
sich das vermeintlich so eindeutige Wechselverhält- Vega (1562–1635) oder Pedro Calderón de la Barca
nis sehr viel widersprüchlicher und komplexer dar; (1600–1681) erheblichen Einfluss auf das europäi-
schlagwortartig formuliert: Theater- und Dramen- sche Drama nahm, kaum Berücksichtigung findet.
geschichte stehen zwar in Bezug zueinander, fallen Aus deutschsprachiger Perspektive mag es noch irri-
aber keineswegs kongruent zusammen, vielmehr tierender sein, dass mit Blick auf das 18. Jahrhundert
entwickeln sie sich in spannungsreicher Bezogen- die Weimarer Klassik nur einen vergleichsweise ge-
heit, nicht selten auch im offenen Widerspruch zuei- ringen Raum einnimmt, während die bürgerliche
nander. Folglich kann eine kulturwissenschaftlich Dramen- und Theaterreform von Gottsched bis Les-
orientierte Historiografie auch nicht auf die Be- sing im Zentrum steht. Solche ›Verzerrungen‹ ge-
schreibung ›stabiler‹ Formen zielen, deren histori- genüber dem landläufigen ästhetischen Urteil sind
sches Werden in Gestalt einer Entwicklungsge- zum einen der konzeptionellen Entscheidung, sich
schichte zu beschreiben wäre, sondern muss in je- auf paradigmatische Aushandlungskonstellationen
weils (heuristisch) gesetzten Querschnitten die zu konzentrieren, geschuldet; hier ist das Fehlen im
symptomatischen Gattungen und ihr Verhältnis zur Einzelnen nicht als Argument gegen das Vorgehen
theatralen Praxis beleuchten. zu begreifen, sondern als unvermeidliche Folge einer
Ein solches Verfahren führt notwendigerweise methodischen Setzung. Zum anderen aber erfordert
zum Verlust großer, kohärenter Bögen, wie sie etwa die Gattung des Handbuchs eine Zuspitzung bzw.
als ›Geschichte der Tragödie von der Antike bis in Konzentration des Fokus, die deutlich werden lässt,
die Gegenwart‹ zu fassen wären. Die Voraussetzung dass die folgenden historischen Darstellungen eben
einer solchen evolutionären Geschichte ist ein Kon- keine Dramengeschichte bieten können und wollen.
zept von Form und Gattung, das sich auf überkultu- Gleichwohl lassen sich einige allgemeine Ge-
relle und ahistorische Konzepte stützt. sichtspunkte im Verhältnis von Drama und Theater
Der Vorzug der hier verfolgten Perspektive aber konstatieren, die hier einleitend für die historischen
ist ihre historische Nahaufnahme, die sich aus dem Kapitel knapp umrissen werden sollen.
doppelten Blick auf Text- und theatrale Praxis ergibt: Wie an anderer Stelle ausführlich diskutiert (vgl.
So ist im Folgenden nicht der grand récit der drama- Kap. II.7), ist das Drama u. a. durch die konstitutive
tischen Formen das Ziel der Beschreibung, sondern Spannung von Textualität und Performativität ge-
172 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

prägt. Dies schlägt sich auch in Ausrichtung und Die Bedeutung des Dramas für das Theater ver-
Funktion der Poetik des Dramas nieder: In den bindet sich im Deutschland des 19. Jahrhundert
meisten Fällen zielen die Poetiken mit ihrem je spe- auch mit der Praxis der Theaterzensur (Houben
zifischen Profil – ausgehend vom literarischen Text 1978; Kleefeld 1905). Die Genehmigung für eine
und seiner ›Idealform‹ – auf eine Disziplinierung der Aufführung war an die Genehmigung eines im Vor-
szenischen Praxis. Dementsprechend sind die meis- feld genehmigten Spieltextes (Vorzensur) geknüpft.
ten Poetiken, angefangen mit der auch in dieser Hin- Dadurch wird (vermeintlich) ein Primat des Textes
sicht als ›Urschrift‹ fungierenden des Aristoteles, geschaffen, weil die Konzession in jedem Fall eine
auch nicht als Quellen einer theatralen Praxis zu le- Verschriftlichung erforderte. Peter Sprengel hat in
sen, sondern als Ordnungsversuch bzw. Disziplinie- seiner Studie Scheunenviertel-Theater (1995) am
rungsdiskurs im Sinne Michel Foucaults. Die hier Beispiel des jiddischsprachigen Theaters in Berlin
zumeist vorfindliche Vorstellung stabiler Regeln gezeigt, dass die oftmals nicht als literarische Texte
mag zwar mit den ›natürlichen‹ oder ›gewachsenen‹ vorliegenden Spieltexte eigens für die Zensur sowohl
Formen und Bauarten begründet werden, sie zielt in lateinische Buchstaben als auch ins Hochdeutsche
aber in ihrer praktischen Auswirkung auf die Dienst- übertragen werden mussten. Die tatsächliche Spiel-
barmachung der theatralen Praxis ab. Die politische praxis, die von der Theaterpolizei immer noch stich-
Ausrichtung solcher Regeln ist bisweilen mehr als probenartig durch Aufführungsbesuche kontrolliert
offensichtlich, etwa in der Festschreibung der Stän- werden konnte, hat aber sicherlich nur bedingt et-
deklausel durch die Französische Klassik (vgl. Kap. was mit diesen Texten zu tun gehabt (Sprengel 1995,
III.8); aber auch augenscheinlich ›bloß‹ ästhetische 110–119). Das Beispiel, das auf analoge Fälle in an-
Regeln etablieren mit dem Primat des Textes vor der deren Kontexten schließen lässt, unterstreicht, wie
Szene ein Disziplinierungs- und Kontrollwerkzeug wenig aussagekräftig der Text, trotz seiner Zentral-
gegen eine spontane, improvisierte Praxis, deren position im Konzessionsverfahren, im Hinblick auf
Vieldeutigkeit kaum zu kontrollieren schien. Thea- die theatrale Praxis ist.
ter, definiert durch die Kopräsenz von Darstellern Das Verhältnis von Theater und Drama ist aber
und Zuschauern, bildet die (nahezu emblematische) auch in seiner ökonomischen Dimension zu betrach-
Form von Öffentlichkeit (»Publikum«) und damit ten: Schon das elisabethanische Theater ist durch
ein entscheidendes soziales Momentum, das zu kon- den Zielkonflikt zwischen Literatur und Bühne, bzw.
trollieren bzw. zu beeinflussen vielen Mächtigen ein Buchmarkt und Theatermarkt gekennzeichnet (vgl.
zentrales Anliegen war. Kap. III.5). Weit vor der Etablierung eines rechtlich
Wie sehr gerade die Poetiken sich oftmals auch abgesicherten Status der Autoren war der Text vor-
sehr unmittelbar in den Dienst (kultur-)politischer nehmlich (Betriebs-)Kapital der jeweiligen Truppe,
Vorstellungen stellten, lässt sich nicht allein am Bei- eine Buchveröffentlichung ökonomisch also nachge-
spiel der doctrine classique und ihrer Durchsetzung rade widersinnig, zumal in den meisten Fällen der
durch die Académie française beobachten, unverstell- Autor aus diesen Drucken keine Tantiemen bezog.
ter noch tritt dieser Zusammenhang in der Theaterge- Erst die Einführung von Urheberrechtsregelungen in
setzgebung des 18./19. Jahrhundert zutage: In Eng- England (Copyright Act, 1710) und Frankreich (Droît
land beschränkte der 1737 erlassene Licensing Act die d’auteur, 1791–93), die dann 1870 im Norddeutschen
Anzahl der Londoner Theater, die »legitimate dra- Bund eingeführt wurden, veränderten die Situation
mas«, also Komödien und Tragödien, spielen durften. zugunsten der Autoren. Gleichzeitig beginnt damit
Hier wurde die Gattungstheorie unverhohlen zu ei- aber auch die Epoche der großen Theaterverlage, die
nem Werkzeug der Kulturpolitik, wenn auch mit un- in mitunter kartellartigen Verflechtungen nachhalti-
beabsichtigten Folgen: Als Konsequenz aus dieser gen Einfluss auf die Spielplangestaltung nehmen
künstlichen Regulierung entwickelten sich zahlreiche konnten (Epstein 1911, 113–122).
Misch- und Sonderformen, wie etwa das Melodrama, In dieser Konstellation wird das Drama zum dop-
die ungeachtet ihrer fehlenden gattungstheoretischen pelten Handelsobjekt: Zum einen durch den Ver-
Legitimierung, große Popularität gewannen und zur trieb als Buch (Lesetext), wobei dies nicht in allen
entscheidenden Form urbaner Öffentlichkeit aufstie- Fällen geschieht, zum anderen als Spieltext, dessen
gen (Moody 2000). Das offizielle Prestige einer regel- Wert (auch im Hinblick auf die Tantiemen des Au-
konformen literarischen Form und die kulturelle Pra- tors) bis heute durch Anzahl von Aufführungen und
xis traten hier in einen symptomatischen Widerspruch. Besuchern bestimmt wird.
2. Antike 173

In der gegenwärtigen Praxis ist das Verhältnis von 2. Antike


Drama und Theater – ungeachtet einer szenischen
Praxis jenseits des Textes (vgl. Kap. III.18) – immer
noch von zentraler Bedeutung. Davon zeugt schon 2.1 Übersicht
die große Zahl von Auftragswerken bzw. Urauf-
führungen (Spielzeit 2009/10: 657), die an deutsch- Obgleich der Begriff ›Drama‹ griechisch ist, wird er
sprachigen Theatern gegeben werden. Dies korres- in der griechisch-römischen Literatur und Literatur-
pondiert auch mit einer Professionalisierung der kritik nicht als übergreifende Gattungsbezeichnung
Textproduktion, wie sie sich bspw. in eigenen Studi- verwendet. Gebräuchlich ist er dagegen durchaus,
engängen zum Szenischen Schreiben niederschlägt. um ›Bühnenstücke‹ als Form von Dichtung mit
Für die öffentliche Wahrnehmung sind darüber hin- Handlung zu bezeichnen (so bei Herodot 6,21, Pla-
aus eine Reihe von Festivals wichtig, die sich der ton: Nomoi 817b oder Aristoteles: Poet. 1448a, 22).
Präsentation neuer Dramen verschrieben haben, wie So benutzt auch der spätantike Grammatiker Dio-
etwa der Berliner Stückemarkt (seit 1978), der Hei- medes den Begriff: »Dramen nennt man Tragödien
delberger Stückemarkt (seit 1984) oder die Mülhei- oder Komödien vom Begriff ›Handeln‹ [griech.
mer Theatertage (seit 1976), die mit dem Mülheimer dran] her […]« (Grammatici Latini 1, 490). Das Feh-
Dramatikerpreis den renommiertesten Dramatiker- len einer übergreifenden Kategorie ›Drama‹ hat zur
preis im deutschsprachigen Raum vergeben. Konsequenz, dass in der antiken Literaturkritik und
-theorie keine Versuche zu systematisierenden Ana-
Literatur lysen jenseits der einzelnen Formen erkennbar sind.
Vielmehr richtet sich das Interesse in der Hauptsa-
Epstein, Max: Das Theater als Geschäft. Berlin-Charlotten- che auf genealogische Fragen, auf die Suche nach Er-
burg 1911.
Houben, Heinrich Hubert: Der ewige Zensor. Mit einem findern und Ursprüngen der einzelnen dramati-
Nachwort von Claus Richter und Wolfgang Labhuhn schen Formen, nicht nur um Entwicklungsgeschich-
[1926]. Kronberg/Ts. 1978. ten schreiben zu können (wie sie Aristoteles’ Poetik
Kleefeld, Kurt: Die Theaterzensur in Preußen. Berlin 1905. für die Tragödie enthält), sondern auch, um aus re-
Moody, Jane: Illegitimate Theatre in London, 1770–1840.
klamierten oder rekonstruierten Ursprüngen kultu-
Cambridge 2000.
Sprengel, Peter: Scheunenviertel-Theater. Jüdische und jid- relles Prestige für den jeweiligen Entstehungsort ab-
dische Dramatik in Berlin (1900–1918). Berlin 1995. zuleiten.
Peter W. Marx Zwar kennt die Antike eine Vielzahl dramatischer
Gattungen, die sich innerhalb einer fast tausendjäh-
rigen Entwicklungsgeschichte in variantenreichen
Ausprägungen innerhalb und außerhalb des Thea-
ters aufweisen lassen: die Tragödie, die sich neben ih-
rer im attischen Theater geprägten Form in römi-
scher Rezeption u. a. als fabula togata neu zeigt, die
(Alte, Mittlere und Neue) Komödie oder das Satyr-
spiel, ferner den Mimus, die Atellane, den Pantomi-
mus; diese dramatischen Formen entwickeln sich
zwar als Präsentationsformen innerhalb von Thea-
ter-Kontexten, lösen sich aber seit dem Hellenismus
von Aufführungen und wirken auch als Lesedra-
men. Ferner ist ein breites Spektrum von theatrali-
schen Umsetzungen zu beobachten, das sich von der
Präsentation ganzer Dramenzyklen über Auffüh-
rung von Einzelszenen bis zu auf den bloßen opti-
schen Eindruck ausgerichteten Formen wie den Hy-
dromimus erstreckt. Doch ragen aus dieser Vielfalt
von Formen Tragödie und Komödie heraus. Sie figu-
rieren, wie etwa Aristoteles’ Poetik zeigt (vgl. Kap.
I.2), gleichsam als die dramatischen Leitgattungen.
174 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Auch hat sie die Überlieferungsgeschichte privile- hunderts aller Wahrscheinlichkeit nach ohne philo-
giert. Denn sieben Tragödien des Aischylos (viel- logische Begleitung und mithin Einwirkung entwi-
leicht stammt jedoch der Prometheus von einem an- ckelte (vielmehr vollzieht sich wenigstens am Ende
deren Autor), sieben des Sophokles, 17 des Euripides des 5. Jahrhunderts wenn nicht Theoretisierung, so
(hinzu kommt die im Corpus Euripideum erhaltene wenigstens Literaturkritik im Medium der Komödie,
Tragödie Rhesos), acht des Seneca (hinzu kommen wie Aristophanes’ Frösche, 405 v. Chr., erweisen),
die im Corpus Senecanum erhaltenen Tragödien doch von Menander an der dramatische Diskurs in
Hercules Oetaeus und Octavia) bilden einen Fundus einer Wechselbeziehung zur Literaturtheorie ge-
von 42 Tragödien von vier namentlich bekannten dacht werden muss. Die Rekonstruktion der verlore-
und vielleicht drei unbekannten Dichtern. Für die nen Literaturkritik ist schwierig und bisweilen hypo-
Komödie sind zu verzeichnen elf Stücke des Aristo- thesenreich, zumal in der Klassischen Philologie das
phanes, mit dem Dyskolos ein nahezu vollständig er- Vertrauen in die hier unabdingbare Quellenfor-
haltenes Drama des Menander (hinzu kommen er- schung, die bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts
hebliche Teile von drei weiteren Komödien) sowie betrieben wurde, geschwunden ist.
21 Stücke des Plautus (das 21. freilich unvollständig)
und sechs des Terenz, also 39 Komödien von vier
Dichtern.
Vergleichsweise karg ist das Satyrspiel bezeugt: 2. 2 Ursprungsfragen
neben dem handschriftlich überlieferten Cyclops des
Euripides stehen allein die Spürhunde des Sophokles, Die Genese der wirkungsmächtigen Gattungen Tra-
die durch einen Papyrusfund im Wesentlichen gödie und Komödie sowie des Satyrspiels hat schon
kenntlich sind; hinzu kommen mehr oder weniger in der Antike fasziniert. Bereits Aristoteles’ Poetik
bedeutsame Fragmente. Die übrigen dramatischen scheint eine rege Diskussion und zahlreiche Theo-
Formen sind von der Überlieferung so stiefmütter- rien zur ›Geburt‹ von Tragödie und Komödie vor-
lich behandelt worden, dass wenige und kleine auszusetzen. Paradoxerweise haben sich eben diese
Bruchstücke, Bezeugungen von Titeln oder Hin- antiken Debatten in den erhaltenen Quellen zur Ur-
weise bei antiken Autoren aufwendige und prinzipi- sprungsfrage so deutlich niedergeschlagen, dass bis-
ell unsichere Rekonstruktionen erfordern, um auch weilen einzelne Theorien recht genau rekonstruiert
nur Umrisse von Stücken entwerfen zu können. werden können – im Gegensatz dazu aber bleiben
Materialiter bedeutet dies, dass die oben apostro- die historischen Ursprünge der dramatischen Gat-
phierte tausendjährige Gattungsgeschichte nur tungen weitgehend im Dunkeln, da die vermeintlich
höchst lückenhaft durch Texte greifbar wird: Die aufschlussreichen Zeugnisse nur im Kontext der
Tragödie läßt sich von 472 v. Chr. (dem Auffüh- Theoriedebatten und damit durch sie geformt über-
rungsdatum der Perser des Aischylos) bis zum Ende liefert sind. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der
des 5. Jahrhunderts (dem Datum der letzten Stücke Frage, wann diese Kunstformen im Rahmen religiö-
von Sophokles und Euripides) beobachten sowie ser Feste ›konzipiert‹ worden sind, und der Suche
durch das Corpus Senecanum für den Zeitraum von nach den kultisch-anthropologischen Voraussetzun-
ca. 50 bis 70 n. Chr. Die Komödie wird greifbar gen der Gattungen. Für die Frage nach dem ›Wann‹
durch Aristophanes für 425 v. Chr. bis 388 v. Chr., bieten antike Quellen hinreichend Sicherheit:
durch Menander für das letzte Viertel des 4. Jahr- Die Tragödie als Gattung, die ihren Sitz im Leben
hunderts, durch Plautus für die Zeit von etwa 210 bis innerhalb des athenischen Dionysos-Festes hatte,
184 v. Chr. und schließlich durch Terenz für die wurde von Thespis für eine Dionysien-Feier inner-
Jahre 166 bis 160 v. Chr. halb der 61. Olympiade (535–532 v. Chr.) geschaffen,
Nicht minder selektiv ist die Lage für die Litera- so das byzantinische Lexikon, die Suda unter dem
turkritik, die sich in wenigen antiken Texten be- Eintrag Thespis. Diese Notiz ist per se glaubwürdig,
wahrt hat: Aristoteles’ Poetik (ca. 335 v. Chr.), die Ars da sich die ›Erfindung‹ der Tragödie durch Thespis
poetica (ca. 20 v. Chr.) des Horaz, die Schrift Über mit den Bemühungen der Athen als Tyrannen be-
das Erhabene, Quintilians Institutio oratoria und herrschenden Peisitratiden verbinden läßt, die eine
schließlich spätantike Grammatiken wie die des Di- ambitionierte Kulturpolitik betrieben, die ihnen die
omedes, Lexika und Scholien. Bedauerlich ist dies Loyalität breiter Bevölkerungsschichten gewinnen
besonders, weil sich zwar die Dramatik des 5. Jahr- sollte (vgl. Ps.-Platon: Hipparchos 228 f.). Ähnlich
2. Antike 175

gingen im 6. Jahrhundert in anderen Städten Tyran- sammenhänge als den Dithyrambos als Preislied auf
nen vor, wie die von Herodot (5,67) referierten Maß- Dionysos verwiesen. Drei Erklärungen des Begriffs
nahmen des Kleisthenes von Sikyon zeigen. Dieser sind sprachlich möglich und denkbar: So könnte
griff in einen Kult für den Heros Adrastos in Sikyon tragōdía bezeichnen (a) den Gesang um den Preis ei-
ein, indem er die tragikoí choroí (»tragische [?] nes Bocks, (b) den Gesang beim Bocksopfer oder (c)
Chöre/Chorgesänge«), mit denen die Sikyonier die den Gesang von als Böcke verkleideten Sängern.
Leiden des Adrast feierlich besangen, zu Ehren des Jede dieser drei Herleitungen hat spezifische Stär-
Dionysos singen ließ. Man kann daher vermuten, ken: Während die Herleitung aus einem Wettgesang
dass Thespis’ Schöpfung der Tragödie in Athen im um einen Preis die agonale Einbettung der Tragö-
Interesse der Peisistratiden erfolgte. dien in die Dionysien erklärbar macht, würde mit
Die Komödie fand in Athen wohl erst 486 v. Chr. dem Gesang beim Bocksopfer (vgl. Burkert 2007)
an den Dionysien einen festen Platz in der Festorga- mit der Tragödie eine aus einem Ritual hergeleitete
nisation der Polis: Der Dichter Chionides, so wiede- Kunstform entstehen, deren besondere Bedeutung
rum die Suda, gewann hier zum ersten Mal – diese darin läge, dass über dieses Ritual der Mensch so-
Notiz bezeugt damit zugleich, dass die Komödie im wohl die Tötung eines Lebewesens vollzieht als auch
Wettbewerb aufgeführt wurde. Gleichwohl kann das Töten zu bewältigen versucht. Die Annahme ei-
Chionides nicht als Schöpfer der Gattung gelten, da ner solchen Genealogie der Tragödie würde die Fo-
mindestens Vorformen der Komödie in Attika vor kussierung der Gattung auf existenzielle Probleme
486 nachweisbar sind. Insbesondere scheint das des Menschen erklären helfen. Nicht minder be-
ebenfalls dem Dionysos geweihte Fest der Lenäen deutsame Perspektiven könnte ein verkleideter
(benannt nach einem bisher nicht lokalisierten Hei- Bockschor als Ausgangspunkt eröffnen (vgl. Latacz
ligtum des Gottes in Athen) Gelegenheit für drama- 1993), da über die rituelle Verkleidung die Möglich-
tisches Spiel, indes ohne feste Organisation, geboten keit des Menschen, sich temporär zu verwandeln
zu haben; hinzu kommt (so Poet. 1448a29–1448b3), und in eine Welt des »als ob« einzutauchen, ein an-
dass in der griechischen Welt ältere komödienartige thropologisches Grundprinzip anspräche, die Fähig-
Formen existierten, so insbesondere Stücke des Epi- keit des Menschen zur Kunst und insbesondere zur
charmos von Syrakus auf Sizilien, den Aristoteles als Erschaffung imaginärer oder fiktionaler Welten.
älter als Chionides einstuft und die antike Philologie Auch die Prähistorie der Komödie scheint in ih-
daher als eigentlichen ›Erfinder‹ der Komödie ansah rem Namen enthalten. Mit kṓmos wird der Schwarm
(PCG Bd. 1, testimonia). Auch wenn aus moderner ausgelassener junger Männer, die zu einem Fest zie-
Sicht die Priorität des Epicharm vor Chionides kei- hen oder von ihm kommen, bezeichnet (antike Her-
nesfalls sicher ist, so kann doch bei der Komödie leitungen, die den ersten Namensbestandteil auf
nicht von einer einmaligen Schöpfung wie bei der kṓmē, Dorf, oder kṓma, Schlaf zurückbeziehen wol-
Tragödie ausgegangen werden. len, scheinen wenig plausibel). Den Gesang eines
Weitaus schwieriger ist die Suche nach Vorfor- solchen Festschwarms würde mithin Komödie be-
men und rituellen Kontexten von Tragödie und Ko- zeichnen. Man kann vermuten, dass entsprechende
mödie. Bereits Aristoteles (Poet. 1449b) notiert zur Umzüge Teil von Dionysos-Kulten waren, bei denen
Komödie resignierend, ihre Anfänge seien dunkel. der Phallos als Symbol der Fruchtbarkeit mitgeführt
Doch bietet er wenigstens eine Spur, wenn er Tragö- und vielleicht Spottlieder auf Reiche gesungen wur-
die wie Komödie aus Improvisationen herleitet, die den; vorstellbar ist aufgrund zahlreicher Vasenbil-
für die Tragödie von den Vorsängern des Dithyram- der, dass die Teilnehmer dieser Züge auch Tiermas-
bos bzw. für die Komödie von den Anführern der ken trugen. Hinzu kommt, dass in der griechischen
Phallos-Prozessionen herrührten (Poet. 1449a). Kultur die sog. Jambik, die rituell verankerte Ver-
Diese klare Genealogie, nach der etwa Thespis die spottung, die durchaus sexuell anzüglich sein konnte
Tragödie dadurch geschaffen hätte, dass er dem und in den Kontext von Fruchtbarkeitsriten gehörte,
Chorleiter des Dithyrambos eine selbständige Rolle eine bedeutende Rolle spielte. Ein Jambendichter des
(griech. hypokritḗs = Antworter) einräumte, kann in- frühen 6. Jahrhunderts, Susarion aus dem dorischen
des keine Antwort auf die Frage geben, warum die Megara, konnte daher, da er augenscheinlich seine
neue Gattung den Namen »Tragödie« erhielt. Mit Verse mit ›komischen‹ Chören verband, in antiken
diesem Namen, der die Bestandteile ›Bock‹, trágos, Traditionen als ›Erfinder der Komödie‹ figurieren (s.
und ›Gesang‹, ōdḗ, enthält, scheint auf andere Zu- Susarion, test. in PCG Bd. 7).
176 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Wie aus einer derartigen Gemengelage von jam- Tragödie ›dramatisierte‹ und zugleich ein Defizit
bischem Spott und mannigfachen ›dionysischen kompensierte, das durch die zunehmende Tendenz
Tänzen‹ das Spiel der Komödie werden konnte, ob der Tragödie, ›ernst‹ zu sein, entstanden war (vgl.
für die Ausprägung des spezifischen komischen Seidensticker 1979).
Spiels in Attika auch Brauchtum anderer griechi-
scher Landschaften zu importieren war, bleibt un-
klar (Herter 1947). Angesichts des großen Einflus-
ses, den die Struktur und die Erzählkunst der Tragö- 2.3 Der institutionelle Rahmen
die erkennbar auf die Neue Komödie (s.u.) ausübte, des griechischen Dramas
läßt sich zudem vermuten, dass auch die Tragödie
des späten 6. und frühen 5. Jahrhunderts dazu bei- Auch wenn sich dramatische Formen, seien sie tra-
trug, dass sich aus bunten Spielen eine – wenn auch gödien- oder komödienähnlich, in anderen griechi-
zunächst lose gefügte – Handlungsstruktur der Ko- schen Städten am Ende des 6. und zu Beginn des 5.
mödie herstellte, die es im ›Epochenjahr‹ 486 mög- Jahrhunderts ausgebildet hatten, so gewann doch die
lich machte, einen staatlichen organisierten Wettbe- athenische Ausprägung der Spielformen im Laufe
werb an den Dionysien einzurichten. des 5. Jahrhunderts so viel Bedeutung, dass sie alle
Die Genese des Satyrspiels, das seit Ende des 6. Konkurrenten überstrahlte und in der Rezeption
Jahrhunderts den Abschluss einer tragischen Tetra- überlagerte. Eine wesentliche Ursache für diesen Er-
logie an den Dionysien bildete, kann ebenfalls nur folg liegt augenscheinlich in den besonderen Orga-
höchst hypothetisch nachgezeichnet werden. Zwei nisationsformen der attischen Feste, als deren Be-
Zeugnisse scheinen hier bedeutsam. Zum einen no- standteil die Dramen aufgeführt wurden: die (Gro-
tiert Aristoteles (Poet. 1449a18 ff.), dass sich die Tra- ßen) Dionysien, die Lenäen und die sog. Ländlichen
gödie aus einem (Ursprungs-?)Stadium, in dem sie Dionysien. In diesen dem Dionysos geweihten Fes-
etwas Satyrisches und eine aufs Lachen zielende Re- ten wurden die Dramen unter den Bedingungen ei-
deweise aufgewiesen hätte, zu Ernst und Größe ent- nes Wettbewerbs (griech. agṓn) aufgeführt.
wickelt habe; damit wäre ein satyrhafter Charakter Die antiken Zeugnisse zu Thespis (s.o.) als ›Erfin-
der Vorform der Tragödie eigen gewesen, der nach der der Tragödie‹, der »um den Preis eines Bockes«
der Mutation der Tragödie zu ernsten Gattung in ei- seine Stücke im Agon präsentierte, legen den Schluss
ner eigenen dramatischen Form bewahrt worden nahe, dass die für die Entwicklung des Dramas so
wäre. Das zur Stützung der aristotelischen Theorie günstige Anlage der Dionysien unter (und das sollte
naheliegende Konstrukt, Satyrn und die Böcke (trá- heißen: von) den Peisistratiden geschaffen wurde.
goi) im Namen Tragödie gleichzusetzen, ist indes Welche Modifikationen wann vorgenommen wur-
nicht leicht möglich, da die archäologischen Zeug- den, bis der augenscheinlich für die 2. Hälfte des 5.
nisse die Satyrn pferdegestaltig zeigen. Zum anderen Jahrhunderts typische Festablauf gefunden war, ist
teilt die Suda (s.v.) mit, dass ein gewisser Pratinas nur noch an wenigen Punkten kenntlich (das Satyr-
aus Phleius auf der Peloponnes als erster Satyrspiele spiel, s.o., ist seit dem späten 6. Jahrhundert als Teil
verfaßt habe; Pratinas wird dabei als Konkurrent des der tragischen Tetralogie, die Komödie als Teil des
Aischylos genannt, was seine Dramen in das frühe 5. Agons seit 486, s.o., nachzuweisen).
Jahrhundert verwiese. Dazu würde passen, dass die Insgesamt kann man sodann von folgendem ›ide-
tetralogische Ordnung der Dramen, d. h. die Abfolge altypischen‹ Verlauf der Großen Dionysien ausge-
von drei Tragödien und der Abschluss durch ein Sa- hen (vgl. Blume 1978; Pickard-Cambridge 1968):
tyrspiel, gegen Ende des 6. Jahrhunderts fixiert Die Leitung des Festes lag beim Árchōn Epónymos,
wurde. Ob davor das Satyrspiel selbständiger Be- d. h. dem Archon, nach dem das jeweilige Jahr be-
standteil der Dionysien war, ist unklar. Denkbar er- nannt wurde. Dieser wählte sogleich bei Amtsantritt
scheint jedenfalls, dass Pratinas eine auf der Pelo- im Sommer diejenigen Dichter bzw. Stücke aus, die
ponnes entstandene Kunstform, Chordarbietungen, bei den Dionysien zur Aufführung gelangen sollten.
die von als Satyrn verkleideten Sängern vorgetragen In welchem Umfang ihm dabei vollständig ausgear-
wurden (als Erfinder hierfür könnte Arion durch die beitete Dramen oder Entwürfe vorlagen, ist nicht
Kombination von Herodot 1,23 und Suda, s.v. Arion, klar. Die Kriterien, die die Auswahl bestimmten,
gelten), in Athen erfolgreich an den Dionysien etab- dürften sowohl die Erfahrung des jeweiligen Dich-
lierte, indem er die Chöre unter dem Eindruck der ters wie auch die mögliche Qualität des Beitrags ge-
2. Antike 177

wesen sein. Für ein gewisses Aufsehen sorgte, nach ihre Stücke einschließlich der Schauspieler und ihrer
dem Zeugnis der Komödie (Kratinos Frg. 17 PCG), Kostüme vorstellten. Seit dem letzten Drittel des 5.
als ein Archon dem Sophokles ›den Chor verwei- Jahrhunderts fand dieser Proagon im Odeion nahe
gerte‹ zugunsten eines sonst wenig renommierten der Akropolis statt, das unter Perikles erbaut worden
Dichters. war. Am 9. Elaphebolion begann das eigentliche
Sodann ernannte der Archon »die drei Reichsten Fest: junge Männer brachten die Dionysos-Statue
unter allen Athenern zu Choregen für die Tragö- aus einem (›kleinen‹) Tempel in der Gegend der
dien« (Ath. Pol. 56,3). Diese ›Choregen‹ (ursprüng- Akademie in den heiligen Bezirk des Dionysos am
lich: ›Anführer oder Ausbilder eines Chores‹) trugen Südabhang der Akropolis. Am folgenden Tag fanden
die Kosten für eine tragische Tetralogie (im 5. Jahr- die Festprozession (griechisch pompḗ), die Dithy-
hundert wurden auch für die Komödien Choregen ramben-Wettbewerbe der je zehn Männer- und
vom Archon bestimmt, im 4. Jahrhundert setzten Knabenchöre, die die zehn attischen Phylen stellten,
die Phylen, die Verwaltungsbezirke Attikas, für die sowie eine spezifische Selbstdarstellung Athens im
Komödie diese fest). Er bezahlte also die Ausstattung Dionysos-Theater statt: Die Polis zeichnete ver-
(insbesondere die Kostüme), die Schauspieler (im diente Bürger aus, stellte die Tribute der Mitglieds-
frühen 5. Jahrhundert zwei, später drei), den Flöten- städte des attischen Seebunds öffentlich aus und ver-
spieler, der den Gesang der Akteure begleitete, er- lieh feierlich den Söhnen attischer Bürger, die für die
stattete den Mitgliedern des Chores (zunächst zwölf, Stadt gefallen waren, Hopliten-Rüstungen. Ein gro-
später fünfzehn Choreuten, bei der Komödie sogar ßes Fest (kṓmos) beschloss den Tag. Am 11. Elaphe-
24) eine Art von Aufwandsentschädigung für die bolion traten fünf Komödiendichter mit ihren Stü-
Probenarbeit, ferner finanzierte er zusätzliche Aus- cken in einen Wettbewerb (während des Peloponne-
stattungen wie Akteure ohne Sprechrollen, einen sischen Krieges wurde der Wettbewerb auf drei
zweiten (Neben-)Chor, Requisiten etc. Die Choregie Dichter beschränkt), die folgenden drei Tage brach-
für eine tragische Tetralogie war kostspielig (für das ten je eine tragische Tetralogie zur Aufführung.
frühe 4. Jahrhundert nennt Lysias [21,1/4] die Am 14. Elaphebolion gaben die Preisrichter ihre
Summe von 3000 Drachmen in Relation zu 1600 Voten ab, allerdings nach einem seltsamen System,
Drachmen für eine Komödien-Choregie), so dass, das einerseits die Angst Athens vor Korruption, an-
als Athens Bürger in der Spätphase des Peloponnesi- dererseits das Vertrauen der Stadt in die Gerechtig-
schen Krieges verarmt waren, seit 406/5 auch ›Dop- keit von Losverfahren spiegelt: Vor dem Wettbewerb
pel-Choregien‹, d. h. zwei ›Reiche‹ trugen die Kosten wählte der athenische Rat aus jeder der zehn Phylen
für eine Choregie, bezeugt sind. eine Anzahl von Kandidaten für die Jury aus – die
Durch den Choregen war also die Finanzierung Choregen waren bei dieser Auswahl zugegen und
der Aufführung gesichert und entweder der Dichter konnten gegen einzelne Personen Einspruch erhe-
selbst oder ein wiederum vom Choregen zu bezah- ben. Die Namen der so Bestimmten wurden, nach
lender versierter ›Regisseur‹ (griech. chorodidaskalós Phylen getrennt, in zehn Urnen gegeben, die Urnen
= Chor-Lehrer) konnte damit beginnen, mit den versiegelt. Jeweils unmittelbar vor Beginn des Dithy-
Choreuten und den Schauspielern die Tetralogie ramben-, Komödien- bzw. Tragödien-Wettbewerbs
(oder im Fall der Komödie: ein Stück) einzustudie- zog der Archon aus jeder der Urnen einen Namen,
ren. Dies zog sich über mehrere Monate hin. Da der der Betreffende wurde als Juror vereidigt und gab
Chor, der aus athenischen Bürgern und damit Laien nach dem Wettbewerb sein Votum schriftlich auf ei-
bestand, Zeit brauchte, um Gesang und Tanz einzu- nem Täfelchen ab, das wiederum in eine Urne gege-
üben, dürften die Chorpartien u.U. früher als andere ben wurde. Aus dieser Urne zog der Archon fünf Tä-
Teile der Stücke fertig gestellt gewesen sein. Da ge- felchen, deren Voten ausgewertet wurden und das
rade die Alte Komödie auch von aktuellen Anspie- Endresultat bildeten.
lungen lebte, waren hier Änderungen oder Erweite- Damit endeten die Dionysien. Zwei Tage später,
rungen bis zum Zeitpunkt der Aufführung üblich. am 16. Elaphebolion, gab sich die Polis in einer
Am achten Tag des attischen Monats Elaphebo- Volksversammlung noch einmal Rechenschaft über
lion (ca. 20. April bis 20. Mai) wurden die für die Di- den Ablauf des Festes: Alle Beteiligten hatten zu er-
onysien vorgesehenen Stücke erstmals einer Öffent- scheinen, ihr Verhalten wurde überprüft und, war es
lichkeit präsentiert. Hier fand der sog. Proágōn statt, zu Übertretungen der Gesetze gekommen, ein Ge-
eine Art von Vorabpräsentation, in der die Dichter richtsverfahren eingeleitet.
178 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Die Nachrichten über die Lenäen (im Monat Ga- 2.4 Der Ort der Aufführung:
melion, Januar/Februar: da hier die See noch nicht Das Theater
schiffbar war, galt es als rein athenisches Fest) ver-
mitteln nur ein fragmentarisches Bild der Ge- Am Südosthang der Akropolis liegen die monumen-
schichte und des Ablaufs dieses dreitägigen Festes. talen Überreste des Theaters des Dionysos Eleuthe-
Der Name leitet sich her von den lḗnai, einer ande- reus. Freilich repräsentieren die heute sichtbaren
ren Bezeichnung für Bakchantinnen oder Mänaden, Trümmer eine Anlage, die im letzten Drittel des 4.
doch ist nicht klar, worin die spezifische Beziehung Jahrhunderts v. Chr. geschaffen wurde und ihre Vor-
zu diesem Dionysos-Fest gelegen hat. Unbekannt ist, gängerbauten weitgehend überlagert hat. Die Re-
ob es an einem besonderen Ort gefeiert wurde (ei- konstruktion dieser älteren Formen des Dionysos-
nige Hinweise deuten auf eine ursprüngliche Nähe Theaters ist problematisch und in wichtigen Punk-
zur athenischen Agorá, ein spezielles Lenäen-Thea- ten umstritten. Archäologische Befunde und
ter wurde bisher nicht gefunden). Es war ein altes Rückschlüsse aus den erhaltenen Dramen und wei-
Fest, die Leitung hatte der Archon Basileús. Augen- teren Zeugnissen zur Spielstätte ergänzen sich nicht
scheinlich wurden die Agone der Lenäen erst um die immer schlüssig und lassen sich überdies zu recht
Mitte des 5. Jahrhunderts staatlich geregelt. Was dem unterschiedlich lautenden Baugeschichten verbin-
voraus lag, ist unsicher. Zwei Tragödiendichter mit je den. So gibt es Hinweise, dass in einer Frühphase der
zwei Stücken (ohne Satyrspiel) sowie drei Komödi- tragische Agon auf der Agora stattfand, die Zu-
endichter mit je einer Komödie traten hier in einen schauer auf Holztribünen (deren Zusammenbruch
Wettbewerb. Für die Komödie (dies bezeugt Aristo- ebenfalls notiert wird) beiwohnten. Wie lange dies
phanes) hatten die Lenäen ein fast so hohes Gewicht währte (bis zum Ende des 6. Jahrhunderts oder spä-
wie die Dionysien, in der Tragödie standen sie deut- ter?) und ob sich dies nur auf die Lenäen bezieht, ist
lich zurück (vgl. allerdings Platon, Symposion über unklar. Im 5. Jahrhundert fanden die Agone im Dio-
Agathons Sieg bei den Lenäen). Soweit erkennbar, nysos-Theater statt, wobei der Zuschauerraum wohl
funktionierte die Organisation der Wettbewerbe zunächst wiederum von Holztribünen gebildet
analog zu denen der Dionysien. wurde, die an drei Seiten die Orchestra, den Tanz-
Die Ländlichen Dionysien feierten zu verschiede- platz des Chores, umstanden. Diese Orchestra war
nen Zeitpunkten im Monat Poseideon (entspricht indes wahrscheinlich nicht rund, wie das Theater
etwa dem Dezember) die attischen Demen, d. h. die des 4. Jahrhunderts oder Spielstätten wie Epidauros
teils Dörfer gebliebenen, teils zu Verwaltungsbezir- nahelegen, sondern rechteckig. Diesen Schluss er-
ken Athens gewordenen attischen Siedlungskerne. lauben neben einigen Mauerresten v. a. die Theater
Über die möglicherweise je verschiedenen Formen, in den attischen Demen, die ebenfalls rechteckige
das Fest zu begehen, sind nur sporadisch Nachrich- Orchestren aufweisen. In mehreren Erweiterungs-
ten überliefert, die sich zudem in der Hauptsache auf schritten wurde der Zuschauerraum (cavea) schließ-
das 4. Jahrhundert beziehen. Wahrscheinlich stan- lich in den Burgberg hineingearbeitet. Auch das ne-
den am Beginn im Winter zelebrierte Fruchtbar- ben Orchestra und Cavea dritte Element des Thea-
keitsriten, die – vielleicht unter dem Eindruck von ters entwickelte sich: Bildete wohl anfänglich an der
Städtischen Dionysien und Lenäen – um agonale offenen vierten Seite ein Zelt (griechisch skēnḗ) den
Elemente (für Dithyramben, Komödien, Tragödien) Abschluss und diente es zur Verwahrung von Requi-
erweitert wurden. Wie in der Stadt leiteten hier in siten und zum Umkleiden, wurde es bis zur Mitte
der Regel Demarchen (Bürgermeister) das Fest, auch des 5. Jahrhunderts zu einem veritablen Gebäude
hier gebrauchte man das Choregie-System, um Auf- mit drei Türen, dessen Dach betret- und bespielbar
führungen zu finanzieren. Es scheint, dass an den war und vor dem wohl Holzplanken, die gegenüber
Ländlichen Dionysien Dichter Stücke, die an den der Orchestra leicht erhöht waren, die Bühne bilde-
beiden Festen in Athen aufgeführt worden waren, ten, auf der die Schauspieler agierten. Diese Anlage
erneut auf die Bühne brachten. In welchem Maß hier wurde um 330 in ein Steintheater umgewandelt.
neue Dramen damit konkurrierten, ist unklar. Zwischen dem Bühnengebäude und dem Zu-
schauerraum blieben zwei Eingänge, durch die der
Chor in die Orchestra ziehen, aber auch auftretende
Schauspieler innerhalb der Fiktion eines Stückes als
vom Land, aus der Stadt oder vom Hafen kommend
2. Antike 179

erscheinen konnten. In einem weiteren Schritt wur- die sie zu der intellektuellen Leitgattung der griechi-
den diese Eingänge durch Flügelbauten, Paraske- schen Kultur in diesem Jahrhundert werden ließ.
nien, überbaut. Diese Entwicklung war durch den agonalen Cha-
Der Innenraum des Bühnenhauses blieb dem Pub- rakter der Aufführung angelegt, der nach perma-
likum verborgen, konnte aber durch das Herausrol- nenter Innovation verlangte, zugleich aber durch die
len einer kleinen Plattform (ekkýklēma) sichtbar ge- festliegenden Rahmenbedingungen (Anlage des
macht werden. Ferner kannte die Bühne des 5. Jahr- Theaters, zur Verfügung stehendes Personal etc.)
hunderts einen Kran, der hinter dem Haus postiert Experimenten Grenzen setzte – und dem Publikum
einen Korb o. ä. über das Haus und auf die Bühne das Verständnis der Stücke erleichterte. Dieses Pub-
schwenkte, mit dem Flugszenen inszeniert wurden. likum (ca. zehn- bis fünfzehntausend Menschen)
Die Vorderfront des Bühnenhauses konnte mithilfe war infolge der Anlage der Feste sowohl aktiv selbst
von Bühnenmalerei (Sophokles soll sie ›erfunden‹ beteiligt, stellten die athenischen Bürger doch die
haben) zu einem (stilisierten) Palast, einer Höhle, ei- Choregen, die Choreuten und die Juroren, als auch
nem Heerlager bzw. einem Ensemble von Zelten ge- Gemeinschaft der theataí, der Zuschauenden. Über
staltet werden. Geschehen, das außerhalb der Bühne die Aufführung selbst, die ein öffentliches Ereignis
(d. h. im außerszenischen Bereich, aber auch im der Polis war, vollzog sich – multimedial durch (poe-
Haus) angesiedelt war, wurde mithilfe von Botenbe- tische) Sprache, Gesang, Musik, Tanz und (bisweilen
richten vermittelt. Hier erwies sich die Tragödie als stummes) Bühnenhandeln – ästhetisches Geschehen
würdige Erbin großer griechischer Erzählkunst, wie von einer Intensität, wie sie bis dahin die griechische
sie seit dem homerischen Epos ausgebildet war. Kultur nicht kannte. Und zugleich repräsentierte
Denn in diesen Berichten wurden u. a. die auf der dieses ästhetische Geschehen das Erzählen von Ge-
Bühne (aus nicht bekannten Gründen) nicht darge- schichten, die eine spezifische Bedeutung entfalte-
stellten Todesszenen in immer effektvollerer Weise ten, sei es, dass sie als ›Mythen‹ in einer Vergangen-
geschildert. heit spielten, sei es, dass sie – wie etwa Aischylos’
Mit dem 3. Jahrhundert änderte sich, nicht nur in Perser (472 v. Chr.) – jüngere Vergangenheiten the-
Athen, sondern in allen Theatern der griechischen matisierten. Diese spezifische Bedeutung lag in der
Welt, die Bühne: Sie wurde durch einen Säulenun- Erklärung der Welt, die auf die Stellung des Men-
terbau soweit angehoben, dass sie etwa 3 bis 4 Meter schen in ihr wies, etwa in Relation zu den Göttern,
über dem Niveau der Orchestra lag und mit dem die Genese von Einrichtungen der (historischen)
Dach der Paraskenien, die man verkürzte, eine Welt, seien es Kulte, seien es Institutionen der Polis
Ebene bildete. Das Spiel fand nunmehr vor dem obe- (so etwa in den Eumeniden des Aischylos, 458
ren Stockwerk des Bühnengebäudes statt (Proskeni- v. Chr.) thematisierte, ja bis hin zu archetypischen
umsbühne). Die Orchestra war damit unwichtig ge- Konflikten zwischen Mensch und Gott oder Mensch
worden, das Publikum nahm das Theatergeschehen und Mensch führte. Insofern stiftete die Tragödie
nicht mehr ›vollplastisch‹, sondern gleichsam als Re- über ihren Kunstcharakter und ihre ästhetische Be-
lief wahr. deutung hinaus ›Nutzen‹, der offenbar gerade in der
ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, als die Demokratie
und ihre Möglichkeiten weite Kreise der jetzt an den
politischen Entscheidungen teilhabenden Bürger
2.5 Von Aischylos bis Menander: vor unerhörte intellektuelle Anforderungen stellte,
Weltdeutungen durch das Theater geradezu konkret als politischer Nutzen, die Tragö-
die also als politische Kunstform (vgl. Meier 1988)
2.5.1 Tragödie zwischen Theologie und wirkte. Darüber hinaus gelang es den Tragikern, die
Anthropologie Flexibilität des Mythos kontinuierlich so zu nutzen,
dass ihre Stücke nicht einfach Geschichten der Ver-
Die Einbettung von Tragödie und Komödie in die at- gangenheit erzählten, sondern durch leichte Verän-
tischen Dionysos-Feste wie auch die Regularien von derungen oder Ergänzungen, die an der Grobstruk-
Produktion und Aufführung sind eine wesentliche tur des plots nichts änderten, durchaus aktuelle
Voraussetzung für den Erfolg dieser neuen Gattun- grundsätzliche Probleme der Polis Athen spiegelten
gen. Die Tragödie entwickelte sich von ihren Anfän- und diskursivierten: Aischylos’ Orestie (458 v. Chr.)
gen bis zum Ende des 5. Jahrhunderts in einer Weise, kreist auf diese Weise um die berühmte Verände-
180 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

rung des obersten athenischen Rats, des Areopags Ausdruck zu bringen. Ferner ließ sich die geregelte
(ohne sie explizit zu begrüßen oder zu verdammen). Folge von Epeisodia und Stasima modifizieren, in-
Die mit der Sophistik und ihrer radikalen Relativie- dem einzelne Epeisodia (in einem Umfang von bis
rung der Tradition verbundenen Fragen zeigen etwa zu 1000 Versen) gedehnt, oder indem anstelle von
Sophokles im Philoktet (409 v. Chr.) oder Euripides Chorliedern Schauspielerarien (Monodien) einge-
in zahlreichen Stücken; die Erschütterung, die das setzt wurden. Innerhalb der überschaubaren Gat-
Erlebnis des Peloponnesischen Krieges hervorrief tungsgeschichte von Aischylos’ Persern bis zu den
und die etwa Thukydides’ Geschichtswerk prägt, letzten Stücken des Sophokles und Euripides am
fand ihren Niederschlag in Euripides’ Phönissen (ca. Ende des 5. Jahrhunderts ist unübersehbar, dass
414–408 v. Chr.) und Orestes (408 v. Chr.). quantitativ die Rolle der Schauspieler wächst, der
Je stärker vom Ende des 5. Jahrhunderts an an- Anteil der Chöre abnimmt; der gesprochene Vers ei-
dere, neu entstehende Diskurse bestimmte Seg- ner Einzelfigur bekommt mehr Raum gegenüber
mente der ›Welterklärung‹ übernahmen: die Philo- dem Lied des Chores. Diese Tendenz setzte sich au-
sophie, die Medizin und die Historiografie sowie all- genscheinlich im späten 5. Jahrhundert so weit fort,
gemein politische Literatur, desto intensiver geriet dass die Lieder des Chores nur noch Zutat zum Stück
indes die Tragödie zur Kunst an sich. Sichtbar wird waren, die nichts Wesentliches zum Gehalt beitrugen
dies in der wachsenden Bedeutung des Agons der und austauschbar – oder auslaßbar – wurden.
Schauspieler (ihn gab es seit 449), der Neuauffüh- Im Einklang mit dieser äußeren Entwicklung der
rung alter Stücke (seit 386 als fester Bestandteil des Tragödie läßt sich eine Entwicklung in ihrer thema-
Fests), die über mehrere Etappen im 4. Jahrhundert tischen Zentrierung erkennen. Allerdings gilt es zu
schließlich dazu führte, dass neue und alte Stücke im beachten, dass diese insofern auch schematischen
Agon gegeneinander standen (bezeugt seit 341), und Charakter hat, als die deutlichen Differenzen zwi-
schließlich der Möglichkeit, Aufführung und Text schen den erhaltenen Werken des Aischylos (525/4–
von einander getrennt zu denken (Poet. 1450b20, 456/5), Sophokles (um 490–406/5) und Euripides
trennt ausdrücklich die Wirkung der Tragödie von (485/4–407/6) zu erheblichen Teilen Ausdruck un-
ihrer Inszenierung, die zur téchnē des Kostümbild- terschiedlicher Welt- und Dichtungsverständnisse
ners gehöre). der Autoren sind.
Die Formensprache der Tragödie (vgl. Jens 1971) So gilt für die sechs sicher dem Aischylos (vgl.
entwickelte sich innerhalb des 5. Jahrhunderts un- Föllinger 2009) zugeschriebenen Stücke (der Prome-
spektakulär: Gleichsam ein Korsett für jedes Stück theus ist ein Sonderfall; vgl. Lefèvre 2002), dass in ih-
bildete der episodische Aufbau, d. h. die Abfolge von nen die menschlichen Akteure bei den Entscheidun-
Epeisódion (eine Partie, die Schauspieler in Sprech- gen über ihr Handeln (zur Betonung der Entschei-
versen, d. h. in der Regel in jambischen Trimetern, dungsszenen Snell 1928) in eine Welt gestellt sind, in
bestritten) und Stásimon (Standlied des Chores in der sowohl ein Werte- und Normengefüge wie gött-
der Orchestra), die nach dem Auftakt des Stückes (in liche Zeichen (die sich bis zu expliziten Anweisun-
der Regel ein Schauspieler-Prolog gefolgt von der gen steigern können, so in Apolls Weisung an Orest
Párodos, dem Lied, mit dem der Chor in die Orches- in den Choephoren) mehr oder minder deutliche
tra einzog) mehrfach wiederholt wurde. Beschlossen Grenzen ziehen: Aischylos knüpft damit an traditio-
wurde eine Tragödie durch die Éxodos (Auszugspar- nelle griechische Vorstellungen an, wie sie etwa in
tie), formal der gesamte Teil nach dem letzten Stasi- der Odyssee (ca. 8. Jh. v. Chr.) gezeichnet werden.
mon. Dieses Korsett bot in gewissem Umfang Raum Die Konstellationen seiner Stücke führen die Ak-
für Varianten: Die Parodos konnte anstelle eines Pro- teure in outrierte Situationen, in denen sie diese
logs das Stück eröffnen (so in Aischylos’ Persern und Grenzen entweder übertreten wollen (so Xerxes in
Hiketiden – ohne dass deshalb dieser Typ der Eröff- den Persern) oder müssen (so etwa Pelasgos in den
nung als besonders urtümlich zu gelten hat), Paro- Hiketiden, 463 v. Chr.). Während Letzteres die Dra-
dos oder Stasima konnten dialogisiert, d. h. in einen men derart intensiv ausspielen, dass dem Publikum
Wechselgesang (Amoibaíon) zwischen Chor und ei- gleichsam Anschauungsunterricht über die Komple-
nem singenden Schauspieler verwandelt werden. xität politischen Handelns gegeben zu werden
Diese Form wurde vorzugsweise verwendet, um Leid scheint (Meier 1988), führt Ersteres, das Wollen des
(entweder in der Exposition eines Stückes oder am Menschen, (noch?) nicht zu einem Konzept mensch-
Ende unter dem Eindruck der Katastrophe) zum licher Autonomie: »Sooft einer nach etwas intensiv
2. Antike 181

trachtet, faßt auch noch der Gott mit an«, formulie- schränken, sind die sophokleischen Chorlieder
ren die Perser (V. 742) und verschränken Anthropo- Kommentare zum Geschehen der Epeisodia, die
logie und Theologie. Zudem überträgt Aischylos die freilich nicht als ›Stimme des Dichters‹ oder ›des
Zeichenhaftigkeit der Welt in seine Bühne und lädt idealen Zuschauers‹ verengt werden sollen, sondern
Bühnenhaus (als Ort einer Kette von Morden in der dem Publikum Verstehensangebote (die sich im wei-
Orestie) und Requisiten mit Bedeutung auf (Rein- teren Verlauf des Stückes als falsch erweisen kön-
hardt 1949; Taplin 1977). Auf diese Weise werden nen) machen. Sophokles selbst soll eine Schrift
Grenzübertretungen in doppelter Weise transparent, »Über den Chor« verfaßt haben (sie ist verloren). Er
da sie sowohl das Publikum wie auch – im Rückblick scheint also über seine Konzeption Rechenschaft ge-
nach der Katastrophe, die sich aus der Übertretung geben zu haben.
ergibt – die Akteure des Spiels erkennen können. Die euripideische Tragödie (vgl. Hose 2008)
Die Katastrophe trifft damit nicht Unschuldige, son- kennzeichnet ein radikaler Verzicht auf Idealisie-
dern steht im Sinne einer poetischen Gerechtigkeit, rung des Menschen. Sie gewinnt ihre Themen und
die die Betroffenen selbst erkennen (explizit als Konflikte aus den Schwächen, die sie den Akteuren
»durch Leiden lernen«, Agamemnon V. 177, als Ge- beilegt: das Versagen, nicht die Hybris oder der Feh-
rechtigkeit des Zeus markiert). ler, führt in Konstellationen der Katastrophe (die üb-
Die Welt der sophokleischen Stücke (vgl. Flashar rigens nicht immer eintritt, sondern nur als Mög-
2000) hat demgegenüber ihre zeichenhafte Lesbar- lichkeit vorgezeichnet und dann vermieden wird).
keit verloren. Im Gegensatz zur aischyleischen Tra- Die Götter erscheinen zwar, doch haben sie prinzipi-
gödie sind die Götter für die sophokleischen Men- ell dieselben Schwächen wie die Menschen (Aphro-
schen unsichtbar (was deren Erhabenheit steigert), dite ist im Hippolytos aufgrund von Missachtung ge-
ihre Zeichen schwer zu deuten. Es bedarf vermit- kränkt und sucht Rache, Hera im Herakles eifersüch-
telnder Instanzen: der Pythia zu Delphi, der Seher tig), doch das Leid fügen sich die Menschen zu, die
(Teiresias in Ödipus und Antigone), Helenos im Phi- – im Gegensatz zur sophokleischen Konzeption –
loktet) – doch kann sich der Mensch in der Ausle- keinen festen Wesenskern haben und von den Um-
gung der Sprüche dieser Instanzen täuschen, entwe- ständen beherrscht werden. Hier scheint Euripides
der, weil er sie missversteht (Ödipus), nicht glauben eine Anthropologie zu entwerfen, die der des Thuky-
will (Kreon in der Antigone), oder weil sie (bewusst) dides (3,82) in Radikalität nicht nachsteht (insbe-
missverständlich sind (Deianeira in den Trachinie- sondere in Phönissen und Orestes) und wohl Analy-
rinnen). Suche (vgl. Hose 2000), Sehen und Blind- sen der Sophistik aufgreift. Hinzu kommt eine Beto-
heit, schließliche Enthüllung (vgl. Reinhardt 1947) nung des ›Zufalls‹, durch den menschliches (wie
prägen daher die Struktur der Tragödien. Mensch auch gelegentlich göttliches) Planen bestimmt ist.
und Gott haben sich in der sophokleischen Tragödie Im Gegensatz mindestens zu Sophokles markiert
getrennt; es ist nicht die Übertretung einer grund- Euripides bisweilen deutlich seine Technik und stellt
sätzlich dem Menschen gezogenen Grenze, die bei immer wieder aus, wie er mit den dramatischen For-
Sophokles zur Katastrophe führt, sondern ein men arbeitet. Auch hebt er (berühmt in Elektra)
menschlicher Fehler (von hier aus hat die aristoteli- seine Umgestaltungen der Geschichten in Abhe-
sche Kategorie der hamartía ihre Berechtigung, vgl. bung von Aischylos hervor, zeigt also die Intertex-
Kap. I.2), der prinzipiell vermeidbar erscheint. tualität seiner Stücke. Hinzu tritt ein Arbeiten mit
Gleichwohl ›kann‹ die betreffende Gestalt kaum an- ›offener Form‹, d. h. in vielen Tragödien wird am
ders als diesen Fehler begehen, da ihr ein bestimm- Ende zwar eine Katastrophe verhindert, doch bleibt
tes, unveränderliches Wesen (phýsis) eigen ist, das die Frage offen, ob und wie die Figuren mit dem,
sich zugleich in der Katastrophe bewährt. Erscheint was sie getan oder erlitten haben, weiterleben kön-
daher diese Katastrophe und das damit verbundene nen (so etwa in Alkestis oder Orestes). Euripides ar-
Leid theologisch (d. h. als von den Göttern verhängt) beitet im Laufe seiner Entwicklung zunehmend va-
unerklärlich und trägt nicht zu einer poetischen Ge- riabel mit den Bauformen. So kann er am Ende in
rechtigkeit bei (vgl. Schadewaldt 1970), so manifes- den Bakchen gleichsam archaisierend einen bedeut-
tiert sich aber in ihr ein idealisiertes Menschenbild. samen Chor, der Stasima in alter Manier singt, ver-
Anders als bei Aischylos, bei dem Epeisodia und wenden, während er wenige Jahre zuvor im Orestes
Chorlieder sich in Informationsvergabe und Inter- dagegen den Chor zugunsten von Solisten und
pretationsangeboten für das Publikum eng ver- Schauspieler-Wechselgesang reduziert hatte. Die
182 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Fokussierung seiner Tragödie auf den Menschen er- Handlungsstruktur in Ansätzen erkennbar ist, keine
öffnete ihrer Rezeption vom 4. Jahrhundert an den Gesamtrekonstruktion möglich ist.
Weg. Zeigte die frühe Tragödie den Menschen in span-
Neben den drei großen Tragikern sind durch den nungsvoller Kommunikation mit den Göttern, so er-
Rhesos (er ist im Corpus Euripideum überliefert) scheint die (Alte) Komödie in ihren frühen Formen
und den Prometheus (wohl eine tiefgreifende Über- hierzu komplementär: Bezeichnend ist der Befund,
arbeitung eines ursprünglich aischyleischen Stücks) dass zahlreiche Stücktitel aus den ersten Dezennien,
noch die Handschriften zweier weiterer Dichter, in denen die Komödie im Agon an den Dionysien
vielleicht ebenfalls des 5. Jahrhunderts, kenntlich. aufgeführt wurden, auf Chöre verweisen, die Tier-
Welchen Weg die Tragödie vom 4. Jahrhundert an masken trugen: Vögel, Gallwespen und Frösche sind
ging, ist infolge des weitgehenden Verlusts der Stü- etwa für Magnes bezeugt, der 472 an den Dionysien
cke nur in Umrissen kenntlich (Xanthakis-Karama- siegte. Mensch und Tier standen hier offenbar in Be-
nos 1980). Wahrscheinlich führten Tragiker wie ziehung zueinander, und entwarf die Tragödie den
Astydamas und Theodektes Linien weiter aus, die im Menschen in seiner Gefährdung, die ihm gesetzten
euripideischen Spätwerk angelegt waren, d. h. stär- Grenzen zu überschreiten, so könnte die Komödie
kere rhetorische Durchformung der Sprechverse, just die Grenzüberschreitung oder die Negierung
Verstärkung pathetischer und melodramatischer der Grenzen verkörpert haben: Statt als Mangelwe-
Züge in den Stücken. Der Mensch stand augen- sen, das stetig in der Gefahr des irreversiblen Schei-
scheinlich im Zentrum der Tragödien, theologische terns schwebt, ist der Mensch der Komödie von
Diskurse wurden nur noch am Rande bedient. phantastischer Fülle gekennzeichnet. Er kann Raum
und Zeit beliebig durchschreiten, gelangt in Unter-
welt oder Himmel, steht aufgrund seiner betonten
2.5.2 Die Komödie zwischen Phantastik Leiblichkeit – zum Kostüm des Komödienschau-
und bürgerlicher Welt spielers gehörte ein überdimensionierter Lederphal-
los – in der Nähe zur Groteske. Die Komödie des 5.
Die griechische Komödie (vgl. Zimmermann 2006) Jahrhunderts entwarf eine ausgelassene Gegenwelt-
hat sich in ihrer Geschichte deutlicher als die Tragö- lichkeit, nicht freilich in dem Sinne, dass sie sich in
die verändert. Daher hat man bereits in der Antike einer reinen Phantasiewelt situierte, sondern indem
(vgl. Nesselrath 1990) eine Alte Komödie (sie er- ›ihre‹ Welt keine Begrenzungen zu haben schien.
streckt sich von den Anfängen der Gattung bis ins Hierfür sind einige inhaltliche Möglichkeiten des
frühe 4. Jh.), eine Mittlere Komödie (hieran anschlie- komischen Spiels bezeichnend: Im Gegensatz zur
ßend bis ins letzte Drittel des 4. Jh.s) und eine Neue Tragödie agiert die Komödie in einem offenen
Komödie (vom letzten Drittel des 4. Jh.s an) unter- Raum, der keine dramatische Illusion schafft. Viel-
schieden. Freilich stehen, anders als bei der Tragö- mehr ist sie in verschiedener Form zum Zuschauer-
die, alle generalisierenden Feststellungen zur Komö- raum hin offen, einerseits durch spezifische Form-
die unter dem Vorbehalt, dass nur von Aristophanes elemente wie die Parabase (s.u.), andererseits durch
und Menander vollständige Stücke zur Verfügung eine Multireferentialität, d. h. sie kann auf andere li-
stehen. Vielleicht ergäbe sich ein deutlich anderes terarische Formen (insbesondere die Tragödie, aber
Bild, lägen von Kratinos und Eupolis, den beiden auch lyrische Formen und Epos) parodisch verwei-
von der antiken Literaturkritik Aristophanes an die sen, aber auch Ereignisse und Personen athenischen
Seite gestellten Poeten der Alten Komödie, vollstän- Lebens thematisieren – dies entwickelte sich bis zum
dige Stücke vor. Die Rekonstruktion verlorener Ko- gezielten politischen Spott, der Namen nannte. Hier-
mödien ist wesentlich problematischer als im Fall bei bildete sich eine spezifische Form aus, die die
der Tragödie, bei der aus Fragmenten, sofern sie my- bunten Inhalte adäquat umsetzte. Denn im Gegen-
thische Namen enthalten, auf die Handlungsfüh- satz zur Tragödie, die einen Mythos dramatisch er-
rung geschlossen werden kann. Die Komödie muss zählt, kennzeichnet die Alte Komödie ein zweiteili-
dagegen ihre Charaktere innerhalb des Stückes ent- ger Aufbau, bei dem in einem ersten Teil ein Pro-
werfen und ihre Handlung stimmig und neu erfun- blem exponiert und gelöst, im zweiten Teil die
den durchführen. Da zur Komödie auch das Ele- Konsequenzen aus der erreichten Lösung in einer
ment des Überraschenden gehört, bedeutet dies, (episodischen) Szenenfolge dargestellt werden.
dass selbst in den seltenen Fällen, in denen eine Während der zweite Teil strukturelle Ähnlichkeit
2. Antike 183

mit der Tragödie zu haben scheint, zeichnet den ers- tastische Möglichkeiten, Frieden zu schließen: sei es,
ten Teil eine ›epirrhematische‹ Komposition aus, indem ein einfacher Bürger einen Privatfrieden mit
d. h. die geregelte Abfolge von Gesangspartien (zu- Sparta schließt (Acharner, 425 v. Chr.), oder ein
meist des Chores) und Sprechverspartien (griech. Bauer auf einem speziell gezüchteten Mistkäfer in
epirrhema = das Darauf-Gesagte). Wie in der Tragö- den Himmel fliegt (Frieden, 421v. Chr.), sei es, in-
die wurde eine Komödie durch einen Prolog und die dem die griechischen Frauen ihre Männer durch
Parodos des Chores eröffnet, indes mit dem Unter- Verweigerung des Beischlafs zum Frieden zwingen
schied, dass im Gegensatz zu den Tragödien-Chö- (Lysistrate, 411 v. Chr.). Es kann aber auch hart mit
ren, die in der Regel mit den Akteuren Mitleid emp- einzelnen Politikern ins Gericht gegangen werden
finden, der Komödien-Chor bei seinem Auftritt ge- (Ritter, 424 v. Chr.). Die Komödie ist ferner Medium,
genüber den Akteuren aggressiv sein kann, da er intellektuelle Strömungen parodisch zu beleuchten –
sich von diesen bedroht fühlt (etwa Aristophanes’ so wird in den Wolken (423 v. Chr.) Sokrates als Erz-
Vögel, 414 v. Chr.). Damit ist ein Konflikt vorge- sophist eingeführt, die euripideische Tragödie in ih-
zeichnet, der ausgetragen wird, entweder durch zwei ren Eigenheiten in Acharnern und Thesmophoriazu-
Kontrahenten oder durch eine Figur gegen den sen (411 v. Chr.), in Kontrast zu Aischylos in einem
Chor. Hierfür wird eine spezifische Struktur des imaginären Agon in der Unterwelt in den Fröschen
Agons eingesetzt, die nicht einfach Rede gegen Ge- präsentiert. Selbst radikale Gegenentwürfe zur athe-
genrede stellt, sondern in strophischer Komposition nischen Polis modelliert die Komödie: In den Ekkle-
(d. h. durch Wiederholung der Teile) auf eine Ode siazusen (um 393) wird eine Stadt gezeigt, in der die
des Chores und ein Epirrhema (also die Rede einer Frauen alle politischen Rechte der Männer über-
Figur) eine (metrisch analoge) Antode des Chores nommen und eine radikale Enteignung von Besitz
und ein Antepirrhema (entweder des Gegenspielers vorgenommen haben. In den Vögeln (414 v. Chr.)
oder erneut des Sprechers des Epirrhemas) folgen fliehen Athener aus ihrer Stadt, um in der Welt der
läßt. Dieser »epirrhematische Agon« bringt die Ent- Vögel Zuflucht zu finden, und gründen einen phan-
scheidung im Konflikt, eine Handlungspause ent- tastischen neuen Staat, der sogar die Götter be-
steht, in der die Schauspieler die Bühne verlassen zwingt.
und der Chor ›an das Publikum herantritt‹ (griech. Das besondere Kennzeichen der poetischen Ima-
parabainein, daher Parabase). Auch die Parabase hat gination des Aristophanes scheint darin zu liegen,
eine (siebenteilige) epirrhematische Struktur: Zu- dass es ihm gelingt, aus sprichwörtlichen Redensar-
nächst leitet der Chor die Parabase mit einem kurzen ten oder Sprachbildern Geschichten zu generieren,
Abschiedswort an die abgehenden Akteure ein (1. also gleichsam allegorisch zu komponieren. So steht
Kommation, ›Stückchen‹), hierauf schließt er eine hinter dem Konzept der Vögel eine griechische Ver-
anapästische Partie an (2. eigentliche Parabase), die wünschung ›zu den Raben‹ (entspricht etwa »zum
in eine Art Stretta mündet, vollständige, akatalekti- Henker«) – die beiden Athener gehen tatsächlich
sche Anapäste, die kein Atemholen der Sprecher zu dorthin. In seinem wohl letzten Stück Plutos
erlauben scheinen (3. Pnigos, ›Würger‹). Hierauf fol- (»Reichtum«), arbeitet er mit dem Motiv vom ›blin-
gen 4. Ode und 5. Epirrhema, dann 6. Antode und 7. den‹ Reichtum und den Konsequenzen, die sich er-
Antepirrhema. In den Anapästen kann der Chor im geben, wäre der Reichtum sehend und ginge nur zu
Namen des Dichters oder des Regisseurs den Zu- denen, die ihn verdienen.
schauern das Stück empfehlen, auf Besonderheiten Inwiefern Aristophanes’ Plutos (388 v. Chr.) be-
der Inszenierung, etwa seines Kostüms hinweisen. reits mit der Mittleren Komödie zu verbinden ist,
Ode und Antode können die Götterhymnen sein, in läßt sich nicht genau ausmachen; der Umstand, dass
den epirrhematischen Teilen auf Misstände in Athen in diesem Stück die namentliche Verspottung von
oder Fehlverhalten von Bürgern hingewiesen wer- Athenern nur noch marginal vorkommt, verweist
den. auf die neue Form des 4. Jahrhunderts. Soweit durch
Die elf erhaltenen Komödien des Aristophanes Fragmente und verstreute Notizen erkennbar, redu-
zeigen die Fülle der Möglichkeiten dieser dramati- zierte sich das Moment der überbordenden Körper-
schen Form im 5. Jahrhundert. Zum einen konnte lichkeit in der Mittleren Komödie. Statt Trikot mit
die athenische Politik in karikierter Form themati- Lederphallos trugen die Akteure jetzt Bürgertracht,
siert werden. Während des Peloponnesischen Krie- und stofflich spielte die Mythenparodie (auch sie ist
ges imaginierte die aristophanische Komödie phan- bereits in der Alten Komödie enthalten) eine be-
184 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

deutsame Rolle. Die Komödie näherte sich zudem 2.6.1 Das Drama als Text
strukturell der Tragödie an, eine Entwicklung, die in
der Neuen Komödie dazu führt, dass nun auch hier Aristophanes ließ in den Fröschen den Theatergott
eine rein episodische Form benutzt wurde, wobei die Dionysos von seiner privaten Lektüre von Euripides’
obligaten Chorlieder zwischen den Epeisodien nicht Tragödie Andromeda als nicht ungewöhnlichem
mehr eigens komponiert, sondern durch beliebige Vorgang berichten. Man hat daraus geschlossen,
Lieder ersetzt wurden. Die Neue Komödie war weit- dass der Wunsch des Theaterpublikums, ein Stück,
gehend Sprechtheater geworden. das besonders gefallen hatte, nach der Aufführung
Diese neue Form orientierte sich in ihren Stoffen, erneut studieren zu können, innerhalb der dynami-
soweit erkennbar, an attischer Lebenswirklichkeit. schen Entwicklung, die die Schriftkultur im 5. Jahr-
Das Personal waren nicht mehr überzeichnete Figu- hundert erfuhr, zur Entstehung eines veritablen
ren des öffentlichen Lebens wie der Sokrates der Buchwesens beitrug. Wenn Aristophanes gerade in
Wolken (423 v. Chr.), sondern fast zu Typen gewor- den Fröschen geradezu minutiös metrisch-stilisti-
dene bürgerliche Rollen: der Hausvater, der Sohn, sche Feinheiten sowohl der aischyleischen wie der
die Tochter, der Sklave, der Freund des Sohnes. Die euripideischen Tragödien parodieren konnte, be-
Stücke kreisten um die Risiken bürgerlichen Lebens, deutet dies, dass sowohl er Zugriff auf die Texte hatte
um bedrohtes Erbe, ungewollte Schwangerschaften, wie auch bei seinem Publikum eine Vertrautheit mit
nicht anerkannte Kinder, Väter oder Söhne, die den einigen bereits vor Dezennien aufgeführten Stücken
an sie gerichteten Erwartungen nicht gerecht wer- erwartete – die ihrerseits wahrscheinlich nur durch
den. Kein Schicksal, sondern der Zufall, der biswei- das Überdauern der Dramen im öffentlichen Ge-
len als personifizierte Gottheit Tyche erscheint, fügt dächtnis als Buch möglich war. Zugleich begann
die Konstellationen der Handlung so aneinander, man, die Texte in den verschiedenen Formen grie-
dass am Ende der Komödie eine wiederhergestellte chischer Schule zu nutzen, sowohl für Lese- und
bürgerliche Welt stehen kann. Vorgezeichnet ist Schreibübungen, wie zahlreiche Papyri und Ostraka
diese dramatische Form bereits im Spätwerk des Eu- aus dem hellenistischen Ägypten bezeugen, wie auch
ripides; man kann etwa eine Linie von dessen Ion als Gegenstände höherer Bildung. So stiftete um das
zum wichtigsten Dichter der Neuen Komödie, Men- Jahr 100 v. Chr. ein Jahrgang der attischen Epheben,
ander, und dessen Schiedsgericht ziehen. Die spezifi- also der jungen Männer, die für ein bis zwei Jahre
sche Zeitgebundenheit der Stücke der Alten Komö- eine umfassende Ausbildung erhielt, die sie zu
die ist aufgegeben (auch wenn immer noch politi- brauchbaren und wehrhaften Bürgern machen
sche Anspielungen möglich sind). Dies machte diese sollte, ihrer Schule eine Art Gesamtausgabe des Eu-
Form des Lustspiels ähnlich wie die Tragödie univer- ripides. Diese Stiftung ist durch eine Inschrift (IG II/
sell rezipierbar. III² 2363) bezeugt, die (soweit die Inschrift erhalten
ist) die Stücke des Euripides in alphabetischer Folge
aufzählt. Die Verwendung der Dramentexte im
Schulunterricht sicherte – natürlich im Rahmen der
2.6 Das attische Drama auf dem Weg für die Schule erforderlichen Kanonbildung – ihre
durch die Alte Welt Überlieferung bis nach Byzanz und hat die eingangs
genannten Corpora erhalten (vgl. Pöhlmann 1994).
Vom 4. Jahrhundert an löste sich das Drama von At- Zudem dienten die Texte als Grundlage für die
tika und den spezifischen Festkontexten. Die Ein- Wiederaufführungen der Stücke im 4. Jahrhundert.
maligkeit der Aufführung war durch die Wiederho- Allerdings lag hier insofern ein Problem, als für
lung in den Dementheatern wie auch durch die diese Reprisen Schauspieler und Regisseure Bearbei-
Möglichkeit, das Drama als Buch unabhängig vom tungen vornahmen, die teils Partien strichen, teils zu
Theater zu rezipieren, relativiert. Daher eröffneten ›zugkräftigen‹ Erweiterungen führten. Diese Arbeit
sich nun drei Wege, auf denen das Drama in der am Text nahm solche Ausmaße an, dass um 330
griechischen Welt wirksam wurde: als Text, als Bild v. Chr. der attische Staatsmann Lykurg (unter ihm,
und als Bühnenspiel. s.o., war auch das Dionysos-Theater in einen Stein-
bau verwandelt worden) eine offizielle Kopie der
›authentischen‹ Tragiker-Texte anfertigen, sie im
Staatsarchiv niederlegen ließ und die Schauspieler
2. Antike 185

auf diesen Text verpflichten wollte. Diese Maß- weilen zur Rekonstruktion verlorener Dramen
nahme scheint freilich von geringem Erfolg gewesen nutzt, als auch eine ›ikonozentrische‹ Betrachtungs-
zu sein. Die alexandrinischen Philologen konnten weise, die die Eigendynamik der Malerei hervorhebt,
im 3. Jahrhundert, als sie im Rahmen ihrer Arbeit in vertreten werden (vgl. Taplin 2007 mit Guiliani
der berühmten Bibliothek auch die Dramatiker text- 2009)
kritisch bearbeiteten und damit die Textform her-
stellten, die über verschiedene Stufen bis nach By-
zanz gelangte, eben dieses athenische Exemplar be- 2.6.3 Das Drama als Bühnenspiel
nutzen. Doch mindestens für einige euripideische
Dramen (Phönissen und Orestes) war es augen- Vom 4. Jahrhundert an sind Theater in der gesamten
scheinlich nicht frei von Schauspieler-Interpolatio- griechischen Welt nachweisbar, in Argos, im griechi-
nen (vgl. Pfeiffer 1978). schen Kleinasien, im griechischen Westen. Teils mit
Die Verbreitung der Tragödie als Text machte sie Verbindung zu Dionysos-Kulten, teils als Bestandteil
zu einer literarischen Gattung, an die Dichter an- anderer Kulte und Feste wurden sowohl – wohl nach
knüpfen konnten, ohne dass ihre Werke für eine dem Muster der attischen Dramen – neue Stücke wie
Aufführung gedacht waren. Dies wurde im Hellenis- auch Reprisen von Stücken des 5. Jahrhunderts auf-
mus reich genutzt, gerade für künstlerische Experi- geführt. Hinzu kam, dass sich die Schauspieler und
mente. So knüpft die Alexandra des Lykophron übrigen ›Bühnenkünstler‹ (griech. technítai) in Gil-
(wohl 3. Jh. v. Chr.) an den tragischen Botenbericht den, oft als Kultvereine für Dionysos, organisierten
an, indem er ein mehr als 1400 jambische Trimeter (Le Guen 2001). Ein reges Theaterleben, mit festen
umfassendes Gedicht schuf, das sich als Rede eines Bühnen und Wanderschauspielern, entfaltete sich,
Wächters gibt, der die unverständlichen Prophezei- das im Hellenismus, als durch die Diadochenreiche
ungen der troischen Prinzessin Kassandra deren Va- griechische Städte bis an die Grenzen zu Indien neu
ter, König Priamos mitteilt. Dieses Werk sollte nur gegründet wurden, noch intensiver wurde. Das
gelesen (und mühsam verstanden), nicht aber im Theater wirkte auch in den Räumen, in denen die
Theater aufgeführt werden. Ein anderes Experiment griechische Kultur in Kontakt und Austausch mit
stellte das Mose-Drama (Exagoge) des Ezechiel dar, anderen Kulturen trat, auf die fremden Kulturen ein.
das den Stoff der alttestamentarischen Mose-Ge- So wurde etwa in der baktrischen Stadt Ai Khanum,
schichte (Ex. 1–15) in die Tragödienform über- die wie eine griechische Polis aufgebaut war, ein
führte. Auch hier ist fraglich, ob der Text zur Auf- Theater errichtet, und es erscheint möglich, dass die
führung gedacht war. einige Jahrhunderte später nachweisbare indische
Tradition des Dramas (vgl. Kap. III.3.2) auf eine
nicht rekonstruierbare Weise mit dem griechischen
2.6.2 Das Drama als Bild Theater in Verbindung steht.

Verbunden mit der Aufführung, aber auch mit der


Wucht der im Text, insbesondere in den Botenbe-
richten enthaltenden Bilderwelten wirkte das atti- 2.7. Das römische Drama
sche Drama auf die bildenden Künste ein. Bilder aus
oder wenigstens in Anlehnung an Theaterstücke 2.7.1 Die Akkulturation einer Gattung in Rom
oder einzelne Szenen, ja auch der Bühnenapparat als
solcher finden sich in besonderer Dichte seit dem 4. Wie für die gesamte römische Lebenswelt des 4. bis
Jahrhundert in der Vasenmalerei, als Verzierung von 2. Jahrhunderts v. Chr. gilt auch für die Literatur und
Urnen und schließlich als Relief auf Sarkophagen. das römische Drama, dass sie sich unter einem über-
Für das 4. Jahrhundert stellt dabei der italische mächtigen Druck der griechischen Kultur ausbilde-
Raum, über apulische Vasenbilder zumal oder etrus- ten. Man kann das Verhältnis zwischen Rom und
kische Ascheurnen, reiches Material zur Verfügung. den Griechen durchaus mit den Instrumentarien der
Die Bewertung dieser Bilder ist indes methodisch Postcolonial Studies analysieren (vgl. Hose 1999).
nicht einfach, da in der Forschung sowohl ein ›phi- Bezeichnenderweise hat sich die römische Religion
lodramatischer‹ Standpunkt, der die prägende Kraft unter dem Einfluss des griechischen Pantheon dras-
des Theater auf die Maler betont und die Bilder bis- tisch verändert, ja die griechische Mythologie Römi-
186 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

sches überlagert (vgl. Suerbaum 2002, §103.7; Smith 2.7.2 Die römische Aufführung
2007). Im Unterschied zur jüdischen Kultur, für die
Ezechiels Mose-Drama stehen soll, wurden mit den Da die Leitung der ludi wie auch der anderen ge-
dramatischen Formen zwar ›griechische Inhalte‹, nannten Feiern bei hohen römischen Magistraten
d. h. griechischer Mythos in der Tragödie und grie- (in der Regel den Ädilen) lag, trugen sie die Verant-
chischer Alltag in der Komödie, nicht aber die grie- wortung auch für Theaterstücke. Anders als in
chische Sprache in Rom übernommen. Dies zeigt, Athen war deren Aufführung indes keine Aufgabe
dass im Gegensatz zu rein literarischen Formen wie der Bürger. Vielmehr beauftragte der zuständige
der Historiografie, die sich in ihren Anfängen in den Magistrat einen ›Theaterdirektor‹ mit der Durch-
griechischen Gattungsdiskurs einschreiben und führung. Dieser dominus gregis (Herr der Schar)
auch außerhalb Roms wirken wollte, das Drama als kaufte von einem Dichter ein Stück und führte es
Theaterstück für ein lateinisch sprechendes (oder mit seiner Truppe auf, wobei er gegebenenfalls zu-
mindestens verstehendes) Publikum intendiert war. sätzliche Musik komponieren ließ und Gesangsein-
Anlass der Stücke (insgesamt Blänsdorf 1978; Can- lagen (cantica) in das Stück einfügte. Die Schauspie-
cik 1978) waren ludi, d. h. römische religiöse Feste, ler und die Musiker waren keine römischen Bürger;
die in ihrem Programm ludi scenici vorsahen: die oft handelte es sich um Sklaven des Direktors oder
ludi Romani (seit 240, s.u.), die ludi Plebei (seit ca. Freigelassene.
220), die ludi Apollinares (wohl seit Ende des 3. Die erforderliche Bühne hatte der Magistrat (oder
Jh.s), die ludi Ceriales (vielleicht seit 175) sowie die der Adlige, der die Feier ausrichtete) bauen zu las-
ludi Megalenses (seit 191). Hinzu kam die Möglich- sen. Soweit erkennbar, orientierte man sich an der
keit, im Kontext von Triumph-Feiern, Weihungen griechischen hellenistischen Hochbühne und errich-
oder Begräbnissen Dramen aufzuführen. Die Fülle tete aus Holz eine verhältnismäßig breite Spielfläche
der Anlässe für Aufführungen zeigt nochmals, dass (pulpitum), die sich ca. 1,5 Meter über dem Grund-
die Form des Dramas sich im Hellenismus verselb- niveau des Zuschauerraums (sein Fassungsvermö-
ständigt hatte; man konnte Dramen zu (fast) beliebi- gen steigerten Holztribünen oder die Stufen des
gen Anlässen (die freilich an sich weiterhin erforder- Tempels, der der Gottheit geweiht war, der die ludi
lich waren) aufführen. Hierbei gab es keinen festen galten) erhob und deren Rückwand (scaena) Häuser
Platz für Tragödie oder Komödie, wie der Prolog von symbolisierte. Eine Orchestra fehlte, dafür kannte
Plautus’ Amphitruo zeigt, in dem der Prolog-Gott die römische Bühne den Theatervorhang (siparium
Mercurius im Spiel mit der Zuschauererwartung aus bzw. aulaeum), der aus einer Rinne am Bühnenrand
einer Tragödie eine Komödie bzw. eine ›Tragikomö- emporgezogen wurde. Er ›fiel‹ also zu Beginn eines
die‹ macht. Stückes. Einen Agon der Dramen gab es nicht; statt-
Die Genese der römischen Theaterkunst (ars lu- dessen hatte sich ein Stück gegen andere Bestand-
dicra) ist im Detail schwer nachzuzeichnen, da das teile des Festes wie etwa circensische Darbietungen
wichtigste Zeugnis, Livius 7,2 (hinzu kommt Valerius zu behaupten, die in der Regel nach der Theaterauf-
Maximus 2,4,4), historischen Bericht und römische führung stattfanden, bisweilen aber schon vorher
antiquarische Rekonstruktion miteinander verbun- Publikum anzogen (so etwa im Fall von Terenz’ He-
den hat (Schmidt 1989; Suerbaum 2002, §107.2). Da- cyra 165 v. Chr.).
nach habe es tänzerisch-pantomimische ludi scenici
seit 364 v. Chr. gegeben, an die 240 v. Chr. Livius And-
ronicus anknüpfte, der als erster eine fabula, also wohl 2.7.3 Römisches Drama
eine Tragödie, zur Aufführung brachte (so Cicero, und römische Dramatiker
Brutus 72) und damit das römische Drama begrün-
dete. Diese Rekonstruktion einer Genealogie scheint Das Jahr 240 v. Chr. ist das Epochenjahr der römi-
nachträglich vorgenommen, um die ›Härte‹ des Neu- schen Dramatik: die fabula, die Livius Andronicus
einsatzes um 240 zu verdecken – der offenbar in Zu- (er stammte aus dem griechischen Süditalien und
sammenhang mit Roms Sieg im 1. Punischen Krieg erteilte in Rom wohl als Klient einer aristokratischen
stand. Der Kontext der Einführung lag also in einer Familie Literaturunterricht) an den ludi publici auf-
Konstellation, in der Rom eine existenzielle Notsitua- führte, steht am Beginn einer reichen Produktion,
tion erfolg-, aber auch verlustreich bewältigt hatte. die er zunächst selbst schuf: Zehn Titel von Tragö-
dien sind bezeugt, die allesamt auf Übertragungen
2. Antike 187

griechischer Mythen weisen und wahrscheinlich haltenen lassen sich auf 212/11 datieren) bis zu sei-
nach euripideischen oder hellenistischen Stücken nem Tod (vielleicht 184) die römische Bühne. Seine
gearbeitet waren. Ferner sind für ihn Komödien be- Popularität bezeugt der Umstand, dass auch nach
zeugt – anders als in der griechischen Tradition, die seinem Tod seine Stücke immer wieder aufgeführt,
zwischen Tragikern und Komikern genau unter- vielleicht bearbeitet wurden, ja dass im Laufe des 2.
schied, dichtete er also in beiden Gattungen. Seine Jahrhunderts ›Plautus‹ ein solcher Qualitätsname
Komödien spielten im griechischen Milieu. Dies war, dass man andere Stücke unter seinen zugkräfti-
wurde prägend und hat die Gattungsbezeichnung gen Namen stellte. 130 Komödien waren es schließ-
comoedia palliata (nach dem typisch griechischen lich, die die römische Philologie zu behandeln hatte.
Mantel, der lateinisch pallium hieß) geprägt. Eine Nur 21 erklärte in spätrepublikanischer Zeit Varro,
Komödie im römischen Gewand (comoedia togata) Roms größter Gelehrter, für echt. Wahrscheinlich
ist nur schemenhaft für das 2. Jahrhundert v. Chr. sind dies die 21 Stücke, die die Überlieferung be-
nachweisbar. Mit Naevius fand Livius von 235 an ei- wahrt hat.
nen Konkurrenten, der ebenfalls Komödien wie Tra- Auch wenn griechische Komödien die Vorlagen
gödien dichtete, ja in der Form der Tragödie augen- lieferten (so liegt Menander zugrunde in Bacchides,
scheinlich eine bedeutsame Neuerung vornahm. Cistellaria und Stichus, Diphilus in Casina, Rudens
Denn neben griechischen mythologischen Stoffen und vielleicht Vidularia, Philemon in Mercator,
(insbesondere der Troja-Mythos wurde sowohl von Trinummus und vielleicht Mostellaria, Alexis wohl
Naevius wie auch von Livius aufgegriffen) benutzte im Poenulus), so setzte Plautus deutliche eigene Ak-
er auch die römische Geschichte und schuf die fa- zente (Fraenkel 1922; Blänsdorf 2002). Er verzichtete
bula praetexta, die Tragödie im römischen Gewand auf die Strukturierung durch Epeisodia und Chorlie-
(die [toga] praetexta ist das mit Purpur verbrämte der, indem er die Chöre strich und die Handlung
Gewand römischer Senatoren): In Clastidium dra- fortlaufen ließ. Er gab den Figuren, die in den Vorla-
matisierte er den Sieg des römischen Konsuls Mar- gen ›normale‹ griechischen Namen hatten, volltö-
cellus über einen keltischen Stamm bei der gleichna- nende griechische Namen. Er machte aus dem rei-
migen Stadt im Jahr 222. Vermutlich wurde diese nen Sprechtheater der Neuen Komödie ein buntes
Praetexta entweder bei den Triumphfeiern des Mar- Mixtum aus gesprochenen, rezitierten und gesunge-
cellus oder dessen Begräbnis aufgeführt. Während nen Partien. Er verstärkte den Wortwitz durch
Livius’ und Naevius’ Stücke nahezu bloße Titel sind, durchschaubare sprachliche Verrätselungen und lus-
lassen sich für die Tragödien des Ennius (239 in Ru- tige Sprachbilder. Wie bei den griechischen Vorlagen
diae in Kalabrien geboren, 169 in Rom gestorben) basieren die Handlungsgefüge der plautinischen Ko-
immerhin so viele Fragmente geltend machen, dass mödie darauf, dass eine Störung im Gefüge des
die Forschung darüber debattieren kann, ob diese Hauswesens vorliegt, dass etwa die Hausväter in der
Stücke (lediglich) Übersetzungen oder freiere Bear- Fremde sind, die jungen Söhne sich ungeachtet ihrer
beitungen griechischer Tragödien waren (vgl. Suer- Lizenz zur Liebe in ein nicht standesgemäßes Mäd-
baum 2002, 126). Zwanzig Titel sind überliefert, die chen verliebt haben oder dass dieser Liebe Hinder-
zumeist auf Euripides als Bezugspunkt verweisen nisse oder Rivalen im Weg stehen. Obschon die Stü-
(Andromacha, Cresphontes, Hecuba, Medea, ca. 430 cke allesamt in Griechenland zu spielen vorgeben,
v. Chr., u. a.). Bemerkenswert ist, dass Ennius auch sind doch immer wieder römische Rechtsbestände
stark auf die athenische Geschichte bezogene Stoffe und soziale Normen in die Konflikte integriert. Es ist
(Eumenides, Erechtheus) bearbeitete. Soweit erkenn- keine vollständig griechische Welt, die Plautus vor-
bar, scheint Ennius das Pathos und die Rhetorisie- führt. So verzichtet er augenscheinlich darauf, recht-
rung gegenüber den griechischen Vorlagen verstärkt schaffene Hausväter dem Spott auszusetzen (die
zu haben. Neue Komödie hatte dies bisweilen getan). Die rö-
Während die Tragödien des Ennius rasch Be- mische Institution des pater familias blieb damit un-
standteil eines römischen Bildungskanons wurden, angetastet, ja sie wurde implizit gestärkt, wenn die
fanden seine Komödien kaum Widerhall. Vielleicht Komödie das Scheitern eines solchen Familienober-
lag dies an einer übermächtigen Konkurrenz: Titus haupts zeigte, der gegen die Normen verstößt (vgl.
Maccius Plautus, geboren um 250 v. Chr. in Sarsina Fuhrmann 1976). Die plautinische Komödie, so
an der Grenzen zwischen Oskerland und Umbrien, kann man hieraus schließen, bestätigte in einer Zeit,
beherrschte mit seinen Komödien (die frühesten er- da Roms Macht von Karthagern und Makedonen
188 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

herausgefordert sich glänzend bewährte und zu- Gemeint ist offensichtlich, dass Terenz in seine Bear-
gleich eine Flut von neuen Erfahrungen auf die Rö- beitung eines griechischen Stückes eine passende
mer einströmte, die traditionelle römische Familie. Szene aus einem anderen griechischen Stück einge-
Da von Caecilius Statius nur Fragmente erhalten fügt und damit dieses andere Stück für eine Übertra-
sind, ist Publius Terentius Afer der andere wichtige gung unbrauchbar gemacht habe. Dieser Vorwurf
Zeuge für die Komödie in Rom (vgl. Blänsdorf der ›Kontamination‹ bezeugt Konkurrenzdruck in
2002). Die erhaltenen sechs Stücke sind alles, was er Rom und Mangel an genügend geeigneten griechi-
geschrieben hat. Wie Caecilius, der als kriegsgefan- schen Stücken. Terenz wurde – nach der antiken
gener Kelte nach Rom kam, war auch Terenz Sklave, Biografie – Opfer dieser Konstellation. Denn auf ei-
den es aus Nordafrika nach Rom verschlagen hatte. ner Reise nach Griechenland, die der Beschaffung
Durch die Patronage einflussreicher Adliger (seine unverbrauchter griechischer Dramen dienen sollte,
auf Sueton zurückgehende Biografie nennt die be- sei er gestorben.
rühmten Scipionen) konnte er sein Talent als Komö- In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.
diendichter entfalten. Er verfasste sechs Stücke, die schwand Interesse und damit Bedarf an Komödien;
zwischen 166 und 160 v. Chr. der routinierte Thea- ihre Dichter sind bis auf Sextus Turpilius, von dem
terdirektor Ambivius Turpio zur Aufführung ca. 140 Fragmente bewahrt blieben, nur noch Schat-
brachte. In diesen Dramen (Andria, 166 v. Chr.; He- ten der Literaturgeschichte.
cyra, 165 v. Chr.; Heautontimorumenos [Der Selbst- Der römischen Tragödie war eine längerfristige
quäler], 163 v. Chr.; Eunuchus, 161 v. Chr.; Phormio, Wirksamkeit beschieden. Wohl konnte in ihr ein
161 v. Chr.; Adelphen [Die Brüder], ca. 160 v. Chr.) breiteres Spektrum von Problemen verhandelt wer-
fand Terenz zu einer von Plautus verschiedenen For- den als in der auf die bürgerliche Welt fixierten Ko-
mensprache. Er verzichtete auf die Cantica, auf die mödie. Hinzu kam, dass die Darstellung von (mythi-
burlesken Prügelszenen und auf die ironische Über- schen) ›Haupt- und Staatsaktionen‹ in den Tragö-
legenheit gegenüber der dargestellten griechischen dien den Beamten, die die jeweiligen ludi zu geben
Welt. Stattdessen legte er – in der Tradition Menan- und damit zu finanzieren hatten, die Gelegenheit
ders, an den er mit vier Stücken anschloss – großen gab, effektvolle publikums-, d. h. wählerwirksame
Wert auf plausible Charakterzeichnungen und stim- Ausstattungen einzusetzen. So kamen etwa 55 v. Chr.
mige Handlungsführung, die er zudem durch die im Kontext der Einweihung des Pompeius-Theaters
Verdoppelung der Handlungsstränge kunstvoll in Rom bei der Wiederaufführung von Accius‹ Cly-
komplizierte (hierauf weist der Prolog des Heauton- taemestra 600 Maultiere und von Naevius’ Equus
timorumenos ausdrücklich hin; vgl. Görler 1972). Troianus 3000 Mischkrüge zum Einsatz (Cicero, ep.
Ferner löste er den Prolog, in dem traditioneller- ad fam. 7,1,2). Ferner reizte offenbar römische Aris-
weise dem Zuschauer wichtige expositorische Infor- tokraten die Möglichkeit der literarischen Form: Ci-
mationen gegeben wurden, aus dem Stück und ceros Bruder Quintus schrieb Tragödien, Caesar so-
machte daraus Partien, in denen die Rolle des Thea- gar einen Oedipus (Sueton, Caes. 56,7) und Augustus
terdirektors literarkritische Erörtungen führt. Te- einen Aias (Sueton, Aug. 85), den er jedoch nicht zu
renz rechnete also auf kundige Zuschauer, die auch publizieren wagte. Literarhistorisch bedeutsam wa-
ohne die Anleitung des Prologs aus den eröffnenden ren diese Texte freilich nicht. Prägend dagegen wur-
Szenen eines Stückes den erforderlichen Gesamtzu- den Pacuvius, der Neffe des Ennius, und Accius. Von
sammenhang erschließen konnten. Zudem gewann ihren Tragödien sind insgesamt mehrere hundert
er mit der neuen Möglichkeit des extratextuellen Fragmente erhalten, die jedoch nicht für weiterrei-
Kommentars ein Instrument, seine Komödienkunst chende Rekonstruktionen taugen. Doch verraten sie
zu erläutern. Bezeichnenderweise bedient er sich die Sprachmächtigkeit dieser Tragiker, ihr Talent zu
hierbei der Strategie, einen – nicht namentlich ge- kühnen Wortneubildungen und affektgeladener
nannten – altmodischen Kritiker und Dichter einzu- Darstellung. 12 für Pacuvius und 45 für Accius be-
führen, gegen dessen Anwürfe die Verteidigung er- zeugte Trägödientitel zeigen, dass auch entlegenere
folgt. Von besonderer Bedeutung ist dabei wiederum griechische Mythen behandelt wurden. Beide Dich-
der Prolog des Heautontimorumenos, in dem Terenz ter schufen außerdem Tragödien nach römischen
Tadel findet, weil er »viele griechische Komödien Stoffen. Zwei hochberühmte Tragödien aus der frü-
beschmutzt (contaminasse) habe, während er nur hen Kaiserzeit sind verloren: der Thyestes des Varius
wenige lateinische daraus gemacht habe« (V. 17 f.). Rufus, mit dem Octavian 29 v. Chr. seinen Sieg über
2. Antike 189

Antonius bei Actium feiern ließ, und die Medea des 1972), setzte das Christentum in der Spätantike den
Ovid. Beide Stoffe finden sich erneut behandelt im Aufführungen, die unlöslich mit paganen Kulten
Corpus der Tragödien des Seneca (4 v. Chr. bis 65 verknüpft geblieben waren, ein Ende. Dramatische
n. Chr.). Die hier versammelten zehn Dramen, neun Texte blieben indes Gegenstand des Schulunterrichts
Tragödien nach zentralen griechischen Mythen und in Ost (hier zumeist Euripides) und West (hier
eine Praetexta, machte offenbar der Name Senecas, wurde Terenz bedeutsam), ihre Lektüre, das zeigen
den auch die christliche Kultur der Spätantike und Zitate und Anspielungen in christlichen Texten, ge-
des Mittelalters als Moralisten schätzte, wertvoll ge- hörte weiterhin zu den Voraussetzungen, Teil der ge-
nug für die Bewahrung. Dass unter den Stücken mit bildeten Oberschicht zu sein.
der Praetexta Octavia und dem Hercules Oetaeus
zwei Dramen unbekannter anderer Dichter überlie-
fert sind, ist ein ähnlich glücklicher Umstand wie im Literatur
Fall des Rhesos. PCG: Poetae Comici Graeci. Edd. R. Kassel et C. Austin.
Wann und zu welchem Zweck Seneca die acht Berlin/New York 1984 ff.
Tragödien Hercules furens, Troades, Medea, Phaedra, Blänsdorf, Jürgen: »Voraussetzungen und Entstehung der
Oedipus, Agamemno, Thyestes, Phoenissae (das Stück römischen Komödie«. In: Lefèvre 1978, 91–134.
ist unvollständig) geschrieben hat, ist umstritten. Blänsdorf, Jürgen: »T. Maccius Plautus [§ 127] bzw. »P. Te-
rentius Afer« [§ 129]. In: Suerbaum 2002, 183–228 bzw.
Denkbar ist, dass Seneca mit ihnen seine Amtsfüh- 232–253.
rung als Prätor begleitete, jedoch auch, dass sie als Blume, Horst-Dieter: Einführung in das antike Theaterwe-
reine Lese- bzw. Rezitationsdramen nie aufgeführt sen. Darmstadt 1978.
wurden (wofür bestimmte dramaturgische Prob- Burkert, Walter: Greek Tragedy and Sacrificial Ritual. In:
Ders.: Kleine Schriften VII. Tragica et Historica, hg. v.
leme des Textes Indiz sein könnten, vgl. Zwierlein Wolfgang Rösler. Göttingen 2007, 1–36.
1966), daher auch in der Zeit nach Senecas Rückzug Cancik, Hubert: »Die republikanische Tragödie«. In: Le-
aus der Politik entstanden sein dürften. Seneca fèvre 1978, 308–347.
scheint die Linie, die sich in den Fragmenten des Pa- Csapo, Eric/Miller, Margaret C. (Hg.): The Origins of Thea-
cuvius und Accius angedeutet findet, fortzuführen: ter in Ancient Greece and beyond. Cambridge 2007.
Easterling, Patricia E. (Hg.): The Cambridge Companion to
Sprachlich wie inhaltlich zeichnet seine Stücke ein Greek Tragedy. Cambridge 1997.
dichtes intertextuelles Verweissystem auf die literari- Flashar, Hellmut: Sophokles. Dichter im demokratischen
sche Tradition, aber auch eine Rhetorik und Technik Athen. München 2000.
der (Über-)Steigerung aus (Seidensticker 1985). Föllinger, Sabine: Aischylos. Meister der griechischen Tragö-
die. München 2009.
Man kann von einem ›Affektstil‹ (vgl. Regenbogen Fraenkel, Eduard: Plautinisches im Plautus. Berlin 1922.
1930) sprechen, durch den hyperbolisches Sprechen Fuhrmann, Manfred: »Lizenzen und Tabus des Lachens –
und Handeln (Figuren wie Medea oder Atreus be- Zur sozialen Grammatik der hellenistisch-römischen
mühen sich ausdrücklich darum, in ihrer Rache vor- Komödie«. In: Preisendanz, Wolfgang/Warning, Rainer
gegebenes Maß zu übertreffen) zu einem Kunstwerk (Hg.): Das Komische. München 1976, 65–102.
Giuliani, Luca: Rez. von Taplin 2007. In: Gnomon 81
höchster Wirkungsintensität beitragen. Dass die Fi- (2009), 439–447.
guren in ihrer Psychologie auf stoischen Konzeptio- Görler, Woldemar: »Doppelhandlung, Intrige und Anag-
nen beruhen, ist wohl kein Hinweis auf eine entspre- norismos bei Terenz«. In: Poetica 5 (1972), 164–182.
chende didaktische Intention, nach der anhand der Gregory, Justina (Hg.): A Companion to Greek Tragedy. Ox-
ford 2005.
Exzesse in den Tragödie für stoische Affektbeherr- Heldmann, Georg: »Die griechische und lateinische Tragö-
schung geworben werden soll, sondern demon- die und Komödie in der Kaiserzeit«. In: Würzburger
striert, dass Seneca das Handeln der Figuren nach Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 24 (2000), 185–
der seinerzeit gängigen Theorie über menschliches 205.
Handeln plausibel machen wollte. Herter, Hans: Vom dionysischen Tanz zum komischen Spiel.
Iserlohn 1947.
In der Kaiserzeit veränderte sich der Theaterbe- Hose, Martin: »Post-Colonial Theory and Greek Literature
trieb insofern, als bei den diversen Anlässen für Auf- in Rome«. In: Greek, Roman & Byzantine Studies 40
führungen bis zur Spätantike immer häufiger statt (1999), 303–326.
ganzer Stücke nur noch einzelne Szenen oder beson- Hose, Martin: »Hauptpersonen und Gegenspieler. Zu den
Verwendungsweisen von Figurenperspektiven bei So-
ders wirkungsvolle Partien gespielt wurden (vgl. phokles«. In: Philologos 144 (2000), 29–44.
Heldmann 2000). Mit dem Verdikt, es handele sich Hose, Martin: Euripides. Dichter der Leidenschaften. Mün-
bei den Schauspielen um »pompa diaboli« (Jürgens chen 2008.
190 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

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3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 191

3. Gattungen des nicht- 1443) zu, der im Knabenalter vom gemeinen Schau-
spieler (von ›Bettler-Status‹) zum Favoriten des Sho-
europäischen Theaters gun avanciert und in die Praktiken höfischer Künste
eingeführt wird. Zeami gelingt die Verschmelzung
3.1. Japanisches Theater von volkstümlicher Theaterpraxis (sein Vater,
Kan’ami Kiyotsugu, 1333–1384, hatte noch synko-
3.1.1 No--Drama pierte Rhythmen von Vagantentänzerinnen in seine
Stücke aufgenommen) mit anspruchsvollen Formen
Die älteste überlieferte Theatergattung Japans, heute klassischer Künste, v. a. der Dichtung (des altertüm-
als Nō bekannt (ursprünglich sarugaku) entsteht in lichen waka, aber auch der modernen Kettendich-
der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in einer Zeit tung, renga).
großer sozialer und kultureller Mobilität, infolge der Diese Fusion bewirkt eine bewusste Abkehr von
Konsolidierung der Machtherrschaft der Krieger- der mimetischen Darstellung dramatischer Hand-
kaste. Es treffen darin volkstümliches Schauspiel – lungen auf der Bühne (wie sie bis dahin üblich war)
Erbe uralter Darstellungskünste lokalen sowie chi- zugunsten einer betont lyrischen Form, die zum Mo-
nesischen Ursprungs (san yüe, der europäischen nodrama tendiert, d. h. auf die Figur des Protagonis-
musica irregularis ähnlich) – und Elemente höfi- ten ausgerichtet ist. Zugleich verschwinden die ko-
scher Künste zusammen. Auslöser ist der Wechsel mischen Episoden aus dem Nō – Spuren von Komik
der gildenartig (za) organisierten Schauspielergrup- sind noch in älteren Stücken, z. B. Kan’amis erkenn-
pen vom religiösen Patronat der Klöster zur Schirm- bar – und werden der Schwestergattung Kyōgen
herrschaft des Kriegeradels (Shogunat). Die neue ge- überlassen, die als heiteres Lustspiel (schriftlich fi-
sellschaftliche Positionierung einer kleinen privile- xiert erst seit dem 17. Jahrhundert in einem künstli-
gierten Gruppe von Schauspielern befördert die chen Bühnenidiom, das Elemente der Alltagsspra-
Abgrenzung von konkurrierenden Gattungen (ins- che mit der literarischen Sprache verbindet) zwi-
besondere von den ländlichen dengaku) und führt schen Nō-Stücken in den Tagesprogrammen
innerhalb weniger Jahrzehnte zur Blüte einer litera- auftaucht, während das Nō im Lyrisch-Pathetischen
risch ausgeformten, in musikalischen und choreo- angesiedelt bleibt – Tragik im Sinne aristotelischer
grafischen Strukturen eingebundenen und mit die- Poetik entwickelt sich nicht.
sen zu einer Einheit verschmelzenden neuen Thea-
terform. Diese wird bis in die Gegenwart in Theater- und Dramentheorie
professionellen Schauspielerschulen tradiert: Vier Zur Legitimierung und Sicherung des Fortbestehens
der heute aktiven Nō-Schulen gehen auf das 14. seiner Schule entwirft Zeami ein umfangreiches
Jahrhundert zurück, eine fünfte entstand im 17. Corpus theoretischer Schriften (21 Traktate) und
Jahrhundert. Ihre Stabilität verdankt die Gattung der beansprucht damit die Aufnahme in die Reihe eta-
Verankerung im Zeremonialwesen des Shogunats blierter Künste. In Themenwahl, Aufbau und Argu-
(bis zu dessen Abschaffung im späten 19. Jahrhun- mentation greift er auf intellektuelle Strukturen und
dert), der Aufnahme von Nō-Gesang und -Tanz als Terminologie höfischer Disziplinen zurück, geht
eigenständiger Disziplinen in das Erziehungscurri- aber in der Vielfalt der Ansätze weit über die vor-
culum der Samurai, neben den martialischen Küns- handenen Traktate der waka-Poesie oder Ketten-
ten sowie der Verbreitung dieser Praktiken in weiten dichtung hinaus. Zeamis Texte enthalten u. a.: Fra-
bürgerlichen Kreisen. Das Nō der Moderne baut gen zu Ursprung und Geschichte der eigenen Gat-
weiterhin auf ein ausgedehntes, unterstützendes tung; Ansätze einer Theorie der Schauspielkunst,
Amateurwesen und überführt die ethischen Codes inklusive Definition eines Ethos des Berufsstandes;
der Kunst in identitätsstiftende nationale Diskurse. Überlegungen zu einer Dramentheorie und Anlei-
Das Fortbestehen der Kunst hängt heute darüber tungen zum Verfassen von Stücken; Ausführungen
hinaus von der Existenz einer praktizierenden, spe- zu Musik und Tanz; Grundzüge einer Ästhetik der
zialisierten Gemeinschaft ab, die den Kern ihres kri- Aufführung, einer Wirkungsästhetik, die auf das Zu-
tischen Publikums bildet. sammenspiel von Schauspieler und Publikum ein-
Die entscheidende Rolle in der Erschaffung der geht.
elitären Kunstgattung kommt dem Schauspieler, Au- Die Orientierungsachse bildet die Idee des ›We-
tor und Theoretiker Zeami Motokiyo (ca. 1363– ges‹ – eine übergreifende Metapher für professionel-
192 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

les Werden, die im mittelalterlichen Japan alle kunst- trakte stilistische Prototypen ein (Himmelsfee; alter
bezogenen Diskurse beherrscht. Der ursprünglich Mann; Krieger). Die Verinnerlichung des Rollentyps
religiöse Begriff (chin. dao, jap. michi, in Komposita ist folglich wichtiger als die mimetische Darstellung
dō), der in buddhistischer Lesung den Pfad zur Er- – dies schlägt sich beispielhaft in zurückgenomme-
leuchtung (Buddhawerdung) benennt, erhält in den ner Gestik (»Bewege den Geist zu zehn Teilen, den
Nō-Traktaten eine Fülle neuer Konnotationen und Körper zu sieben Teilen«) bis hin zum Gebot des
beschreibt den Lebenslauf als professionelle Reifung, ›Nicht-Agierens‹ (das dem Zen-Begriff des ›Nicht-
als Vervollkommnung in der praktizierten Kunst, Tuns‹ nahe kommt) nieder. Es sind dies Ansprüche
welche ihrerseits an den Zustand der Erleuchtung einer minimalistischen Kunst, die in Traktaten von
rückgekoppelt wird. Wie im Verständnis des Zen, Zeamis Nachfolger, Konparu Zenchiku (1405–1470)
kommt dabei der Praxis der Vorrang vor intellekti- weiterhin verstärkt werden. Wirkungsästhetik
ven Prozessen zu. Am Konzept des ›Weges‹ lagert nimmt in Zeamis Denken einen zentralen Platz ein:
Zeami die Lehre der Schauspielkunst an: das Gebot Er situiert das theatrale Ereignis in der ständigen In-
der Spezialisierung (des ›einzigen Weges‹ des Schau- teraktion von Schauspieler und Zuschauer und ent-
spielers, unter Ausschluss anderer Disziplinen); die wirft (wohl an die Techniken der aufkommenden
Strukturierung des Lernpensums nach Altersstufen martialischen Künste angelehnt) Strategien zur Ein-
(mit spezifischen Aufgaben von der Kindheit bis stimmung und Reaktion auf Imponderabilien der
zum hohen Alter); die normative Gradierung der Aufführung, wie Publikum, Ort, Jahres- und Tages-
Kunstfertigkeit (in neun Stufen; in drei Stufen etc.); zeit.
das Verhältnis von erlernbaren Techniken und intui- Im Laufe der Jahrhunderte entfernt sich die Spiel-
tiver Erkenntnis; das Gebot der Geheimhaltung be- technik allmählich vom Gebot der Flexibilität und
rufsspezifischer Erfahrungen. Auf den Wegbegriff, Geistesgegenwart und entwickelt vielmehr ein Sys-
der normativ ethische Komponenten bündelt, bezie- tem von konventionellen, stereotypen Formen (kata,
hen sich die Übungslehre sowie die Praxis der – die Bewegungseinheiten), das in späteren Phasen
mündlichen, aber auch verschriftlichten – Überliefe- zur hieratischen Starre tendiert. Das stilisierte Büh-
rung der Kunst über Generationen hinweg, welche nenidiom kündigt sich bereits in Traktaten des 16.
der Gattung Geltung und Stabilität sichern soll. Jahrhunderts (Konparu Zenpō) an und verfestigt
Die Theorie der Schauspielkunst stützt sich auf ei- sich zunehmend nach 1600. Der strengen Gramma-
nige wirkungsästhetische bzw. normative Begriffe, tik der Gesten entsprechen der Verzicht auf Bühnen-
die ihrerseits religiösen oder ästhetischen Diskursen bild (das Nō bleibt überwiegend Freilichttheater bis
der Zeit entliehen, doch mit neuen (meist variablen) in die Moderne), die Reduzierung der Requisiten auf
Akzenten angereichert sind: hana (die Blüte), mezu- einzelne symbolbeladene Objekte, der verstärkte
rashiki (das Interessante/das überraschend Neue); Einsatz von Masken und deren zunehmende Typen-
shoshin (die unvoreingenommene, frische Geistes- vielfalt (Stereotype).
haltung). Über die realistisch nachahmende Darstel-
lung (monomane) setzt Zeami das den Poetologien Nō als literarisches Drama: Aufbau, Personen, Stoffe,
entliehene normative Prinzip yūgen, mit dem er den Schauplätze, Sprache
elitären Anspruch der neuen Gattung anmeldet: Die Zeamis große Leistung ist die Erschaffung einer
Variationsbreite des Begriffs in seinen Schriften neuen Dramenform, in der die lineare Handlung
reicht von ›eleganter Erscheinung‹ bis hin zur ›tief- durch poetisch-musikalische Strukturen abgelöst
gründigen Anmut‹. Entsprechend misst er der wird: das zweiteilige Traumspiel (moderner Termi-
Zeichnung von Charakteren oder Personentypen nus mugen-nō), das die Kraftfelder der Kunstgattung
weniger Gewicht bei: monomane (die mimetische Nō sozusagen idealtypisch freilegt. Eine konventio-
Darstellung) tritt hinter die zwei Hauptmedien Ge- nelle Rahmenhandlung – in der die rituelle Bindung
sang und Tanz zurück. Zwar entwirft er einen mit des Theaters hervortritt – folgt dem Schema eines
spezifischen Spielanweisungen versehenen Rollen- Offenbarungsrituals vom Typ incubatio: Ein wan-
katalog mit neun Sparten (Frau; Greis; unmaskierter dernder Mönch erreicht auf seiner Pilgerreise (via
Mann; Verrückter; buddhistischer Priester; Krieger; sacra) einen bedeutungsvollen Ort, an dem er im
göttliches Wesen; dämonisches Wesen; Chinese), Traum eine Offenbarung erfährt. Dramatischer Eck-
doch orientiert sich diese Vielfalt nicht so sehr an punkt ist sein Zusammentreffen mit einer unbe-
konkreter Beobachtung, sondern fließt in drei abs- kannten Person, die sich als dem Ort auf geheimnis-
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 193

volle Weise verbunden erweist: als genius loci oder ten aus dem Lebensumfeld der Schauspieler niede-
aber Avatar eines Verstorbenen, dessen Vorge- ren Standes; Themen wie Sklavenhandel, bittere Ar-
schichte mit dem Ort verbunden ist. Das Drama er- mut, zum Wahnsinn führende Ohnmacht etc. fin-
schöpft sich in der kunstvoll verzögerten Preisgabe den sich meist in Stücken außerhalb der Traum-Nō.
der Identität dieser geheimnisvollen Figur: Nach Im Epiphanie-Szenario wird die Einheit von Zeit
kryptischen Anspielungen im Dialog mit dem und Ort vorausgesetzt. Dem Schauplatz kommt im
Mönch verschwindet der (die) Unbekannte, um sich Drama eine zentrale Rolle zu, das Nō-Repertoire
im zweiten Teil des Nō in veränderter, »wahrer« Ge- zeichnet geradezu eine literarische Topografie des
stalt im Traum des Mönchs zu offenbaren (in lyri- klassischen Japan nach, die verankert ist in Knoten-
schem Gesang und im Tanz). punkten des poetischen Gedächtnisses. Dies setzt
Im Traumspiel definiert sich das Nō als Drama beim Rezipienten Vertrautheit mit dem dichteri-
der Verwandlung und Theater der Epiphanie, vom schen Vermächtnis und dem Regularium der klassi-
Auftrag beseelt, das Unsichtbare (das Numinose) auf schen Poesie bzw. der Kettendichtung voraus. Denn
der Bühne heraufzubeschwören, der buddhistischen die Entstehung des Dramas folgt nach Zeami einem
Weltsicht vom Illusorischen der Wirklichkeit ver- dreistufigen Prozess: die Wahl des Stoffes (shu = der
pflichtet. Dies wird in der Rekurrenz von Verdoppe- Samen/Kern); die Gestaltung (saku = das Gerüst, der
lung und Spiegelmetaphern in den Dramen verstärkt Aufbau); die wörtliche Formulierung (sho = das Nie-
(Traum, Wasserspiegel, rituelle Spiegel etc., aber derschreiben). Darin problematisiert er intertextu-
auch psychische Zustände, welche die Destabilisie- elle Techniken (den Umgang mit literarischen bzw.
rung der Wahrnehmung andeuten: Trunkenheit, intermedialen Motiven), den Aufbau des Dramas
Wahnsinn). Die verstörende Instabilität von Wirk- nach Modellen der musikalischen Progression sowie
lichkeit wird durch Requisiten erhöht, welche Tran- das Verhältnis von Wort und Gesang, bzw. Wort und
sition, Transformation bzw. Krise konnotieren: Wa- Tanz (die bestimmende Funktion der musikalisch-
gen, Boot, Grab. choreografischen Elemente).
Die Rahmenhandlung setzt die (ontologisch) Die Entstehung des Textes ist dabei in der letzten,
asymmetrische Personenkonstellation fest. Waki dritten Phase angesiedelt. Der Text wird in eine
(der Deuteragonist: immer männlich, meist ein (fünfgliedrige) poetisch-musikalische Progression
Mönch, ohne spezifische Charaktermerkmale) trifft jo-ha-kyū (in etwa: feierlicher Auftakt – ausgearbei-
auf shite (den Protagonisten, männlich oder weib- tetes Mittelstück – finale furioso) eingefügt, wie sie in
lich), ein doppelbödiges Wesen, schwankend zwi- der höfischen Musik, aber auch in der Theorie der
schen Sein und Schein. Beide können von Begleit- Kettendichtung formuliert wurde. So bietet das
personen (tsure) flankiert sein. Während waki eine Drama (das Libretto) ein Nebeneinander heteroge-
konventionelle Funktion zukommt – sozusagen als ner Elemente: konventionelle Prosapartien, stereo-
Medium und Helfer, denn meist betet er für die Er- type Dialogpassagen neben lyrischen ›Arien‹ und
lösung des Geistes – obliegt die ganze Bürde des Chorgesängen, an klimaktischen Stellen zu hoch
Spiels dem Protagonisten, der in Wort, Gesang und komplizierten sprachlichen Gebilden verdichtet.
Tanz die Offenbarung greifbar werden lässt. Der in Diese lyrischen Partien weisen die ganze Spann-
späterer Zeit (im 16. Jh.) entwickelte Chor (heute breite klassischer und mittelalterlicher prosodischer
meist acht Personen) übernimmt poetische Teile des Formen auf. Semantisch »verwandte Wörter« (engo)
Dialogs bzw. des Monologs des Protagonisten. und Varianten von Paronomasie (kakekotoba) beför-
Voraussetzung für die Wirkung des Stücks ist der dern die Vieldeutigkeit und Doppelbödigkeit des
hohe Bekanntheitsgrad des Helden und seiner Ge- Textes, leitmotivisch eingesetzte Metaphern steuern
schichte, in Zeamis Worten die vertraute literarische die Entwicklung des Dramas und ersetzen eine line-
Quelle (honzetsu). Es treten im Nō Gottheiten und are Handlung.
Dämonen auf, Kavaliere und Hofdamen aus der So zum Beispiel im berühmten Frauenstück
klassischen Literatur (verfangen in ihren Liebesdra- Izutsu (Am Brunnenrand), das auf eine bekannte
men und höfischen Intrigen), aber auch auf dem Liebesgeschichte aus der klassischen Prosasamm-
Kampffeld gefallene berühmte Krieger, unglückliche lung Ise monogatari (ca. 10. Jh.) zurückgreift: Zeami
Kurtisanen und Unterhalterinnen aus den populä- bricht die Narration auf und lässt den Text aus einem
ren, von blinden Mönchen zur Laute rezitierten Leitmotiv heraus wachsen und um dieses herum-
Kriegerepen. Nur selten entstammen die Geschich- kreisen. Dies ist ein Gedicht aus der alten Erzählung,
194 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

das bruchstückhaft in den Arien der Hauptfigur (ei- ein Miszellenspiel als mittlerer, elaborierter Teil, und
ner unscheinbaren Frau aus dem Dorf bzw. Geist der zum Abschluss ein in hohem Tempo gipfelndes Dä-
verstorbenen Liebenden) anklingt, um erst am Hö- monenstück. Das standardisierte Repertoire der fünf
hepunkt des Dramas zusammenhängend vorgetra- Nō-Schulen enthält heute fast ausschließlich Stücke,
gen und in die Geschichte eingefügt zu werden. Die- die vor 1600 geschrieben bzw. komponiert wurden
ser Höhepunkt erlangt die Stringenz eines Psycho- (von Kan’ami, Zeami, Motomasa, Zenchiku, Miya-
dramas in einer unio mystica, ausgelöst durch masu, Nobumitsu, Zenpō), bei einer Gesamtzahl
Eintauchen in die Wasser der Erinnerung: Die Frau, von über 3000 existierenden Texten aus verschiede-
die das Gewand des Geliebten angezogen hat, er- nen Epochen.
kennt halluzinierend dessen Gestalt im eigenen Die poetische Dichte der Dramen erschließt sich
Spiegelbild im Brunnen. freilich nicht unmittelbar dem unvoreingenomme-
Andere Dramen erwachsen – wie das Götterstück nen Zuschauer, sie entgeht sogar oft den Schauspie-
Aioi (modern: Takasago) – aus einem Wortspiel (aioi lern selbst. Auch das buddhistische Weltbild, das die
erlaubt zwei Lesarten: »zusammen wachsen« und Dramen transportieren, ist dem modernen Rezipi-
»zusammen altern«), welches ein in Fernehe gealter- enten fremd geworden. Die Distanz verstärkt den
tes Götterpaar auf die Bühne bringt, gleichzeitig Anspruch dieses mentalen Theaters an seine Zu-
aber, durch Metonymie, ein Lobpreis auf zwei klassi- schauer: Die auf leerer Bühne in abstrakter, minima-
sche Gedichtanthologien anstimmt. Oder aber das listischer Gestik verschlüsselten Dramen verlangen
vielleicht autobiografisch angehauchte Dämonen- vom Publikum Vorwissen, Vertrautheit mit den se-
spiel Nue (Nachtuhle), in dem das flache Bild eines miotischen Systemen und eine hohe Konzentrati-
Monstervogels (als Quelle dient eine Episode aus ei- onsfähigkeit, bevor sie ihren poetisch-musikalischen
nem Kriegerepos) als Ausgangspunkt für die Entfal- Reichtum preisgeben. Doch auch jenseits dieser Prä-
tung eines Dramas des verbannten, aus der Gesell- missen wirkt die pulsierende Energie der Auffüh-
schaft ausgestoßenen Außenseiters dient. Auch hier rung, das Zusammenspiel der Töne und Körperbe-
wirken Inversion und Verzögerung als poetisches wegungen, der Timbres und der fluktuierenden
Koagulans. Der Geist des erlegten Monsters, in ei- Rhythmen – in ständigem Fluss zwischen Musikins-
nen Einbaum flussabwärts ins Meer getrieben, kehrt trumenten, Stimmen und Gestik – eine unmittelbare
wieder (aus dem Jenseits) als düsterer Fährmann ans Wirkung auf den heutigen Zuschauer aus.
Ufer und beklagt in eindringlichen, durch Allitera-
tion, Homonymie oder engo sein Schicksal. In seiner
Klage fließen Landschaftsbeschreibung und innere 3.1.2 Puppentheater
Welt ineinander, in Abfolgen von Bildern, die durch
Alliteration und Metonymien verknüpft sind: utsuo- Im Zuge der sozioökonomischen Veränderungen in
bune (Einbaum), utsutsu ka yume ka (ist’s Wirklich- der Übergangsphase vom Mittelalter zur frühen
keit oder Traum?), nami ga utsu (ans Ufer schla- Neuzeit (Ende 16./Anfang 17. Jahrhundert) entsteht
gende Wellen), um nur ein Beispiel zu geben. Wie das Kabuki- und Puppentheater vor dem Hinter-
hier werden in den meisten Stücken klassische Ge- grund der zunehmenden Verstädterung und dem
schichten, umgeformt, komprimiert, durch neue damit einhergehenden Anstieg des Handels. Beide
Deutungen angereichert, oft auch gegen den Strich kommerziell geprägten Kunstformen, die auf jeweils
gelesen. unterschiedliche Entwicklungsgeschichten zurück-
Das Beharren auf Verdichtung und Anspielung blicken, sich aber im Laufe der Geschichte immer
anstelle linearer Narration hat knappe, konzentrierte wieder gegenseitig beeinflussen, teilen sich dasselbe
Texte hervorgebracht, deren Aufführung zu Zeamis Publikum, das zu einem Großteil aus der neu ent-
Zeit kaum über 25–30 Minuten hinausging (was in standenen Schicht der Kaufleute besteht.
der auffällig verlangsamten modernen Aufführung Das traditionelle japanische Puppentheater setzt
freilich nicht mehr erkennbar ist). Ursprünglich um- sich aus den Elementen Vortragskunst, Musik und
fassten Tagesprogramme bis zu 25 Stücke (zu denen Puppenspiel zusammen, die sich Ende des 16. Jahr-
die Kyōgen-Zwischenspiele hinzukamen), doch hat hunderts vereinigen. Die Verbindung von monodi-
sich später eine exemplarische Abfolge von fünf Stü- schem Vortrag und musikalischer Begleitung auf
cken entwickelt: Einem feierlichen Götterspiel als dem Saiteninstrument Shamisen erweist sich als
Auftakt folgten jeweils ein Krieger-, ein Frauen- und sehr erfolgreich und etabliert ein Genre, das aus der
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 195

Rückschau als ko-jōruri (altes Jōruri) bezeichnet danmonoshū) abgedruckt und wenden sich nicht
wird. Dieses verbindet sich mit dem Puppenspiel nur an ein professionelles, sondern auch an ein lai-
kontinentalen Ursprungs. In den folgenden zwei- enhaftes Publikum, das sich die Textsammlungen
hundert Jahren erlebt das Puppentheater (Jōruri, kauft, um der Rezitation als Freizeitbeschäftigung
später auch Bunraku) seine Blütezeit. nachzugehen.
Im Jahre 1684 eröffnet der Rezitator Takemoto In den verschiedenen Texten werden Fragen zur
Gidayū (1652–1714), der eng mit dem Dramatiker Gattungsgeschichte, Ausbildung, Affektenlehre und
Chikamatsu Monzaemon (1653–1742) zusammen- Wirkungsmechanismen sowie dramentheoretische
arbeitet, sein eigenes Theater in Osaka. Besonders Überlegungen und die Besonderheit der doppelten
die bürgerlichen Dramen (sewa-mono), die zunächst Fiktionalität des Puppentheaters diskutiert. Den
im Kabuki auftauchen und mit Chikamatsus Stück Konventionen ästhetischer Diskurse im vormoder-
Sonezaki shinjū (Doppelselbstmord in Sonezaki, nen Japan entsprechend werden Rhetorik, Themen
1703) auch auf der Puppenbühne Einzug halten, sor- und Argumentationsstrukturen von vorangehenden
gen für Aufsehen – noch bevor Lessing mit Miss Sara Diskursen, besonders denen der höfischen Dichtung
Sampson 1755 im deutschsprachigen Raum die Stän- (waka-Poetik) und ihr Niederschlag in den Nō-
deklausel bricht und erstmals ein solches Stück ver- Theorien als Referenzrahmen zitiert.
fasst. Oftmals sind es Stoffe über Emporkömmlinge Wenn diese Texte weiterhin eine deutliche Anleh-
unter den Händlern und Kaufleuten, die sich un- nung an poetologische, dramaturgische und ästheti-
glücklich in die Prostituierten der Freudenviertel sche Diskurse des Mittelalters zeigen, beziehen sie
verlieben und mit ihnen gemeinsam in den Tod ge- sich doch v. a. auf die Erfordernisse des neuen Gen-
hen, die das beliebte Sujet der Doppelselbstmord- res, darüber hinaus auch auf die veränderten sozia-
Stücke (shinjū-mono) abgeben. len Strukturen, in denen sich dieses Genre etabliert.
Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verliert So lässt sich beispielsweise eine Beziehung zwischen
das Puppentheater den Großteil seines Publikums dem Konzept des yūgen (›elegante Erscheinung‹
an das aufstrebende Kabuki, so dass bis 1767 alle bzw. ›tiefgründige Anmut‹) und dem Begriff urei
wichtigen Spielstätten geschlossen werden. Erst 1871 (Schmerz, Traurigkeit, Kummer) erkennen, der sei-
entsteht in Osaka mit dem Bunraku-za ein neuer nerseits in dramaturgischer Hinsicht im Rahmen
zentraler Spielort für das Puppentheater, der 1909 der theoretischen Traktate aber auch auf performati-
zwischenzeitlich unter die kommerzielle Ägide der ver Ebene innerhalb der musikalischen Auffüh-
Unterhaltungsfirma Shōchiku gerät und im Jahre rungsterminologie zur Anwendung kommt. Demge-
1926 durch eine Feuersbrunst zerstört wird. Heute genüber verweisen Begriffe wie nagusami (Unterhal-
ist das Puppentheater v. a. durch staatliche Hilfen tung) auf den gestiegenen Stellenwert eines
wiederbelebt und hat seit 1984 mit dem National Publikums, das in enger Verbindung zur Gattung
Bunraku Theatre in Osaka wieder eine zentrale steht. Der Rezitator Uji Kaganojō (1635–1711) ori-
Spielstätte. Eine besondere Herausforderung für die entiert sich in der Frühphase ästhetischer Diskurse
Zukunft stellt die Rekrutierung und erfolgreiche erkennbar stark am Nō-Theater, in dessen Traditi-
Ausbildung des Nachwuchses dar. onslinie er das Puppentheater verortet, wohingegen
Takemoto Gidayū (1651–1714) als Modernisierer
Theorie sich stark davon abgrenzt und die Rezitationskunst
In Anlehnung an die Traktate des Nō-Theaters, das für Einflüsse der zeitgenössischen populären Musik
durch seine Einbindung in das Zeremonialwesen des öffnet.
Shogunats im 17. Jahrhundert bereits fest etabliert
und gesellschaftlich akzeptiert ist, bemühen sich die Aufführungspraxis
Rezitatoren des Jōruri ebenfalls um Legitimation Sowohl in den fest installierten Theaterhäusern für
und Absicherung des Fortbestandes der jeweils eige- das Puppentheater als auch bei Aufführungen an-
nen Kunstform. Im Unterschied zu den komplexen lässlich von Tempel- und Schreinfestivitäten kom-
Nō-Traktaten, die in geheimer Überlieferung (hi- men zunächst vergleichsweise schlichte Handpup-
den) vom Meister zum Schüler überliefert werden, pen aus Holz, Ton und Stoff zum Einsatz, die im ver-
werden die Theoreme im Puppentheater fragmenta- deckten Spiel von je einem Puppenspieler
risch in Paratexten (zumeist Vor- oder Nachworte) manipuliert werden. Doch im frühen 18. Jahrhun-
von Periochensammlungen (Dramenauszügen, dert beginnt sich eine Mischform von verdecktem
196 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

und offenem Spiel durchzusetzen, bei der sowohl kusenya kassen (Die Schlacht von Coxinga, 1715)
der Rezitator als auch der begleitende Shamisen- berühmt, doch die prominentesten Beispiele stam-
Spieler und zunächst noch einzelne Puppenspieler men von dem Autorenteam Takeda Izumo II (1691–
sichtbar vor dem Publikum auftreten. Im Zuge des- 1756), Matsuda Bunkōdō, Miyoshi Shōraku und Na-
sen werden die Puppen deutlich größer und komple- miki Sōsuke (1695–1751), die ihre Stücke gemein-
xer, was ein realistischeres Spiel durch nunmehr drei sam (gassaku) schrieben: Sugawara denjū tenarai
Puppenspieler erlaubt, die gemeinsam je eine Puppe kagami (Überlieferungen des Sugawara Michizane –
manipulieren. So sind die bis zu 1,50m großen Pup- Ein Spiegel der Schreibkunst, 1746), Yoshitsune sen-
pen in der Lage, mittels komplexer Mechanismen bon zakura (Tausend Kirschbäume – Yoshitsune,
Augen und Mund zu öffnen und zu schließen sowie 1747) und Kanadehon Chūshingura (Ein Schatzhaus
die Finger zu bewegen oder die Augenbrauen zu he- der Vasallentreue oder die 47 Samurai, 1748). In
ben und zu senken. Kopf und Gliedmaßen bestehen dem letztgenannten Stück, dem berühmtesten des
aus weiß lackiertem Holz und sind mit Fäden mit Puppentheater-Repertoires, geht es um das Thema
dem leichten Rumpf verbunden. Diese Verfeinerun- der Blutrache der 47 Samurai, das auf einen histori-
gen spiegeln sich auch in den aufwendigen Perücken schen Vorfall aus den Jahren 1701–1703 zurückgeht
und Kostümen der Puppen wieder, die für jede und für großes Aufsehen sorgte. In Literatur, Thea-
Theaterpuppe nach Rolle individuell zusammenge- ter und Film gibt es zahlreiche Adaptionen dieses
stellt werden. Heute treten die meisten Puppenspie- Motivs. In den bürgerlichen Trauerspielen geht es
ler in schwarzer Kleidung auf, bei der auch Kopf und um die Welt des zeitgenössischen, bürgerlichen Pub-
Gesicht verdeckt werden, um so ihre Unsichtbarkeit likums in den damaligen Großstädten (zumeist
anzudeuten. Osaka und Kioto).
Die Konflikte entstehen aus dem Antagonismus
Stücke von gesellschaftlicher Verpflichtung (giri) einerseits
Über die Autoren der Stücke des alten Jōruri ist we- und persönlichen Gefühlen (ninjō) andererseits und
nig bekannt, Chikamatsu Monzaemon (1653–1725) sind zumeist in den Freudenvierteln verortet, die
gilt als erster historisch greifbarer Dramatiker im den Mittelpunkt des kulturellen Lebens vieler Bür-
Puppentheater und wird als deren Ahnherr (sakusha ger in der Edo-Zeit bilden. In den Doppelselbst-
no ujigami) verehrt, für das Puppentheater schreibt mord-Stücken (shinjū-mono), die oft auf tatsächli-
er über 120 und für das Kabuki-Theater etwa 28 Stü- chen Ereignissen basieren, geht es um die unmögli-
cke. che Liebe eines Sohnes aus bürgerlichem Hause zu
Im Gegensatz zum Kabuki-Theater, wo sich die einer Prostituierten. Chikamatsus Stück Sonezaki
Autoren den Schauspielern komplett unterordnen shinjū (Doppelselbstmord in Sonezaki, 1703) ist das
müssen, um ihnen genügend Material zur Präsenta- erste Stück dieser Gattung und porträtiert die un-
tion ihres schauspielerischen Könnens zu liefern, glückliche Beziehung zwischen dem Bürgersohn To-
können sie sich im Puppentheater in literarischer kubei und der Prostituierten Ohatsu, die erwar-
Hinsicht wesentlich freier entfalten, was zu der ein- tungsgemäß ein tragisches Ende findet. Nahezu alle
zigartigen Situation führte, dass die Dramen, die in Stücke aus dem etwa 250 Dramen umfassenden Ka-
diesem Genre entstanden, zu den größten Meister- non, die zunächst für das Puppentheater geschrie-
werken der japanischen dramatischen Literatur ge- ben worden sind, wurden später vom Kabuki-Thea-
rechnet werden. ter adaptiert.
Inhaltlich lassen sich die Stücke in zwei große Un-
tergattungen aufteilen, die fünfaktigen Historien-
dramen (jidai-mono) und die dreiaktigen bürgerli- 3.1.3 Kabuki-Theater
chen Trauerspiele (sewa-mono). In den Historien-
dramen stehen die Samurai und ihr idealisierter Das Kabuki-Theater ist Japans erste genuin bürgerli-
Ehrenkodex im Vordergrund, so dass dort die Loya- che Theaterform, die sich schon in ihrem frühen
lität dem eigenen Feudalherrn gegenüber, für die die Stadium als eine Unterhaltungskunst mit unver-
Protagonisten Selbstmord begehen oder gar die eige- kennbar kommerziellen Zügen präsentiert. Die Syn-
nen Kinder opfern, zum zentralen Motiv avanciert. these von Einzelelementen, die stärker auf das Gesti-
Unter den Historiendramen von Chikamatsu sind sche, den Tanz und die Musik bauen, führen zu einer
Shusse Kagekiyo (Kagekiyo der Sieger, 1685) und Ko- besonders herausragenden Stellung des Schauspie-
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 197

lers, der zum eigentlichen Star des Genres avanciert. 1652 auch zum Verbot des Knaben-Kabuki. In den
Als gattungstypisch sind Merkmale einer besonders folgenden Jahren entwickelt sich daraus das Män-
auf die Schaulust des zu Reichtum gekommenen ner-Kabuki (yarō kabuki) und die Aufführungen
Stadtbürgertums in Kioto, Osaka und Edo (Tokio) und Spielweisen der Frauendarsteller (onnagata)
abgerichteten Unterhaltung zu nennen, die sich ins- werden komplexer. Ab 1664 werden nicht mehr nur
besondere hinsichtlich der prunkvollen Ausstattung einfache Tanzstücke und Einakter (hanare kyōgen),
und der aufwendigen illusionistischen Bühnenef- sondern auch ganze Stücke (tsuzuki kyōgen) auf die
fekte als »barock« erweisen. Farbenfrohe und präch- Bühne gebracht. Die Blütezeit des Kabuki beginnt
tige Kostüme und raffinierte Bühnentechnik und mit der Genroku-Zeit (1688–1704), als sich in Kioto
-ausstattung sind neben einer auf Effekte abzielen- und Osaka der weiche wagoto-Stil und in Edo der
den Spielweise Ausdruck für ein neues Lebensgefühl maskulin-markige aragoto-Stil entwickeln. Der
der bürgerlichen Welt, die nach etwa 150 Jahren Schauspieler Sakata Tōjūrō I (1647–1709), der viel
Bürgerkrieg in einem friedlichen Zeitalter zur Ruhe mit dem Stückeschreiber Chikamatsu Monzaemon
kommt. (1653–1725) zusammenarbeitet, ist der erste be-
Nach der Überlieferung ist es eine Schreintänze- rühmte Vertreter für den wagoto-Stil, in dem häufig
rin (miko) aus dem großen Schrein in Izumo na- die »fließend vergängliche Welt« der Freudenviertel
mens Okuni, die mit ihren Auftritten im späten 16. (ukiyo) abgebildet wird, Ichikawa Danjūrō I (1660–
und zu Beginn des 17. Jahrhunderts lang für großes 1704) prägt in Edo den auf Heldenmotive fokussier-
Aufsehen sorgt. Bei ihren Tänzen, die auf die religiös ten aragoto-Stil, der dem Geschmack der dort statio-
motivierten nenbutsu odori zurückgehen, verkleidet nierten Soldateska eher entspricht. Drei große Thea-
sie sich als Mann und trägt portugiesische Pluderho- ter können sich in Edo behaupten: das Nakamura-za,
sen und ein Kruzifix um den Hals. das Ichimura-za und das Morita-za. Mit der Zeit
Ihre Aufführungen werden als okuni kabuki be- geht man auch dazu über, Puppentheater-Stücke für
zeichnet, wobei das Nomen kabuki auf das (heute das Kabuki umzuschreiben (maruhon mono). Die
nicht mehr gebräuchliche) Verb kabuku zurückgeht erste Kabuki-Adaption eines ursprünglich für das
und in etwa »sich ungebührlich« bzw. »exzentrisch Puppentheater geschriebenen Stückes ist die Neube-
verhalten« bedeutet. Etwa zehn Jahre nach dem Er- arbeitung von Kokusenya kassen im Jahre 1717. Mit
scheinen von Okuni versiegen die Berichte über sie der Übernahme von Stücken aus dem Kanon des
und Prostituierte aus Kioto (Rokujō) übernehmen Puppentheaters geht auch ein musikalischer Wandel
ihre Spielweise, jetzt als onna kabuki bezeichnet. An der Kabuki-Musik einher: Der lyrische Stil der Mu-
den ausgetrockneten Flussbetten (kawara) in dem sik des Kabukis (nagauta) wird durch die sowohl an
Viertel Shijō in Kioto errichten sie ihre abgegrenzten emotionalen Ausdrucksmitteln reichere und virtuo-
Aufführungsstätten, wo das zahlende Publikum ihre sere als auch effektvoller illustrierende Musik des
erotischen Tänze zu der neuen und überaus belieb- Puppentheaters (gidayū bushi) bereichert, woraus
ten Shamisen-Musik bewundert. Nicht etwa morali- sich zahlreiche weitere Unterstile entwickeln.
sche Bedenken, sondern die unerwünschte soziale
Vermischung von Samurai, die in der herrschenden Stücke
konfuzianischen Gesellschaftsordnung an der Spitze Die Stoffe der Kabuki-Stücke, die zu Beginn von den
stehen, mit Händlern, die am anderen Ende dieser Schauspielern selbst und im Folgenden von Drama-
Stufenleiter zu finden sind, waren der Grund, dass tikern geschrieben werden, lassen sich auf verschie-
diese Frauen-Kabukis im Jahre 1629 verboten wur- dene Quellen zurückführen, die z. T. aus der Litera-
den. In den Folgejahren entwickelt sich das sog. wa- tur stammen, wie beispielsweise das Heike monoga-
kashu kabuki (Knaben-Kabuki), das von jungen tari (Erzählungen von den Heike, dramatisches
Männern aufgeführt wird, die, als Frauen verkleidet, Kriegerepos aus dem 12. Jahrhundert über die erbit-
ebenso das erotische Interesse ihres (rein männli- terten Kämpfe der Kriegergeschlechte der Mina-
chen) Publikums auf sich ziehen. Da es auch hier moto gegen die der Taira), aber z. T. auch Inspiration
wieder zu tumultartigen Szenen im Publikum aus tagesaktuellen Skandalen, besonders Doppel-
kommt, das um die Gunst der verführerischen Dar- selbstmorden (shinjū) beziehen. Eine große Anzahl
steller und ihre Dienste wetteifert, kommt es – nach von Stücken ist eine direkte Adaption aus dem Ka-
dem Tod des dritten Shogun Tokugawa Iemitsu, der non des Puppentheaters, andere wiederum stammen
selbst Bewunderer des wakashu kabuki ist – im Jahre aus den Gattungen Nō und Kyōgen, mit meist nur ge-
198 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

ringen Veränderungen. In Anlehnung an die impo- Literatur


sante Kiefer (matsu) der Nō-Bühne werden diese Adachi, Barbara C.: The Voices and Hands of Bunraku. To-
Stücke als matsubae-mono bezeichnet (Beispiele: kyo 1978.
Kanjinchō, Tsuchigumo, Funa Benkei, Migawari za- Barth, Johannes: Japans Schaukunst im Wandel der Zeiten.
zen). Doch es werden auch zahlreiche Stücke eigens Wiesbaden 1972.
für das Kabuki geschrieben wie Shibaraku, Yanone, Brandon, James/Leiter, Samuel: Masterpieces of Kabuki:
Eighteen Plays on Stage. Honolulu 2004.
Rokkasen und Sagi musume. In der Meiji-Zeit (1868– Brazell, Karen/Araki, James: Traditional Japanese Theater:
1912) und auch noch danach werden »Neue Stücke« An Anthology of Plays. New York 1998.
(shin-kabuki) geschrieben, die oftmals auf bereits Cavaye, Ronald/Griffith, Paul/Senda, Akihiko: A Guide to
existierende Sujets aufbauen (Beispiele: Shuzenji mo- the Japanese Stage: From Traditional to Cutting Edge. To-
kyo 2004.
nogatari von Okamoto Kidō 1915; Genroku Keene, Donald (Übers.): Mayor Plays of Chikamatsu. New
Chūshingura von Mayama Seika 1935). Die Stücke York 1961.
lassen sich inhaltlich den drei großen Gruppen jidai- Keene, Donald (Übers.): Twenty Plays of the Nō Theatre.
mono (Historiendramen), sewa-mono (bürgerliche New York 1970
Trauerspiele) und shosagoto (Tanzstücke) zuordnen. Fenno-Quinn, Shelley: Developing Zeami. Honolulu 2005
Gerstle, Andrew (Übers.): Chikamatsu: 5 Late Plays. New
An Untergruppen sind besonders die Geisterstücke York 2001.
(kaidan-mono) und später auch die Räuberstücke Gerstle, Andrew: Circles of Fantasy: Convention in the Plays
(shiranami-mono) hervorzuheben, die v. a. auf Tsu- of Chikamatsu. Cambridge, Mass. 1986.
ruya Nanboku IV (1755–1829) und Kawatake Mo- Hare, Thomas B.: Zeami’s Style. Stanford 1986.
Leims, Thomas: Die Entstehung des Kabuki: Transkultura-
kuami (1816–1893) zurückgehen (Beispiele: Tōkaidō tion Europa-Japan im 16. und 17. Jahrhundert. Leiden
Yotsuya kaidan, Aoto zōshi hana no nishiki-e). 1990.
Leiter, Samuel: A Kabuki Reader: History and Performance.
Schauspieler und Publikum Armonk 2002.
Das Kabuki ist dem Wesen nach ein ausgesproche- Ortolani, Benito: The Japanese Theatre: From Shamanistic
Ritual to Contemporary Pluralism. Princeton 1995.
nes Schauspieler-Theater, so dass den Darstellern Regelsberger, Andreas: Fragmente einer Poetologie von
und ihrer Verehrung durch das Publikum eine im- Puppe und Stimme: Ästhetisches Schrifttum aus dem Um-
mense Bedeutung zukommt. Wenn auch einzelne feld des Puppentheaters im edozeitlichen Japan. München
Schauspieler sowohl als Darsteller von Männer- (ta- 2011.
Saltzman-Li, Katherine: Creating Kabuki Plays. Leiden
chiyaku) als auch Frauenrollen (onnagata) hervor- 2010.
treten, so ist traditionell die Trennung der Rollenfä- Scholz-Cionca, Stanca: Kyōgen. München 1997.
cher üblich. Unter den Männerrollen lassen sich die Scholz-Cionca, Stanca: »Der leidende Dämon: Zeamis
rauen und lauten Darstellungen der Figuren im ara- Nue«. In: Nachrichten der Ostasiatischen Gesellschaft
goto-Stil (Beispiel: Kagemasa in Shibaraku) von den 147/148 (1990), 92–117.
Tyler, Royall: Japanese Nō Dramas. London 2004.
eher sanften des wagoto-Stils unterscheiden. (Bei- Weber-Schäfer, Peter: Vierundzwanzig Nō-Spiele. Franfurt
spiel: Izaemon in Kuruwa bunshō). Zahlreiche wei- a. M. 1964.
tere Untergruppen existieren. Bei den Frauenfiguren Stanca Scholz-Cionca (Nō-Theater)
sind es v. a. die Kurtisanen (keisei), die das Publikum Andreas Regelsberger (Puppen- und Kabuki-Theater)
beeindrucken, aber auch Ehefrauen (nyōbo), alte
Frauen (baba) u. a. treten in Erscheinung. Die Schau-
spielkunst im Kabuki wird durch Erbfolge bzw. Ad-
option vom Vater an den Sohn weitergegeben, wobei 3.2 Sanskrit-Drama
im Laufe eines Schauspielerlebens je nach Entwick-
lungsstadium verschiedene Schauspielernamen an- Die indische Theatergattung, die man häufig und et-
genommen werden können (shūmei). Die Bezeich- was reduktionistisch mit dem Terminus Sanskrit-
nung der Familienhäuser (yagō) spielt ebenso eine Drama bezeichnet, entstand vermutlich zwischen
Rolle und wird oft vom Publikum benutzt, um ihre dem 1. und 2. Jahrhundert v. Chr. Die ersten überlie-
bewunderten Stars zu bezeichnen. Die enge Bezie- ferten Textfragmente, die eine erkennbare dramati-
hung der Zuschauer zu ihren Lieblingsschauspielern sche Struktur aufweisen, entstanden im 1. Jahrhun-
kommt u. a. durch eine ganze Reihe von anfeuernden dert v. Chr. Die Tradition dauerte dann ca. 1200
Zwischenrufen (kakegoe) zum Tragen, die während Jahre, bis sie im 12. Jahrhundert durch die Mogul-
der Vorstellung aus dem Publikum zu hören sind. Invasion in Nordindien endgültig vernichtet wurde.
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 199

Es handelt sich um eine komplexe, mit der hinduisti- der niederen Kasten. Das Sanskrit-Drama war keine
schen Ritualkultur eng verknüpfte Theaterform, bei volkstümliche, sondern eine durchaus elitäre Thea-
der Gesang, Musik, Sprache und mimetische Dar- terform, die im Dienste des Hofs und des Tempels
stellung zusammenwirken, um mit theatralen Mit- stand.
teln Geschichten zu erzählen. Das daraus gelöste Es sind mehrere Dutzend Texte von verschiede-
Textsubstrat – die Dramatik im engeren Sinne – war nen Autoren überliefert, allerdings wissen wir über
somit nur ein Bestandteil eines vielschichtigen Gan- die Verfasser selbst verhältnismäßig wenig. Die be-
zen. Allerdings entsprechen diese Texte fast allen deutendsten sind Bhāsa, Sūdraka, Verfasser des po-
Kriterien eines europäischen Dramenbegriffs, so pulärsten und heute noch häufig gespielten Vasanta-
dass sie recht früh (bereits im ausgehenden 18. Jahr- sena (Das irdene Wägelchen, vermutl. ca. 400 n. Chr.)
hundert) in Europa als ›Dramen‹ rezipiert wurden. sowie Kālidāsa (vermutl. ca. 500 n. Chr.), der viel ge-
Wichtige Quellen für die Verfasser der Texte wa- rühmte Dichter und Verfasser dreier überlieferter
ren die beiden großen hinduistischen Epen, die Ma- Dramen, darunter das Meisterwerk Śakuntalā.
habharata und die Ramayana, die zwischen 1000
und 100 v. Chr. entstanden. In diesen Epen finden
wir bereits Hinweise auf Darsteller, nata, einen Be- 3.2.1 Theater- und Dramentheorie:
griff, der Sänger, Tänzer, Pantomimen umfasst. Ana- die Na-t.yaśa-stra
log zur europäischen Dramatik gibt es für die Sans-
krit-Dramatik diverse Ursprungstheorien, aber Wichtigste Quelle für Informationen über die altin-
kaum gesicherte Daten. Die Stücke selbst weisen dische Theaterkultur ist die zwischen 200 v. Chr. und
eine rituelle Bindung auf, die die Sanskrit-Theater- 200 n. Chr. kompilierte Nāt.yaśāstra (»Wissenschaft
kultur auf allen Ebenen prägte. der darstellenden Künste«), eine umfassende Ab-
Die Theaterästhetik des Sankrit-Theaters zeich- handlung zu beinahe jedem Aspekt der darstellen-
net sich durch ein hohes Maß an Konventionalität den Künste. Aufgrund der vermuteten ausgedehnten
aus, d. h. es verfügt über ein komplexes Zeichensys- Entstehungszeit bleibt umstritten, ob ein Autor, der
tem, das Gesten, Bewegungsmuster, Stimmausdruck legendäre Priester Bharata, oder mehrere Verfasser
festlegte. Tanz und Gesang spielten eine zentrale bzw. Kompilatoren am Werk waren.
Rolle, obwohl es schwierig ist, den Grad der Interak- Viel umfassender als die aristotelische Poetik (vgl.
tion von Tanz, Musik, Dialog und Versen genau zu Kap. I.2) behandeln die über 6000 in 36 Kapiteln ge-
bestimmen. Kostüme und Schminke waren ebenfalls sammelten sutra beinahe alle Bereiche der darstel-
hochgradig stilisiert, symbolisch aufgeladen und lenden Künste: Theaterarchitektur, Schauspielkunst,
keineswegs dem Alltag nachempfunden. Szenischer Kostüm, Schminke, Requisiten, Tanz, Musik, Dra-
Hintergrund kam wahrscheinlich entweder gar maturgie, Verskomposition, Grammatik, Zuschau-
nicht oder nur in Ansätzen zur Anwendung. Aller- erverhalten, soziologische Aspekte des Schauspieler-
dings wurden besondere Gebäude für die Auffüh- standes, theaterbezogene Riten usw. Im Gegensatz
rungen konstruiert. Die Errichtung eines Theaters etwa zu Aristoteles’ Poetik hatte der Text schon zu
wurde von zahlreichen Riten begleitet, wie man auch Zeiten des Sanskrit-Theaters normative Geltung.
den Stücken entnehmen kann. Das Theater erfüllte So beruht das musikalische System Altindiens fast
somit neben einer Unterhaltungs- und Erbauungs- ausschließlich auf der Nāt.yaśāstra. Die meisten
funktion primär religiöse Zwecke. traditionellen, heute noch praktizierten Tanz- und
Theater ist in Indien heute durch zahlreiche regio- Theaterformen wie etwa Kūṭiyāṭṭam gehen auf die
nale Ausprägungen gekennzeichnet. Zur Blütezeit Nāṭyaśāstra zurück, die Gesten, Schritte, Stellungen,
des Sanskrit-Theaters war dies vermutlich anders. Bewegungsmuster genauestens beschreibt.
Aufgrund der Vorherrschaft des Sanskrit als Sprache Zentraler wirkungsästhetischer Begriff ist rasa. Er
des Hofes und der hinduistischen Religion wurden bezeichnet, wie der Zuschauer die Aufführung eines
die Dramen auf dem ganzen indischen Subkontinent Theaterstücks wahrnimmt. Rasa ist ein Zustand, der
gespielt und verstanden. Allerdings enthalten die erreicht werden soll, gewissermaßen eine ästhetische
überlieferten Stücktexte auch andere, regionale Wirkung. Rasa setzt voraus, dass das Gesehene und
Sprachen (prākrit), die aber nur von bestimmten Fi- Gehörte synthetisiert und als Ganzes interpretiert
gurentypen gesprochen wurden, wie beispielsweise wird. Grundlage dieser Ästhetik ist die Idee der Ken-
von Frauen, Dienern und den männlichen Figuren nerschaft. So wie eine Kunstform vom Künstler er-
200 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

lernt werden muss, so muss auch der Zuschauer ei- Schwere Schicksalsschläge wie etwa Erniedrigung,
nen hohen Grad an Bildung und Vertrautheit mit Verbannung oder Tötung durften niemals direkt auf
den Konventionen der Kunstform besitzen, um den der Bühne dargestellt werden, auch bestimmte kör-
richtigen rasa erreichen zu können. Anhand dieses perliche ›Ausdrucksformen‹ wie Beißen, Kratzen,
grundlegenden wirkungsästhetischen Begriffs wird Küssen, Essen und Schlafen sollten dem Zuschauer
deutlich, in welchem Maße das Sanskrit-Theater in verborgen bleiben. Auch wenn das Sanskrit-Drama
eine elitäre höfisch-religiöse Kultur einbettet war. In ob seines Mischcharakters immer wieder mit dem
der Nāt.yaśāstra wird rasa mit dem Goutieren auser- elisabethanischen Theater (vgl. Kap. III.5) vergli-
lesener Speisen verglichen, weshalb rasa häufig mit chen wird, macht die obige Verbotsliste deutlich,
»Geschmack« übersetzt wird. dass bei einer genauen Beachtung der Regeldramatik
Der Nāt.yaśāstra zufolge lässt sich menschliche altindischer Art wesentliche Ausdrucks- und Wir-
Erfahrung in acht Grundempfindungen einteilen: kungselemente etwa eines Shakespeare-Stücks verlo-
das Erotische, Komische, Pathetische, das Wunder- ren gehen würden. Parallelen gibt es aber durchaus.
bare, Heroische, Schreckliche, Wütende und Absto- So wechseln sich elaborierte lyrische Passagen mit
ßende. Diese Empfindungen werden bei einer Thea- Dialogen in Prosa und der Alltagssprache ab (ausge-
teraufführung in verschiedenen Kombinationen ge- drückt im Wechsel zwischen Sanskrit und prākrit).
mischt und vom Zuschauer wahrgenommen. Diese Auch spielt die Wortkulisse zur Konkretisierung und
acht Empfindungen werden durch acht Affekte, poetischen Evozierung von Ort und Zeit eine wich-
bhava genannt, zum Ausdruck gebracht. Das Eroti- tige Rolle. Vergleichbar ist des Weiteren die beliebte
sche erzeugt Liebe, das Komische Heiterkeit oder Figur des Narren, der vidūshaka, der dem oft glück-
Freude usw. Weiterhin gibt es 33 transitorische Ge- losen Helden zur Seite steht. Das Sanskrit-Drama
fühle und acht Zustände, insgesamt 49 verschiedene kennt auch das Spiel im Spiel, fehlgeleitete Briefe so-
Gefühle oder Affekte. In der Systematisierung (wenn wie die Wiederbelebung von Toten.
auch nicht immer in der genauen Benennung) findet
man zahlreiche Parallelen zum Affektkatalog der eu-
ropäischen Kultur. 3.2.2 Das Muster Śakuntala-
Allerdings gibt es eine explizite Hierarchie bei
diesem Katalog: Die acht bhava gelten als die höchs- Anhand eines konkreten Beispiels, Kālidāsas
ten Affekte und haben daher für den Dramatiker Śakuntalā, können die wesentlichen Gattungsele-
eine Vorrangstellung bei seiner Zubereitung der dra- mente dieser Theaterform beispielhaft beschrieben
matischen Mischung. Die Affekte werden vom Zu- werden. Das Drama wurde in Europa durch den
schauer in bzw. an den Schauspielern wahrgenom- englischen Orientalisten William Jones bekannt ge-
men, was zur Wechselwirkung und Evozierung des macht. Seine 1789 veröffentlichte englische Übertra-
entsprechenden Gefühls im Zuschauer führt. Nach gung übersetzte Georg Forster 1791 ins Deutsche.
dieser Theorie hat ein Drama eine dominante Emp- Forsters Fassung wurde in Deutschland breit rezi-
findung: vielleicht Wunderbares oder Erotik. Diese piert, unter anderem von Goethe, der mit den be-
Dominante diktiert dann das Mischungsverhältnis rühmten Distichen »Will ich die Blumen des frühen,
der anderen Empfindungen. die Früchte des späteren Jahres,/ Will ich, was reizt
Trotz des ausgedehnten Zeitraums und der geo- und entzückt, will ich, was sättigt und nährt,/ Will
grafischen Verbreitung weist Sanskrit-Dramatik eine ich den Himmel, die Erde mit einem Namen begrei-
Reihe gattungstypischer Merkmale auf, die für Kon- fen,/ Nenn ich Sakontala, dich, und so ist alles ge-
sistenz und Kohärenz sorgten. Das Sanskrit-Drama sagt« (Goethe 1791) dem Stück ein frühes Denkmal
kennt den tragischen Stil nicht, sondern vermischt setzte.
ernste und komische Elemente nach den ›kulinari- Inhalt: Der genaue Titel lautet Abhijñānaśakuntalā
schen‹ Prinzipien der Nāt.yaśāstra. Auch wenn Held (Das Drama von der durch das Erkennungszeichen
und Heldin häufig der Verzweiflung nahe sind und wiedergefundenen Śakuntalā), womit bereits die
die ganze Bandbreite an Affekten von Schrecken dramatische Auflösung vorweggenommen wird.
über Trauer bis hin zur Entzückung evoziert werden Das Drama besteht aus sieben Akten, die wiederum
kann, bleibt der Schluss immer versöhnlich und hei- keine explizite Szenenaufteilung aufweisen. Die
ter. Das Sanskrit-Theater kennt durchaus, und sogar Handlung ist trotz ihrer Länge relativ einfach:
in strenger Auslegung, das Gebot des decorum: König Dusyanta trifft während eines Jagdausflugs
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 201

auf das Mädchen Śakuntalā, das in einer Einsiedelei Katalogs von Präliminarien, die eigentlich jeder Auf-
bei seinem Ziehvater, dem Kanva, lebt. Śakuntalā ist führung vorausgehen sollten. Die Nāt.yaśāstra zählt
in Wirklichkeit die Tochter des heiligen Visvamitra sogar achtzehn verschiedene Schritte, die durchge-
und der Nymphe Menaka. Es ist zwar Liebe auf den führt werden sollen: Neun davon finden hinter dem
ersten Blick, aber erst drei Akte später kann die Liebe Vorhang statt, die anderen neun vor dem Publikum.
vollzogen werden. Die beiden heiraten nach dem Ri- Folgt man den Bestimmungen der Nāt.yaśāstra, so
tus des gegenseitigen Einverständnisses, auch wenn besteht der Zweck einer dramatischen Handlung da-
Dusyanta bereits über zahlreiche andere Ehefrauen rin, einen Protagonisten im Kampf um das Objekt
verfügt, was aber anscheinend kein Hindernis dar- seiner Begierde zu zeigen. Die Verwirklichung die-
stellt. Der König kehrt schließlich in seinen Palast ses Ziels hängt eng mit der hinduistischen Philoso-
zurück und Śakuntalā soll ihm später folgen. Er hin- phie zusammen, die dieses Ziel als Pflichterfüllung,
terlässt Śakuntalā einen Ring als Unterpfand. Da sie Vergnügen und die Erlangung von Reichtum be-
während seiner Abwesenheit nur noch an den ge- stimmt.
liebten Ehemann denken kann, unterlässt es Die Nāt.yaśāstra enthält genaue Anweisungen für
Śakuntalā, einem Heiligen den rechten Dienst zu er- die Konstruktion einer Handlung und die Zusam-
weisen. In seiner Wut verflucht er sie: Der Mann, der menfügung der verschiedenen Elemente. Wichtig
sie liebt, solle sie vergessen. Im fünften Akt geht der ist, dass die Geschichte harmonisch ausgeht, dass
Fluch in Erfüllung. Im Palast angekommen, erfährt Hindernisse überwunden und Verzögerungen auf-
Śakuntalā, dass der König sie nicht mehr erkennt, gelöst werden, damit der Geist am Ende Ruhe findet.
den Erkennungsring hat sie verloren. Menaka, ihre Das Thema oder Sujet eines Dramas wird als der
göttliche Mutter, bringt sie in einen Wald, wo sie ei- ›Körper‹ des Werkes bezeichnet, eine anthropomor-
nen Sohn zur Welt bringt. Nach einiger Zeit findet phe Analogie, die auf alle wesentlichen Elemente des
ein Fischer im Magen eines Fisches den verlorenen Dramas bezogen wird. So soll ein Drama fünf Sta-
Ring, der dem König Dusyanta überreicht wird. Da- dien aufweisen. Im Falle von Śakuntalā wären dies:
raufhin erinnert dieser sich an Śakuntalā und begibt
1. Samen oder Keim
sich auf die Suche nach seiner Geliebten. Dusyanta
2. Die Ereignisse vermehren sich wie Öl auf dem
findet sie im Wald, erkennt seinen Sohn und kehrt
Wasser (Rückgrat der Handlung)
mit Śakuntalā zu seinem Palast zurück.
3. Intervention einer wichtigen Nebenhandlung
Aufbau: Wie die meisten Sanskrit-Dramen be-
(Verhinderung und Verzögerung)
ginnt Śakuntalā mit einem kurzen Eröffnungsgebet
4. Intervention der sekundären Nebenhandlung
und einem Vorspiel. Das Eröffnungsgebet ist zu Eh-
(Ringgeschichte)
ren eines Gottes, eines Königs o. ä., in diesem Fall zu
5. Ausgang und dénouement, in dem die drei Ziele
Ehren des Gottes Śiva. Es signalisiert die rituelle Ein-
menschlicher Existenz – Pflicht, Genuss und
bindung der Aufführung – Adressat ist eine göttliche
Reichtum – erreicht werden.
und keine weltliche Instanz. Das Vorspiel dagegen
richtet sich unmittelbar an das Publikum. Hier wer- Im ersten Stadium wird der Samen gesät oder der
den der Titel des Stückes, der Autor sowie Einzelhei- Keim gelegt. Das ist immer das Begehren des Hel-
ten zum Handlungsablauf angekündigt. den, sein Ziel zu erreichen. In Śakuntalā besteht das
Das Vorspiel ist rein weltlich und erfüllt eine Art Ziel des Königs darin, Śakuntalā zu heiraten und ei-
Brückenfunktion, um von der Welt des Publikums nen Thronfolger zu zeugen. Diese beiden Ziele wer-
zur Welt der Handlung überzuleiten. Auffällig ist bei den im ersten Akt deutlich zum Ausdruck gebracht
Śakuntalā, dass die sprechenden Personen in ihrer und im dritten Akt fast erreicht. Diesen fünf Stadien
Theaterfunktion und nicht in ihren Rollen auftreten: oder Elementen entsprechen terminologisch fünf
also als Spielleiter und Schauspielerin. Das Vorspiel Gliedmaßen, welche die Handlung zusammenhalten
zu Śakuntalā diente als Vorbild für Goethes »Vor- bzw. Körper stabilisieren.
spiel auf dem Theater« in Faust I (1819), wo eben- Die Nāt.yaśāstra legt auch fest, dass ein Akt nicht
falls die fiktionale Binnenhandlung durch eine me- länger als einen Tag umfassen soll. Allerdings ver-
tatheatrale Einführung ›gerahmt‹ wird (vgl. Savarese fügt jeder Akt über eine expositorische Einleitungs-
2010, 193). szene, in der nicht darstellbare Ereignisse und große
Der Nāt.yaśāstra zufolge sind das Eröffnungsgebet Zeitabläufe in einem Dialog zwischen Nebenfiguren
und das Vorspiel nur zwei Teile eines umfassenden zusammengefasst werden. Innerhalb eines Aktes
202 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

kann Zeit erheblich zusammengedrängt werden. Sie hierarchisch strukturierte hinduistische Gesell-
kann sich ohne Unterbrechung im Spielfluss von schaftsordnung. Menschen eines bestimmten Stan-
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang erstrecken. des oder einer bestimmten Kaste waren festgelegten
Die Gesamthandlung kann sich über einen erheblich Verhaltensnormen unterworfen, die ihren Hand-
längeren Zeitraum erstrecken. lungsmöglichkeiten Grenzen setzen. Das gesell-
Ort und Schauplatz: Im Gegensatz zu den stren- schaftliche Verhalten war ebenfalls hochgradig ritua-
gen Regeln der neoaristotelischen Dramentheorie lisiert, was auf die Trennung in Berufsgruppen wie
sind die Bestimmungen des Sanskrit-Dramas in Be- Priester, Krieger, Handwerker und Bauer zurückzu-
zug auf Ortswechsel relativ flexibel. Ein Akt kann an führen ist. Jede Gruppe hatte bestimmten Pflichten
einem Ort beginnen und durch den Einsatz einer nachzukommen, die durch ein rituelles System gere-
bestimmten Konvention – parikramana – verwan- gelt waren. Vor allem die Priesterkaste war Tabus
delt werden. Indem sie einmal um die Bühne her- unterworfen. Dieses System von Verhaltensregeln
umgehen, können die Schauspieler symbolisieren, spiegelt sich im Drama wieder: So ist es die Pflicht
dass sich der Schauplatz verändert hat. des Kriegers Dusyanta, die Brahmanen, die Priester
Im ersten Akt von Śakuntalā finden wir mehrere im Büßerwald, zu schützen, damit sie den Göttern
Schauplätze. Am Anfang fahren der König Dusyanta Opferhandlungen vollbringen können, die wiede-
und sein Wagenlenker in einem Jagdwagen durch die rum sowohl die himmlische wie die weltliche Ord-
Luft. Die Beschreibungen im Text machen deutlich, nung symbolisch untermauern.
dass sie über der Erde schweben und dann vor dem Was die Theatertradition angeht, so stellt sich die
Büßerwald herunterkommen. Sie halten vor der Ein- berechtigte Frage, wie dieses rigide System drama-
siedelei, wo sie an der Jagd vom Einsiedler und seinen tisch interessante Figuren hervorbringen konnte.
Gefährten gehindert werden. Dann gehen sie in die Dass dies möglich ist, macht die Titelfigur des Stü-
Einsiedelei hinein, was wiederum einen weiteren ckes deutlich. Allerdings sind die herausgearbeiteten
Schauplatzwechsel markiert. Wenn die Figuren dort Charakterzüge anders akzentuiert als im abendlän-
angelangt sind, wird dieser Schauplatz noch weiter dischen Drama. Was sofort auffällt, ist bspw. die Be-
spezifiziert. Vergleichbar der elisabethanischen Wort- deutung der Erotik in Śakuntalās erstem Auftritt, der
kulisse geschehen alle Konkretisierungen durch die den Charakter eines dezenten Striptease aufweist.
Figurenrede und nicht durch Szenenanweisungen. Sie bittet ihre Gefährtin, ihr Büßerkleid ein wenig zu
Charakterisierung: Die Figuren im Sanskrit- lockern mit dem Ergebnis, dass ihre jungen weibli-
Drama sind stark typisiert: Zum festen Figuren- chen Konturen etwas deutlicher zum Vorschein
repertoire gehören der gerechte, mächtige, gutaus- kommen und dem Blick des Königs präsentiert wer-
sehende und gütige Held und sein Gegenüber, den:
meistens eine schöne tugendhafte Heldin, die Nar- PRIYAMVADĀ: Was schiltst du mich? Hier mußt du deine
renfigur, der vidūshaka, sowie loyale und schlagfer- Jugend schelten, die dir den Busen schwellen ließ.
tige Diener. Wie im vormodernen europäischen KÖNIG: Wahrlich recht spricht sie:
Drama basiert die Charakterisierung im Sanskrit- Den eignen Glanz des jungen Leibes verdunkelt das rauhe
Drama daher nicht auf Individualisierung, sondern Büßerkleid, das auf der Schulter liegt und ihren prächt’gen
auf festgelegten Charaktermerkmalen. vollen Busen ganz bedeckt, gleich einer Blume, die ein gel-
bes Blatt umschließt. (Kālidāsa 1983, 15)
Die Figurentypisierung speist sich aus literari-
schen, gesellschaftlichen und theatralen Quellen. Mit solch recht irdischer Fremdcharakterisierung,
Die literarischen Quellen sind beinahe ausschließ- um Pfisters Terminologie zu gebrauchen, wird deut-
lich die großen indischen Epen, die Ramayana und lich, dass auch idealisierte Figuren mit sehr mensch-
Mahabharata. Bei den Figuren, die auf die Epen zu- lichen Attributen ausgestattet waren, die eine Gou-
rückgehen, handelt es sich wie bei den meisten grie- tierung im Sinne der rasa-Lehre befördern.
chischen Dramen um Götter oder Halbgötter. Oft ist Zweck des Dramas: Der Grad der Idealisierung
die menschliche Hauptfigur ein Gott in menschli- legt nahe, dass Sanskrit-Dramen keine ausschließ-
cher Gestalt, so ist bspw. Rama die Reinkarnation lich mimetische Funktion erfüllten. Die Stücke hat-
des Gottes Vishnu. Diese göttliche Herkunft bedeu- ten eher Modellcharakter und dienten damit in ers-
tet, dass solche Figuren stark idealisiert und in ge- ter Linie der Erbauung und Verbreitung der hinduis-
wisser Weise ähnlich sind. tischen Weltanschauung. Die Handlung von
Die gesellschaftliche Tradition bezieht sich auf die Śakuntalā macht deutlich, wie sich diese Modell-
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 203

funktion im Sinne einer Warnung konkretisieren v.u.Z.) sind unterschiedliche theatrale Praktiken zu
konnte. Auf der philosophisch-religiösen Ebene de- entdecken, im Zusammenhang mit Abwehr-Ritua-
monstriert die Geschichte, was für die Gattung ins- len, kalendarischen Festen, Spektakeln am Kaiserhof
gesamt gilt, das Prinzip der Maya: Die Menschen und den Angeboten der städtischen Unterhaltungs-
sind in der Vorstellung oder Illusion befangen, dass viertel. Neben viel Akrobatik, Schaukampf und Mu-
das irdische Glück permanent sei, während sie in sikstücken fanden Alltagskomik und die Höhe-
Wirklichkeit ewigem Wandel unterworfen ist. Die punkte aus dem Repertoire von Geschichtenerzäh-
Beinahkatastrophe der Geschichte – dass Śakuntalā lern Eingang in das anfangs improvisierte und in der
vom König Dusyanta nicht erkannt und dann ver- Folge zunehmend formalisierte Spiel von Puppen
stoßen wird – resultiert aus einer Unachtsamkeit im und Schauspielern. Auch wenn ältere Szenarien oder
rituellen Leben. Am Anfang des vierten Aktes sehen einfache dramatische Texte vermutet werden kön-
wir, wie Śakuntalā, weil ihre Gedanken nur bei Dus- nen, stammt das erste chinesische Theaterstück auf
yanta sind, ihre Pflichten vernachlässigt und ver- Papier aus dem frühen 13. Jahrhundert. In den Jahr-
gisst, den alten Heiligen Durvasa zu empfangen. Da- zehnten bis zum Ende des 14. Jahrhunderts wurde
raufhin verflucht er sie. Schicksal und Schicksalsbe- eine große Anzahl literarisch vollendeter, teilweise
stimmungen spielen eine wichtige Rolle im gesungener Dramen mit komplexem Handlungsge-
klassischen Sanskrit-Drama. Eine Schicksalsbestim- füge und von beachtlicher Zeitdauer verfasst. Abge-
mung in Form einer Segnung wird häufig am An- sehen von dieser sog. Goldenen Epoche des chinesi-
fang des Stückes ausgesprochen und am Ende der schen Theaters entstanden auch später noch verein-
Handlung erfüllt. Dusyanta wird im ersten Akt von zelte Meisterwerke des anspruchsvollen poetischen
den Einsiedlern gesegnet. Sie prophezeien ihm die Theaters. Doch statt eines Theaters der Dramatiker
Geburt eines Sohnes. Śakuntalās Verstoßung macht und Komponisten wurde es zu einer großen Schau
außerdem deutlich, wie streng die gesellschaftlichen der Darstellungskunst von intensiv geschulten
Verpflichtungen sind. Somit wird das Gebot der Schauspielern, die sich bekannter Texte und Hand-
Pflichterfüllung im religiösen Sinne unterstrichen lungen sowie vorhandener Melodien bedienten und
und veranschaulicht. diese in einem traditionell streng vorgegebenen und
gleichzeitig sehr eigenem Stil aus Gesang, Rezitation,
Literatur Bühnenwaffenkampf und Schauspiel präsentierten.

Kālidāsa: Śakuntalā. Ein indisches Schauspiel. Zürich 1983.


Keith, Arthur B.: The Sanskrit Drama in its Origin, Develop-
ment, Theory and Practice. Oxford 1959. 3.3.1 Hofnarren und dynastische Spektakel
Macdonell, Arthur A.: A History of Sanskrit Literature. New
York 1900. Für die Frühzeit des chinesischen Theaters ist ein ri-
Richmond, Farley P.: »Characteristics of Sanskrit Theatre tueller Zusammenhang anzumerken. Schamanen als
and Drama«. In: Ders. et al. (Hg.): Indian Theatre: Tradi-
Protagonisten im Exorzismustheater nuoxi klärten
tions of Performance. Honolulu 1990.
Savarese, Nicola: Eurasian Theatre: Drama and Perfor- die mythischen Zusammenhänge, sie besangen ihre
mance between East and West from Classical Antiquity to magischen Reisen und stellten die Konflikte mit den
the Present [1992]. Holstebro u. a. 2010. in die irdischen Gemeinschaften einbrechenden Dä-
Stoler Miller, Barbara (Hg.): Theater of Memory: The Plays monen szenisch dar. In ›Endloslitaneien‹ wurde von
of Kalidasa. New York 1984.
Christopher Balme ihnen die Macht des Gegenterrors präsentiert und
der entscheidende Kampf endete mit dem Sieg der
gegebenen Ordnung, der anschließend mit ausgelas-
senem Treiben gefeiert wurde.
Im höfischen Bereich hatten die Hofnarren, pai-
3.3 Das chinesische Theater bis zum you, mit viel Witz eine subversive Kunst der Entgeg-
Ende der Yuan-Dynastie (1368) nung entwickelt, sobald die ›Weisheit‹ der Herrscher
schwer erträgliche Züge annahm. Als etwa Kaiser
Bereits in den frühen historischen Aufzeichnungen Qin Ershi (209–206) die gesamte Hauptstadt rot zu
der Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung, und be- lackieren befahl, beglückwünschte ihn sein Narr You
sonders in den umfangreichen literarischen und ge- Zhan zu dieser Idee der prächtigen Stadt, die auch
schichtlichen Werken seit der Han-Dynastie (206 noch den strategischen Vorteil aufweise, dass die
204 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Feinde an den glatten Mauern abrutschen würden. treut hatte. Zhou Yan kam damals mit einer überra-
Er fand die Kosten unerheblich und gab bloß die schend milden Strafe davon: Für lange Zeit musste er
technischen Schwierigkeiten beim Bau eines riesi- im Unterhaltungsteil von Banketten in einem gelben
gen Schutzdaches über der Stadt zu bedenken, da Spottkostüm auftreten und sich in Anspielung auf
wertvoller Lack bekanntlich nur im Schatten trock- sein Vergehen von Hofnarren erniedrigen und ver-
nen könne. prügeln lassen. Das nahezu mechanische Typen-
In der Mehrzahl der häuslichen Feste oder der dy- schema eines Dummen-Unterlegenen und eines
nastischen Massenspektakel der Han-Dynastie (206 Klugen-Triumphierenden wurde in der Folge abge-
v.u.Z. – 220 u.Z.) – baixi genannt – überwogen löst und umfasste bald eine große thematische Viel-
Schauprogramme mit Tänzern, Akrobaten, Kriegs- falt, die auch die Möglichkeit zur Erweiterung des
künstlern, Tierbändigern, Musikern, Zauberern und schauspielerischen Typenkanons bot.
Gestaltern von Themenwagen mit mythischen We-
sen, die sich verwandeln konnten. Sprache wurde
nur für die notwendige Vorstellung von Figuren und 3.3.2 Theater im Unterhaltungsviertel
zur Klärung der einfachen Geschichten um Kon-
fliktsituationen eingesetzt. Der damals bekannteste Hinter Theaterfiguren wie dem Herrn Huang aus
Einschub zwischen den großen Attraktionen war dem Ostmeerland, auch hinter magischen Praktiken,
Herr Huang aus dem Ostmeerland: Der Magier Hu- Maskentänzen, Tierimitation und vielen anderen
ang war auf Tierbändigung und die Erschaffung von theatralen Praktiken stehen vermutlich rituelle Ur-
Wolken, Bergen und Flüssen spezialisiert; später sprünge. Dies trifft auch auf das Puppenspiel, kui-
verfiel er dem Alkohol. Als Herr Huang einen wei- leixi, zu. »Riesig und sehr hässlich« bezeichnete man
ßen Tiger bekämpfen wollte, wurde er von diesem die Marionetten und Stabpuppen, die bei Begräbnis-
getötet – als eine stehende Kunstfigur hatte er aber sen in der Hand von Schamanen den Weg schützten
ein vielseitiges Nachleben auf der chinesischen sowie in das Grab hinabgelassen wurden, um es von
Bühne. Negativkräften zu säubern. Die grotesken kuilei
Die prächtigen Spektakel wurden Jahrhunderte sorgten bald auch bei Trinkgelagen und auf Hoch-
lang von den Herrschern zerstrittener Reiche oder zeiten für Kurzweil. Den festen Platz im Unterhal-
von den Kaisern hegemonialer Dynastien ausgerich- tungsangebot der Tang-Dynastie und bis weit in die
tet. Die dramatischen Einlagen blieben in ihrer Figu- Song-Dynastie (960–1227) hinein erlangte das Pup-
renkonstellationen nahezu unverändert. Einmal galt penspiel in den Unterhaltungsvierteln, die in den
es Probleme mit der Hexe von Liaodong (ca. Mitte Städten um zentrale Straßenkreuzungen entstanden
des 3. Jh.s) zu lösen, deren Spiel so anstößig war, dass waren. Hier boten Fahrende und lokale Bekannthei-
die Zuschauer ihre Augen bedeckt haben sollen. ten ihre besonderen Künste als Wahrsager, Akroba-
Dann wieder beklagt in der Farce Die stampfende, ten, Tänzer, Fußballer, Musikanten, Prostituierte,
singende Frau eine Gattin ihren stets betrunkenen Tierdresseure, Witze- und Geschichtenerzähler feil.
Mann und seine Grobheiten, bevor dieser von den Mit ihnen konkurrierten die Puppenspieler, die das
anderen Frauen beschimpft und verprügelt wird. In Aussehen und die Handhabungstechnik der alten
Weinend den Kopf schütteln (7.-9. Jh.) überquert der kuilei weiterentwickelt hatten. Zu sehen waren nun
Sohn eines von einem Tiger getöteten Mannes acht neben Marionetten und Stabpuppen auch Handpup-
Berge, singt acht Gesänge und erlegt schließlich das pen, ferner Puppen, die über einer Wasseroberfläche
Tier in einem fulminanten Schaukampf. Spieltexte geführt wurden, und sogenannte Feuerwerkspup-
zu diesen Stücken gibt es leider nicht, diese Farcen pen, die wahrscheinlich als mechanische Automaten
bzw. Tanzstücke und Adjudantenspiele sind nur aus ein paar Schritte eigenständig laufen konnten,
indirekten Beschreibungen bekannt, es existieren schließlich die Fleischpuppen, über die Unklarheit
weder Szenarien noch ausformulierte Texte. herrscht, ob Kinder auf hochgehaltenen Brettern
Die einfache Struktur von Gegnerschaft ist auch spielten oder ob sie nicht als Puppen verkleidet und
für das Adjutantenspiel, canjunxi, der Tang-Zeit maskiert deren Bewegungen nachahmten. Das Pup-
(618–907) charakteristisch. Zwei Komiker spielten pentheater und das Schauspielertheater standen sich
als einfältiger Adjutant, canjun, und als kluger in den Unterhaltungsvierteln einerseits als Konkur-
Grauer Falke, canggu, eine alte Begebenheit aus dem renten gegenüber – es mangelt nicht an Beweisen für
4. Jahrhundert nach, als ein Beamter Seide verun- eine frühe Dominanz des Puppentheaters –, darüber
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 205

hinaus aber kann eine intensive wechselseitige Be- darstellende Künste bald im Chaos des An Lushan-
einflussung und Vermischung thematischer Vorla- Aufstandes im Jahr 755 zugrunde ging, sind die ver-
gen, feststehender Musikweisen und erprobter Text- sprengten Künstler von großer Bedeutung für die
sequenzen angenommen werden. weitere Verbreitung der theatralen Formen gewesen.
Das Schauspielertheater, bei zaju (›Nördliche Ge-
mischte Spiele‹), bot fünf teils mit Schminkmasken
versehene Figurentypen an: der yinzi, mit einer lan- 3.3.3 Spitzenabsolvent Zhang Xie, das älteste
gen Bambusstange als Spielleiter gekennzeichnet, er- Drama aus dem Südlichen Theater
öffnete das Stück und führte erklärend durch die
Handlung. Der moni war die männliche Hauptfigur, Nach verlustreichen Auseinandersetzungen mit dem
sein Mitspieler zhuanggu verkörperte Beamte und Geschlecht der Jurchen wurde nach der Flucht in
Frauen. Die Figuren des fujing und des fumo gingen den Süden die neue kaiserliche Hauptstadt – der
aus dem Adjutanten bzw. dem Grauen Falken her- Südlichen Song-Dynastie (1127–1279) – in Hang-
vor, wobei der fumo nicht nur als komische, sondern zhou begründet. Wie schon in der Residenzstadt im
auch als ernsthafte Figur eingesetzt werden konnte. Norden entstand auch hier ein geschäftiges Unter-
Von den Nördlichen Gemischten Spielen sind keine haltungsviertel mit den bekannten Attraktionen.
Texte erhalten. Aus Bearbeitungen, sporadischen Das Theater war abwechslungsreicher geworden, da
Beschreibungen und Abbildungen glaubt man einige die Schauspieler im Verlaufe ihres Umzugs nach
Handlungsstränge mit überwiegend komischem Ge- Hangzhou ihr Repertoire von Geschichten und Dar-
halt rekonstruieren zu können: So will eine Person stellungsweisen durch lokale Besonderheiten berei-
mit dem größten verfügbaren Geldstück eine Klei- chert hatten. Von dieser neuen Form, nanxi (›Südli-
nigkeit wie eine Schale Tee kaufen. Auch Ärzte wer- ches Theater‹) genannt, sind mehr als 160 Titel und
den gerne karikiert, einer verkauft eine Medizin, die um die 20 Dramentexte mehr oder weniger vollstän-
Gesunde krank macht und Kranke sterben lässt. Ein dig oder in einer späteren Bearbeitung überliefert.
anderer gibt sich als Augenarzt aus und bietet Ersatz Dieses Theater bestand zum größten Teil noch im-
aus einem Augenbündel an, das an seinem Gürtel mer aus Improvisation und erwies sich weiterhin als
hängt. Im Unterhaltungsviertel der Hauptstadt äußerst aufnahmebereit und anpassungsfähig. Mit
Dongjing, dem heutigen Kaifeng, entstand auch die der Blütezeit des Südlichen Theaters setzte auch eine
Urszene für die wohl bekannteste Figurenkonstella- anspruchsvolle literarische Schreibpraxis ein und
tion des Chinesischen Theaters – Student und Ge- eine Spielweise mit entwickelten Rollentypen, fest-
liebte. Unzählige Variationen handeln von Liebe und gelegten Abfolgen von Gesängen aus einem Konglo-
Abschied, der Reise zur Beamtenprüfung in die merat aus Volksliedern, religiösen Weisen und Hof-
Hauptstadt, ferner von Überfällen, der Pflege des musik sowie fixierten Bewegungsmustern mit einer
Verunglückten, von Verrat, Mordplänen, einem de- Tendenz zur Abstraktion.
saströsen Ende oder Versöhnung. Daneben wurden Die alten Rollentypen moni und yinzi hatten sich
noch Geistergeschichten und effektvolle Ausschnitte immer mehr angeglichen und standen jetzt als sheng
aus buddhistischen Schriften erzählt und vorge- für die männlichen Hauptrollen zur Verfügung, als
spielt. wai für zweitrangige Figuren. Der wachsenden Be-
Die gesellschaftlichen Außenseiter schufen mit deutung der Frauenrollen entsprachen dan für die
ihren Straßenkünsten und ihren Darbietungen auf Haupt- und tie für die Nebenfiguren. Die Typen jing,
umzäunten, einfach überdachten Spielplätzen unter mo und chou waren für komische Handlungen ein-
den Bedingungen ihrer vielfältigen Nachbarschaft setzbar. Der mo erspielte sich die Rolle einer zusätz-
die Grundlage für das durch Gesang, Tanz, Rezita- lichen männlichen Hauptfigur.
tion, Akrobatik und Bühnenwaffenkampf ausge- Aus dem Südlichen Theater stammt das älteste
zeichnete Theater. und gut erhaltene chinesische Drama Spitzenabsol-
Auch am Kaiserhof war man aktiv geworden, Kai- vent Zhang Xie, verfasst vom Neun-Berge-Autoren-
ser Ming Huang (712–756) ließ die Ausbildung der kollektiv der Stadt Yongjia. Die einfache Handlung
Tänzerinnen, Musiker, Akrobaten und Dompteure entspricht der populären Vorgabe der Studentenstü-
seiner Hofunterhaltung neu organisieren. Das dafür cke: Zhang Xie aus Chengdu hat seine Studien mit
zuständige Zentrum wurde im Birnengarten der Pa- ausgezeichnetem Erfolg auf der Provinzebene von
lastanlage eingerichtet. Obwohl diese Akademie für Sichuan abgeschlossen und reist zu den kaiserlichen
206 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Prüfungen in die Hauptstadt Changan. In den Fünf- che verfassten Theaterstücke, es entstanden die gro-
Hühner-Bergen wird er ausgeraubt. Die Frau, die ßen Dramen der yuan zaju (›Yuan Gemischte
ihn anschließend wieder gesund gepflegt hat, wird Spiele‹). Genau genommen setzte dieser dramati-
seine Gattin. Er verlässt die Mittellose und Unattrak- sche Aufschwung nach der Zerstörung der benach-
tive, besteht die Prüfungen als Bester und glaubt sich barten Jurchen-Dynastie 1234 ein und verlief sich
als Anwärter für einen gehobenen Beamtenposten nach 1307. Das neue Theaterzentrum befand sich
seiner Vergangenheit entledigen zu müssen. Aber wieder im Norden, in der neuen Hauptstadt Da Du,
nicht nur misslingt der Mordanschlag auf seine Gat- dem heutigen Beijing.
tin, diese wird auch noch von einem Minister adop- Das Typenrepertoire des yuan zaju wurde aus
tiert. Nun passt sie in die Berufsplanung des Karrie- dem nanxi weiter ausdifferenziert in Haupt- und
risten, der sich mit ihr aussöhnt. An der Spielvorlage Nebenrollen von Männern und Frauen, vervollstän-
aus einer Mischung von Gesängen, Gedichten, Dia- digt durch eine Riege von Figuren für komische und
logsequenzen und umfangreichen beschreibenden intrigante Mitspieler sowie Kleindarsteller als Alte,
Passagen lässt sich die große Bedeutung des Ge- Räuber, Kinder, Wagenlenker, Diener, Wirte und
schichtenerzählens für die Formung des chinesi- Fährmänner. Der zhengmo und die zhengdan erwie-
schen Dramas ersehen. Ein mo als Prologgestalter sen sich als herausragende Figuren, die entweder
und Spielführer steht noch voll in der Tradition der eine Männer- oder Frauenrolle sangen. 335 quzi,
Geschichtenerzähler. Er schafft mit lyrischen Passa- feststehende Melodien, sind ihrer Bezeichnung nach
gen und Gesängen nicht nur einen schicksalsergebe- auffindbar, rund 80 davon kamen in verschiedensten
nen bis melancholischen Grundton und stellt die Kombinationen in einem Stück zur Verwendung, er-
handelnden Figuren in ihrem Umfeld ausführlich gänzt durch die umfangreichen Rezitationspassagen
vor, er erzählt die Geschichte einmal neutral, dann der anderen Figuren. Obwohl keine einzige Origi-
wieder aus der Perspektive der Handelnden, in die nalmelodie überliefert ist, können in den zahlrei-
bisweilen auch deren Dialoge übernommen werden. chen späteren Bearbeitungen durchaus die ur-
Im Anschluss an diese lange Einleitung, die über die sprünglichen quzi der Yuan-Zeit vermutet werden.
Hälfte der Handlung vorweggenommen hat, spielen Von der großen Popularität dieser Figuren zeugen
die anderen Figuren die entscheidenden Szenen die vielen Tonfiguren und einige Wandgemälde in
nach und entwickeln daraus das überraschende Tempeln und Gräbern des 14. Jahrhunderts, die sich
Ende. Die besondere Situation der Aufführung wird konkreten Spielvorlagen zuordnen lassen. Die Vor-
augenfällig gemacht durch zwangloses Plaudern von stellungen wurden von professionellen Truppen
Schauspielern und Musikern sowie durch ein Ver- nach wie vor im Unterhaltungsviertel angeboten, sie
deutlichen der Übernahme und dem Wechsel von waren auch in Privathäusern und Bordellen zu sehen
Rollen. In diese sehr offene Form des Südlichen und wurden von reisenden Schauspielern in entfern-
Theaters konnten die zahlreichen Darstellungsfor- ten Siedlungen verbreitet.
men der Unterhaltungsviertel sowie unterschied- 152 Dramatiker, von denen 44 namentlich be-
lichster gesellschaftlicher zeremonieller Praktiken kannt sind, haben 560 Stücke geschrieben. 157 zaju
einfließen. sind erhalten. Die bekanntesten Dramatiker werden
mit dem Ehrentitel »Vier herausragende Yuan-Thea-
terschreiber« bedacht. Zu ihnen zählt Guan Hanqing
3.3.4 Blüte des Theaters während der (1210–1297), der Schöpfer legendärer Frauenfigu-
mongolischen Besatzungszeit ren. Als aufopfernde Schwiegertochter (Die Unge-
rechtigkeit gegenüber Dou E) etwa, oder als trickrei-
Als im Jahre 1279 die mongolischen Reiter ganz ches Freudenmädchen (Eine Bitte an die Prostitu-
China eroberten, versuchten sie sich in einer neuen ierte) oder als edle Gattin, die der sexuellen
Reichsverwaltung für die Yuan-Dynastie (bis 1368), Erpressung mit der Berauschung des Verleumders
die viele han-chinesische Beamte nicht mehr begegnen kann (Flussuferpavillon), können sie den
brauchte oder von diesen bewusst gemieden wurde. Widrigkeiten der Zeit trotzen und ihre Nächsten vor
Viele Mitglieder der ehemaligen Staatselite mussten Ungerechtigkeit schützen – fallweise auch mit dem
ihre spezifischen Kenntnisse und ihre Befähigung, eigenen Tod. Ma Zhiyuans (1256–1321) Hauptwerk
höchst anspruchsvolle Texte aller Art schreiben zu Herbst im Han-Palast handelt von der Liebe zwi-
können, nun für den Broterwerb einbringen. Man- schen Kaiser Yuan und Wang Zhaojun, die sich 33
3. Gattungen des nicht-europäischen Theaters 207

v.u.Z. aus Gründen der Staatsräson mit dem feindli- berichtet, dass sie für ihren achtjährigen Sohn die
chen Hunnen-Khan Dan Yu verheiraten musste. Die um ein Jahr jüngere Tochter eines Schuldners, Dou
tragische Entwicklung hat der Beamte Mao Yanshou E, erwerben will. Der Schuldner stellt sich vor, im
zu verantworten, der zuerst mit einem verfälschten folgenden kurzen Dialog wird die Übergabe der
Porträt die Hofdame verschwinden lässt – erst durch Tochter verhandelt. Im Ersten Akt (»13 Jahre spä-
ihr trauriges Pipa-Spiel wird der Kaiser auf Wang ter«) nennt der Apotheker Lu seinen Namen und er-
Zhaojun aufmerksam – und schließlich mit einer öffnet seinen Plan, der Schulden eintreibenden Frau
entsprechenden Abbildung der Schönen das kriege- Cai das Geld nicht freiwillig zu geben. Diese erzählt
rische Ultimatum zuungunsten des Han-Kaisers erst dann dem Publikum von ihrer Abstammung und
provoziert. Wang Zhaojuns Schicksal, die sich im den familiären Verhältnissen. Auf die Aufforderung
Heilong-Fluss ertränkt, und die Melancholie des hin, die Schulden zurückzubezahlen, versucht Lu sie
Kaisers werden meist mit der allgemeinen Stim- zu erdrosseln. Der Alte und der Junge Esel-Zhang,
mung im besetzten China und der erbärmlichen Si- beide als komische Rollen, retten die Frau und ver-
tuation der Beamten-Literaten zu deuten versucht. langen als Gegenleistung die Verheiratung mit Cai
Bai Pu (1226–1306), der aus einer der bedeutendsten und ihrer Schwiegertochter. Dou E präsentiert als
Beamtenfamilien Chinas stammte, die dann einen zhengdan, der weiblichen Hauptrolle, ihre Lebensge-
zeittypischen Abstieg durchlebte, fällt durch beson- schichte und dass sie mit 17 Jahren schließlich ver-
ders düster-stimmungsvolle Dramen auf, die – wie heiratet und kurz danach Witwe geworden war. Es
so häufig im chinesischen Theater – der Vorgabe folgt eine Reihe von Gesängen zum Thema Unglück
›Tragische Liebesgeschichte‹ folgen. Im Stück Regen und die brüske Ablehnung der Heiratspläne der
fällt auf die Platane wird die Geschichte des auf den Esel-Zhangs. Im Zweiten Akt erinnert Apotheker Lu
Bühnen allgegenwärtigen Paares Kaiser Ming Huang an den versuchten Mord, der Junge Esel-Zhang kauft
und seine Lieblingskonkubine Yang Guifei erzählt. von ihm Gift, um die kränkelnde Frau Cai zu töten
Nach ihrem erzwungenen Freitod während des An und dadurch den Widerwillen von Dou E ihm ge-
Lushan-Aufstandes flüchtet sich der glücklose Kai- genüber zu brechen. Dou Es Rezitativ handelt von
ser in Träume von der Zeit mit Yang Guifei. ihrer kranken Schwiegermutter, dann besingt sie
Zheng Guangzu (1280–1330), dessen Dramen ausführlich die Tugenden einer Witwe. Der Alte
eine Kritik an den Zwängen der Feudalgesellschaft Esel-Zhang isst irrtümlich die vergiftete Suppe und
nachgesagt wird, vermischt die beiden populären stirbt. Beide Frauen werden des Mordes angeklagt,
Genres der Liebes- und Geistergeschichten. In Die Dou E nimmt die Tat auf sich und wird zum Tode
Seele von Qiannu geht auf Reisen wird der Ausweg verurteilt. Der Dritte Akt spielt auf der Hinrich-
aus einer schier aussichtslosen Zwei-Familien-Kon- tungsstätte und besteht fast ausschließlich aus den
stellation in der Weise durchgespielt, dass ein Mäd- Klagegesängen von Dou E – darunter den bekannten
chen zu Hause schwerkrank darnieder liegt, wäh- Zeilen:
rend sie über Jahre mit ihrem geliebten Studenten in Sogar Himmel und Erde haben begonnen das Starke
der Stadt als Geist zusammenlebt. Wang Shifu, des- Zu fürchten und das Schwache zu unterdrücken.
sen Lebensdaten nicht überliefert sind, wird die Ehre Auch sie stoßen das Boot zurück in die Strömung.
zuteil, mit den »Vier Großen« in einem Atemzug ge- Erde, wenn du nicht mehr Gut von Böse unterscheiden
kannst,
nannt zu werden. Er verdankt dies seinem Erfolgs-
Wie sollst du als Erde weiterbestehen?
stück Das Westzimmer, die Liebe zwischen Zhang Himmel, wenn du den Weisen mit dem Narren verwech-
Sheng und Cui Yingying findet hier nach unendli- selst,
chen Wirren ein glückliches Ende. In der bekanntes- Du wirst vergeblich Himmel genannt. (Gissenwehrer 1987,
ten Szene kann sich das Paar durch die Hilfe der Die- 132)
nerin Hong Niang in den Nächten im Westzimmer Sie erbittet vom Himmel Zeichen ihrer Unschuld, es
treffen. soll drei Jahre lang Dürre herrschen, kein Tropfen
Der Aufbau eines yuan zaju und die Eigenheiten ihres Blutes wird zur Erde fallen und es soll im Juni
seiner Handlungsentwicklung mit den zahlreichen schneien. Alles trifft vorhersehungsgemäß ein. Im
narrativen Passagen können am Beispiel von Guan Vierten Akt stellt sich Herr Dou vor, der als Student
Hanqings Die Ungerechtigkeit gegenüber Dou E ge- seine Tochter an Frau Cai verkaufen musste. Er hatte
nauer betrachtet werden: Im Prolog rezitiert Frau sich in den Prüfungen bewährt und bereist als Revi-
Cai als Nebenfigur ein kurzes Auftrittsgedicht und sionsbeamter das Land. Dou E erscheint ihm als
208 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Geist. Beide besprechen und besingen ausführlich dem Kampf für die Befreiung der Frau bzw. für ein
das Vorgefallene. In der folgenden Gerichtsverhand- neues, offenes Denken, erkennen. Ab den 1930er
lung wird dank der klärenden Gesangseinschübe des Jahren ist ein wachsender Einfluss der erstarkten
Geistes von Dou E Recht gesprochen. Kommunisten auf die Schauspielszene zu erkennen,
Das hohe Aufkommen literarisch anspruchsvoller der sich dann auch in der Entwicklung des Propa-
Stücke in einem relativ kurzen Zeitraum, verbunden gandatheaters niederschlägt.
mit einem breiten Repertoire an Musikweisen, fer-
ner die endgültigen Ausgestaltung der Rollentypen Literatur
und die Perfektionierung der Schauspieltechnik be-
rechtigen zur Einschätzung der Yuan Gemischten Crump, James Irving: Chinese Theater in the Days of Kublai
Khan. Tuscon 1980.
Spiele als einer herausragend kreativen Epoche des Dolby, William: A History of Chinese Drama. London 1976.
chinesischen Theaters. Gissenwehrer, Michael: Theaterzeit in China. Schaffhausen
1987.
Gissenwehrer, Michael: Chinas Propagandatheater 1942–
1989. München 2008.
3.3.5 Spätere Entwicklungen
Huang, Weiruo: »Das Puppenspiel im alten China«. In:
Gissenwehrer, Michael/Kaminski, Gerd (Hg.): ›In der
Aus diesem theatralen Potential entstanden – er- Hand des Höllenfürsten sind wir alle Puppen‹. Grenzen
gänzt durch zahlreiche Dramatisierungen von Ge- und Möglichkeiten des chinesischen Figurentheaters der
schichtserzählungen und Romanen – entlang von Gegenwart. Wien 2008, 91–108.
Idema, Wilt/West, Stephen: Chinese Theater 1100–1450. A
Handelsrouten und in den städtischen Zentren die Source Book. Wiesbaden1982.
später bedeutenden Theaterstile Ming chuanqi, Kubin, Wolfgang: Das traditionelle chinesische Theater. Vom
kunqu und jingju – die sog. Beijing-Oper. Diese heute Mongolendrama bis zur Pekinger Oper. München 2009.
(v. a. außerhalb Chinas) geläufige Bezeichnung ist Mackerras, Colin (Hg.): Chinese Theatre. From Its Origins
to the Present Day. Honolulu 1983.
leicht irreführend, weil diese traditionelle Theater-
Riley, Jo: Chinese Theatre and the Actor in Performance.
form aus Gesang, Rezitation, Bühnenwaffenkampf Cambridge 1997.
und Schauspiel, so eine beliebte chinesische Defini- Shih, Chung-Wen: ›Injustice to Tou O‹ (›Tou O Yüan‹). A
tion, sehr viel differenzierter war als der Überbegriff Study and Translation. Cambridge 1972.
glauben lässt. Das jingju, als die populärste von über Shih, Chung-Wen: The Golden Age of Chinese Drama: Yüan
Tsa-chü. Princeton 1976.
360 unterschiedlichen Theaterformen in China, er- Michael Gissenwehrer
wies sich in seinen Spielvorlagen und seiner politi-
schen Ausrichtung als sehr traditionell und konser-
vativ.
Die wirtschaftlichen, politischen und militäri-
schen Reformbemühungen am Ende des 19. Jahr-
hundert bleiben bis zum Ende der Monarchie 1911
wenig erfolgreich. Fortschritte sind im Bildungswe-
sen zu verzeichnen, die auch zu einer Abschaffung
des traditionellen Beamtenwesens mit seinen hierar-
chischen Prüfungen führt. Systematisch wurden
junge Chinesen zum Studium ins Ausland geschickt.
In Tokyo kam eine Gruppe von ihnen in Kontakt mit
dem westlichen Schauspiel, das dann (ab 1907) auf
Umwegen über Japan nach Peking, Tianjin und
Shanghai gebracht wurde. Hier allerdings blieb es
ein absolutes studentisches Nischentheater, das zu-
nächst Originalstücke von Ibsen, Shaw bzw. popu-
läre Romanadaptionen wie Onkel Toms Hütte spielte,
dann eigene Versuche im Stile des Naturalismus vor-
legte. Wie sehr dieses Theater als Versuch eines
Kampfmediums gegen die ›Alte Gesellschaft‹ gese-
hen wurde, kann man schon an seinen Themen, wie
4. Mittelalter – geistliches Spiel 209

4. Mittelalter – 4.1 Geistliche Spiele


geistliches Spiel 4.1.1 Formen, Stoffe

Die Vormoderne kannte verschiedene mehr und we- Wichtigster Kern der deutschsprachigen geistlichen
niger institutionalisierte Formen öffentlicher Insze- Spiele sind die Osterspiele; nicht immer scharf von
nierung mit fließenden Übergängen; dazu gehörten ihnen zu trennen sind die umfangreicheren Passi-
nicht nur Spiele im engeren Sinne, sondern auch onsspiele. Die Bezeichnung im Mittelalter kann
Festzeremonien, öffentliche Bußübungen oder öf- schwanken (vgl. Schulz 1998); mit osterspil und lat.
fentlicher Strafvollzug (van Dülmen 1985), so dass ludus paschalis wurden auch Passionsspiele bezeich-
man von einem »Mosaik mittelalterlicher Theatrali- net. Etwas später entwickelten sich die Fronleich-
tät« (Kotte 1994, 34; vgl. Greco-Kaufmann 2009, 38) namsspiele. Nicht an die kirchlichen Jahresfestkreise
auszugehen hat. gebunden waren Heiligen-, Mirakel-, Legenden-,
Gesamteuropäisch sind seit dem 10. Jahrhundert Adams- und Weltgerichtsspiele (etwa die auf Mt
lateinische Osterfeiern überliefert, prototheatrale 25,1–13 basierenden Zehnjungfrauenspiele). Seit
Formen, die Elemente der später (volkssprachig ab dem 14. Jahrhundert eigenständig greifbar sind Mo-
dem 13. Jahrhundert) greifbaren Osterspiele enthal- ralitäten, dramatisierte Allegorien, die in einer zeit-
ten. Im 15. und 16. Jahrhundert gewinnen die Passi- und raumenthobenen Situation die christliche Seele
ons- und Fronleichnamsspiele an Bedeutung; in oder den Jedermann in Konfrontation mit personifi-
Frankreich und in Mitteleuropa können die Spiele zierten Tugenden und Lastern zeigen (vgl. Brett-
mehrere Tage dauern. Die lokalen Spieltraditionen Evans 1975).
bleiben im 17. Jahrhundert und vereinzelt darüber Die Stoffe speisen sich aus biblischen und aus le-
hinaus lebendig. Später belegt, aber stofflich, institu- gendarischen Berichten. Für die Spieltexte werden
tionell und funktional nicht immer klar von geistli- Versatzstücke aus den Evangelien, apokryphen
chen Spielen zu trennen, entwickeln sich verschie- Evangelienberichten (Nikodemus-Evangelium: Höl-
dene Typen weltlicher Spiele, am reichsten überlie- lenfahrt Christi), Prophetien des Alten Testaments
fert das Fastnachtsspiel. sowie aus der Liturgie (Hymnen, Antiphone, Re-
Am Beispiel des geistlichen Spiels werden die sponsorien) kombiniert. Kern der Osterfeiern und
Probleme des Begriffs ›Drama‹ und seiner Anwen- später der Osterspiele ist der Ostertropus (s.u.).
dung auf Theatertexte der Vormoderne besonders
plastisch. Das Verhältnis zwischen schriftlich fi-
xiertem Text, Inszenierung und Aufführung ist im 4.1.2 Liturgie – Spiel
Einzelnen nicht immer zu klären, keinesfalls aber
hierarchisch zu denken. Die charakteristische Un- Die abstrahierbaren Entwicklungslinien von lateini-
festigkeit mittelalterlicher Texte äußert sich im Ne- schen zu volkssprachigen Texten, von Einzelszenen
beneinander verschiedener Überlieferungsträger, zu vielgliedrigen Spielen und vom Fokus auf die
die je unterschiedlich mit konkreten Aufführungen Glaubensverkündung zur Erweiterung durch vielfäl-
im Zusammenhang stehen. Die geistlichen Spiele tige Szen(ari)en werden von gegenläufigen Entwick-
sind zudem nicht vollständig von ihren (para)litur- lungen und dem Nebeneinander unterschiedlicher
gischen Ursprüngen abgelöst; der Raum des Darstel- Typen konterkariert und erlauben keine Rück-
lens etabliert keinen vom Raum des Zuschauens schlüsse auf generische Zusammenhänge.
strikt getrennten Sinnzusammenhang. Das spezifi- Aus der Liturgie der Ostergottesdienste entwi-
sche Verhältnis von Semiose und Performanz ist für ckeln sich im 9./10. Jahrhundert europaweit drei Ri-
die theaterhistorische Einordnung wie für die syste- ten, die adoratio (etwa: Kreuzesverehrung), depositio
matische Konzeptbildung eine Herausforderung. (Kreuzniederlegung) und die von rituellem Aufer-
stehungsjubel begleitete elevatio crucis (Kreuzerhe-
bung). Aus der elevatio entwickelt sich noch im 10.
Jahrhundert die visitatio sepulcri. Sie hat ihren Ur-
sprung in der Matutin des Ostersamstags, ihre
Grundlage ist der (aus Lk 24,5 abgeleitete) Ostertro-
pus: quem queritis in sepulcro, o christicolae (›wen
210 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

sucht ihr im Grab, ihr Christen?‹). Was dort mono- Heilsgeschichte vom Sündenfall bis zum Jüngsten
logisch vom das Grab Jesu bewachenden Engel ge- Gericht aus. Da das Fronleichnamsfest relativ jung
sprochen wird, erfüllt in der Umschreibung zum Di- ist (1264 für die gesamte Kirche als verbindlich ange-
alog die Voraussetzung zum Spiel. Der Schritt zum setzt), haben die Spiele von vornherein volksspra-
Spielen wird dann vollzogen, wenn der Tropus nicht chige Grundlagen. Ausgegliedert werden können
nur von zwei Halbchören gesungen, sondern auch Magdalenenspiele (die Maria Magdalena exempla-
szenisch dargestellt wird. Das geschieht zunächst risch als reuige Sünderin darstellen und so den Sinn
ohne theatrale Illusionsbildung (vgl. de Boor 1967, des Opfertodes Christi illustrieren), Abendmahl-,
8 f.). Lateinische Osterfeiern sind seit dem 10. Jahr- Grablegungs-, Himmelfahrts-, Pfingstspiele sowie
hundert europaweit belegt (Lipphardt 1975–1990; dramatisierte Marienklagen, die die Muttergottes im
zu regionalen Typen und ihrer Verbreitung vgl. de Gespräch mit dem Gekreuzigten und dem Jünger Jo-
Boor 1967, 28–80). In der Entwicklung findet eine hannes szenisch zeigen.
Verschiebung von einem Verweis auf Heilsgesche- Unter dem Einfluss der Reformation werden die
hen (commemoratio) hin zu seiner mimetischen geistlichen Spiele in katholische Gebiete zurückge-
Vergegenwärtigung (Verwendung von Kostümen, drängt, wo sie sich bis weit ins 17. Jahrhundert halten.
erste Bühnenelemente) statt. Zugleich beginnt eine In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurden Auf-
Emanzipation vom liturgischen Kontext: Der sich an führungen häufig untersagt; für das bis heute aufge-
die visitatio sepulcri anschließende Jüngerlauf hat führte Oberammergauer Passionsspiel mussten immer
keine Funktion innerhalb der Liturgie, sondern ist wieder Sondergenehmigungen eingeholt werden.
mimetische Repräsentation des biblischen Berichts
(Joh 20,3–4).
Zum inhaltlichen Kern der Osterspiele gehören
das Pilatusspiel und die Wächterszene vor dem Grab 4.2 Textträger, Spielformen
(beide in Osterfeiern noch nicht belegt), Auferste-
hung und Höllenfahrt Christi, der Salbenkauf der Die überlieferten Texte sind unfest. Ihre Gestalt
Marien, Krämerszene, Gärtnerszene, Jüngerlauf, hängt wesentlich vom Überlieferungstyp ab. Der
Emmausmahl. Mit Pilatus oder dem Teufel als Ge- Form und dem Umfang nach unterscheiden sich
genspieler Christi wird der abstrakte Antagonismus Textträger für Spieler oder den Spielleiter (Dirigier-
gut – böse unmittelbar erleb- und erfahrbar (Nowé rolle) oder aber für die individuelle Lektüre. Aller-
1985, 292, 304 f. u.ö.). dings kann ein Lesetext zur Spielvorlage umfunktio-
Weder gibt es eine generische Entwicklung von niert werden und umgekehrt. Auch Varianten inner-
der Feier zum Spiel, noch von lateinischen Feiern halb einer Notierung (etwa Alternativschlüsse) sind
oder Spielen zu volkssprachigen. Z. B. sind die Weih- möglich. Die Spielvorlagen waren Gebrauchstexte;
nachtsspiele, Nachbildungen des Ostertropus oder nicht selten wurden ganze Passagen aus vorhande-
früher Osterspiele, zuerst in Latein belegt; die deut- nen Spielen übernommen. So bilden sich regionale
schen Spiele des 13.-16. Jahrhunderts knüpfen aber Überlieferungsgruppen aus: etwa die rheinfrän-
nicht an die lateinischen an. Die Überlieferung kisch-hessische, die Tiroler, die schwäbisch-aleman-
volkssprachiger Osterspiele setzt in der Mitte des nische; in Resten sind weitere erkennbar. Das gilt
13. Jahrhunderts ein (Osterspiel von Muri). Lateini- auch für Fastnachtsspiele; von ihnen ist die weitaus
sche Spiele sind das Osterspiel von Benediktbeuren größte Zahl aus Nürnberg überliefert, daneben gab
und der Maastrichter Ludus paschalis; zweisprachig es wichtige Spielzentren in Lübeck, Tirol und der
sind das Trierer und das Zwickauer Osterspiel. In Schweiz (vgl. Simon 2003).
den Passionsspielen werden die Osterereignisse um Zwischen verschiedenen Formen geistlicher
heilsgeschichtliche Zusammenhänge, v. a. die Pas- Spiele kann es zum Austausch kommen. Das Oster-
sion, aber auch um Wundertaten Jesu erweitert. Bib- spiel etwa kann eingebettet sein in den größeren
lische Gestalten, wie Propheten, können weitere heilsgeschichtlichen Zusammenhang des Passions-
heilsgeschichtliche Bezüge herstellen. Die Passions- spiels, umgekehrt können einzelne Szenen aus die-
spiele entwickeln sich später als Osterspiele, gewin- sem sich verselbständigen, etwa zum Emmaus-Spiel.
nen aber v. a. im 15. und 16. Jahrhundert immer Selbst zwischen weltlichen und geistlichen Spielen
mehr an Bedeutung. ist nicht immer sachlich trennscharf zu unter-
Die Fronleichnamsspiele greifen auf die gesamte scheiden. In Thematik, Figurenarsenal (Arztspiele;
4. Mittelalter – geistliches Spiel 211

Krämerszenen in Osterspielen und Zehnjungfrauen- Jahrhundert erheblichen Umfang; das Passionsspiel


spielen) und den rekonstruierbaren Aufführungs- von Bozen 1514 dauerte sieben, das von Valenci-
formen (Simultanbühne) gibt es Überschneidungs- ennes 1547 sogar 25 Tage. Das Anwachsen des Lu-
punkte. Der erbauliche Impetus von Fastnachtsspie- zerner Osterspiels kann man anhand des reich über-
len ist in den Nürnberger Spielen zwar wenig, in den lieferten Quellenmaterials (vgl. Greco-Kaufmann
älteren Lübecker Spielen aber deutlich ausgeprägt 2009) nachvollziehen. In der Mitte des 15. Jahrhun-
(Simon 2003). Bekannt sind auch Moralitäten, die in derts wurden in Brüssel zwei siebenteilige Zyklen
der Fastnachtszeit zur Aufführung kamen. zur Hl. Jungfrau veranstaltet, bei denen in jedem
Weihnachtsspiele und die lateinischen Feiern Jahr ein Spiel aufgeführt wurde.
wurden stets, lateinische Spiele überwiegend in der
Kirche aufgeführt (Kirchenraumspiel), volksspra-
chige Spiele überwiegend auf einem öffentlichen
Platz (Marktspiel). Das Fronleichnamsspiel ist in die 4.3 Soziale Einbindung
Prozession integriert. Auch das Fastnachtsspiel ist
anlassgebunden und wird terminlich festgelegt an Spiele sind Phänomene spätmittelalterlicher Stadt-
bestimmten Orten (denjenigen geselligen Verkehrs: kultur. Die geistlichen Spiele werden von Kirche und
Wirtshaus, Marktplatz) aufgeführt. Oft dringen die Stadt, teilweise auch von zunftähnlichen Bruder-
Spielenden auch unangekündigt in einen Raum ein, schaften getragen, zu denen die Darsteller sich zu-
führen ein kurzes Spiel auf, erfahren dafür eine Be- sammenschließen konnten; für die Weihnachts-
wirtung und ziehen weiter (Einkehrspiele). spiele sind auch (Latein-)Schulen als Träger belegt.
Gespielt wird stets auf einer Simultanbühne, auf Die Darsteller der lateinischen Feiern und Spiele
der die einzelnen Spielstationen verteilt sind (man- sind Kleriker und geistliche Schüler, auch in den
siones, auch: burgen, der allgemeine Spielplatz da- volkssprachigen Spielen treten neben Laien noch
zwischen heißt locus communis oder die gemeine Geistliche auf. Diese tragen in lateinischen Auffüh-
burc). Für Himmel, Hölle und das Grab Christi er- rungen stets, in volkssprachigen oft ihre geistlichen
richtete man Bühnenaufbauten; Pilatus’ Haus, das Gewänder, Laien dagegen tragen die Kleidung ihrer
Haus der Juden, der Krämerstand hingegen waren Zeit. Weltliche Spiele werden von Handwerksgesel-
bloße mit Sitzen und manchmal mit einem Dach len, teilweise auch von Patriziersöhnen aufgeführt.
versehene Stände. Ein Fass konnte den Berg der Ver- Zu den Anfängen weltlichen Spiels gehören die
suchung, die Tempelzinnen oder den Thron des Teu- Neidhartspiele (schwankhafte Spiele um die fiktiona-
fels andeuten. In der Entfernung der Spielstationen lisierte Figur des historischen Minnesängers Neid-
zu Himmel und Hölle wurde die angedeutete Topo- hart von Reuenthal), Arztspiele und Jahreszeiten-
grafie topologisch einer Achse gut–böse zugeordnet. spiele. Die sich aus ihnen entwickelnden Fastnachts-
So werden die in den Spielstationen repräsentierten spiele scheinen etwas später als die geistlichen Spiele
konkreten Orte zugleich zu symbolischen Orten (für zur festen Einrichtung geworden zu sein; lange be-
Luzern zahlreiche Abbildungen bei Greco-Kauf- standen keine festen Truppen, gespielt wurde zu-
mann 2009; für Alsfeld Freise 2002, 488). nächst auf freien Plätzen ohne eigentliche Bühne.
Zwischen dargestellter und Darstellungssituation Das Tableau der Themen, Motive und Spieltypen
vermittelt ein Spielleiter (proclamator, precursor, re- (einfachere Handlungs- oder aber Revue-/Reihen-
gens, rector) als Kommentator und Exeget, der auch spiele, daneben gibt es Mischtypen) ist durch die
ganz banal für Ruhe im Publikum zu sorgen hat. Die Überlieferungslage erheblich verzerrt.
dramatische Handlung beschränkt sich oft auf die Die aufgeführten Handlungen, (zeit)historische
Bewegung von einer zur nächsten Station. Dabei wie auch schwankhafte, entwickeln sich im Bezugs-
wird im Prinzip mimetisches Spiel gefordert, auch rahmen abstrakter Werteordnungen und Normsys-
wenn stereotype Gebärden z. T. aus der Liturgie teme. Im geistlichen Spiel werden eschatologische
übernommen werden (vgl. Roeder 1974). Seit dem Zukunft, historische Vergangenheit und lebenswelt-
16. Jahrhundert unterstützt eine zunehmend raffi- liche Gegenwart miteinander verschränkt. Dabei
nierte und effektvolle Theatermaschinerie die Mi- sind nicht nur die weltlichen, sondern ebenso die
mesis. geistlichen Spiele stets auch Ausdruck und Medium
Die Spiele dauerten zuerst nur wenige Stunden, gesellschaftlicher Selbstdarstellung, in der die Stadt
dann einen Tag und erreichten besonders im 16. sich als Gemeinschaft präsentiert und performiert:
212 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

So wird das Publikum Zeuge einer symbolischen sowohl ritueller Funktionen wie dramatischer For-
Sanktionierung ständespezifischer Vergehen, wenn men (vgl. Linke 1987; Quast 2005, 109–139) lässt
in den Teufelsszenen der Osterspiele Vertreter der sich aus drei einander überschneidenden Perspekti-
städtischen Gesellschaft als Betrüger in die Hölle ge- ven beschreiben:
zerrt werden. Im Spätmittelalter wurden die Spiele
nicht selten von Tausenden auswärtiger Gäste be-
sucht, wie noch heute das Oberammergauer Passi- 4.4.1 Kultische Partizipation –
onsspiel (Freise 2002, die einschlägigen Beiträge in (distanziertes) Zuschauen
Meier/Meyer/Spanily 2004).
Die Spiele erwarten vom Publikum einerseits das
Schauen einer vorgeführten Handlung, binden es
andererseits im Sinne kultischer Partizipation in die
4.4 Forschungsperspektiven dargestellte Handlung ein. Die Übergänge sind flie-
ßend, auch innerhalb eines Spiels kommt es zu
Eine Vielzahl von volkssprachigen geistlichen Spie- wechselnden Akzentsetzungen. Eine strikte Abgren-
len (Bergmann 1986), lateinischen Osterfeiern zung zwischen Spiel und Liturgie ist nicht möglich
(Lipphardt 1975–1990) und die v. a. volkssprachige und entspräche nicht der zeitgenössischen Wahr-
Spiele betreffenden Quellen (vgl. Neumann 1987; nehmung; das zeigt schon der Umstand, dass Spiel
Greco-Kaufmann 2009) sind, wenn auch noch kei- wie Liturgie mit ähnlichen Begriffen bezeichnet
neswegs vollständig, erschlossen; in Editionen werden (representatio; Christus kann noster tragicus
wurde zuletzt zunehmend die Unfestigkeit der Texte genannt werden). Die Aufführung von Osterspielen
berücksichtigt, indem die verschiedenen Überliefe- mündet regelmäßig in das gemeinsame Singen des
rungsträger gleichberechtigt behandelt und zuei- Osterlieds »Christ ist erstanden«, dem sich noch ein
nander in Beziehung gesetzt wurden. Gottesdienst anschließen kann. Die Prologe markie-
Für die neuere Forschung wegweisend sind die ren eine Grenze, die einerseits auf den Spielcharakter
erst in jüngerer Zeit diskutierten Thesen Rainer hindeutet, andererseits das Dargestellte mit dem
Warnings (zusammenfassend Haug 2004), denen Heil des Publikums verknüpft, etwa auch Erlösung
zufolge die Spiele nicht in der Funktion des Keryg- verspricht (tatsächlich konnte nicht nur für das Spie-
mas (christliche Verkündigung) aufgehen. In der len, sondern auch für das Zuschauen Ablass gewährt
Höllenfahrt werde die Heilswahrheit christlicher werden).
Verkündigung in eine mythische Logik des Wider- In den Spielen gewinnt das Volk mehr Teilhabe an
streits göttlicher und widergöttlicher Kräfte zurück- den liturgischen Kulthandlungen; aber dies ist durch
gespielt. Das unblutige Opfer der christlichen Litur- einen Verlust an ritueller Verbindlichkeit erkauft. Es
gie regrediere in der Geißelung Christi zum grau- bilden sich auch sekundäre Rituale aus, z. B. die kult-
sam-archaischen Sündenbock-Opfer. Der risus analogen Marienklagen (Müller 2000, 70–74); die
paschalis (Osterlachen) sei rituelles, bannendes Ver- dargestellte Verspottung des Dornenkönigs kann in
lachen des besiegten Bösen (vgl. Warning 1974). faktische Aggression umschlagen (Warning 1974;
Die jüngste Forschung hat aus- wie eingrenzende Kreuder 2008), die nicht wie bei der Partizipation an
Ansätze verfolgt: Einerseits wurde mit der Veror- einem Ritual kontrollierbar ist.
tung in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitli- Besonders in den Wächter-, Krämer-, Gärtner-
chen Festkultur auf Gemeinsamkeiten zwischen und Emmaus-Szenen emanzipiert sich das Oster-
geistlichem Spiel, weltlichem Spiel und späthöfi- spiel von den ehemaligen kultischen Zusammen-
scher bzw. städtischer Repräsentationskultur hinge- hängen. Dabei ist wohl auch mit Improvisationen zu
wiesen (vgl. die einschlägigen Beiträge in Meier/ rechnen, die die entsprechenden Szenen systema-
Meyer/Spanily 2004). Andererseits hat man die tisch in die Nähe der lazzi der Commedia dell’arte
Spiele als Lesetexte und als Aufführungen in Bezie- (vgl. Kap. III.6) rücken lassen (Katritzky 2007). Im
hung zu weiteren (Massen-)Medien des Spätmittel- Innsbrucker Osterspiel nimmt das Krämerspiel einen
alters, etwa zu Gebeten, Predigten, geistlicher Epik, bedeutenden Teil, im Erlauer Osterspiel mehr als die
gesetzt (Herberichs 2007) und dabei ihre spezifi- Hälfte des Textes ein.
schen medialen und kommunikativen Eigenheiten
weiter profiliert. Die zentrale Frage nach Merkmalen
4. Mittelalter – geistliches Spiel 213

4.4.2 Mimetisches Spiel – vorzuführen, der Jüngerlauf kann auf die komische
performative Vergegenwärtigung Diskrepanz zwischen einem alten, trinkfreudigen
Petrus und einem arroganten Johannes abheben, das
Ziel der geistlichen Spiele ist die Erbauung (aedifi- Gastmahl zu Emmaus in wüste Trink- und Schläge-
catio) der Anwesenden durch Verkündung und Ver- reiszenen ausarten. Einzelne Szenen können dann
gegenwärtigung des Heilsgeschehens; dessen mime- zu Kernen von selbständigen Fastnachtsspielen wer-
tischer Nachvollzug zielt auf die Emotionalisierung den.
der Zuschauenden ab und soll sie zur Identifikation
anregen (compassio). Der Status der Spiele changiert
somit zwischen theatraler Darstellung und theatrali- 4.4.3 Fiktionalität
sierter religiöser Praxis.
Als erster konzeptualisiert Amalar von Metz im Der beim spätmittelalterlichen Spiel – und zwar
8./9. Jahrhundert den liturgischen Ablauf als erin- beim Fastnachtsspiel prinzipiell nicht anders als
nernde Vergegenwärtigung (rememoratio) und beim geistlichen Spiel – vorausgesetzte Fiktionali-
quasi-dramatische Re-Inszenierung von Christi Le- tätsbegriff setzt andere Grenzen als ein moderner.
ben (vgl. Nowé 1985, 271; Müller 2000, 58–68). Zwar Die im geistlichen Spiel erinnerte und vergegenwär-
können so alle liturgischen Handlungen auf das Le- tigte Heilswahrheit hat einen nichtfiktionalen An-
ben Christi bezogen werden, aber meist werden da- spruch. Das Herzeigen des Grabtuches unter der
bei nur punktuelle Beziehungen gestiftet. Die Litur- Antiphon »Cernitis, o Socii« ist zeitenthoben, es
gie ist insofern a-mimetisch, als ihr Ablauf nicht der richtet sich »in publicum« (Nowé 1985, 278); damit
Vita folgt; sie kann nicht im Rememorativen aufge- ist die Spielfiktion aufgehoben, die zeitlose Heils-
hen. Die Spiele ersetzen die (para)liturgische Ord- wahrheit von Christi Auferstehung wird verkündet
nung durch eine historische – also prinzipiell mime- und im Zeigen evident. Das Publikum ist gleichzei-
tische –, die sich an der Abfolge der Heilsgeschichte tig die Gemeinde und steht darüber hinaus für die
orientiert. Die Auswahl der Szenen, etwa der Wun- Gesamtheit des Christentums.
derszenen in Passionsspielen, richtet sich dabei nach Wenn die Zuschauenden angespielt oder be-
der ihnen zugeschriebenen heilsgeschichtlichen Be- schimpft werden, wenn unter ihnen scheinbar nach
deutung. Freiwilligen gesucht wird und Figuren aus dem Pub-
Der in der Messe als Hostie präsente Leib Christi likum heraus auftreten, ist andererseits eine gewisse
gewinnt im theatralisch-mimetischen Spiel leibliche Stabilität dieser Grenzen Voraussetzung. Ansätze
Anschaulichkeit. Bei der paraliturgischen depositio zur Typenkomödie etwa bei Petrus, dem Krämer,
konnte – quasi-mimetisch – ein Holzcruzifixus be- den Juden und Soldaten, auch bei Maria Magdalena
graben werden oder – symbolisch – eine Hostie. Die (vgl. Roeder 1974, 182–208) lassen sich als Momente
Osterfeiern betonen die Absenz Christi im leeren von Selbstreferenzialität werten. Ebenso basiert das
Grab, die Osterspiele haben ihr Telos nicht zuletzt in die Trauer und die Gebärden der drei Marien spöt-
der Körperlichkeit des Auferstandenen (Gärtner-, tisch karikierende Verhalten des Knechts Rubin in
Emmaus-Szenen). Indem Darstellungs- und darge- den Krämerszenen der Osterspiele auf der Überein-
stellte Zeit verschmelzen, wird am Körper des Chris- kunft, dass davon die Heilswahrheit der christlichen
tus-Darstellers eine a-hermeneutische Aura des Hei- Verkündigung nicht betroffen ist.
ligen präsent (vgl. Petersen 2004). In den Passions- Symptom für die instabile Grenze zwischen Fakti-
spielen wird der grausam geschundene Körper schem und Fiktionalem hingegen sind nicht nur die
Christi zum Katalysator für affektive Teilnahme im in die Texte eingeflossenen Ermahnungen, sich ru-
Sinne der compassio (vgl. Müller 1997; Kreuder hig zu verhalten und nicht in den Spielverlauf einzu-
2008). greifen; Quellen berichten von pogromähnlichen
Besonders die heilsgeschichtlich weniger ent- Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung nach Pas-
scheidenden Szenen öffnen sich einer mimetischen sionsspielen. Polemische Zuspitzungen und satiri-
Darstellung von zeitgenössischer Wirklichkeit, die sche Schwankerzählungen erzählen von Beschwer-
nicht selten karikierend ins Derbe und Obszöne um- den des Christus-Darstellers, der zu hart geschlagen
schlägt. In den Osterspielen ermöglicht die Seelen- worden sei oder von der ›Erektion des Christus‹
fangszene eine satirische Ständerevue, die Krämer- beim Anblick der Darstellerin der Maria Magdalena
szene gibt Anlass, einen betrügerischen Quacksalber (Neumann 1987, 882, 912). Reformatorische Theo-
214 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

logen werfen den Spielen neben der Profanierung barkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kul-
des heiligen Gegenstands die Verwischung der turtechnik und Ethnographie. München 2000, 53–77.
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5. Frühe Neuzeit – das englische Drama 215

5. Frühe Neuzeit – 5.1 Die Gattungen des Dramas


das englische Drama Eine der wichtigsten verlegerischen Entscheidungen
der Frühen Neuzeit betraf die Frage der Gattungen
In der Frühen Neuzeit, einer Epoche, die maßgeb- des Dramas. 1623 erschien in London die erste
lich durch die Erfindung des Buchdrucks geprägt Werkausgabe der Dramen William Shakespeares.
war, in der aber ein Großteil der Bevölkerung weder Die Herausgeber dieses ›First Folio‹ (1623), Shakes-
lesen noch schreiben konnte, stellte die Bühne – ne- peares Schauspielerkollegen Henry Condell und
ben der Kirche – einen der wichtigsten öffentlichen John Hemings, folgten damit dem Vorbild Ben Jon-
Räume dar, in dem politische Entwicklungen, religi- sons, dessen von ihm selbst veranlasste und über-
öse Kontroversen, Nachrichten aus der Neuen Welt, wachte Werkausgabe 1616, im Todesjahr Shakes-
aber auch scheinbar kurzlebige Tagesaktualitäten peares, erschienen war. Diese beiden Projekte waren
wie die neueste Mode, sensationelle Verbrechen in mehrfacher Hinsicht symptomatisch für Ver-
oder Skandale repräsentiert werden konnten. Dank schiebungen im literarischen Feld der Frühen Neu-
eines wachsenden Bewusstseins für den fiktionalen zeit. Sie zeugten von der sich allmählich durchset-
Charakter des Dramas konnten auch heikle The- zenden Sensibilität für ›Autorschaft‹ und damit für
men, wenn auch meist mythologisch verbrämt oder den Begriff des von einem einzelnen ›Erschaffer‹
in historisch ferne Zeiten gerückt, auf die Bühne ge- verantworteten Werks (vgl. Wall 2006). Eng verbun-
bracht werden. Das Theater sprach, zumindest po- den damit verwiesen sie auch auf die sich ändernde
tenziell, alle Bevölkerungsschichten an und entfal- Stellung des Dramas, das sich von einer Gebrauchs-
tete eine Strahlkraft wie selten vorher oder nachher. vorlage für kommerzielle Schauspieltruppen zu ›Li-
In den verschiedenen Ländern Europas entwickelten teratur‹ zu entwickeln begann. Vor den Publikati-
sich formal und thematisch eigenständige Theater- onsereignissen von 1616 und 1623 wurden die Dra-
formen, wie die italienische Commedia dell’arte, das men zeitgenössischer Verfasser nicht in teuren
deutsche Barockdrama, das spanische Drama des Si- Sammelausgaben im repräsentativen Folio-Format,
glo de Oro und die Französische Klassik. Wenn auch sondern allenfalls in kleinformatigen Einzeldrucken
die Geläufigkeit dieser Epochen- und Gattungsbe- (Quartos) publiziert. Mit der Veröffentlichung sei-
zeichnungen nach wie vor von ihrer literatur- und ner gesammelten dramatischen Werke erhebt Jon-
theaterhistorischen Bedeutung zeugt, so hat doch, son, ebenso wie nach ihm Condell und Hemings für
schaut man auf die Aufführungspraxis im 21. Jahr- Shakespeare, den Anspruch auf literarische Dignität
hundert, das dramatische Schaffen eines Landes die für das bis dahin gegenüber den traditionellen lyri-
Zeiten besonders gut überdauert: Aus dem europäi- schen und epischen Gattungen zweitrangige Drama.
schen Repertoire der Frühen Neuzeit werden v. a. die Neben der Aufwertung der Gattung Drama als sol-
Werke der elisabethanischen und jakobäischen Dra- cher dokumentiert das Shakespeare-Folio von 1623
matiker, und hier v. a. die Dramen Shakespeares, auf- aber auch die zeitgenössischen Vorstellungen von
geführt – und zwar weltweit. Diese globale Vorrang- Dramen(unter)gattungen im Speziellen.
stellung hat sicherlich auch mit späteren Entwick- Die 36 Theaterstücke, die in der Folioausgabe ab-
lungen zu tun, wie der Bedeutung des Britischen gedruckt sind, sind in drei Abteilungen angeordnet:
Empire und seines gezielten Kulturexports, ist aber Komödien, Historien und Tragödien. Die Reihenfolge
auch das Ergebnis von spezifischen Entwicklungen und Systematik innerhalb dieser Gruppen sind pro-
im englischen Theater des 16. und frühen 17. Jahr- blematisch, z. B. sind die Historien nach der Chro-
hunderts. Dieses ist somit einerseits ein europäi- nologie der behandelten Könige, von König Johann
scher Sonderfall, andererseits exemplarisch für den bis König Heinrich VIII., angeordnet, die Komödien
Übergang vom mittelalterlichen Spiel zum Drama dagegen (produktions)chronologisch ganz willkür-
der Moderne und soll daher im Mittelpunkt der fol- lich, mit dem späten The Tempest (1610/11) in der
genden Betrachtungen stehen. positio princeps (vgl. Gabler 2000, 216 f.). Gattungs-
zugehörigkeit und, im Fall der Historien, der Bezug
auf historische Vorgaben, sind wichtiger als das Ent-
stehungsdatum. Auch die Zugehörigkeit einzelner
Dramen zu ›ihrer‹ Gattung ist nicht unumstritten;
spätere Herausgeber und Kommentatoren haben
216 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

sich mit der Einführung weiterer Untergattungen – schließlich trägt nur das auch als All Is True be-
etwa der Einteilung der formal und thematisch sehr kannte Drama über Heinrich VIII. die ›korrekte‹
unterschiedlichen Komödien in ›heitere Komödien‹, Gattungsbezeichnung im Titel, wenn auch kombi-
›Problemstücke‹ und ›Romanzen‹ – beholfen. Einige niert mit der auf die Lebensgeschichte verweisenden
der Stücke sind später ›gewandert‹: Die Folio- Benennung – The Famous History of the Life of King
›Tragödien‹ Troilus and Cressida (1601/1603) und Henry the Eighth (1613) –, während das Drama über
Cymbeline (1609/1610) etwa werden heute eher als Richard III. als tragedy bezeichnet wird. Die anderen
›Problemstück‹ respektive ›Romanze‹ behandelt. Historien werden entweder durch ihre Zugehörig-
Auch wenn die Herausgeber der Folioausgabe die keit zu einem ›Mehrteiler‹ (als erster, zweiter und
Einteilungen aus heutiger Sicht unreflektiert vorge- ggf. dritter Teil der Königsdramen über Heinrich IV.
nommen und ihre Kategorien sich als instabil erwie- und Heinrich VI.) oder durch den Zusatz ›Leben
sen haben, war doch – nach der Entscheidung, (und Tod)‹ markiert – The Life and Death of King
Shakespeares Dramen überhaupt zu drucken – die John (1594–1597), The Life of Henry the Fifth (1600).
Entscheidung, die drei Dramengattungen Komödie, Die Einzeltitel rücken damit die Herrschaft des je-
Historie und Tragödie zum wichtigsten Organisa- weils behandelten Königs in den Vordergrund; erst
tionsprinzip zu machen, grundlegend für die weitere aus der rückschauenden Anordnung der Folioaus-
Rezeption von Shakespeares Werk. Das Bewusstsein, gabe ergibt sich eine Art chronologische Gesamt-
dass Gattungen maßgeblich den inneren Zusam- ›Historie‹ Englands in der Zeit der Rosenkriege, die
menhang des Werks stiften, bestimmte die Editions- in der Herrschaft der Tudor-Könige Heinrich VII.
politik späterer Herausgeber und damit auch die Re- und VIII. kulminiert. Diese teleologische Interpreta-
zeption der einzelnen Stücke. Erst die Oxford-Aus- tion der Geschichte (›Tudor-Mythos‹) lässt sich
gabe der Complete Works (1986) durch Stanley Wells nicht ohne Weiteres konstruieren, wenn die Königs-
und Gary Taylor durchbrach diese scheinbare Selbst- dramen nach ihrem Entstehungsdatum angeordnet
verständlichkeit, indem sie die Dramen nach einem werden, da die sich auf spätere historische Ereignisse
strikt chronologischen Prinzip anordnete und damit beziehende York-Tetralogie (King Henry the Sixth, I-
die Wahrnehmung von Produktionskontexten und III, 1623, und King Richard the Third, 1597) vor der
Bezügen zwischen den Texten radikal veränderte. historisch früheren Lancaster-Tetralogie (King Ri-
Die Zuordnung zu einer Gattung, die häufig chard II, 1597, Henry the Fourth, I-II, 1598, und
schon im Titel markiert ist – The Comedy of Errors Henry the Sixth, 1623) entstand – in der Sprache
(1594), The Lamentable Tragedy of Titus Andronicus heutiger Filmproduktionen, das ›Sequel‹ vor dem
(1594), The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark ›Prequel‹.
(1602) – bestimmt also die zeitgenössische Rezep- Schließlich weichen die Titel der Quartoausgaben
tion. Sowohl auf dem Theater als auch bei der – wie auch die gesamte Textgestalt – oft signifikant
Drucklegung spielt die Gattung eine wichtige Rolle von denen der Folioausgabe ab. King Lear (1606)
für die Aufführungspraxis (z. B. die Behängung der wird in der Quartoausgabe von 1607/08 (Q1) als
Bühne mit schwarzen Tüchern bei Tragödienauffüh- William Shakespeare: His True Chronicle Historie of
rungen), die Erwartungshaltung des Publikums bzw. the life and death of King Lear and his three Daugh-
der Leser und die Wertung des jeweiligen Stücks; im ters, in der Folioausgabe dagegen lakonisch als The
Anschluss an klassische Poetiken ist etwa die Tragö- Tragedy of King Lear bezeichnet. Die jeweilige para-
die eine besonders ›hochwertige‹ Gattung. Trotz die- textuelle Einführung des Dramas erzeugt äußerst
ses hochentwickelten Bewusstseins für Gattungen unterschiedliche Effekte bezüglich Gattungszuord-
waren die getroffenen Zuordnungen und auch poe- nung und Rezeptionslenkung. Die Textfassungen
tologische Gattungsdiskussionen der Zeit bemer- (Q1, Q2 von 1619, F von 1623) sind zudem so unter-
kenswert unsystematisch und diffus. Um beim Bei- schiedlich, dass die Herausgeber der Oxfordausgabe
spiel des Shakespeare-Folios zu bleiben: Bei den Ko- von 1986, in Abweichung von früheren, konflatio-
mödien trägt nur die bereits genannte Comedy of nierten Ausgaben, zwei getrennte Texte abdrucken,
Errors einen Gattungsverweis im Titel. Die Tragö- die jeweils auf der Quarto- und Folio-Vorlage beru-
dien sind alle als solche markiert, mit Ausnahme der hen. Auch andere Shakespeare-Dramen wie Hamlet,
Geschichte Timons von Athen, die gleichsam als Merchant of Venice (1598) und Richard III tragen in
biografische Darstellung ausgewiesen ist: The Life of verschiedenen Druckfassungen divergierende Titel
Timon of Athens (1605–1608). Bei den Historien und Gattungsbezeichnungen.
5. Frühe Neuzeit – das englische Drama 217

Was bedeutet dieses ›Durcheinander‹ für den Die Vermischung des Komischen mit dem Tragi-
Gattungsbegriff der Frühen Neuzeit? Einerseits ist schen stellt nicht nur einen ästhetischen Verstoß dar,
bei den Produzenten von Theaterstücken – den Ver- sondern auch die Transgression einer als natürlich
fassern wie auch den Schauspieltruppen, die sie auf verstandenen sozialen Hierarchie. Die unangemes-
der Bühne realisieren – und bei den Autoren von senen ›Skurrilitäten‹ auf der Bühne rufen eine
zeitgenössischen Poetiken durchaus ein ausgepräg- ebenso unangemessene Reaktion im Publikum her-
tes Gattungsbewusstsein vorhanden, das in der klas- vor, lautes Gelächter anstelle von Bewunderung und
sischen poetologischen Tradition, insbesondere der Erkenntnis. Kategorien werden im englischen
Poetik des Aristoteles (vgl. Kap. I.2), verankert ist. Drama der 1580er und 1590er Jahre nicht regelge-
Andererseits durchbricht die Theaterpraxis der Frü- recht getrennt, das (sozial gemischte) Publikum so-
hen Neuzeit, wie noch zu zeigen sein wird, das klas- mit auch nicht in der richtigen Rezeptionshaltung
sische Modell. Die Dramen lassen sich nicht immer geschult. Diese Kritik des Dichters und Höflings Sid-
eindeutig in die aristotelischen Hauptgattungen Tra- ney, die gleichermaßen poetologischer wie gesell-
gödie und Komödie einordnen und befolgen nicht schaftlicher Art ist, verweist auf eine der wesent-
deren Gestaltungsregeln. Insbesondere verstoßen lichen Entstehungsbedingungen des englischen
die englischen Dramen – hierin besteht ein wesentli- Theaters der Frühen Neuzeit, nämlich seine Verwur-
cher Unterschied zur französischen Theaterliteratur zelung in der mittelalterlichen Volkstradition, die
– gegen die Forderungen, eine einheitliche und ab- mit klassisch-humanistischen Einflüssen und mit
geschlossene Handlung nachzuahmen und auf sach- frühkapitalistischen Produktionsbedingungen –
gemäße und angemessene Weise darzustellen (Poet. dem kommerziellen Londoner Theater – eine enge
1450a29–1450b14, 23; 1451a24 -1451b, 29). D. h., Verbindung eingeht. Eine Diskussion der dramati-
laut der aristotelischen Poetik sollten Tragödien schen Textgattungen ist von diesen soziokulturellen
nicht komisch, Komödien nicht tragisch sein. Es Faktoren nicht zu trennen.
sollte auch eine Korrespondenz zwischen ästheti-
scher Darstellung und sozialer Ordnung vorliegen:
Könige stellen das Personal von Tragödien, das
›Volk‹ das von Komödien (vgl. Kap. I.2.5). Gegen 5.2 Die doppelte Tradition:
diese normativen Vorgaben verstößt das englische Volkstheater und Humanismus –
Drama notorisch. Spiel und Literatur
In seiner explizit als Verteidigung der englischen
Dichtkunst betitelten Poetologie, The Defence of
Poesy (1581/1595), kritisiert Sir Philip Sidney das Das Volkstheater der Frühen Neuzeit entwickelte
Drama seiner Zeit als unklassisch, ungelehrt und sich aus szenischen Elementen der christlichen Li-
unelegant, »observing rules neither of honest civility turgie (vgl. Kap. III.4). Im Spätmittelalter begannen
nor skilful poetry« (Sidney 2008, 243). Die verbreite- sich diese Spielszenen zu verselbständigen und bis
ten Verstöße gegen die Einheiten von Ort, Zeit und zu einem gewissen Grad zu säkularisieren: Sie verla-
Handlung werden laut Sidney durch Figuren- und gerten sich von der Kirche auf den Marktplatz, wur-
Stilmischungen noch verschärft, so dass monströse, den auf Englisch anstelle von Latein und von Laien-
da unreine Gattungen entstehen: darstellern anstelle von Klerikern aufgeführt. Die ur-
But besides these gross absurdities, how all their plays be sprünglichen Einzelszenen entwickelten sich zu
neither right tragedies, nor right comedies, mingling kings Mysterienspielen, die Stoffe aus dem Alten und
and clowns, not because the matter so carrieth it, but thrust Neuen Testament mit teils deftigen Schwankelemen-
in the clown by head and shoulders to play a part in majes- ten und Alltagsszenen verbanden. Eine weitere Gat-
tical matters with neither decency nor discretion, so as tung, die im 14. Jahrhundert entstand und bis ins 16.
neither the admiration and commiseration, nor the right
sportfulness, is by their mongrel tragi-comedy obtained. Jahrhundert populär blieb, waren die Moralitäten,
[…] So falleth it out that, having indeed no right comedy, in allegorische Dramen, in denen eine die Menschheit
that comical part of our tragedy, we have nothing but scur- repräsentierende Figur vor die Entscheidung zwi-
rility, unworthy of any chaste ears, or some extreme show of schen Laster und Tugend gestellt wird (vgl. Weiß
doltishness, indeed fit to lift up a loud laughter, and nothing
else: where the whole tract of a comedy should be full of de-
2000, 48–51). Diese beiden Spielformen, die für den
light, as the tragedy should be still maintained in a well- Übergang zur Frühen Neuzeit charakteristisch sind,
raised admiration. (Sidney 2009, 244) haben sich bis heute vereinzelt erhalten, etwa in
218 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Form der Oberammergauer Passionsspiele. Die Ein- direkte Darstellung von Gewalt auf der Bühne zu ver-
bettung im Leben der Gemeinde war in der Auffüh- zichten. So blutrünstig Senecas Dramen auf der In-
rungspraxis der Frühen Neuzeit von großer Bedeu- haltsebene auch sind, so sehr distanzieren sie sich
tung; die Stücke wurden oft von Handwerkerzünften mittels der Gattungskonvention von der unmittelba-
aufgeführt und nahmen aktuelle Anliegen, z. B. Kla- ren Repräsentation von Gewalt. Marlowe nutzt diese
gen über hohe Getreidepreise und Steuern, auf. Die doppelte – textuelle und gespielte – Repräsentations-
thematische und theatrale Hybridität des Volksthea- ebene, um – etwa in seinem überaus erfolgreichen
ters, d. h. der »unbekümmerte […] Anachronismus Tamburlaine (Teil I 1587/8, Teil II 1588) – ständig
und das unmittelbare Nebeneinander von erhabe- sich überbietende Gewaltexzesse zu zeigen und ethi-
nen und derb-komischen Szenen« (Weiß 2000, 49), sche Werte des Humanismus in Frage zu stellen,
wurde auch kennzeichnend für die Theaterpraxis ohne dabei das Publikum vollständig zu verprellen.
des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, also die Im Gegenteil – wie Kent Cartwright argumentiert –
Blütezeit des englischen Dramas, die mit den Namen integriert Marlowe kritische und ambivalente Reakti-
Marlowe, Shakespeare und Jonson verbunden ist. In onen auf Tamburlaines Gewaltspektakel in die Struk-
dieser Volkstradition hat die von Sidney beklagte tur des Stücks, indem er Nebenfiguren eine entspre-
Vermischung von hohem und niederem Ton, von chende Stellvertreterfunktion für die Zuschauer zu-
»kings and clowns«, von Komödie und Tragödie ih- schreibt. So ist Zenocrate, zugleich Tamburlaines
ren Ursprung. Ehefrau und die Tochter seines Kriegsgegners, ange-
Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist das hu- sichts des Massakers an der Bevölkerung von Damas-
manistische Theater, insbesondere die lateinischen kus zerrissen zwischen ihrer Liebe und ihrem Ab-
Schulautoren Plautus, Terenz und Seneca (vgl. Kap. scheu angesichts des »bloody spectacle« (Tambur-
III.2.7). In der humanistischen Pädagogik dienten laine I, 5.2.277). Ihre Augen, die gleichzeitig von dem
Lektüre und Aufführung lateinischer, und bald auch Anblick übersättigt sind und immer noch mehr se-
englischer, Dramen der Schulung des öffentlichen hen wollen/sollen, stehen in Opposition zu ihrem
Auftretens und der Kunst des Vortrags wie auch der Herzen, das an der Liebe zu Tamburlaine festhält und
ethischen Entwicklung des Individuums (vgl. Cart- zugleich um die Opfer, darunter ihr Vater, trauert:
wright 1999, 13–20). Die ersten englischsprachigen Zeno. Ah, wretched eyes, the enemies of my heart,
Dramen in der humanistischen Tradition entstan- How are ye glutted with these grievous objects,
den denn auch im Kontext der Gymnasien (›gram- And tell my soul more tales of bleeding ruth!
mar schools‹) und Universitäten, etwa Ralph Roister (Tamburlaine I, 5.2.278–80)
Doister (1552), ein Stück des Schulmeisters von Eine Rezipientenposition, die die Darstellung von
Eton, Nicholas Udall, oder das anonyme Gammer Gewalt bei allem Entsetzen begierig konsumiert, ist
Gurton’s Needle (ca. 1553), das an der Universität über diese Figur dem Drama eingeschrieben. Marlo-
Cambridge aufgeführt wurde. Plautus und Terenz wes Dramaturgie stellt damit eine ›Wasserscheide‹
waren die maßgeblichen Vorbilder für diese frühen, zwischen dem humanistisch-didaktischen Drama
von Schülertruppen aufgeführten Komödien wie der frühen Tudor-Zeit und der komplexen Kon-
auch für die späteren Komödien der professionellen struktion von Zuschauerengagement in den Tragö-
Schauspieltruppen. Shakespeares Comedy of Errors dien Shakespeares dar (vgl. Cartwright 1999, 196).
etwa lehnt sich eng an Plautus’ Verwechslungskomö- Damit entsteht eine ›kapitalistische Dramaturgie‹,
die Menaechmi (ca. 200 v. Chr.) an. die ein psychisches Bedürfnis schafft, das nur im
Senecas Lesedramen (vgl. Kap. III.14) waren für ständig wiederkehrenden Theaterbesuch gestillt
die englische Tragödie von großer Bedeutung. Rela- werden kann: »[Tamburlaine’s] dramaturgy engages
tiv wirkmächtig war Thomas Sackvilles und Thomas auditorial fantasies in such a way that theatre beco-
Nortons Gorboduc, or Ferrex and Porrex (1562), das mes the consummate means of satisfaction« (Cart-
die Form des Seneca-Dramas (z. B. die Einteilung in wright 1999, 220).
fünf Akte) für einen Stoff aus der englischen Frühge- Das elisabethanisch-jakobäische Theater, dessen
schichte übernimmt. Auch Christopher Marlowe heute bekanntester Vertreter Shakespeare ist, speist
setzt sich mit dem Seneca-Modell auseinander. Als sich also aus zwei Theatertraditionen, die in einem
Lesedrama erlaubt dieses, sensationelle und gewalt- spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen: auf
same Szenen – z. B. Medeas Tötung ihrer Kinder – in der einen Seite das Volkstheater, das durch seine
Form eines Botenberichts einzubringen, also auf die Spielpraxis gekennzeichnet ist, auf der anderen das
5. Frühe Neuzeit – das englische Drama 219

humanistische Drama, in dessen Zentrum die litera- Theaters. Wir blicken also auf »a theatre history that
rische Textvorlage steht. Die Spielpraxis des Volks- is radically discontinuous with the history of drama-
theaters lebt von der (sprachlichen und körperli- tic literature« (Weimann 2000, 111). Diese Ungleich-
chen) Präsenz und Spontaneität der Schauspieler, sie zeitigkeit bleibt aber nur rätselhaft, solange man
ist ereignishaft, teilweise improvisiert und erlaubt dem literarischen Dramentext die alleinige Autorität
die direkte Interaktion mit den Zuschauern wie auch und produktive Energie zuschreibt, also erwartet,
den Bruch des decorum, der aristotelischen Regel der dass die Dramenliteratur dem Theater vorgängig zu
Angemessenheit. Dagegen ist das humanistische sein hat. Gegenüber einem solchen einseitigen Mo-
Drama textuell, d. h. die Rezeption erfolgt nicht dell plädiert Robert Weimann dafür, die Interaktion
(nur) über die Aufführung, sondern über die Lek- von Autorschaft und Spiel – ›author’s pen‹ und
türe; der Text ist von einem namentlich bekannten ›actor’s voice‹ – in den Blick zu nehmen und auch
Autor oder Autorenkollektiv verantwortet und weit- den improvisierten Spielhandlungen der Schauspie-
gehend festgelegt; er orientiert sich an klassischen li- ler die Fähigkeit zuzugestehen, innovative Impulse
terarischen Vorbildern. Das Publikum des Volksthe- zu setzen. Erst ein solcher literatur- und theaterwis-
aters ist gemischt und schließt auch Gruppen ein, die senschaftlich fundierter Ansatz kann die Entwick-
keinerlei schulische Bildung genossen haben; dage- lung des Theaters und Dramas der Frühen Neuzeit
gen versteht es sich von selbst, dass die Rezipienten in ihrer ganzen Komplexität erfassen:
des humanistischen Dramas mindestens lesen kön-
At its most elementary level, the rise of the Elizabethan the-
nen, im Idealfall sogar eine humanistische Bildung
atre was unthinkable without this conjunction of largely
erhalten haben. Schließlich werden die Mysterien- oral, physical, spectacular, body-centered practices of per-
spiele und Moralitäten auf öffentlichen Plätzen auf- formance and display and the availability, in the early mo-
geführt, die humanistischen Dramen dagegen an dern marketplace, of literary ›endeavours of art‹ derived
Orten, die nur ausgewählten Gruppen zugänglich from a university or grammar school education in rhetoric
and composition. It was the interaction of these socially, aes-
sind (Schulen, Universitäten, den Inns of Court, Pri- thetically, and educationally diverse practices that brought
vathäusern). Diese beiden Strömungen bilden, zu- together radically different sources of cultural pleasure, va-
sammen mit anderen Einflüssen – der italienischen lidity, and function. In their (dis)continuity, writing and
Commedia dell’arte und populären einheimischen playing, pen and voice, allowed for both reciprocity and
difference at the heart of their relations in theatrical pro-
Unterhaltungsformen wie dem Ringkampf und der
duction. (Weimann 2000, 54 f.)
Bärenhatz – die kulturelle Matrix für die Entstehung
des kommerziellen Londoner Theaters, in dem die Ein solcher Ansatz erlaubt es auch, die Gattungen
bisherige Theaterpraxis wesentlich neu strukturiert des elisabethanisch-jakobäischen Dramas nicht nur
wird. Eine wesentliche Neuerung ist in diesem Zu- von einer normativen oder typologischen Warte aus
sammenhang der Bau von Theaterhäusern. zu betrachten, sondern sie als Praktiken zu verste-
Die jahrzehntelang praktizierte institutionelle hen, die sich in einer spezifischen historischen Kon-
Trennung von Literatur- und Theaterwissenschaft stellation herausbilden und auf soziale Bedürfnisse
führte zum sogenannten ›Theaterrätsel‹: Die ersten antworten – oder solche Bedürfnisse, etwa das nach
für ein zahlendes Publikum gebauten Theaterhäuser ›Unterhaltung‹, überhaupt erst konstituieren. Diese
(das Red Lion bei Stepney 1567 und Richard Burba- Sichtweise stimmt auch mit der neueren Gattungs-
ges The Theatre 1576; ihnen folgten das Rose des forschung überein, die Gattungen als dynamische
Theaterentrepreneurs Philip Henslowe 1588 und ›soziale Handlungen‹ auffasst, die für bestimmte
schließlich das Globe, im Besitz von Shakespeares Gruppen bestimmte Funktionen erfüllen (vgl. De-
Theatertruppe, 1599) wurden errichtet – und das vitt 2008, 34). Zugleich sind Gattungen quasi ›inter-
heißt, die damit verbundenen erheblichen Investiti- generisch‹: Sie greifen auf das Repertoire vorgängi-
onen getätigt – bevor es ein ›richtiges‹ Drama gab, ger Gattungen und Ausdrucksweisen zurück und
das nach solchen Spielstätten verlangt hätte. Die bis- modifizieren diese unter den Bedingungen der je-
her beschriebenen Spielformen gehören in älteren weiligen Medien und Kulturtechniken (vgl. Devitt
Literaturgeschichten zur ›Vorgeschichte‹ des elisabe- 2008, 92), wie am Beispiel des Seneca-Dramas ge-
thanischen Dramas, das ›eigentlich‹ erst mit den zeigt werden konnte. Methodologisch folgt aus die-
Stücken Thomas Kyds, Marlowes und Shakespeares sem Gattungskonzept, »dass die Besonderheiten von
begann, also in den späten 1580er Jahren – fast Gattungen nur in ihrer historischen Kontextualität,
zwanzig Jahre nach Errichtung des ersten festen das heißt in ihrer Wechselbeziehung mit dem kultu-
220 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

rellen Wissen ihrer Entstehungszeit zu erfassen nisse des zahlenden Londoner Publikums, also eines
sind« (vgl. Gymnich/Neumann 2007, 42). fluktuierenden, nicht wirklich zu kontrollierenden
Die Dramen der Frühen Neuzeit beziehen ihre Marktes (zur sozialen Zusammensetzung der Thea-
ungeheure Dynamik aus der spannungsreichen In- terbesucher vgl. Gurr 1987). Auch wenn das kom-
teraktion zwischen zwei konkurrierenden und ko- merzielle Theater nicht in Opposition zu den politi-
operierenden Konstellationen aus kultureller Praxis, schen Institutionen steht, von deren Wohlwollen es
Kulturtechnik und Medium, nämlich dem kommer- teilweise abhängt, so kann es doch, gerade im Rah-
ziellen Theater einerseits und dem literarischen men seiner kommerziellen Produktionsbedingun-
Feld, inklusive der relativ neuen Kulturtechnik des gen, das Erbe der populären Spielpraxis integrieren
Buchdrucks und des expandierenden Markts für ge- und kollektive Interessen und Konflikte im Wort-
druckte Dramentexte, andererseits (zu Shakespeares sinn ›durchspielen‹. Für diese teils gegenläufigen so-
Interaktion mit diesem Markt vgl. Erne 2003). Eine zialen Funktionen des Theaters bilden die Gattun-
Folge dieser doppelten Verortung des Dramas ist der gen das formale Repertoire, das auf sich ändernde
Variantenreichtum der Texte, die je nach dem eher Rezeptionskontexte reagiert und neue Formen her-
den literarischen oder den theatralen Bedürfnissen vorbringt, so etwa die ›bürgerlichen‹ Gattungen der
folgen. Wie Wells und Taylor in Bezug auf die beiden Ehetragödie und der City Comedy. Ein durchgehen-
Textfassungen von Hamlet (Q 1604, F 1623) feststel- des Merkmal der Gattungen, die das elisabetha-
len, entspricht die frühere Quartoausgabe eher dem nisch-jakobäische Theater hervorbringt, ist ihre be-
»play as Shakespeare first wrote it, before it was per- reits von Sidney – aus Sicht einer normativen Poetik
formed«, während der spätere Text den Überarbei- – beklagte ›Unreinheit‹, die unklare Unterscheidung
tungsprozess im Zuge von Theateraufführungen re- von Tragödie und Komödie.
flektiert: »the Folio represents a theatrical text of the
play after he had revised it« (Wells/Taylor 1986, xx-
xiv). Die Form der Texte folgt also der – eher literari-
schen oder eher theatralen – Funktion, ohne dass ei- 5.3 Komödie und Tragödie:
ner der beiden Varianten a priori eine größere Auto- Poiesis und Mimesis
rität zugestanden werden könnte.
Die Entstehung der kommerziellen Theater re- Wie aus dem bereits Gesagten hervorgeht, lassen
flektiert, neben den beschriebenen theatergeschicht- sich Tragödie und Komödie bei Shakespeare nicht
lichen Entwicklungen, auch soziopolitische Ver- nach formalen Kriterien, wie der Trennung von ho-
schiebungen im elisabethanischen England, laut hem und niederem Personal und entsprechendem
Louis Montrose v. a. den Übergang »from a culture sprachlichen Duktus, voneinander abgrenzen. Auch
focused upon social dynamics within the local com- die Handlung sagt noch nicht viel über die Gat-
munity to one that incorporates the local within a tungszugehörigkeit aus; Romeo and Juliet (1595/96)
national framework and subordinates it to the politi- etwa hat alle Handlungselemente einer romanti-
cal and cultural center« (Montrose 1996, 23). Aus schen Komödie und nimmt erst im fünften Akt,
dieser Perspektive ist es nur folgerichtig, dass die von letztlich durch einen bloßen Zufall, eine definitive
der Gemeinde gestellten Laienspieler weitgehend Wendung zum Tragischen. Nicht einmal die intui-
von professionellen, mit einer königlichen Lizenz tive Annahme, Komödien seien ›lustig‹ bzw. ›witzig‹,
versehenen Schauspieltruppen abgelöst werden, die Tragödien dagegen ›traurig‹, oder Letztere gingen
ihren Sitz in London, dem wirtschaftlichen und kul- schlecht aus, Erstere mit einem happy ending, lässt
turellen Zentrum, haben. Die Dramen, die speziell sich halten. Es ist ja geradezu ein Merkmal von
für diese Truppen geschrieben werden, erfüllen nun Shakespeares Schreibweise, dass komische, groteske
nicht mehr religiöse und kommunale Funktionen, oder alberne Szenen höchst grausamen und erschüt-
sondern teils die Bedürfnisse des Adels und des sich ternden Szenen gegenüberstehen, und dass komi-
gerade herausbildenden zentralisierten Staats – d. h., sches Personal – wie der Narr in King Lear – eine tra-
sie sind in ein politisches Patronagesystem einge- gende Rolle in einer Tragödie übernehmen kann.
bunden, das in den Namen der lizenzierten Truppen King Lear wird zweifellos wegen seines letztlich un-
(Lord Chamberlain’s Men, Lord Admiral’s Men; un- erwarteten Endes, dem Tod Cordelias, als besonders
ter König Jakob I. The King’s Men, Prince Henry’s ›tragisch‹ empfunden; auf der anderen Seite jedoch
Men) widergespiegelt wird – und teils die Bedürf- wurde ein Stück wie Cymbeline, in dem alle Kon-
5. Frühe Neuzeit – das englische Drama 221

flikte einer versöhnlichen Auflösung zugeführt wer- und Tragödien unterschiedlich eingesetzt. In der
den, und das auch sonst typische Komödienele- Tragödie finden wir Darstellungen von Gewalt und
mente wie die Hosenrolle der weiblichen Hauptfigur sexueller Transgression, die als ›echt‹ markiert sind,
enthält, von den Herausgebern der Folioausgabe den d. h. auf der dramatischen Kommunikationsebene,
Tragödien zugeordnet – vielleicht wegen des gewich- in der »Welt-im-Stück« (vgl. Mahler 2008, 61), ist
tigen historischen Stoffs? davon auszugehen, dass die Leichenberge am Ende
Das von Weimann entwickelte Modell des elisa- von Hamlet, Macbeth (1611) und King Lear von
bethanisch-jakobäischen Theaters, das an den wirklichen Toten gebildet werden, dass Gloucester
Schnittstellen zwischen Literatur und Spiel, Hoch- wirklich geblendet wird, Lavinia in Titus Andronicus
kultur und Populärkultur, politischen und kommer- wirklich vergewaltigt, ihr wirklich die Zunge und
ziellen Interessen, Ordnung und Unterhaltung ope- Hände abgeschnitten werden. Auf der theatralen
riert, kann weiterhelfen, die zeitgenössischen Funk- Kommunikationsebene, zwischen Schauspieler und
tionen von Tragödie und Komödie etwas zu Zuschauer, wissen wir natürlich, dass dies nicht so
präzisieren, ohne dass eine Typologisierung oder gar ist, eine Vermutung, die bestätigt wird, wenn sich die
Essentialisierung der Gattungen angestrebt wird. Toten nach dem Schlussakt erheben und unseren
Unter diesen heterogenen und spannungsreichen Applaus entgegennehmen. Der Repräsentation von
Produktionsbedingungen kann es nicht ausbleiben, Gewalt in der Tragödie steht also eine zweigleisige
dass auch die Dramengattungen als soziale Hand- Wahrnehmung durch die Zuschauer gegenüber, die
lungen von dem geprägt sind, was Weimann als die Gewaltakte als mimetisch akzeptieren, solange
»contrariety« bezeichnet: die Nicht-Identität zwi- sie sich auf die dramatische Konstruktion der ›Welt-
schen schriftlicher Vorlage und gespielter Realisie- im-Stück‹ einlassen, und sich gleichzeitig der ›Ge-
rung, eine Lücke, in die der Schauspieler mit seinem machtheit‹, also der Fiktionalität des Dargestellten,
»Gestus«, seiner Körpersprache, vorstoßen kann bewusst sind. Insbesondere in Szenen, in denen die
(vgl. Weimann 2000, 10 f.; Weimann/Bruster 2008, Gewalt auf der Bühne stattfindet (die Blendung
27). Beim Dramatiker Shakespeare, der selbst als Gloucesters), oder in denen die Spuren der Gewalt
Schauspieler und Teilhaber der Lord Chamberlain’s vorgeführt werden (die Verstümmelung Lavinias),
Men aufs Engste in alle Bereiche der Theaterproduk- obliegt es dem gestisch-mimischen Spiel des Schau-
tion involviert war, kann man eine präzise Sensibili- spielers, einen Echtheitseffekt zu erzeugen und wo-
tät für dieses Gefüge beobachten. Wie kein anderer möglich die theatrale Kommunikationsebene zu
Theaterautor der Frühen Neuzeit steht er für die suspendieren.
Verbindung von ›Worttheater‹, das bei sparsamster In der Komödie dagegen sind Gewalt und Tod
Bühnenausstattung imaginäre Welten entstehen nicht mimetisch, sondern poietisch; d. h. sie werden
lässt, und ›Spiel‹, das auf der Präsenz des Körpers des auch schon auf der dramatischen Kommunikations-
Schauspielers beruht. Die Wirkung seiner Dramen ebene als sprachliche Hervorbringungen herausge-
hängt oft von der wahrnehmbaren Diskrepanz zwi- stellt. Als Beispiel kann Heros ›Schändung‹ und
schen diesen beiden Repräsentationsmodi ab, insbe- ›Tod‹ in Much Ado About Nothing (1598/99) dienen.
sondere in den Komödien, in denen der als junge Am Morgen ihrer Hochzeit wird Hero von ihrem
Frau verkleidete Knabenschauspieler sich wiederum Bräutigam beschuldigt, sexuell mit einem anderen
als Mann verkleidet. Der Witz von Violas Hinweis, Mann verkehrt zu haben. Sie ist damit entehrt und
in Twelfth Night (1602), auf den ›kleinen Unter- müsste, im Rahmen einer patriarchalen Logik, ster-
schied‹, der sie in ihrer angenommenen Identität als ben oder von ihrem Vater getötet werden. Die An-
Cesario von einem ›echten Mann‹ unterscheidet, schuldigung ist jedoch falsch. Heros Schande exis-
wird durch das Wissen der Zuschauer um die wirkli- tiert nur durch und als Claudios Aussage. Um ihre
che körperliche Ausstattung des Knabenschauspie- Ehre und die ihrer Familie wieder herzustellen, muss
lers zugleich konterkariert und potenziert; dabei Hero zwar ›sterben‹, aber nur in einem ›als ob‹-
wird die heterosexuelle Ordnung der Komödie Modus: Ihr Tod wird verkündet, ein Scheinbegräb-
durch die mehrfach verschachtelte Diskrepanz zwi- nis durchgeführt, damit aber wird ein Handlungs-
schen gespielter und körperlicher Ordnung aus der spielraum eröffnet, der die Auflösung der Intrige
Bahn geworfen (vgl. Greenblatt 1988, 66–73). und schließlich die Versöhnung aller Beteiligten –
Dieses Gegen- und Miteinander von Worttheater und die Vollendung der abgebrochenen Hochzeit –
und Körperlichkeit wird in Shakespeares Komödien ermöglicht. Hero stirbt also sozusagen nur auf dem
222 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Papier, oder besser gesagt, auf einer der »Welt-im- Liebeshandlung mit abenteuerlichen, pastoralen
Stück« eingelagerten Ebene zweiter Ordnung oder farcenhaften Szenen gekennzeichnet.
(»Stück-im-Stück«, vgl. Mahler 2008, 61). Ihr Tod
wird also weder auf der theatralen noch auf der dra-
matischen Kommunikationsebene als ›echt‹ wahrge- 5.4.2 Satirische Komödie
nommen, sondern nur auf der Ebene einer innerfik-
tionalen Täuschung, in deren inszenierten Charak- In dieser von Ben Jonson geprägten Komödienform
ter nur einige der Dramenfiguren eingeweiht sind. werden Erscheinungen der sozialen Wirklichkeit in
Damit fällt aber dem Körper des Schauspielers eine kritisch-überspitzter, witziger Form dargestellt. Die
ganz andere Funktion zu. Er kann die Echtheit des Konzeption der Figuren basiert auf der Humoralpa-
Geschehens nicht verbürgen. Selbst wenn Hero errö- thologie, wonach der Charakter eines Menschen von
tet, ist dies weder ein Beleg für ihre Schuld noch für der Mischung seiner Körpersäfte bestimmt wird.
ihre Unschuld. Der ganze Vorfall ist eben das Resul- Die Figuren werden in ihrer Einseitigkeit und Fehl-
tat einer ins Stück eingelagerten poietischen Hervor- barkeit vorgeführt. Insbesondere in den späteren sa-
bringung, eine »story that is printed in her blood« tirischen Komödien ist der Schauplatz London, des-
(Much Ado About Nothing, 4.1.122). sen von Habgier und Ehrgeiz geprägt Gesellschaft
Auf die Differenz der Repräsentationsordnungen kritisiert wird.
von Komödie und Tragödie verweist auch der Text
selbst. In den Worten ihres Vaters ist Hero in einen
»pit of ink« gefallen (Much Ado About Nothing, 5.4.3 Jakobäische City Comedy
4.1.140), in eine Grube aus Tinte, die durch Worte –
genauer: niedergeschriebene Worte – erzeugt wurde. Die jakobäische City Comedy entwickelt sich in der
Lavinias Vergewaltigung findet dagegen in einer ersten Dekade des 17. Jahrhunderts aus der satiri-
Grube statt, deren blutige Realität mehrfach be- schen Komödie. Sie zeigt das Aufeinandertreffen der
schworen wird: »this unhallowed and bloodstained (scheinbar) respektablen bürgerlichen Gesellschaft
hole, […] this detested, dark, blood-drinking pit« der City of London mit Aufsteigern und Abenteu-
(Titus Andronicus, 2.2.210, 224). Die Komödie stellt rern. Die Handlungsstruktur der plautinischen Ko-
somit ihr poietisches Können in den Vordergrund, mödie (junges Liebespaar trickst die Elterngenera-
ihr Potential, mit verschiedenen Repräsentations- tion aus) ermöglicht die Decouvrierung von Aufstei-
ebenen spielen zu können. Die Tragödie dagegen in- gertum, Heuchelei und Geldgier. Der wichtigste
sistiert auf ihrer Fähigkeit, im liminalen Raum der Vertreter der City Comedy ist Thomas Middleton.
Bühne einen mimetischen Effekt erzeugen zu kön-
nen, der den Unterschied zwischen dem Konsum
von Gewalt und einer echten Gewalterfahrung zu- 5.4.4 Tragikomödie
mindest vorübergehend aufhebt.
Unter einer Tragikomödie versteht man nicht die
Mischung von komischen und tragischen Elemen-
ten, sondern einen der Tragödie analogen Hand-
5.4 Gattungsüberblick lungsverlauf fast bis zur Katastrophe, deren Eintre-
ten jedoch durch eine überraschende Wende verhin-
5.4.1 Romantische Liebeskomödie dert wird. Die Gattung geht auf Il pastor fido (1589)
von Giovanni Battista Guarini zurück und wurde im
Im Zentrum der Handlung steht ein Liebespaar, das frühen 17. Jahrhundert durch die Stücke Francis
erst nach der Überwindung von Hindernissen, z. B. Beaumonts und John Fletchers in England populär.
Widerstand des Vaters, Intrige, räumliche Trennung,
zueinander finden kann. Dem höfischen Liebesideal
der treuen und leidenschaftlichen Liebe, das in der 5.4.5 Rachetragödie
Haupthandlung ausagiert wird, steht oft eine kon-
trastierende Nebenhandlung gegenüber. In der Private Rache wurde im 16. Jahrhundert durch das
Nachfolge John Lylys sind die romantischen Liebes- Gewaltmonopol des erstarkenden Zentralstaats zu-
komödien durch Stilmischung und den Wechsel von rückgedrängt, gehörte aber durchaus noch zum Eh-
5. Frühe Neuzeit – das englische Drama 223

renkodex des Adels. Diese Ambivalenz speist eine Literatur


der erfolgreichsten elisabethanischen Gattungen, in Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch [1982]. Übers. u.
der die Rächerfigur – oft gegen den Widerstand der hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994.
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nes Unrecht, insbesondere den Mord an Familien- in the Sixteenth Century. Cambridge 1999.
mitgliedern, nach einer raffinierten Intrige blutige Devitt, Amy J.: Writing Genres. Carbondale 2008.
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Gurr, Andrew: Playgoing in Shakespeare’s London. Cam-
5.4.6 Domestic Tragedy/Ehetragödie bridge 1987.
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Vor dem Hintergrund des protestantischen Ideals Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensio-
nen des Gattungskonzepts: der Kompaktbegriff Gat-
der partnerschaftlichen Ehe entsteht die Gattung der tung«. In: Gymnich, Marion/Neumann, Birgit/Nünning,
bürgerlichen Ehetragödie. Aus dem Konflikt zwi- Ansgar (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte.
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tens der Ehefrau entwickeln sich tragische Konse- Mahler, Andreas: »Einbruch in die Mimesis. Stimme und
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schen Gattungen, die auch einen wesentlichen Teil Shakespeare, William: The Complete Works. Hg. v. Stanley
des Werks von Marlowe und Shakespeare umfasst. Wells u. Gary Taylor. Oxford 1986.
Sidney, Sir Philip: »The Defence of Poesy«. In: Ders.: The
Heute wird die Gattungsbezeichnung nur für die Major Works. Hg. v. Katherine Duncan-Jones [1989].
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delt sind, während sie im elisabethanischen Zeitalter livan, Garrett A. Jr./Cheney, Patrick/Hadfield, Andrew
sehr viel umfassender gebraucht wurde. Im Zentrum (Hg.): Early Modern English Drama. A Critical Compa-
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der Historien stehen weniger die Einzelschicksale Weimann, Robert: Author’s Pen and Actor’s Voice. Playing
der Könige, als vielmehr die gesellschaftliche Situa- and Writing in Shakespeare’s Theatre. Hg. v. Helen Hig-
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Frage der Legitimität von Königsherrschaft. Weimann, Robert/Bruster, Douglas: Shakespeare and the
Power of Performance. Stage and Page in the Elizabethan
Theatre. Cambridge 2008.
Weiß, Wolfgang: »Die dramatische Tradition«. In: Scha-
5.4.8 Maskenspiel/Masque bert, Ina (Hg.): Shakespeare-Handbuch. Stuttgart 4 2000,
48–71.
Das Maskenspiel ist bereits bei den frühen Tudor- Virginia Richter
monarchen, besonders aber unter den Stuarts Teil
der höfischen Festlichkeiten. Prachtentfaltung in
Kostüm und Bühnenausstattung, Tanz und spekta-
kuläre Bühneneffekte dienen der höfischen Selbst-
darstellung. Ben Jonson war der wichtigste Verfasser
von Maskenspielen unter Jakob I.; Shakespeare
nahm einzelne Elemente in seine Dramen auf (z. B.
die Hochzeits-Masque in The Tempest).
224 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

6. Improvisationscomœdie – neben der historischen Polemik zusätzlich mit ro-


mantisierenden und mystifizierenden Bedeutungen
Drama und Maskenspiel aufgeladen (vgl. Cuppone 1999). Deshalb ist der
im 16.–18. Jahrhundert ahistorische Terminus ›Commedia dell’arte‹ zu ver-
meiden und durch jene Begriffe zu ersetzen, die im
Die für die Herausbildung eines europäischen Be- 16. und 17. Jahrhundert zur Bezeichnung des Phä-
rufstheaters so wichtige Commedia dell’arte bzw. ita- nomens verwendet wurden, z. B. »commedia merce-
lienische ›Improvisationscomœdie‹ kann zwar nicht naria« (gewerbemäßige Comœdie), »commedia de-
als Gattung des Dramas, sehr wohl aber als durch gli Zanni« (Comœdie der Zanni) oder »commedia
konstitutive Elemente definierte Theaterform ver- all’improvviso« (Improvisationscomœdie). Weil
standen werden, die mit dramaturgischen Formen Letzterer auf den konstitutiven Faktor der Improvi-
des 16.-18. Jahrhunderts vielfach korreliert. Nach- sation zielt (Taviani/Schino 2007, 311–323), ist er
folgend sind zunächst die terminologischen Prob- geeignet, das Lehnwort ›Commedia dell’arte‹ zu sub-
leme zu klären, die sich in der unüblichen Schreib- stituieren, womit sich allerdings die Frage der Über-
weise des Stichwortes manifestieren. Anschließend setzung stellt. Hier scheint es sinnvoll, die noch im
gilt es, das theaterhistorische Umfeld der sich her- 18. Jahrhundert im deutschen Sprachraum ge-
ausbildenden Improvisationscomœdie zu skizzieren, bräuchliche Form ›Comœdie‹ zu reaktivieren, zumal
in der die Künste frühneuzeitlicher ioculatores mit aus theaterhistorischer Sicht sonst eine wichtige Dif-
humanistischen Theaterideen eine widersprüchliche ferenzierungsmöglichkeit entfällt. Denn die heute
Verbindung eingingen. Im Zentrum steht die aus übliche Schreibweise ›Komödie‹ hat sich erst mit der
dem Grundwiderspruch ihrer Genese resultierende Theaterreform zur Bezeichnung der regelmäßigen,
Problematik, ob die dramaturgische Spezifik der Im- von Masken absehenden Komödie etabliert. Wird
provisationscomœdie in den Spielen der Masken als aber auf eine Differenzierung verzichtet, für die es
den mikrodramaturgischen Einheiten zu sehen ist im Italienischen vielerlei Gegensatzpaare wie z. B.
oder in der übergeordneten Erzählstruktur der aus »commedia erudita« (Gelehrtenkomödie) und
Szenarien abzuleitenden Fabeln. »commedia a maschere« (Maskencomœdie) gab, so
lassen sich entscheidende Sachverhalte in der Ent-
wicklungsgeschichte der historischen Improvisati-
onscomœdie schlicht nicht formulieren (Baumbach
6.1 Terminologie 2002, 2 f.).

Der Terminus ›Commedia dell’arte‹ fand, und zwar


in der Pluralform »commedie dell’arte«, erstmals
1750 in Carlo Goldonis Komödie Il teatro comico zur 6.2 Künste der ioculatores,
Negativperspektivierung eines Theaters Verwen- Komödien der Literaten
dung, das aus »zusammengewürfelten Szenen ohne
Ordnung und Regel« bestehe (I/2; I/4). Im Gegen- Historiografische Konzepte, welche die Entwicklung
satz dazu sprach Goldoni in diesem programmati- der Improvisationscomœdie linear darzustellen ver-
schen Stücktext von der »Charakterkomödie« sowie suchen, sind zum Scheitern verurteilt. Das gilt für
einer »arte delle commedie« (II/3). Im Rahmen sei- die lange geführte Ursprungsdebatte ebenso (vgl.
ner Bemühungen um die Komödienreform betonte Richards/Richards 1990, 11–31) wie für die Eintei-
er mit dem Begriff ›Commedia dell’arte‹ also pole- lung in Aufstiegs- und Verfallsphasen und erst recht
misch die ›plumpe‹ handwerkliche Grundlage eines für die parallel zur Literarisierung dieser Theater-
zu überwindenden Theaters, das in eine kunstvolle form seit dem 18. Jahrhundert erprobten Rückgriffe
Komödie zu überführen sei. In seinem die Rezeption von Carlo Gozzi über Johann Nestroy bis hin zu
dieser Theaterform maßgeblich beeinflussenden Wsewolod Meyerhold oder Dario Fo. Im Zusam-
Werk Masques et Bouffons stellte Maurice Sand 1860 menhang mit dramaturgischen Fragen ist es aber
diesen historischen Sachverhalt auf den Kopf und unabdingbar, sich die unterschiedlichen Spielfor-
erklärte, ›Commedia dell’arte‹ sei gleichbedeutend men von Theater in Oberitalien zu vergegenwärti-
mit der »comédie parfaite«, dem »nec plus ultrà de gen, welche die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts
l’art« (Sand 1860, I, 1). Seither ist diese Bezeichnung prägten und aus denen die professionelle Improvisa-
6. Improvisationscomœdie – Drama und Maskenspiel im 16.–18. Jahrhundert 225

tionscomœdie in theaterorganisatorischer und -äs- nello 2005, 55–61). Differenzierungsprozesse im


thetischer Hinsicht hervorgegangen ist. Feld der buffoni standen unter dem Einfluss huma-
Unter den ioculatores, also den ›Spielleuten‹, wur- nistischer Tendenzen. Mit der zunächst architek-
den jene Künste ausgeübt, welche die Improvisa- tonisch an Vitruv orientierten und bezüglich der
tionstechniken der ersten Berufsschauspieler be- Komödie von der Entdeckung verschollener Plau-
stimmen sollten. Die Fähigkeiten mittelalterlicher tus-Texte inspirierten Theaterpraxis humanistisch-
ioculatores hat Edmond Faral 1910 im Incipit seines akademischer Prägung brach sich eine dezidiert
Buches Les Jongleurs en France au Moyen Age an- weltliche und rationale Legitimation von Theater
schaulich aufgelistet: »Ein ioculator ist ein Mehr- Bahn. Im höfischen und städtischen Umfeld wurden
fachwesen: Musiker, Poet, Schauspieler, Scharlatan. erst die plautinischen Komödien, dann volksspra-
Vergnügungsminister am Hof von Königen und chige Neuschöpfungen durch aus Akademien oder
Fürsten. Vagabund der Landstraße, der seine Spek- Zünften hervorgehenden Spielvereinigungen aufge-
takel in Dörfern darbietet. Der Leiermann, der den führt. Ludovico Ariostos La cassaria, aufgeführt
Pilgern auf jeder Etappe Chansons de geste vorträgt. 1508 zum Karneval in Ferrara, Bernardo Dovizis Ca-
[…] Der Kunstreiter. Der Akrobat, der auf Händen landra, aufgeführt 1513 am Hof von Urbino, und
geht, Messer wirft, Feuer schluckt. Der aufschneide- Niccolò Machiavellis mutmaßlich in Florentiner Pri-
rische und parodierende Jahrmarktshändler. Der vathäusern gespielte La mandragola (ca. 1518) gehö-
Spaßmacher, der den Dummen spielt und Unflätig- ren zu den frühen regelmäßigen Komödien, die sich
keiten ausspricht« (zit. n. Allegri 1988, 61 f.; Überset- Elementen plautinischer Dramaturgie bedienten
zung SH). – Von kirchlicher Seite sowie von mit sub- und gleichzeitig als mustergültige ›Renaissanceko-
limer Poesie beschäftigten Trobadors wie Guiraut mödien‹ galten (vgl. Andrews 1993, 31–63). Die
Riquier wurde seit dem 13. Jahrhundert auf eine Aufführung solcher Texte sowie der Besuch dersel-
Ausdifferenzierung in diesem Berufsfeld gedrängt, ben galt als ein moralisch zumindest unbedenkli-
wobei die Rezitation und Produktion ernsthafter li- cher oder gar sublimer Zeitvertreib, ganz im Gegen-
terarischer Genres eine positive, Körpertechniken satz zu den als obszön, unehrlich oder diabolisch
und insbesondere die ›Gestikulation‹ eine negative diffamierten Spielen der buffoni (vgl. Alonge/Bo-
Wertung erfuhren (vgl. Allegri 1988, 59–79). Zu Be- nino 2000, 1023–1042). Was sich aber in Theater-
ginn der Neuzeit zeitigten entsprechende Ausdiffe- traktaten mit gegenreformatorischem Impetus so
renzierungsprozesse Wirkung. Dies betraf zum ei- deutlich scheiden ließ, vermischte sich in den Un-
nen die Gruppe der ciarlatani, die eine quantitative ternehmungen berufsmäßiger Schauspieler. Angelo
Zunahme erfuhren und sich zu größeren Truppen Beolco, genannt Ruzante, oder Zuan Polo standen in
zusammenschlossen (vgl. Gentilcore 2006). Dieses jeweils spezifischer Weise zwischen diesem Theater
neue Organisationsmodell, das die vorher vereinzelt der Eliten und der Tradition der ioculatores (vgl.
agierenden ioculatores zu kleinen Jahrmarktsunter- Alonge/Bonino 2000, 5–118). Letzterer inszenierte
nehmen vereinte und der traditionellen Verbindung 1515 eine phantastische Höllenreise inklusive einer
von der Heil- mit der Comœdienkunst eine solide Parodie auf das Urteil des Paris als Intermedium des
Basis gab, ist für die späteren Schauspieltruppen von Miles Gloriosus (Plautus, 204 v. Chr.), welche eine
direkter Relevanz. Die als dramaturgischer Nukleus Venezianer »Compagnia della Calza« anlässlich ei-
zu verstehende Figurenkonstellation von Magnifico ner Hochzeit aufführte (Henke 2002, 61).
und Zanni (vgl. Apollonio 1971) war auf den Büh- Aus den traditionellen Künsten der ioculatores,
nen der ciarlatani präsent, noch bevor sich 1545 buffoni und ciarlatani sowie der Adaption dieser
erstmals nachweislich eine solche Truppe organi- Künste auf die Bedürfnisse und ökonomischen Be-
sierte (vgl. Tessari 1981, 31–40). Auch durch die buf- dingungen der neuzeitlichen Kultur der Höfe und
foni Zuan Cimador und Caspar Venturino ist über Städte im Kontext des literaturorientierten Komö-
einen Zeitraum, der die Phase vor der Konstituie- dienspiels entwickelte sich die italienische Improvi-
rung berufsmäßiger Schauspieltruppen sowie jene sationscomœdie. Die theaterorganisatorischen Im-
danach umfasst, die Technik einer akustischen Im- plikationen dieses Prozesses sind durch den erwähn-
provisationscomœdie überliefert. Hinter einer Türe ten Vertrag nachvollziehbar, den acht Akteure 1545
oder einem Vorhang stehend, brachten die erwähn- in Padua eingegangen sind. »Ser Maphio genannt
ten buffoni mehrere Masken wie z. B. Magnifico, Zanini von Padua« und sieben weitere Personen
Zanni und Franceschina zum Sprechen (vgl. Via- männlichen Geschlechts verpflichteten sich gemein-
226 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

sam »comedie« zu spielen. Sie verständigten sich auf 6.3 Spiele der Masken
Zanini als Prinzipal, die Verwaltung der Einnah-
men, eine solidarische Absicherung des Einzelnen Am 14. Februar 1830 machte sich Goethe über ein
im Krankheitsfall, die Anschaffung eines Pferdes für Diktum Carlo Gozzis Gedanken, wonach es nicht
den Warentransport, Sanktionen gegen fehlbare mehr als 36 unterschiedliche tragische Situationen
Truppenmitglieder etc. (Tessari 1981, 113 f.). Der gebe. Dies inspirierte Georges Polti 1895 in seinem
Zusammenschluss einzelner ioculatores zu Truppen Buch Les trente-six situations dramatiques zu einer
brachte den Vorteil, dem durch die elitären Spielver- dramaturgischen Theorie, die nicht von der zentra-
einigungen entfachten Bedürfnis nach »comedie« len Kategorie der Fabel ausgeht, sondern von den dis-
entgegenzukommen und sich dabei im Kollektiv tinkten Grundszenen, innerhalb derer sich das so-
ökonomisch und sozial besser abzusichern. Die ziale Leben von Menschen abspiele. Dieser Perspek-
künstlerischen Implikationen dieses Prozesses sind tivwechsel verändert auch den Blick auf die
demgegenüber schwierig zu ergründen. Das Ver- Improvisationscomœdie, deren »modulare Struk-
tragswerk von 1545 besagt lediglich, dass die Truppe tur« wiederholt hervorgehoben wurde (Andrews
sich zwecks des Spiels von Comœdien vereinigte 1993, 175–185). Er führt dazu, das poetologische
und dass dies nach Zaninis Anweisungen ›ordent- Prinzip dieser Theaterform von den Spielen der
lich‹ zu geschehen habe. Auf welches Repertoire Masken her zu begreifen und positioniert Improvi-
diese »compagnia« zurückgegriffen hat, ist aber sation als Verfahrensweise des Kombinierens exis-
nicht bekannt. Dokumente, die diesbezügliche In- tenzieller Situationen auf der Grundlage spezifischer
terpretationen erlauben, gibt es erst wieder ab den Körper- und Sprechtechniken.
1570er Jahren im Zusammenhang mit namentlich Selbst wenn den vier Masken tragenden Figuren,
bekannten Akteuren und Akteurinnen. nämlich den in ihren ambivalenten Handlungsstra-
Ein naheliegender, wenn auch hypothetischer Ge- tegien stets aufeinander bezogenen Alten (vecchi)
dankengang zu den formalen Prinzipien der Impro- sowie den beiden Zanni, ein besonderer Status zu-
visationscomœdie in statu nascendi ist deshalb un- kommt, sind sämtliche Figuren der Improvisations-
umgänglich. In einer aus buffoni bestehenden comœdie als Masken zu begreifen, also auch die jun-
Truppe ließen sich die Künste und Fertigkeiten pro- gen Liebhaber und Liebhaberinnen (vgl. Andrews
blemlos additiv zu einer »comedia« fügen, die somit 1993, 175; Schlegel 2011). Denn das Figurations-
als Abfolge einzelner Nummern zu verstehen wäre, prinzip der Maske ist ein Spezifikum dieser Theater-
also als Potpurri artistischer und musikalischer Dar- form, das in der bürgerlich geprägten subjekt- und
bietungen. Sollte aber Zanini mit der achtköpfigen schauspieltheoretischen Terminologie nicht be-
Truppe das Ziel verfolgt haben, »comedie« im Sinne schrieben werden kann (vgl. Münz 1998). Eine
der lateinischen oder volkssprachigen Komödien Maske umfasst einen bestimmten Welt- bzw. Ander-
zu spielen, dann wären die einzelnen Fähigkeiten weltbezug, ein bestimmtes Aktionspotential, einen
und Nummern innerhalb einer entsprechenden dra- bestimmten Bewegungsgestus sowie stimmliche Ei-
maturgischen Klammer zu organisieren gewesen. genheiten und rhetorische Muster. Dabei hebt die
Gleichzeitig bedeutete dies, dass die buffonesken Al- Maske Ambivalenzen nicht auf, sondern vereinigt
leskönner sich dabei auf eine Maske zu spezialisieren sie zum Dividuum ohne jene Harmonisierungsleis-
begonnen hätten. Für die Akteure der Improvisa- tung erbringen zu müssen, die dem Individuum ob-
tionscomœdie aus dem Ambiente der buffoni und liegt. Sie ist überindividuell und existiert als mythi-
ciarlatani stellte die dramaturgische Kategorie der sche Größe unabhängig vom Akteur (vgl. Baumbach
Fabel eine Herausforderung dar, während sie das für 2010). Wenn Zanni im Auftrag von Magnifico des-
kürzere szenische Einheiten notwendige Können sen Geliebter ein Sonett überbringen muss, im
mitbrachten. Fabeln, derer sich die Truppen bedie- Banne der Anmut dieser Innamorata den Auftrag
nen konnten, lieferten die literarischen Komödien, vergisst und dann seinem Herrn Auskunft geben
die Novellistik etc. Die zentrale Frage für das Ver- soll, wie sie reagiert hat (vgl. Andrews 1993, 177–
ständnis der italienischen Improvisationscomœdie 181), ist das von den Handlungselementen her nicht
ist allerdings, ob diese Fabeln eher als Organisati- außergewöhnlich. Nur weil die Akteure als Masken
onsprinzip von nummernartigen Mikroerzählun- agieren, lässt sich daraus ein Spiel entwickeln, das
gen, oder tatsächlich als übergreifendes Erzählprin- verallgemeinernd Obsessionen und Abhängigkeits-
zip verstanden wurden. verhältnisse zu verhandeln vermag.
6. Improvisationscomœdie – Drama und Maskenspiel im 16.–18. Jahrhundert 227

Für solche Spiele verfügten die Akteure und Ak- Als Beispiel diente ihm der Fliegen-lazzo, eine zan-
teurinnen über ein Repertoire an rhetorischen Mus- neske Hungerphantasie, die das Verspeisen einer
tern. Die pantaloni beherrschten vielerlei Klagere- Stubenfliege schmatzend als üppige Mahlzeit in
den, z. B. über den untreuen Diener oder die un- Szene setzte. Neuere Forschungen gaben sich damit
glückliche Liebe. Die dottori übten sich in langen zufrieden in den lazzi »comic routines« bzw. »gags«
pseudowissenschaftlichen Erwägungen (tirate), die zu sehen und verlegten sich auf das Kategorisieren
capitani in Prahlereien (bravure). Die innamorati derselben (Gordon 1983; Capozza 2006). In Szena-
spezialisierten sich auf Liebeslyrik und vermochten rien sind immer wieder lapidare Angaben wie »Pan-
das Chaos der Weltordnung in außerhalb eines syn- talone e Zanni fanno lazzi« zu finden. Allerdings
taktischen Sprechens stehenden Phantasien zu be- werden lazzi zuweilen auch attribuiert. »Lazzo di
schwören, wenn sie dem Liebeswahnsinn verfielen paura e disperazione« (lazzo der Angst und Ver-
(spropositi). Der Aufbau eines spezifischen Reper- zweiflung) heißt eine oft genannte Kategorie, »lazzo
toires lässt sich anhand verschiedener handschriftli- del cadere« (lazzo des Fallens) eine andere. Aus dem
cher Materialien und Druckwerke nachweisen (vgl. Kontext ist beim Letzteren zwar ersichtlich, dass
Pandolfi 1957–61), woraus auch hervorgeht, dass Zanni, wenn er über ein Fenster in ein Haus eindrin-
sich Akteurinnen und Akteure umfassend der litera- gen oder mit der Leiter eine Mauer überwinden will,
rischen Piraterie verschrieben haben, um ihre den schlicht und ergreifend herunterstürzt. Das ließe
Masken zugehörenden Reden (robbe generiche) zu sich allerdings auch mit der Formulierung »Zanni
verfertigen (vgl. Ojeda Calvo 2007, 117–129). Mit cade« (Zanni fällt) wiedergeben. Warum bedarf es
diesem Rüstzeug ausgestattet, setzten sich Masken also eines lazzo des Fallens? Und was unterscheidet
szenisch in Beziehung und bauten dabei auf das mit einen lazzo der Angst vom illusionistischen Ausspie-
den Grundsituationen angesprochene Modell. Sze- len des entsprechenden Affekts? Eine Antwort auf
nen erwuchsen nicht aus einer Fabel, vielmehr resul- diese Fragen kann über die Analyse eines ausführli-
tierten aus dem Aufeinandertreffen bestimmter cher beschriebenen Prügel-lazzo eruiert werden. Im
Masken jene Einheiten der spielerischen Interak- Szenarium einer neapoletanischen Commedia mit
tion, die sich in unterschiedlichen Permutationen zu dem Titel Invenzioni di Covello wurde der dottore
einer spezifischen Comœdie fügten. In der Kombi- um sein Geld betrogen. Nachdem er dies bemerkt
natorik der Masken sind die Grundsituationen ange- hat, holt er sich seine Geldbörse zurück:
legt, deren Anzahl zwar beschränkt ist, deren Varia-
Der Dottore kommt mit dem Prügelstock […]. Der Dot-
tionsmöglichkeiten bezüglich der Ausgestaltung von
tore beginnt mit einem stummen Gruß an Isabella und ver-
Szenen und der Komposition von Stücken aber na- abreicht ihr Prügel, dann macht er dasselbe mit Cintio,
hezu unerschöpflich sind. Wenn ein Auf- und Ab- dann mit Rosetta, dann mit Covello und schließlich mit
trittsplan abgesprochen war, konnte der Prozess des Policinella. Danach gibt er den Prügelstock Isabella und
kollektiven Komponierens einer Aufführung begin- geht ins Haus. Isabella, nach demselben Muster, tut das-
selbe, gibt den Prügelstock Cintio und geht hinein. Cintio
nen. tut dasselbe und gibt den Prügelstock Rosetta. Rosetta tut
Das Potenzial zur verallgemeinernden Verhand- dasselbe und gibt den Prügelstock Covello. Dieser tut das-
lung existenzieller Situationen basiert auf Einheiten selbe und gibt den Prügelstock Policinella. Policinella
besonderer Art, nämlich auf bestimmten Szenen schlägt mit stummen lazzi in die Luft und dann findet er ei-
nen x-Beliebigen in den Kulissen, verabreicht ihm Prügel
(scena ambigua, scena di notte, scena di compli-
und flieht. (Cotticelli 2001, 78; Übersetzung SH)
menti), Streichen (burle) sowie Prügeleien (basto-
nate) und Tänzen. Die theaterästhetische Dimen- Das repetitive Handlungsschema verleiht der Prüge-
sion solcher Einheiten muss allerdings als unzurei- lei Dauer, Rhythmus und Form. Gezeigt wird, wie
chend erforscht gelten. Denn auch hinsichtlich der das vom Dottore ausgehende Geflecht an Betrüge-
diesbezüglich wichtigsten Kategorie, nämlich den reien und Versprechungen in sich zusammenfällt.
sog. lazzi, sind Forschungshypothesen unumgäng- Betont wird durch diesen lazzo ein Mechanismus.
lich. Eine Theorie des lazzo hat bislang nur der Aggressionen werden weitergegeben, indem der
Schauspieler, Prinzipal und Theaterhistoriker Ludo- Einzelne seinem Ärger Luft macht und sich dann zu-
vico Riccoboni in seiner Historie du théâtre italien rückzieht, während sich die Aggression in der Wei-
(1728) entwickelt, wobei es ihm als einem Komö- tergabe auf einen immer engeren Kreis von Abge-
dienreformer um den Nachweis ging, dass lazzi sehr straften intensiviert. Bis schließlich derjenige übrig
wohl mit der Haupthandlung in Verbindung stehen. bleibt, der zwar schon die meisten Schläge einste-
228 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

cken musste, als schwächstes Glied im Verbund der den Fokus auf die Fabel. Auch die Redaktion der
sich trickreich durchs Leben Schlagenden selbst aber Texte folgte der Absicht, die dramaturgische Ver-
keinen ›Prügelknaben‹ mehr findet. knüpfung, die Motivation von Handlung oder den
Wie könnte dieser universelle Mechanismus an- Ablauf von Szenen für ein Lesepublikum nachvoll-
ders zum Ausdruck gebracht werden als in einem ziehbar zu machen. Und um eine Affinität seiner 50
lazzo? Dialogisiert würde er kaum als soziale Verhal- »szenischen Fabeln« zu Boccaccios Decameron
tenslogik erkennbar. Auch wenn gewisse lazzi über (1349–53) zu suggerieren, gliederte er sein Buch in
Sprache funktionieren, gibt es für die Mikroerzäh- »giornate« (Scala 1976). Szenarien sind in vielerlei
lung des lazzo kein sprachliches Äquivalent. Es han- Hinsicht wertvolle Dokumente, wenn ihre mögliche
delt sich vielmehr um ein szenisches Verfahren, das literarische Überformung bedacht wird. Denn nur
typische und zugleich existenzielle Erfahrungen auf Texte, die weder aus Liebhaberei noch zwecks Nobi-
einen sofort verständlichen Punkt zu bringen ver- litierung einer Theaterform verschriftlicht wurden,
mag, der in der Verbalisierung entweder verunklärt lassen Aussagen über deren theaterpraktische Funk-
oder zur moralischen Aussage mutieren würde. tion und damit über dramaturgische Ordnungen der
Wenn lazzi in diesem Sinn als szenische Einheiten Improvisationscomœdie zu. Erst seit 2007 ist das
einer ›Grammatik existenzieller Lebenserfahrungen‹ diesbezüglich wertvollste Material zugänglich, näm-
verstanden werden und die Mechanismen des indi- lich Szenarien aus dem Notizheft des Schauspielers
viduellen und sozialen Lebens zeigen, lässt sich nun A. Frescobaldi, der unter dem Namen Stefanelo
auch formulieren, was einen lazzo der Angst von der Botarga die Maske des Magnifico spielte und im
Nachahmung einer ängstlichen Figur unterscheidet. Zeitraum von 1574 und 1580 mit Alberto Naselli,
Er übersetzt Angst per se, nicht allein die dramatur- genannt Zan Ganassa, eine Spanien-Tournee absol-
gisch konkret begründete Angst einer Maske, in ei- vierte, ehe er sich von dessen Truppe trennte, um
nen szenischen Vorgang. Und entsprechend zeigt ein sich als Dramatiker zu versuchen (vgl. Ojeda Calvo
lazzo des Fallens das Fallen als existenzielle Erfah- 2007). Die Szenarien von Botarga bestätigen die Op-
rung und nicht lediglich als ein akzidenzielles Miss- tik, dass diese Textsorte zunächst der Skizzierung ei-
geschick. Die Akteure widmen sich dabei der Auf- nes Auf- und Abtrittsplans diente, wobei Rahmen-
gabe, das andauernde und amorphe Gefühl der handlungen in eine Abfolge von Grundszenen über-
Angst in einem Augenblick sichtbar zu machen. setzt wurden.
Dem jähen Fallen hingegen verleihen sie Dauer und Die dafür notwendigen Narrative stammten aus
Rhythmus. Und das konnten nur jene Akteurinnen der Bibel, aus der römischen Komödie, aus antiken
und Akteure, die in einem hohen Grad über artisti- Literaturdenkmälern wie Ovids Metamorphosen (ca.
sche und tänzerische Fähigkeiten verfügten. 10 n. Chr.), aus der volkssprachigen Literatur wie
Boccaccios Decameron oder Ariostos Orlando furi-
oso (1521), aus Renaissancekomödien von Giambat-
tista della Porta oder Luigi Groto, aus der zeitgenös-
6.4 Dramaturgische Ordnungen sischen Facezien-Literatur wie Giulio Cesare Croces
Le sottilissime astuzie di Bertoldo (1606). Auffallend
Dass die Spiele der Masken eine zentrale Größe der viele Anregungen gingen diesbezüglich von Autoren
Improvisationscomœdie darstellen, bestätigt sich der als Literatur konzipierten Form der Improvisa-
auch in jener Textsorte, die uns Hinweise auf die tionskomödie, der sog. »commedia ridicolosa«, aus,
übergeordneten Strukturen vermittelt, nämlich in wie z. B. Vergilio Verucci (Mariti 1978). Aus diesen
den sog. Szenarien. Rund 750 solche Spieltexte sind Bereichen wurden Handlungselemente oder auch
erhalten geblieben, gattungsmäßig werden die meis- Fabeln entlehnt, wobei Letztere den Stellenwert ei-
ten als Comœdien bezeichnet, aber auch Pastoralen, ner pragmatischen Klammer für die Maskenspiele
Tragicomœdien, Tragödien und diverse Mischfor- hatten, wenn die Prinzipale keine diesbezüglichen
men gehörten zum Repertoire der Truppen. Die Ambitionen entwickelten und auf die Findung von
Lektüre solcher Szenarien erfordert textkritische Be- Rahmenhandlungen besonderen Wert legten, wie
obachtungen am konkreten Material. Allein der Ti- dies z. B. bei Giovan Battista Andreini der Fall war
tel von Flaminio Scalas Teatro delle favole rappresen- (Fiaschini 2007). – Über die Relevanz der Rahmen-
tative (1611), es handelt sich um die einzige ge- handlung entschieden indes nicht nur die Produzen-
druckte Sammlung der Zeit, lenkte beispielsweise ten der gewerbemäßig betriebenen Comœdien, son-
6. Improvisationscomœdie – Drama und Maskenspiel im 16.–18. Jahrhundert 229

dern auch die Rezeptionsbedingungen. Erst ein Thea- zu feiern. Die lazzi unterbrechen die u. a. auf Emo-
terbetrieb, der ein kontinuierliches Kommen und tion und Realitätsgehalt bauende Narration, indem
Gehen des Publikums einschränkte und Konzentra- sie die Aufmerksamkeit auf die universale Groteske
tion einforderte, vermochte die Aufmerksamkeit und Gestikulation lenken – und damit auf jene mit
weg von den Mikroerzählungen einzelner Num- dem Lachen des Publikums unmittelbar verbundene
mern auf einen Handlungsbogen zu lenken. Ebene der Komik (vgl. Apollonio 1930).
Die meisten Comœdien weisen eine identische Die konstitutiven Faktoren der Improvisations-
Struktur auf. Sie sind in drei Akte gegliedert, wobei comœdie sind zwar in den Prinzipien der Maske
die ersten beiden Akte mit Maskenspielen enden, und des improvisierenden Komponierens gegeben,
der dritte aber in festlichen Hochzeiten. Der die die mit artistischen Mitteln die kategoriale Kon-
Handlungen bestimmende Konflikt resultiert ge- struktion der Wirklichkeit außer Kraft zu setzen ver-
wöhnlich aus dem Begehren der jungen Liebenden, mögen. Die Geschichte dieser Theaterform ist aber,
dem sich die von ökonomischen Interessen oder von wie erwähnt, nicht linear zu denken. Dagegen
anderen rationalen Zielen entfachten Begierden der spricht nicht nur die kontinuierliche Erfindung von
Vätergeneration in den Weg stellen. Dieser Konflikt Traditionen im Bereich der Improvisationscomœ-
wird, maßgeblich durch die Vermittlung von Zanni- die, sondern auch die Tatsache, dass mit der Dicho-
und Dienerinnen-Masken, geschürt, chaotisiert und tomie eines literarischen vs. nicht-literarischen Thea-
zur Eskalation getrieben, auf deren Klimax der Stim- ters nichts ausgesagt werden kann, weil es vielmehr
mungsumschwung erfolgt. Die dafür notwendigen unterschiedliche Poetiken des Hervorbringens von
Versöhnungsrituale, Erklärungen oder Wiederer- Theater zu differenzieren gilt. Schon seit ihrer Ge-
kennungs-Szenen entbehren oftmals einer stringen- nese steht die italienische Improvisationscomœdie
ten Logik. Viel eher folgen sie dem Gesetz des Kon- im Spannungsfeld zweier diesbezüglich entgegenge-
trastes, das nach dem Chaos und nach dem zuweilen setzter Auffassungen von Theater. Deshalb bietet
in gezückten Schwertern und Mordplänen kulmi- sich das Denkmodell von Apollonio an, weil es – un-
nierenden Hass die heilende Kraft des sozialen Fes- abhängig von den Notationsformen – danach fragen
tes einfordert. Dieses per aspera ad astra-Modell ist lässt, inwiefern die Dramaturgie von den artistisch
explizit schematisch, denn der mechanistische agierenden Masken ausgeht und über die Groteske
Grundzug solcher Rahmenhandlungen setzt keine funktioniert bzw. inwiefern eine übergeordnete Mat-
vom Glauben an prinzipielle Naturbeherrschung be- rix, die einer schematischen Logik oder einer auf Re-
seelten Individuen voraus, sondern Masken, die in alitätsgehalt zielenden Mimesis der Komödie ver-
eine zyklische Logik verstrickt sind, die nur von pflichtet sein kann, relevant ist. Improvisations-
Spielen unterbrochen wird. comœdien z. B. von Zan Ganassa und Stefanelo
Botarga (16. Jh.), Domenico Biancolelli (17. Jh.), Jo-
sef Felix von Kurz-Bernardon (18. Jh.), Jean-Gaspare
Deburau (19. Jh.) oder Charlie Chaplin (20. Jh.) sind
6.5 Spannungsverhältnis von Fabel deshalb auf ein dramaturgisches Spannungsverhält-
und Maskenspielen nis hin zu untersuchen, in dem sich Ambivalenzen
der Neuzeit manifestieren.
Die Interdependenz von der Fabel und komödianti-
schen Fragmenten (frammentismo comico) bezeich-
nete Mario Apollonio als dramaturgisches Merkmal Literatur
der Improvisationscomœdie. Wird die Absicht auf Andrews, Richard: Scripts and Scenarios. The Performance
das Erzählen einer Handlung gelegt, würden die da- of Comedy in Renaissance Italy. Cambridge 1993.
von unabhängigen, in sich geschlossenen Spielele- Alonge, Roberto/Bonino, Guido Davico (Hg.): Storia del
teatro moderno e contemporaneo. Bd. 1. Turin 2000.
mente in den Hintergrund treten – und umgekehrt. Allegri, Luigi: Teatro e spettacolo nel Medioevo. Rom/Bari
Die Normalhandlung verstand er als Manifestation 1988.
eines burlesken Optimismus, von dem her es immer Apollonio, Mario: Storia della commedia dell’arte. Rom
wieder zu erzählen galt, wie Liebende ihren Weg 1930.
Apollonio, Mario: »Il duetto di Magnifico e Zanni alle ori-
durch die von Missgunst und Materialismus gepräg- gini dell’arte«. In: Muraro, Maria Teresa (Hg.): Studi sul
ten Intrigen und Betrügereien finden, um in der teatro Veneto fra Rinascimento ed età barocca. Florenz
Hochzeit die Wiederherstellung der Gemeinschaft 1971, 193–220.
230 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Baumbach, Gerda (Hg.): Theaterkunst & Heilkunst. Studien 7. Barock


zu Theater und Anthropologie. Köln u. a. 2002.
Baumbach, Gerda: »›Seid gegrüßt, Maske!‹ Zur Masken-
problematik in der Neuzeit«. In: Birbaumer, Ulf/Hüttler,
Für die lange Geschichte von Drama und Theater in
Michael/Di Palma, Guido (Hg.): Corps du Théâtre. Orga- Deutschland ist die Barockzeit eine Schlüsselepoche.
nicité, contemporanéité, interculturalité. Wien 2010, 105– Hier wurden wichtige Voraussetzungen für die zu-
137. künftige Theaterentwicklung, insbesondere für die
Capozza, Nicoletta: Tutti i lazzi della commedia dell’arte. Innovationen im 18. Jahrhundert geschaffen. Von
Rom 2006.
Cotticelli, Francesco (Hg.): La commedia dell’arte a Napoli. großer Bedeutung war, dass die Volkssprache sich als
Bd. 2. Lanham, MD/London 2001. Bühnensprache auch im anspruchsvolleren akade-
Cuppone, Roberto: CDA. Il mito della commedia dell’arte mischen Umfeld durchzusetzen begann – etwa mit
nell‹ ottocento francese. Rom 1999. Joachim Meichels Cenodoxus-Übertragung (1635)
Fiaschini, Fabrizio: L’incessabil agitazione. Giovan Battista
Andreini tra professione teatrale, cultura letteraria e reli-
oder Andreas Gryphius’ Trauerspiel Leo Armenius
gione. Pisa 2007. (1650) – und durch unterschiedliche Theaterformen
Gentilcore, David: Medical Charlatanism in Early Modern ein sehr breites Publikum angesprochen werden
Italy. Oxford 2006. konnte. Die Etablierung des Barockdramas trug we-
Gordon, Mel: Lazzi. The Comic Routines of the Commedia sentlich zur Erweiterung altdeutsch-volkstümlicher
dell’Arte. New York 1983.
Henke, Robert: Performance and Literature in the Comme- Kulturformen durch kulturell anspruchsvolle und
dia dell’Arte. Cambridge 2002. im europäischen Kontext konkurrenzfähige Pro-
Mariti, Luciano: Commedia ridicolosa. Comici di profes- dukte bei; es hatte insofern wesentlichen Anteil an
sione, dilettanti, editoria teatrale nel seicento. Rom 1978. der allmählichen Verfestigung der deutschen Kultur
Münz, Rudolf: »Commedia Italiana«. In: Ders.: Theatralität
und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefü-
der Neuzeit und an ihrem sich verstärkenden Selbst-
gen. Berlin 1998, 141–153. bewusstsein.
Ojeda Calvo, María del Valle: Stefanelo Botarga e Zan Ga- Im 17. Jahrhundert erlebten die Zuschauer (Maler
nassa. Scenari e zibaldoni di comici italiani nella Spagna u. a. 2002) die ersten Bühnen mit wechselnden Ku-
del Cinquecento. Rom 2007. lissen oder aufwendigen Theatermaschinen und be-
Pandolfi, Vito: La commedia dell’arte. Storia e testo. 6 Bde.
Florenz 1957–61. suchten die ersten Schauspiele in festen, ausschließ-
Richards, Kenneth/Richards, Laura: The Commedia lich dafür vorgesehenen Theaterhäusern (seit 1605
dell’Arte. A Documentary History. Oxford 1990. im Kasseler Ottoneum, seit 1629/30 in der Dogana
Sand, Maurice: Masques et bouffons (Comédie italienne). 2 Innsbrucks). In dieser Zeit formierte sich mit der
Bde. Paris 1860.
Scala, Flaminio: Il teatro delle favole rappresentative [1611].
Oper eine der wichtigsten Bühnengattungen der
Bd. 2. Mailand 1976. Theatergeschichte, die sich am Ende des Jahrhun-
Schlegel, Katy: Comica, Donna Attrice, Innamorata. Frühe derts (in Hamburg) sogar erstmals bürgerlichen
Berufsschauspielerinnen und ihre Kunst. Leipzig 2011. Schichten öffnete. In der Barockzeit entstand der Be-
Taviani, Ferdinando/Schino, Mirella: Il segreto della com- ruf des Schauspielers und es wurden Ideen zur Ver-
media dell’arte. La memoria delle compagnie italiane del
XVI, XVII, XVIII secolo [1982]. Florenz 2007. besserung der Schauspielkunst formuliert, wenn
Tessari, Roberto: Commedia dell’arte. La maschera e diese auch vorerst noch nicht in ausdrücklichen Re-
l’ombra. Mailand 1981. geln niedergelegt wurden; Frauen agierten in dieser
Testaverde, Anna Maria (Hg.): I canovacci della commedia Zeit erstmals auf öffentlichen Bühnen, seit etwa 1650
dell’arte. Turin 2007.
in deutschen Wandertruppen und schon seit Ende
Vianello, Daniele: L’arte del buffone. Maschere e spettacolo
tra Italia e Baviera nel XVI secolo. Rom 2005. des 16. Jahrhunderts bei Auftritten ausländischer
Stefan Hulfeld Truppen aus England, den Niederlanden oder Ita-
lien.

7.1 Interkulturelles Barockdrama


Das deutschsprachige wie das europäische Drama
des 17. Jahrhundert erscheinen uneinheitlich sowohl
im Hinblick auf Text- und Bühnenformen als auch
hinsichtlich der Lese- und Publikumserwartungen;
7. Barock 231

hinzu kommen zum Teil erhebliche Unterschiede in anderer Länder – und nicht nur auf die großen Bei-
der jeweiligen institutionellen Einbindung (Schule, spiele der Antike – beziehen. Das Barocktheater war
Kirche, Hof, Wanderbühne, Meistersingerbühne, nicht nur in seiner Frühphase, dort aber ganz beson-
Dorfgemeinschaft usw.) und des kulturellen, religiö- ders, durch Übersetzungen und Bearbeitungen ge-
sen oder regionalen Kontextes (katholische Ordens- prägt. In Deutschland konnte man im 17. Jahrhun-
dramen, protestantische Schuldramen, Passions- dert Varianten fast aller großen europäischen Thea-
spiele, höfische Schäferspiele, städtisches Meistersin- terstücke (etwa von Corneille, Molière, Calderón,
gerspiel usw.). Von dem Barockdrama kann insofern Vondel oder Shakespeare) sehen. Auch wenn die
kaum geredet werden, auch nicht von einem deut- Dramen aus heutiger Sicht zum Teil sehr vereinfacht
schen, sondern eher von der kulturellen Vielfalt der und entstellt gespielt wurden, so vermittelten sie
Dramen- und Theaterformen im 17. Jahrhundert doch eine Ahnung von der Vielfalt der europäischen
(Alexander 1984, 20–48; Niefanger 2003). Dies gilt Theaterlandschaft.
ganz besonders, wenn man sich nicht nur dem Neben der institutionellen und kulturpolitischen
Drama in den deutschen Ländern widmet, sondern, Konkurrenz zeigte sich aber gerade auch der agonale
was aufgrund vieler interkultureller Verflechtungen Bezug zur Vergangenheit als Motor der Dramenent-
sinnvoll ist, die europäischen Nachbarländer mit wicklung. Ein oft ausdrücklich, auch aus Prestige-
einbezieht. Die frühen Nationalstaaten jenseits der gründen, genannter Bezugspunkt waren deshalb die
Grenze hatten indes ein deutlich einheitlicheres antiken Dichtungstheorien v. a. von Aristoteles und
Theater entwickelt als das in viele, in ihrer Kulturpo- Horaz sowie das römische Schauspiel von Seneca; im
litik weitestgehend autonom agierende Kleinstaaten Bereich der Komödie waren speziell Plautus und Te-
des allmählich zersplitternden Alten Reichs. Zu nen- renz die Leitfiguren. Als Vermittler der antiken Vor-
nen wären v. a. das Drama der doctrine classique in stellungen dienten häufig die lateinischen Poetiken
Frankreich (Racine, Corneille, Molière) (vgl. Kap. der Renaissance; als herausragende Referenz müssen
III.8), die Schauspiele des elisabethanischen Zeital- hier die Poetices libri septem (1561) von Julius Caesar
ters in England (Shakespeare, Marlowe, Dryden, Ot- Scaliger bezeichnet werden. Diesen doppelten Bezug
way) (vgl. Kap. III.5), des niederländischen goldenen auf Antike und Humanismus setzt die wichtigste
Zeitalters (Vos, Vondel), des spanischen Weltthea- deutsche Barockpoetik, Martin Opitz’ Buch von der
ters (Calderón, Lope de Vega) oder nicht zuletzt die Deutschen Poeterey (1624), programmatisch an ih-
Commedia dell’arte (vgl. Kap. III.6) und die Oper ren Anfang, indem sie namentlich auf ihre Vorläufer
(Peri, Monteverdi) in Italien. verweist: »bey den Griechen hat es Aristoteles vor-
Wesentlich stärker als das Theater der Nachbar- nemlich gethan; bey den Lateinern Horatius; vnd
länder war die deutsche Bühne des 17. Jahrhunderts zue unserer Voreltern zeiten Vida vnnd Scaliger«
aber durch ihre Internationalität geprägt. Auch (Opitz 2002, 13). Schließlich gibt es zumindest Hin-
wenn das deutsche Barockdrama mit seinen unter- weise auch auf eine Kenntnis des älteren volksspra-
schiedlichen Ausprägungen relativ eigenständige chigen Theaters. So lassen sich Passagen des be-
Dramenformen entwickelt hatte, so profitierte es rühmten Schimpfspiels Peter Squentz (1658) von
doch deutlich vom Theater der Nachbarländer, das Gryphius nicht nur auf Shakespeares A Midsummer
meist über Wandertruppen, aber auch durch Nach- Night’s Dream (um 1595), sondern auch auf das
ahmungen auf den Schul- und Hofbühnen in unter- Meistersinger-Spiel von Hans Sachs (zweite Hälfte
schiedlichen Varianten zu sehen war. Man hat das des 16. Jh.s) beziehen.
Fehlen eines Nationaltheaters im deutschen Barock
früher als großen Mangel angesehen, doch erwiesen
sich nach heutigem Verständnis die Offenheit für
Theaterinnovationen, die regionalen Vorlieben und 7.2 Das theatrum mundi-Konzept
das Nebeneinander institutionell unterschiedlich
verwurzelter Schauspielformen durchaus als Vorteil Wesentlich leitete sich die starke Verankerung des
für die Qualitätsbildung. Die Qualität einzelner Aus- Theaters und theatraler Handlungsformen in der
prägungen des Barockdramas war letztlich Resultat Gesellschaft des 17. Jahrhunderts aus der Vorstel-
einer strengen Konkurrenz auf unterschiedlichen lung eines Welttheaters ab, in dem jeder möglichst
Ebenen. Es konnte sich viel stärker als das Theater gut seine Rolle zu spielen hatte. Im Theater und sei-
der Nachbarkulturen auf die besten Dramenexempel nen unterschiedlichen Formen repräsentierte sich
232 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

damit eine zentrale Struktur barocker Welt- und Le- des Welttheaters: der im Stück thematisierte Schau-
bensauffassung, die sich ganz konkret in alltägli- platz der Weltgeschichte, die politische Gegenwart
chem Verhalten zeigen konnte. So waren das Verstel- der Aufführung und die Zukunft, auf die das Stück
len, die eingeübte Pose, die angemessene (Ver-)Klei- vorbereiten soll. Aufgrund der Analogie dieser
dung oder die rhetorisch treffende Rede keineswegs Schauplätze kann das Theater lehren, wie jeder in
verbrämt, sondern gehörten zum schicklichen Re- der Welt vernünftig spielen kann, so Lohenstein.
pertoire des wohlerzogenen Menschen. Dem Drama Als prominentes Beispiel eines unmittelbaren
kam in der barocken Gesellschaft insofern die zent- und nachhaltigen Lebensbezugs barocker Theater-
rale Aufgabe zu, das Prinzip des Welttheaters zu zei- kunst gilt die religiöse Wirkung des Jesuitenstücks
gen und zu reflektieren; es musste die Spieler und die Cenodoxus (1602) von Jakob Bidermann bei einer
Zuschauer auf das Lebensschauspiel außerhalb der Aufführung im Jahre 1609. In der Praemonitio ad
kontrollierten szenischen Spielanordnung vorberei- Lectorem zu den Ludi theatrales (1666) wird davon
ten. Die Barockzeit prägte für diesen Zusammen- eindrücklich berichtet:
hang die Formel theatrum mundi (Barner 1970; Damals nämlich haben sich insgesamt vierzehn Männer
86 ff., Rusterholz 1970). Es war eine europäische aus den vornehmsten hohen Mitgliedern des Bayerisch-
Formel: Jacques verwendet sie in seinem vielzitier- Herzoglichen Hofes der Stadt München, ergriffen von
ten Monolog in Shakespeares As You Like It höchst heilsamer Furcht vor GOTT […], kurz nach Ende
des Spiels zu uns in die Ignatianischen Exerzitien begeben,
(1599/1600); Segismundo nimmt sie im dritten Akt
wonach bei den meisten eine erstaunliche Veränderung ih-
von Calderóns La vida es sueño (1635) auf und der res Lebenswandels eintrat. […] Unter diesen Büßern be-
holländische Nationaldichter Joost van den Vondel fand sich auch jener, der die Rolle des Cenodoxus so glän-
präsentiert sie als Epigramm über dem Hauptein- zend gespielt hatte; und dieser hat, nachdem er im unmit-
gang der Amsterdamer Schouwburg, dem ersten Na- telbaren Gefolge dieser Exerzitien in unsere Gemeinschaft
eingetreten war, hier über viele Jahre ein so unschuldiges
tionaltheater der Niederländer (1638): »De weereld und heiligmäßiges Leben geführt. (Rädle 1992, 1151–53)
is een speeltooneel,/ Elck speelt zijn rol en krijght
zijn deel« (»Die Welt ist ein Theaterspiel, jeder spielt Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass ein sol-
seine Rolle und bekommt seinen Anteil«). cher Paratext nicht unbedingt die Realität wieder-
In Deutschland betonen zum Beispiel die großen gibt, doch zeugt er sowohl von der ästhetischen In-
schlesischen Dichter den essenziell theatralen Cha- tention eines lebensweltlich wirkenden Theaters als
rakter der Welt. Dem »Schawplatz der Eitelkeit« auch vom Einsatz der Dramen im Kontext religiöser
stellt Gryphius in der Schlüsselszene seines ersten Erziehung und theologischer Persuasion.
Trauerspiels Leo Armenius das paradiesische Jenseits Das barocke theatrum mundi-Konzept erscheint
gegenüber. Ausführlich beschäftigt sich die be- vor der Folie zweier neuerer theaterwissenschaftli-
rühmte Widmungsvorrede zu Daniel Casper von cher Diskussionen nochmals in einem anderen
Lohensteins Sophonisbe (1680) mit der Vorstellung, Licht: Die Theatersemiotik geht davon aus, dass die
die Welt sei ein Theater und der Mensch nur ein im barocken Theater verwendeten Zeichen (Büh-
Spiel der Zeit. Als Ausgangspunkt der Rede erscheint nenbild, Requisiten, Mimik, Sprache usw.) einer
hier das in allen Bereichen des Lebens wirksame normativen Bedeutungszuordnung unterliegen.
Prinzip des Spiels. Es erklärt nicht nur die menschli- Diese Zuordnung ist eine künstliche, weil sie von
che Situation in der Welt, das höfische Leben und Menschenhand geschaffen wurde; die Zeichenset-
das politische Handeln, auch das Wirken der Natur zung geschieht im Rahmen einer Konvention (Fi-
wird so vermittelt. Um sich im Weltspiel zu behaup- scher-Lichte 1994, 91). Dient die frühneuzeitliche
ten, muss der Mensch zwar mit Unwägbarkeiten Bibel- oder Naturallegorese der Zeichenentschlüsse-
rechnen, aber indem er die Spielregeln und die Spiel- lung, so muss man die Allegorese des Barocktheaters
techniken beherrscht, kann er die scheinbaren Zu- als Verfahren verstehen, verschlüsselte Zeichen zu
fälle des Lebens, das Wirken der Fortuna, wenn erzeugen, die die Welt in ihren theatralen Mechanis-
nicht begrenzen, so doch entscheidend abmildern. men verstehbar macht. Denn der Zuschauer kennt
Diese Weisheit lernen das Publikum im Parterre und die auf der Bühne evozierten Zeichen bereits aus ge-
die jugendlichen Schauspieler auf der Bühne ihrer lehrten Zusammenhängen und aus seiner Alltags-
Schule. Da die Stoffe der großen Barockdramen welt. Sie sind deshalb ›Zeichen vom Zeichen‹, sie
nicht selten der Historie entnommen sind, ergeben verweisen auf den kulturellen Kontext und das Büh-
sich drei diachron unterscheidbare Verweisebenen nengeschehen selbst. Hinzu tritt beim Barocktheater
7. Barock 233

noch eine allegorische, insbesondere theologische Theaterspielen dachte man elementar zusammen. So
Bedeutung. Die barocken Theaterzeichen gelten lautet die Antwort auf die Grundfrage »Was sind wir
zwar als Repräsentationen dieser ›tieferen‹ Bedeu- Menschen doch?« in einem bekannten Gedicht von
tungen, sie transportieren aber darüber hinaus auch Gryphius ein »Schauplatz herber Angst« (Maché/
allgemeines Weltwissen. Die Theaterzeichen sind Meid 1980, 115). Im menschlichen Körper zeigen
also prinzipiell vieldeutig, weil die allegorische Be- sich – wie auf der Bühne – Zeichen des Leides, Af-
deutung der Zeichen die kulturellen Konnotationen fekte des Grauens und Merkmale des Zerfalls. Der
keineswegs aufhebt. Im mehr oder minder stabilen gewissermaßen unhintergehbare Körper gibt auch
theologischen Deutungszusammenhang scheinen in der Barockzeit Auskunft über die Angemessen-
für das Barocktheater die Bedeutungsverhältnisse heit des Spiels im Welttheater. Deshalb kann, wie es
nur einfacher, im Grunde sind sie aber durch die etwa Christian Weises Wunderliches Schau-Spiel vom
nicht immer leicht entschlüsselbare Allegorese etwas Niederländischen Bauern (1700) deutlich macht,
komplizierter als in späteren Jahrhunderten. kein Landmann einen Herzog geben. Den angebore-
Das Verhältnis von Signifikat und Signifikant im nen Standesunterschied erkennt man nicht nur an
Theater bewegt sich im Rahmen eines barocken Ver- den Reden, sondern v. a. auch am unangemessenen
ständnisses von Mimesis, das sich durchaus noch an tölpelhaften Verhalten. Ein Bauer tanzt nach baro-
der Poetik des Aristoteles (vgl. Kap. I.2.3) orientiert. cker Semiotik normalerweise ›ungebärdig‹ (vgl.
Die Dichtung besteht nach Opitz »im Nachäffen der Mourey 2008), denn alles andere wäre ›unnatürlich‹.
Natur«, wobei sie »die dinge nicht so sehr beschreibe Die Theaterzeichen, die dies deutlich machen, sind,
wie sie sein / als wie sie etwan sein köndten oder sol- so gesehen, also nicht ›künstlich‹. Analoges gilt für
ten« (Opitz 2002, 19); die Darstellung soll sich also das Alter: Man denke nur an den ältlichen Liebhaber
nicht unbedingt an der vorgefundenen Wirklichkeit in der Commedia dell’arte. Insofern erscheinen die
orientieren, sondern eher an der Wahrscheinlich- Theaterzeichen im 17. Jahrhundert aus Sicht der his-
keit, wobei die im Theater entworfene Welt im Sinne torischen Anthropologie keineswegs bloß arbiträr,
des decorum (der Angemessenheit) gebildet werden wenn sie das theatrum mundi repräsentieren, son-
muss. Das decorum erscheint als begrenzender Fak- dern dienen gewissermaßen der ›natürlichen‹ oder
tor der Wahrscheinlichkeit. Insofern zielt das Drama besser angemessenen Wiedergabe der Weltordnung.
nicht auf die getreue Abbildung der Realität, son- Am ›ganzen‹ Menschen, an seinen Reden und sei-
dern auf die idealisierte Darstellung einer ständisch nen Körperzeichen kann der Kundige die Spielfähig-
geordneten, heilsgeschichtlich überformten und keit und den notwendigen Ort im Welttheater able-
ethisch abgesichterten Welt. In den Bereich der Mi- sen. »Denn wie ein anderer habit einem könige / ein
mesis gehören also auch politische und religiöse anderer einer priuatperson gebühret / vnd ein Krie-
Wahrheiten, zum Beispiel die Ehre des christlichen gesman so / ein Bawer anders / ein Kauffmann wie-
Martyriums; sie rechtfertigen allegorische Darstel- der anders hergehen soll: so muß man auch nicht
lung, etwa des Todes in Gryphius’ Catharina von Ge- von allen dingen auff einerley weise reden« (Opitz
orgien (1657) oder den Auftritt Verstorbener und 2002, 43). Die Barockpoetiken fordern ganz eindeu-
Geister wie in Lohensteins Sophonisbe. Das Vorkom- tig eine Kongruenz von Verhalten, Kleidung und
men solcher Figuren, insbesondere die Präsenz von Sprache und die Repräsentation der ›natürlichen‹
Allegorien – häufig in den katholischen Ordensdra- Ordnung der Welt im Theater.
men, den Reyen der protestantischen Schuldramen Der Widerspruch zur theatersemiotischen Pers-
und den politischen Prosadramen zu finden – unter- pektive und ihrer These von der Verwendung künst-
scheidet das Barocktheater von späteren Schauspiel- licher Zeichen auf der Barockbühne ist nur ein
formen, etwa dem Drama der Frühaufklärung (vgl. scheinbarer. Tatsächlich geht es hier um unter-
Kap. III.9). schiedliche Perspektiven auf den gleichen Zusam-
Das theatrum mundi-Konzept zeigt auch, dass menhang: Genauso wie der Mediziner des 17. Jahr-
Theatralität in der Barockzeit anthropologisch ge- hunderts meinte in den Körpersäften lesen können,
dacht wird und keineswegs an die Bühne und ihre beruft sich die barocke Anthropologie auf eine thea-
Institutionen gebunden ist (vgl. Schramm 2003). trale Lesbarkeit des Körpers. Diese unterscheidet
Theaterspielen und theatrale Wahrnehmung gehör- sich freilich von der eloquentia corporis des 18. Jahr-
ten im 17. Jahrhundert vielmehr zur kulturellen, so- hunderts, denn diese geht nicht von einer Relation
zialen und religiösen Alltagspraxis. Menschsein und zwischen psychischem Zustand und Körper, son-
234 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

dern von einer zwischen sozialer und biologischer Formel »ex bello ars« geprägt worden (Kaminski
Disposition und dem jeweiligen Rollenverhalten 2004). Die barocken Poetiken sehen vor, kritische Si-
aus. In einem barocken Ballet wird ein Bauer nie- tuationen eines Staates oder einer Gesellschaft auf
mals grazil tanzen. Die Zeichen, die das Theater die konkreten Krisenerfahrungen der einzelnen
hierfür verwendet, sind aus heutiger Sicht gewisser- Menschen zu beziehen und entwickeln von dort aus
maßen ›künstlich‹ erzeugt. Für die barocke Binnen- eine spezifische, didaktisch ausgerichtete Dramatur-
sicht ist dies aber ein unerhebliches Faktum, solange gie. Der auf der Trauerspiel- oder auch Festspiel-
diese Zeichen im Sinne des Welttheaters korrekt bühne gezeigte Untergang hoher, öffentlich und po-
sind. litisch handelnder Personen steht insofern in stren-
ger Relation zum gewünschten Verhalten des
Publikums. Von einer Begrenztheit des heroischen
Trauerspiels im 17. Jahrhundert auf den politisch-öf-
7.3 Kriege und Krisen fentlichen Raum kann deshalb zwar hinsichtlich des
auf der Bühne agierenden Personals, nicht unbe-
Als Jahrhundert der »Kriege und Krisen« (Press dingt aber in poetologischer Hinsicht gesprochen
1991; Münch 1999) fasst die Geschichtsschreibung werden.
die Barockzeit. Aber auch in der bildenden Kunst, Eine solche Relation »ernster, schrecklicher, trau-
der Literatur, ja selbst in der Musik (Biber: La Ba- riger, tränenreicher und grausamer Begebenheiten«
taille) wird der Barock wie keine andere Epoche mit und konkreter Lebenssituationen, in denen wir froh
Kriegen, Gewaltexzessen, Pogromen, Seuchen und sind, »daß wir solche Leiden nicht erfahren haben«,
unterschiedlichen Endzeitvorstellungen in Verbin- macht die Poetik des Jesuiten Jacobus Pontanus zum
dung gebracht. Nicht nur der von den Betroffenen Kern ihrer Gattungslehre (zit. Übers. v. George
zweifellos traumatisch erlebte Dreißigjährige Krieg 1972). Opitz formuliert in seiner Poetik gar, die
und die damit einhergehenden Verwüstungen, Epi- Dichtung müsse »vnser gemüte wieder die zufälle
demien und Hungersnöte wären zu nennen, son- dieses lebens außhärten« (Opitz 2002, 73). Dass wir
dern Kriegshandlungen, Aufstände und barbarische diesen, im Prinzip didaktisch konstruierten, Zusam-
Verbrechen in ganz Europa werden immer wieder menhang von historischer Krisensituation und kon-
und in ganz unterschiedlicher Weise als Kennzei- kreten Handlungen des Einzelnen in den poetologi-
chen dieser Zeit angeführt. Dass diese Hintergründe schen Paratexten (vgl. Stockhorst 2008) viel explizi-
für die Literatur insgesamt und für das Drama im ter lesen, hat mit der doppelten Medialität der
Besonderen eine erhebliche Relevanz besaßen, ver- Gattung zu tun. Die überlieferten barocken Dramen
steht sich von selbst. Eine Vielzahl von Schauspielen konnten zwar als Aufführung rezipiert werden, wa-
mit konkreter Kriegs- bzw. Friedensthematik (etwa ren aber primär Lesetexte, die eine Aufführung al-
Johann Rists Friedenswünschendes Teutschland, lenfalls antizipierten. Die Wirkung des schriftlichen
1647, Simon Rettenpachers Laophilus et Irene, 1683, Dramentextes wurde deshalb durch Paratexte (Vor-
oder Gryphius’ Horribilicribrifax, 1663) sprechen je- reden, Widmungen, Nachworte, Inhaltsangaben, Er-
denfalls dafür. Hinzu kommen die vielen Ge- läuterungen der historischen Hintergründe und Tra-
schichtsdramen des 17. Jahrhunderts (etwa Lohen- ditionen, Bilder usw.) nachhaltig unterstützt. Insbe-
steins Cleopatra, 1661), August Adolf von Haugwitz’ sondere hier werden reale Krisenszenarien
Maria Stuarda, 1683, oder Bidermanns Belisarius, verhandelt und auf die eigentlichen Schauspieltexte
1607), die auf die Krisensituation des Alten Reichs und ihr Publikum bezogen. So wundert es kaum,
und auf mögliches Herrscherverhalten beziehbar dass nicht selten die Dramenvorreden mit der Be-
waren (vgl. Niefanger 2005; Alt 2004; Voßkamp schreibung von Kriegs- und Krisenszenarien begin-
1967). nen (etwa Gryphius’ Leo Armenius oder Rists Per-
Kriege und Krisen gehören aber nicht nur in the- seus, 1634); diese rechtfertigen nicht nur das Drama
matischer Hinsicht zum barocken Trauerspiel, son- selbst, sondern darüber hinaus oft die Beschäftigung
dern bestimmen wesentlich seine Poetik; ja, man mit Literatur und Theater überhaupt. So hören wir
könnte von einer Krisenpoetik des Barockdramas, in Opitz’ Vorrede zu seiner Musterübersetzung der
insbesondere des Trauerspiels reden. In der jüngeren Trojanerinnen von Seneca (1625), dass die in den
Barockforschung ist für die enge Verbindung von Dramen vorgeführten Misslichkeiten des menschli-
Militärgeschichte und Poetik im 17. Jahrhundert die chen Lebens und die dort gezeigten grausamen Zer-
7. Barock 235

störungen unsere Beständigkeit (constantia) und un- Trichter (1647–53) gesprochen werden (Niefanger
sere Fähigkeit fördere, mit Leid umzugehen. Die 2011); intensiv setzen sich Albrecht Christian Rotth
Vergänglichkeit irdischen Lebens (vanitas) und die (Vollständige Deutsche Poesie, 1688) und die anonym
Präsenz des Todes im Leben (memento mori) er- erschienene sogenannte Breslauer Anleitung (1725)
scheinen als Grundmomente der dramatisch vorge- mit dem Theater auseinander.
führten Welt. Nicht einen gleich bleibend konstan- Der Aufbau des deutschen Barockdramas (Nie-
ten Zustand sollen die Dramen beim Zuschauer be- fanger 2006, 139–183; Meid 2009, 327–497) ist weni-
wirken, sondern eine prozessual gedachte Aus- oder ger strikt geregelt als jener antiker oder nachfolgen-
Abhärtung, die es dem Menschen möglich macht, der Dramen. Seine Sprache ist meist entweder
mit Kriegen und Krisen umzugehen. Die Barockdra- Deutsch oder Latein, am Hof auch mal Französisch
men favorisieren eine flexible, keine starre Strategie, und in der Oper Italienisch. Auf der Wanderbühne
sie begreifen die Didaxe des Dramas als dynami- wurde zum Teil auch Niederländisch und Englisch
schen Vorgang, der auf einem Wechselspiel von gesprochen. Die hier erwähnten Dramen sind in der
Gräuelerfahrung (die Welt ist grausam) und Fiktio- Regel deutschsprachige. Meist werden sie in Akte
nalisierungsbewusstsein (zum Glück sehe ich hier (Actus, Abhandlungen, Aufzüge) und darauf folgende
eine gespielte Welt) beruht. Chöre (Reyen) unterteilt. Die Akte setzen sich in der
Sowohl im protestantischen Schultheater als auch Regel aus einzelnen Szenen zusammen. Nicht selten
im Ordensdrama finden sich Märtyrerdarstellun- wird ein Prolog vorangestellt und ein Beschluss ans
gen, die vorbildhaft zeigen sollen, wie im christli- Ende gesetzt. Teil der Dramentexte sind häufig die
chen Kontext mit Krisen umzugehen sei. Das Kon- oben genannten Paratexte und Angaben zum Spiel-
zept der Märtyrertragödie basiert auf einer gegen- ort sowie den dramatis personae (Nebentexte). Die
sätzlichen Figurenkonstellation (vgl. Benjamin 1982, Dramen bestehen – Horaz folgend – aus fünf Akten;
51–57), in der unterschiedliche Handlungsmodelle selten finden sich mehr Akte (Weise, Masen) oder –
und Zeitlichkeitsvorstellungen korrelieren. Im Ba- Cicero folgend – nur drei, manchmal auch vier Auf-
rockdrama stehen der einen überragenden Märty- züge.
rergestalt meist mehrere verschieden ausgeprägte Durch die Vielzahl von Para- und zum Teil nicht
Antagonisten gegenüber. Der passiv erduldende, aufführbaren Nebentexten sowie durch den großen
jenseitig orientierte Märtyrer kontrastiert mit den Umfang vieler Barockdramen und durch die nicht
aktiven, weltlich orientierten Parteigängern des Ty- selten beigelegten Illustrationen (Titelkupfer, Abbil-
rannen. Tendenziell sind beiden Figurentypen die dungen der Hauptfiguren usw.) kommt es zu einer
klassischen aristotelischen Erregungszustände zuzu- deutlichen Differenz zwischen Lesedrama und Auf-
ordnen: Der Märtyrer erregt Jammer (bzw. Mitleid) führungstext. Während für das 17. Jahrhundert we-
und der Tyrann Schaudern (bzw. Furcht oder Schre- der die Aufführung noch die Inszenierung auch nur
cken) beim Zuschauer. Der Hinwendung zu Gott, annähernd rekonstruierbar sind, haben sich viele
für die der Märtyrer steht, entspricht die Verfallen- Barockdramen als zum Teil aufwendig typografisch
heit an die Welt, die seine Gegner exemplifizieren. gestaltete Lese- und Repräsentationsausgaben erhal-
Diese haben sich von Gott und dessen ordo-Prinzip ten. Für ein solches Textensemble und nicht für die
(der christlichen Ordnung) verabschiedet. konkret auf der Bühne zu sehende Version hat sich
der Begriff ›Barockdrama‹ eingebürgert. Anders als
in späterer Zeit waren diese Texte selten Ausgangs-
punkte für Aufführungen. Da es in der Frühen Neu-
7.4 Dramen- und Theaterformen zeit keine Autoren- und Bühnenrechte wie heute
gab, war es den Spielleitern in hohem Maße erlaubt,
Dramentheoretische Äußerungen finden sich zum eigene Textvarianten herzustellen und die Texte ra-
einen in den Poetiken der Barockzeit, zum anderen dikal an die Anforderungen des eigenen Theaters
in den Vorreden zu den dramatischen Texten. Wich- anzupassen. Da in einigen Fällen – etwa beim Papi-
tige Bestimmungen stehen im genannten Buch von nius (1659) von Gryphius oder bei einigen Jesuiten-
der deutschen Poeterey (1624) von Opitz und in den stücken – sowohl Szenare, Programmzettel oder Pe-
Poetiken der Jesuiten (Jacob Masen, Jacobus Ponta- riochen (s.u.) als auch gedruckte Texte vorliegen,
nus); von einer ersten deutschsprachigen Dramatur- kann man wenigstens ansatzweise die Differenzen
gie kann bei Georg Philipp Harsdörffers Poetischem von Aufführung und Lesetext nachvollziehen.
236 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

7.4.1 Drama der Wanderbühne Geberden / auch offters Zierligkeit im Reden«


(Spieltexte der Wanderbühne Bd. 1, 2) allseits gelobt
Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts traten in würde. In der Aufzählung erscheint das Körperspiel
Deutschland vermehrt Wanderbühnen-Truppen wichtiger als die Rhetorik. Dadurch unterscheidet
auf, die an unterschiedlichen Orten (Städte, Höfe, sich die Darbietungsweise erheblich vom Deklama-
Märkte) ein kommerzielles, nicht-ständiges Theater tionsstil der humanistisch geprägten Bühnen der Ba-
aufzogen. Im Reich waren zuerst italienische Thea- rockzeit (protestantisches Schultheater, Jesuitenthea-
terkompanien, dann englische und niederländische ter). Die lebendigen Aufführungen wurden durch
Truppen, schließlich auch französische tätig. Musik- und Liedeinlagen unterstützt. Die Stücke
Seit Mitte des 16. Jahrhunderts lassen sich in Eng- waren in einfacher, leicht verständlicher Prosa ver-
land bereits 160 Theatergruppen nachweisen. Kon- fasst und boten oft Raum für Improvisationen und
kurrenzdruck und v. a. die Behinderung des Thea- Stegreifeinlagen. Nicht selten waren drastische Ge-
ters durch die Puritaner seit 1570 veranlasste einige waltdarstellungen und derbe Obszönitäten auf der
Truppen nach Dänemark, Holland und Deutschland Bühne zu sehen; Letztere führten ab und an zu Auf-
auszuwandern. Seit 1586/87 traten englische Komö- führungsverboten. Eine feste Institution waren ko-
dianten in Deutschland auf (vgl. Haeckel 2004). Die mische Figuren (Clowns, Pickelhäring, Hanswurst
erste bekannte Truppe, die von Robert Browne, usw.), auch in ernsten Stücken.
spielte seit 1592 am Hof von Heinrich Julius von Aus zwei Gründen waren die Wandertruppen in
Braunschweig-Wolfenbüttel. Die berühmtesten Deutschland zu einem auf Publikumseffekte ausge-
Gruppen, deren Mitgliederzahl jeweils zwischen 10 richteten Theater gezwungen: Zum einen verlangte
und 25 Personen lag (Schauspieler und Musiker), die sozial-ökonomische Situation der Truppen ein er-
wurden von Browne, Greene, Spencer, Jolliphus und folgreiches und kein kritisches Theater und zum an-
Sachville geleitet. Zuerst wurde englisch gespielt, ab deren bot ein solches Theater Möglichkeiten, leicht-
etwa 1600 dann auch in deutscher Sprache. Zuneh- verständliche Stücke und aus dem Heimatland ge-
mend wurden deutsche Akteure in die englischen wohnte Spieltechniken zu übernehmen. Zum Theater
Truppen integriert; auch übernahmen die Engländer gehörte v. a. die leidenschaftliche und sinnliche Prä-
»die Ausbildung deutscher Schauspieler, Tänzer und sentation von Affekten und blutigen Aktionen. Sie
anderer Bühnenartisten« (Brauneck 1996, II, 335). konnte nur gelingen, wenn die oft kopflastigen und
Erste deutsche Schauspielgruppen (auch: Theater- wortzentrierten Vorlagen für die Stücke radikal ge-
truppen oder -banden) existierten seit Ende des kürzt und auf die eindrucksvollsten, ›körperlich‹
Dreißigjährigen Krieges. Angeführt wurden sie von spielbaren Szenen zugeschnitten wurden.
einem Prinzipal (auch: Entrepreneur), der über Ein- Die Reduzierung der verbalen Elemente des Dra-
stellungen, Gage, Entlassungen von Schauspielern, mas resultierte natürlich auch aus der fremdländi-
den Spielplan und die Ausstattung entschied und der schen Herkunft der ersten Schauspieltruppen. Sie
v. a. die Aufführungen besorgte. Er verhandelte mit zwang die Truppen zur verstärkten Verwendung von
den städtischen oder fürstlichen Behörden um die mimischen und gestischen Mitteln sowie einer Beto-
Spielgenehmigung (Privilegium) und übernahm in nung von einfachen Requisiten. Insofern bestimm-
der Regel auch die Regie der Stücke. Bekannte An- ten ihre eigenen Probleme, in deutscher Sprache zu
führer deutscher Truppen waren Treu, Paulsen, spielen und die ihres Publikums, französische, italie-
Elenson und Magister Velten. Gespielt wurde in nische oder englische Texte zu verstehen, neben der
Schlössern, auf Marktplätzen, im Ratssaal oder Mar- notwendigerweise einfachen Ausstattung der Wan-
stall, erst später auch in festen Theatern. Wichtige derbühne, die Arrangements der Stücke. Die körper-
Spieltermine waren Hof- oder Stadtfeste und die betonte Spielpraxis erwies sich als ausgesprochen er-
Messen, für die oft Sondergenehmigungen für Auf- folgreich; sie wurde später von den deutschen Wan-
führungen erteilt wurden. derbühnen kopiert. Die Tendenz zur verbalen
Die Wanderbühne ist ein Aktionstheater, für das Vereinfachung ging mit einer Konzentration auf in-
der gesprochene Text gegenüber der Bühnenhand- haltliche Antagonismen einher. Zwischentöne wur-
lung an Bedeutung verliert. Dies wird in den Vorre- den also eher vermieden. Der besseren Konsumier-
den ihrer Textsammlungen sogar reflektiert, wenn barkeit der Stücke dienten aber auch dem Stoff ur-
sie konstatieren, dass die Wanderbühne »wegen arti- sprünglich fremde Einsprengsel, die die eigentliche
ger Invention, theils wegen Anmuthigkeit ihrer Handlung bestenfalls flankierten, wie akrobatische
7. Barock 237

Einlagen, das Einführen von neuem, meist komi- nisse anpasst und ergänzt. Nicht zuletzt die geradezu
schem Personal (Hanswurst, Pickelhäring usw.), die kultische Weitergabe des Hamlet-Manuskripts von
Präsentation von Jahrmarktssensationen und ex- Prinzipal zu Prinzipal, die man bis ins späte 18. Jahr-
temporierte Einlagen. Vergleichbare Spielweisen hundert hinein verfolgen kann, zeugt von der kaum
präsentierten auch italienische Theatertruppen, die zu überschätzenden Wirkung des Wanderbühnen-
natürlich stark durch die Tradition der Commedia theaters. Die harsche Kritik Gottscheds an dieser
dell’arte geprägt waren. Das italiensche Wanderthea- Theaterform hat vermutlich ihre tatsächliche Wir-
ter trat zuerst im bayerisch-süddeutschen Raum auf; kung auf die Spielpraxis bis ins späte 18. Jahrhundert
seit 1568 spielte es in München, Wien und Linz. für die Forschung in den Hintergrund treten lassen.
Seit den 1640er Jahren gastierten auch niederlän- Für die Schauspiel-Diskussion in der ersten Hälfte
dische Truppen in Deutschland. Rist erwähnt lo- des 18. Jahrhunderts erscheinen jedenfalls das spezi-
bend Jan Baptista van Fornenbergh, dessen Truppe fische Körpertheater der Wanderbühne und seine
er eine ›natürliche Spielart‹ attestiert. Er war seit Improvisationselemente ausgesprochen wichtig.
1640 an der Amsterdamer Schouwburg tätig, gas-
tierte mit einer eigenen Truppe seit etwa 1645 in un-
terschiedlichen Städten der Niederlande und tourte 7.4.2 Ordensdrama, insbesondere
vermutlich seit 1649 durch Norddeutschland und Jesuitendrama
Dänemark. Im dänischen Altona sieht Rist eine Auf-
führung. Vermutlich wirkte das Theater niederlän- Das katholische Ordensdrama war neben dem etwas
discher Komödianten, die selbst vom effektvollen älteren protestantischen Schuldrama die wichtigste
Spiel des Schouwburg-Dramatikers Jan Vos und sei- didaktisch geprägte Theaterform der Barockzeit.
ner Nachfolger inspiriert gewesen sein dürften, auf Dominant war das theatertechnisch weit entwickelte
das Theaterspiel des deutschen Prinzipals Magister Schuldrama der Jesuiten (vgl. Bauer 1986; Valentin
Velten. Es führte hier wohl zu einer vermehrten Ver- 1978), daneben haben auch etwa Benediktiner und
wendung oder Nutzung ›natürlicher Zeichen‹ und Augustiner in Deutschland erfolgreich Theater ge-
eines körperakzentuierten Spiels. Einige Zeugnisse spielt. Das Jesuitentheater wirkte seit kurz nach der
des Theaterdiskurses in der Barockzeit legen nahe, Gründung des Ordens 1534 bis zu seiner Aufhebung
dass man gerade im niederländischen Theater eine 1773.
etwas ›natürlichere‹ Spielweise sah (vgl. Niefanger Das Theater war fest in das Ordensleben der Jesu-
2009) als im stark regelgesteuerten italienischen iten verankert. Es war Bestandteil der schulischen
oder französischen Spiel, wobei natürlich die unter- und universitären Festrituale (kirchliche Feiertage,
schiedlichen Sparten und Institutionen des Theaters Beendigung des Schuljahres, Jubiläen) und zentraler
berücksichtigt werden müssen. Fraglich bleibt auch, Bestandteil des Erziehungsplans. Das Ziel des Jesu-
ob man die englischen und niederländischen Komö- itendramas war durch die Grundsätze des Ordens –
dianten in ihrer Wirkung auf die deutsche Theater- Ausbildung von Priestern, Ordensbrüdern und
praxis überhaupt trennen sollte (vgl. Brauneck 1996; Laien; Erziehung zum Glauben; Wahrung, Siche-
Haeckel 2004). rung und Ausbreitung der römisch-katholischen
Das Repertoire der Wanderbühnen war eine Lehre – klar umrissen: Es diente in erster Linie der
bunte Mischung verschiedener Theatergenres: Man Ausbildung an Gymnasien sowie der Selbstdarstel-
sah Singspiele und Possen, mythologische Stücke lung des Ordens und seiner Glaubensvorstellungen.
oder Tragödien. Viele Lust- und Trauerspiele, insbe- Innerhalb der schulischen Erziehung kam dem
sondere jene mit höfischem Personal, hatten häufig Theater eine besondere Bedeutung in der Latein-
einen einfachen und stereotypen Aufbau (Liebesint- und Rhetorikausbildung zu. Die aufwendige Gestal-
rigen, politische Verwicklungen, Festlichkeiten). Be- tung der Stücke, ihre kunstvolle Sprache und Insze-
arbeitet wurden immerhin Texte von Calderón, nierungstechnik sowie ausführliche Reflexionen zur
Lope de Vega oder Molière, Marlowe und auch Anfertigung und Spielweise der Stücke lassen zudem
Shakespeare. Für die theatergeschichtliche For- auf eine recht eigenständige – wenn auch nicht von
schung ist etwa der deutsche Hamlet (1710) vermut- Glaubensfragen unabhängige – ästhetische Inten-
lich in der Fassung von Velten interessant, weil das tion schließen. Darüber hinaus kann im Rahmen
ansonsten stark gekürzte Stück die metadramati- der ecclesia militans, einem Programm zur Eindäm-
schen Passagen seiner Vorlage an deutsche Verhält- mung des Protestantismus, sicherlich auch die Glau-
238 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

benspropaganda (propaganda fides oder fidei) als ein Sammlungen enthalten und geben, da oft keine an-
Ziel des Jesuitendramas festgemacht werden. Die deren Zeugnisse vorliegen, eine Vorstellung von der
Vertreter der Gegenreformation sahen in ihm ein Vielfältigkeit der Jesuitenbühne, von Deutungsmus-
wichtiges Instrument zur Stärkung der eigenen Kon- tern, den Spielplänen, Spielorten, einzelnen Auffüh-
fession bzw. der ›wahren Kirche‹. Der letzte Punkt rungen und Erfolgen (vgl. Szarota 1979–1987; Va-
hat aber keineswegs dazu geführt, dass Protestanten lentin 1983/84). Das Nebeneinander verschiedener
von Aufführungen des Jesuitentheaters ausgeschlos- Medien – Aufführung, Perioche, Dramentext – er-
sen waren. Im Gegenteil, eine Wirkung auf das evan- zeugt komplexe, gegenseitige Deutungsbeziehun-
gelische Schuldrama ist mühelos nachweisbar. gen: Die Periochen machen nicht nur das lateinisch
Die Aufführungen der Jesuitenstücke (vgl. Braun- aufgeführte Stück dem weniger gelehrten Publikum
eck 1996, 358–380) waren zum Teil als komplexe verständlich; sie geben auch Hinweise zur Interpre-
Bühnenarrangements gestaltet. Das Ordenstheater tation des oft allegorisch gestalteten Geschehens.
nahm Innovationen der anderen Theaterformen Die manchmal nicht leicht zu begreifenden Erzäh-
schnell auf und passte sie ihren Bedingungen an. lungen der Periochen werden durch die Aufführung
Von ihm gingen aber auch wichtige Anregungen im plastisch und so für manchen eigentlich erst ver-
Bereich der Theatertechnik aus. Anfangs fanden die ständlich.
Aufführungen auf einem einfachen Podium statt, Gedruckte Ausgaben der Dramentexte lagen v. a.
das ohne großen Aufwand unterschiedliche Szena- von den großen Autoren Pontanus, Bidermann, Ja-
rien zuließ. Die verschiedenen Spielorte wurden cob Balde und Nikolaus von Avancini vor. Eine dif-
durch wenig komplexe Bühnenzeichen bestimmt. ferenzierte Beschreibung der ästhetischen Gestalt
Die Bühne veränderte sich allmählich zu einer kubi- der Jesuitendramen ist schwierig, da die Stücke den
schen Simultanbühne, auf deren Hinterseite, durch Gegebenheit der jeweiligen Schulbühne, den Fähig-
Vorhänge getrennt, bespielbare Innenräume zu se- keiten der Schauspieler und regionalen Erfordernis-
hen waren. Diese Bühnenform wurde schließlich sen (lokale Heilige und Feste usw.) angepasst wur-
durch eine Sukzessionsbühne, deren Aufbau also den. Praktisch allen Stücken liegt eine antagonisti-
wandelbar war, ersetzt. Diese Bühne entsprach sche Struktur zugrunde, die Tugenden und Laster,
durchaus schon dem heute üblichen Guckkastenfor- Gläubige und Ketzer oder Märtyrer und Tyrannen
mat. Sie arbeitete mit beweglichen Kulissen, die die gegenüberstellt. Oft gibt es einen herausragenden
Vorder-, Mittel- oder Hinterbühne gestalten konn- und vorbildlichen Helden, der den wahren christli-
ten. Mittels der barocken Illustrationstechnik er- chen Glauben verkörpert und Anfeindungen ausge-
möglichte diese Bühne perfekte Raumillusionen. setzt ist. An ihm kann auch eine gute Herrschaft im
Die Aufführungen des Jesuitentheaters waren spek- Dienste der Kirche und des christlichen Abendlan-
takulär; sie hatten mitunter den Charakter eines Ge- des gezeigt werden. Zu sehen sind freilich auch oft
samtkunstwerks. Aufwendige Bühnenmaschinen, abschreckende Beispiele: Sünder, die zentrale christ-
bewegliche Kulissen, Parallelbühnen, Massensze- liche Werte und Glaubensgrundsätze missachten.
nen, blutige Auftritte, Theatereffekte (Feuerwerk, Als ein strukturelles Merkmal erscheint oft die con-
Lichteffekte, Geräusche) und Musik machten die versio, die Umkehr oder Bekehrung eines Sünders
Aufführungen zu einem erinnerungsstarken Ereig- oder Abweichlers zum rechten Glauben. Im Sinne
nis. der Jesuiten wird dem Menschen hier eine gewisse
Die Stücke der Jesuiten sind in der Regel in latei- Willensfreiheit und Entscheidungsgewalt zugestan-
nischer Sprache verfasst, Zwischenspiele werden ge- den, so dass die dramatisch umgesetzte Peripetie für
gen Ende der Barockzeit auf Deutsch gegeben. In der die Zuschauer eine Vorbildfunktion bekommen
Muttersprache sind zum Teil auch die Periochen ge- kann. In diesem Sinn, als Bekehrung des Helden
halten, die zu den Aufführungen verteilt wurden. (und womöglich des Zuschauers), wird auch die
Als Periochen bezeichnet man die zur Aufführung aristotelische kátharsis gedeutet.
verteilten Theaterzettel mit einem Titelblatt, Inhalts- Von großer Relevanz für die deutsche Theaterge-
angaben mit Deutungshinweisen und historischen schichte ist die Dissertatio de actione scenia (1727)
Erläuterungen (dem Argument), knappen Angaben des Jesuiten Franciscus Lang, das erste ausführliche
zum Inhalt der einzelnen Szenen und einer Liste der Lehrbuch für die Schauspielkunst in Deutschland.
dramatis personae (oft mit Angabe der Schauspieler, Der lateinische Text arbeitet mit genauen Beschrei-
syllabus actorum). Sie sind in zeitgenössischen bungen und Abbildungen; er zeigt in welch hohem
7. Barock 239

Maße das barocke Schauspiel von der Rhetorik ab- zeigte Martyrium die Standhaftigkeit festigen (con-
hängig war. Dem gesprochenen Wort sind Gestik, stantia), angesichts weltlicher Schrecken mit Bezug
Mimik und Bühnenaktion zugeordnet. Allerdings auf das Jenseits trösten (consolatio) oder politisch
richtete Lang sich gegen eine allzu pathetische und kluges Handeln (prudentia) stärken. Die Stücke ha-
künstliche Darstellung und bestand auf einer natür- ben fünf Akte, sind meist in paarweise gereimten
lichen Sprech- und Bewegungsweise, die sich indes Alexandrinern verfasst und enthalten in der Regel
an Konventionen zu orientieren hatte. Lang verlangt Reyen zwischen den Akten, die die Handlung auf ei-
ausdrücklich die Beachtung von künstlerischen und ner zweiten Ebene kommentieren. Am Schluss der
natürlichen Regeln, von »Artis & Naturae legis« gedruckten Dramen finden sich fast immer erläu-
(Lang 1727, 12). ternde Anmerkungen. Auf der Bühne agieren Perso-
nen hohen Standes, die in angemessener Sprache
(genus grande) sprechen. Die Einheiten des Ortes
7.4.3 Schlesisches Trauer- und Lustspiel und der Zeit werden mehr oder minder genau einge-
halten. Die Handlung konzentriert sich auf die
Als Schlesisches Trauerspiel kann man die wichtigste sprachliche Auseinandersetzung; insofern setzen die
und bis heute bekannteste Form der deutschsprachi- Theatertexte auf die Deklamation als vorrangiges
gen protestantische Barocktragödie fassen, die sich Mittel; die sinnlichen Effekte erscheinen im Ver-
nach den Regeln der Opitzschen Poetik und nach gleich zu anderen zeitgenössischen Schauspielfor-
dem Muster der Trauerspiele von Gryphius richtet. men eher zweitrangig. Insofern ist die Sprache der
In den Paratexten erscheint meist »Trauerspiel« als Texte durch eine ausgefeilte Rhetorik, emblemati-
Gattungsbezeichnung. Die Tragödie handele, so sche Anspielungen und Strukturen (vgl. Schöne
Opitz, von »königlichem willen / Todtschlägen / ver- 1993), schnelle Wortwechsel (Stichomythien) und
zweiffelungen / Kinder- vnd Vätermörden / brande / pathetische Monologe geprägt. Während die frühen
blutschanden / kriege und auffruhr / klagen / heulen Gryphius-Dramen eher die Märtyrerhaltung des
/ seuffzen vnd dergleichen« (Opitz 2002, 30). Ob- Protagonisten herausarbeiten (Catharina von Geor-
wohl die Ständeklausel gilt, ist die Gattung im Prin- gien; Carolus Stuardus, 1657/63), betonen die Lo-
zip nicht an historisch-politische, biblische oder my- henstein-Stücke (vgl. Newman 2000) das politische
thologische Inhalte gebunden. ›Bürgerliche‹ The- Agieren (Cleopatra, 1661/80; Sophonisbe).
men, etwa die unerfüllbare Liebe zweier Menschen Das Schlesische Trauerspiel diente der schuli-
wie in Gryphius’ Cardenio und Celinde (1657), blei- schen Ausbildung und der Repräsentation der Un-
ben aber die absolute Ausnahme. Die wichtigsten terrichtsanstalten in der Öffentlichkeit. Möglicher-
Texte des Schlesischen Trauerspiels erscheinen zwi- weise gab es nur einzelne Aufführungen an oder vor
schen den Jahren 1650 (Gryphius’ Leo Armenius) Höfen. Mit der Vorbereitung einer Aufführung und
und 1715 (Johann Christian Günthers Die von Theo- der (festlichen) Inszenierung sollte das im Unter-
dosio bereute Eifersucht). Hauptvertreter waren die richt erworbene Wissen ergänzt und erstmals ange-
Autoren der Schlesischen Dichterschule, also An- wendet werden. Die rhetorischen Regeln sowie poli-
dreas und Christian Gryphius, Lohenstein, Johann tische und juristische Verfahren wurden hier im
Christian Hallmann, Haugwitz, Friedrich Christian praktischen Einsatz vorgeführt und auf der Bühne
Bressand und Günther. Als Vorbilder können neben getestet. So gesehen, konnten die Schüler in der Auf-
den Dramen von Sophokles und Seneca (Arend führung und Probe Exempel späterer Tätigkeiten er-
2003), von denen Opitz jeweils eine Mustertragödie leben. Außerdem übten sie mithilfe des Theaters das
(Trojanerinnen; Antigone, 1636) übersetzte, v. a. die Gedächtnis und konnten die Wirksamkeit ihres ei-
niederländischen Trauerspiele des 17. Jahrhunderts genen Auftretens verbessern. Die öffentlichen Insze-
angesehen werden. Vondels De Gebroeders (1640) nierungen waren auch als Dank an Gönner und
übertrugen Gryphius und Friedrich Dedekind, des- Herrschende (Stadt, Höfe) gedacht und hatten einen
sen Maria Stuart (1646) übersetzte Christoph Kor- unübersehbaren Werbeeffekt: Sie stellten die Leis-
mart. Auf die Konzeption dieses Tragödientyps tungsfähigkeit der Schule dar, wodurch letztlich
wirkten zudem das zeitgenössische Ordensdrama neue Schüler aus adeligen Familien gewonnen wer-
und die Wanderbühne, in der Spätphase wohl auch den konnten. Die Aufführungen gaben schließlich
das Musiktheater. Das Schlesische Trauerspiel sollte Jubiläen und Abschlussfeiern des Schuljahres einen
gegen die Schrecken der Zeit abhärten, durch das ge- festlichen Rahmen. Die Lehrer inszenierten die Stü-
240 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

cke im großen Schulsaal (Aula) oder im Hof des 7.4.4 Protestantische Prosadramen
Gymnasiums. Ein erhöhtes Podium, in der Regel in
Vorder- und Hinterbühne durch Vorhänge unter- Neben den schlesischen Schauspielformen etablierte
teilt, bildete den Spielort. Die Bühnentechnik orien- sich an protestantischen Schulen auch eine spezifi-
tierte sich durchaus am Jesuitentheater. Es gab Kulis- sche Form des Prosadramas, das sich zwar auch zum
sen und Requisiten, doch blieb die Bühnenpräsenta- Teil an die Vorgaben von Opitz hielt, die gebundene
tion insgesamt – im Vergleich zum zeitgenössischen Sprache aber als der Mimesis abträgliche Form an-
Musiktheater und zum katholischen Ordenstheater sah. Auch halten sich diese Dramen nicht an die
– auch aufgrund der geringeren finanziellen Aus- Ständeklausel und lassen häufig sehr viele Protago-
stattung des Theaters eher schlicht. Wie zu den Stü- nisten auftreten. Zu nennen wären hier die mora-
cken der Jesuitenbühne wurden auch zum protes- lisch-erbauenden Lehrstücke Sebastian Mitter-
tantischen Schultheater Einladungsschriften und nachts, besonders dessen fünfaktiges Trauerspiel
Szenare (mit Inhaltsangaben und Besetzungslisten) Der Unglükselige Soldat Und Vorwitzige Barbirer
verteilt. (1662) und sein dramatischer Fürstenspiegel Politica
Ähnliche Funktionen wie das Trauerspiel über- dramatica (1667). Ganz ähnlich sucht das anonyme
nahm auch das Schlesische Lustspiel (vgl. Fulda Prosadrama Ratio Status (1668) zur rechten Regier-
2005). Allerdings erscheint es deutlich geringer nor- kunst aufzurufen.
miert als das Trauerspiel. Wie dieses orientierte sich Ausgefeilten rhetorischen und didaktischen Kon-
diese eigenständige deutschsprachige Komödien- zepten waren die Weißenfelser Professoren Johannes
form an Opitz. Sie handelte von »schlechtem wesen Riemer und Christian Weise verpflichtet. Sie ver-
und personen: redet von hochzeiten / gastgeboten / folgten in ihren Stücken eine an der Praxis orientier-
spilen / betrug vnd schalckheit der knechte / ruhm- ten Rhetorikschulung, bei der das ›politisch‹ kluge
rätigen Landtsknechten / buhlersachen / leichtfer- Handeln im Zentrum stand. Hierunter verstand
tigkeit der jugend / geitze des alters / kupplerey vnd man eine an die Erfordernisse des Berufs und der je-
solchen sachen / die täglich vnter gemeinen Leuten weiligen Situation angepasste Redefähigkeit und
vorlauffen« (Opitz 2002, 30). Als komische Figuren Verhaltensweise, die in den Stücken primär eingeübt
traten nur Personen niederen Standes auf; in der Re- und vorgeführt werden sollte. Als rhetorische Ideale
gel waren die Dramen in Prosa verfasst. Sie hatten galten Klarheit und Verständlichkeit (perspicuitas)
zwei Funktionen: Im Sinne einer auf gesellschaftli- sowie eine natürliche, realitätsnahe Diktion. Je nach
che Ordnung zielenden Sozialdisziplinierung warnte Alter und Ausbildung der Schüler verfügen die Dra-
die Komödie vor Sittenverfall und Missachtung von men über mehr oder weniger komplexe Rollen.
Regeln; sie deutete in ihren unernsten Verkehrungen Auch treten komische Figuren, insbesondere in Sze-
zudem auf den Scheincharakter der Welt, auf die nen für die jüngeren Schauspieler, auf. Riemer be-
Vergänglichkeit und Eitelkeit (vanitas) alles Irdi- tonte die lehrhafte Intention seiner Prosadramen,
schen. In der Komödie wurden das Rollenspiel und indem er ihnen die Gattungsbezeichnung »theatrali-
die falschen Inszenierungen innerhalb des theatrum scher Diskurs« gab und sie in Diskurse und Unterre-
mundi dekonstruiert. Es hat Wurzeln im Humanis- dungen einteilte. Seine Stücke widmen sich v. a. der
tendrama (Nicodemus Frischlin), in den Terenz- Affektkontrolle bei Hof. Weises Dramen (vgl. Ort
und Plautus-Aufführungen an den Gymnasien und 2003) wurden innerhalb eines strengen, didaktisch
im Meistersingerdrama (Sachs, Jacob Ayrer) des 16. durchdachten schulischen Ablaufs aufgeführt: Am
Jahrhunderts. Auch die Commedia dell’arte und die ersten Tag wurde ein Bibeldrama gegeben, am dar-
Wanderbühne haben es beeinflusst. Nachzuweisen auf folgenden ein historisches Trauerspiel, dann
sind Stücke und Aufführungen zwischen etwa 1650 meist ein Lustspiel. Vorgeführt werden mögliche
(Gryphius’ Peter Squentz) bis um 1700. Wichtigste Handlungsmuster, Problemkonstellationen, diskus-
Autoren sind Gryphius (Die gelibte Dornrose, 1660; sionswürdige Positionen, in die sich die Zuschauer
Horribilicribrifax) und Hallmann (Siegprangende hineindenken können. Auf Geistererscheinungen,
Tugend, 1667). Die Texte haben auch auf Barockko- Allegorien und kommentierende Reyen wird ver-
mödien am Ende des Jahrhunderts gewirkt, die dem zichtet. Notwendige Korrekturen und Klarstellun-
Typus des Schlesischen Lustspiels eigentlich nicht gen nehmen dann in den gedruckten Texten die Pa-
mehr zuzurechnen sind (Weise, Christian Reuter). ratexte vor. Weises bekanntestes Stück Masaniello
(1682) behandelt den zeitgenössischen Stoff eines
7. Barock 241

rebellischen Fischers, dem es, gegen die willkürli- Probleme; schließlich führen einige Umstände, die
chen Handlungsweisen der Herrscher, für kurze Zeit die stolze und spröde Person zur Gegenliebe bewe-
gelingt, die Macht an sich zu reißen. gen, zur glücklichen Vereinigung der Liebenden. Be-
Die von Weise favorisierte, ganz im Dienste der kanntester Text dürfte Christian Hoffmann von
Schulausbildung stehende Schauspielkunst setzte Hoffmannswaldaus Getreuer Schäfer (1652) sein,
ausdrücklich auf die Präsentation des ganzen Men- eine Übertragung von Giovanni Battista Guarinis
schen, der sich möglichst so geben sollte wie später Pastor fido (1590); das Spiel wurde nachweislich
in der beruflichen Öffentlichkeit: »Ich habe die ge- 1678 in Wolfenbüttel aufgeführt.
wohnheit / daß ich auch bey meinen Exercitiis Im 17. Jahrhundert gehörten die Oper und das
oratoriis ein kleines theatrum gebrauche / da Sprechtheater noch zu einer großen Gattungsfami-
sich die Redner mit dem gantzen Leibe præsentie- lie; das zeigen zeitgenössische Bezeichnungen wie
ren müssen / wie sie dermaleins im Theologi- »dramma per musica« (Ottavio Rinuccini). Auch
schen oder Politischen Theatro mit ihrer Person das Jesuitentheater arbeitete ab etwa 1650 mit musi-
auskommen sollen.« Bei der Rollenbesetzung be- kalischen Elementen. Sinnvoll erscheint es daher,
rücksichtige er »eines jedweden naturell«, damit von einem umfassenden Feld des Musiktheaters in
dessen Affektspiel möglichst »ungezwungen« wirke der Barockzeit zu sprechen, das sowohl die Oper im
(Weise 1971 ff., Bd. 15, 100 f.). engeren Sinne, unterschiedliche Formen des Sing-
spiels, Operetten, Serenaden, musikalische Prologe,
Oratorien und Ballette umfasst (vgl. Jahn 2005). Von
7.4.5 Sonstige Theaterformen: Schäferspiel, Italien aus setzte sich die Oper in ganz Europa, spe-
Musikdrama, Festspiel ziell auch an den deutschen Höfen durch. Schon
1614 wurde in Salzburg mit großem Erfolg die erste
Neben diesen Formen des Sprechtheaters, die meist Oper auf deutschsprachigem Gebiet inszeniert: die
gemeint sind, wenn man vom Barockdrama spricht, italienische Pastoraloper Orfeo (1607) von Claudio
wird die Theaterszene des 17. Jahrhunderts durch Monteverdi. Opernaufführungen folgten in Dres-
eine ganze Reihe weiterer, zum Teil sehr erfolgrei- den, Wien, Innsbruck, Prag, Heidelberg und Düssel-
cher Formen geprägt. dorf. Schließlich existierte kaum ein Hof ohne
Meist nur noch als Phänomen, weniger aber als Operngastspiele und eigens gestaltete Spielräume
konkrete Texte sind heute die Schäferspiele, die in für das Musiktheater. Aber auch die größeren Städte
der Regel nach italienischem Vorbild (Tasso, Gua- nutzten das neue repräsentative Kunstmedium
rini) gestaltet wurden, bekannt. Sie stellen in den (Nürnberg, Frankfurt a. M., Hamburg). Vor allem
einschlägigen Barockpoetiken die mittlere Gattung im süddeutschen Raum wurden aufwendige italieni-
neben Trauer- und Lustspiel dar. Das hohe Personal, sche Opern gegeben, seltener kamen deutschspra-
das sich ›schäferlich‹ gekleidet gab, schließt ans chige Stücke zur Aufführung. In Hamburg existierte
Trauerspiel an, während das meist versöhnliche seit 1677 sogar im bürgerlichen Umfeld ein festste-
Ende und die komischen Nebenhandlungen an die hendes Opernhaus, das Theater am Gänsemarkt.
Komödie erinnern. Manchmal traten dort sogar Per- Vielleicht fand 1627 auf Schloss Hartenfels bei Tor-
sonen niederen Standes auf, die auch durch ihren gau die erste deutschsprachige Opernaufführung
Sprachgestus (dialektsprechende Bauern usw.) un- statt. Zur Aufführung kam die (bei einem Brand
terscheidbar waren. Ein Schäferspiel sollte – nach 1760 verloren gegangene) Pastoraloper Daphne
Harsdörffers Poetischem Trichter (1647–53) – »in (1627); der Text stammte von Opitz, die Musik von
wohlgesetzten Reimen / von schöngestalten Perso- Heinrich Schütz. Vermutlich war sie eine Bearbei-
nen / nach der lieblichen Music gesungen« werden tung eines italienischen Stückes von Rinuccini und
(Szyrocki 1977, 131). Die Übergänge zum Musik- Jacopo Peri. In der neueren Forschung wird indes
drama sind also fließend; am Ende des Jahrhunderts bestritten, dass es sich bei diesem »Schauspiel mit
werden häufig höfische Opern mit bukolischem In- gesungenen Chören, einem Sololied und einem
halt gegeben. Thema des Schäferspiels war meist die möglicherweise gesungenen Prolog« schon um eine
Liebe, religiöse, politische und moralische Aspekte ›Oper‹ im engeren Sinn handelte (Scheitler 2011,
kamen mitunter hinzu: Eine Schäferin (seltener ein 225). Nach einem biblischen Stoff fertigte Opitz die
Schäfer) richtet sich nicht nach den Regeln Amors heroische Oper Judith (1635) an. Bezugstext war die
und bereitet dadurch dem Liebhaber in spe größere Oper Giuditta von Andrea Salvadori. Sie konnte erst
242 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

1646, also nach Opitz’ Tod, in einer Fassung, die An- theologische Wertvorstellungen im Hintergrund ste-
dreas Tscherning überarbeitet hat, von Mattheus hen (vgl. Schnabel 2004). Das Barockdrama ist – im
Apelles von Loewenstein vertont werden. Ebenfalls Sinne von Opitz – gewissermaßen »eine verborgene
in deutscher Sprache verfasst wurde das geistlich- Theologie« (Opitz 2002, 14), ohne freilich darin auf-
pastorale Singspiel Seelewig (1644) von Harsdörffer. zugehen. Aus heutiger Sicht werden die Texte genau
Die Musik hatte Johann Gottlieb Staden kompo- dann interessant, wenn hinter der erwartbaren for-
niert; die Partitur findet sich wie das Libretto in malen wie inhaltlichen Normierung Widerständiges
Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächsspielen (1641– sichtbar wird. Die Barockdramen bieten hierfür je-
49) publiziert; sie gilt als erste erhaltene deutsch- denfalls genügend »Spielräume« (vgl. Wesche 2004).
sprachige Oper.
Das höfische Barockdrama war Bestandteil, wenn
Literatur
auch nicht das wichtigste Element der barocken
Festkultur (vgl. Alewyn 1985). Oft waren Auffüh- Alewyn, Richard: Das große Welttheater. Die Epoche der hö-
rungen von Musikdramen und Sprechszenen Teil fischen Feste. München 21985.
Alexander, Robert J.: Das deutsche Barockdrama. Stuttgart
der umfassend und polymedial angelegten höfi- 1984.
schen Feste. In den aufwendig gestalteten Festbe- Alt, Peter-André: Der Tod der Königin. Frauenopfer und po-
schreibungen finden sich meist Berichte über Auf- litische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts.
führungen, selten auch die Dramen selbst oder ein- Berlin u. a. 2004.
zelne Szenen. Teile des Festes waren neben den Arend, Stefanie: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kul-
turkritik in den Tragödien Gryphius’ und Lohensteins. Tü-
Schauspielen unterschiedliche Turniere, Schauessen, bingen 2003.
der Trionfo (Triumphzug), der festliche Einzug des Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren
Monarchen und seiner Familie, ein choreografisch geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970.
durchgestaltetes Huldigungsprogramm, Masken- Bauer, Barbara: Jesuitische ›ars rhetorica‹ im Zeitalter der
Glaubenskämpfe. Frankfurt a. M. 1986.
spiele, Ballette, allegorische Darstellungen, Tanzver-
Bauer, Barbara: »Multimediales Theater. Ansätze zu einer
anstaltungen und Feuerwerke. In den Festen reprä- Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten«. In: Plett, Hel-
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Die Vielfalt des Barockdramas und seiner Theaterin- Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare. Mün-
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stitutionen erschwert einen handbuchartigen Zu- Haeckel, Ralf: Die Englischen Komödianten in Deutschland.
griff auf diese für die deutsche Dramen- und Thea- Eine Einführung in die Ursprünge des deutschen Berufs-
tergeschichte konstitutive und deshalb besonders schauspiels. Heidelberg 2004.
wichtige Phase. Eine Reihe von Motiven und Denk- Jahn, Bernhard: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und
modellen (Vanitas, memento mori, prudentia, theat- das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des
nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübin-
rum mundi) prägt sicherlich fast alle Theatertexte gen 2005.
der Zeit. Auch scheinen die Dualismen von Diesseits Kaminski, Nicola: Ex bello ars oder Ursprung der Deutschen
und Jenseits, Frömmigkeit und Ketzerei, Martyrium Poeterey. Heidelberg 2004.
und Tyrannis sowie schließlich auch Krieg und Frie- Krapf, Ludwig/Wagenknecht, Christian (Hg.): Stuttgarter
den von zentraler Bedeutung für viele, in der Regel Hoffeste. Texte und Materialien zur höfischen Repräsenta-
tion im frühen 17. Jahrhundert (Ergänzungsband: van
religiös geprägte, Barockdramen zu sein. Man kann Hulsen, Esaias/Merian, Matthaeus: Repraesentatio. Der
davon ausgehen, dass auch bei weltlichen Handlun- Fvrstlichen Avfzug vnd Ritterspil. Die Kupferstichfolge von
gen (Liebesintrigen, Staatsangelegenheiten usw.) 1616). Tübingen 1979.
7. Barock 243

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244 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

8. Französische Klassik poetologischen Debatte meist in den unmittelbaren


Kontext der Epoche der Klassik gestellt (vgl. Grimm
Wie keine andere Epoche der Theatergeschichte 2005, 157).
wird die Französische Klassik zum pars pro toto der Dies erklärt dann sowohl die Tatsache, dass, trotz
gesamten französischen Literatur des 17. Jahrhun- der immer wieder herausgestellten formalen Unter-
derts – und das, obwohl der literarische Kanon nur schiede, sowohl Pierre Corneille mit seinen eigent-
eine äußerst kleine Anzahl von Werken weniger Au- lich als vorklassisch geltenden Werken seit Le Cid
toren umfasst, die zwischen 1660 und 1680 entste- (1637) als auch Molière als Komödienautor mit sei-
hen. Die dramatische Dichtung der Zeit »ist vor nen regelmäßigen Stücken wie etwa Le Tartuffe
allen anderen repräsentativ, alle Tendenzen und As- (1664) oder Le Misanthrope (1666) zu den Vertre-
pirationen des Jahrhunderts enthüllend. An ihr ent- tern der Klassik zählen, dass aber in Bezug auf die
zündeten sich die Meinungen, alle gegensätzlichen strenge Regelpoetik der doctrine classique eigentlich
Strömungen der verschiedenen sozialen, religiösen nur Jean Racine als wirklich klassischer Dramatiker
und politischen Gruppen, und alle diese Tendenzen im Sinne eines »classicisme Louis XIV« (Grimm
stoßen aufeinander und gleichen sich auf der Ebene 2005, 160), also der strengen Umsetzung aller for-
der Erstellung einer allgemeingültigen Poetik« mal-ästhetischen Kriterien der poetologischen De-
(Köhler/Krauß 1983a, 99). Vor dem Hintergrund batte der Zeit, gelten kann. Gleichwohl sollte eine
der diese Zeit bestimmenden poetologischen Dis- diese fragwürdige Kanonisierung reflektierende
kussion um die sogenannte doctrine classique (vgl. Theaterhistoriografie die Werke der sogenannten
Bray 1961) avanciert dabei die Tragödie zur »Kö- Klassiker der Französischen Klassik zumindest im
nigsgattung« (Krauß 2003, 2) und marginalisiert in Kontext des Schaffens ihrer Zeitgenossen wie etwa
der theoretischen Debatte so das komische Drama Alexandre Hardy, Théophile de Viau, Tristan
trotz dessen am Hof wie beim Volk großer Populari- L’Hermite sowie des Marquis de Racans und Jean
tät ebenso wie die Prosa und Lyrik der Zeit. Mairet betrachten (vgl. Grimm 2005, 232 ff.).
Mehr noch, so zeigt André Gides Gleichsetzung
der Adjektive »klassisch« und »französisch« (Gide
1921, 282), begründet die ästhetische Norm dieser
nationalliterarischen Entwicklung einen Universali- 8.1 Historischer Kontext
tätsanspruch, der weit über den zeitlichen wie geo-
grafischen Rahmen ihrer Entstehung hinausreicht Die Entwicklung der normativen Regelpoetik der
und die Vorbildhaftigkeit des Theaters des ›Grand Französischen Klassik ist nur vor dem Hintergrund
Siècle‹ auch für spätere Epochen zu begründen ver- der seit der Renaissance erfolgenden Wiederentde-
mag: Die »Herausbildung und poetologische Fixie- ckung der Poetik des Aristoteles denkbar, gleichzei-
rung dieses Literatursystems« wird »ungeachtet neu- tig aber untrennbar mit der absolutistischen Kultur-
erer Forschungserträge noch immer als das imma- politik Richelieus und damit aufs Engste mit dem
nente Telos der gesamten französischen Literatur Versailler Hof verbunden. Entsprechend wird das
dieser Epoche angesehen« (Krauß 2003, 1). nach diesen Regeln entstehende Drama zum Inbe-
Kennzeichnend für die Periodisierungsproblema- griff des höfischen Theaters. Ungeachtet der Affini-
tik der Epoche ist dabei zum einen die Schwierigkeit tät des Sonnenkönigs zur regelmäßigen, klassischen
einer präzisen zeitlichen Abgrenzung der Klassik französischen Tragödie im Stil Racines steht dessen
vom Barock bzw. der Vorklassik und zum anderen Regierungszeit jedoch ebenso für barocke Inszenie-
die Reduktion der repräsentativen Dramatiker auf rungen des höfischen Lebens, für die theatrale
die Trias Corneille, Molière und Racine: Der Kanon (Selbst-)Verherrlichung des Monarchen und die os-
der als klassisch geltenden Werke zieht einerseits die tentative und prunkvolle Ausstellung seiner absolu-
Epochengrenzen mit einer Zeitspanne von knapp tistischen Macht, ein Charakteristikum, in dem sich
zwanzig Jahren äußerst eng, mit Blick auf die institu- letztlich die »Gleichzeitigkeit der Strömungen« und
tionellen und literaturtheoretischen Rahmenbedin- die »Konkurrenz unterschiedlicher Ideologien« der
gungen für die Entstehung dieser Werke werden da- Epoche widerspiegeln (vgl. Grimm 1994, 137,
gegen andererseits die eigentlich in der Vorklassik zu 156 ff.).
situierende Gründung der Académie française (1634) Für die Entwicklung des klassischen Theaters be-
sowie der Beginn der in deren Folge entstehenden deutsame politische Voraussetzungen des 17. Jahr-
8. Französische Klassik 245

hunderts sind das 1598 von Heinrich IV. erlassene Nachwelt zu konservieren und so die Vorherrschaft
Edikt von Nantes sowie die zahlreichen innen- und des Lateinischen als alleinige Literatur- und Wissen-
außenpolitischen Konsolidierungsmaßnahmen des schaftssprache zu beenden. Damit setzt die Acadé-
Bourbonenkönigs, die zur langfristigen Festigung mie einen zentralen Gedanken der bereits in Joa-
der französischen Monarchie führen. Schlüsselereig- chim du Bellays 1549 formulierten Défense et Illu-
nis für die weitere Entwicklung ist 1624 die Ernen- stration de la langue française durch. Das 1694
nung von A.J. du Plessis, Kardinal von Richelieu, erstmals erschienene Académie-Wörterbuch reali-
zum Minister, der entschieden für die Interessen des siert als kodifiziertes sprachliches Regelwerk die in
absolutistischen Königs eintritt und mit der Be- den Statuten formulierte Aufgabe, »à donner des
schneidung der Privilegien des Provinzadels das règles certaines à la langue et à la rendre pure, élé-
Prinzip der Staatsraison stärkt (vgl. Grimm 2005, gante et capable de traiter les arts et les sciences«
12–36). Die kulturpolitischen Bestrebungen Riche- (vgl. Grimm 2005, 115 f.; »der Sprache Regeln zu
lieus, die in der Gründung der Académie française verleihen, sie rein und elegant zu machen und zu be-
einen institutionellen Gipfelpunkt finden, sowie die fähigen, die Künste und die Wissenschaften zu be-
unter seinem Nachfolger Mazarin endgültige Nie- schreiben«), und schreibt so den bis in die Gegen-
derschlagung der Fronde schaffen schließlich die ge- wart als Norm geltenden bon usage fest. Durch diese
sellschaftlichen und geistig-ideellen Voraussetzun- einseitig sprachlich-literarische Ausrichtung ihres
gen zur Entwicklung des klassisch-französischen Wirkungsbereichs sowie durch ihre Indienstnahme
Theaters, das sich vollständig dem Ideal der durch den absolutistischen Herrscher als Instrument
honnêteté und der Staatsraison verschreibt. Die monarchistischer Kulturpolitik unterscheidet sich
wachsende Rolle des Amtsadels (noblesse de robe), die Académie française von anderen seit der Renais-
der sich vornehmlich aus dem gehobenen Bürger- sance in Europa entstanden Akademien. Literatur-
tum rekrutiert und vor dem Hintergrund der Käuf- kritisch normierend treten die Académicien erst-
lichkeit der Staatsämter in zahlreichen öffentlichen mals 1638 im Kontext der Streitigkeiten um
Ämtern konkrete Macht ausübt, etabliert im Zusam- Corneilles Tragikomödie Le Cid in Erscheinung.
menspiel mit den Mitgliedern des Hofes schließlich Zwar führt die Kritik der Gelehrten nicht zu wesent-
jenes gesellschaftliche Gefüge von la cour et la ville lichen Änderungen des Stücks, gleichwohl werden
(vgl. Auerbach 1951, 12–50), dessen Erwartungs- die Normierungskriterien in der Folge der soge-
horizont als Theaterpublikum das »skeptisch-pessi- nannten Querelle du Cid allgemein anerkannt.
mistische Menschenbild« der klassischen Tragödie Wichtigste Voraussetzung für die Entstehung der
zu erklären vermag (Stackelberg 1996, 17). nach René Brays Standardwerk aus dem Jahr 1927
»doctrine classique« genannten französischen Re-
gelpoetik ist die Wiederentdeckung der Poetik des
Aristoteles durch Übersetzungen und Kommentare
8.2 Die Gründung der Académie italienischer Humanisten seit der Frührenaissance.
française (1634) und die ›forma- Maßgeblich für die Verbreitung der zentralen As-
tion de la doctrine classique‹ pekte der aristotelischen Tragödientheorie in Frank-
reich ist dabei das Werk des Italieners Julius Caesar
Scaliger, der in seinen 1561 in Lyon erschienenen
Im Zentrum der absolutistischen Kulturpolitik Ri- Poetices libri septem (Sieben Bücher über die Dicht-
chelieus steht die Gründung der Académie française kunst) das Prinzip der normativen Dichtungslehre
1634, mit deren Hilfe der Kardinal nicht nur die Eta- auf aristotelischer Basis verficht und für Stiltren-
blierung einer strengen Regelpoetik durchsetzt, son- nung und Ständeklausel plädiert, dabei diese Regeln
dern jenseits dieser auf den ersten Blick rein litera- aber nicht allein auf das antike Vorbild, sondern
risch-ästhetischen Normierungen auch konkrete ganz allgemein auf die Vernunft bezieht. Bereits Sca-
politische Intentionen verfolgt. Kernaufgabe der ligers Poetik kann somit, wie in der Folge auch die
Académie ist die Umsetzung des aus der Renais- der Verfechter der französischen Dichtungstheorien,
sance stammenden Gedankens des Vulgärhumanis- ebenso aristotelisch wie rationalistisch genannt wer-
mus (vgl. Stackelberg 1996, 50), die politischen und den und liefert damit die Basis für die in der franzö-
kulturellen Errungenschaften auch in der jeweiligen sischen Debatte erstmals in Jean Chapelains Trakta-
Nationalsprache zu dokumentieren und für die ten Lettre sur la règle des vingt-quatre heures (1630)
246 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

und Discours sur la poésie représentative (1635) reali- die zentrale Forderung der doctrine classique nach
sierte Verschränkung der humanistischen Imitatio- der Wahrscheinlichkeit (vraisemblance) der Hand-
Lehre mit der aristotelischen Mimesiskonzeption. lung. Sie geht auf Aristoteles’ Unterscheidung zwi-
Hier erklärt sich die in den poetologischen Schriften schen der Wahrheit als Postulat der Geschichts-
der Klassik oft synonyme Verwendung der Begriffe schreibung und der Wahrscheinlichkeit als dem der
der Natur und der Vernunft: Während nämlich Aris- Dichtung zurück, erhält aber in der Französischen
toteles die Nachahmung (mímēsis) der (vernünfti- Klassik einen moralischen Akzent. Wenn Chapelain
gen) Menschennatur als primäre Aufgabe der Dicht- schreibt, dass die Geschichtsschreibung die Dinge
kunst bestimmt, übersetzen die Renaissancegelehr- behandelt, wie sie sind, die Dichtkunst dagegen, wie
ten den griechischen Terminus mit »imitatio« und sie sein müssten, betont er den didaktischen Nutzen
verstehen damit unter Nachahmung primär die der Literatur und erfüllt damit eine der zentralen
Nachahmung der Literatur der Antike. Wenn aber, Forderungen Richelieus im Sinne einer staatlich
so Bray, nachgewiesen werden konnte, dass die sanktionierten Ordnungsidee (vgl. Chapelain 1931,
Dichter der Antike die Natur bereits mustergültig 86.). Aufs Engste mit der Kategorie der vraisem-
nachgeahmt hatten, kann das »Prinzip der Antiken- blance verknüpft ist auch die Forderung nach bien-
nachahmung im Prinzip der Naturnachahmung« séance – nach moralischer und ästhetischer Ange-
gründen (Bray 1961, 171). Im Unterschied zu den messenheit –, die sowohl auf Aristoteles’ Ausführun-
Schriften der Renaissancehumanisten plädiert Cha- gen zur einheitlichen Charaktergestaltung in der
pelain (wie bereits Scaliger) aber für eine freiere und Tragödie referiert als auch die moralischen Vorstel-
bewusstere Nachahmung der Anciens. Weniger die lungen des am Ideal der honnêteté orientierten höfi-
Werke der antiken Dichter sollten zum Vorbild der schen Publikums miteinbezieht. »Die vraisemblance
eigenen Literatur werden, sondern vielmehr die an- bezieht sich somit auf eine höhere Natur, also darauf,
tike Dichtungstheorie – oder wie Scaliger es in Be- wie der Mensch sein soll; sie ist Ausdruck der bien-
zug auf Homer formuliert hatte: »Ad haec non om- séance, die wiederum der über allem stehenden rai-
nia ad Homerum referenda tamquam ad normam son gehorcht« (Krauß et al. 2003, 18). Wenn Bray in
censeo, sed et ipsum ad normam« (»Außerdem diesem Zusammenhang betont, die klassische Poetik
meine ich, daß man nicht alles auf Homer wie auf sei die Poetik der bienséance (vgl. Bray 1961, 230),
eine Norm beziehen, sondern auch ihn selbst an ei- dann hebt er damit nicht nur den erzieherischen An-
ner Norm messen muß; Scaliger 1994, 124 f.). Auch spruch der doctrine classique hervor, sondern relati-
dieser Forderung liegt die Überzeugung zugrunde, viert mit der Akzentuierung des Gebots der morali-
dass die Dichtung bestimmten Naturgesetzen zu fol- schen Angemessenheit auch die viel diskutierten
gen habe, die sui generis vernünftig und unverän- drei Einheiten, die neben den Kategorien der vrai-
derlich seien und nicht durch den kurzlebigen Ge- semblance und der bienséance zumindest in Bezug
schmack einer bestimmten Zeit untergraben werden auf ihre theoretische Erörterung und Rechtfertigung
dürfen. Chapelain führt damit abermals den Begriff in den Hintergrund treten. Im Unterschied zu Aris-
der Natur und den der Ratio zusammen und setzt toteles formulieren die Theoretiker der Französi-
sich so gegen das Argument des Publikumsge- schen Klassik aber auch diese Richtlinien präziser
schmacks vieler Dichter zur Wehr, die das Kriterium und weitaus strenger: Die Forderung nach der Ein-
des plaire – also den Anklang der Werke beim Publi- heit der Handlung ist dabei in erster Linie als Ab-
kum – höher ansetzen als die starre Einhaltung der grenzung zum Episodenreichtum des Barockthea-
Regeln: »En matière de productions d’esprit« (»für ters zu verstehen und zielt auf eine stringente drama-
die literarische Produktion«) dürfe nicht gelten, was turgische Ausgestaltung des Stoffs, die letztlich nur
»un siècle particulier par son goust souvent depravé« Racines Tragödien erfüllen können. Die Forderung
(»eine bestimmte Zeit und ihr oftmals verdorbener nach der Einheit der Zeit folgt aus der Einheit der
Geschmack«) von der Dichtung verlangen, sondern Handlung und wird von den französischen Gelehr-
nur was die Vernunft gebiete, denn diese »n’est pas ten mit Verweis auf die Wahrscheinlichkeit der
sujette à changement et [leurs] ordres sont immuab- Handlung begründet. Die Einheit des Ortes ist kein
les et éternelles […]« (»sei nicht den zeitlichen Ver- aristotelisches Gebot, sondern wird erst durch die
änderungen unterworfen, sondern Ausdruck unver- Poetik der Klassik begründet. Auch hier besteht eine
änderter Wahrheit und Ordnung«; vgl. Chapelain Dependenzbeziehung zur Forderung der Einheit der
1964, 36). Auf den Vernunftbegriff bezieht sich auch Zeit sowie zur Kategorie der Wahrscheinlichkeit:
8. Französische Klassik 247

»Elle se dégage lentement de l’unité de temps par chelieu schon aufgrund der Illegitimität der Sache
l’effet du principe de la vraisemblance« (Bray 1961, selbst Anstoß nimmt und die auch gegen das Gebot
257; »Sie leitet sich mit Bezug auf das Gebot der der bienséance verstoßen, sind weder wahrscheinlich
Wahrscheinlichkeit von der Einheit der Zeit ab«). Im noch tragen sie zur Einheitlichkeit der Handlung
unmittelbaren Vergleich mit der aristotelischen Re- bei, die darüber hinaus durch die Nebenhandlung,
ferenzschrift müssen also nicht nur die Forderungen die sich um die Infantin als Rivalin Chimènes spinnt,
nach der vraisemblance und der bienséance der gesprengt wird. Gravierender jedoch wird der Ver-
Handlung als Kategorien der poetologischen De- stoß gegen die bienséance in Bezug auf die Entwick-
batte der Klassik betrachtet werden, sondern auch lung des Handlungsgefüges um Chimène und Rod-
die Regeln der drei Einheiten sind in ihrer Rigorosi- rigue bewertet: Weil Rodrigue Don Gomès im Duell
tät eher klassisch denn aristotelisch zu nennen. getötet hat, dürfte Chimène ihn um ihrer Tugend-
haftigkeit Willen nicht heiraten. Corneille missach-
tet die bienséance dabei umso mehr, als Chimène der
Heirat einzig und allein wegen der Heftigkeit ihrer
8.3 Dichtungstheorie und Liebe und nicht aufgrund eines unvorhergesehenen
Theaterpraxis Zufalls zustimmt, die Verbindung noch dazu durch
den König legitimiert wird, der Rodrigue den Geset-
Charakteristisch für die poetologische Debatte der zesverstoß des Duells vor dem Hintergrund von des-
Französischen Klassik sind aber nicht nur die theo- sen Verteidigung des Vaterlands gegen die Mauren
retischen Abhandlungen, die sich in der Folge Cha- nachsieht und zur Belohnung der Heirat zustimmt
pelains v. a. in La pratique du théâtre (1657) des Abbé (vgl. Couton 1984, 20 ff.).
d’Aubignac als eine Bilanz der theatertheoretischen Zwar nahm Corneille in der Folge der Querelle ei-
Diskussion der ersten Jahrhunderthälfte und nige kleinere Änderungen an seinem Stück vor, ver-
schließlich 1674 in Nicolas Boileaus Art poétique teidigt sein Werk aber gegenüber der Kritik der
entfalten, sondern besonders die aus der Theater- Académie mit Verweis auf den Geschmack des Pub-
praxis heraus entstehenden zahlreichen Querelles likums. Im Widmungsbrief zu seiner 1637 erschie-
um einzelne Werke und ihre Beurteilung durch die nen Komödie La suivante stellt er die Kategorie des
Académie française. Gefallens (plaire) eindeutig über die Regelpoetik
Die französische Theater- und Literaturge- und relativiert die strenge Vorbildfunktion der An-
schichte ist geprägt von diesen Fehden, die im 17. tike:
Jahrhundert mit großer Regelmäßigkeit in litera- J’aime suivre les règles, mais loin de me rendre leur esclave,
risch gebildeten Kreisen geführt werden und die an je les élargis et les reserre selon le besoin qu’a mon sujet
der Schwelle zum 18. Jahrhundert mit der Frage […]. Savoir les règles et entendre le secret de les apprivoiser
nach der Vorbildfunktion der Antike für die zeitge- adroitement avec notre théâtre, ce sont deux sciences bien
différentes. (Corneille 1950, 414)
nössische Literatur- und Kunstproduktion in der
(Ich will gerne die Regeln befolgen, aber statt sie sklavisch
Querelle des Anciens et des Modernes alle vorange- zu befolgen, verändere ich sie hinsichtlich der Erforder-
gangen Einzeldebatten kondensieren. Die 1638 ver- nisse meines Stücks. Die Regeln zu beherrschen und das
öffentlichten Sentiments de l’Académie française sur Geheimnis zu kennen, sie an unser Theater anzupassen,
la tragicomédie du Cid sind nicht nur die erste litera- das sind zwei unterschiedliche Dinge.)
turnormierende Intervention der noch jungen Obgleich Corneille Le Cid ab 1648 nicht mehr als
Institution, sondern die sogenannte Querelle du Cid Tragikomödie, sondern als Tragödie bezeichnet,
zeigt auch, wie sehr Theorie und Praxis der klassi- kann das Werk sicher noch nicht als die erste große
schen Poetik voneinander abweichen. Zwar steht klassische Tragödie gelten. Trotzdem stellt das Stück
Corneilles Erfolgsstück hoch in der Gunst des Publi- inhaltlich wie formal einen Wendepunkt dar, und
kums, die Kritik der Regelwächter dagegen ist fun- das sowohl in Bezug auf Corneilles Gesamtwerk als
damental (vgl. Gasté 1970): Corneille verstoße nicht auch hinsichtlich der Entwicklung der klassischen
nur gegen die drei Einheiten und damit gegen das französischen Tragödie im Allgemeinen. Wie bereits
Gebot der vraisemblance, sondern er missachte da- Richelieus vornehmlich politisch motivierte Kritik
rüber hinaus auch in mehrfacher Hinsicht die For- gezeigt hat, gelingt es Corneille in diesem Stück
derung nach der bienséance der Handlung. Der Feld- noch nicht, eine eindeutige Position zur Haltung
zug gegen die Mauren und zwei Duelle, an denen Ri- Don Diègues als Vertreter des durch Richelieu ent-
248 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

machteten Feudaladels sowie zur Duellpraxis dieser griff nur wenige von Gott Auserwählte vor der Ver-
Gesellschaftsschicht einzunehmen – eine Haltung, dammnis retten kann. Phädra ist die Hoffnung auf
die er mit dem nachfolgenden, dem Kardinal gewid- ein wie auch immer geartetes Heil, sei es auf dieser
meten Stück Horace (1641), das inhaltlich ein um- Welt oder im Jenseits, genommen. Die Tragik ihrer
fassendes Bekenntnis zur Staatsraison des Absolutis- Figur besteht in der immer wieder aufkeimenden
mus darstellt, wiedergutzumachen sucht und das Hoffnung, das Schicksal doch noch beeinflussen zu
nun auch formal allen Ansprüchen der Regelpoetik können, aber ihre Versuche, mit Gott ins Gespräch
genügt. Eine entscheidende strukturelle Verände- zu kommen, scheitern, denn es ist im Sinne Lucien
rung der Dramatik Corneilles seit der Querelle du Goldmanns ein ›verborgener Gott‹, der sich ihr kon-
Cid ist die zunehmende Verinnerlichung der tragi- stant entzieht (vgl. Goldmann 1973). Die wahre
schen Konflikte, die aus der Konfrontation von Lie- Größe der Heldin manifestiert sich denn auch in je-
besthematik und einem den Interessen des absolu- nen Momenten, in denen sie Trost und Hoffnung
tistischen Staats verpflichteten Individuum erwach- entschieden von sich weist und ihren Tod als unab-
sen und damit vollständig den Ansprüchen der wendbares Schicksal annimmt. Formal lässt sich ge-
kulturpolitischen Ideologie Richelieus dienen. rade an jenen Szenen die für Racine charakteristi-
Damit nähert sich sein Werk unter formalen Kri- sche sprachliche Gestaltung des Stoffs aufzeigen: Je
terien der Dramaturgie Racines an, aber während rasender und verzweifelter sich Phädra in ihrer Lei-
Corneilles Protagonisten noch »heroische Gestalten denschaft und der damit verbundenen Todeserwar-
sind, die an der tragischen Herausforderung wach- tung ergeht, umso klarer und prägnanter wird Raci-
sen« und die entsprechend der jesuitischen Prägung nes Sprache und umso präziser artikuliert die Figur
Corneilles den »Ausgleich einander widerstreiten- die ganze Gewalt der sie erfassenden Gefühle. Um
der Werte« (Krauß et al. 2003, 21) suchen, verkör- trotz der affektgeladenen Ausbrüche dieser dramati-
pern die Charaktere der Werke Racines bereits aus- schen Momente den stilistischen Rahmen des die
nahmslos das negative Menschenbild der Klassik Tragödie bestimmenden Menschenbilds nicht ins
und können an den dramatischen Situationen nur Pathos abgleiten zu lassen, folgt Racine innerhalb
scheitern. Mittels Sprache wiegen die Figuren solcher Redesituationen bestimmten Regeln, die Leo
Corneilles Pro und Contra ihrer Situation argumen- Spitzer durch den Begriff der »klassischen Dämp-
tativ gegeneinander ab und die aus der Reflexion ge- fung« charakterisiert (Spitzer 1931): »[D]ie Auspols-
folgerte Ratio bestimmt ihr Handeln (vgl. Stackel- terung von Halbversen durch dämpfende Adverbial-
berg 1996, 88); die tragischen Situationen der Raci- bestimmungen, Appositionen, Parenthesen« trägt
neschen Tragödie dagegen konstituieren sich gerade zum geformten und besänftigten Eindruck der Spra-
aus dem Scheitern sprachlicher Kommunikation. che bei und garantiert einen »verstandesmäßigen
Wenn in Racines Phèdre (1677) Phèdre Hippolyt im Bezug« der emphatischen Reden der Racineschen
2. Akt unfreiwillig ihre Liebe gesteht, wird Sprache Figuren (Spitzer 1931, 209 f.). Oberstes Ziel Racines
hier zum Medium des Unbewussten und verrät, was ist es dabei, sein Publikum entsprechend der Regeln
die Heldin sich selbst kaum einzugestehen vermag der doctrine classique zu unterhalten und gleichzeitig
(I, 3). Sprache ist nicht mehr Ausdruck der Vernunft, im Sinne des aristotelischen Katharsisbegriffs durch
sondern wird zum Instrument der Täuschung, die Teilhabe am Schicksal des Helden zu reinigen:
das dramatische Geschehen überhaupt erst in Bewe- Ce n’est point une nécessité qu’il y ait du sang et des morts
gung setzt. Phèdre gilt allgemein als die tiefgrün- dans une tragédie; il suffit que l’action en soit grande, que
digste und formal vollkommene Tragödie der Fran- les acteurs en soient héroïques, que les passions y soient ex-
zösischen Klassik. In der Konzeption der Titelheldin citées, et que tout s’y ressente de cette tristesse majestueuse
qui fait tout le plaisir de la tragédie. […] La principale règle
verschmilzt Racines strenge Orientierung am my-
est de plaire et de toucher. (Racine 1999, 450 ff.)
thologischen Universum der Antike mit seiner tiefen (Es ist nicht von Belang, ob in einer Tragödie Blut fließt
geistigen Prägung durch die Lehren des Jansenis- oder es Tote gibt; es genügen eine große Handlung, heroi-
mus. Der Zustand der totalen Ausweglosigkeit der sche Schauspieler und erhabene Gefühle sowie das Erleben
Heldin erklärt sich einerseits aus dem griechischen einer tiefen, majestätischen Traurigkeit, die die Qualität ei-
ner großen Tragödie ausmacht. […] Die wichtigste Regel
fatum-Verständnis, das die Figuren machtlos ihrem ist, zu gefallen und zu berühren.)
genealogisch begründeten Schicksal ausliefert, und
andererseits aus dem deterministischen Welt- und Mehr als zehn Jahre lang krönen die Dramen Raci-
Menschenbild des Jansenismus, dessen Gnadenbe- nes die vorangegangene theoretische Debatte um
8. Französische Klassik 249

eine regelmäßige, klassische französische Tragödie. (1665) oder Le Misanthrope beruht, stehen diese
Der Dramatiker steht in der Gunst des Königs und großen, durchaus dem Ideal der doctrine classique
wird schließlich 1673 in die Académie française be- verpflichteten Komödien am Ende einer formalen
rufen. Obgleich das Jahr 1677 mit dem Erfolg Phè- Entwicklungslinie, die ihren Ursprung bereits in der
dres und der Gesamtausgabe seines bisherigen Theaterarbeit der Wanderjahre hat und sich seit sei-
Werks den Höhepunkt seines Schaffens darstellt, ner Rückkehr nach Paris 1658 in einer konsequenten
trifft ihn die Querelle um sein Meisterwerk und der Weiterentwicklung volkstümlicher, aliterarischer
Konkurrenzkampf mit Jacques Pradons zeitgleich Formen hin zur klassischen fünfaktigen Form des
erschienenem Stück Phèdre et Hippolyte so sehr, dass Genres in Versform manifestiert. So verschwinden
er die Bühne des weltlichen Theaters 1679 verlässt die dominanten Strukturelemente der französischen
und sich wieder den jansenistischen Lehren des Volkskomödie und das durch die Masken der italie-
Klosters Port-Royal zuwendet. nischen Commedia dell’arte geprägte Figureninven-
Setzt man das Epochenverständnis der Klassik tar der frühen Farcen zugunsten einer zeitgenössi-
weitestgehend mit der theoretischen Debatte um die schen Aktualisierung der vormals stereotypen
doctrine classique und damit mit der Tragödie gleich, Handlungsmuster und durch eine zunehmende Hu-
müsste Molière zwangsläufig aus dem Kanon der als manisierung der tradierten Typen: »[D]ie Farce
klassisch geltenden Autoren herausfallen. Betrachtet wird, wenigstens in der tragenden Rolle, zur Charak-
man jenseits des einseitig gelagerten poetologischen terkomödie; die bisher beherrschende Pantomime
Diskurses jedoch das komplexe Gefüge der Theater- geht eine organische Verbindung mit dem den Cha-
praxis der Zeit, wird deutlich, wie sehr gerade in der rakter selbst offenbarenden Wort ein; die Gestik
ersten Regierungsphase Ludwigs des XIV. das Ge- wird Ausdruck von seelischen Zuständen, die nicht
schehen auf den Bühnen der Hauptstadt durch ein mehr Folgen, sondern Ursachen der Handlung sind«
höchst heterogenes Repertoire geprägt ist, in dem (Köhler/Krauß 1983b, 23).
die Werke Molières eine nicht unwesentliche Rolle Dass Molières Werke immer wieder Zündstoff für
spielen. »Neben der regelmäßigen Komödie und öffentliche Debatten liefern, die den Querelles um
Tragödie erlebt die Farce einen neuen Höhepunkt; die klassischen Tragödien in nichts nachstehen, hat
hinzukommen die Wort, Musik und Tanz verbin- seinen Grund dabei aber weniger in der heterogenen
denden Gattungen […]. Molières Werk entfaltet sich Durchdringung seiner Werke durch verschiedene
in drei Richtungen – die Farce, die barocke Ballett- Komödientraditionen und der hierdurch mitbe-
komödie bzw. das Hofballett, die regelmäßige fünf- dingten Mehrfachadressiertheit der Stücke an ein
aktige Komödie – und bestätigt geradezu exempla- höfisches und bürgerlich-proletarisches Publikum.
risch die Gleichzeitigkeit von Klassik und Barock« Gegenstand der oft vehement geführten Auseinan-
(Grimm 1994, 160). Die Dominanz des tragischen dersetzungen um einzelne Dramen sind vielmehr
Genres in der Poetikdiskussion steht damit in dia- die Schlüsse der Komödien, die als nicht vraisembla-
metralem Gegensatz zur Theaterpraxis: Nicht nur ble bewertet werden und damit einem elementaren
Racine, sondern auch Molière gehört seit 1663 zu Gebot der klassischen Poetik widersprechen. Wenn
den durch den König gratifizierten Künstlern (vgl. Jürgen Grimm im Kontext der dramaturgischen Un-
Grimm 2005, 133) und auch Molière partizipiert, wahrscheinlichkeit der Schlussszenen von Le
wenn auch nicht in den poetologischen Traktaten, so Tartuffe und Le Misanthrope die Ambivalenz Moli-
doch in der Realität der Theaterpraxis, an der De- ères im »Spannungsfeld zwischen Instrumentalisie-
batte um Form und Funktion des Theaters der Zeit. rung und Subversion des Theaters« (Grimm 2005,
Dabei kommt ihm gerade in der literarischen Ent- 236) akzentuiert, scheint es allerdings fraglich, ob
wicklung des komischen Genres eine nicht zu ver- die Kritik an der formalen Inkongruenz der Stücke
nachlässigende Rolle zu, die aufgrund der dominan- wirklich einen allein poetologischen Hintergrund
ten literaturwissenschaftlichen Rezeption seiner so- hat. Grimm stellt heraus, dass das Happy-End des
genannten regelmäßigen Charakterkomödien der Tartuffe zwar einerseits als Akt der Glorifizierung
mittleren Schaffensphase allerdings oftmals nicht in der bestehenden, absolutistischen Ordnung und da-
einem größeren theaterhistorischen Kontext be- mit indirekt als Dank an Ludwig XIV., der Molière in
trachtet wird. Während die heutige Bedeutung Moli- der langen Querelle um das Stück beigestanden
ères nämlich fast ausschließlich auf Stücken wie hatte, aufgefasst werden kann, ebenso wie die Ridi-
L’École des femmes (1662), Le Tartuffe, Dom Juan külisierung Alcestes im Misanthrope als Akzeptanz
250 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

der Entmachtung des Hochadels interpretierbar ist. Funktion der doctrine classique auf deren machtpoli-
Gleichzeitig aber decke Alcestes Kritik am Verlust an tische Bedeutung für ein Theater, in dem auch die
Authentizität und Individualität die Widersprüche Komödie vollständig im Dienst der absolutistischen
der höfischen Gesellschaft der Zeit auf, weshalb das Monarchie steht.
Stück schließlich auch nie bei Hofe aufgeführt
wurde. Und auch der unwahrscheinliche Komödien- Literatur
schluss des Tartuffe kann in dieser Perspektive als
Infragestellung der Plausibilität der Wiederherstel- Auerbach, Erich: »La cour et la ville«. In: Ders.: Vier Unter-
suchungen zur Geschichte der französischen Bildung.
lung der Ordnung gelesen werden. Bern 1951, 12–50.
In der fast fünf Jahre andauernden Querelle um Barras, Moses: The Stage Controversy in France from
das Stück kristallisiert sich dabei die Komplexität Corneille to Rousseau. New York 1973.
der Rolle Molières im Gesamtgefüge des Theatersys- Bray, René: La formation de la doctrine classique en France.
Paris 1961.
tems der Französischen Klassik: Ursprünglich als
Chapelain, Jean: Opuscules critiques. Genève 1936.
dreiaktige Komödie konzipiert, die mit dem Sieg des Chapelain, Jean: Lettere inedite a corrispondenti italiani,
Heuchlers endet und mit Orgon als gehörntem Ehe- Genua 1964.
mann ein typisches Farcenthema verhandelt, gerät Corneille, Pierre: Théâtre complet I. Paris 1950.
das Stück schon vor der ersten Vorstellung in die Couton, Georges: Corneille et la tragédie politique. Paris
1984.
Kritik v. a. der Kirche und wird nur kurz nach der Gasté, Armand (Hg.): La querelle du Cid. Pièces et pamph-
Uraufführung vom König verboten. In mehreren lets publiés d’après les Originaux. Genève 1970.
Schritten (vgl. Grimm 1984, 84 ff.) erweitert Molière Gide, André: »Billets à Angèle. Mars 1921«. In: Ders.: Essais
in der Folge seinen Text zum Fünfakter und verwan- critiques, Paris 1999, 280–285.
Goldmann, Lucien: Der verborgene Gott. Studie über die
delt den Heuchler (hypocrite) Tartuffe in einen Be-
tragische Weltanschauung in den Pensées Pascals und im
trüger (imposteur), der nun nicht mehr dem geistli- Theater Racines. Neuwied 1973.
chen Stand angehört, sondern ein Vertreter der höfi- Grimm, Jürgen: Molière. Stuttgart 1984.
schen Gesellschaft ist. Damit kann er die von den Grimm, Jürgen: Französische Literaturgeschichte. Stuttgart
Masken der vecchi der Commedia dell’arte entlehn- 1994.
Grimm, Jürgen: Französische Klassik. Stuttgart 2005.
ten Charakterzüge Tartuffes bewahren, entkräftet Krauß, Henning/Kuhnle, Till R./Plocher, Hanspeter (Hg.):
aber durch die Standesänderung der Hauptfigur die 17. Jahrhundert. Theater. Tübingen 2003.
Vorwürfe der Kirchenvertreter und ermöglicht es so Köhler, Erich/Krauß, Henning (Hg.): Vorlesungen zur Ge-
Ludwig XIV., das Aufführungsverbot des Stücks schichte der französischen Literatur. Vorklassik. Stuttgart
1983a.
1669 aufzuheben. Der glückliche Ausgang der Que-
Köhler, Erich/Krauß, Henning (Hg): Vorlesungen zur Ge-
relle du Tartuffe ist dabei nicht nur für Molière ein schichte der französischen Literatur. Klassik II. Stuttgart
Triumph: Während dieser sein »Schicksal als Autor 1983b.
an das Schicksal dieser Komödie bindet«, weil er, wie Niderst, Alain: Les tragédies de Racine: diversité et unité. Pa-
er im Second Placet an den König geschrieben hatte, ris 1975.
Racine, Jean: Œuvres complètes 1. Théâtre. Poésie. Paris
überzeugt ist »qu’il ne faut plus que je songe à faire 1999.
des comédies, si les tartuffes ont l’avantage (keine Scaliger, Julius Caesar: Poetices libri septem. Sieben Bücher
Komödien mehr schreiben zu müssen, wenn die über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung v. Manfred Fuhr-
Heuchler die Macht haben)«, kann sich auch Ludwig mann hg. v. Luc Deitz u. Gregor Vogt-Spira, Bd. I. Hg.,
übers., eingel. u. erläutert v. Luc Deitz. Stuttgart-Bad
XIV. »im Bewusstsein seiner [neuen] politischen
Cannstatt 1994.
Macht« nach dem Flandernfeldzug von den »been- Stackelberg, Jürgen von: Die französische Klassik. München
genden Fesseln moralischer Bevormundung« be- 1996.
freien und das Stück »gegen den kirchlichen Bann- Spitzer, Leo: »Die klassische Dämpfung«. In: Ders.: Roma-
spruch« durchsetzen (vgl. Grimm 1984, 87). nische Stil- und Literaturstudien. Marburg 1931, 135–
268.
Das Beispiel des Tartuffe zeigt, wie sehr das Thea- Julia Pfahl
ter Molières Abbild des gesellschaftlichen Machtge-
füges seiner Zeit ist und die herrschende Ordnung
repräsentiert, aber auch deren mögliche Gefährdung
sinnfällig macht. Mehr noch als die Querelles um das
Tragödientheater verweisen die hier ausgefochtenen
Debatten aber jenseits der literaturnormierenden
9. Aufklärung 251

9. Aufklärung scheidend gilt« (Hollmer/Meier 2001, 5) –, hat die


Kanonisierung der Dramatik nach sogenannten Hö-
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts finden im deutsch- henkammwerken weitgehend anhand der Reform-
sprachigen Raum grundlegende, jedoch keineswegs ideale stattgefunden und damit alle anderen davon
lineare Veränderungen von Theater statt, die im Zu- abweichenden theatralen und literarischen Formen
sammenhang mit den gesellschaftlichen und politi- marginalisiert, z. B. alle Ausprägungen des Volks-
schen Umwälzungen dieser Jahrzehnte zu sehen theatralen, das populäre Unterhaltungstheater wie
sind. Die Modifikationen betreffen auf institutionel- auch die Dramenproduktionen von Frauen (vgl.
ler Ebene Organisation und Struktur der Theater- Münz 1979; Fischer-Lichte/Schönert 1999; Fleig
truppen, auf gesellschaftspolitischer Ebene Funktion 1999). Das »wichtigste Ereignis der dramatisch-thea-
und Bedeutung von Theater als wesentlichem Me- tralischen Entwicklung« um 1800 ist laut Meyer die
dium des sich konstituierenden Bürgertums und auf Durchsetzung der »Interessen eines sich etablieren-
ästhetischer Ebene Spielvorlagen und Spielstil. den Literatenstands« (Meyer 1986 ff., 1. Abt., Bd. 1,
Zu Beginn des Jahrhunderts pflegt man an den XXX), der ein im Wesentlichen wortzentriertes
Höfen vornehmlich italienische Oper und franzö- Theater präferierte. Allerdings gehen jene »Alter-
sischsprachiges Theater in exklusivem Rahmen, auf nativen von hohem Anspruch«, die in der Theorie
den Bühnen der Jesuiten und Benediktiner wird entwickelt werden, häufig »am Unterhaltungs- und
katholisches Schultheater in lateinischer Sprache Erholungsbedürfnis der Zuschauer und am wirt-
aufgeführt, deutschsprachiges, improvisiertes und schaftlichen Interesse der Verleger und Prinzipale«
öffentlich zugängliches Stegreiftheater spielen die (Meyer 1984, 207) vorbei.
gesellschaftlich geächteten ›Comoedianten‹ der
Wandertruppen (vgl. Maurer-Schmoock 1982;
Meyer 1984). Sowohl ihres Öffentlichkeitscharakters
als auch ihrer Wirkungsmacht wegen wird ›die 9.1 Reformierung und Disziplinierung
Bühne‹ im 18. Jahrhundert zum begehrten Reform-
objekt. Soll Theater aufklärerischen Interessen genü- Die von Johann Christoph Gottsched angestrebte
gen, müssen sowohl Spielvorlagen und Schauspiel- Reformierung der deutschsprachigen Dramatik und
stil ›verbessert‹, d. h. literarisiert und diszipliniert, Theaterpraxis läuft auf eine rigide Disziplinierung
als auch die Reputation der Darstellerinnen und und Reduktion der bestehenden theatralen Formen
Darsteller gehoben werden. Diese durch Reformen hinaus. Daher erscheint es nur folgerichtig, dass er
vorangetriebenen strukturellen wie ästhetischen schon früh den Kontakt zu Theatertruppen gesucht
Veränderungen reduzieren die theatrale Mannigfal- hat. Seiner 1727 begonnenen Zusammenarbeit mit
tigkeit sukzessive und nähern diese in Struktur, In- der Truppe der Neuberin wird in der Theaterhistorio-
tention und Zweck den bis heute vorhandenen For- grafie besondere Bedeutung beigemessen, wenn-
men des institutionellen Theaters an. So findet die gleich jüngere Forschungen die lange Zeit gültigen
allmähliche Ablösung des Wandertruppensystems Interpretationen dieser als programmatisch-refor-
analog zur Entwicklung der bürgerlichen Gesell- merisch intendierten Kooperation mit Blick auf die
schaft statt, deren Strukturen mit zunehmender konkreten Anforderungen des Wandertruppenda-
»Bürokratisierung und Kapitalisierung« (Meyer seins korrigiert haben (vgl. Rudin/Schulz 1999;
1984, 194) auch in die Truppen Eingang finden und Weiss-Schletterer 2005).
schließlich zur Ausbildung stehender und öffentlich 1729 hält Gottsched in der Leipziger Vertrauten
finanzierter Theater führen. Auch die Nobilitierung Rednergesellschaft eine Verteidigungsrede für die im
des Schauspielerstandes ist gebunden an die ihm zu- allgemeinen Bewusstsein verachtete Schaubühne.
gewiesenen didaktischen und vorbildhaften Aufga- Schon der Titel »Die Schauspiele und besonders die
ben innerhalb der entstehenden bürgerlichen Öf- Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik
fentlichkeit (vgl. Graf 1992; Ruppert 1995). nicht zu verbannen« benennt Gottscheds politisch-
Obwohl Dramentheorien, Dramatik und Thea- aufklärerisches Anliegen, dem er in den folgenden
terpraxis im 18. Jahrhundert in einem widerspruchs- Jahrzehnten in unterschiedlichen Allianzen und
vollen Verhältnis zueinander stehen – »was tatsäch- Verwerfungen sein reformerisches Interesse wid-
lich gespielt wurde, hat wenig mit dem zu tun, was men wird. Zur Untermauerung der Argumentation
im literaturgeschichtlichen Rückblick heute als ent- verweist er einerseits auf seine Kompetenz als öffent-
252 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

licher Lehrer für Poetik, andererseits auf Aristoteles, schließlich deduktiv ermittelte Normen Geltung
jene maßgebliche antike Autorität, deren Namen haben. ›Natur‹ gilt als durchrationalisierte Ordnung,
nicht einmal explizit genannt werden muss. In Gott- die mit ›Vernunft‹ gleichgesetzt wird (vgl. Siegrist
scheds Tragödiendefinition sind die Grundzüge der 1984).
aristotelischen Poetik, vermittelt über französisch- Die Strömungen der deutschsprachigen Aufklä-
klassizistische Interpretationen, gemäß den aufklä- rung sind bis über die Jahrhundertmitte hinaus stark
rerischen Leitkategorien Vernunft, Nutzen und Hu- von den fortschrittlicheren philosophischen und li-
manität adaptiert. So wird inhaltlich auf eine in den terarischen Schriften aus England und Frankreich
Tragödien enthaltene lehrreiche Moral fokussiert beeinflusst. Auf dem Gebiet des Dramas und auch
und daraus resultierend v. a. deren pädagogischer der Theaterpraxis zeigt sich das besonders deutlich.
Aspekt hervorgehoben. Die Konturierung der regel- Gottsched gilt daher die Dramatik des französischen
mäßigen, d. h. nach verbindlichen Regeln (Vers, fixe Klassizismus (vgl. Kap. III.8) als uneingeschränkt
Aktzahl, Einhaltung der drei Einheiten, Ständeklau- vorbildhaft. Von ihr übernimmt er das Postulat der
sel) verfassten Tragödie erfolgt in strikter Abgren- drei Einheiten (Handlung, Zeit, Ort), die er auf Aris-
zung von jenen Spielvorlagen, die das Repertoire der toteles zurückführt und die er über das Wahrschein-
Wandertruppen um 1700 weitgehend bestimmen lichkeitsprinzip legitimiert, die an feudalistischen
und für die Gottsched die polemische Bezeichnung Hierarchien orientierte Ständeklausel, wonach in
›Haupt- und Staatsaktionen‹ geprägt hat. In diesen der Tragödie ausschließlich ›vornehme‹ Personen
(ungedruckten) Texten werden historisch-politische »von mittlerer Gattung« (Gottsched 2009, 158), in
Stoffe vermischt mit den derb-burlesken Stegreif- der Komödie hingegen nur die ›niederen‹ Stände
künsten einer lustigen Figur (Harlekin, Hanswurst, dargestellt werden dürfen, sowie den Alexandriner-
Pickelhäring etc.) zur Aufführung gebracht. Nicht vers, der allein ihm für die Tragödie angemessen
zuletzt in Nachfolge der von Gottsched vorgenom- scheint. Mischformen, wie z. B. die Tragikomödie
menen Trennung und Hierarchisierung von wort- oder das ab Ende der 1740er Jahre populäre Genre
zentriertem Kunst- und körperbetontem Volksthea- des ›rührenden‹ oder ›weinerlichen‹ Lustspiels, wer-
ter entsteht jene lange Zeit gültige Form antipodisch den von Gottsched abgelehnt.
strukturierter Theaterhistoriografie, die trotz chro- Da Kunst die Nachahmung der vernünftig orga-
nologischer Gleichzeitigkeiten wechselseitige Be- nisierten Natur sei, werden sowohl Inhalt als auch
zugnahmen und Bedingtheiten sowie das Bewusst- Struktur der Tragödie einzig dem Primat der Wahr-
sein für eine im 18. Jahrhundert vorherrschende scheinlichkeit untergeordnet. Eine unwahrscheinli-
Mannigfaltigkeit theatraler Formen marginalisiert che Fabel tauge nichts, da sie ihre Hauptabsicht, die
hat (vgl. Hulfeld 2007). Zentrales Argument für Exemplifizierung eines moralischen Lehrsatzes, ver-
Gottscheds Hierarchisierung ist das seit Aristoteles’ fehle. Das Identifikationspotenzial mit den wider-
Poetik verbindliche Prinzip der mímēsis (Nachah- spruchsfrei zu zeichnenden ›vornehmen Personen‹
mung), nach dem alle Dichtung aufgebaut sei, sowie sei für ein bürgerliches Publikum insofern gegeben,
das mit belehrendem Nutzen verbundene Vergnü- als nicht der jeweilige Stand der Figuren, sondern
gen, welches nur die Aufführung regelmäßiger Tra- die Egalität der menschlichen Schicksale Furcht,
gödien im Publikum erzeuge, nicht jedoch das aus- Schrecken, Mitleiden und Bewunderung hervorrufe
schließlich der Belustigung dienende Volkstheater und dadurch die angestrebte Wirkung erziele.
bzw. die vom Adel präferierte Oper. Auch für die Komödientheorie der ersten Jahr-
1730 erscheint Gottscheds poetologisches Haupt- hunderthälfte ist Gottscheds Versuch einer Criti-
werk Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die schen Dichtkunst vor die Deutschen verbindlich. Da-
Deutschen, das die dichtungstheoretischen Debatten rin wertet er die regelmäßige Komödie aufgrund ih-
der folgenden Jahrzehnte bestimmen sollte. Gott- res didaktischen Potenzials auf. Als Nachahmung
sched versucht als Schüler des Mathematikers und einer lasterhaften Handlung von Typenfiguren (Gei-
Philosophen Christian Wolff, dessen rationalistische ziger, Hypochonder, Schwärmer etc.), die der Lä-
Systemphilosophie auch auf das Gebiet der Literatur cherlichkeit preisgegeben werden, vermag die Ko-
zu übertragen. Die Poetik sollte als Teil einer Kunst- mödie das Publikum sowohl zu belustigen als auch
theorie in einen rationalen, in sich widerspruchs- zu erbauen, da die Figuren im Idealfall zur Selbster-
freien systematischen Zusammenhang gestellt wer- kenntnis gelangen und solcherart ihre Lernbereit-
den, in dem nicht subjektive Urteile, sondern aus- schaft unter Beweis stellen. Gottscheds Ausführun-
9. Aufklärung 253

gen zur Verlachkomödie, für die sich die Bezeich- wie Gotthold Ephraim Lessing, der im 17. Literatur-
nung ›Sächsische Typenkomödie‹ durchgesetzt hat, brief (1759) eine pointiert-polemische Generalab-
geben ihm wiederum Gelegenheit, gegen die Traditi- rechnung mit Gottscheds Dramen- und Theaterre-
onen der Commedia dell’arte, alle Varianten der lus- formen vornimmt. Die Lessing-Forschung hat lange
tigen Figur, gegen ›Zaubereyen‹ und Maschinenein- Zeit diese antipodische Konstellation unterstrichen,
satz auf der Bühne zu polemisieren. Eine der langle- mittlerweile wird jedoch – bei allen in der Tat un-
bigsten Legenden rund um die reformerischen überbrückbaren Gegensätzen – auch der Blick auf
Bemühungen Gottscheds in Zusammenarbeit mit Gemeinsamkeiten gelenkt, so z. B. die Bedeutung
der Neuber-Truppe ist die Vertreibung des Harle- der aristotelischen Poetik und des mímēsis-Prinzips
kins von der Bühne, die dem Jahr 1737 zugeordnet mit den Postulaten der Wahrscheinlichkeit, Natür-
wird. Aus Mangel an gesicherten Quellen existieren lichkeit und Notwendigkeit, die auf ›Besserung‹ an-
unterschiedliche Überlieferungsvarianten, wonach gelegte Wirkungsabsicht der Tragödie oder beider
in einem von der Truppe aufgeführten Stück die Stilideal der ›Deutlichkeit‹. Gottsched und Lessing
Harlekin-Figur entweder begraben oder von der lassen sich also durchaus als zwei »Varianten des
Bühne verjagt worden sei (vgl. Schletterer 1997). deutschen Aufklärers« (Wimmer 1995, 44) begrei-
1761 veröffentlicht Justus Möser den Prosamonolog fen. Methodisch unterscheiden sie sich allerdings
Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske-Komi- fundamental. Im Gegensatz zur deduktiv verfahren-
schen, in dem sich Harlekin gegen seine Verbannung den normativen Poetik Gottscheds orientiert sich
und die der Commedia dell’arte zur Wehr setzt. Lessing – darin auch Aristoteles’ Vorgangsweise nä-
Da das Niveau der deutschsprachigen Dramatik her – direkt am Material und geht induktiv-prozess-
nicht den Anforderungen des Literaturprofessors haft und formal wie stilistisch innovativ vor.
genügt, initiiert Gottsched Übersetzungen v. a. aus
dem Französischen, verfasst mit dem kompilierten
Musterdrama Sterbender Cato (1732) ein praktisches
Beispiel für seine Dramentheorie und fördert die 9.2 Vermittlung, Erneuerung
Produktion deutschsprachiger Originaldramen, die und Synthese von Theater-
er in seiner sechsbändigen Sammlung Die Deutsche und Dramentraditionen
Schaubühne nach den Regeln und Mustern der Alten
(1740–45) herausgibt. Gottscheds Theaterreformen
sind im Zusammenhang mit seinen Bemühungen Während seiner Leipziger Studienzeit begeistert sich
um den Aufbau einer deutschen Nationalliteratur zu Lessing für das praktische Theater und die ihm inhä-
sehen, die Anschluss an die westeuropäische Litera- renten Möglichkeiten. Er übersetzt für die Neuber-
tur finden sollte. sche Truppe Stücke aus dem Französischen und ar-
Pionierarbeit auf dem Gebiet der Komödie leistet beitet an seinen ersten Komödien. 1748 wird Der
Gottscheds Ehefrau Louise Adelgunde Kulmus, die junge Gelehrte von der Neuberin erfolgreich urauf-
als Gelehrte, Übersetzerin und Autorin eine der geführt. Das Stück ist, wie auch die nachfolgenden
wichtigsten Persönlichkeiten im Leipziger Literatur- Komödien (z. B. Der Misogyne, Der Freigeist, Die Ju-
betrieb der 1730er und 1740er Jahre war. Ihre Ko- den) an der traditionellen Sächsischen Typenkomö-
mödien, wie z. B. Pietisterey im Fischbein-Rocke die orientiert. Die Adaption des von Gottsched
(1736 anonym veröffentlicht), Die ungleiche Heyrath übernommenen Komödienschemas wird aber zu-
(1743), Das Testament (1745) und Der Witzling gunsten einer eingehenden Charakterisierung der
(1745), entsprechen formal den Richtlinien für re- Figuren und der damit zusammenhängenden Nähe
gelmäßige Komödien und zeichnen sich durch ihre zur Wirklichkeit sowie einer differenzierteren Aus-
sprachsatirische Stilistik aus. gestaltung der verhandelten Themen erneuert.
Die von Gottsched festgeschriebenen Normen Überdies zeugt Lessings bereits in dieser Frühzeit
zum Verfassen zweckgerichteter Tragödien und Ko- nachweisbare Beschäftigung mit Plautus und For-
mödien können ihren rezeptartigen Charakter nicht men der Commedia dell’arte von seinem Bemühen
verleugnen und rufen auch wegen ihres ›dogmati- um die Integration jener spielfreudigen Traditionen,
schen Gestus‹ in den Folgejahren Kritik und Spott die aus Gottscheds Dichtungstheorie ausgeschieden
hervor. Von den zahlreichen Kritikern ist wohl kaum wurden. Plautus dient ihm als Vorbild für eine syn-
einer so sehr im Bewusstsein verankert geblieben thetische Komödienform, in der sich Grundzüge der
254 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Verlachkomödie mit denen des rührenden Lust- In der Einleitung zu den von ihm übersetzten Ab-
spiels verbinden lassen, seine Auseinandersetzung handlungen führt Lessing als die beiden dramati-
mit den Techniken der Commedia dell’arte und schen Neuerungen seiner Gegenwart das rührende
seine Übersetzungen von Spielvorlagen gründen auf Lustspiel und das bürgerliche Trauerspiel an. Er
praktischem Interesse und lassen ihn während die- selbst wendet sich um die Jahrhundertmitte be-
ser Zeit handwerkliche Grundlagen für die eigene kanntlich Letzterem zu und legt mit Miß Sara Samp-
Dramenpraxis erwerben (vgl. Fick 2010, 68 ff.). son (1755) ein höchst erfolgreiches erstes deutsch-
sprachiges Exempel vor. Zu Beginn der 1750er Jahre
erschienen die Übersetzungen zweier englischer
9.2.1 Gemischte Gattungen? Rührendes bürgerlicher Trauerspiele, Lillos The London Mer-
Lustspiel, bürgerliches Trauerspiel, chant (Der Kaufmann von London oder Begebenhei-
genre sérieux ten Georg Barnwells, dt. 1752) und Moores The
Gamester (Der Spieler, dt. 1754), welche die Etablie-
Ende der 1740er Jahre wird im deutschen Sprach- rung der Gattung im deutschen Sprachraum maß-
raum nach dem französischen Vorbild der comédie geblich beförderten und in der zweiten Jahrhun-
larmoyante das neue Genre des rührenden oder wei- derthälfte zu den meistgespielten Stücken der Wan-
nerlichen Lustspiels populär. Als Hauptvertreter und dertruppen zählten. Weitere Anregungen für die
Wegbereiter dieser ›gemischten‹ Gattung in Deutsch- deutschsprachige Produktion stammen von den
land gilt Christian Fürchtegott Gellert, der in seinen »häuslich-empfindsamen Mittelstandsromanen«
Lustspielen (z. B. Die Betschwester, 1745, Das Loos in (Guthke 2006, 33) Samuel Richardsons. Das Attribut
der Lotterie, 1747, Die zärtlichen Schwestern, 1747) ›bürgerlich‹ in der deutschen Gattungsbezeichnung
die satirische Darstellung typisierter Laster mit einer ist nicht so sehr als soziale Standesbestimmung zu
Glorifizierung bürgerlicher Tugenden verbindet. verstehen, als vielmehr Ausdruck für die Darstellung
1751 hält Gellert seine Pro Comoedia Commovente des Privaten, Häuslichen, des auf die Familie Bezo-
betitelte lateinische Antrittsvorlesung an der Leipzi- genen. Es handelt sich dabei nicht um die Verlage-
ger Universität, die gemeinhin als Rechtfertigung rung des Tragischen in die soziale Sphäre des ›Bür-
seiner eigenen Dramatik verstanden wird. Drei Jahre gerlichen‹, sondern um eine fundamentale Verände-
später veröffentlicht Lessing im 1. Stück der Theatra- rung des Tragischen selbst. In den bürgerlichen
lischen Bibliothek (1754) eine Übersetzung von Gel- Trauerspielen werden die Ursachen für das Tragi-
lerts Abhandlung zusammen mit de Chassirons sche in den Menschen und seine private Lebenswelt
Pamphlet gegen die comédie larmoyante. verlegt. Daher gilt das Hauptinteresse der Verknüp-
Gellert versucht die ›Mischgattung‹ innerhalb des fung von Unglück, Schuld und Charakter sowie der
Gottschedschen Tragödien- und Komödiensystems psychologischen Motivation von Affekten (vgl.
zu etablieren, indem sowohl Ständeklausel und Nut- Guthke 2006, 18 f.). Die Kategorie des Privaten frei-
zen der Komödie als auch die strikte Trennung von lich entstammt ihrerseits wieder der bürgerlichen
der Tragödie hinsichtlich der behandelten Stoffe, der Sphäre. Diesen inhaltlichen und formalen Änderun-
verwendeten Mittel und der beabsichtigten Wirkung gen im Drama entsprechen auch die seit den 1750er
beibehalten werden. Die rührende Komödie führe Jahren einsetzenden Bemühungen um eine Schau-
auf feinsinnige, nicht possenhafte Weise Laster vor spielkunst, die sich sowohl vom französisch-klassi-
und preise überdies auch die unheroischen, d. h. zistischen Darstellungsstil als auch von den volks-
›bürgerlichen‹ Tugenden, indem sie sich auf die Dar- tümlichen Commedia dell’arte-Traditionen absetzt
stellung des Privatlebens beschränke. Überdies ver- und eng mit dem Ideal perfekter Bühnenillusion
mag das rührende Lustspiel zu »ergötzen« wie auch verbunden ist.
zu »unterrichten« (Gellert 1992 ff., 161). In seinem Zeitgleich mit Miß Sara Sampson erscheint 1755
Kommentar bestimmt Lessing das rührende oder unter dem Titel Vom bürgerlichen Trauerspiele die
weinerliche Lustspiel als eine Untergattung der Ko- erste deutschsprachige Theorie desselben. Johann
mödie und letztlich als theatrale Sackgasse, wenn Gottlob Benjamin Pfeil vertritt darin einen strengen
dieses hauptsächlich die Rührung des Publikums be- Tugend-Laster-Schematismus, wonach der Zweck
zwecke. Denn die »wahre Komödie« (Lessing der Tragödie darin bestehe, »die Tugend vereh-
1985 ff., 3, 280) soll sowohl zum Lachen bewegen als rungswürdig und beliebt und das Laster verächtlich
auch rühren. und verabscheuungswürdig zu machen« (Pfeil 1974,
9. Aufklärung 255

50). Diese ›Abschreckungsdramaturgie‹, derer sich Lessings 1760 anonym erscheinende Übersetzung
Pfeil auch in seinem bürgerlichen Trauerspiel Lucie Das Theater des Herrn Diderot. Wie Gottsched ver-
Woodvil (1756) bedient, habe, so das Ergebnis der folgt auch Lessing mit seinen Übertragungen ein
quantitativ argumentierenden Untersuchung theaterpolitisches Programm, das sich in Wider-
Mönchs, die Produktionen des bürgerlichen Trauer- spruch zu etablierten Traditionen und Praktiken
spiels im deutschsprachigen Raum weitgehend be- setzt. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Lessing dem
stimmt, Lessings davon unterschiedene Mitleidsdra- deutschen Literaturprofessor und Verehrer des fran-
maturgie sei keinesfalls die dominante »Modellvor- zösischen Klassizismus den Franzosen Diderot als
gabe« (Mönch 1993, 4) gewesen (vgl. konträr Guthke Kritiker desselben gegenüberstellt und dessen Thea-
2006, 61 ff.). terarbeiten als Vorbilder für eine Erneuerung von
Lessing bietet keine geschlossene Theorie des Dramatik und Schauspielstil präsentiert. Lessing
bürgerlichen Trauerspiels; seine Überlegungen sind schätzt Diderot als einen der wesentlichen Protago-
in Briefen, Übersetzungen und v. a. in Teilen der nisten der französischen Aufklärung und hebt des-
Hamburgischen Dramaturgie (1767–69) aufbewahrt. sen Einfluss auf die eigenen Arbeiten hervor, nicht
Erste Grundzüge seiner Mitleidskonzeption finden zuletzt, weil sich auch bei Diderot Theoretisches mit
sich in der nicht zur Veröffentlichung bestimmten Theaterpraktischem verbindet.
Korrespondenz mit den Freunden Moses Mendels- Lessings Übersetzung der beiden Stücke Le fils
sohn und Friedrich Nicolai über Wirkungsweisen naturel (Der natürliche Sohn oder Die Proben der Tu-
und Zweck des Trauerspiels bzw. der (synonym ver- gend, dt. 1771) und Le père de famille (Der Hausva-
wendeten) Tragödie (Briefwechsel über das Trauer- ter, dt. 1760) mit den dazugehörigen dramentheore-
spiel, 1755–57). Den Ausgangspunkt bildet Nicolais tischen Ausführungen befördern den singulären
Abhandlung vom Trauerspiele, aus der dieser 1756 Erfolg des französischen Dramatikers im deutsch-
Auszüge an Lessing schickt. Nicolai bestimmt darin sprachigen Raum, der den in Frankreich bei weitem
als Ziel der Tragödie die Erregung, nicht aber die übertrifft. Vor allem Diderots Le père de famille wird
Reinigung von Leidenschaften. Lessing ist dagegen zum viel gespielten Repertoirestück und initiiert
um eine Synthese von ästhetischer, emotionaler und zahlreiche Nachahmungen (z. B. Otto Heinrich von
moralischer Wirkung bemüht. Der Disput, v. a. mit Gemmingen-Hornberg: Der teutsche Hausvater oder
Mendelssohn, entzündet sich an der Definition des die Familie).
Mitleids. Mendelssohn wendet sich vornehmlich ge- Diderots dramentheoretische Erläuterungen ge-
gen Lessings Interpretation und Bewertung des Mit- hören in die Gesamtkonzeption seiner Theaterar-
leids als Hauptzweck der Tragödie, da dieses, wird es beit, seine beiden Stücke lassen sich als Muster für
nicht durch die Vernunft reguliert, nicht per se im- die programmatischen Ausführungen, als ange-
stande sei, zur moralischen Besserung beizutragen. wandte Dramatik gewissermaßen, lesen. Diderot ist
Lessing hingegen ordnet »Schrecken« und »Bewun- wie Lessing am Aufbrechen der traditionellen Gat-
derung« dem Mitleid als der unmittelbar moralisch tungshierarchie und am dramatischen Experiment
bessernden Wirkung unter: »Der mitleidigste Mensch interessiert. Er tritt für den Eigenwert der neuen, der
ist der beste Mensch«. In der Erweiterung der Mit- ›ernsten Gattung‹ (genre sérieux) ein, die zwischen
leidsfähigkeit liege die Bestimmung der Tragödie be- den Extremen der Tragödie und der Komödie ange-
gründet (Lessing 1985 ff., 3, 671). Das Mitleiden siedelt und nicht als Gattungsmischung zu verstehen
gehe der Reflexion voraus und bilde sozusagen die sei. Die Notwendigkeit für ein neues Drama wird
Voraussetzung für vernünftiges Denken, es sei ein von Diderot historisch begründet, wonach gewan-
»Kompass, der die Vernunft bei ihren sittlichen Ent- delte gesellschaftliche und politische Verhältnisse
scheidungen letztlich leiten kann« (Fick 2010, 177). sich in allen Werken abbilden sollten. Wenngleich
Indem Lessing mit seiner Mitleidskonzeption den in das Figurenpersonal aus dem niederen Adel stammt,
den zeitgenössischen bürgerlichen Trauerspielen sind die Konflikte in die patriarchale Kleinfamilie,
vorherrschenden Tugend-Laster-Schematismus un- die »soziale Organisationsform des aufsteigenden
terläuft, ermöglicht er die Sicht auf eine von den Re- Bürgertums« (Szondi 1979, 109), mit der ihr inhä-
geln der Vernunft unabhängige Erkenntnis durch renten Trennung zwischen Privatem und Öffentli-
das autonome Kunstwerk. chem verlagert. Das Besondere der neuen Gattung
Von weitreichender Bedeutung für Theorie, Dra- besteht nun darin, dass diese nicht vom Stand der Fi-
matik und Theaterpraxis des 18. Jahrhunderts wird guren, sondern von den dargestellten Inhalten her
256 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

definiert wird. Dieser Dramatik hafte ein hohes Maß den Ausführungen der Hamburgischen Dramaturgie
an ›Realitätsbezug‹ an, wodurch beim (bürgerlichen) (1767–69) lässt sich dessen teilweise Distanzierung
Publikum intensivere Anteilnahme und Rührung von Diderot bemerken.
hervorgerufen würden. Voraussetzung für die ange-
strebte Wirkung ist eine während der Aufführung
zur Perfektion gebrachte Bühnenillusion. Wenn in 9.2.2 Lachen und Mitleid als Instrumente
der Rahmenhandlung zu Le fils naturel behauptet der Erkenntnis
wird, es handle sich bei dem Stück um das im Nach-
spielen erinnerte Wiederholen wahrer Begebenhei- Die im Zuge der angestrebten Theaterreformen ent-
ten, dargestellt von den realen Protagonisten, so ist stehende Idee eines ›Nationaltheaters‹ sollte einen
damit Diderots dramentheoretische Konzeption ge- ständeübergreifenden Bildungsauftrag erfüllen, die
radezu auf die Spitze getrieben. Weder beim Verfas- Aufgabe kultureller Identitätsstiftung übernehmen
sen eines Theaterstückes noch bei dessen Auffüh- und dem Mangel an ›nationalem Einheitsempfin-
rung dürfe das Publikum mitgedacht werden, zur Il- den‹, der durch die territoriale Zersplitterung
lusionssteigerung solle die Bühnenrampe als eine Deutschlands bedingt war, abhelfen (vgl. Bauer/
»große Mauer«, als ein »Vorhang, der nicht aufgezo- Wertheimer 1983; Krebs 1985). Einer der ersten die-
gen würde« (Lessing 1985 ff., 5/1, 171), vorgestellt ser meist rasch wieder scheiternden Versuche findet
werden (Paradigma der vierten Wand). Statt effekt- 1767/68 in Hamburg statt. Als Abgrenzung vom ex-
voller coups de théâtre (Theaterstreiche), die den Pe- klusiven Hof- wie auch vom Wandertruppentheater
ripetien antiker Tragödien vergleichbar die Um- wird mit der Hamburger Entreprise die Struktur ei-
stände der Personen plötzlich verändern, präferiert nes von Privatpersonen subventionierten Theaters
Diderot das tableau, ein szenisches Gemälde, das mit mit kulturpolitischem Anspruch erprobt. So wenig
der ›natürlichen‹ und ›wahren‹ Anordnung der Per- erfolgreich im Hinblick auf die weit gesteckten Ziele
sonen auf der Bühne die gesellschaftliche Situation diese Unternehmung auch war, so hat sie doch mit
veranschauliche. Szondi hat auf die sozialpsycholo- Lessings Hamburgischer Dramaturgie ein bedeuten-
gischen Implikationen dieser Unterscheidung hin- des literarisches Dokument initiiert. Als erfolgrei-
gewiesen: Die Mittel der überlieferten Tragödien cher Dramatiker hatte Lessing mit Miß Sara Samp-
sind historisch unwahr geworden. Der coup de son und Minna von Barnhelm (1767) bereits stilbil-
théâtre, Spiegelbild für die Wandelbarkeit fürstlicher dende Stücke vorgelegt, als Übersetzer und scharfer
Launen und die von Intrigen bestimmte höfische Kritiker sich längst einen Namen gemacht. Die Rolle
Welt, widerspreche der rationalen bürgerlichen Le- eines Hausautors für das ›Nationaltheater‹ über-
bensführung, deren von Grundsätzen und Planbar- nimmt er zwar nicht, sehr wohl aber die Funktion ei-
keit bestimmtes Ziel in der Ausschaltung des Zufalls nes hauseigenen ›Dramaturgen‹, der die Produktio-
bestehe (vgl. Szondi 1979, 114 ff.). nen als öffentlicher Kritiker begleiten sollte. Geplant
Eine auffällige Neuerung gegenüber der tradi- ist ein Periodikum, das Dramen- und Theaterkritik
tionellen Dramatik stellen Diderots ausführliche Re- kombinieren sollte. Allerdings verfasst Lessing nur
gieanweisungen für die tableaux und das stumme für kurze Zeit Aufführungsrezensionen und nimmt
Spiel (Pantomime) dar, deren Hauptzweck in der stattdessen eine Fokussierung auf allgemeine dra-
Ausgestaltung von Gefühlsregungen der Figuren be- mentheoretische Reflexionen vor. Wie schon im
steht. Im Père de famille wird auf diese Weise die Briefwechsel über das Trauerspiel, bedingt durch die
klassische Dramenexposition zu einem »Psycho- dialogische Form der privaten Korrespondenz, ist
gramm« (Szondi 1979, 121) der titelgebenden Haupt- auch in der Hamburgischen Dramaturgie der prozes-
figur umgestaltet. Stummes Spiel, tableau und cri de suale Charakter von Lessings Theoretisieren evi-
la nature, der Schrei der Natur, in dem sich heftigste dent. Obwohl die periodische Erscheinungsweise
Affekte äußern, sind daher wesentliche Elemente ei- aufgrund von Raubdrucken eingestellt wird, behält
ner auf Rührung zielenden Dramaturgie. In der Wir- Lessing in der Datierung und Gliederung nach Stü-
kungsmacht der theatralen Darstellung liege auch cken die Fiktion der ursprünglichen Konzeption
die besondere Bedeutung des Theaters als Utopie ei- aufrecht. In dieser formalen ›Zersplitterung‹ lassen
ner Tugendschule. Diderots dramen- und theater- sich die Denkbewegungen mit- und nachvollziehen.
praktische Überlegungen entsprechen in vielem Les- Hat Lessing im Anschluss an seine Übersetzung
sings eigenen Intentionen und Interessen. Erst in von Gellerts Abhandlung über das rührende Lust-
9. Aufklärung 257

spiel Rührung und Lachen als Wirkungselemente 594), mit dem (bürgerlichen) Zielpublikum sowie
der »wahren Komödie« benannt, so wird in der eine gleichsam psychologische Motivation und
Hamburgischen Dramaturgie Rührung v. a. als Krite- Zweckgerichtetheit der Handlung erreicht werde.
rium für die Tragödie wichtig und mit der Differen- Nicht allein theatralische Illusion und Täuschung
zierung zwischen Lachen und Verlachen ein Komö- sind gefordert, sondern ein direkter Bezug zum Pub-
dienmodell präferiert, dessen Hauptzweck nicht in likum, das »durch die Gläser der Kunst« (Lessing
Abschreckung oder Besserung durch Verlachen be- 1985 ff., 6, 680) im Mit- und Nachvollzug der vorge-
steht, sondern in der durch Lachen vermittelten Ein- führten Handlung über die prinzipielle Organisation
übung in analytische Menschenkenntnis. Schließlich der (menschlichen) Natur Aufschluss erlangen soll.
sei es »ersprießlich, diejenigen zu kennen, mit wel- In Lessings mímēsis-Konzept besteht die Aufgabe
chen man in Collision kommen kann« (Lessing des Dramatikers darin, aus den vielfältigen Erschei-
1985 ff., 6, 324). Adressaten sind in diesem Modell nungsformen der Realität eine nach dem Prinzip der
daher »die Gesunden«, die »in ihrer Gesundheit« Wahrscheinlichkeit organisierte, überschaubare und
(Lessing 1985 ff., 6, 324) befestigt werden sollen. fassliche dramatische Fabel zu gestalten, »wo eines
Für eine schärfere Konturierung seiner Tragö- aus dem andern sich völlig erkläret« (Lessing
dientheorie nimmt Lessing in der Hamburgischen 1985 ff., 6, 577). Die Tragödie solle also nicht durch
Dramaturgie Gedanken aus dem Briefwechsel über Abschreckung und Warnung vor den dargestellten
das Trauerspiel wieder auf und erweitert diese in sei- Leidenschaften zu stoischem Gleichmut führen,
ner Neudeutung der antiken Tragödiendefinition sondern durch Identifikation und Mitleid zur Er-
grundlegend. Der Zweck der Tragödie und das dar- kenntnis des vom Dichter hergestellten dramati-
aus resultierende Vergnügen besteht nach Aristote- schen Modells, das als »Schattenriß von dem Gan-
les in der Erregung von éleos (Jammer) und phóbos zen des ewigen Schöpfers« (Lessing 1985 ff., 6, 577)
(Schaudern), wodurch eine Reinigung (kátharsis) den geforderten Sinnzusammenhang verdeutlichen
von eben diesen Affekten bewirkt wird (vgl. Kap. müsse. Mit dieser Erkenntnis und Humanität för-
I.2.6). Ausgehend von Dramenanalysen entwickelt dernden Bestimmung der Tragödie wird eine reine
Lessing seine Relektüre antipodisch zur dominanten Affekttheorie, wie sie sich in den Begriffen von Ge-
französischen Auslegungstradition. Indem er philo- fühls- und Mitleidsdramaturgie auszudrücken
logisch spitzfindig Übersetzungsirrtümer und dar- scheint, maßgeblich transzendiert.
aus folgende Fehldeutungen der Poetik aufdeckt, le- In Lessings Auslegung der Poetik zeigt sich beson-
gitimiert er die eigene Interpretation. Lessing über- ders deutlich die Differenz zu Gottscheds Umgang
setzt die beiden tragischen Wirkungskategorien als mit der über den französischen Klassizismus vermit-
Furcht und Mitleid, wobei unter Furcht »das auf uns telten Schrift. Für Gottsched sind die im Drama ein-
selbst bezogene Mitleid« (Lessing 1985 ff., 6, 557) zu zuhaltenden Regeln Ausdruck einer vernünftig or-
verstehen sei. Katharsis wird von Lessing nicht wie ganisierten Natur, Lessing überprüft die Regeln auf
in der damals vorherrschenden Interpretation als deren Potenzial, Modelle der ›Gesamtordnung‹ der
Reinigung von den auf der Bühne dargestellten, son- Natur im Drama darstellbar zu machen. Die dra-
dern ausschließlich von den beiden im Publikum mentheoretischen Überlegungen werden in den ers-
hervorgerufenen Affekten Mitleid und Furcht ver- ten Nummern der Hamburgischen Dramaturgie
standen. Diese Reinigung beruhe in der »Verwand- flankiert von Lessings fragmentarischen Anmerkun-
lung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkei- gen zu Grundsätzen einer Schauspielkunst, über die
ten« (Lessing 1985 ff., 6, 574), d. h. in der Einübung, er – ausgehend von der konkreten Beobachtung des
Ausbildung und Stärkung eines umfassend verstan- Hamburger Schauspielerensembles – reflektiert und
denen humanen Empfindens und daraus resultie- für die später der Terminus ›realistisch-psycholo-
renden Verhaltens. Die angestrebte Tragödienwir- gisch‹ gebräuchlich wird.
kung wird wie bei Aristoteles mit Überlegungen Unmittelbar nach Erscheinen der Hamburgischen
zum poetischen Verfahren verknüpft. Um die gefor- Dramaturgie erfolgt mit Aufkommen der Genieästhe-
derte tragische Wirkung zu erreichen, müsse dem tik und dem neuen Paradigma der Originalität und
Publikum Gelegenheit zur Identifikation mit dem Subjektivität eine Abkehr vom Vorbild der aristoteli-
Bühnengeschehen gegeben werden, was nur über schen Poetik. Lessings Schrift ist daher im deutsch-
die Ähnlichkeit des vorgeführten Charakters, »den sprachigen Raum die letzte affirmative Beschäftigung
Held aus der mittlern Gattung« (Lessing 1985 ff., 6, eines Praktikers mit der antiken Dichtungstheorie.
258 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

9.2.3 Unterhaltungsstücke als Dialoge nalität« (Birgfeld/Conter 2007, X) feststellen. Ein


mit der Theaterpraxis Großteil der Unterhaltungsdramatik ist zwar nicht
den Prinzipien von Originalität und Autonomie,
Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kommt es zu wohl aber einem aufklärerischen Literaturkonzept
einem sprunghaften Anstieg der dramatischen Pro- verpflichtet. Insofern kann das Unterhaltungstheater
duktion, die in Zusammenhang mit den strukturel- »als ein wichtiges Reflexionsmedium von Gesell-
len Veränderungen des Theaterbetriebs zu sehen ist. schaft, Politik und Literatur« und »als Begleit- und
Da das Wandertruppenwesen allmählich durch so- Beobachtungsmedium der um 1800 sich vollziehen-
genannte ›stehende Theater‹ abgelöst wird und die den Modernisierungsprozesse« (Birgfeld/Conter
Finanzierung dieser fixen Häuser nur durch eine 2007, XVII) angesehen werden.
längerfristige Bindung des Publikums möglich ist,
wächst der Bedarf an neuen Stücken, die den Be-
dürfnissen der Bühnen wie auch dem Publikumsge-
schmack entsprechen. Ist dieser zahlenmäßige An- 9.3 Literarische Rebellion im
stieg an sogenannten ›bürgerlichen Familiengemäl- dramatischen Experiment:
den‹, die in der Tradition des bürgerlichen der Sturm und Drang
Trauerspiels und der Rührkomödie stehen, in frühe-
ren Forschungen als »Prozeß der Trivialisierung«
(Schulte-Sasse 1971, 46) abgeurteilt worden, so fin- Die Bezeichnung »Sturm und Drang« für die inno-
det mittlerweile eine veränderte Perspektivierung vative literarische Strömung der 1770er Jahre leitet
statt, die sich u. a. in einer neuen Terminologie be- sich von Friedrich Maximilian Klingers gleichnami-
kundet. Anstelle einer generellen Etikettierung der gem Drama her und dient vorerst als abschätzige
vom Kanon ausgeschlossenen Theatertexte als ›tri- Etikettierung für die formal wie inhaltlich experi-
vial‹ gilt das Interesse nunmehr der wechselseitigen mentellen Produktionen jener jungen Generation,
Bedingtheit von Unterhaltungsdramatik und Thea- deren Ideale in strikter Ablehnung der Regelpoetik,
terpraxis sowie einer damit verbundenen differen- Idealisierung des schöpferischen Genies, Shakes-
zierteren qualitativen Einschätzung und gattungs- peare-Begeisterung und Gefühlskult bestehen. Zeit-
mäßigen Zuordnung der Stücke. Auch Befunde, die gleich erscheinen Lessings Dramen Minna von Barn-
die Dramenproduktionen des 18. Jahrhunderts vor- helm (1767), Emilia Galotti (1772) und Nathan der
nehmlich von männlichen ›Vielschreibern‹, wie z. B. Weise (1779), gerne als »Höhepunkte der Dramatik
August von Kotzebue, August Wilhelm Iffland und der Aufklärungsepoche« (Huyssen 1980, 15) apo-
Friedrich Ludwig Schröder, getragen sehen, sind aus strophiert, und setzt der erwähnte Aufschwung der
dieser Optik nicht mehr haltbar (vgl. Kord 1992; Unterhaltungsstücke ein, die mit ihren Erfolgen auf
Fleig 1999). Gerade die ab den 1770er Jahren not- den zeitgenössischen Bühnen die Sturm-und-
wendige Repertoireausweitung eröffnet Frauen, wie Drang-Dramen bei weitem übertreffen.
z. B. S. Albrecht, E. Bürger, M. Ehrmann, W. v. Gers- Der Sturm und Drang wird in der Forschung ent-
dorf, F. S. Hensel (Seyler), C. C. Schlegel, bis dahin weder als Gegenbewegung zur deutschen Aufklä-
noch nie dagewesene Möglichkeiten, als Schriftstel- rung oder als Radikalisierung und Erweiterung der-
lerinnen tätig zu sein. selben bewertet. Indem im antipodischen Konstrukt
Die Abwertung der beim Publikum erfolgreichen vornehmlich die ideologische und ästhetische Re-
Stücke und eine damit verbundene Hierarchisierung volte der dezidiert antihöfisch ausgerichteten Bewe-
von Hoch- und Unterhaltungsliteratur ist für den ab gung unterstrichen wird, lässt dieses die Bezug-
den 1810er Jahren einsetzenden Kanonisierungs- nahme der jüngeren Generation auf die Dramatik
prozess »entlang der Matrix von Originalität und In- und Dramentheorien der Aufklärung außer Acht. So
novation« versus »Serialität und Wiederholbarkeit« ist beispielsweise das Vorbild von Lessings bürgerli-
(Birgfeld/Conter 2007, XV) charakteristisch. Derar- chem Trauerspiel Emilia Galotti hinsichtlich Thema-
tige Wertungen finden in der Theaterpraxis des spä- tik, Figurengestaltung und Konflikt für eine Reihe
ten 18. Jahrhunderts noch nicht statt. Es lassen sich von Sturm-und-Drang-Dramen evident (u. a. Goe-
vielmehr »Austauschprozesse« zwischen Vertretern thes Clavigo, 1774; Schillers Kabale und Liebe, 1784),
der aufkommenden Ȁsthetik der Innovation und ebenso wie Lessings Kritik an der Gottschedschen
Autonomie« und denen der »Ästhetik der Professio- Regelpoetik, die erkenntniskritischen Elemente sei-
9. Aufklärung 259

ner Tragödientheorie, die utopischen Momente im Mensch und Situation hervorzuheben. Das Komi-
Nationaltheaterentwurf (vgl. dazu Schillers ›Mann- sche liegt in der Situation selbst, das Tragisch-Komi-
heimer Schaubühnen-Rede‹) sowie die Betonung sche liegt darin, dass der Mensch diese Situation
von Shakespeares Bedeutung für die zeitgenössische selbst hervorbringt« (Luserke 2001, 90).
deutschsprachige Dramatik von der nachfolgenden Die dominierende Gattung der Sturm-und-
Generation aufgenommen und den eigenen Schwer- Drang-Bewegung, die sich trotz Gruppenbildungen
punkten gemäß adaptiert werden. Dient Shake- vornehmlich um Goethe als Zentralgestalt formiert,
speare in Lessings Schriften vornehmlich als Symbol ist das Drama. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg
in der Polemik gegen Gottscheds ›Gallophilie‹, so wird mit seinen Briefen über Merkwürdigkeiten der
gilt der englische Dichter den Stürmern und Drän- Literatur (1766/67), in denen er wesentliche Aspekte
gern als Inbegriff des »Naturgenies«, das sich keinen der Genieästhetik am Beispiel des gefeierten Shakes-
Regeln unterwirft, aus sich selbst heraus und gemäß peare ausformuliert, und seinem Trauerspiel Ugolino
innerer Gesetzmäßigkeit schöpferisch tätig ist, als (1768) gemeinhin als ein Vorläufer der Sturm-und
ein »Dolmetscher der Natur in all’ ihren Zungen« Drang-Bewegung gewertet. Den eigentlichen künst-
(Herder 1985 ff., 2, 509), an dessen Figuren die ›ko- lerischen Beginn markiert Goethes Schauspiel Götz
lossale Größe‹ bewundert wird (vgl. Goethe 2006, von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773), in
1.2, 414). dessen Nachfolge zahlreiche Ritterdramen entstehen
Das Interesse der Stürmer und Dränger besteht und dessen Erfolg den jungen Autor im deutsch-
weniger im Dramentheoretischen als vielmehr in sprachigen Raum berühmt macht. Sowohl in der
der schöpferischen Praxis. Anstelle von Traktaten Themenwahl (deutsches Geschichtsdrama) als auch
werden die ästhetischen Konzeptionen in Literatur- in seiner am Modell der Shakespeareschen histori-
satiren oder in den Werken selbst formuliert. Zu den schen Dramen orientierten Form- und Sprachgestal-
wenigen programmatischen Schriften des Sturm tung setzt sich Goethes Schauspiel von der Norm-
und Drang zählen neben Heinrich Leopold Wagners poetik ab. Die zeitgenössischen Debatten über Goe-
Übersetzung von Louis-Sébastien Merciers Neuem thes Schauspiel verlaufen denn auch kontrovers und
Versuch über die Schauspielkunst (1776) v. a. Jakob werden retrospektiv als Belege für die Grenzziehung
Michael Reinhold Lenz’ »rhapsodienweis« (Lenz zwischen Aufklärung und Sturm und Drang gedeu-
1992, 2, 641) mitgeteilte Anmerkungen übers Theater tet. So lehnt Lessing das Stück aufgrund der innova-
(1774). Von Herder übernimmt Lenz die Überzeu- tiven Ästhetik ab, während die Befürworter gerade
gung, wonach Dramatik sich gemäß den histori- in der »unauflöslichen Einheit von Gegenstand,
schen Veränderungen zu wandeln habe, favorisiert Dramaturgie und Sprache« (Neuhaus 2004, 95) die
im Gegensatz zum Familien- das Charakterdrama, vorbildlichen radikalen Neuerungen sehen.
für dessen Figurenzeichnung Shakespeares Stücke 1776 gilt als Kulminationsjahr der Dramatik des
vorbildhaft seien, und tritt wie Mercier für ein brei- Sturm und Drang. Neben den Stücken von Johann
tenwirksames, sozialkritisches Theater ein. Lenz’ Anton Leisewitz (Julius von Tarent, 1776) und Klin-
antiaristotelische Position gipfelt in seiner Tragö- ger (Die Zwillinge, 1776), die beide für das Preisaus-
dien- und Komödiendefinition, die er in bewusstem schreiben des Hamburger Theaters verfasst wurden,
Gegensatz zu Lessing formuliert. Demnach sei »der erscheinen auch noch Stücke von Lenz (Die Solda-
Hauptgedanke einer Komödie eine Sache«, also eine ten, 1776), Wagner (Die Kindermörderin, 1776),
komische Begebenheit oder Situation, der »einer Friedrich Müller (Golo und Genovefa, 1775–81) und
Tragödie eine Person« (Lenz 1992, 2, 669), die zu- Goethe (Stella, 1776). Gleichzeitig verweist die pro-
gleich Schöpferin der dramatischen Situation ist. Für duktive Fülle auch schon auf ein Abklingen der Be-
die weitere literarhistorische Entwicklung wird Lenz’ wegung, so dass Schillers ab den 1780er Jahren ent-
darin bereits implizit angedeutetes und in der Rezen- standene Jugenddramen Die Räuber (1781), Die Ver-
sion des Neuen Menoza explizit ausformuliertes Kon- schwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Kabale
zept der Tragikomödie richtungsweisend. Da die und Liebe (1784) entweder als ›letzter Höhepunkt‹
Komödie ein »Gemälde der menschlichen Gesell- oder als ›Nachzügler‹ des Sturm und Drang gewertet
schaft« sei, müssten die »Komödienschreiber ko- werden. Bedingt durch den zeitlichen Abstand sei an
misch und tragisch zugleich schreiben« (Lenz 1992, Schillers frühen Dramen bereits eine kritische Aus-
2, 703). Die Funktion der Tragikomödie bestehe nun einandersetzung mit den um Individualität und Ge-
darin, »die Bedeutung der Verschränkung von nialität kreisenden Konzepten der Stürmer und
260 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Dränger sowie eine Radikalisierung der für die nies« (Stephan 2008, 167) der anderen Sturm-und-
Sturm-und-Drang-Dramatik üblichen »dramaturgi- Drang-Dramatiker unterscheiden. Die 1774 anonym
schen Modelle der Affektanalyse und der Affekt- erschienene und anfangs Goethe zugeschriebene
inszenierung« (Buschmeier/Kauffmann 2010, 100) Komödie Der Hofmeister oder Vortheile der Privat-
zu beobachten. erziehung wird von der zeitgenössischen Rezeption
In den Sturm-und-Drang-Dramen findet eine als Erneuerung des deutschen Lustspiels gelobt,
produktive Auseinandersetzung mit den Themen, auch wenn die bis heute viel diskutierte Gattungs-
die in den bürgerlichen Trauerspielen behandelt problematik schon bei Erscheinen des Stücks be-
werden, statt. Der für die Frühzeit der Gattung typi- wusst ist. In Anlehnung an Lenz’ theoretische Über-
sche ›empfindsame Grundtenor‹ verliert sich weit- legungen zum Komischen werden seine Dramen
gehend, stattdessen werden die Familienkonflikte entweder als »Tragikomödien« (Bartl 2009, 97) apo-
verschärft und um die Dimension der Standesgegen- strophiert oder als »radikale Kritik am bürgerlichen
sätze erweitert. Eine der hervorstechendsten Neue- Trauerspiel der Aufklärung« gelesen, »das er als Ko-
rungen besteht in der durch Gerstenbergs Shake- mödie ad absurdum führt« (Huyssen 1980, 167). Mit
speare-Rezeption beeinflussten Präferenz für die seinen scharfsichtigen Zeichnungen der Figuren, die
Darstellung sogenannter ›Kraftkerle‹, welche »als bei ihm bereits von gesellschaftlichen Zwängen und
Verkörperungen von starken Leidenschaften, die bis Verhältnissen geprägt erscheinen, hat Lenz, so die
ins Pathologische und Monströse getrieben werden« übereinstimmende Meinung, den Typus des »sozia-
(Buschmeier/Kauffmann 2010, 79), das aufkläreri- len Dramas« begründet (vgl. Elm 2004).
sche Ideal der ›mittleren Charaktere‹ sprengen. Im
Interesse an grundlegenden anthropologischen Fra-
gen begründet liegt die dramatische Ausgestaltung
emotionaler wie gesellschaftlicher Grenzüberschrei- 9.4 Fluchtpunkt Humanität –
tungen oder psychischer Extremsituationen, wie sie Dialog mit der Antike
beispielsweise anhand des Kindsmörderinnenmo-
tivs dargestellt werden. Das Motiv der feindlichen Der nur im Deutschen substantivisch gebrauchte
Brüder wiederum sei in der Sturm-und-Drang-Dra- Begriff ›Klassik‹ wird im Verlauf des 19. Jahrhun-
matik auch deshalb so häufig anzutreffen, weil in der derts für die um 1800 vorwiegend in Weimar ent-
Gegenüberstellung »die unterschiedlichen Möglich- standene Literatur gebräuchlich, ist von Beginn an
keiten der menschlichen Natur« (Buschmeier/Kauff- politisch motiviert und wird in der Folge auf das
mann 2010, 81) ausprobiert werden können. In den Jahrzehnt der intensiven Zusammenarbeit Goethes
von Autorinnen verfassten Dramen, z. B. Caroline und Schillers (1794–1805) angewandt (Weimarer
Louise von Klenckes Der ehrliche Schweitzer (1776) Klassik). Aktuelle Forschungen bemühen sich um
oder Christiane Caroline Schlegels Düval und Char- eine Ausweitung der sowohl zeitlich als auch geogra-
mille (1778), werden zwar verwandte Fragestellun- fisch eng gefassten Klassik-Definition, indem das
gen wie die Kritik »an der repressiven Tugendord- komplexe kulturgeschichtliche Phänomen als »Kul-
nung« aufgegriffen, insbesondere mit dem »The- minationspunkt der Aufklärung und Laboratorium
menkomplex Gewalterfahrung in Ehe und Familie« der Moderne« (Schmidt 2008, 12) in der ›Doppel-
aber andere Akzentsetzungen als in den Dramen der stadt‹ Weimar-Jena oder auf Berlin bezogen als
Autoren vorgenommen (Fleig 2003, 290). »Großstadtkultur um 1800« untersucht wird (http://
Als herausragend werden mittlerweile Lenz’ Dra- www.berliner-klassik.de/).
men gewürdigt, die bis ins 20. Jahrhundert im Schat- Bis ins 18. Jahrhundert werden unter klassischen
ten der Jugendwerke Goethes gestanden hatten. So Werken ausschließlich Artefakte der griechischen
werden an seinen ›Komödien‹ Der Hofmeister oder und römischen Antike in ihrer Mustergültigkeit für
Vortheile der Privaterziehung (1774) und Die Solda- die zeitgenössische Kunst verstanden. Für den deut-
ten (1776) die »Zunahme und die Konkretisierung schen Sprachraum werden die ab den 1750er Jahren
des sozialkritischen Elements« (Stephan 2008, 166) erscheinenden Antikestudien Johann Joachim Win-
sowie die Neuerungen in Dramenform und Figuren- ckelmanns und seine daraus resultierende Interpre-
gestaltung herausgestellt, die sich sowohl von den tation eines vorbildlichen idealen Griechentums
idealtypischen Zeichnungen des frühen bürgerli- prägend, wonach das »allgemeine vorzügliche Kenn-
chen Theaters als auch von den »stilisierten Kraftge- zeichen der Griechischen Meisterstücke […] eine
9. Aufklärung 261

edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der »beschränkte[n] Interesse der Gegenwart« (Schiller
Stellung als im Ausdruck« (Winckelmann 1995, 30) 1985 ff., 8, 1001) sollten die Beiträge einem allgemei-
sei. nen und höheren Interesse an dem, »was rein
Konträr zu den Prinzipien der Stürmer und Drän- menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erha-
ger gilt das Interesse der klassizistisch ausgerichteten ben ist« (Schiller 1985 ff., 8, 1001), dienen, da »alle
Autoren wieder einer Regeln verpflichteten Ästhetik wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustan-
und Poetik, für deren Konzepte Autonomie und des« vom »stillen Bau besserer Begriffe, reinerer
Harmonie des Kunstwerks, das Bemühen um eine Grundsätze und edlerer Sitten« (Schiller 1985 ff., 8,
systematische Gattungspoetik sowie die Orientie- 1002) abhänge. Die zeitgenössische Kritik am elitä-
rung an antiker Mythologie, Dichtung und Kunst ren Anspruch und am politischen Konservativismus
wesentlich sind. In engem Zusammenhang mit den des Horen-Projektes lässt sich auch als Beleg dafür
ästhetischen und poetischen Überlegungen steht das lesen, dass der aufklärerische Bildungsanspruch »in
Programm einer ästhetischen Erziehung, d. h. das eine Krise gerät, weil das Publikum sich ausdifferen-
Ideal einer über die Kunstrezeption initiierten ge- ziert und v. a. den komplexen Projekten der kulturel-
samtheitlichen Persönlichkeitsbildung. In Schillers len Elite nicht mehr zu folgen bereit ist« (Hofmann
Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen 2005, 526).
(1795) wird der individuelle Bildungsanspruch auf
die Utopie eines ›ästhetischen Staates‹ ausgeweitet,
der »ohne Zwang und Gewalt die vernünftigen For- 9.4.1 Tragödientheorie für ein
derungen der Allgemeinheit und die sinnlichen Be- ›Theater der Freiheit‹
dürfnisse der Einzelnen in Einklang bringe«
(Buschmeier/Kauffmann 2010, 59). Schillers 1791 einsetzende mehrjährige Beschäfti-
Während in Europa fundamentale politische und gung mit dramentheoretischen Grundfragen geht
gesellschaftliche Umbrüche in bis dahin ungewöhn- aus seiner intensiven Kant-Lektüre während der Ge-
licher Rasanz stattfinden (Französische Revolution, sundung von einer lebensbedrohlichen Erkrankung
Koalitionskriege, Auflösung des Alten Reiches, all- hervor. Vor allem die Rezeption der Kritik der Ur-
mähliche Ablösung des feudalistischen Ständesys- teilskraft (1790) wird für seine Überlegungen zum
tems, ›Verbürgerlichung‹ der Gesellschaft), scheinen »Erhabenen« zentral. In den zwischen 1792 und
die auf Geschlossenheit und Statik abzielenden äs- 1801 erscheinenden Schriften beschäftigt sich Schil-
thetischen Ideale der ›Klassiker‹ apolitische Rück- ler u. a. mit den Gründen für das »Vergnügen an tra-
zugsmaßnahmen oder konservative Reaktionen auf gischen Gegenständen«, den Wirkungsmechanis-
die aktuellen Probleme der Gegenwart zu sein. Ne- men, Darstellungsproblemen und dem Zweck des
ben denjenigen Deutungstraditionen, die in den Tragischen. Erst nach Abschluss der theoretischen
klassischen Werken vornehmlich ›überzeitliche‹ Studien, die immer auch an konkreten dramaturgi-
Themen ohne konkrete gesellschaftspolitische Be- schen Fragestellungen interessiert sind, wendet sich
zugnahmen gestaltet sehen, gab es auch Versuche, Schiller mit der Wallenstein-Trilogie (1800) wieder
das komplizierte Verhältnis von Ausweichen und der Dramenpraxis zu.
Auseinandersetzen zu entschlüsseln, mit dem von Wirkung und Zweck der Tragödie beschreibt
den ›Klassikern‹ gesellschaftliche Fragen behandelt Schiller mit dem für seine Theorie grundlegenden
werden. Alt beispielsweise weist neuerlich auf »die Begriff des ›Pathetischerhabenen‹: »Die Vorstellung
politische Reflexion als zentrales Thema für das eines fremden Leidens, verbunden mit Affekt und
klassische Drama um 1800« (Alt 2008, 9) hin und mit dem Bewußtsein unsrer innern moralischen
unterstreicht die indirekte Präsenz des Politischen Freiheit, ist Pathetischerhaben« (Schiller 1985 ff., 8,
auch in den künstlerischen Konzeptionen der Thea- 419). Die beiden »Fundamentalgesetze aller tragi-
terpraxis. Symptomatisch für verdeckte politische schen Kunst« bestehen nach Schiller in der »Darstel-
Bezugnahmen ist das 1794 als repräsentatives Organ lung der leidenden Natur« (Pathos) und der »Dar-
der Weimarer Klassik angekündigte Horen-Projekt stellung der moralischen Selbständigkeit im Leiden«
Schillers, in dem der aufklärerische Anspruch von (das Erhabene) (Schiller 1985 ff., 8, 422). Ziel der
unterhaltender Belehrung des Publikums mit einer Tragödie sei es, durch die Wahrnehmung des Wider-
zum Programm erhobenen strikten tagespolitischen standes, der dem tragischen Helden in der Überwin-
Abstinenz verbunden wird. Als Gegenentwurf zum dung des Leidens abgefordert wird, im Zuschauer
262 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

das Bewusstsein des ihm selbst inhärenten Freiheits- unterschiedlichsten Texten verstreute Anmerkun-
prinzips zu aktivieren. gen zum Tragischen und zur Tragödie. Auffallend
Der Theaterpraktiker Schiller geht davon aus, daran ist, dass Goethe der kathartischen Wirkung
dass die Wirkung der Tragödie nicht vom Inhaltli- geradezu misstraut und die Tragödie auf die ihr in-
chen, also dem gewählten Stoff, sondern von dessen härente Konfliktstruktur begrenzt, deren »antinomi-
formaler Gestaltung herrühre. Wie Aristoteles und sche Spannungen keine dauerhafte – moralische
Lessing gibt Schiller »den gemischten Charakteren« oder metaphysische – Überwindung finden« (Alt
(Schiller 1985 ff., 8, 273) den Vorzug, um an ihnen 2008, 36). Als beispielhaft dafür kann Goethes
den anthropologisch begründeten Konflikt zwi- ›Künstlerdrama‹ Torquato Tasso (1790) gelten.
schen den antagonistischen Kräften des Sinnlichen Während seiner letzten fünf Lebensjahre erweist
und des Sittlichen zu veranschaulichen. Der große sich Schiller als äußerst produktiver und erfolgrei-
Unterschied zu Lessings Mitleidskonzeption besteht cher Dramatiker, dessen Geschichts- und Ideendra-
jedoch in der Bewertung des sich unwillkürlich ein- men (Wallenstein, 1800; Maria Stuart, 1801; Die
stellenden »teilnehmenden Schmerz[es]« (Schiller Jungfrau von Orleans, 1801; Die Braut von Messina
1985 ff., 8, 419). Während für Lessing gerade das oder die feindlichen Brüder, 1803; Wilhelm Tell, 1804)
identifikatorische Moment Voraussetzung für um- als formale Experimente interpretierbar sind, die
fassende Erkenntnis ist, muss nach Schiller »die sich zudem beträchtlich voneinander unterscheiden.
Sympathie in ihren ästhetischen Grenzen« (Schiller Mit jedem neuen Stoff ist er bemüht, »die Form neu
1985 ff., 8, 420) bleiben, um eine bewusstseinsför- zu erfinden« und »sich den Gattungsbegriff immer
dernde Funktion erfüllen zu können. Selbsttätige beweglich« (Goethe 2006, 8.1, 803) zu erhalten.
Reflexion und die über das Pathetischerhabene ver- 1791 wird Goethe mit der Leitung des Weimarer
mittelte Einsicht in die eigene (moralische) Freiheit Hoftheaters betraut, das er bis 1817 als Theaterdi-
erfordere eine Distanzierung vom Bühnengesche- rektor führt. Schiller übernimmt während der ge-
hen. Für die Theaterpraxis ergibt sich daraus eine meinsamen Zusammenarbeit maßgebliche drama-
Abkehr von dem ab der Jahrhundertmitte präferier- turgische Tätigkeiten, so z. B. die Bühneneinrich-
ten Ideal illusionistischer Täuschung. tung der Goethe-Dramen Egmont (1791) und
Iphigenie auf Tauris, die Bearbeitungen von Shakes-
peares Macbeth (1606) und Othello (1604) oder Goz-
9.4.2 Idealistische Dramatik und Theaterpraxis zis Turandot (1762).
Bestimmen in den ersten Jahren von Goethes Di-
In Goethes Werk lässt sich seit den 1780er Jahren rektionstätigkeit Stücke der ›realistischen‹ Richtung
eine zunehmende Neigung zu klassischen Stoffen das Repertoire, verändert sich der Stil des Hofthea-
und Formen bemerken, zu einer Zeit also, als Schil- ters um die Jahrhundertwende hin zum forcierten
ler gerade mit seinen Jugenddramen an die Öffent- ›antinaturalistischen‹ Ideal. Mit den neuen Inszenie-
lichkeit tritt. Auf dem Gebiet des Dramas markiert rungs- und Darstellungskonzepten sollte Einfluss
die 1779 begonnene und auf der ersten italienischen auf die Geschmacksbildung des Publikums und die
Reise 1787 abgeschlossene Arbeit an Iphigenie auf Erziehung der Schauspieler genommen werden. Be-
Tauris den Beginn der sogenannten klassischen sondere Bedeutung für die von Goethe und Schiller
Schaffensperiode. Mit der Versifizierung der ur- angestrengte idealistische Theaterreform haben Wil-
sprünglichen Prosafassung wird unübersehbar der helm von Humboldts Pariser Briefe, die von Goethe
formale Abstand zu den zeitgenössischen Ausfor- unter dem Titel »Ueber die gegenwärtige Französi-
mungen der Komödie und des bürgerlichen Trauer- sche tragische Bühne« 1800 in den Propyläen her-
spiels hervorgehoben, eine Notwendigkeit, für die ausgegeben werden. Darin versucht Humboldt, die
Goethe Jahrzehnte später in der Einführung zu sei- während seines Frankreichaufenthaltes gesammel-
ner Mahomet-Bearbeitung und Schiller in der Vor- ten Beobachtungen und Überlegungen zum ›franzö-
rede zur Braut von Messina (1803) plädieren. Beide sischen Nationalcharakter‹ anhand einer Gegen-
wählen für ihre Dramen den Blankvers, der sich im überstellung französischer und deutscher Schau-
Deutschen seit Lessings Nathan der Weise durchge- spielkunst zu systematisieren und für eine erst zu
setzt hat. entwickelnde ideale Kunst der Darstellung nutzbar
Anders als Schiller verfasst Goethe keine syste- zu machen. Die französischen Schauspieler vereinig-
matische Tragödientheorie. Vielmehr finden sich in ten in sich malerische, bildhauerische und tänzeri-
9. Aufklärung 263

sche Fähigkeiten, wodurch ihr Spiel, v. a. in der Ver- gen für Deklamation, Rezitation und rhythmischen
bindung von musikalischer Deklamation und rhyth- Vortrag enthalten. Daneben vermitteln die Regeln
misierter Bewegung, über »künstlerische Harmonie für die Schauspieler auch Grundlagen einer sozialen
und Schönheit« (Humboldt 1903, 377) verfüge, mit Erziehung der Akteure, denn der »Schauspieler soll
den übrigen Künsten »einen engern Bund« (Hum- auch im gemeinen Leben bedenken, daß er öffent-
boldt 1903, 377) eingehe und überdies den inhären- lich zur Kunstschau stehen werde« (Goethe 2006,
ten Kunstcharakter niemals verleugne. Die deutsche 6.2, 742). Goethe richtet seinen Bühnenstil an höfi-
Schauspielkunst stehe vor der Aufgabe, die ihr ei- schen Verhaltensmustern aus, an deren Vorbildhaf-
gene Befähigung zu individueller, geradezu psycho- tigkeit für den allgemeinen gesellschaftlichen Um-
logisierender Charakterisierung mit den Vorzügen gang kein Zweifel gelassen wird. »In der Konzentra-
der französischen künstlerisch so eng zu verbinden, tion auf eine Grammatik des Körpers, die sich der
»dass auch der geübteste Zuschauer es nicht mehr Ordnung der Sprache unterwirft, führt Goethes
trennen kann« (Humboldt 1903, 395). Theaterästhetik die Grundsätze des französischen
In der Vorrede zur Braut von Messina (»Über den Klassizismus fort« (Alt 2008, 29). Bereits 1808, also
Gebrauch des Chors in der Tragödie«) formuliert noch vor der Publikation der Regeln für Schauspieler,
Schiller programmatisch die Schwerpunkte klas- erscheint eine Parodie auf die »verbildete[n] Semi-
sisch-idealistischer Dramatik und Bühnenpraxis, nar-Schauspieler« (zit. n. Borchmeyer 1992, 269) des
wie den in der Kunst zu vollziehenden Wandel von Weimarer Hoftheaters, die ein ehemaliges Ensem-
Natur in Idealität, wodurch allein ›Wahrheit‹ dar- blemitglied als Befürworter einer ›realistischen‹
stellbar werde. Die Wiedereinführung des Chors Schauspielkunst verfasst hatte.
diene dazu, »dem Naturalism in der Kunst offen und Dramatik und Dramentheorien des 18. Jahrhun-
ehrlich den Krieg zu erklären« (Schiller 1985 ff., 5, derts lassen sich als Dialoge der Aufklärung verste-
285). Zentrale Parameter idealistischer Schauspiel- hen; anders als später in der Krise des Dramas sind
kunst und Dramatik sind somit die strikte Trennung es hier durch Krisen geprägte Dialoge.
von Kunst und Natur, die Abgrenzung der Bühne
von der Realität und damit einhergehend die Stilisie-
rung der Bühne zum »heilige[n] Bezirk« und des Literatur
Theaters zum »ernsten Tempel« (Schiller 1985 ff., 1, Alt, Peter-André: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes
158). Das ideale Drama wird als »Gesamtkunst- und Schillers. München 2008.
werk« gesehen, »in dem sich die Sprache zum Lied Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch [1982]. Übers. u.
hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994.
und die Bewegung zum Tanz erhebt« (Borchmeyer Bartl, Andrea: Die deutsche Komödie. Metamorphosen des
1998, 376). Folgerichtig gilt gerade die von Gott- Harlekin. Stuttgart 2009.
sched so sehr verachtete Oper den Weimarer Klassi- Bauer, Roger/Wertheimer, Jürgen (Hg.): Das Ende des Ste-
kern als Vorbild für die eigenen Reformen, da die greifspiels – Die Geburt des Nationaltheaters. Ein Wende-
punkt in der Geschichte des europäischen Dramas. Mün-
Oper auf »servile Naturnachahmung« (Goethe 2006, chen 1983.
8.1, 478) verzichte. Bender, Wolfgang F. (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhun-
Die Reformideen für Dramatik und Bühnenpra- dert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992.
xis sehen sich als Kontrapunkt zu den beim Publi- Birgfeld, Johannes/Conter, Claude D.: »Das Unterhaltungs-
kum so erfolgreichen Unterhaltungsstücken und die stück um 1800. Funktionsgeschichtliche und gattungs-
geschichtliche Vorüberlegungen«. In: Birgfeld, Johan-
Praxis ›realistisch-psychologischer‹ Darstellung. nes/Conter, Claude D. (Hg.): Das Unterhaltungsstück um
Kurz nach Goethes Tod erscheinen 1832 die aus Mit- 1800. Hannover 2007, VII-XXIV.
schriften seiner Schauspielschüler hervorgegange- Borchmeyer, Dieter: »Saat von Göthe gesäet… Die ›Regeln
nen und von Eckermann redigierten Regeln für für Schauspieler‹ – ein theatergeschichtliches Gerücht«.
In: Bender, Wolfgang F. (Hg.): Schauspielkunst im 18.
Schauspieler, in denen Grundzüge idealistischer Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart
Schauspielkunst, ausschließlich bezogen auf die Tra- 1992, 261–287.
gödiendarstellung, durch Anweisungen für die kör- Borchmeyer, Dieter: Weimarer Klassik. Portrait einer Epo-
perliche und v. a. sprachliche Disziplinierung ver- che. Weinheim 1998.
mittelt werden sollten. Die großen Schwierigkeiten Buschmeier, Matthias/Kauffmann, Kai: Einführung in die
Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klas-
für Schauspielanfänger, die versifizierten Dramen zu sik. Darmstadt 2010.
sprechen, sind der Grund für die detaillierten Aus- Eke, Norbert Otto: Signaturen der Revolution. Frankreich –
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264 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

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Wurst, Karin A.: Frauen und Drama im achtzehnten Jahr-
hundert. Köln/Wien 1991. 1881). Der konkrete Auslöser hierfür war das Gast-
Beate Hochholdinger-Reiterer spiel Bogumil Dawisons im Berliner Königlichen
Schauspielhaus gewesen, dessen großer Publikums-
erfolg die Theaterleitung 1855 dazu bewogen hatte,
den Orchesterraum in Zuschauerplätze zu verwan-
deln und ganz auf die bis dahin obligatorischen Mu-
sikeinlagen zu verzichten – eine Praxis, die Liszt aus-
drücklich zur Nachahmung empfahl (vgl. Schmidt
2006, 66). Dahinter stand allerdings keineswegs eine
generelle Ablehnung der Schauspielmusik, sondern
vielmehr das Plädoyer für einen dramaturgisch ge-
nau kalkulierten Einsatz dieses Wirkungsmittels,
unter Berufung auf bestimmte, als herausragend
empfundene Partituren wie Beethovens Egmont-
oder Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum-
Musik, denen damals bereits der Status von eigen-
ständigen, auch im Konzertsaal beheimateten Wer-
ken zugewachsen war (im Fall des Egmont sogar
autorisiert durch Goethe, der die für den Konzertge-
brauch erstellte Textfassung Friedrich Mosengeils
ausdrücklich gutgeheißen hatte; vgl. Lühning 2003,
181 f.). Liszt schloss sich in seinem Aufsatz an den
von Adolf Bernhard Marx 1825 formulierten Ge-
danken an, dass die gängige Praxis, jede Pause zwi-
schen den Akten eines Schauspiels mit mehr oder
weniger passenden Kompositionen zu überbrücken,
nichts als eine unreflektierte Gewohnheit sei, die es
zu überwinden gelte, um »nur da Musik zu geben,
wo sie nothwendig und erfolgreich ist« (Marx 1825,
335). Liszt wie Marx rekurrierten dabei auf eine of-
fenbar allgemein bekannte Erfahrung, die schon
1802 in Heinrich Christoph Kochs Musikalischem
Lexikon aktenkundig geworden war, dass nämlich
der »Lärm, der gemeiniglich nach dem Falle des
Vorhanges beginnt«, das Desinteresse des Publi-
266 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

kums an musikalischen Entr’actes deutlich genug der Stuart-Restauration 1660 eine transformierte
belege (Koch 1964, 539) – ein Umstand, der sich Fortsetzung in Gestalt der Semi-Opera erfuhr (etwa
wiederum entsprechend negativ auf Motivation und Henry Purcells The Fairy Queen nach Shakespeares
Disziplin der Orchestermusiker auswirkte, was A Midsummer Night’s Dream, 1692; vgl. Price 1979).
durch Quellen aus der Theaterpraxis einschlägig do- Ähnlich hybride Gattungsmischungen zwischen
kumentiert ist (vgl. Radecke 2007, 105). Sprechdrama, Tanz, Gesang und Instrumentalmusik
Kann also in diesem Sinne für das 19.  Jahrhun- vollzogen sich seit dem späten 16.  Jahrhundert in
dert eine Abkehr von der obligatorischen Musik im Frankreich mit Ballet de cour und Comédie-ballet,
Schauspiel konstatiert werden, gegenläufig zur No- wie auch das Theater eines Calderón oder Lope de
bilitierung einzelner Partituren wie Beethovens Eg- Vega im spanischen Siglo de Oro niemals ohne Mu-
mont-Komposition zu Kunstprodukten sui generis, sik auskam.
so gilt mit Blick auf vorherige Epochen, dass sich die Vor diesem Hintergrund fließender – oder besser:
Darbietungsformen kaum je in eindeutiger Weise schlechterdings nicht vorhandener – Grenzen zwi-
dem Sprech- oder dem Musiktheater zuordnen las- schen den einzelnen Theaterformen erstaunt es
sen, da sie in der Regel unterschiedlich akzentuierte umso weniger, dass die Entstehung der Oper, des
Mischgattungen ausprägten – multimediale Büh- Dramma per musica, um 1600 in Italien nur die
nenereignisse, zu denen die Musik als unverzichtba- letzte Folge einer vielfältig ausdifferenzierten Ten-
rer Bestandteil gehörte, und dies seit den Anfängen denz zur Integration von Musikbestandteilen in
des Theaters in der Antike. Schauspielaufführungen darstellte, wobei hier stich-
Quellen zur Frühgeschichte der Bühnenmusik wortartig an die Gattung der Rappresentazione sacra,
sind freilich rar, wenn man von Quintilians Diag- die Tradition der Intermedien und Pastoralspiele so-
nose des Verfalls dieser spezifischen Kunst im römi- wie ganz besonders an Andrea Gabrielis Vertonung
schen Theater und vereinzelten Bemerkungen zur der Chöre für die erste neuzeitliche Inszenierung
»musica lasciva in scenicis ac theatralibus« in dem von Sophokles’ König Ödipus erinnert sei (in italieni-
zwischen 1321 und 1325 verfassten Traktat Specu- scher Übersetzung als Edipo Tiranno, 1585). Aus
lum Musicae von Jacobus Leodiensis absieht (vgl. demselben Jahr 1585 datiert auch eine breiter ge-
Meier 1999, 34 f.). Aus dem späten 15. Jahrhundert fasste, 1598 im Druck erschienene Theorie der Büh-
ist die an Humanistenschulen gepflegte Praxis über- nenmusik, formuliert von Angelo Ingegneri in sei-
liefert, römische Komödien und Tragödien (Terenz, nem Traktat Del modo di rappresentare le favole
Seneca) mit »antikisierenden Chören an den Akt- sceniche, wo es mit einer bezeichnenden Volte über
schlüssen« aufzuführen (Schmidt 2006, 18), woraus die (instrumental vorgetragenen) Zwischenakte in
sich schon bald dasjenige entwickelte, was später Komödien und Pastoralen heißt, sie müssten »zur
»Zwischenaktmusik« oder »Entr’acte« heißen sollte. Beruhigung und Besänftigung der Gemüter verwen-
Wo das Fehlen geeigneter Sänger die Rekrutierung det« werden, »ohne in den Zuschauern die Begierde
von Stadtpfeifern oder Spielleuten notwendig zu erwecken, sich mit dem Begreifen der Handlung
machte, war der Schritt zur rein instrumentalen weiter abzumühen« (Ingegneri 1959, 86 f.). In dieser
Bühnenmusik vollzogen; ein Dokument aus der Fe- Aussage kommt eine doppelte Intention zum Tra-
der des Pfarrers und Dichters Johann Rist lässt sogar gen, die für die Entr’actes ebenso bestimmend wie
darauf schließen, dass bereits in der Mitte des umstritten bleiben sollte, dass nämlich die Musik
17.  Jahrhunderts melodramatische Techniken zur den Zuschauer einerseits zerstreuen und ablenken
Anwendung kamen, ist doch bei ihm davon die müsse, was durchaus eine affektive Entfernung vom
Rede, dass die Streicher zuweilen »gar submisse« jeweiligen Drama impliziert, andererseits aber ge-
spielen würden, damit der Schauspieler »dabei reden rade dadurch das Herausfallen aus der theatralen Il-
kann« (Meier 1999, 36; vgl. auch Schmidt 2006, 19). lusion in die Realität der (Umbau-)Pause verhindern
Eine erste Hochblüte der Bühnenmusik entfaltete könne – ein Aspekt, der die Verwendung der Büh-
sich im England des 16. und 17. Jahrhunderts, was nenmusik im französischen Theater des 17.  Jahr-
nicht nur die differenzierte, im Dramentext vielfach hunderts unter den Vorzeichen der doctrine clas-
nachweisbare Verwendung der Musik bei Shake- sique (vgl. Kap. III.8) nachhaltig dominierte (vgl.
speare belegt (vgl. Leiting 1999), sondern auch das Schmidt 2006, 21 ff.).
Entstehen von multimedialen ›Gesamtkunstwerken‹
wie der höfischen Masque (vgl. Kap. III.5), die nach
10. Bühne und Musik/Bühnenmusik 267

10.2 Reformansätze im 18. und nien [sic!], die zu einem Schauspiele verfertiget wer-
frühen 19. Jahrhundert: den, […] sich überhaupt auf den Inhalt, oder auf
Von der Theorie zur Praxis die  Beschaffenheit desselben beziehen« müssten
(Scheibe 1970, 612, 614). Ausgehend vom Modell
der dreisätzigen (italienischen) Sinfonia forderte
Zumindest für den deutschen Sprachraum können Scheibe, dass sich die Eröffnungsmusik sowohl
»das letzte Drittel des 18. und das erste Drittel des »nach dem Inhalte des Stückes« als auch »nach dem
19.  Jahrhunderts […] als eine Blütezeit der Schau- Anfange desselben« zu richten habe (Scheibe 1970,
spielmusik angesehen werden« (Beck/Ziegler 2003, 609), wobei die ersten beiden Sätze an den affektiven
10), begünstigt durch die Institutionalisierung ›ste- »Hauptcharakter« des jeweiligen Dramas gekoppelt
hender‹ Bühnen anstelle der improvisierten Auffüh- werden sollten, der letzte aber – vorbereitend – an
rungsmodalitäten reisender Wandertruppen und die die konkrete Ausgangssituation der Bühnenhand-
vielerorts stattfindende Gründung von Hof- und lung (Scheibe 1970, 605). Ähnlich formulierte
Nationaltheatern. Dabei machte das aufklärerische Scheibe im Hinblick auf die Zwischenaktmusiken,
Postulat der ›Reinigung‹ des Theaters vor der Musik sie müssten »theils mit dem Schlusse des vorherge-
selbstverständlich nicht Halt: Wie Johann Christoph henden Aufzuges, theils aber mit dem Anfange des
Gottsched die Figur des Hanswurst von der Bühne folgenden Aufzuges überein kommen« (Scheibe
vertrieben wissen wollte, so stieß er sich auch daran, 1970, 614), also eine explizit vermittelnde Funktion
dass die »Instrumente […] zwischen jedem Aufzuge erfüllen.
mit allerhand lustigen Stücken« vernehmbar seien Dieser letzte Punkt traf jedoch auf prominenten
und damit die Aufmerksamkeit der Zuschauer vom Widerspruch. Lessing zitierte 1767 im 26. Stück sei-
Inhalt der jeweiligen Tragödie ablenken würden. ner Hamburgischen Dramaturgie zwar weitläufig
Sein auf das Illusionsprinzip und die Homogenitäts- und insgesamt zustimmend aus Scheibes Critischem
forderung des französischen Klassizismus sowie auf Musikus (1745), bezog aber unter dem Primat der
die Poetik des Barocktheaters gegründeter Vor- Affekteinheit (»in einer Symphonie muß nur eine
schlag, stattdessen in den Pausen »eine nach unserer Leidenschaft herrschen«) sowie mit der Begrün-
Art eingerichtete Cantate […] absingen zu lassen«, dung, der »tragische Dichter« lasse sich »seinen
die »moralische Betrachtungen« über die »kurz zu- Gang nicht gern voraus verraten«, gegen den Wech-
vor gespielten Begebenheiten« anstellen und zu- sel von retrospektiven und antizipierenden Momen-
gleich das Publikum »in dem Affecte […] erhalten« ten in der Musik Stellung und plädierte dafür, den
könnte, fand jedoch keinen Eingang in die Praxis Affektgehalt der Entr’actes immer nur von den je-
(Gottsched 1973, 329; vgl. Ernst 2003). In direkter weils vorhergegangenen Handlungsbegebenheiten
Anlehnung an Gottsched (vgl. Reichel 1900/01) be- abzuleiten (Lessing 1986, 135, 133). Zudem be-
klagte Johann Adolph Scheibe 1739, dass die allge- merkte er, dass Scheibe zwar kluge Regeln gegeben,
mein herrschende Nachlässigkeit und Willkür bei also gesagt habe, »was geschehen soll«, aber nicht,
der Zusammenstellung von Schauspielmusiken »wie es geschehen kann« (Lessing 1986, 131). In der
selbst für das ›vernünftige‹ Theater der berühmten Tat beschränken sich die Ausführungen im Criti-
Prinzipalin Friederike Caroline Neuber symptoma- schen Musikus diesbezüglich eher auf vage Allge-
tisch sei, »indem man so wohl in Trauerspielen, als meinplätze wie etwa denjenigen, dass »ein Trauer-
Freuden- oder Lustspielen, nicht den geringsten Un- spiel […] mit einer traurigen Synphonie anfangen«
terschied« mache und »sich weder nach dem Inhalte müsse, die »prächtig, feurig und geistreich« zu set-
der Worte, noch nach den Charakteren der Perso- zen sei (Scheibe 1970, 605, 615).
nen« richte (Scheibe 1970, 612). Um dem diagnosti- Die hier sich abzeichnende Möglichkeit einer Ste-
zierten Problem abzuhelfen, gab Scheibe mit zwei reotypenbildung, die die affektive Synchronisierung
1738 für Caroline Neuber komponierten (heute ver- von Drama und Musik nicht zwangsläufig davon ab-
schollenen) Einleitungssymphonien zu Corneilles hängig macht, dass zu jedem Stück oder jeder Insze-
Polyeucte Martyr (1642/43) und Racines Mithridate nierung eine neue Komposition verfasst wird, sollte
(1673) selbst ein praktisches Exempel und schlug später für die Praxis große Bedeutung erlangen.
vor, dass künftig »zu einem jeden Schauspiele auch 1805 regte ein Autor unter dem Pseudonym G.K. To-
eine eigene Musik« zu verfassen sei, unter der bis da- lev an, »für die gangbarsten und ausgezeichnetsten
hin vernachlässigten Prämisse, dass »[a]lle Synpho- Schauspiele […] eine Sammlung von Tonstücken«
268 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

zu schreiben, »die eigends für die Unterstützung der 10.3 Bühnenmusik im eigentlichen
Wirkungen des Theaters berechnet wäre« (Tolev Sinne: Shakespeare, das
1805, 807). Dürfte bei dieser Äußerung noch an Mu- Melodram und die Ästhetik
siken gedacht worden sein, die sich jeweils auf ein
bestimmtes Drama beziehen sollten, so brachte ein
des Wunderbaren
anonymer Autor – möglicherweise Johann Friedrich
Rochlitz (Schmidt 2006, 56, Anm. 206) – zehn Jahre Bezogen sich die oben skizzierten Reformansätze im
später den Vorschlag an, im Theater Stücke aus dem Wesentlichen auf die Rahmenmusiken einer Schau-
symphonischen Repertoire zu sammeln und mit Be- spielaufführung (Ouvertüre, Entr’actes und gegebe-
zeichnungen »als: froh, unschuldig, klagend, nenfalls Schlussmusik), so waren die in das Bühnen-
schmerzvoll, feurig etc.« zu versehen. »Dann hätte geschehen integrierten musikalischen Bestandteile
der Regisseur oder Directeur dem Anführer des Or- weitaus seltener Gegenstand theoretischer Reflexion
chesters an jedem Abende nur einen Zettel mitzu- (zu den verschiedenen Arten von Schauspielmusik
theilen, z. B. Act 1. freudig, Act 2. wild, Act 3. kla- und der entsprechenden Terminologie vgl. Alten-
gend u. s. w., und auf diese Art würde man wenigs- burg 1999, 429 ff.). Die als Realitätszitat fungierende
tens einigermassen die Musik mit dem Stück in Inzidenzmusik (Fanfaren, Jagdsignale, Ständchen,
Verbindung bringen können« (Anonymus [Rochlitz] Trinklieder etc.) wurde erst um 1800 unter dem Ge-
1815, 498). Dass dies gängiger Praxis entsprach, lässt sichtspunkt ihrer szenischen Motivierung näher in
sich an den erhaltenen Aktenbeständen etwa des den Blick genommen, wobei sich zwischen Singspiel
Weimarer Hoftheaters studieren, detailliert nach- (mit gesprochenen Dialogen) und Sprechdrama (mit
vollziehbar zum Beispiel für Goethes 1817 aufge- Gesangseinlagen) weitreichende Korrespondenzen
führte Bearbeitung von Kotzebues Der Schutzgeist ergaben, was einmal mehr das zeitgenössische Ver-
(vgl. Schmidt 2006, 54 ff.). Als Fundus diente der üb- ständnis von der institutionellen und ästhetischen
liche Bestand an Symphonie- und Solokonzertsätzen »Einheit« beider Theaterformen dokumentiert (Krä-
verschiedenster Komponisten. Jedoch wurden nach mer 1998, 29; vgl. auch Betzwieser 2002, 194 ff.); dass
dem Muster der »Typendekoration im Bühnenbild« Friedrich Wilhelm Gotters und Georg Anton Ben-
(Langer 2003, 245) auch Sammlungen von speziell das Romeo und Julie (1776) in verschiedenen Quel-
für das Theater gedachten, aber variabel einsetzba- len wahlweise als Singspiel, als Schauspiel mit Ge-
ren Entr’actes komponiert (vgl. Larsen 1999, 71 ff.) – sang oder als Oper erscheint, stellt hierfür nur eines
ein Verfahren, das später in der Praxis der Stumm- von vielen Zeugnissen dar (vgl. Radecke 2007, 102).
film-Begleitung fortleben sollte; als Beispiele seien Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang
hier Peter Joseph von Lindpaintners (nachweislich E.T.A. Hoffmanns Kritik an Beethovens Vertonung
auch in Berlin, Dresden und Weimar verwendete) 15 von Klärchens »Die Trommel gerühret« aus Egmont,
Entr’actes für das k. Hof-Theater Stuttgart (1825/26) die er einer zu großen Opernhaftigkeit bezichtigt:
und Conradin Kreutzers wohl in den 1840er Jahren Im Schauspiel solle »das Lied wirklich ein Lied«, das
publizierte Originalkompositionen für Orchester als heißt als realistische Äußerungsform der betreffen-
Entre-Actes bei Theatern und Concerten op. 110 ge- den Person unter den gegebenen Umständen denk-
nannt. Kennzeichen dieser genuinen Zwischenakt- bar sein, während der »erhöhte poetische Zustand«
musiken ist ihr gleichsam ›modularer‹ Formaufbau, der Oper die Musik von vornherein legitimiere
nach dem ›Baukastenprinzip‹ aus kleinen periodi- (Hoffmann 1977, 174). Hoffmann zeigt hier eine
schen Einheiten gefügt, was Auslassungen und Wie- »gänzlich konservative Haltung« (Betzwieser 2002,
derholungen und damit eine flexible Anpassung an 199), indem er die Transzendierung des Textes
die Zeitdauer der jeweiligen Umbaupause ermög- durch Musik vom Schauspiel fernhalten möchte –
lichte. entgegen jener Syntheseversuche, die im 18. und
19.  Jahrhundert unter dem Stichwort des Melodra-
matischen Konjunktur hatten. Ungeachtet entspre-
chender Vorformen des Zusammenwirkens von De-
klamation und Instrumentalbegleitung seit dem
17.  Jahrhundert, etwa in jesuitischen Schuldramen
(vgl. Kühn 2001, 114 ff.), kann man ohne Übertrei-
bung festhalten, dass der Ausgangspunkt hierfür v. a.
10. Bühne und Musik/Bühnenmusik 269

die Stücke Shakespeares waren, von denen Heinrich lodrams, das heißt des rhythmisch fixierten Spre-
Wilhelm von Gerstenberg schon 1766 sagte, sie wür- chens über fortlaufender Orchesterbegleitung, wie
den sich »fast ganz der Natur der Oper nähern« sie Carl Maria von Weber erstmals 1820 in seiner
(zit.  n. Cloot 1999, 33). In seinem Aufsatz Über Musik zu Pius Alexander Wolffs Preciosa anwandte,
Shakspeare’s [sic!] Behandlung des Wunderbaren dürfte in diesem Sinne weniger eine Neuheit als viel-
(1796) brachte Ludwig Tieck gerade die phantasti- mehr nur das schriftliche Festhalten einer längst ge-
schen Momente in Dramen wie Macbeth (1611), A übten Praxis bedeutet haben (vgl. Kühn 2001, 170 ff.)
Midsummer Night’s Dream (ca. 1600) und The Tem- – freilich mit dauerhaften Konsequenzen bis zur ers-
pest (1610/11) mit der Notwendigkeit von Musik in ten Fassung (1897) von Engelbert Humperdincks
Verbindung, da der »strengere Verstand« an solchen Königskindern und Arnold Schönbergs Pierrot lu-
Stellen »durch Töne […] eingeschläfert« werden naire (1912), zwei Werke, in denen die Vorliebe der
müsse (Tieck 1975, 25). So verwundert es nicht, dass wilhelminischen Epoche für pathosgesättigte Dekla-
zwischen 1770 und 1820 kein Dramatiker mit mehr mation, Sprechgesang und Melodram auf ganz un-
originalen, eigens neu komponierten Schauspielmu- terschiedliche Art zum Ausdruck kommt (vgl.
siken bedacht wurde als Shakespeare (vgl. Kramer Nöther 2008).
2002), wobei sich die Hexenszenen in Macbeth als
besonders reizvolles Experimentierfeld herauskris-
tallisierten, auch hinsichtlich einer melodramati-
schen Gestaltung (vgl. Kramer 2000, 2003; Radecke 10.4 Wider den Naturalismus:
2007). Und es mutet nur konsequent an, dass ausge- Die Musikalität der
rechnet eine Macbeth-Musik, nämlich diejenige von Weimarer Klassik
Johann Friedrich Reichardt (1787), Tieck 1799 zu
der Bemerkung animierte, er habe in der »Sympho-
nie« (das heißt in der Ouvertüre) bereits das ganze Die v. a. anhand von Shakespeares Dramen erprobte
Drama »wunderbar allegorisch […] und doch voll Fähigkeit der Musik, die Realität des Bühnengesche-
höchst individueller Bilder« ausgedrückt gefunden, hens zu transzendieren, wurde in der Weimarer
weshalb ihm die nachfolgende Schauspielauffüh- Klassik zum Ausgangspunkt für das Bestreben, der
rung beinahe überflüssig erschienen wäre (Tieck szenischen Darstellung jeglichen Naturalismus aus-
1991, 244) – eine Apologie reiner Instrumentalmu- zutreiben und die Zuschauer – wie Schiller es am
sik, die hier aber keineswegs als ›absolute‹ firmiert, 29.  Dezember 1797 in seinem berühmten Brief an
sondern inhaltlich auf das Drama bezogen bleibt. Goethe formulierte – »durch eine freiere harmoni-
»Die Wiege der musikalischen Romantik stand auf sche Reizung der Sinnlichkeit […] gegen den Stoff
einer Theaterbühne, die Shakespeare spielte« (Keil gleichgültiger [zu] machen«, also das »Pathos« zu
2003, 57). dämpfen, ohne deswegen in kalte Abstraktion zu
Wie zwischen Sprech- und Musiktheater im 18. verfallen (Schiller/Goethe 1960, 408). Genau darin
und frühen 19. Jahrhundert keine klare Grenze ge- sollte die doppelte Aufgabe des Chores bestehen,
zogen wurde, so gestalteten sich auch die Übergänge den Schiller in der 1803 uraufgeführten Tragödie
zwischen Deklamation und Gesang in einer Weise Die Braut von Messina auf die Bühne zurückbrachte:
fließend, die die eigenständige Gattung des Melo- die »Reflexion von der Handlung« abzusondern und
drams (vgl. Kap. II.5.2) (mit dem ›Gründungsdoku- sie gleichzeitig »mit poetischer Kraft« zu versehen,
ment‹ Pygmalion von Jean-Jacques Rousseau, 1770) nämlich durch die »ganze sinnliche Macht des
gleichsam nur als die Spitze des Eisbergs erscheinen Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegun-
lässt (vgl. Kühn 2001). Unter Berufung auf das Vor- gen« (Schiller 1994, 251). Letztlich standen der pro-
bild der altgriechischen Parakatalogé sowie auf sei- jektierten Verbindung von Dichtung, Musik und
nerzeit aktuelle Theorien über den gemeinsamen Tanz (vgl. Schiller 1994, 245) allerdings auffüh-
Ursprung von Musik und Sprache (Herder, Rous- rungspraktische Schwierigkeiten entgegen: Schiller
seau) findet sich in Lehrbüchern eine Annäherung sondierte zwar bei Carl Friedrich Zelter explizit die
der Deklamation an Gesangstechniken bis zu dem Möglichkeit einer gesanglichen und sogar von In-
Punkt, wo durch künstliche Silbendehnungen und strumenten begleiteten Umsetzung der Chöre, gab
Portamenti der Schritt zum Singen tatsächlich bei- sich aber schließlich mit der kollektiven Deklama-
nahe vollzogen ist. Die Form des ›gebundenen‹ Me- tion einzelner kurzer Perioden zufrieden, während
270 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

ein Großteil des Textes auf Individuen aufgeteilt als »versteckte Oper[n]« empfand (zit. n. Kühn 2001,
wurde (das 1805 niedergeschriebene Experiment ei- 256). Das – letztlich gescheiterte – Projekt einer
ner »musikalisch-rhythmischen« Notierung der Wiederbelebung der Comédie-ballet in Gestalt von
Chöre durch Sigismund von Neukomm blieb folgen- Hofmannsthals Molière-Bearbeitung Der Bürger als
los; vgl. Waidelich 2003). Umso stärker fällt ins Ge- Edelmann (mit Musik von Richard Strauss,
wicht, dass unter Schillers späten Dramen auch Die 1912/1918) stellt nur eines von vielen Beispielen dar.
Jungfrau von Orleans (1801) und insbesondere Wil- Gewissermaßen gegenläufig hierzu, nämlich gezielt
helm Tell (1804) einen deutlich musikdramatisch ge- ›antikulinarisch‹, aber mit einer ähnlich entschei-
prägten Zugriff offenbaren, sei es in Gestalt von Jo- denden Aufgabenstellung für die Musik, entwickelte
hannas Monolog am Anfang des IV. Aktes, der sich Bertolt Brecht seine Konzeption des epischen Thea-
gleichsam als »Wortarie« mit Musik hinter der Szene ters, das den Komponisten (Kurt Weill, Paul Hinde-
präsentiert (Fähnrich 1977, 161 ff.), oder bei der sta- mith, Hanns Eisler, Paul Dessau) eine genuin mit-
tischen Eröffnungssequenz des Wilhelm Tell, deren schöpferische Rolle zuwies. Und auch wenn heute –
Beeinflussung durch die Gestaltungsweise eines ty- im Wesentlichen schon seit den 1920er Jahren – das
pischen Operntableaus kaum zu übersehen ist (vgl. symphonische Orchester aus dem Sprechtheater
Henze-Döhring 2007, 84). endgültig verschwunden ist, so sorgen die neuen
Goethe soll sich zwar über Schillers »Tic[,] bei Möglichkeiten der Tontechnik dafür, dass die Musik
Musik sprechen zu lassen«, mokiert haben (Goethe ihre Rolle im Schauspiel auf vielfältige Weise be-
1909, 8), doch war er hinsichtlich einer opernhaften hauptet (vgl. Kap. II.5).
Dramaturgie mit dem 1787 vollendeten Egmont fast
noch weiter gegangen – v. a. bei der ganz auf die Wir- Literatur
kung reiner Instrumentalmusik abgestellten, phan- Aber, Adolf: Die Musik im Schauspiel. Geschichtliches und
tasmagorischen Schlussszene (Egmonts Traum und Ästhetisches. Leipzig 1926.
»Siegessymphonie«), die Schiller denn auch als »Sal- Altenburg, Detlef: »Von den Schubladen der Wissenschaft.
tomortale in eine Opernwelt« erschien (Schiller Zur Schauspielmusik im klassisch-romantischen Zeital-
ter«. In: Geyer, Helen u. a. (Hg.): »Denn in jenen Tönen
1997, 646; vgl. Holtbernd 1992, 141 ff.). Und dass der
lebt es«. Wolfgang Marggraf zum 65. Weimar 1999, 425–
Faust (Faust I, 1819; Faust II, 1832) in manchen Ab- 449.
schnitten die Züge eines Musiktheaters sui generis Altenburg, Detlef/Jensen, Lorenz: »Schauspielmusik«. In:
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272 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

11. Realismus/Naturalismus Bevor auf die Unterschiede eingegangen wird, die


Realismus und Naturalismus in dieser Hinsicht von-
einander unterscheiden, soll an einem Beispiel illus-
11.1 Theoretische Vorüberlegungen: triert werden, was konkret mit der Vorstellung einer
Realitätseffekt und performative performativen Erzeugung von Wirklichkeit gemeint
Erzeugung von Wirklichkeit ist.
Henrik Ibsens 1884 publiziertes Drama Vildan-
den (Die Wildente) kreist um eine ganze Reihe von
Gemeinhin nimmt man an, dass sich sowohl Dra- Verfehlungen, die der Großhändler Werle angeblich
men des Realismus als auch solche des Naturalismus vor Einsetzen der dramatischen Handlung begangen
durch eine besondere Nähe zur Wirklichkeit aus- haben soll. Zunächst wird der Verdacht erregt, dass
zeichnen, welche es erlaubt, sie der langen Tradition es ihm gelungen sei, einen gemeinsam mit seinem
realistischer Kunstformen zuzuordnen. Nun kann Partner Ekdal begangenen Geschäftsbetrug allein
das Prädikat ›realistisch‹ zweifelsohne zu den um- auf diesen abzuwälzen. Ekdal hätte daraufhin nicht
strittensten Begriffen der Kulturwissenschaften ge- nur sein ganzes Vermögen verloren, sondern sei
zählt werden. Denn immerhin gehört es zu den auch entehrt im Gefängnis gelandet. Weiterhin wird
Grundeinsichten der entsprechenden Disziplinen, der Verdacht erregt, dass Werle einen Ehebruch mit
dass Realität oder Wirklichkeit in Kunstprodukten Folgen vertuscht hätte. Als sein Dienstmädchen
nicht einfach nachgeahmt, sondern durch spezifi- Gina schwanger geworden sei, hätte Werle sie in eine
sche rhetorische, narratologische, stilistische und Ehe mit Ekdals Sohn Hjalmar gedrängt. Die so ent-
mediale Verfahren überhaupt erst hervorgebracht standene Kleinfamilie werde von Werle im Verbor-
wird. Um allerdings nicht ganz auf die Kriterien zu genen finanziell über Wasser gehalten, indem Werle
verzichten, mit denen man die Besonderheit von Hjalmars unrentables Fotostudio finanziere. All
realistischen Kunstströmungen zu beschreiben ver- diese Verdachtsmomente werden von Werles Sohn
sucht hat, hat der französische Semiotiker Roland Gregers formuliert, der sich im Verlauf der Hand-
Barthes den Begriff des Realitätseffekts (»effet de lung darum bemüht, die Verbrechen seines Vaters
réel«) geprägt (Barthes 1994). Da Barthes diesen aufzuklären. Sein Wahrheitsdrang hat katastrophale
Realitätseffekt nicht über den Bezug zu einer wie Folgen. Denn nicht nur die Ehe Hjalmars gerät in
auch immer gearteten Wirklichkeit definiert, son- eine Krise. Als Gregers Werle die vermutlich unehe-
dern eben auf eine sehr kalkulierte Verwendung un- liche Tochter von Gina, Hedwig, dazu drängt, ein
terschiedlicher künstlerischer Verfahren zurück- Opfer für die kriselnde Ehe ihre Eltern zu bringen,
führt, umgeht er einige der erkenntnistheoretischen erschießt diese nicht – wie von Gregers Werle inten-
Probleme, die sich im Zusammenhang mit dem Pro- diert – ihr geliebtes Haustier (die Wildente), son-
blem der mímēsis (Nachahmung) stellen. dern sich selbst.
Der Rückgriff auf Barthes’ Begriff des Realitäts- Wie alle Stücke Ibsens lädt die Vildanden zu viel-
effekts bildet einen guten Ausgangspunkt für die fältigen Interpretationen ein. Folgt man Gregers’
Debatten, die Theaterautoren wie -theoretiker von Sicht auf die Ereignisse, so versucht das Stück tat-
1848 bis 1900 rund um die Begriffe ›Realismus‹ sächlich, einen Blick hinter die Kulissen bürgerlicher
und ›Naturalismus‹ führen. Denn keiner der Ak- Selbstrepräsentation zu lenken und ›entblößende‹
teure wendet ein naives Verständnis von Realismus Wahrheiten zu offenbaren. Die verborgenen Delikte
und Mimesis an. Ganz im Gegenteil setzen sich ge- Werles stehen in diesem Sinne metonymisch für die
rade die Theaterpraktiker und -theoretiker in ihren allgemeinen sozialen Verfehlungen einer sich über
Aufführungen, Stücken und ästhetischen Studien Patriarchat und Ökonomie definierenden Gesell-
immer wieder mit der Frage auseinander, mithilfe schaftsorganisation. Zieht man Gregers’ Perspektive
welcher dramatischer Verfahren und theatraler allerdings in Zweifel, dann lässt sich auch das Drama
Techniken unterschiedliche Realitätseffekte er- nicht auf eine solche einfache Sozialkritik reduzie-
zeugt werden können. Ja mehr noch, immer wieder ren. Im Stück finden sich einige Hinweise, die in
wird das Problem diskutiert, wie mithilfe von diese Richtung zielen. Zunächst scheint Ibsen die Fi-
Theateraufführungen andere, neue Formen von gur von Gregers Werle zu gebrauchen, um die spezi-
Wirklichkeit performativ hervorgebracht werden fische Rhetorik zu inszenieren, auf die sich Wahr-
können. heitsfanatiker in ihren Reden stützen. Der Text lädt
11. Realismus/Naturalismus 273

dazu ein, über Gregers’ auffällige Verwendung von teratur und Literaturtheorie des gesamten Zeitraums
Sprachbildern (u. a. das Symbol der Wildente) zu re- eine entscheidende Rolle spielt.
flektieren, mit denen er seinen Wahrheitsanspruch In früheren literaturhistorischen Darstellungen
zu untermauern versucht. Auf diese Weise wird ge- finden sich Versuche, die literarischen Epochen von
zeigt, wie Gregers mithilfe der Symbole seine eigene (poetischem) Realismus und Naturalismus im Hin-
Sicht der Dinge konstruiert. blick auf die in den Texten zum Ausdruck gebrach-
Die hier angedeutete Sprachreflexion wird im ten Weltanschauungen zu unterscheiden. Vertreter
Stück durch eine Medienreflexion ergänzt. Nicht des (poetischen) Realismus hätten sich in dieser
von ungefähr spielt die Handlung des Dramas in ei- Hinsicht noch an einem idealistischen Weltbild ori-
nem Fotolabor. Dabei tauschen sich die Figuren lang entiert, während die Naturalisten sich endgültig ei-
und breit über die Möglichkeit aus, fotografische Bil- ner naturwissenschaftlich fundierten positivisti-
der mit retuschierenden Verfahren zu modifizieren. schen (oder materialistischen) Lebensanschauung
Wie wichtig Ibsen der Bezug auf die Fotografie war, annäherten. Erst die Loslösung von der idealisti-
kommt auch in den Szenenanweisungen des Textes schen Philosophie und Ästhetik hätte zu einer völlig
zum Ausdruck, in denen auffallend häufig von di- neuen Funktionsbestimmung der Kunst geführt.
versen Lichtquellen die Rede ist. Während das Drama in der Theorie des Realismus
Die angedeuteten Reflexionen über die sprachli- noch einer poetisch verklärenden und harmonisie-
chen und medialen Verfahren der Wirklichkeitser- renden Wirklichkeitsschau gedient hätte, sei es im
zeugung werden schließlich um eine Selbstreflexion Naturalismus zur plakativen Ausstellung sozialer
über die Möglichkeiten theatraler Repräsentations- Missstände genutzt worden (vgl. Hamann/Hermand
formen ergänzt. Der Bühnenraum wird nämlich in 1972; Scheuer 1974).
diesem Stück auf merkwürdige Weise verdoppelt. Die Aufmerksamkeit für die spezifischen drama-
An das Fotolabor von Hjalmar Ekdal schließt ein tischen Verfahren und theatralen Techniken, mit de-
Speicherraum an, in dem die Familie nicht nur die ren Hilfe man Realitätseffekte zu erzeugen ver-
Wildente hält, sondern gleich eine ganze norwegi- suchte, soll im Folgenden helfen, Konzepte und
sche Waldlandschaft nachstellt, in der Hjalmar sogar Praktiken der Realisten und Naturalisten genauer zu
zusammen mit seinem Vater auf die Jagd geht. Der betrachten und weitere Differenzen zu markieren.
Naturraum wird auf der Bühne also als ein über Der Unterschied zwischen den beiden literarischen
künstliche Verfahren hergestellter Raum repräsen- Epochen wird sich ändern, je nachdem ob man den
tiert. Die Pointe des Stückes liegt in diesem Sinne in Blick auf die theoretischen Diskussionen lenkt, mit
der Einsicht, dass das, was man unter Wirklichkeit denen über spezifische Techniken des Dramas dis-
oder Realität versteht, an je unterschiedliche mediale kutiert wird, ob man auf die Entwicklung der Thea-
Transformations- und Herstellungsprozesse ge- terpraxis achtet oder ob man der Geschichte der dra-
knüpft ist. matischen Gattungen und Verfahrensweisen nach-
Auch wenn es sich um ein späteres Drama von Ib- geht. In den nächsten drei Abschnitten sollen diese
sen handelt, scheint die darin geführte Auseinander- drei Themenfelder an ausgewählten Beispielen um-
setzung um die Problematik einer sprachlichen, me- rissen werden. Da gerade die naturalistische Bewe-
dialen und theatralen Vermittlung von Wirklichkeit gung nur in einem internationalen Kontext verstan-
durchaus symptomatisch für das Drama und die den werden kann, werden diese Beispiele bewusst
Dramentheorie des späten 19. Jahrhunderts zu sein. aus einem europäischen Umfeld gewählt (eine sehr
Dies muss nicht unbedingt in eine Absage an die gute aktuelle Darstellung zu Dramatik des deutsch-
Vorstellung von Realität überhaupt münden. Ganz sprachigen Naturalismus bietet Stöckmann 2011).
im Gegenteil bemühen sich gerade Autoren und
Theoretiker des Realismus sowie Naturalismus da-
rum, genauer Auskunft über die künstlerischen Ver-
fahren und medialen Techniken zu geben, die eben
jene Perspektive auf die Wirklichkeit liefern, welche
sie jeweils für angemessen halten. Es wird noch zu
zeigen sein, dass dabei die kritische Auseinanderset-
zung mit den rein technischen Abbildungsverfahren
des noch jungen Mediums der Fotografie für die Li-
274 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

11.2 Wissenschaft des Dramas und oder Fotografie – abgegrenzt wird. Wie bei Hegel
wissenschaftliches Drama – steht auch bei Vischer das Drama an der Spitze der
Theoretische Entwürfe Gattungshierarchie, da es am ehesten geeignet sei,
dieses Konzept eines ›echten idealen Realismus‹
einzulösen.
Zumindest in der deutschen Literaturgeschichte hat Allerdings versucht sich Vischer trotz vieler Ge-
man die Dramengeschichte im Zeitalter des bürger- meinsamkeiten auch vom Idealismus Hegels abzu-
lichen Realismus – also die dramatischen Schriften, grenzen. So macht er sich für die regulierende Tech-
die zwischen den jungdeutschen Experimenten ei- nik einer ›indirekten Idealisierung‹ stark, bei der die
nes Georg Büchner oder Christian Dietrich Grabbe an Induktion und sinnlicher Erfahrung orientierten
und den ersten Stücken der Naturalisten erschienen Verfahren der Naturbeobachtung als ›Korrektiv‹ ei-
sind – lange als zu vernachlässigende Größe angese- ner rein spekulativen Weltanschauung in Anschlag
hen (vgl. Schanze 1973). Tatsächlich sind nahezu alle gebracht werden. Die Abgrenzung von der idealisti-
bedeutenden Realisten (etwa Fontane, Keller, Meyer, schen Systemästhetik Hegels zeitigt auch für die
Stifter) an dem Versuch gescheitert, ihre dramati- Dramentheorie Vischers Konsequenzen. Ausgehend
schen Ambitionen zu verwirklichen. Dieser Befund von Hermann Hettners Schrift Das moderne Drama
ist umso bemerkenswerter, als das Drama in den (1852) und einer eigenen Theorie des Humors skiz-
zeitgenössischen Ästhetiken noch unbestritten an ziert er das Programm einer modernen Dramatik. In
der Spitze der Gattungshierarchie firmierte (vgl. Absetzung von Hegel macht sich Vischer dabei für
Schanze 1981). Allerdings lässt sich an den entspre- die Realisierung von Komödien stark, welche eine
chenden ästhetischen Studien auch zeigen, aus wel- humoristisch verklärende Darstellung eines Alltags-
chen Gründen die dramatische Umsetzung der Pro- geschehens liefern.
grammatik eines poetischen Realismus scheiterte Von einer solchen Idee einer modernen Dramatik
(vgl. Aust 2006). ist in Gustav Freytags ungemein einflussreichem
Einen guten Eindruck von den spannungsvollen Lehrbuch Die Technik des Dramas (1863) nichts
Voraussetzungen und konzeptionellen Widersprü- mehr zu spüren. Im Gegensatz zu Vischer orientiert
chen dieser Programmatik vermittelt Friedrich sich Freytag wieder viel deutlicher an einer idealisti-
Theodor Vischers Aesthetik (1846–57). Sowohl die schen Ästhetik, so dass man sogar von einer Selbst-
Bestimmung der Ästhetik als einer objektivierbaren aushöhlung des realistischen Prinzips sprechen
»Wissenschaft des Schönen« als auch die grundle- könnte. Die Polemik des Lehrbuchs richtet sich mit
gende Definition des Schönen als ein einer »absolu- aller Deutlichkeit gegen eine Dramatik, welche die
ten Idee« verpflichteten »inhaltsvoller Schein« zei- Kunst »dazu entwürdigen wollte, gesellschaftliche
gen, dass sich Vischer noch in vielerlei Hinsicht an Verbildungen des wirklichen Lebens, Gewaltherr-
Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über schaft der Reichen, die gequälte Lage Gedrückter,
die Ästhetik (1820–21/postum 1835–38) orientiert. die Stellung der Armen, welche von der Gesellschaft
Wie Hegel hält Vischer an dem Konzept einer Auto- fast nur Leiden empfangen, streitvoll und tendenz-
nomieästhetik fest und grenzt sich deutlich von al- voll […] zu verwerten« (Freytag 1863, 57). Dagegen
len Versuchen ab, die Kunst in irgendeiner Form für wird mit der Verstragödie die Vorstellung eines Dra-
andere Ziele – und d. h. insbesondere auch für poli- mas hohen Stils profiliert, das letztlich der Darstel-
tische Absichten – zu gebrauchen. Dabei rekurriert lung metaphysischer Ideen verpflichtet ist. Da diese
er auf die Idee, dass die Aufgabe der Ästhetik darin Darstellung wiederum an die Vorstellung der Auto-
bestehe, die Dialektik zwischen Geist und empiri- nomie der handelnden Subjekte geknüpft ist, spricht
scher Wirklichkeit, zwischen einer an metaphysi- sich Freytag im Gegensatz zu Vischer scharf gegen
schen Größen orientierten subjektiven Weltsicht die Darstellung von gesellschaftlichen Klassen aus,
und einer auf die Naturbeobachtung rekurrieren- »welche bis in unsere Zeit unter dem Zwang epischer
den Objektivität in einer Synthese zu versöhnen. Vi- Verhältnisse stehen« (Freytag 1863, 56).
scher wendet sich also gleichermaßen gegen die Das realistische Darstellungsprinzip wird auf
spekulative Ästhetik der Romantik wie gegen das diese Weise allein mit Rückgriff auf formale Katego-
Konzept einer mechanischen oder ›nackten‹ Nach- rien gerechtfertigt, die Freytag wiederum im An-
ahmung der Wirklichkeit, von der die Kunst – in schluss an eine aristotelische Tradition zu definieren
Gegenüberstellung zur Publizistik, Wissenschaft versucht (vgl. Kap. I.1 sowie I.2). Die Einhaltung der
11. Realismus/Naturalismus 275

drei Einheiten und v. a. der strenge pyramidale Auf- Schon diese grobe Skizzierung der Zolaschen Po-
bau der Handlung soll garantieren, dass das darge- etik reicht aus, um entscheidende Differenzen zu
stellte Geschehen einen Kausalzusammenhang der den ästhetischen Konzepten eines (poetischen) Rea-
Ereignisse offenbart, in dem Handlungen der Figu- lismus zu markieren. Zwar orientieren sich auch
ren jederzeit durch ein wirkungspsychologisches Vertreter dieser Ästhetik an den Verfahren eines na-
Kalkül nachvollziehbar gemacht werden und nichts turwissenschaftlich geprägten Empirismus. Aber
dem Zufall überlassen erscheint. Die Qualität eines hier wird der Bezug auf die entsprechenden wissen-
Dramas äußere sich darin, dass es dem Dichter ge- schaftlichen Beobachtungs- und Beschreibungs-
linge, den Stoff soweit zu »vergeistigen«, bis sich praktiken – wie geschildert – lediglich als Korrektiv
dem Zuschauer ein »vollständig begreifliche[r] und verwendet, um die Synthese einer idealrealistischen
ergreifende[r] Zusammenhang« offenbare (Freytag Konstruktion zu befördern und einen poetisch ver-
1863, 13). klärten Blick auf die Wirklichkeit zu gewährleisten.
Natürlich stellt Freytags in vielerlei Hinsicht kon- Bei Zola hingegen wird die Metaphorik der strengen
servativ wirkende Dramaturgie eine beliebte Ziel- wissenschaftlichen Methodik der literarischen Wis-
scheibe für die Polemik der Naturalisten dar. Dies sensproduktion immer wieder benutzt, um mit den
gilt nicht nur für ihren Anspruch, das Drama gezielt entsprechenden Versuchen einer idealistischen Äs-
für die Darstellung sozialer und politischer Prob- thetik abzurechnen, welche die krassen Einsichten
leme zu nutzen. Auch die Idee des geschlossenen der nüchternen szientistischen Observation verklä-
Dramas sowie die daran geknüpfte Vorstellung eines rend abzumildern sucht.
wie auch immer gearteten metaphysischen Ord- Die grundlegende Differenz zwischen den ästhe-
nungsprinzips geraten zusehends in die Kritik. tischen Konzepten des poetischen Realismus und
Bekanntlich gehen maßgebliche theoretische Im- des Naturalismus lässt sich auch am Bezug zum Me-
pulse der naturalistischen Bewegung von Frankreich dium der Fotografie erläutern. Das technisch regu-
aus. Schon im 1873 publizierten Vorwort zur Dra- lierte Nachahmungsverfahren der Fotografie stellt
menfassung des Romans Thérèse Raquin skizziert eine sehr wichtige negative Folie für die poetischen
Émile Zola die Grundzüge einer Dramatik, die sich Realisten dar, um ihren Anspruch einer geistig ver-
am »experimentellen und wissenschaftlichen Geist klärenden und künstlerisch wertvollen Repräsenta-
des Zeitalters orientiert« (Zola 2002, 314). Auch in tion der Wirklichkeit zu untermauern (vgl. Plumpe
seinen späteren theatertheoretischen Überlegungen 1990). Auch die Naturalisten setzen sich vehement
in Le naturalisme au théâtre (1880) und Nos auteurs gegen den Vorwurf zur Wehr, dass ihre Texte ledig-
dramatique (1881) setzt sich Zola für eine an den ex- lich ein Äquivalent zu fotografischen Abbildungs-
akten Wissenschaften orientierte experimentelle In- verfahren darstellen. Allerdings zielen die methodi-
anspruchnahme des Bühnengeschehens ein (vgl. schen Verfahren, derer sich die Naturalisten in ihrer
Garner 2000). Obwohl er dabei sehr deutlich auf die Recherche-Arbeit bedienen, auf einen ähnlichen Ef-
spezifischen Vorgaben an die Theatergattungen auf- fekt ab wie die Fotografie, die zumindest im ausge-
merksam macht, verweist er im Zusammenhang mit henden 19. Jahrhundert noch als ein invisibles Me-
der Idee einer experimentellen Funktion des Thea- dium wahrgenommen wurde, das die Wirklichkeit
ters immer wieder auf seine maßgeblichen theoreti- unvermittelt widerspiegelt (vgl. Albers 2002). Der
schen Überlegungen aus dem Essay Le roman expéri- wissenschaftlich exakte Charakter der entsprechen-
mental (1880). In diesem Text bezieht sich Zola kon- den literarischen Versuche erschließt sich somit
sequent auf die am lebendigen Körper ausgeführten über die spezifische Form einer methodisch kontrol-
Experimentalpraktiken des Mediziners Claude lierten Textgenese (vgl. Kolkenbrock-Netz 1981).
Bernard, um die Idee einer literarischen Experimen- Grundlegend ist die systematische Verkoppelung
talkultur zu entfalten, die individuelle und soziale von Beobachtung, Dokumentation und Beschrei-
Aktionen und Passionen des Menschen mithilfe von bung, welche die Grundlage des literarischen Arbei-
fiktiven Versuchsanordnungen zur Anschauung tens darstellen soll. Mit Rückgriff auf diese Recher-
bringt und analysiert. Entscheidend dabei ist der cheverfahren gewinnen die Naturalisten Fakten, mit
Gedanke eines exakten methodischen Vorgehens, an deren Hilfe sie die Ausgangssituation eines Gesche-
dem sich literarische Autoren im Sinne einer wissen- hens entwerfen. Die weitere Geschehensabfolge wird
schaftlichen Soziologie und Psychologie zu orientie- aus dieser Ausgangssituation abgeleitet, um die hy-
ren hätten. pothetische Gesetzlichkeit psychologischer oder so-
276 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

zialer Gesetze zu verifizieren (vgl. Gamper 2005). Im lieren, wobei die literarische Analyse von physio-
Anschluss an Zolas Studie werden Autoren des Na- bzw. soziopsychologischen Dynamiken bei ihm ei-
turalismus nicht müde, auch ihre Texte als Versuchs- nen deutlicheren emanzipatorischen Charakter
anordnungen zu bezeichnen, in denen sie verschie- gewinnen sollte. In seiner legendären Vorlesungs-
dene Charaktere wie in einer Laborsituation aufein- reihe Hovedstrømninger i det 19. århundredes littera-
anderprallen lassen, um über die sich entspinnenden tur (Die Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahr-
Handlungsfolgen Einblicke in verborgene physio- hunderts) versuchte er 1871, die moderne Literatur
bzw. soziopsychologische Dynamiken zu erhalten. in diesem Sinne darauf zu verpflichten, gezielt mit
Auch wenn Zola somit wichtige theoretische Im- Tabus zu brechen und gesellschaftliche Probleme
pulse für die Konstitution des naturalistischen Dra- der Gegenwart zur Debatte zu stellen.
mas liefert, gehen die wesentlichen dramatischen Interessanterweise ging Brandes auch als Entde-
Erneuerungen, die mit der Epoche des Naturalismus cker Friedrich Nietzsches in die europäische Kultur-
verknüpft werden, nicht von Frankreich, sondern geschichte ein. 1888 hielt er die erste öffentliche Vor-
von den europäischen Rändern aus. Dabei fällt ins- lesung über Nietzsche, die er 1890 unter dem Titel
besondere die Bedeutung der skandinavischen Lite- Aristocratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über
raturen ins Auge. In Skandinavien wird die Literatur Friedrich Nietzsche auch auf Deutsch publizierte. Mit
des entsprechenden Zeitraums mit dem Schlagwort Nietzsche machte er wiederum auf einen Theater-
des ›modernen Durchbruchs‹ in Verbindung ge- theoretiker des hier behandelten Zeitraums auf-
bracht. Der Begriff geht auf den Literaturhistoriker merksam, der in einer sprachkritischen Wende mit
und -kritiker Georg Brandes zurück, der mit seiner dem sowohl für den Realismus wie für den Natura-
umfassenden publizistischen Tätigkeit nicht nur die lismus entscheidenden Konzept einer mimetischen
skandinavischen Literaturen des ausgehenden 19. Nachahmung abrechnete. So polemisiert Nietzsche
Jahrhunderts prägte. Vielmehr hilft der Bezug auf etwa in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) gegen die
Brandes, den europäischen Charakter der naturalis- Realisten, denen er Leidenschafts- und Phantasielo-
tischen Bewegung zu unterstreichen, der in der sigkeit sowie einen naiven Glauben an das Bild von
(nicht zuletzt durch die neuen Verkehrs- und Me- Wirklichkeit vorwirft, das sie ausgehend von ihren
dientechniken) beschleunigten Mobilität von Tex- jeweils in Anspruch genommenen empirischen
ten, Theateraufführungen und Autoren zum Aus- Konzepten und der jeweiligen Rhetorik der Objekti-
druck kommt. Brandes verfügte über ein ausge- vität entwerfen. Bekanntlich reflektiert Nietzsche in
zeichnetes europäisches Netzwerk und trug mit seinen eigenen theatertheoretischen Schriften wie
seinen in viele Sprachen übersetzten Schriften nicht Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
nur dazu bei, skandinavische Autoren wie Ibsen (1872) über eine alternative Ästhetik, die sich an
oder Strindberg im deutsch- und französischspra- Phänomenen des Rausches, des Traums, der Grau-
chigen Raum bekannt zu machen, sondern war u. a. samkeit oder des Geschlechtstriebs orientiert.
auch als wichtiger Vermittler der russischen Litera- Angeregt durch Brandes’ Interesse an der Philo-
tur in Deutschland tätig. Nicht nur Brandes war län- sophie Nietzsches setzten sich viele Theaterautoren
gere Zeit in Deutschland wohnhaft, auch Ibsen und des ausgehenden 19. Jahrhunderts produktiv mit
Strindberg lebten –wie viele weitere Naturalisten – dessen ästhetischen Schriften auseinander. Gerade
lange im Ausland. die späten Stücke von Ibsen und Strindberg sind in
Der europäische Charakter des Naturalismus dieser Hinsicht als Wegbereiter einer dramatischen
kommt auch in ihren gemeinsamen theoretischen Moderne gedeutet worden. Es fragt sich allerdings,
Interessen zum Ausdruck. Wie Zola ist Brandes ent- ob der Schritt in die Moderne nicht schon in ihren
scheidend von dem positivistischen Denken eines früheren, gemeinhin als naturalistisch bezeichneten
Auguste Comte oder Hippolyte Taine geprägt sowie Stücken angelegt ist. Letzteres lässt sich nicht zuletzt
von der Evolutionstheorie Charles Darwins beein- auch an den Bemühungen um eine einschneidende
druckt. Auch er interessierte sich mit anderen Wor- Reform der Bühne belegen, die mit dem Naturalis-
ten für die Diskussionen, die rund um die Vorstel- mus verbunden wird.
lung einer sozialen, historischen oder heriditären
Prägung oder sogar Determination des Menschen
geführt wurden. Somit versuchte auch er, die mo-
derne Literatur als wissenschaftliche Praxis zu etab-
11. Realismus/Naturalismus 277

11.3 Von der Guckkastenbühne zum wird das Theater von Strindberg abfällig als biblia
Intimen Theater – Theaterreform pauperum bezeichnet, die sich an die »Jugend, Halb-
und Bühnenexperiment gebildete und Frauen« richte, welche »die niedere
Fähigkeit besitzen, sich selbst zu betrügen und sich
betrügen zu lassen, das heißt, Illusionen zu akzeptie-
Natürlich lässt sich die im letzten Abschnitt skiz- ren, die Suggestion vom Verfasser anzunehmen«
zierte dramentheoretische Entwicklung nicht völlig (Strindberg 1984, 759). Entscheidend dabei ist, dass
von der theatralen Praxis trennen. Wenn es auch Strindberg den Begriff der Illusion im Folgenden
stimmen mag, dass weder Vischers Konzept einer konsequent durch denjenigen der Suggestion er-
idealrealistischen humoristischen Komödie noch setzt. Entsprechend wird das Vorwort mit einer gan-
Freytags Überlegungen zum Drama des hohen Stils zen Reihe von theaterpraktischen Überlegungen be-
eine direkte und überzeugende dramatische Umset- endet, mit welchen Strindberg den suggestiven Cha-
zung fanden, so scheinen die ästhetischen Konzepte rakter des Theaterstückes durch eine spezifische
des poetischen Realismus doch durch zeitgenössi- Gestaltung der Bühne zu erhöhen versucht, die viel
sche Inszenierungspraktiken eingelöst worden zu näher an den Zuschauerraum gerückt werden soll.
sein. Das Prinzip der Guckkastenbühne mit einem Auch die an der neuesten technischen Entwicklung
vom Zuschauerraum getrennten Bühnenraum, des- orientierte (und d. h. auch elektrische) Lichtführung
sen gerahmte vierte Wand durch einen beweglichen sollte nicht allein illusionären Effekten dienen, son-
Vorhang gebildet wird, ermöglichte es, die theatra- dern sollte eine suggestive Wirkung auf das Publi-
len Illusionen durch diverse Techniken zu verfei- kum ausüben.
nern. Entscheidend für den Illusionseffekt war die Die Ausführungen über die suggestive Kraft des
Kombination von echten (nicht gemalten) Dekorati- Theaters stehen in einem engen Zusammenhang mit
onselementen und Requisiten mit einem realistisch Strindbergs Überlegungen zu einer Experimental-
gemalten Prospekt und perspektivisch gestalteten dramatik, die er in Anschluss an Zolas Ausführun-
Kulissen. Darüber hinaus trugen die Perfektionie- gen entwickelt (vgl. Müller-Wille 2010). Strindberg
rung der Bühnentechnik sowie die Einführung einer zufolge ist das auf drei Figuren reduzierte Stück Frö-
gezielten Lichtregie zur Wirkung der Guckkasten- ken Julie auf der Grundlage einer Experimentallogik
bühne bei. Im deutschsprachigen Raum werden konzipiert. Zwei Figuren unterschiedlicher Klasse
Prinzipien einer realistischen Inszenierungspraxis und Geschlechts prallen wie in einer Laborsituation
v. a. mit der Meininger Theaterreform (ab 1866) ver- unter spezifischen, sexuell stimulierenden Rahmen-
bunden. Diese vom Herzog des thüringischen Für- bedingungen aufeinander. Im Folgenden entfaltet
stentums Meiningen vorangetriebene Reform be- sich ein Kräftespiel zwischen den physiologischen
trifft nicht nur den Versuch, Bühnendekoration und und psychischen Systemen der beiden Protagonis-
Requisiten wirklichkeitsgetreu zu gestalten und ten, das sich aufgrund der extrem reduzierten dra-
durch historische und archäologische Recherchen matischen Handlung genau observieren lässt. Dieses
abzusichern, sondern auch das Bemühen darum, die Kräftespiel wird im Vorwort wie im Drama selbst
Schauspielpraktiken zu verändern. Gebärden wie meist über die Idee einer direkten physischen Ein-
Reden der Schauspieler sollten nicht mehr dem flussnahme auf das Nervensystem des jeweiligen Ge-
Prinzip einer als übertrieben empfundenen patheti- genübers gedacht, die Strindberg einem durch die
schen Artikulation, sondern demjenigen einer ge- Patientenversuche Jean-Martin Charcots angereg-
dämpften psychologischen Wahrscheinlichkeit fol- ten, zeitgenössischen populärwissenschaftlichen Jar-
gen. Weiterhin sollten sämtliche Mitglieder des En- gon gemäß als ›Suggestion‹ bezeichnet. Entschei-
sembles durch stummes Spiel in die Aufführung dend dabei ist, dass sich das eigentliche Theaterex-
eingebunden werden. periment von den Figuren auf der Bühne auf das
Auch im Naturalismus sind Dramentheorie und Publikum verschiebt, das nun selbst in die Versuchs-
Reform der theatralischen Praxis eng miteinander anordnung eingebunden wird. Einerseits wird das
verzahnt. Ein gutes Beispiel dafür bietet das Vor- Publikum dazu ermuntert, die suggestiven Techni-
wort, das Strindberg seinem 1888 publizierten natu- ken zu verfolgen, mit denen der Bedienstete Jean
ralistischen Trauerspiel Fröken Julie (Fräulein Julie) und das adelige Fräulein Julie im Verlauf der Hand-
voranstellte. Schon die einleitenden Bemerkungen lung aufeinander Einfluss zu nehmen versuchen.
verdeutlichen eine wichtige Akzentverschiebung. So Durch die spezifische architektonische Gestaltung
278 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

von Bühne und Zuschauerraum sowie durch den tralisierung verzeichnen, die der Aufführung nicht
Einsatz von Lichteffekten wird das Publikum ande- nur einen mindestens ebenso großen künstlerischen
rerseits aber selbst in die Rolle eines Probanden ge- Wert einräumte wie dem gedruckten Drama, son-
drängt, der gezielt den Suggestionen des Autors aus- dern welche die Kunstform des Theaters mehr und
gesetzt wird (vgl. Pethes 2010). mehr von der dramatischen Textvorlage zu emanzi-
1889 gründete Strindberg in Kopenhagen ein pieren versuchte. Strindbergs Ausführungen zeigen
Skandinavisches Versuchstheater (Skandinavisk För- dabei, dass dieser künstlerische Anspruch gleicher-
söksteater), in dem er das schon in Fröken Julie an- maßen die Gestaltung von Bühne und Zuschauer-
gelegte Konzept einer Experimentaldramatik weiter- raum, die Regiearbeit sowie die schauspielerische
entwickelte. In dem 1889 auf Dänisch publizierten Tätigkeit betraf. Indirekt zeugt das Vorwort zu Frö-
Text Om modernt drama och modern teater (Über ken Julie auch von dem neuen Status, der den Zu-
modernes Drama und modernes Theater), in dem er schauern im Rahmen der Aufführung zugewiesen
dieses Unternehmen präsentiert, benennt Strind- werden sollte.
berg zunächst das konkrete Vorbild für seine thea- Das Beispiel Strindberg ist besonders gut geeig-
trale Versuchsanstalt. Die Rede ist von André Antoi- net, um den modernistischen Impuls der naturalisti-
nes Théâtre Libre in Paris, das eine ganze Reihe von schen Theaterpraxis zu unterstreichen. Denn im Ge-
bahnbrechenden Veränderungen in der Institution gensatz zu Antoines Théâtre Libre, das trotz der er-
des Theaters herbeiführte, die sowohl Organisati- wähnten einschneidenden Erneuerungen von
onsform, Architektur und Repertoire betrafen. Bühnentechnik und Inszenierungspraxis immer
Strindberg hebt hervor, dass in dem kleinen Theater noch der übergeordneten Idee eines Bühnenillusio-
ohne aufwendige Bühnendekoration mit wenigen nismus verpflichtet war, betont Strindberg mit der
Schauspielern vor einem ausgesuchten Publikum ge- Idee der Suggestion die avantgardistischen Möglich-
spielt wird. Diese Reformen gehen mit der Profilie- keiten neuer theatraler Praktiken.
rung der naturalistischen Gattung des Einakters Insgesamt löste das naturalistische Drama in ganz
(vgl. Kap. III.13) einher, die sich Strindberg zufolge Europa und auch in Übersee Diskussionen rund um
ebenfalls durch Konzentration der Handlung auf das eine fundamentale Theaterreform aus, an der sich so
Wesentliche auszeichne (s.u.). Strindberg nutzt die prominente Namen wie etwa Konstantin Stanislawski
Begründung dieser Form von experimentellem The- beteiligen (vgl. Balme 1988). In diesem Sinne legt die
ater für eine Polemik gegen einen »missverstande- naturalistische Bewegung erst die Grundlage für die
nen Naturalismus«, den er seinerseits mit einer foto- Versuche Adolphe Appias, Edward Gordon Craigs
grafischen Praxis vergleicht, »die alles abbildet, so- oder Wsewolod Meyerholds, das Theater als auto-
gar das Staubkorn auf dem Glas der Kamera« nome und radikal anti-illusionistische Kunstform zu
(Strindberg 1968, 32). Interessanterweise aber wird etablieren. Insbesondere im deutschsprachigen
auch das experimentelle Theater mit einer moder- Raum wurden die entsprechenden Theaterreformen
nen Form der wissenschaftlichen Fotografie vergli- mit der Aufforderung verknüpft, theatrale Äquiva-
chen, die das zu sehen gibt, »was man nicht jeden lente für die bahnbrechenden dramatischen Innova-
Tag sieht« (Strindberg 1968, 32). Das 1907 in Stock- tionen der skandinavischen Naturalisten zu finden.
holm von Strindberg und August Falck gegründete So ist Otto Brahms 1889 gegründeter Theaterverein
Intima teater (Intime Theater) in Stockholm kann in Freie Bühne sehr eng mit dem Namen Ibsen verbun-
vielerlei Hinsicht als Nachfolger des Kopenhagener den, während sich Max Reinhardt mit der Grün-
Versuchstheaters bezeichnet werden. dung seines Kleinen Theaters (1902) sowie der Kam-
Das Beispiel von Strindberg kann hier nur stell- merspiele (1906) in vielerlei Hinsicht an den Vorga-
vertretend für die umfassenden Theaterreformen ben Strindbergs orientierte.
stehen, die durch die Bewegung des Naturalismus
ausgelöst wurden (zu entsprechenden Experimenten
im deutschsprachigen Raum vgl. Kafitz 1987). Zu-
nächst illustriert das Beispiel die enge Verzahnung
von dramatischer Produktion, Theatertheorie und
Theaterpraxis, welche für viele Naturalisten bezeich-
nend ist, die gleichermaßen als Autoren wie Regis-
seure tätig waren. Insgesamt lässt sich eine Rethea-
11. Realismus/Naturalismus 279

11.4 Aufbruch zum modernen wird. Eine solche Bild-Ästhetik kommt schließlich
Drama – Dramatische Gattungen auch in historistischen Stücken zum Ausdruck, die
und Verfahren trotz des Anspruchs, sich an dem großen Span-
nungsbogen der aristotelischen Dramatik zu orien-
tieren, in eine Aneinanderreihung von Tableaux zu
Vor dem Hintergrund der im letzten Abschnitt skiz- zerfallen drohen, in denen sich die Handlung zu his-
zierten einschneidenden Theaterreformen lassen torisierend-verklärenden Genreszenen verdichtet.
sich die modernen Züge des realistischen wie natu- Gerade Hebbels Tragödien, die bewusst auf jegli-
ralistischen Dramas besser umreißen. che Form eines utopischen Lösungsangebotes ver-
Dabei stellt sich erneut die vieldiskutierte Frage zichten, zeigen, wie schwer es ist, diese Gattung mit
nach dem Ausbleiben einer genuin realistischen den oben geschilderten ästhetischen Kernprinzipien
Dramatik, die sich wie die realistische Erzählprosa des poetischen Realismus in Einklang zu bringen,
durch eine ganze Reihe von einschneidenden forma- die auf eine poetisch verklärende Wiedergabe der
len Innovationen auszeichnen würde (vgl. Schanze Wirklichkeit abzielen. Wie erwähnt versuchten so-
1973). Die deutsche Dramengeschichte zwischen wohl Hettner als auch Vischer die Idee eines ›moder-
den 1850er und 1880er Jahren wird von historisti- nen Dramas‹ deshalb über die Forderung nach einer
schen Verstragödien dominiert, die sich vermeint- idealrealistischen Komödie voranzutreiben. Auch
lich in der Tradition Friedrich Schillers befinden, diese Idee fand allerdings keine adäquate Umset-
mit der Konstruktion von stereotypen Konfliktsitua- zung, wenn auch zur Mitte des 19. Jahrhunderts
tionen und schematisierten Charakteren aber deut- durchaus bedeutende Komödien geschrieben wur-
lich hinter die Vorbilder aus der Weimarer Klassik den. Mit dem vielgespielten Stück Die Journalisten
(vgl. Kap. III.9.4) zurückfallen. (1854) lieferte etwa Freytag eine frühe Kritik mas-
Allenfalls an den Dramen Friedrich Hebbels und senmedialer Politikinszenierungen. Weiterhin ent-
Otto Ludwigs lassen sich Prinzipien einer genuin re- wickelten sich die schon im frühen 19. Jahrhundert
alistischen Ästhetik nachweisen. Zum einen ver- begründeten Gattungen der Unterhaltungstheaters –
sucht Hebbel mit einem Stück wie Maria Magdalena Posse, Melodrama und Vaudeville – weiter, wobei al-
(1846) an Prinzipien des bürgerlichen Trauerspiels lerdings fraglich bleibt, ob sich diese Gattungen,
anknüpfen. Zum anderen erinnern die Inszenierun- auch wenn sie lokale Alltagssituationen schildern,
gen von Ehekrisen in seinen historischen Dramen der Strömung des Realismus zuordnen lassen. Das
an entsprechende Thematisierungen von zeittypi- gleiche gilt für Richard Wagners Opern, die sich auf
schen gender-Konflikten im realistischen Eheroman. eine mythisch überhöhte Problematisierung von
In beiden Fällen aber wird die Behandlung spezi- Modernisierungskonflikten einlassen und so zu-
fisch bürgerlicher Probleme durch den Versuch re- mindest in einem Dialog mit der Ästhetik des poeti-
guliert, die künstlerische Überformung des Stoffes schen Realismus stehen.
in den Vordergrund zu stellen. Mehr noch: Im Dra- Es soll hier keineswegs der Eindruck entstehen,
menverlauf der Maria Magdalena finden sich deutli- dass die Entwicklung des Dramas zwischen 1848
che Hinweise darauf, dass Hebbel die im Drama dar- und 1880 nicht zu wesentlichen Innovationen ge-
gestellten Konflikte nutzt, um die tödlichen Konse- führt hätte. Da diese Innovationen sich aber nicht
quenzen einer an Fotografie und Mikroskopie mit den wesentlichen theoretischen Entwürfen des
orientierten, detailversessenen, kalten ›realistischen‹ Zeitraums in Einklang bringen lassen, sind sie zu-
Wahrnehmung aufzuzeigen (vgl. Vogel 2007). Auch mindest schwieriger zu beobachten als die ein-
Ludwigs Stück Der Erbförster (1850), das noch am schneidenden thematischen und formalen Brüche,
ehesten als Sozialdrama zu bezeichnen wäre, das ak- die durch die naturalistische Dramatik ausgelöst
tuelle – durch den rapiden Modernisierungsprozess werden. Dies schlägt sich auch im enorm größeren
ausgelöste – gesellschaftspolitische Probleme thema- Umfang der Forschungsliteratur zum Drama des
tisiert, kann als Antwort auf die Herausforderung Naturalismus nieder (ausführliche Bibliografien bie-
durch die Fotografie gelesen werden. Denn auch die- ten Hoefert 1993; Innes 2000; Stöckmann 2011).
ses Stück orientiert sich an einer Ästhetik des Genre- Aus einem thematischen Blickwinkel fällt zu-
bildes, die garantiert, dass Unheimliches und Unver- nächst auf, dass die Naturalisten ihre Gegenwarts-
trautes in einen poetisch-pittoresken Rahmen einge- dramen nutzen, um im weitesten Sinne soziale
bettet oder sogar durch diesen Rahmen eliminiert Missstände zu thematisieren. Im Fokus des frühen –
280 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

insbesondere mit dem Namen Ibsen verbundenen – angeblich die Autonomie des Subjektes infrage stel-
naturalistischen Dramas standen dabei Geschlech- len würden. In der Tat läuft die Anlage vieler natura-
terbeziehungen und v. a. das patriarchalische Modell listischen Dramen darauf hinaus, die Zuschauer ge-
der bürgerlichen Kleinfamilie, durch das die auf Tä- nau über race, milieu et moment (H. Taine) – also die
tigkeiten im privat-familiären Raum reduzierte Frau biologischen, sozialen und historischen Rahmenbe-
in eine strukturelle Abhängigkeit von ihrem Ehegat- dingungen, die das Handeln der Figuren regulieren,
ten gebracht war. Schon die grundlegende Anlage – in Kenntnis zu setzen.
der Stücke legt nahe, dass es bei der Thematisierung Dass diese Reflexionen über Rahmenbedingun-
entsprechender Ehe- oder Familienkonflikte nicht gen des Handelns aber noch nicht mit einem deter-
darum ging, einen moralischen Appell zu formulie- ministischen Menschenbild gleichgesetzt werden
ren, der die Zuschauer ermuntert, individuelle Ver- müssen, kann durch einen erneuten Blick auf Strind-
haltensmuster zu ändern. Allenfalls wurde das ge- bergs Vorwort zu Fröken Julie gezeigt werden. Dort
sellschaftspolitische Anliegen zum Ausdruck ge- reiht Strindberg gleich eine ganze Serie von Deter-
bracht, grundlegende Strukturen der bürgerlichen minanten auf, welche die Handlungsweise Julies er-
Privatsphäre zu reformieren. klären sollen. So ist u. a. von der »unrichtigen Erzie-
Doch auch eine solche Interpretation greift zu hung des Mädchens«, von der »Suggestion des Ver-
kurz. Indem sich die Naturalisten das Pathos der lobten auf das schwache degenerierte Gehirn«, von
nüchternen wissenschaftlichen Observation zu eigen der »Beschäftigung mit Tieren« oder »dem erregen-
machten, verweigerten sie einfache Schuldzuweisun- den Einfluss des Tanzes« die Rede (Strindberg 1984,
gen und simple Lösungsvorschläge. Vielmehr ver- 762). Schon die überraschende Serie unterschied-
suchten sie eine möglichste exakte Darstellung der lichster Determinanten zeigt, dass Strindberg hier
psychischen Konsequenzen von typischen Konflikt- ironisch mit einer einfachen deterministischen Kau-
situationen zu liefern, die sie auch mit Rückgriff auf sallogik abrechnet. Dass das Stück in diesem Sinne
aktuelle wissenschaftliche Diskurse inszenierten. So eher zu einer kritischen Reflexion über ein unter-
thematisierten sie mit Narzissmus, Hysterie, Depres- komplexes deterministisches Denken einlädt, wird
sion, Neurasthenie und anderen psychischen Störun- von Strindberg schließlich durch die letzte Determi-
gen v. a. Krankheitsbilder, die sich nicht nur gut in ei- nante unterstrichen, mit der er seine Aufzählung be-
nen Zusammenhang mit der skizzierten familiären endet – es geht schlicht um den »Zufall«, der die bei-
Situation bringen ließen, sondern die auch in der phy- den Aktanten »in einem abgeschiedenen Raum zu-
sio-psychologisch inspirierten medizinischen Theo- sammentreibt« (Strindberg 1984, 762).
riebildung der Zeit großen Anklang fanden. Das Glei- Immerhin führt allein das Nachdenken über bio-
che gilt für die Anlehnung an die noch junge Disziplin logische, soziale und historische Determinanten
der Sexualwissenschaften (u. a. Richard von Krafft- dazu, dass sich in naturalistischen Dramen weitrei-
Ebing). Schon Ibsens Stücke umkreisen nicht nur die chende Diskussionen über Geschehensabläufe fin-
Thematik des außerehelichen Geschlechtsverkehrs, den, auf welche die Figuren keinen aktiven Einfluss
sondern lassen sich auch auf Phänomene wie Impo- ausüben können. Diese fatalistischen Diskussionen
tenz, Inzest, sexuelle Perversionen oder Geschlechts- können um die unhintergehbare Macht von biologi-
krankheiten ein. Natürlich wurden die Darstellungen scher Vererbung und Generationszugehörigkeit
solcher Themen (wie etwa auch die Inszenierung von kreisen – etwa in Ibsens Gengangere (Gespenster,
Alkoholismus oder körperlicher Gewalt) als gezielte 1882) –, sie können sich um Auswirkungen eines
Tabuverletzungen empfunden, was wiederum dazu psychischen Unbewussten drehen – etwa in Ibsens
beitrug, dass Theateraufführungen von naturalisti- Fruen fra havet (Frau vom Meer, 1889) oder Hedda
schen Dramen in ganz Europa Gegenstand weitrei- Gabler (1891) –, sie können soziologisch bedingte
chender publizistischer Debatten wurden. Verhaltensmuster ganzer Klassen betreffen (in
Thema dieser Debatten war selbstverständlich Hauptmanns Die Weber, 1893) oder sie können den
auch die vermeintliche Weltanschauung der Natura- intransparenten ökonomischen Prozessen in der
listen, die in einer kritischen Haltung gegenüber der Moderne gelten, welche unkalkulierbare Effekte auf
christlichen Orthodoxie wie gegenüber einer idealis- die Handlungen der Figuren ausüben, etwa in Ibsens
tischen Metaphysik zum Ausdruck käme. Immer Et dukkehjem (Ein Puppenheim/Nora, 1879).
wieder wird in den Kritiken auf das Schlagwort der Schon diese Reflexionen über Geschehensab-
Determination verwiesen, mit dem die Naturalisten läufe, die nicht mehr von den Figuren reguliert wer-
11. Realismus/Naturalismus 281

den, verdeutlichen die Notwendigkeit einer ein- Bühne allein um die Aufdeckungen von Ereignissen
schneidenden formalen Innovation der dramati- kreisen, die vor dem eigentlichen Bühnengeschehen
schen Gestaltung. Wieder hilft ein Blick auf das stattgefunden haben. Szondi seinerseits bezieht sich
Vorwort zu Fröken Julie, um diesen Aspekt zu erläu- auf diesen Begriff, um eine Grundform des Ibsen-
tern. Schon die Tatsache, dass Strindberg sein Stück schen Dramas zu beschreiben, bei der das gesamte
mit der Gattungsangabe »Naturalistisches Trauer- auf der Bühne präsentierte Geschehen von Ereignis-
spiel« versieht, deutet bspw. auf seine diesbezügli- sen aus der Vergangenheit dominiert wird. An die-
chen Überlegungen hin. Denn seine Ausführungen sem konstanten Bezug auf Vergangenes macht
zu dieser Gattungsangabe im Vorwort zeigen, dass es Szondi eine grundlegende Krise einer in mehrfacher
ihm um nichts anderes geht, als wesentliche Krite- Hinsicht in sich geschlossenen, also absoluten Dra-
rien der traditionellen Tragödiengestaltung außer matik in der Moderne fest. In dieser Moderne sei der
Kraft zu setzen. So setzt sich Strindberg gegen die Glaube an die Möglichkeit verloren gegangen, Kon-
Vorstellung zur Wehr, dass der Untergang der Hel- flikte vollständig über zwischenmenschliche Bezüge
din im Stück irgendeine Form von Empathie des Zu- und die primäre Gegenwärtigkeit einer entspre-
schauers auslösen solle. Im Gegenteil solle dieser chend dialogisch gestalteten Handlung zu präsentie-
durch das »naturalistische Trauerspiel« zu einer mit- ren. Der Rückgriff auf Prinzipien des analytischen
leidslosen, kalten Observation des Geschehens erzo- Dramas wirkt sich bei Ibsen zunächst auf die Dialog-
gen werden. Diese neue Funktionszuweisung hat gestaltung aus, die mehr und mehr um die epische
Strindberg zufolge weitreichende Folgen für Hand- Heraufbeschwörung vergangener Ereignisse kreist.
lungsaufbau, Dialog- und Charaktergestaltung des Auch die Figuren werden häufig von traumatischen
Dramas. Weder Handlung noch Dialoge sollen ir- Erfahrungen bestimmt, die ihnen nicht bewusst zu-
gendeiner Form von Kausallogik oder gar einer gänglich sind. In diesem Sinne kann das Geschehen
formalen ästhetischen Vorgabe folgen, sondern sich in den Ibsenschen Dramen häufig als eine Wieder-
allein an den sprunghaften und zufälligen Entwick- kehr eines verdrängten Vergangenen interpretiert
lungen eines Alltagsgeschehens und einer Alltags- werden – so zumindest lautet die These einer psy-
kommunikation orientieren. Auch die Charaktere choanalytisch inspirierten Literaturwissenschaft, die
sollen nicht als feste Größen erscheinen, sondern sich nicht zuletzt auf Freuds berühmte Lektüre von
sich nach den flüchtigen Launen und den oberfläch- Rosmersholm (1887) abstützen kann (vgl. Hiebel
lichen Stimmungswechseln, denen sie hilflos unter- 1990). Ähnlich epische Züge weist Szondi für die
worfen sind, verändern. Die Ausführungen zur Dramatik Anton Tschechows nach, bei der völlig
neuen Gestaltung der Charaktere, die Strindberg in vereinsamte und gelangweilte Protagonisten auf die
seinen späteren dramaturgischen Schriften vertiefen Bühne gebracht würden, die sich in ihren monologi-
wird, zeigen, inwiefern er die Konsequenzen aus der schen Ergüssen in sentimentale Erinnerungen und
Vorstellung zu ziehen versucht, dass nicht bewusste haltlosen Sehnsüchten verlören.
Subjekte, sondern untergründige biologische, psy- Auf andere Voraussetzungen lässt sich die Krise
chische, soziale und sprachliche Prozesse als Hand- des absoluten Dramas zurückführen, die in den als
lungsträger des naturalistischen Dramas fungieren. ›sozialen Dramen‹ klassifizierten Stücken Gerhart
Entsprechende Überlegungen führen bei Strind- Hauptmanns zum Ausdruck kommt. Allein der Ver-
berg wie bei anderen Naturalisten zur Profilierung such, in diesen Stücken ein soziales Geschehen ab-
neuer Gattungen und dramatischer Verfahren. Diese zubilden, das über die repräsentierten Konflikt hin-
Gattungen und Verfahren werden zum Teil von den aus metonymisch auf ganze soziale Klassen verweist,
Naturalisten selbst benannt, zum Teil gehen sie auf zeigt, warum die Abgeschlossenheit der dramati-
nachträgliche Bezeichnungen durch Literaturkritik schen Form in diesen Dramen durchbrochen wird.
und -wissenschaft zurück. Dies äußert sich ganz konkret in einer Reihe von
Letzteres gilt etwa für die Bezeichnung ›analyti- episierenden Techniken, die es Hauptmann erlau-
sches Drama‹, die Peter Szondi in seiner Theorie des ben, das dargestellte Geschehen als Produkt einer
modernen Dramas (1959) auf sehr spezifische Weise genauen wissenschaftlichen Observation zu kenn-
verwendet (s. Kap. II.6), um »die Konstruktionsart« zeichnen. So führt er in mehreren Dramen die Figur
von Ibsens modernen Stücken offenzulegen (Szondi eines Fremden ein, der sich nicht nur mit anderen
1963, 24). Der Begriff bezeichnet üblicherweise ei- Figuren auf der Bühne über seine Beobachtungen
nen Dramentyp, bei dem die Handlungen auf der des Milieus austauschen kann, sondern der im Stück
282 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

als Stellvertreter für jenen nüchternen ethnografi- Literatur


schen Blick auf eine soziale Klasse auftritt, für den Aust, Hugo: »Drama und Theater«. In: Ders.: Realismus.
Hauptmann selbst durch eine entsprechend korrekte Stuttgart 2006, 263–299.
Widergabe von Kleidung, Habitus, Dialekt und So- Albers, Irene: Sehen und Wissen. Das Photographische im
ziolekt seiner Figuren einsteht. Romanwerk Émile Zolas. München 2002.
Betrachtet man die Geschichte des Dramas aus ei- Balme, Christopher: Das Theater von Morgen. Texte zur
deutschen Theaterreform (1870–1920). Würzburg 1988.
nem gattungstheoretischen Blickwinkel, dann kann Barthes, Roland: »Le effet de Réel«. In: Ders.: Œuvres com-
die Neukonzeption des Einakters sicherlich als ent- plètes 2. 1966–1973. Paris 1994, 479–484.
scheidende Neuerung des Naturalismus bezeichnet Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas. Leipzig 1863.
werden (vgl. Kap. III.13). Schon oben wurde ange- Gamper, Michael: »Normalisierung/Denormalisierung,
experimentell. Literarische Bevölkerungsstrategie bei
deutet, dass die Profilierung dieser Gattung im spä-
Émile Zola«. In: Krause, Marcus/Pethes, Nicolas (Hg.):
ten 19. Jahrhundert eng mit der Forderung nach ei- Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des
ner wissenschaftlich inspirierten Experimentaldra- Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005, 149–
matik zusammenhängt. Ausschlaggebend für die 168.
entsprechenden Analogiebildungen ist das Argu- Garner, Stanton B.: »Physiologies of the Modern. Zola, Ex-
perimental Medicine, and the Naturalist Stage«. In: Mo-
ment, dass Handlung und Figurenkonzeption im dern Drama 43.4 (2000), 529–540.
Einakter bewusst auf wenige wesentliche Konstitu- Hamann, Richard/Hermand, Jost: Naturalismus. München
enten begrenzt werden, um zu einer genaueren Ob- 1972.
servation der psychischen Konsequenzen zu gelan- Hiebel, Hans: Henrik Ibsens psycho-analytische Dramen.
gen, die sich aus dem kalkulierten Aufeinandertref- Die Wiederkehr der Vergangenheit. München 1990.
Hoefert, Sigfrid: Das Drama des Naturalismus. Stuttgart
fen von zwei oder drei Figuren ergeben, die 4
1993.
wiederum durch wenige Merkmale gekennzeichnet Innes, Christopher (Hg.): A Sourcebook on Naturalist Thea-
sind. Grundlegend ist die Vermutung, dass die radi- tre. London 2000.
kale Reduktion verschiedener dramatischer Gestal- Kafitz, Dieter: »Das Intime Theater am Ende des 19. Jahr-
tungsmittel zu einer differenzierten und komplexe- hunderts«. In: Holtus, Günter (Hg.): Theaterwesen und
dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Thea-
ren Beobachtung latenter psychischer Phänomene ters. Tübingen 1987, 309–330.
beitragen könne. Dabei greift Strindberg, der maß- Kolkenbrock-Netz, Jutta: Fabrikation – Experiment –
geblich zu dieser theoretischen Profilierung der Gat- Schöpfung. Strategien ästhetischer Legitimation im Natu-
tung beigetragen hat, in seinen Einaktern häufig auf ralismus. Heidelberg 1981.
Müller-Wille, Klaus: »Inszeniertes Wissen. Theater und
die Inszenierungen von psychischen Experimental-
Experiment«. In: Gamper, Michael (Hg.): Experiment
situationen zurück, um verborgene seelische Pro- und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen
zesse anschaulich zu machen (zur Wirkungsge- 2010, 40–68.
schichte des Strindbergschen Einakters im deutsch- Pethes, Nicolas: »Das Experiment als Gattungsstruktur in
sprachigen Raum vgl. Vinçon 2000; Stöckmann Strindbergs Vivisektionen«. In: Gamper, Michael/
Wernli, Martina/Zimmer, Jörg (Hg.): »Wir sind Experi-
2009). Im Gegensatz zu den Protagonisten Ibsens mente: wollen wir es auch sein!«. Experiment und Litera-
bleiben die Figuren seiner Einakter dabei – wie die tur II: 1790–1890. Göttingen 2010, 351–366.
Probanden eines wissenschaftlichen Experiments – Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photogra-
namenlos und werden allenfalls mit Buchstaben als phie in der Zeit des bürgerlichen Realismus. München
»Mlle X«, »Fru Y«, »Herr X« und »Herr Y« bezeich- 1990.
Schanze, Helmut: Drama im bürgerlichen Realismus (1850–
net. Das Interesse der Stücke gilt in diesem Sinne 1890). Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. 1973.
auch nicht mehr der Rekonstruktion einer zu erzäh- Schanze, Helmut: »Die Anschauung vom hohen Rang des
lenden Vergangenheit, die ihre Schatten auf die prä- Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und
sentierte Handlung werfen, sondern allein der Dar- seine tatsächliche ›Schwäche‹«. In: Müller, Klaus Detlef
(Hg.): Bürgerlicher Realismus. Grundlagen und Interpre-
stellung physio-psychischer Phänomene. In diesem
tationen. Frankfurt a. M. 1981, 229–237.
Sinne bereiten die Einakter den Weg zur Etablierung Scheuer, Helmut (Hg.): Naturalismus. Bürgerliche Dichtung
vom Stationendrama und einer anderen Ich-Drama- und soziales Engagement. Stuttgart 1974.
tik vor, die allein der Repräsentation eines Bewusst- Stöckmann, Ingo: »Tat, Entscheidung, Opfer. Die Augen-
seins dient. Dabei ist gerade bei den entsprechenden blicke des Lebens und der naturalistische Einakter (Ge-
org Hirschfeld, Alexander L. Kielland, Rilke, Schnitz-
Konzepten Strindbergs zu beachten, wie eng das Be- ler)«. In: Ders.: Der Wille zum Wissen. Der Naturalismus
mühen um eine Experimentaldramatik mit konkre- und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900.
ten Bühnenexperimenten verbunden ist. Berlin/New York 2009, 209–250.
12. Der Theaterboom des 19. Jahrhunderts und die Proliferation der Gattungen 283

Stöckmann, Ingo: »Drama und Theater«. In: Ders.: Natura- 12. Der Theaterboom des
lismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2011, 88–138.
Strindberg, August: »Fräulein Julie«. In: Ders.: Werke. 19. Jahrhunderts und die
Frankfurter Ausgabe. Bd. 5. Hg. v. Wolfgang Butt. Frank-
furt a. M. 1984, 757–817. Proliferation der Gattungen
Strindberg, August: »Om modernt drama och modern tea-
ter«. In: Strindberg om drama och teater. Programskrifter Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht sich im
och öppna brev. Hg. v. Göran Lindström. Lund 1968, 31– europäischen Theater eine bis dato nicht dagewe-
44.
Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). sene Ausdifferenzierung der theatralen Gattungen
Frankfurt a. M. 1963. und Aufführungspraktiken. Nicht nur kommt es zu
Vinçon, Hartmut: »Einakter und kleine Dramen«. In: Mix, einer regelrecht inflationären Neueröffnung von
York-Gothart (Hg.): Naturalismus, Fin de siècle. Expres- Spielstätten und Unterhaltungsinstitutionen; die
sionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Litera-
tur 1890–1918. München 2000, 367–389.
Vielfalt der Spielstätten trifft auch auf eine geänderte
Vogel, Juliana: »Realismus und Drama«. In: Begemann, dramaturgische und Aufführungspraxis für ein Pub-
Christian (Hg.): Realismus. Epoche  –Autoren – Werke. likum aus »allen[n] Klassen der Gesellschaft« (Ge-
Darmstadt 2007, 173–188. née 1889).
Zola, Émile: »Préface«. Thérèse Raquin. Drame en quatre Die Gründe für diese Ausweitung und Heterogeni-
actes. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 6. Hg. v. Henri
Mitterand. Paris 2002, 313–317. tät von Theater sind vielfältig. Es lassen sich zwei mit-
Klaus Müller-Wille einander zusammenhängende Tendenzen herausstel-
len: Die veränderten Anforderungen an theatrale
Kunst angesichts der zunehmenden Ausdifferenzie-
rung von Medien und Unterhaltungseinrichtungen
sowie die Kommodifikation, die Ökonomisierung von
Theater, worunter ein Verständnis von Theater als
Geschäftstheater, mit dem sich Umsatz machen lässt,
zu verstehen ist. In Deutschland wird der Theater-
boom seit der Jahrhundertmitte und noch weit bis ins
20. Jahrhundert hinein von einem theater- und dra-
menkritischen Diskurs um eine ›Krisis‹, eine ›Kala-
mität‹ des Theaters begleitet.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird Theater
zunehmend von neuen Medien und Unterhaltungs-
einrichtungen flankiert. Zu den prominentesten ge-
hören Panoptika, Weltausstellungen, Völkerschauen,
Café Chantants, »Etablissements« genannte Varietés,
für edukative und unterhaltende Zwecke Bilder pro-
duzierende und distribuierende Medien wie Panora-
men, Dioramen, Fotografie, Stereobilder. Diese In-
stitutionen und Medien operieren teils mit theatra-
len Mitteln und Inszenierungsstrategien bereiten
generell den Weg für neue Wahrnehmungsformen
sowie Publikumsbedürfnisse und fordern als ›Kon-
kurrenzinstanzen‹ das Theater heraus.
Neben diesen Wettbewerb mit anderen Medien
sowie ein gesteigertes Unterhaltungsbedürfnis eines
Massenpublikums tritt seit den 1860er Jahren eine
wachsende Konkurrenz in den eigenen Reihen. Al-
lein in Berlin steigt die Anzahl der Theaterhäuser
nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 inner-
halb kurzer Zeit auf über 90 an. Entscheidendes Mo-
vens für diesen Theatergründungsboom ist – neben
einem kurzfristigen generellen wirtschaftlichen Auf-
284 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

schwung – die Einführung der Gewerbefreiheit im führung gelangen. In den späten achtziger Jahren
Jahre 1869. Theater firmiert nach diesem Gesetz als des 19. Jahrhunderts feiert diese Bühne Erfolge mit
gewerbliche Einrichtung. Für das Theater sind damit der Inszenierung von Stanley in Afrika, einem ›Spek-
erhebliche Lockerungen bei der Erteilung von Kon- takelstück‹, wie es auf dem Manuskript heißt, zur
zessionen für die Eröffnung einer Spielstätte verbun- Kolonialthematik unter der Regie von Wilhelm
den. So ist fortan auch beispielsweise dem Theater Hock. Der Circus Renz, der sich insbesondere in den
fern stehenden Gastronomen die Eröffnung einer letzten beiden Jahrzehnten vermehrt auf Ausstat-
Bühne möglich. Künstlerische Befähigung bzw. Er- tungsstücke spezialisiert, zeigt 1890 die »equestri-
fahrung auf dem Gebiet der darstellenden Künste sche Original-Pantomime« Im dunklen Erdteil. Das
werden zur Erteilung der Lizenz nicht abgefragt. Adjektiv »equestrisch« deutet auf den Einsatz von
Richtlinien sind einzig der Nachweis von ausrei- Reitkunststücken im Kontext der Darbietung und
chend Kapital und Zuverlässigkeit im Betreiben von damit auf einen circensischen Charakter hin. Im
Gewerbe. Kapitalstarke Unternehmer kaufen Thea- gleichen Haus kommt 1891 Auf Helgoland oder Ebbe
terhäuser, legen die Leitung in die Hände privater und Flut auf die Bühne, eine »große hydrologische
Direktoren, denen von der zeitgenössischen Kritik Ausstattungs-Comödie«. Kennzeichen dieser Panto-
unterstellt wird, ihr vorrangiges Ziel bestehe mehr in mimen ist der Bezug zu aktuellen Themen der Zeit
positiven Geschäftsbilanzen als in einem künstle- und die aufwendige Szenografie, die visuelle und an-
risch anspruchsvollen Spielplan. Der Vorwurf lautet, dere Effekte in den Vordergrund rückt und bekannte
die Stadt- und Privattheater seien nicht mehr in der Bildzitate – entnommen den parallel existierenden
Lage, »höhere Dramen zu spielen« und müssten sich populären Bildmedien – in die Szenografie und Dra-
auf das »niedere Genre beschränken« (Köberle 1880, maturgie einbaut.
20; Linsemann 1897; Freydank 1995). Neben die Integration von Medien in die eigentli-
Die Konkurrenzsituation und die Herausforde- chen Aufführungen tritt die Integration optischer
rung von Theater durch andere Medien und Unter- Medien und nicht-dramatischer Stücke und Darbie-
haltungsinstitutionen resultiert in einer Vielgestal- tungen in die Theaterprogramme. Neben den Aus-
tigkeit der Spielpläne. Neben der klassischen Dra- stattungsstücken und Possen bestimmen Singspiele,
menliteratur, Übersetzungen oder Transformationen Ballette sowie lebende Bilder die Programme; zu-
ausländischer Theatertexte erbringen insbesondere sätzlich werden Theater und auf theatrale Unterhal-
die Privattheater eine hohe Varietät in den Spiel- tung spezialisierte Einrichtungen zu Experimentier-
plänen. Den Großteil der Darbietungen bilden feldern von Zaubereien, Vorführungen von Vertre-
Parodien auf bekannte Opern, Possen oder Aus- tern fremder Ethnien (sogenannte Völkerschauen),
stattungsstücke, die auch unter der Bezeichnung optischen Apparaten, Projektions- und anderen
›Féerie‹ (Frankreich), ›Pantomime‹ (Großbritan- Bildmedien.
nien/Nordamerika) oder ›Spektakel-Stück‹ firmie- Die Wechselwirkung von Theater mit anderen
ren. Es handelt sich hierbei um Stücke, deren Dra- Bildmedien und Themen der visuellen Kultur dieser
maturgie weitgehend auf szenische und visuelle Zeit führt zu einer Durchsetzung der Dramaturgie
Effekte ausgerichtet ist und einer stereotypen Hand- durch Bilder und optische Effekte, einer Piktoral-
lung (beispielsweise einer Reise durch fremde Län- oder visuellen Dramaturgie (vgl. Leonhardt 2007).
der oder vergangene Zeiten) folgt. Die textlichen Rudolph Genée schildert in seiner Schrift Die Ent-
Vorlagen enthalten zwar Elemente einer klassischen wicklung des Scenischen Theaters und die Bühnenre-
Dramaturgie wie aufeinander aufbauende Akte, Sze- form in München (1889) seinen Eindruck von den
nen (Bilder), Figuren, jedoch dienen sie lediglich deutschen Bühnen und stellt fest, die »Äußerlichkei-
dazu, die Bilderfolgen logisch zu reihen. Der Thea- ten«, gemeint sind die genuin theatralen Elemente,
tertext liefert nur mehr das Gerüst für eine haupt- welche früher eher als »scenische Hilfsmittel« ange-
sächlich aus szenischen Elementen bestehende Auf- sehen wurden, hätten in der zweiten Hälfte des 19.
führung. Eine prominente Bühne für Ausstattungs- Jahrhunderts die Vormachtstellung gegenüber der
stücke ist bspw. in Berlin das Victoria-Theater. Sehr dramatischen Dichtung errungen.
erfolgreich werden hier etwa Dramatisierungen der Insbesondere in Deutschland wird die Verände-
Populärromane von Jules Verne gezeigt, darunter rung durch einen Diskurs um eine als ›Theaterkala-
Die Reise um die Welt in 80 Tagen und Die Kinder des mität‹ bezeichnete ›Krise‹ der deutschen Dramatik
Kapitän Grant, die mehrere hundert Male zur Auf- und des Theaters begleitet. Die Veränderungen in
12. Der Theaterboom des 19. Jahrhunderts und die Proliferation der Gattungen 285

der Theaterpraxis stehen den dramentheoretischen Bemerkungen zu einem ›Stillstand‹ hinsichtlich der
Schriften und Kritiken der Zeit entgegen. Einerseits Dramenproduktion und -qualität und der parallelen
wird die Kommodifikation von Theater kritisch be- Ausdifferenzierung von Theaterformen, die durch
äugt; an der Krise, so die Argumentation zahlreicher einen steigenden Einsatz nicht-sprachlicher, opti-
Kritiker, seien aber auch die qualitativ minderwerti- scher Mittel, ›Äußerlichkeiten‹ charakterisiert sei.
gen Theatertexte der Zeit nicht unbeteiligt: »Litera- Dieser Diskurs ist eine Fortführung des Diskurses
turdramen«, das heißt Dramen, bei deren Konzep- des 19. Jahrhunderts um den ›Theaterboom‹ und die
tion der Aufführungsbezug vernachlässigt sei, die ›Krise des Dramas‹ (s.o.): Theaterpraktiken werden
aber den Hauptteil der zeitgenössischen Dramatik aufgrund der Orientierung an ökonomischen Richt-
bildeten, seien mitverantwortlich für eine Prolifera- linien, am Geschmack eines sozial differenten Publi-
tion der theatralen Mittel. In einer 1860 erschiene- kums sowie aufgrund der Fokussierung auf visuelle
nen Ausgabe der Recensionen und Mittheilungen Wirkung und ›Schaueffekte‹ zu Phänomenen einer
über Theater und Musik beklagt bspw. ein anonymer ›Theater-Krisis‹ stigmatisiert. Jüngste Studien sch-
Redakteur das »verwahrloste[…] Verhältnis der dra- reiben diese Narrative um, indem sie der produkti-
matischen Dichter zu unserem Theater«. Es gäbe ven Kraft und Leistung Aufmerksamkeit zollen, die
kein »richtiges« Drama mehr, verdrängt durch das sich hinter dem Theaterboom verbergen (vgl. u. a.
literarische Drama, das den Aufführungsaspekt au- Leonhardt 2007).
ßer Acht lasse. Trotz – oder auch wegen – der
vermeintlich qualitativen Einbußen innerhalb der Literatur
Dramatik ist das Interesse für Theater mit seiner
Formenvielfalt in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- Booth, Michael: Theatre in the Victorian Age. Cambridge
1991.
hunderts bei einem breiten Publikum äußerst ausge- Freydank, Ruth: Theater als Geschäft. Berlin und seine The-
prägt. Von der ›Theatromanie‹, einer Theaterbegeis- ater um die Jahrhundertwende. Berlin 1995.
terung, wie sie im 18. Jahrhundert in sozial eher eli- Genée, Rudolph: Die Entwicklung des Scenischen Theaters
tären Kreisen ausgeübt wird, unterscheidet sich der und die Bühnenreform in München. 1889.
Köberle, Georg: Der Verfall der deutschen Schaubühne und
›Theaterboom‹ des 19. Jahrhunderts in seiner Pro-
die Bewältigung der Theater-Calamität. Leipzig 1880.
duktion und Rezeption dadurch, dass er Unterhal- Leonhardt, Nic: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und
tung für heterogene Publika bietet und am wenigs- Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899). Bielefeld 2007.
ten ein Instrument zur sozialen Distinktion ist. Der Linsemann, Paul: Die Theaterstadt Berlin. Eine kritische
Philologe K. Strecker formuliert – in pejorativ kriti- Umschau. Berlin 1897.
Marx, Peter W.: Ein theatralisches Zeitalter. Tübingen 2008.
schem Duktus – die Erwartungen des zeitgenössi- Marx, Peter W./Watzka, Stefanie (Hg.): Berlin auf dem Weg
schen Publikums in seiner 1911 erschienenen Schrift zur Theaterhauptstadt. Tübingen 2007.
Der Niedergang Berlins als Theaterstadt wie folgt: Schanze, Helmut: Drama im Bürgerlichen Realismus (1850–
»Der Tag macht müde und schwächt gen Abend die 1890). Theorie und Praxis. Frankfurt a. M. 1973.
Schwartz, Vanessa R.: Spectacular Realities. Early Mass Cul-
Empfänglichkeit für schwere Kunst. Sich von 8–11
ture in Fin-de-Siècle Paris. Berkeley u. a. 1998.
noch in die nachdenklichen Probleme eines Hebbel Strecker, Karl: Der Niedergang Berlins als Theaterstadt. Ber-
oder Ibsen zu vertiefen, ist der abgearbeitete Gegen- lin 1911.
wartsmensch oft rein physisch außerstande« (Stre- Nic Leonhardt
cker 1911, 15 f.).
In der Theatergeschichtsschreibung vollzieht sich
erst allmählich eine Anerkennung des kreativen Po-
tentials und des produktions- wie rezeptionsästheti-
schen Reichtums des Theaterbooms und der Prolife-
ration der theatralen Gattungen. Während in den
Dramen- und Theatergeschichten Frankreichs,
Großbritanniens und Nordamerikas das Theater des
19. Jahrhunderts in seiner (populären) Breite erfasst,
wahr- und ernst genommen wird, finden sich in den
deutschen Standard-Nachschlagewerken kaum Hin-
weise auf die Varietät der dramatischen und theatra-
len Gattungen in Deutschland. Stattdessen gehäuft
286 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

13. Kurzformen des Dramas der modernen Experimentierbühne zusammen, die


in Europa in den 1880er Jahren ihr Modell in dem
seit der Moderne von André Antoine gegründeten Théâtre libre in Pa-
ris findet. Bezeichnend ist der Eröffnungsabend, an
13.1 Kurzformen in der Theater- dem vier einaktige Stücke von komprimierter for-
geschichte maler Prägung gemäß neuesten naturalistischen
Themenforderungen geboten werden. Rasch bür-
Versteht man Kürze in rein quantitativem Sinne, so gern sich in Frankreich neue Begriffe für diese expe-
besagt das wenig, wenn man an die dramatische rimentellen Kurzformen ein, »un quart d’heure«,
Form und deren Gattungen denkt. Zunächst fallen währenddessen eine »tranche de vie« gezeigt wird,
einem eher aufführungsgeschichtliche Gepflogen- oder die »comédie rosse«, eine zynische Kleinkomö-
heiten ein, etwa wenn im Rahmen der Abendgestal- die, bei der dem Zuschauer das Lachen im Halse ste-
tung – in früheren Jahrhunderten – zwischen den cken bleibt, und alle zusammen bilden das neue
Teilen einer mehrstündigen Opernaufführung ein »genre théâtre libre«.
komisches Intermezzo gespielt wurde oder nach ei- Dieses Modell macht Schule in internationalem
nem Tragödienabend noch ein Ausklang in Gestalt Rahmen und findet Widerhall in August Strindbergs
einer Kleinkomödie oder eines heiteren Balletts vor- programmatischem Essay »Über modernes Drama
gesehen war. Gemischte Programme, die mit mehre- und Theater«, in dem der Einakter als »Formel des
ren Genres aufwarten, sind im europäischen Theater kommenden Dramas« gekennzeichnet wird, wes-
vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, v. a. auf den Unter- halb die Abhandlung wenig später umbenannt wird
haltungsbühnen, üblich. Dazu gehören Kleingenres und als »Der Einakter« (1889) erscheint. Unter die-
wie Zwischenspiele, Burlesken, einaktige Komödien, sem Titel-Begriff wird die ästhetische Polemik gegen
weiterhin die zahlreichen Varianten der beliebten die alte vielteilige Handlungsdramatik ausgetragen.
Tableau-Dramatik (vgl. Kap. II.5), semi-musikali- Dass sich unter dem neuen Etikett Einakter alle
sche Formen nach französischem Vorbild wie das möglichen Formen und Experimente von wenig
Vaudeville en un acte, kurze Szenen wie das Divertis- ausgeprägter Eigenart subsumieren lassen, führt zu
sement oder die Farce, nicht zuletzt die beliebten einer charakteristischen Unschärfe des Begriffs. So
Proverbes dramatiques. Dazu ist zu bemerken, dass hat auch Strindberg keine Dogmatisierung einer be-
die Kurzformen nicht nur in den offiziellen Reprä- stimmten Form vorgenommen, sondern mit seinen
sentations- und Bildungstheatern und den kommer- »Elf Einaktern« eine Art Musterkollektion vorgelegt
ziellen Unterhaltungsbühnen, einschließlich Revue (Törnquist 1996): In Gestalt der modernen Psycho-
und Variété, sondern auch im Sektor der Laienthea- logie prägt die Wissenschaft nun die Rollengestal-
ter weite Bereiche abdecken. Insgesamt muss die rei- tung; Einheit von Handlung und Zeit bemessen sich
che Theaterkultur der kleinen Formen, wie sie im 19. an realistisch verstandenen Wahrscheinlichkeitsnor-
Jahrhundert besteht, als wichtige Voraussetzung für men; die rapide Beschleunigung der Verläufe zu un-
die verschiedenen Phasen avantgardistischer Thea- unterbrochenen Kampfszenen entspricht nicht nur
terreform im 20. Jahrhundert verstanden werden. moderner Zeiterfahrung, sondern auch der Auffas-
sung vom menschlichen Verhalten als Kampf um
Durchsetzung nach dem Stichwort vom »Kampf der
Gehirne« und dem »survival of the fittest«; die De-
13.2 Entstehung des Einakters im ckung von Spielzeit und gespielter Zeit überträgt die
19. Jahrhundert radikale Forderung nach Wirklichkeit auf die Büh-
nengestaltung, die sich thematisch dem psycho-
Theater- und dramengeschichtlich aussagekräftig logisch-sozial gesehenen Lebensausschnitt, einer
wird Kürze erst, wenn sie dramaturgisch bestimmt, »tranche de vie«, verschrieben hat.
strukturell gefordert und ästhetisch begründet wird Insgesamt gilt für diesen mehrfachen Aufbruch,
(Neumann 1994). Dies ist im Bereich des Schau- dass er bühnengeschichtlich auf längere Zeit durch
spieltheaters erst um die Wende des 19. zum 20. die mehrheitliche Abneigung des Publikums be-
Jahrhundert der Fall, als der Einakter zum zukunfts- stimmt ist. Systematisch gesehen, sind die Kurzfor-
weisenden Muster moderner Dramatik proklamiert men geprägt durch die Ersetzung der Handlung
wird. Seine Entstehung hängt mit der Herausbildung durch die Situation, durch Verdichtung von Konflik-
13. Kurzformen des Dramas seit der Moderne 287

ten zu reinen Konfrontationsszenen, durch Konzen- der Formbindung an Totentanz-Szenarien mit Der
tration auf Krisen per se, in denen menschliche Ver- Thor und der Tod (1893) sowie, mit genregeschicht-
hältnisse – in jedem Falle katastrophal – implodie- lich ganz eigenen Varianten des Einakters, Der weiße
ren oder explodieren. Fächer (1898) oder Die Frau im Fenster (1898). Be-
zeichnenderweise wählt er mit Vorliebe als Unterti-
tel traditionelle Etikette wie »Vorspiel«, »Zwischen-
spiel«, »Proverb«, auch wenn diese inhaltlich die Ei-
13.3 Symbolistische Kurzdramatik genart der jeweiligen Stücke nur wenig treffen, aber
so bindet er die formale Neuerung an Signale einer
Kaum weniger folgenreich für die Stabilisierung spe- historischen Ästhetik.
zifischer Bereiche von Kurzformen ist das Pro- Abgesehen von solchen Kurzformen lyrischer
gramm eines théâtre statique, zu dem Maurice Mae- Selbstaussprache für die Bühne, in mystischer oder
terlinck mit den Korrespondenzbegriffen einer All- ästhetizistischer Grenzlage, entstehen im Wien der
tagstragik und einer von der Todeserfahrung Jahrhundertwende weitere Grundmodelle mit den
geprägten »situation de l’homme dans l’univers« die Einaktern von Arthur Schnitzler. Die frühen Stücke
metaphysischen Koordinaten bestimmt (Maeter- der Anatol-Serie verdanken sich der Herauslösung
linck 1896). Wenngleich nicht ausdrücklich auf von Szenenmustern der Komödie aus einem größe-
Kürze festgelegt, entspringen diesem symbolisti- ren Zusammenhang, so dass sich als zeitliche Pointe
schen Ansatz doch äußerst prägnante Kurzformen, der Szene der isolierte Augenblick ergibt. Sie illu-
die ab 1890 auf rund zehn Jahre europaweit stark be- strieren in spezieller Weise die historische Signatur
achtet werden. Maeterlincks Wirkung ist nicht nur des Einakters der Jahrhundertwende, die nach Ger-
auf seinen inhaltlich dezidierten Anti-Naturalismus hard Neumann darin besteht, »das Momentane in
zurückzuführen, sondern auch auf die innovativen seiner zuletzt nicht auflösbaren Spannung auf das
Forderungen, die er an die Bühnen stellt, zumal er Ganze hin als Moment der Krise auszudrücken«
mit dem ursprünglichen Sammeltitel für die frühen (Neumann 1994, 184).
Einakter bezeichnenderweise einen theatralen Von ihrer Struktur her neigen die Schnitzlerschen
Genre-Wechsel vorschlägt, welcher die offizielle Stücke wiederum zur Einbindung in einen Zyklus,
Theaterkultur der Zeit provoziert: Petites Drames der freilich nicht eine pyramidale Gesamtform der
pour Marionettes. Der Titel hat zunächst seinen Handlungsdramatik erreicht. Die Augenblicke der
springenden Punkt im Inhaltlichen, da er einen me- Anatol-Szenen lassen sich nur addieren. Die konse-
taphysischen Determinismus signalisiert, schließt quente formale Innovation, die sich daraus folgern
aber auch dramaturgisch die Komprimierung und lässt, hat Schnitzler dann im echten Zyklus, d. h. im
Verdichtung als verbindlichen Strukturwandel ein, geschlossenen Kreis der zehn einaktigen Szenen von
selbst wenn nicht ausdrücklich Einaktigkeit zur Reigen (1896/97) entworfen.
Norm gemacht wird. In Verbindung mit dem Grund- Mit den genannten Musterfällen ist die Breite der
thema der Todesverfallenheit menschlichen Lebens Entwicklung jedoch keineswegs abgedeckt. Neben
entstehen jedoch Einakter-Modelle, an welche sich den Schauspielbühnen finden zunehmend auch die
im Zeichen des »Seins zum Tode« der späteren exis- Unterhaltungstheater wie Varieté und Revue das In-
tenzialen Analyse Heideggers und Sartres und ihrer teresse der Avantgarde für kurzdramatische Expe-
Wirkungsgeschichte im Nachkriegseuropa nach rimente, da sie allen bildungsbürgerlichen Vorstel-
1945 wieder anknüpfen lässt (Bayerdörfer 1991). lungen von Bühnenkunst entgegengesetzt sind.
Andere Spielarten symbolistischer Kurzdramatik Auch im Musiktheater haben die Einakter seit Be-
ergeben sich aus einer Tendenz der Lyrisierung, wel- ginn der 1890er Jahre Konjunktur: Bereits kurz nach
che entsprechende Personengestaltung verlangt und dem Aufbruch des Théâtre libre hatte Großverleger
insgesamt Handlung und Geschehen zurücktreten Tito Ricordi mit einem Preisausschreiben für
lässt. Für die lyrische Szene kann v. a. Stéphane Opern-Einakter 1890 das Genre als zukunftswei-
Mallarmés Hérodiade (1926) als Modell verstanden sende Größe ins Spiel gebracht. Die veristischen
werden. Vielseitige eigene Szenenmuster, welche Musterwerke von Pietro Mascagni, Cavalleria rusti-
sich differenziert auch auf die Todesthematik Mae- cana (1890), und Ruggiero Leoncavallo, I Pagliacci/
terlincks beziehen, entwickelt Hugo von Hofmanns- Der Bajazzo (1892) ebnen daraufhin den weiteren
thal mit Der Tod des Tizian (1892), in historisieren- Weg, der noch 1919 zu Giacomo Puccinis veristi-
288 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

schem Einakter-Zyklus Triptychon führt. Aber be- ihre innovative Energie mit dem Untertitel »in ei-
reits 1909 entsteht in der Wiener Schule Arnold nem Akt« nicht mehr angemessen wiedergegeben
Schönbergs monodramatischer Entwurf Erwartung, finden. Zunächst steht auf wenige Jahre die Groß-
der einen radikalen Vorgriff auf die 1920er Jahre form des Strindbergschen Stationen- bzw. Wand-
darstellt. lungsdramas im Brennpunkt des Interesses, wie es
mit Ernst Tollers Die Wandlung (1919) die Bühne er-
reicht und der idealistischen Hoffnung auf einen to-
talen Neuanfang nach dem Kriegsjahrzehnt sinnfäl-
13.4 Expressionismus lig zum Ausdruck bringt.
Sofern noch einteilige Texte mit neuer Funktion
Nach den primären Anstößen zur funktionalen Um- verfasst werden, wird die Zielsetzung inhaltlich-
wertung der Kurzformen, wie sie seit 1890 erfolgt ideologisch formuliert, nicht dramaturgisch ange-
sind, ergibt sich ein neuer Schub mit den als Kurzer- zeigt. Lajos Barta versieht sein Stück Rußlands Tag
eignissen zu verstehenden spektakulären Aktionen (1920) noch mit dem Zusatz »Aktuelles Spiel in ei-
des Futurismus, welche die spätere Entwicklung des nem Akt«, Ernst Toller veröffentlicht sein knapp ge-
Happenings vorwegnehmen, sowie mit kurzdramati- haltenes Agitationsstück Der Tag des Proletariats
schen Experimenten innerhalb der expressionisti- (1921) mit der Angabe des Anlasses: »Dem Anden-
schen Bewegung. Während die älteren Autoren, die ken Karl Liebknechts«. Weitere experimentelle
noch zum Umkreis des Naturalismus zu rechnen Kurzformen erproben den Wechsel zu den neuen
sind, wie Alexander L. Kielland, Georg Hirschfeld, Medien Rundfunk und Kino. Yvan Goll entwirft mit
aber auch Randgestalten wie Paul Ernst oder der seiner pausenlos ablaufenden Chapliniade (1920)
frühe Rilke, als gattungsbestimmendes Signal den eine »Kinodichtung«, Ödön von Horvath mit Stun-
nunmehr als progressiv ausgewiesenen Untertitel den der Liebe (1929) eine Sequenz von »Sieben Sze-
»in einem Akt« beibehalten, verzichtet die jüngere nen für Rundfunk« und Brecht verfasst seinen
Generation bereits darauf oder erfindet andere Wen- Ozeanflug (1929) als »Radiolehrstück für Knaben
dungen, welche erneut die innovative Dynamik zu und Mädchen«.
signalisieren versuchen. Weder Oskar Kokoschkas Dies alles zeigt an, dass die Zeit der tonangeben-
Mörder, Hoffnung der Frauen (1908), noch Franz den Formen des statischen oder des augenblicksbe-
Werfels Besuch aus dem Elysium, Gottfried Benns It- zogenen Einakters vorüber ist – sieht man von je-
haka, Hanns Johsts Stunde der Sterbenden oder nem Sonderbereich ab, der seinen Ursprung eben-
Reinhard Goerings Seeschlacht (1917) zeigen die falls im Jahrzehnt 1880–90 hat: Aus dem komplexen
einaktige Struktur an. August Stramm gibt seinem Feld der Unterhaltungstheatralik in Paris sind am
Erstling Sancta Susanna einen lyrisierenden Unterti- Montmartre auch jene »cabarets artistiques« ent-
tel, »Ein Gesang der Mainacht«, verweigert aber bei standen, welche mit durchaus eigenständigen, viel-
seinen radikal experimentellen, ohne Aktteilung seitigen Kleinformen zu einem modernen, mehr
verfassten Stücktexten bis hin zu Erwachen oder Ge- und mehr politisch akzentuierten Kabarett führen.
schehen jeden Hinweis, der das schockhaft Innova- Die Initialgründung des Chat noir 1881 in Paris hat
tive vorab andeuten und so Hilfe zur Entschlüsse- internationale Folgen, u. a. in Berlin mit dem Über-
lung bieten würde. Hingegen zeigt Reinhard Johan- brettl (1901) und in München mit den Elf Scharfrich-
nes Sorge seinen Einakter Odysseus als »Dramatische tern (1901). Auch erweist sich die Kabarettästhetik
Phantasie« an, Wassily Kandinsky nennt sein Szenar mit der Fülle ihrer genreübergreifenden Kurzformen
Der gelbe Klang eine »Bühnenkomposition« und for- als Vehikel des Experiments (Bayerdörfer 1978).
muliert so programmatisch die Abkehr von einer Dazu tragen nicht nur die expressionistischen bzw.
sprachlichen Grundlage zugunsten des szenisch- auf internationaler Ebene die futuristischen Klein-
musikalisch-malerisch konzipierten Spiels, wobei bühnen seit 1910 bei, bis hin zur Züricher Exilstätte
der Titel zugleich das ästhetische Programm der der Dadaisten, dem Cabaret Voltaire, sondern auch
Synästhesie benennt. Georg Kaiser stellt seinem Ein- die modernisierten volkstümlichen Komiktraditio-
akter-Erstling Schellenkönig die schockierende An- nen wie in Rudolf Nelsons Berliner Kabaretts oder in
zeige »Eine blutige Groteske« voran. den Szenen Karl Valentins in München. Mit neuen
Insgesamt aber spricht die Unentschiedenheit ästhetischen Erweiterungen werden in den 1920er
bzw. das Zögern dafür, dass die jungen Dramatiker Jahren die großstädtischen Kabarette zur Quelle
13. Kurzformen des Dramas seit der Moderne 289

pointierender und intellektuell brillanter Spielfor- päische Theaterszene zurückwirken. Bezeichnend


men, die für die weiteren Phasen der Theaterreform ist zum einen die irische Situation, wo sich ab 1899
vielseitige Anregungen bereithalten. das Irish Literary Theatre (ab 1904 mit dem Dubliner
Weiterhin bleiben innovative Kleinformen, deren Abbey Theatre), gegründet von Lady Augusta Gre-
Ansätze teilweise zurückliegen, in den 1920er Jahren gory und William Butler Yeats (1899), als Triebkraft
im Musiktheater wichtig. Schönberg hat seiner Er- der Moderne profiliert. Die neuen Formen von
wartung (Libretto: Marie Pappenheim, 1909) als Kurzdramatik zeitigen hier mit der herausfordern-
weiteren Einakter Die glückliche Hand (1917) folgen den Ästhetik einen politischen Abgrenzungseffekt
lassen, beide kommen erst mit den Uraufführungen gegenüber der englischen Unterhaltungsdramatik
(1924/1923) zur Wirkung. Als weitere Ausstrahlung und ihren vielteiligen Handlungsmodellen. Es sind
der Wiener Schule ist Der Zwerg (Libretto: Georg C. die Einakter-Serien der Lady Gregory, welche die
Klaren nach Oscar Wilde, 1921/22) von Alexander neue Dramaturgie inspirieren, indem sie die Kurz-
von Zemlinsky zu verzeichnen, während gleichzeitig formen mit nationalirischen mythischen oder histo-
Dramatiker der jungen Generation sich mit Lib- rischen Stoffen mittels eines dichten Gewebes von
retto-Einaktern versuchen, so Georg Kaiser mit Der Motiven und Anspielungen auf volkskulturelle
Zar läßt sich photographieren. Opera buffa in einem Überlieferungen anreichern. In diesselbe Richtung
Akt (Musik: Kurt Weill, 1927/28) oder Alfred Döblin weisen Stücke von John Millington Synge, u. a. die
mit einem dialogischen Kurzstück Das Wasser, das Einakter The Shadow of the Glen und Riders to the
er mit dem Untertitel Kantate versieht (Musik: Ernst Sea (1904), des Weiteren das ebenso vielseitige wie
Toch, 1930). Gleichzeitig vertont Paul Hindemith ei- umfangreiche kurzdramatische Oeuvre von William
nen expressionistischen Leit-Text und gewinnt so Butler Yeats, beginnend mit Werken wie The Sha-
Kokoschkas Mörder Hoffnung der Frauen für die dowy Waters oder Deirdre (1906). Außer dem Ein-
Musikbühne und kreiert mit Hin und Zurück (Lib- fluss von Edward Gordon Craig ist es der von Mae-
retto: Marcellus Schiffer, 1927) einen gleichsam terlinck, dem Yeats starke Anregungen für die for-
zweiteiligen Einakter, in dessen zweiter Hälfte die male Neuerung der Kürze verdankt. Zu erwähnen ist
erste rückwärts abläuft. weiterhin – v. a. mit Blick auf die späteren Texte – die
Trotz solcher innovativer Weiterführungen ist für durch Ezra Pound vermittelte Kenntnis japanischer
die 1930er Jahre zu konstatieren, dass die Kurzdra- Nō-Spiele und ihrer Ästhetik (vgl. Kap. III.3.1), be-
matik ihre dynamische Entfaltung weitgehend ein- sonders deutlich ausgepägt etwa in At the Hawk’s
büßt. Der spezielle Impuls »Einakter« besagt nur Well (1916) oder The Dreaming of the Bones (1919).
noch wenig, da sich die Aktstruktur als Gliederungs- Der symbolistische Grundzug wird im weitestrei-
und Aufbauprinzip im Zuge neuer großräumiger chenden Sinne kulturgeschichtlich angereichert,
Spielformen ohnehin verloren hat bzw. zu einer un- ohne dass noch ein direkter Aneignungs-Exotismus
verbindlichen Gestaltungsdevise neben anderen ge- der Japan-Mode im Spiel wäre.
worden ist. Sieht man von wenigen Einzelwerken ab, Ähnlich verhält es sich mit einer analogen Ent-
wie etwa Jean Cocteaus effektpsychologischem Mo- wicklung in den Oststaaten der USA, die im Zeichen
nodrama, einer »Telefonszene« mit dem Titel La der gegen die größeren Unterhaltungsbühnen antre-
Voix Humaine (1939), so hat sich die ursprüngliche tenden little theaters steht. Psychologisch-realistisch
Radikalität der Kürze verbraucht. und stark von Strindberg bestimmt sind die frühen
Einakter von Eugene O’Neill für die Provincetown
Players, die ab 1916 in New York City spielen. Nach
einem ersten Band Thirst and Other One-Act Plays
13.5 Englischsprachiges Kurzdrama (1914) erscheinen die vielgespielten einaktigen Mo-
dellstücke wie The Moon of the Caribbees und Bound
Blickt man unter internationaler Perspektive noch East for Cardiff. Weitere Stücke der Glencairn-
einmal auf den gesamten Zeitraum zwischen 1890 Sammlung sind ebenfalls der Szenerie von Bound
und die 1920er Jahre zurück, so fallen weitere Thea- East zuzuordnen: Zugrunde liegt eine spezifische
terkulturen ins Auge, in denen die Dynamik des von Person-Raum-Konstellation im Inneren eines Fracht-
verschiedenen Seiten modernisierten Kurzdramas schiffs, das auf hoher See treibt, so dass Mannschaft
Erneuerungsschübe anzeigt, die später stimulierend wie Reisende in kompletter Isolation – wie später im
wie repertoiremäßig innovativ auf die zentraleuro- existenzialistischen Einakter – miteinander kon-
290 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

frontiert sind. Diese frühen Dramen-Serien O’Neills wicklung. Besondere Bedeutung haben die grotes-
leiten zu einer Erneuerung des amerikanischen ken Einakter aus der Feder Michel de Ghelderodes,
Theaters über, die diesem eigenständiges Profil ver- deren Bühnengeschichte im Paris der Nachkriegs-
leiht (Hebel 1996; Herget 1996). zeit fast unmittelbar an die früheren Erprobungs-
phasen anknüpft. Weitere genregeschichtliche Ei-
genständigkeit hat das dramatische Frühwerk Jean-
Paul Sartres, wobei dem existenzialistisch kompro-
13.6 Absurde Kurzdramatik misslosen Einakter Huis Clos (UA 1944) eine
Schlüsselfunktion zukommt. Gleiche Bedeutung für
Eine neue Perspektive ergibt sich zum Kriegsende die Kurzdramatik hat das Frühwerk Eugène Io-
aufgrund der allgemeinen kulturellen und geistigen nescos, zu dem der Autor die Formeln des »anti
Situation, aber auch hinsichtlich der Lage der Büh- théâtre« und des »anti pièce« bereitstellt, welche den
nen, der Literatur und der Dramatik; der neue geis- provokativen Elan nicht nur inhaltlich ausweisen,
tige Horizont ist von der radikalen Sinn- und Wert- sondern auch die gewohnten Vorstellungen von sze-
zertrümmerung der Kriegsjahre geprägt. Für die nischem Spiel oder dramatischem Text radikal in-
Dramaturgie kommt es mit der Genese des absurden frage stellen.
Theaters zu einer kreativen Phase von Kurzdrama- Dramaturgisch gesehen wird die Kategorie der Si-
tik: Die geschlossene einaktige Form bietet sich einer tuation dominant gegenüber Handlung oder Ge-
Richtung an, welche unter dem Eindruck der Leben schehen. Letzteres tendiert zur Statik, allenfalls zu
und Sinn zerstörenden Kräfte der Kriegszeit gegen- kontextloser Dynamik des Moments, sowie zu Wie-
über aller rational zu begründenden Weltgestaltung derholung statt zu Finalität. Weiterhin wird die sze-
steht, welche von Zukunftslosigkeit ausgeht, einem nische Kommunikation neu gewichtet. Sie erfolgt
prinzipiellen Geschichtspessimismus verfallen und überwiegend negativ, d. h. in den Modi des sprachli-
von tiefstem Misstrauen gegen jede Art ideologisch- chen und persönlichen Missverständnisses, der ver-
utopischer Gesellschaftstheorie erfüllt ist. Seine ak- balen Erniedrigung und der körperlichen Misshand-
tuelle Verstärkung erfährt dieser Pessimismus aus lung. Daraus folgt auf weitere Sicht der Vorrang des
der im ersten Nachkriegsjahrfünft sich aufbauenden Monologischen gegenüber allen Varianten von Dia-
Ost-West-Spannung, samt der atomaren Drohung log. Fanale der Sprachzertrümmerung – von der
und des Kalten Krieges, welche endzeitliche Assozia- Dialogzersetzung bis zur Auflösung sprachlicher Ar-
tionen auch im politischen Sinne zum inhaltlichen tikulation in Einzelphoneme – kennzeichnen den
Horizont werden lässt. Der Titel von Samuel Be- Aplomb von Ionescos Anti-Théâtre, seit La Cantatrice
cketts Endgame (1957) kann in diesem Sinne als chauve (1950), nicht weniger seit La Leçon (1951),
Schibboleth der Epoche gelten. Dass sich dramatisch einer Unterrichtsstunde, in der die Folter mittels
darunter ein Einakter verbirgt, bezeugt die radikale Sprache bis zum Mord eskaliert. Von vergleichbarer
Aufwertung der Form. Nicht nur die prägnante Radikalität ist die in Rollenspielen sich inkarnie-
Kürze bietet sich formal an, auch die sich anschlie- rende Aggressivität in Jean Genets Les Bonnes
ßende Kompositionsdevise des Kreises, wenn sich (1948), die ebenfalls in der Mordtat endet.
ein nicht abschließbares Wiederholungsspiel von Gleichzeitig lassen sich im Laufe der 1950er und
Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit abzeichnet. 1960er Jahre im Umkreis des absurden Theaters ge-
Wiewohl nicht programmatisch auf Einaktigkeit genläufige dramaturgische Intentionen beobachten:
festgelegt, kommt es im absurden Theater – in allen Bei Ionesco selbst zeichnet sich eine Öffnung zu
seinen verschiedenen Ausprägungen – zu einer mehrteiligen Formen ab, bei denen Absurdität – wie
neuen Welle von kompakten Kurzformen, in denen in Les Rinocéros (1959) – zur Chiffre für eine sozial-
Mehrteiligkeit allenfalls aus komprimierenden Wie- kritisch-panoramatische Sicht von Gesellschaft wird,
derholungsmustern – so auch die paradox anmu- ohne dass zugleich ein utopischer Horizont disku-
tende Struktur eines »geteilten« oder »zweiteiligen« tierbar würde. Eine ähnliche Ausrichtung weisen die
Einakters – entsteht. späteren Stücke von Genet auf. Demgegenüber cha-
Um die Jahrhundertmitte wird dann der Begriff rakterisiert es das Beckettsche Werk, dass die Ver-
Einakter in erster Linie mit dramatischen Konzepten knappung ständig zunimmt: Auf das Kurzdrama fol-
verbunden, die sich aus dem absurden Theater ablei- gen Kürzestszenen von enigmatischer Zuständlich-
ten. Dennoch fehlt es nicht an Variabilität der Ent- keit.
13. Kurzformen des Dramas seit der Moderne 291

Die vielseitigen Varianten und inhaltlichen Er- diesem Weg in das Genre der theatralen Mono-For-
weiterungen des formalen Modells absurder Kurz- men ein, die im Verhältnis zum Einakter in den fol-
dramatik verbinden sich in den 1950er Jahren mit genden Jahrzehnten weitere genregeschichtliche
weiteren Namen wie Fernando Arrabal, Jacques Au- Kontinuität entfalten (Bayerdörfer 1981). Unter-
diberti, Arthur Adamov, Václav Havel, Sławomir schiedliche formale Muster setzen sich bühnenge-
Mrożek und, nicht zuletzt, mit Harold Pinter, dessen schichtlich durch, so beispielsweise Peter Hacks’ Ein
prägnant einaktige Formen mit The Room (1957) Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn
und The Dumb Waiter (1959) einsetzen. von Goethe (1975) oder Patrick Süskinds Der Kont-
Auch mediengeschichtliche Grenzgänge demons- rabaß (1981), ehe sich neue richtungsweisende Präg-
trieren die Flexibilität der kurzen Form. Die vielsei- nanz in Albert Ostermaiers Radio noir (1998) ab-
tige experimentelle Erprobung in Richtung Hörspiel, zeichnet. Die Überlappung textloser oder rein textu-
Radiophonie etc. kennzeichnet Jean Tardieus Kol- ell angelegter Mono-Stücke lässt aber erkennen, wie
lektion von Kleinszenen, programmatisch versam- viel stärker diese Entwicklungsrichtung an der Thea-
melt unter dem Titel Théâtre de Chambre (I: 1955; II: tralität des Solo-Spielers als an einem Formtypus
1966), wobei szenische Phantasie wie stilistische von Kurzdramatik orientiert ist.
Virtuosität bereits den Titeln zu entnehmen sind,
das starke formale Interesse etwa aus Un mot pour un
autre oder La sonate et les trois messieurs ou Com-
ment parler musique. 13.7 Bedeutungsverlust
Gemessen an der dynamischen Innovation, wel-
che – international gesehen – von den Varianten ab- Bei aller Vielfalt im Einzelnen verbindet es die Ein-
surder Kurzdramatik in die Theatergeschichte der akter des 20. Jahrhunderts, dass ihre formale Dispo-
zweiten Jahrhunderthälfte eingeschleust wird, bil- sition markante Unterschiede erkennen lässt, so-
den die im deutschsprachigen Theater entstehenden wohl zu theoretischen Postulaten, welche für das
einaktige Stücke eher eine zweite Linie. Zwar ent- epische Theater (vgl. Kap. III.15) erhoben werden,
wirft Günter Grass mit Noch zehn Minuten bis Buf- als auch zu dessen gattungsgeschichtlichen Eigenar-
falo (1958) ein höchst originelles Spielszenar absur- ten, wie sie sich nicht nur mit der Brecht-Rezeption,
der Prägung, ebenso wie Wolfgang Hildesheimer sondern auch in der Wirkungsgeschichte der ameri-
mit Nachtstück (1963). Eine programmatische Be- kanischen Vorbilder ausgeprägt haben. Dabei liegt
deutung erhält die Kurzform jedoch erst in Peter dieser Unterschied keineswegs darin, dass sich die
Handkes frühen Sprechstücken (1964/65), wobei ne- absurde bzw. groteske Einakter-Dramatik der
ben Weissagung, Selbstbezichtigung oder Hilferufe 1950/60er Jahre politischer Akzentuierung verwei-
v. a. Publikumsbeschimpfung dezidiert bühnenge- gert; aber der offene oder verdeckte didaktische An-
schichtliche Bedeutung aufweist. Ähnlich verhält es spruch des epischen Theaters und seiner inhaltlich
sich mit Das Mündel will Vormund sein (1969), ei- umrissenen utopischen Ansprüche verträgt sich
nem Stück, welches die Kurzform in Richtung auf kaum mit den Vorbehalten, welche in der Kurzdra-
monodramatische Ausgestaltung weiter akzentuiert. matik absurder Provenienz gegen jegliche verbindli-
Handkes Vorstoß mit diesem dialoglosen Werk weist che Deutung von Leben und Welt bestehen.
zudem in die Richtung, die auf der Ebene des reinen Insgesamt scheint sich bezüglich der Kurzdrama-
Sprechstücks Thomas Bernhard mit seinen einteili- tik zu wiederholen, was sich in den 1930er Jahren
gen Frühwerken wie Frühling einschlägt. Die Szene abgezeichnet hat: Die anspruchsvollen neuen Groß-
Die Erfundene, welche als Vorstudie zum ersten Akt formen, die sich in den 1950er Jahren durchsetzen
von Ein Fest für Boris (1967) verstanden werden und in den 1960ern hinzukommen, das dialektische,
kann, verweist auf den latent monodramatischen das dokumentarische, das politische agitatorische
Charakter weiter Teile des Bernhardschen dramati- Theater, bestimmen die Dynamik. Soweit Einakter
schen Gesamtwerks. Mit späteren Nebenwerken, wie entstehen, verbindet sich mit ihnen nicht mehr ein
den Claus Peymann zugewandten Dramoletten programmatischer Ansatz, welcher in einer spe-
(1993), kehrt der Autor dann zu kurzdramatischen ziellen Dramaturgie von Einaktigkeit seinen sprin-
Formen zurück, die aber über quasi anekdotische genden Punkt hätte. Obwohl unterschiedliche Büh-
Bedeutung nicht hinausgehen. nenexperimente zur Kürze als dramatischer Devise
Die Geschichte der Kurzdramatik mündet auf greifen, um ein innovatives Vorhaben möglichst
292 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

prägnant zu präsentieren, bleibt diese eine äußerli- Bayerdörfer, Hans Peter: »Maeterlincks Impulse für die
che Erscheinung, während der eigentliche kreative Entwicklung der Theatertheorie«. In: Kafitz, Dieter
(Hg.): Drama und Theater der Jahrhundertwende. Tübin-
Impuls von anderer Seite seine Energie bezieht. Le- gen 1991, 121–38.
diglich der Wirkungsgeschichte des absurden Thea- Bayerdörfer, Hans Peter: »Einakter mit Hilfe des Würfels?
ters kann man bescheinigen, dass sie für die Kurz- Zur Theatergeschichte der Kleinen Formen seit dem 18.
formen, die es favorisiert, im Gegenzug zum epi- Jahrhundert«. In: Herget/Schultze (1996), 31–57.
schen oder zum dokumentarischen Theater, noch Hebel, Udo J.: »›Superior in Unity and Economy?‹. Kom-
plexität und Konventionalität einer gattungsüberschrei-
auf gewisse Zeit eine Gegenposition darstellt. Des- tenden Wirkungsstruktur amerikanischer Einakter seit
gleichen neigt auch die politische Bühne, sofern sie Eugene O’Neill und Susan Glaspell«. In: Herget/Schultze
sich selbst als agitatorisch versteht, gelegentlich zur (1996), 285–314.
Prägnanz der Kürze, verstanden als Schlagkraft. Herget, Winfried/Schultze, Brigitte (Hg.): Kurzformen des
Dramas. Gattungspoetische, epochenspezifische und funk-
Richtet man den Blick auf die Jahrtausendwende, tionale Horizonte. Tübingen 1996.
so ergeben sich weitere Gesichtspunkte. Moderne Herget, Winfried: »Momente des Wartens: Bemerkungen
Theatertexte verzichten vielfach ganz auf aktähnli- zur zeitlichen Struktur amerikanischer Einakter«. In:
che Binnengliederung oder geben auf andere Weise Herget/Schultze (1996), 315–21.
durch »Szene«, »Teile« oder schlichtweg durch Maeterlinck, Maurice: »Le Tragique quotidien«. In: Le Tré-
sor des humbles. Paris/Bruxelles 1896.
Nummerierung an, wie die Sequenz zu gestalten ist, Neumann, Gerhard: »Einakter«. In: Borchmeyer, Dieter/
zu schweigen von dem Extremfall des gliederungslo- Zmegac, Viktor (Hg.): Moderne Literatur in Grundbe-
sen Textstromes bei Elfriede Jelinek und ihren Nach- griffen. Tübingen 21994, 102–09.
folgern. Wie die Akt-Dramaturgie, so wird auch der Schultze, Brigitte: »Vielfalt von Funktionen und Modellen
in Geschichte und Gegenwart: Einakter und andere
Einakter von der Entwicklung überrollt. Darüber Kurzdramen«. In: Herget/Schultze (1996), 1–29.
hinaus kann von Kurzformen kaum mehr ohne Wei- Törnquist, Egil: »The Strindbergian One-Acter«. In: Her-
teres gesprochen werden. Wesentlich stärker hat in get/Schultze (1996), 133–44.
den letzten Jahrzehnten die Bindung an theatrale Hans-Peter Bayerdörfer
Vorgaben – bis hin zu postdramatischen Impulsen –
Struktur und Gefälle der Texte bestimmt. Mit dieser
Bühnenausrichtung ist aber nicht nur eine Rest-
struktur, die sich auf Akte beziehen ließe, sondern
auch jeder Nachdruck auf Kürze als formales Kenn-
zeichen verschwunden. Die Innovationsenergie geht
von theatraler Neuerung aus, die außersprachlichen
Parameter des szenischen Spiels gewinnen Ober-
hand. Übergänge zu der Ästhetik der Performance
zeichnen sich vielseitig ab. Auch in diesem Sinne las-
sen die Entwicklungsschübe der zurückliegenden
Jahrzehnte eine markante Unterscheidung von
Kürze oder Länge, gleichgültig ob man diese nach
dramaturgischen oder szenischen Kriterien be-
stimmt, irrelevant werden.

Literatur
Bayerdörfer, Hans-Peter: »Überbrettl und Überdrama.
Zum Verhältnis von literarischem Kabarett und Experi-
mentierbühne«. In: Ders. u. a. (Hg.): Literatur und Thea-
ter im Wilhelminischen Zeitalter. Tübingen 1978, 292–
325.
Bayerdörfer, Hans Peter: »›Le partenaire‹. Form- und prob-
lemgeschichtliche Beobachtungen zu Monolog und Mo-
nodrama im 20. Jahrhundert«. In: Brummack, Jürgen
u. a. (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.
Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, 529–
62.
14. Lesedrama 293

14. Lesedrama theater characterized by a withdrawal from and re-


sistance to scenic action« (Puchner 2002, 14 f.). Im
Das Phänomen Lesedrama, d. h. eines dramatischen Lichte dieser Traditionslinie erscheinen Puchner
Textes, der nicht auf die szenische Darstellung, son- Platons Dialoge als Beispiele einer eigenständigen
dern nur auf die Lektüre ausgerichtet ist, stellt die Gat- dramatischen Form (Puchner 2010, 3–35), die im-
tungstheorie immer wieder vor Herausforderungen, merhin in Aristoteles’ Poetik unter die Formen der
weil sich für diese Gruppe von Texten nur schwerlich sprachlichen Mimesis gezählt wird (Poet. 1447b).
eine formale Bestimmung ermitteln lässt, so wenig Diese Linie des Lesedramas nutzt vornehmlich
wie sich die Ausrichtung auf die Bühne anhand in- den Dialog als rhetorische Konstruktion, um Argu-
trinsischer Qualitäten des Textes bestimmen lässt. mente einander gegenüberzustellen. Klaus W.
Hinzu kommt, dass ein Blick auf die Geschichte Hempfer hat in diesem Zusammenhang die Gattung
des Lesedramas schnell erkennen lässt, dass es sich Dialog als »Argumentations-Spiel« (Hempfer 2002,
um eine jeweils historisch kontingente Zuordnung 21 f.) bestimmt, weil die Argumente nicht bloß, wie
handelt: Was heute als Lesedrama gilt, weil es dem in einem Traktat, in eine bestimmte Abfolge ge-
allgemeinen Gebrauch, den ästhetischen, techni- bracht werden, sondern auch ein Handlungs- bzw.
schen, dramaturgischen und moralischen Möglich- Geschehensablauf (mit entsprechenden Teilneh-
keiten und Gepflogenheiten des Theaters bzw. Thea- mern) entworfen werde; insofern sei der Dialog »ge-
tertextes nicht entspricht, kann schon morgen mit nuin performativ« (Hempfer 2002, 22). Gleichzeitig
großer Wirkung auf die Bühne kommen. So galten dient ihm diese Performativität als Abgrenzungs-
bspw. Senecas Dramen gemeinhin als Texte, die für merkmal gegenüber dem Theater: »Nicht nur, daß
eine private oder öffentliche Lektüre, aber nicht für der Handlungs- bzw. Geschehenszusammenhang in
eine szenische Darstellung konzipiert waren (vgl. der Regel ein eher rudimentärer bleibt, sondern Ziel
Kap. III.2, S. 189), während sie im elisabethanischen sekundärer Modellbildung im Sinne Lotmans ist
England mit stilbildender Kraft auf die Bühne ge- nicht dieser selbst, er ist vielmehr nur Funktion im
bracht wurden (vgl. Kap. III.5.2, S. 218). Umgekehrt Hinblick auf die Vermittlung eines argumentativen
verschwinden Theatertexte aus dem Repertoire und Ziels. Das heißt, es geht nicht um die Konstitution
bleiben einzig als Lesetexte noch im kulturellen Be- einer ›Welt‹, sondern die (ansatzweise) Konstitution
wusstsein. Martin Puchner hat in diesem Kontext einer ›Welt‹ ist zur Vermittlung eines argumentati-
darauf aufmerksam gemacht, dass weder die Auto- ven Zweckes funktionalisiert« (Hempfer 2002, 22).
renintention noch die Rezeptionsgeschichte als ver- In diesem Sinne könnte man v. a. die Lehrdialoge,
lässliche Kriterien einer Bestimmung dienen kön- die im Anschluss an den »Archetypus« (Hempfer
nen: »Intentionality and reception history are, how- 2002, 1) von Platons Dialogen verfasst wurden, als
ever, only the external markers of what I take to be performativ bestimmen, weil sie eine Szene der Un-
intrinsic to the closet drama as a genre: its resistance terredung entwerfen und gleichzeitig ihre Distanz
to the theater« (Puchner 2002, 14). gegenüber einer theatralen Darstellung herausstrei-
Dieser Widerstand gegen das Theater kann als chen. Die Form dieses Dialogs, die sich schon in der
grundsätzliche Verweigerung oder als Ungenügen Antike (bspw. in Ciceros philosophischen Schriften)
einer bestimmten historisch gegebenen Form des verbreitet, wird v. a. seit der Renaissance immer wie-
Theaters verstanden werden. Entsprechend schlägt der aufgegriffen.
Puchner die Unterscheidung von zwei unterschiedli- Innerhalb dieser Gruppe gibt es eine Reihe von
chen Traditionssträngen vor: Dialogen, die sich ausdrücklich mit dem Theater
selbst beschäftigen, bspw. Diderots Unterredungen
über den ›Natürlichen Sohn‹ (orig. 1757). Für das 20.
Jahrhundert ist es Bertolt Brechts Der Messingkauf
14.1 Das zurückhaltende (1965), der hier stilbildend wirkt. Brecht nutzt – in
(»restrained«) Lesedrama deutlicher Abgrenzung von seinen dramatischen
Arbeiten – die Form des Dialogs, um seine Dramen-
Puchner definiert dies folgendermaßen: »The res- und Theatertheorie zu entfalten, wie man bereits an
trained closet drama, ranging from Plato through den programmatischen Figurennamen Philosoph,
Milton and Swinburne to Hofmannsthal, consists of Dramaturg, Schauspieler erkennen kann.
philosophical or poetic speeches and monologues, a Verwandt mit dieser Form, aber nicht deckungs-
294 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

gleich, sind die satirischen Dialoge, bspw. in Nach- Stoffe, wie etwa Hannah Mores Sacred Dramas
folge der von Lukian begründeten Tradition der To- (1782) oder Joanna Baillies The Martyr (1826). Auch
tengespräche (ca. 166/167 n. Chr.). Hierbei handelt es wenn diese Texte nicht für den professionellen Thea-
sich um Dialoge bekannter Persönlichkeiten, die terapparat geschrieben wurden, so eignete ihnen
vom Jenseits aus den Zustand der Welt beleuchten. doch jene performative Qualität, die Hempfer auch
Vor allem im 17. und 18. Jahrhundert fand diese für den Dialog konstatierte: »Whether through reci-
Form eine verstärkte Aufnahme, bspw. in Fontenel- tation, translation and/or the act of rereading, closet
les Dialogues des morts (1683) oder in den von David dramas of the Romantic period are often construc-
Fassmann verfassten Gespräche in dem Reiche derer ted to encourage a careful study of their content, if
Todten (1718–40). not their rhetorical strategies, […]« (Burroughs
Während hier der Dialog als literarisches Organi- 2007, 225).
sationsprinzip im Zentrum steht, gibt es eine Reihe Für das 19./20. Jahrhundert konstatiert Georg
von Lesedramen, die sich tatsächlich einer dramati- Lukács 1909 eine zunehmende Trennung von Litera-
schen Form bedienen, bei denen aber die Ausrich- tur und Theater: Während das Theater vornehmlich
tung auf eine theatrale Darstellung nicht klar er- den Massengeschmack des nach Unterhaltung su-
kennbar ist. Dies gilt, wie erwähnt, für die Tragödien chenden Publikums befriedige, sei dem Drama als
Senecas, die möglicherweise nur in einer Art szeni- »Buchdrama« eine neue Eigenständigkeit erwachsen
scher Lesung vorgetragen wurden, und dies gilt auch (Lukács 1985, 269). Puchner kommt zu einem ähnli-
für die Dramen der Nonne Hrotsvitha von Ganders- chen Ergebnis, wenn er das Lesedrama der Moderne
heim, die um 962 sechs Dramen verfasste. Dabei als Widerstand gegen die Normierung, die mit der
handelt es sich, wie sie in ihrer Einleitung schreibt, (jeweils zeitgenössischen) Theaterform einhergehe,
um Bearbeitungen des Terenz, dessen Dramen sie versteht (Puchner 2002, 16). Traditionelle Katego-
sprachlich schätzt, aber wegen des heidnischen In- rien des Dramas wie die Figur werden hier oftmals
halts ablehnt. Hrotsvithas Texte, bei denen unklar sprachlich zu Gesten aufgelöst. Diese Entwicklung
ist, ob sie für einen öffentlichen Vortrag oder nur zur setzt sich für das gesamte 20. Jahrhundert fort, so
Lektüre geschrieben wurden, sind insofern ein inter- lassen bspw. Samuel Becketts späte Werke wie Not I
essantes Beispiel, weil sie das Fortbestehen der litera- (1972) kaum noch Figuren entstehen; auch Heiner
rischen Form des Dramas für einen Zeitpunkt be- Müller hat immer wieder, wie in Wolokolamsker
zeugen, an dem es keine dauerhafte theatrale Praxis Chaussee I-V (1984–87), mit Textformen experi-
gab (vgl. Case 1983). mentiert, die in der Lektüre eine Komplexität und
Im deutschsprachigen Raum bildete sich im 18. semantische Ambivalenz aufweisen, die in der szeni-
Jahrhundert eine eigene Tradition des Lesedramas schen Darstellung notwendigerweise reduziert wer-
aus, die Nicholas Boyle auf das Auseinanderfallen den muss, weil die Vieldeutigkeit der Sprache durch
von Theater und Buchmarkt zurückführt: Während die Stimme eines Darstellers auf ein Aussagesubjekt
die Theater immer noch in hohem Maße von der bezogen würde. Puchner hat dies als eine dialekti-
fürstlichen Förderung abhängig waren, etablierte sche Bindung des modernen Lesedramas an das
sich der Buchhandel als Form bürgerlicher Öffent- Theater beschrieben: »What it means is that the
lichkeit; so hat etwa Lessing sein Drama Nathan der closet drama’s resistance to the theater also produces
Weise (1779) mit der Gattungsbezeichnung »Ein a theater, one that breaks apart the human figure and
dramatisches Gedicht« klassifiziert, weil er in der rebels against the mimetic confines of a stage and
damaligen Theaterlandschaft keinen Platz für ein theatrical action. It is in the gesture of rebellion that
solches Drama sah (vgl. Boyle 1986). the closet drama is still calibrated to the theater and
Im englischsprachigen Raum entwickelt sich im derives from it the material whose decomposition is
selben Zeitraum das Lesedrama als literarische Form the process through which it constitutes itself«
der Bildungsliteratur, v. a. von weiblichen Autorin- (Puchner 2002, 18).
nen als »theatre of contemplation« (Burroughs 2007,
226). Diese Texte waren mitunter ausdrücklich ge-
gen den zeitgenössischen Theaterbetrieb geschrie-
ben, weil dem Lesedrama ein anderer Reflexionsmo-
dus zugeschrieben wurde als dem inszenierten
Drama. Oftmals kreisten diese Stücke um religiöse
14. Lesedrama 295

14.2 Das überschäumende när Erahnten beschrieben, was aber den Umstand
(»exuberant«) Lesedrama verschleiert, dass hier historische Wandlungspro-
zesse am Werke sind, die das Verständnis von Drama
Puchner definiert diese Form folgendermaßen: »The und Theater grundsätzlich bestimmen. In diesem
exuberant closet drama […] resists the stage […] Sinne hat Puchner das Lesedrama auch als »privile-
through an excess of theatrical action« (Puchner ged place for thinking about the contentious relation
2002, 15). Auch Catherine Burroughs erkennt diesen between text and stage« (Puchner 2002, 18) be-
›visionären‹ Charakter des überschäumenden Lese- schrieben.
dramas, wenn sie schreibt: »[C]loset drama allows
writers (and readers) to fantasize a theatre without Literatur
consequence – without real people, without real bo-
dies – and the result is a discrete form that pays ho- Boyle, Nicholas: »Das Lesedrama: Versuch einer Ehrenret-
tung«. In: Grubmüller, Klaus/Hess, Günter (Hg.): Bil-
mage to a theory of playwrighting but not to a dungsexklusivität und volkssprachliche Literatur. Litera-
practice; to the idea of a staged play but not to its tur vor Lessing – nur für Experten? Tübingen 1986, 59–
gritty reality« (Burroughs 2007, 222). 68.
Beispiele für dieses Phänomen finden sich in der Burroughs, Catherine: »The Persistence of Closet Drama:
Theory, History, Form«. In: Davis, Tracy C./Holland, Pe-
gesamten Dramengeschichte. Oftmals handelt es
ter (Hg.): The Performing Century. Nineteenth-Century
sich um Texte, die gegen das ästhetische oder ethi- Theatre’s History. Hampshire/New York 2007, 215–235.
sche Empfinden einer Epoche verstoßen oder Case, Sue Ellen: »Re-Viewing Hrotsvit«. In: Theatre Journal
schlichtweg die technischen Möglichkeiten eines ge- 35.4 (1983), 533–542.
gebenen Theaterapparats überfordern. Typische Hempfer, Klaus W.: »Lektüren von Dialogen«. In: Ders.
(Hg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion
Beispiele hierfür sind etwa Goethes Faust II (1832), einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Re-
Christian Dietrich Grabbes Napoleon oder Die hun- naissance in Italien. Stuttgart 2002, 1–38.
dert Tage (1831) oder Karl Kraus’ Die letzten Tage der Lukács, Georg: »Zur Soziologie des modernen Dramas«
Menschheit (1919), das vom Autor für unspielbar er- [1909]. In: Schriften zur Literatursoziologie. Frankfurt
a. M. u. a. 1985, 261–295.
klärt wurde. Eindeutige formale Merkmale lassen
Puchner, Martin: Stage Fright: Modernism, Anti-Theatrica-
sich hier keine finden; meistens übersteigen aber lity, and Drama. Baltimore/London 2002.
schon die materiellen Anforderungen (Anzahl der Puchner, Martin: The Drama of Ideas. Platonic Provocations
Figuren, Menge der Szenen, technische Erforder- in Theater and Philosophy. Oxford/New York 2010.
nisse für Szenenwechsel o. ä.) die konkreten Gege- Schultze, Brigitte: »Polnisches Drama im 19. und 20. Jahr-
hundert: Traditionsbildung im nationalen und transkul-
benheiten. Wie sehr diese ›visionären‹ Dramen aber turellen Kontext«. In: Forum Modernes Theater 8.1
auch in einem konkreten soziokulturellen Kontext (1993), 28–42.
zu verorten sind, hat Brigitte Schultze mit Blick auf Stefanek, Paul: »Lesedrama? Überlegungen zur szenischen
die polnische Dramatik des 19./20. Jahrhunderts Transformation ›bühnenfremder‹ Dramaturgie«. In: Fi-
scher-Lichte, Erika u. a. (Hg.): Das Drama und seine In-
(Adam Mickiewicz, Zygmunt Krasiński, Juliusz
szenierung. Tübingen 1985, 133–145.
Słowacki) gezeigt, wenn sie feststellt, dass sich nur Peter W. Marx
im Freiraum eines bloß potenziell gespielten Thea-
ters, jene Motive und Narrative entwickeln konnten,
die für die Identifikation von Polen als »Kulturna-
tion« zentral wurden (Schultze 1993).
Es ist v. a. bei diesem Typus besonders deutlich zu
erkennen, dass das Lesedrama keine stabile Katego-
rie darstellt, sondern oftmals leichthin von der thea-
tralen Praxis über- bzw. eingeholt wird: So galt bspw.
im deutschsprachigen Raum Shakespeares Midsum-
mer Night’s Dream bis 1843 als reines Lesedrama,
weil eine Darstellung der Feenwelt als unmöglich
galt – heute gehört es zu den beliebtesten Klassikern
auf der Bühne. Dieser Wandel in der Praxis und im
ästhetischen Verständnis von Theater wird diskursiv
oftmals durch den Topos der Vorzeitigkeit, des visio-
296 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

15. Episches Theater Shakespeares, Diderots, des Sturm und Drang (Ja-
kob Michael Reinhold Lenz) und Georg Büchners.
Brecht, der Werke von Shakespeare und Lenz für die
15.1 Nicht-aristotelisches Theater Bühne bearbeitete, hob des Weiteren das chinesische
Theater mit seinem anti-illusionistischen Darstel-
Unter ›epischem Theater‹ im engeren Sinne versteht lungsstil hervor (s. Kap. III.3.3) und ließ sich zudem
man das Theaterkonzept, das Bertolt Brecht seit den – durch Frank Wedekind und Karl Valentin – vom
späten 1920er Jahren theoretisch entworfen und als Bänkelsang und vom Varieté inspirieren. Freilich
Stückeschreiber wie als Regisseur praktisch umge- übernahm er von seinen verschiedenen Anregern
setzt hat. Im weiteren Sinne bezeichnet der Aus- lediglich gewisse technische Kunstgriffe, die er, los-
druck alle Formen eines nicht-aristotelischen Thea- gelöst von ihrer ursprünglichen sozialen und ideo-
ters, deren Reihe bis in die Antike zurückreicht und logischen Funktion, den eigenen Zielsetzungen
unter denen Brechts Theatermodell lediglich einen dienstbar machte (vgl. z. B. den Aufsatz »Verfrem-
Spezialfall darstellt. Im Folgenden soll das epische dungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst«,
Theater Brechts im Mittelpunkt stehen, das sich auf- Brecht 1993, 200–210). Sein episches Theater stellt
grund seiner weltanschaulichen Voraussetzungen, daher, ungeachtet mancher Anknüpfungen und
seiner politischen Wirkungsabsichten und seiner äs- Analogien, einen eigenständigen Entwurf dar.
thetischen Strategien als geschlossene Größe von al- Dessen engeren historischen Kontext bilden die
len Vorläufern und Parallelerscheinungen abhebt. epischen Tendenzen in der europäischen und später
Da aber sein literarhistorischer und theaterge- auch in der amerikanischen Dramatik seit dem Na-
schichtlicher Ort und seine spezifischen Merkmale turalismus (vgl. Kesting 1989; Szondi 1996). Sie re-
durch einen Blick auf die Vielzahl anderer Ausprä- sultierten aus neuen Gegenständen und Perspekti-
gungen des nicht-aristotelischen Theaters präziser ven der dramatischen Dichtung, zu deren Bewälti-
erfasst werden können und Brecht selbst häufig auf gung neuartige Formen jenseits des aristotelischen
entsprechende Traditionen Bezug nahm, seien sie Typus erforderlich schienen: Das Drama bezog auf
einleitend kurz erörtert. der einen Seite vermehrt soziale und historische Zu-
Das als ›aristotelisch‹ bezeichnete Theater, Kon- sammenhänge ein, während es sich auf der anderen
trastfolie all dieser Traditionen, kann in Wirklichkeit Seite Themen wie Raum und Zeit, Erinnerung und
allenfalls partiell auf die berühmte Poetik des Aristo- Innerlichkeit zuwandte. Handlung und Dialog tra-
teles (s. Kap. I.1 und I.2) zurückgeführt werden und ten zurück, auf Kohärenz der Vorgangsverknüpfung
lässt sich nur idealtypisch erfassen. Es verbindet sich wie der Figurenpsychologie wurde zunehmend ver-
mit dem Drama der »geschlossenen Form« (vgl. zichtet. Das Drama neigte zum Zuständlichen oder
Klotz 1999), konzentriert sich also auf die dialogi- zum Parabolischen, die Bühne konnte ein Spiegel
sche Interaktion sprachmächtiger Figuren auf der der seelischen Innenwelt werden. Distanzierte Refle-
Bühne, wahrt die Einheiten von Zeit, Ort und Hand- xion machte sich geltend und sprengte die Geschlos-
lung und zeichnet sich durch Kohärenz und Strin- senheit der Bühnenillusion; häufig wurde ein über-
genz der Handlungsführung sowie durch einen geordnetes kommentierendes (episches) Subjekt
strengen, tektonischen Aufbau seiner Stücke aus. Die eingeführt. Der Naturalismus verwendete epische
klassizistischen Bühnenwerke Pierre Corneilles oder Strategien, um soziale Faktoren – das ›Milieu‹ –
Goethes Iphigenie auf Tauris (UA 1779) kommen sichtbar zu machen, auch wenn er zugleich das Illu-
diesem Idealtypus nahe. sionstheater perfektionierte, während der Expressio-
Das epische Theater (im weiteren Verständnis) nismus mithilfe des Stationendramas ganze Lebens-
umfasst Dramen und theatralische Konzepte, die läufe gestaltete. Zu den Vertretern unterschiedlicher
sich vom aristotelischen Modell abgrenzen und der Spielarten eines epischen Theaters vor und neben
»offenen Form« zuneigen. Dies gilt generell für viele Brecht zählen u. a. Paul Claudel, Luigi Pirandello,
Spielarten der Komödie, die seit jeher weniger strikt Eugene O’Neill, Thornton Wilder und Tennessee
im aristotelischen Sinne geregelt war als die Tragö- Williams. Unmittelbare Bedeutung für Brecht er-
die. Zu nennen sind außerdem der Chor als episches langten die Berliner Inszenierungen Erwin Piscators
Element im griechischen Drama, die Passions- und in den 1920er Jahren, an denen er zeitweilig mit-
Fastnachtsspiele des späten Mittelalters (s. Kap. wirkte. Piscator war kein Dramatiker, sondern Re-
III.4) und der Frühen Neuzeit sowie die Stücke gisseur, trieb die ›Episierung‹ des Theaters also aus-
15. Episches Theater 297

schließlich durch seine die Bühne revolutionierende Die erste Etappe bildeten die späten Jahre der
Aufführungspraxis voran (vgl. Piscator 1929). Er Weimarer Republik. Brecht schrieb seine Ideen in
setzte Chöre, Projektionen und andere technische verstreuten Notizen und Aufsätzen nieder, wobei
Mittel, besonders aber den Film in großem Umfang den umfangreichen Anmerkungen zu eigenen Büh-
ein, um politische, gesellschaftliche und ökonomi- nenwerken (Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny,
sche Hintergründe der dramatischen Vorgänge dar- UA 1927; Die Dreigroschenoper, UA 1928; Die Mut-
stellen zu können, und zeigte so die Abhängigkeit ter, UA 1931) besonderes Gewicht zukommt. Zu-
der Figurenschicksale von übergreifenden Faktoren. dem verfasste und inszenierte er eine Reihe von
Dabei verfolgte er pädagogische und letztlich poli- ›Lehrstücken‹, die eine ganz eigenständige Spielart
tisch-revolutionäre Absichten; kritische Einblicke des epischen Theaters repräsentieren und mit denen
sollten eröffnet, Diskussionen angestoßen werden. er an den politisch-agitatorischen und pädagogi-
Mit solchen Zielsetzungen rückt Piscator in die schen Bestrebungen linksgerichteter Künstler in der
Nähe Brechts, dessen Theaterarbeit freilich sehr viel aufgewühlten Endphase der Republik teilnahm.
breiter angelegt war. 1933 vom NS-Regime ins Exil gezwungen – er
fand zunächst in Skandinavien, ab 1941 in den USA
Zuflucht –, musste Brecht lange Zeit auf eine kon-
krete Erprobung seines epischen Theaters verzich-
15.2 Entwicklungsstadien von Brechts ten. Die großen Exildramen, die seinen anhaltenden
epischem Theater Ruhm begründen sollten, entstanden ohne unmit-
telbaren Kontakt mit der Bühne: Leben des Galilei (1.
Bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre polemi- Fassung 1938), Mutter Courage und ihre Kinder
sierte Brecht gegen den etablierten bürgerlichen (1939), Herr Puntila und sein Knecht Matti (1940),
Theaterbetrieb, der ihm nicht mehr in die moderne Der gute Mensch von Sezuan (1941), Der kaukasische
Welt zu passen schien, und schon seine frühen Stü- Kreidekreis (1944). Im Hinblick auf das theoretische
cke sind dem epischen Theater im weiteren Sinne Konzept konzentrierte er sich in dieser Phase auf die
zuzuordnen. Baal (1. Fassung 1918) bietet eine lo- Verfremdung und den »V-Effekt« (s.u.), die in den
ckere Szenenreihe, zusammengehalten nur durch früheren Überlegungen noch fehlten. Die Ausarbei-
die Haupt- und Titelfigur, deren Lebensweg sie tung der Theorie erfolgte weiterhin in zahlreichen
nachzeichnet, Trommeln in der Nacht (1919) arbeitet kleinen Schriften, darunter dem wichtigen Vortrag
mit anti-illusionistischen Effekten, Im Dickicht »Über experimentelles Theater« (vgl. Brecht 1993,
(1922) stellt die Möglichkeit dialogischer Verständi- 540–557), und erreichte mit dem Kleinen Organon
gung zwischen den Menschen grundsätzlich in für das Theater von 1948 einen gewissen Abschluss
Frage. Doch erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts (vgl. Brecht 1993, 65–97). Das groß angelegte Mes-
begann Brecht, parallel zu seiner Hinwendung zum singkauf-Projekt, in dem Brecht seine Theorie aus-
Marxismus, ein fest umrissenes Theaterkonzept zu führlich entwickeln wollte und an dem er v. a. zwi-
entwickeln, für das er seit 1926 den Terminus ›epi- schen 1939 und 1941, gelegentlich aber auch noch in
sches Theater‹ verwendete. Von Anfang an gingen späteren Jahren arbeitete, blieb Fragment (vgl.
seine theoretischen Überlegungen mit praktischen Brecht 1993, 695–869). Nach der Etablierung in Ost-
Experimenten Hand in Hand. Eben weil Brecht Berlin 1948/49 war Brecht schließlich vorwiegend
nicht nur Stückeschreiber, sondern auch Regisseur mit der praktischen Theaterarbeit an dem von ihm
und Dramaturg war, konnte er ein episches Theater begründeten Berliner Ensemble befasst und ver-
im umfassenden Sinne entwerfen, das Techniken der wirklichte seine Vorstellungen in Musterinszenie-
Konstruktion von Stücken ebenso einschloss wie rungen eigener wie fremder Stücke. In Notizen aus
den Darstellungsstil der Schauspieler und alle übri- dieser Zeit erwog er, den Terminus ›episches Thea-
gen Elemente einer Bühnenaufführung. Aus demsel- ter‹ durch ›dialektisches Theater‹ zu ersetzen.
ben Grund war er für seine Arbeit in hohem Grade Eine systematische, erschöpfende Darstellung sei-
auf praktische Wirkungsmöglichkeiten angewiesen, ner Konzeption hat Brecht weder vorgelegt noch an-
deren Ausmaß wiederum von den zeitgeschichtli- gestrebt. Bezeichnend ist die für den Messingkauf ge-
chen Umständen abhing. Die Wechselfälle der poli- wählte Einkleidung in eine Reihe von Gesprächen:
tischen Lage in Deutschland und der Welt bestimm- Ein marxistischer Philosoph sollte an mehreren
ten daher die Phasen seines Schaffens. Abenden mit einigen Theaterpraktikern Möglich-
298 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

keiten und Aufgaben eines neuen, gesellschaftskri- weg überschaubar: Statt komplexer Geschehenszu-
tisch engagierten Theaters diskutieren. In dieser sammenhänge bringen die Lehrstücke vereinfachte
Form spiegelt sich die Eigenart der Brechtschen Modelle menschlichen Verhaltens und sozialer Kon-
Theorie, stets im Fluss zu bleiben und immer wieder flikte auf die Bühne und diskutieren Lösungsvor-
neue Akzente zu setzen. Gleichwohl können die schläge in theatraler Form. Ein zentrales Thema ist
Kernideen, die das epische Theater konstituieren, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das
ohne Weiteres benannt werden, da sie teils von An- Aufgehen des Einzelnen im (sozialistischen) Kollek-
fang an, teils seit Mitte der 1930er Jahre durchgängig tiv. Das häufig wiederkehrende Motiv des Sterbens
anzutreffen sind und im Laufe der Zeit auch keine muss teilweise in diesem Sinne und folglich meta-
grundsätzliche Veränderung erfahren haben. phorisch verstanden werden. Die Verabschiedung
des autonomen, selbstmächtigen Individuums, die
in Brechts Augen eine unvermeidliche Konsequenz
der Entwicklungen der modernen Welt darstellte,
15.3 Die Lehrstücke bedeutete freilich einen Angriff auf traditionelle
bürgerliche Wertvorstellungen, der von vielen Zeit-
In den Lehrstücken (vgl. Steinweg 1976; Krabiel genossen als massive Provokation empfunden
1993) – dazu gehören u. a. Das Badener Lehrstück wurde.
vom Einverständnis (UA 1929), Der Jasager (UA Die Lehrstücke waren an die politischen und ge-
1930), Der Neinsager (UA 1931) und Die Maßnahme sellschaftlichen Konstellationen der späten Weimarer
(UA 1930) – verarbeitete Brecht Anregungen sowohl Republik gebunden, insbesondere an die Kultur der
der kommunistischen Agitprop-Truppen als auch organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland. Zu-
der Gebrauchsmusikbewegung. Einen weiteren Aus- dem bedurften sie unbedingt der experimentellen
gangspunkt bildeten seine Bemühungen um eine Erprobung auf der Bühne. Nachdem diese Vorausset-
grundlegende Umfunktionierung der technisch-me- zungen 1933 mit der Machtübernahme der National-
dialen Apparate, vornehmlich des Radios, für das ei- sozialisten weggefallen waren, konzentrierte sich
nige der Lehrstücke gedacht waren. Eine einheitliche Brecht auf die Ausarbeitung einer weit weniger radi-
Lehrstück-Theorie entwickelte Brecht nicht, doch kalen Fassung des epischen Theaters, die v. a. die her-
lassen sich sehr wohl wichtige allgemeine Merkmale gebrachte Trennung von Bühnengeschehen und Pu-
dieses »Spieltyps« (Krabiel 1993) ausmachen. Vom blikum im Prinzip unangetastet ließ. Die Beziehung
etablierten Theater- und Kulturbetrieb grenzen sich zwischen diesen beiden Elementen der theatralen
die Lehrstücke strikt ab. Sie wollen zur kritischen Veranstaltung sollte allerdings gegenüber der ›aristo-
Bewusstseinsbildung anregen, aber das angestrebte telischen‹ Norm vollständig umgestaltet und auf ein
kollektive Lernen soll sich im Spielen selbst vollzie- neues Fundament gestellt werden.
hen, weshalb die Texte in erster Linie als Übungsma-
terial für Laiendarsteller konzipiert sind. So waren
an der Uraufführung der Maßnahme 1930 mehrere
Berliner Arbeiterchöre mit rund 300 Sängern betei- 15.4 Grundzüge des epischen Theaters
ligt; andere Lehrstücke richteten sich vorrangig an
Schüler. Zuschauer werden dagegen bei den Auffüh- Brecht setzte sich zum Ziel, ein Theater für das »wis-
rungen nicht unbedingt benötigt, auch wenn Brecht senschaftliche Zeitalter« zu schaffen. Er meinte da-
sie nicht kategorisch ausschloss. Die Musik, die ei- mit die abendländische Neuzeit, die er durch eine
nen integralen Bestandteil der Werke bildet und von krasse Diskrepanz zwischen dem erreichten Stand
Komponisten wie Kurt Weill, Paul Hindemith und der Naturbeherrschung und der Entwicklung der so-
Hanns Eisler stammt, war ebenfalls auf die Ausfüh- zialen Verhältnisse gekennzeichnet sah: Während es
rung durch Laien berechnet. den Menschen gelungen war, die Natur weitgehend
Gestalten, Situationen und Vorgänge der Stücke zu verstehen und zu unterwerfen, blieben ihre Bezie-
sind ins Typische stilisiert, das belehrend wirken hungen untereinander meist undurchschaut und
und zur Reflexion anregen soll, während auf Reali- unkontrolliert, weshalb die gewaltigen technischen
tätsillusion von vornherein verzichtet wird. Deshalb Errungenschaften ihr Leben oftmals nicht verbes-
bleiben das Figurenensemble – manchmal um einen serten, sondern vielmehr – in Form neuer Zerstö-
Chor ergänzt – und die Handlungsführung durch- rungsmittel – mit Vernichtung bedrohten. Brechts
15. Episches Theater 299

Hoffnungen richteten sich auf den Marxismus, in hen Kunsterlebnisses, sondern ein Schauplatz der
dem er die erste wissenschaftlich begründete Gesell- offenen Verständigung über drängende gesellschaft-
schaftslehre erblickte. Deren Einsichten in soziale liche Fragen. Als geeignetes Publikum visierte
Strukturen und Kräfte soll sich das epische Theater Brecht folgerichtig jene Schichten an, die ein vitales
zunutze machen, um die Kunst auf die Höhe der Interesse an tiefgreifenden Umwälzungen haben
modernen (Gesellschafts-)Wissenschaft zu heben; mussten: Gerade beim Proletariat setzte er Neugier,
es hat für den Zuschauer Belehrung, Aufklärung Lernbereitschaft und Aufgeschlossenheit für eine
und lebensweltliche Orientierung zu leisten, ist also produktive Kritik der herrschenden Zustände vor-
strikt wirkungsästhetisch ausgerichtet. Brecht erläu- aus. Indes trat er dem Eindruck entgegen, sein Thea-
tert diese Intentionen in dem Essay »Die Straßen- ter werde den Kunstgenuss gänzlich abschaffen und
szene« (Brecht 1993, 370–381) unter Rückgriff auf sich in eine trockene Lehranstalt verwandeln. Allen-
eine alltägliche Begebenheit: Ein Unfallzeuge ver- falls in der Phase der Lehrstücke erwog er ernsthaft,
deutlicht den Umstehenden den Hergang des Un- den Genuss auf dem Theater durch die Didaktik zu
glücks, indem er ihn für sie nachspielt. Analog dazu ersetzen, aber schon der Aufsatz »Vergnügungsthea-
sollen die Veranstaltungen des epischen Theaters ter oder Lehrtheater?« aus der Mitte der 1930er Jahre
die Mechanismen der gesellschaftlichen Ordnung (Brecht 1993, 106–116) entlarvt die im Titel formu-
und des menschlichen Verhaltens für das Publi- lierte Alternative als irreführend. In Anlehnung an
kum durchschaubar machen. Sogar die bei die- die Formel des ›prodesse‹ und ›delectare‹, mit der
sem anspruchsvollen Unternehmen anzuwenden- Horaz die Absichten des Dichters umschrieb, for-
den künstlerischen Mittel glaubte Brecht aus der ein- derte Brecht nunmehr – und ganz besonders im
fachen Straßenszene ableiten zu können. Kleinen Organon –, Belehrung und Genuss mitein-
Die Belehrung soll freilich nicht Selbstzweck blei- ander zu verbinden, ja die Belehrung zum eigentli-
ben, sondern praktisches Verhalten vorbereiten und chen Genuss zu machen, da ihm Wissbegierde und
ermöglichen: Der Zuschauer wird befähigt, kon- Kritik als die legitimen Vergnügungen des Men-
struktiv in seine soziale Lebenswelt einzugreifen und schen im »wissenschaftlichen Zeitalter« erschienen.
sie vernünftig umzugestalten. Demnach führt das Im Zuschauer des epischen Theaters soll ein schöp-
epische Theater die gesellschaftliche Wirklichkeit ferischer Veränderungswille geweckt werden, eine
auf der Bühne so vor, dass sie – wie die Natur schon nach Brechts Überzeugung stets als lustvoll empfun-
seit Jahrhunderten – als Objekt sinnvoller menschli- dene Haltung gegenüber der Welt. Deshalb richtet
cher Praxis erkannt werden kann; es entwirft prakti- sich sein Theater auch nicht ausschließlich an den
kable Modelle dieser Wirklichkeit. Allein solchen nüchternen Verstand des Publikums. Phantasie und
Modellen, die das Abgebildete für den Betrachter emotionale Regungen werden nicht minder ange-
beherrschbar machen, gestand Brecht das Attribut sprochen, freilich nur in Verschränkung mit ver-
»realistisch« zu. Indem er alle künstlerischen Tech- nünftigen Reflexionen. Während das aristotelisch
niken, die einen so verstandenen Realismus fördern, ausgerichtete bürgerliche Theater, von Brecht leit-
für zulässig erklärte, wich er von der Doktrin des So- motivisch mit Rausch und Hypnose assoziiert, den
zialistischen Realismus ab, die als parteioffizielle Rezipienten in eine lebensferne Fluchtwelt entführt,
Richtschnur in ästhetischen Fragen galt. Im Exil wie ist dem epischen Theater an einem Zuschauer gele-
in der frühen DDR entzündeten sich an dieser Diffe- gen, der zwar interessiert an den Vorgängen auf der
renz heftige Kontroversen zwischen dem Schöpfer Bühne teilnimmt, dabei aber stets wach und souve-
des epischen Theaters und den Vertretern der ortho- rän bleibt, um sein kritisches Vermögen ungehin-
doxen Parteilinie. dert betätigen zu können.
Das bürgerliche Theater war in Brechts Augen ein Immer wieder nutzte Brecht das idealtypisch kon-
bloßer Amüsierbetrieb, der zudem der bestehenden struierte ›aristotelische‹ – oder ›dramatische‹ –
Klassengesellschaft diente, weil er eine fragwürdige Theater als Kontrastfolie, um seine eigene Konzep-
Ablenkung von sozialen Konflikten und dem unab- tion schärfer zu profilieren. Schon 1930 veranschau-
lässigen Druck der kapitalistischen Verhältnisse an- lichte er den Gegensatz in den »Anmerkungen zur
bot. Das epische Theater sollte demgegenüber ein Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« in ei-
Ort des Lehrens und des Lernens sein – keine vom nem tabellarischen Schema, das die wichtigsten
alltäglichen Treiben geschiedene, von einer weihe- Merkmale beider Formen miteinander konfrontiert
vollen Aura umgebene Stätte des (vermeintlich) ho- (Brecht 1993, 78 f.). Die Angaben zum Bau der Stü-
300 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

cke verweisen hier unverkennbar auf den »geschlos- schmelzung all dieser Elemente zu einem überwälti-
senen« bzw. den »offenen« Typus des Dramas: »Eine genden »Gesamtkunstwerk« im Sinne Richard Wag-
Szene für die andere« versus »Jede Szene für sich«, ners, sondern belässt den einzelnen Kunstformen
»Wachstum« versus »Montage«, »Geschehen linear« ihre Selbständigkeit. Sie kommentieren jeweils auf
versus »in Kurven« – das einem organischen Gebilde ihre Weise den Gegenstand des Stückes, kritisieren
nachempfundene, sorgfältig komponierte aristoteli- und korrigieren einander und erleichtern es dem
sche Drama steht der lockeren Szenenreihe des epi- Zuschauer dadurch, in freiem Nachdenken selbst
schen Theaterstücks gegenüber. Damit gehen Unter- Stellung zu beziehen. Die Songs etwa, die in den
schiede im Welt- und Menschenbild einher: »Der meisten epischen Bühnenwerken Brechts vorkom-
Mensch als bekannt vorausgesetzt« versus »Der men, gehen keineswegs organisch aus der Handlung
Mensch ist Gegenstand der Untersuchung«, »Der hervor, sondern sind deutlich von ihr abgesetzt.
unveränderliche Mensch« versus »Der veränderliche Brecht empfahl, ihre Sonderstellung z. B. durch ei-
und verändernde Mensch«, »evolutionäre Zwangs- nen Wechsel der Beleuchtung zu unterstreichen.
läufigkeit« versus »Sprünge« und »Der Mensch als Die schematische Kontrastierung der beiden
Fixum« versus »Der Mensch als Prozeß«. Das aristo- Spielarten des Theaters kann allerdings leicht zu
telische Theater entwirft nach Brecht eine im Missverständnissen führen. Das gilt insbesondere
Grunde statische, nämlich von unantastbaren Geset- für das abschließende Paar der Reihe, das »Gefühl«
zen regierte Welt. Der Mensch ist dort einem Schick- und »Ratio« einander gegenüberstellt und das epi-
sal unterworfen, das sich seinem Einfluss entzieht, sche Theater damit einseitig auf Verstandestätigkeit
wobei es keine wesentliche Rolle spielt, ob dieses und kühle Belehrung festzulegen scheint. Eine erläu-
Schicksal auf eine zeitlose ›Menschennatur‹ oder auf ternde Fußnote soll einer solchen Interpretation
das Walten ›göttlicher Mächte‹ zurückgeführt wird vorbeugen: »Dieses Schema zeigt nicht absolute Ge-
oder ob es, wie im Naturalismus, mit den Zwängen gensätze, sondern lediglich Akzentverschiebungen«
des Milieus in eins fällt. Das epische Theater zeigt (Brecht 1993, 78). In späteren Jahren bemühte sich
dagegen sowohl den Menschen als auch die soziale Brecht, wie erwähnt, den vermeintlichen Gegensatz
Ordnung als offene Prozesse und liefert so das ge- zwischen »Vergnügen« und »Lernen« ganz zu über-
samte Feld menschlicher Beziehungen und Verhal- winden, »Emotion« und »Ratio« miteinander zu
tensweisen dem konstruktiven Eingreifen aus. Es ist versöhnen. Um das Publikum des »wissenschaftli-
deshalb auch weniger an einer tiefgründigen psy- chen Zeitalters« unterhaltsam zu belehren, muss das
chologischen Analyse komplexer Individuen als an epische Theater weder auf sämtliche überlieferten
den sozialen Haltungen, am ›Gestus‹ seiner Figuren theatralen Mittel noch auf ästhetische Reize verzich-
interessiert. ten; sie werden nur auf neue Art und zu neuen Zwe-
Im Hinblick auf die Beziehung des Publikums zu cken eingesetzt. Der Aspekt des Tragischen (vgl.
den inszenierten Geschehnissen formuliert das Kap. I.3.1) freilich, sofern er aus unabänderlichen
Schema den schon oben berührten Gegensatz zwi- Gesetzmäßigkeiten und unentrinnbaren Zwängen
schen der suggestiven Vereinnahmung eines ›ge- resultiert, hat in Brechts dialektischem Weltbild der
bannten‹ Theaterbesuchers und der Souveränität ei- Veränderung und des eingreifenden Handelns kei-
nes distanzierten Beobachters: Die ›aristotelische‹ nen Platz mehr. Stattdessen zeigt sich das epische
Form »verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenak- Theater mit seiner Abkehr von den ›aristotelischen‹
tion«, »verbraucht seine Aktivität« und »ermöglicht Normen und seiner Lust an der Aufdeckung von Wi-
ihm Gefühle«, das epische Theater macht ihn »zum dersprüchen sowie mit der angestrebten vergnüg-
Betrachter, aber weckt seine Aktivität« und »er- lich-souveränen Haltung des Publikums der Komö-
zwingt von ihm Entscheidungen« (Brecht 1993, 78). die verwandt. Seine Figurengestaltung, die das ge-
Die geistige Unabhängigkeit des Zuschauers wollte sellschaftlich Charakteristische herausarbeitet, lässt
Brecht u. a. durch die Art des Zusammenwirkens der mitunter sogar einen direkten Einfluss der Typenko-
unterschiedlichen Künste auf der Bühne gewährleis- mödie erkennen, so z. B. in Herr Puntila und sein
ten. Das epische Theater setzt zwar – nicht nur in Knecht Matti (1940).
Opern wie Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny Brecht sah sein Theater keineswegs ausschließlich
und Die Dreigroschenoper – neben der Rede, dem an die Situation des Proletariats in der fortgeschrit-
szenischen Spiel und dem Bühnenbild auch Musik tenen bürgerlich-kapitalistischen Ordnung gebun-
und Gesang ein, zielt aber gerade nicht auf eine Ver- den. Er beharrte vielmehr darauf, dass es auch im
15. Episches Theater 301

verwirklichten Sozialismus seine Existenzberechti- Die Idee der Verfremdung antwortet auf die Ein-
gung behalten werde, weil selbst unter diesen Bedin- sicht, dass gerade die scheinbare Vertrautheit von
gungen gesellschaftliche Konflikte und Widersprü- Gegenständen, Zuständen oder Ereignisabläufen ein
che, die zur künstlerischen Auseinandersetzung her- Hindernis für deren wahres Verständnis und dem-
ausforderten, niemals vollständig beseitigt werden zufolge auch für ihre Beherrschung und Verände-
könnten. Das epische Theater galt ihm grundsätzlich rung darstellt. Was man seit jeher so und nicht an-
als adäquate Kunstform der modernen Welt mit ih- ders kennt, wirkt naturgegeben, unabänderlich und
ren komplexen, von Klassengegensätzen geprägten unantastbar, seien es nun menschliche Verhaltens-
sozialen Strukturen. weisen, verfestigte Denkmuster oder gesellschaftli-
che Strukturen. In einer solchen fatalen Selbstver-
ständlichkeit bietet, nach Brechts Ansicht, das aris-
totelische Theater seine Inhalte dar, womit es das
15.5 Die Verfremdung Publikum zur gefühlsmäßigen Einstimmung und
und der Gestus des Zeigens zur passiven Hinnahme des Gezeigten verführt. Da-
gegen will Brecht vermeintlich bekannte Phäno-
Die maßgeblichen Techniken des epischen Theaters mene durch geeignete ästhetische Mittel künstlich
demonstriert Brecht ausgehend von der Straßen- fremd, ja befremdlich erscheinen lassen und sie so
szene. Der Unfallzeuge möchte das Ereignis, das er der kritischen Prüfung und dem eingreifenden Han-
nachstellt, verständlich machen, aber er will seinen deln zugänglich machen. Daraus ergibt sich ein in
Zuschauern nicht suggerieren, es spiele sich gerade drei Stadien gegliederter Erkenntnisprozess, der von
jetzt vor ihren Augen ab. Seine belehrenden Absich- der anfänglichen oberflächlichen Vertrautheit über
ten erfordern also weder Illusion und Täuschung die Verfremdung, die das Objekt unvertraut und er-
noch eine mitreißende Wirkung, die den Betrachter klärungsbedürftig werden lässt, zu einer neuen, ver-
gefangen nimmt, sondern vielmehr die überlegte tieften Einsicht führt. Verfremdung kann demnach
Hervorhebung wichtiger Einzelzüge und Zusam- als eine durch künstlerische Techniken hervorgeru-
menhänge sowie gegebenenfalls begleitende Erläute- fene produktive Irritation definiert werden. Da sie
rungen und Kommentare. Gerade im Hinblick auf hauptsächlich dazu dient, ihre Gegenstände von ih-
den Umgang mit Illusion und Einfühlung unter- rer veränderlichen und veränderbaren Seite zu zei-
scheiden sich für Brecht aristotelisches und episches gen, ist sie überdies mit der Strategie des Historisie-
Theater. Das Erstere verstand er als ein Theater der rens verwandt, die Brecht zu ähnlichen Zwecken
vollendeten Bühnenillusion und der dadurch be- anwendete. Indem das epische Theater seine Gegen-
wirkten emotionalen Identifikation des Zuschauers, stände historisiert, demonstriert es ihre Abhängig-
während er das epische Theater seit den 1930er Jah- keit von bestimmten gesellschaftlich-geschichtli-
ren ganz auf die Verfremdung gründete, die hier an- chen Umständen und damit zugleich ihre Vergäng-
stelle der Einfühlung das Verhältnis zwischen Bühne lichkeit, wodurch es den Zuschauer von der Last des
und Publikum regulieren sollte. In dem Schema von vorgeblich Absoluten, Überzeitlichen befreit. Auch
1930 fehlt der Begriff der Verfremdung noch. Er be- und gerade gegenwärtige Zustände, etwa bestehende
wirkte in der Folgezeit allerdings keine prinzipielle gesellschaftliche Machtverhältnisse, können histori-
Revision von Brechts Auffassungen, sondern er- siert, d. h. künstlich auf Distanz gebracht und der
laubte es ihm lediglich, sein Konzept sowohl weiter Kritik unterworfen werden.
zu differenzieren als auch auf ein einheitliches Zent- Für Theorie und Praxis der Brechtschen Verfrem-
rum zu beziehen. Sämtliche Elemente des epischen dung sind verschiedene Quellen bzw. mögliche An-
Theaters – vom Bau der Stücke über deren sprachli- regungen benannt worden, v. a. Überlegungen He-
che Ausgestaltung bis hin zur Inszenierungspraxis gels, das marxistische Denken und die Ästhetik der
mit der Aktion der Schauspieler, den Masken, dem russischen Formalisten (vgl. Grimm 1984, 22 f.).
Bühnenbild, der Musik, der Beleuchtung – sollen Brecht selbst berief sich häufig auf die chinesische
dazu beitragen, die nachgeahmten Vorgänge zwi- Schauspielkunst, die er 1935 während eines Aufent-
schen Menschen zu verfremden. Dabei ist die Ver- haltes in Moskau kennengelernt hatte. Wichtiger als
fremdung eng mit einem ›Gestus des Zeigens‹ ver- die Frage nach Ursprüngen oder Parallelen ist bei
knüpft, der das epische Theater gleichfalls auf allen der Verfremdung jedoch die Vielfalt ihrer konkreten
Ebenen bestimmt. Erscheinungsformen im epischen Theater. In Gang
302 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

gebracht wird die verfremdete Wahrnehmung durch dem Bühnengeschehen hervorgeht, differenziert das
Verfremdungseffekte (V-Effekte), die sehr unter- epische Theater klar zwischen der Dimension der
schiedliche Formen annehmen können. Indem sie Handlung und der Ebene von Kommentar und Re-
Distanz zum Bühnengeschehen schaffen, unterbin- flexion. Die Letztere kann – oftmals in direkter Wen-
den sie die Einfühlung des Zuschauers und setzen an dung an die Zuschauer – durch Prologe, Epiloge und
die Stelle des suggestiven Scheins einer geschlosse- Zwischenspiele, durch Chöre und Songs sowie durch
nen Illusion den Gestus des Zeigens, der dem Publi- Projektionen von Texten oder anderen Dokumenten
kum die inszenierten Vorgänge zur Begutachtung hergestellt werden, aber auch durch die Gestalt eines
vorlegt. Im Folgenden werden die wichtigsten Bei- epischen Erzählers, wie sie in Der kaukasische Krei-
spiele für das verfremdende Zeigen in den verschie- dekreis (UA 1954) begegnet, wo ein ›Sänger‹ als auk-
denen Dimensionen der epischen Theaterkunst vor- torialer Vermittler und Spielleiter die Binnenge-
gestellt. schichte des Stückes präsentiert. Auf der Ebene der
Brechts Stücke erörtern meist anhand eines kunst- sprachlichen Gestaltung manifestiert sich die Ver-
voll stilisierten exemplarischen Falles eine allgemeine fremdung vorzugsweise in Formen von Ironie, Pa-
gesellschaftliche Problemkonstellation. Daher neigen rodie und Satire. Gerne verfremdet Brecht Sprach-
sie häufig zur Form der Parabel, des poetisch-drama- schablonen und konventionelle Wendungen durch
tischen Gleichnisses, die schon die Lehrstücke be- minimale Abwandlungen oder das pointierte Her-
stimmt, aber z. B. auch in Der gute Mensch von Se- ausstellen auffallender Widersprüche. Diese Technik
zuan (UA 1943) – von Brecht ausdrücklich als »Para- erzeugt häufig ausgesprochen komische Wirkungen
belstück« bezeichnet – anzutreffen ist. Dieses Werk – Mutter Courage und ihre Kinder zeigt das am deut-
diskutiert die Grundsatzfrage, ob sich der Mensch in lichsten –, geht aber weit über bloßen Sprachwitz hi-
der kapitalistischen Welt Güte leisten kann, ohne naus, weil sie in den verfestigten sprachlichen Mus-
umgehend seinen Ruin heraufzubeschwören. Mutter tern immer auch ideologische Verschleierungen, un-
Courage und ihre Kinder (1939) folgt dagegen dem angemessene Weltbilder und unreflektierte
Vorbild der Chronik, während Leben des Galilei menschliche Haltungen trifft.
(1938/39) die Stationen eines Lebensweges szenisch In der Aufführungspraxis bestimmt der Zeige-
vergegenwärtigt, aber auch diese Stücke handeln Pro- Gestus die Beziehung des Schauspielers zu seiner Fi-
bleme von übergeordneter Bedeutung ab, nämlich gur. Brecht sprach sich entschieden gegen einen na-
die Rolle der ›kleinen Leute‹ im Krieg bzw. den Kon- turalistischen Darstellungsstil aus, wie ihn z. B. der
flikt zwischen Autorität und Fortschritt und die sozi- russische Regisseur und Theaterpädagoge Konstan-
ale Verantwortung des Wissenschaftlers. In allen Fäl- tin Stanislawski mit großem Erfolg propagierte. Der
len ist die Handlungsstruktur bewusst heterogen ge- Akteur des epischen Theaters soll keinesfalls voll-
staltet, sind die einzelnen Partien der Stücke klar ständig mit der Dramenfigur verschmelzen, sondern
voneinander abgesetzt bzw. gegeneinander gestellt, sie dem Zuschauer mit kritischem Abstand vorfüh-
wodurch verhindert werden soll, dass der Zuschauer ren, seine Urteile über sie nicht zurückhalten und
von einem kohärenten Geschehensablauf allzu sehr von Fall zu Fall auch denkbare, aber nicht gewählte
gefesselt wird. Mit Vorliebe verwendet Brecht Sze- Handlungsalternativen in seinem Spiel andeuten,
nentitel, die in der Inszenierung über Projektionen um den Eindruck einer absoluten Zwangsläufigkeit
oder ähnliche Techniken vermittelt werden können. des Geschehens zu vermeiden; Brecht nannte dies
Wenn diese Titel, etwa in Leben des Galilei, den in- die Fixierung des ›Nicht – Sondern‹. Auch das Büh-
haltlichen Kern der folgenden Szenen schon vorweg- nenbild betont den modellhaften Charakter der Auf-
nehmen, verschaffen sie dem Betrachter einen Wis- führung und verzichtet auf Illusionswirkungen, die
sensvorsprung gegenüber den fiktiven Figuren des nicht zuletzt durch die volle Sichtbarkeit des Be-
Stücks, beugen so einer Identifikation mit ihnen vor leuchtungsapparates gezielt unterbunden werden.
und verlagern das Interesse vom ›Was‹ auf das ›Wie‹ Die Inszenierung verleugnet also ihren artifiziellen,
der Handlung. In Mutter Courage und ihre Kinder einstudierten Charakter nicht und gibt sich offen als
sorgen sie in erster Linie dafür, dass die vorgeführten eine für das Publikum arrangierte Veranstaltung zu
Einzelschicksale stets in einen umfassenden histori- erkennen. Die Fiktion einer ›vierten Wand‹ des Büh-
schen Zusammenhang eingebettet bleiben. nenraums, die dem Zuschauer im aristotelischen
Während im aristotelischen Drama die Reflexion, Theater suggeriert, er wohne heimlich einem von
meist in Form von Figurenmonologen, bruchlos aus seiner Person ganz unabhängigen Geschehen bei,
15. Episches Theater 303

entfällt im epischen Theater, dessen Besucher sich nicht mehr ernsthaft bestritten, dass Brecht nicht
stets bewusst bleibt, dass er ein mit bestimmten Ab- ohne seinen Bezug zum Marxismus und sein poli-
sichten künstlerisch geformtes Modell der Wirklich- tisch-aufklärerisches Engagement verstanden wer-
keit und nicht etwa diese selbst vorgeführt bekommt. den kann – entgegen manchen früheren Versuchen,
Die im epischen Stil entworfenen und ausgeführten den ›Dichter‹ gegen den ›Marxisten‹ bzw. ›Politiker‹
Nachahmungen menschlichen Handelns auf der auszuspielen –, dass er aber andererseits kein linien-
Bühne laden das Publikum zu verständiger Anteil- treuer Kommunist und kein bloßer Propagandist
nahme und Prüfung statt zu selbstvergessener Ver- der Partei war, sondern in politischen und ästheti-
senkung ein. schen Fragen stets Eigenständigkeit wahrte.
Das epische Theater hat mit seiner Opposition
gegen den geschlossenen Dramenbau, seiner anti-
illusionistischen Grundhaltung, seinen Strategien
15.6 Rezeption und Forschung der Verfremdung, seinen lehrhaften, gesellschafts-
kritischen Absichten und nicht zuletzt durch Brechts
Der weltweite Siegeszug des epischen Theaters spezifische, in einigen Modellbüchern zu einzelnen
Brechtscher Prägung begann noch zu Lebzeiten sei- Aufführungen sorgfältig dokumentierte Inszenie-
nes Schöpfers mit zwei aufsehenerregenden Gast- rungspraxis einen kaum zu ermessenden Einfluss
spielen des Berliner Ensembles in Paris (1954/55) auf alle späteren Theaterkonzeptionen – auch über
und mit Giorgio Strehlers Mailänder Inszenierung Deutschland hinaus – ausgeübt und Literaten wie
der Dreigroschenoper (1956). Die Beschäftigung von Theoretiker zur produktiven Auseinandersetzung
Dramatikern, Theaterpraktikern und Wissenschaft- herausgefordert. Davon zu unterscheiden ist die
lern mit diesem Theatermodell geriet jedoch von Frage, ob Brechts Konzeption, von epigonalen Be-
Anfang an in den Bannkreis des Ost-West-Konflikts. mühungen v. a. in der DDR abgesehen, eine Fortfüh-
In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit über- rung im strengen Sinne des Wortes erfahren hat. Au-
wog im Zeichen der Adenauer-Restauration zu- toren wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die
nächst die Ablehnung, die v. a. nach dem Arbeiter- in diesem Zusammenhang häufig genannt werden,
aufstand vom 17. Juni 1953 sogar zu Boykottaufru- nutzen zwar ebenfalls die Parabelform, um allge-
fen führte. Andererseits begannen mit den bis heute meine Problemstellungen auf die Bühne zu bringen,
maßstabsetzenden Arbeiten von Kesting, Szondi und verzichten zugunsten verfremdender Darstel-
und Hinck sowie weiteren Monografien und kleine- lungstechniken auf Illusion und Einfühlung des Zu-
ren Beiträgen frühzeitig die Bemühungen um eine schauers. Brechts weltanschaulich fundierter Opti-
systematische Beschreibung des epischen Theaters mismus, also sein Vertrauen auf die prinzipielle
und seines Stellenwertes in der Literatur- und Thea- Durchschaubarkeit und Änderbarkeit gesellschaftli-
tergeschichte. Übrigens konnten ideologische Wi- cher Zustände, fehlt ihnen indes ebenso wie der dar-
derstände Brechts Erfolg auf den westdeutschen aus abgeleitete ›realistisch‹-lehrhafte Anspruch, der
Bühnen allenfalls verzögern, aber nicht aufhalten: Er auf eingreifendes Handeln zielt. Bei jenen Autoren,
gehörte während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- die im weitesten Sinne als Nachfolger Brechts gelten
derts zu den meistgespielten Dramatikern. In der können, ist die Hoffnung auf eine sinnvolle Umge-
DDR wurde die Rezeption anfänglich durch die staltung der Gesellschaft allenfalls noch in gedämpf-
Doktrin des Sozialistischen Realismus behindert, ter und gebrochener Form anzutreffen, womit eine
doch ging man von offizieller Seite bald dazu über, spürbare Skepsis gegenüber den Wirkungsmöglich-
Brecht als ›sozialistischen Klassiker‹ zu vereinnah- keiten der Kunst einhergeht. Das Dokumentarthea-
men. Das Berliner Ensemble, das der Brecht-Tradi- ter (vgl. Kap. III.6) und das absurde Theater (vgl.
tion verpflichtet ist, besteht bis heute. Und spätes- Kap. III.13.6) schlagen wiederum Wege ein, die al-
tens seit der Wiedervereinigung haben sich die poli- lenfalls noch indirekt mit dem epischen Theater in
tisch-ideologischen Fronten in der Brecht-Forschung Verbindung stehen. Brechts groß angelegtes Modell,
so weit aufgelöst, dass eine nüchterne Beurteilung gegründet auf marxistische Überzeugungen, aufklä-
des epischen Theaters möglich ist, zumal die um- rerische Zuversicht und ein umfangreiches Instru-
fangreiche Große kommentierte Berliner und Frank- mentarium künstlerischer Verfremdungstechniken,
furter Ausgabe (1988–2000) neuerdings eine verläss- ist in seiner Gesamtheit eine singuläre Erscheinung
liche Materialbasis bereitstellt. Es wird inzwischen geblieben.
304 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Literatur Krabiel, Klaus-Dieter: Brechts Lehrstücke. Entstehung und


Entwicklung eines Spieltyps. Stuttgart/Weimar 1993.
Brecht, Bertolt: »Der Verfremdungseffekt in der chinesi- Müller, Klaus-Detlef: Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wir-
schen Schauspielkunst«. In: Ders: Werke. Große kom- kung. München 2009.
mentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.1. Müller, Klaus-Detlef: »Das alte Neue. Brechts ›Theater des
Hg. v. Werner Hecht u. a. Berlin u. a. 1993, 200–210. wissenschaftlichen Zeitalters‹«. In: Dutt, Carsten/Luck-
Brecht, Bertolt: Der Messingkauf. In: Ders: Werke. Große scheiter, Roman (Hg.): Figurationen der literarischen
kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.2. Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag. Heidel-
Hg. v. Werner Hecht u. a. Berlin u. a. 1993, 695–869. berg 2007, 261–275.
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16. Dokumentartheater/Dokumentardrama 305

16. Dokumentartheater/ Mit Bezug auf solche »dokumentarische Wellen«


(Barton 1987, 1) behauptet ein geläufiges Erklä-
Dokumentardrama rungsmuster, sie würden entstehen, wenn soziale
und politische Fragen als »zu dringend, zu komplex
Der Begriff des Dokumentarischen wird vereinzelt oder zu überwältigend empfunden werden, um mit
im späten 19. Jahrhundert, mit Blick auf Geschichts- fiktiven Handlungen und Figuren behandelt zu wer-
dramen z. B. bei Francisque Sarcey (vgl. Howarth den« (Barton 1987, 2). Daran ist u. a. die starre Ge-
1986, 151), verstärkt jedoch seit den 1920er Jahren genüberstellung und implizite Hierarchisierung von
auf Darstellungen in verschiedenen Kunstformen – ›Fakt‹ und ›Fiktion‹ zu kritisieren, die in der Rezep-
v. a. Theater und Film – bezogen. Er soll anzeigen, tion und Legitimation dokumentarischer Kunst je-
dass die mit ihm belegten Darstellungen ein beson- doch große Bedeutung erlangt hat. Sie wird unter
ders enges Verhältnis zur Wirklichkeit hätten. So dem Vorzeichen einer ›Form-Inhalt-Problematik‹
schreibt der Regisseur Erwin Piscator über seine po- diskutiert, die die inhaltliche Orientierung am Fakti-
litische Revue Trotz alledem! (1925) – angeblich das schen als durch die ästhetische Form gefährdet an-
erste »dokumentarische Drama« (Piscator 1963, sieht. Eine Traditionslinie, die von Lukács bis Peter
70) –, dass sie »eine einzige Montage« von »authenti- Handke und Martin Walser reicht, wirft dokumenta-
schen Reden, Aufsätzen, Zeitungsausschnitten […], rischen Arbeitsweisen vor, gerade im Versuch, die
Fotografien und Filmen des Krieges und der Revolu- Form dem Inhalt unterzuordnen, werde »Illusions-
tion« gewesen sei (Piscator 1963, 73). Er nennt dies theater« geschaffen (Walser 1968, 73); die »Methode
eine Konfrontation mit der »absoluten, von uns der Objektivität« führe zum »Surrogat« der Wirk-
selbst erlebten Wirklichkeit« (Piscator 1963, 74). Die lichkeit (Lukács 1990, 366). Handke spricht von ei-
Vorstellung, dass Theater sich verstärkt an einer ›ab- ner (bei ihm nicht negativ gemeinten, aber gegen die
soluten‹, ›faktischen‹ oder ›gesellschaftlichen‹ Wirk- ›Illusionen‹ des Dokumentartheaters gerichteten)
lichkeit orientieren solle, muss – nicht nur für Pisca- »Formalisierung« des Realen: Als Bedeutungsraum
tor – vor dem Hintergrund dreier Entwicklungen sei Theater »dermaßen bestimmt, dass alles, was au-
verstanden werden: erstens der Entstehung ver- ßerhalb des Theaters Ernsthaftigkeit, Anliegen, Ein-
meintlich ›objektiver‹ Aufnahme- und Reprodukti- deutigkeit, Finalität ist, Spiel wird« (Handke 1968,
onstechniken wie Fotografie und Fonografie (vgl. 304 f.). Für Kesting verfängt sich das Dokumentar-
Marschall 2010, 18–21); zweitens der auch kriti- theater in seinem doppelten Anspruch, zugleich
schen Auseinandersetzung mit einem positivisti- »Kunstwerk und Dokument« zu sein (Kesting 1967,
schen Wissenschaftsparadigma und dem Glauben 97). Entweder müsse die »künstlerische Formulie-
an die Kraft von Fakten (vgl. Paget 1990, 8–30); drit- rung« den »Dokumentarwert« mindern oder umge-
tens den Politisierungsbewegungen in Kunst und kehrt: »Letztlich wird das jeweilige Stück keiner die-
Kultur z. B. im Deutschland der 1920er Jahre. ser Forderungen wirklich gerecht« (Kesting 1967,
97).
Bei der Auseinandersetzung mit den verschiede-
nen theatralen und dramatischen Formen, die einen
16.1 ›Dokument‹ und ›ästhetische dokumentarischen Anspruch erheben oder denen
Umsetzung‹ ein solcher zugesprochen wird, stand die Frage nach
der Spannung zwischen »historischem Dokument
Aus heutiger Perspektive lassen sich drei Hauptpha- und ästhetischer Umsetzung« lange Zeit im Zent-
sen des dokumentarischen Theaters und Dramas rum (Hilzinger 1976, 4). Sie wird noch mit Blick auf
unterscheiden: die Zeit zwischen den Weltkriegen die vielfältige Erneuerung dokumentarischer Ar-
mit Schwerpunkten in der Sowjetunion, der Weima- beitsweisen in Theater und Performancekunst um
rer Republik, den USA und Großbritannien; die die Jahrtausendwende – etwa bei Rimini Protokoll,
1960er Jahre ausgehend v. a. von der deutschsprachi- Hans-Werner Kroesinger oder dem Tectonic Thea-
gen Dramatik; die Zeit seit den späten 1990er Jahren ter Project – diskutiert, findet sich hier aber stärker
als zunehmend internationale Erscheinung insbe- eingebunden in grundsätzliche Überlegungen zum
sondere in Auseinandersetzung mit dem nach den Status des ›Authentischen‹ innerhalb einer zuneh-
Anschlägen vom 11. September 2001 proklamierten mend medialisierten Welt (vgl. Forsyth/Megson
»Krieg gegen den Terror«. 2009; Martin 2010). Insofern lösen neuere For-
306 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

schungsansätze, ebenso wie die von ihnen betrach- sultiert aus dem Fokus auf Dramatik die Tendenz,
tete Kunst, den starren Gegensatz von ›Fakt‹ und dokumentarisches Theater auf ein dramenzentriertes
›Fiktion‹ auf, Authentizitätsphänomene werden als Modell zu verengen. Sie führt etwa dazu, dass Pisca-
»Inszeniertheit des Alltags bewusst erfahrbar ge- tors Regiearbeiten in der Weimarer Republik biswei-
macht« (Marschall 2010, 19–20). Aus der Perspek- len nur als ›Vorgeschichte‹ der Form gewürdigt wer-
tive der neueren Forschung werden Dokumente also den, die erst mit den literarischen Leistungen der
nicht erst durch ihre theatrale oder dramatische 1960er zur Blüte komme (vgl. Barton 1987; Hanu-
Umsetzung ontologisch instabil; auch außerhalb von schek 2009). Ungewollt stärkt Piscator, der Hoch-
Theater und Drama entstehe ihre spezifische Reali- huth, Kipphardt und Weiss zur Uraufführung bringt,
tät erst im Zusammenspiel zwischen dem abwesen- eine solche Wertung, wenn er 1965 den Vorsprung
den (dokumentierten) Objekt, der medialen Ver- seines Theaters gegenüber dem Drama der Weima-
mittlung und dem Rezeptionsakt (vgl. Reinelt 2009, rer Republik behauptet: »Stücke, wie sie mir seiner-
7–10). Für Reinelt liegt das Spezifikum des Doku- zeit als Ideal vorschwebten, werden erst heute […]
mentarischen darin, dass es eine Verbindung zu je- geschrieben« (zit. n. Rühle 1976, 153). Der zeitge-
ner abwesenden, von ihm dokumentierten Wirk- nössische Diskurs über das Dokumentartheater un-
lichkeit verspricht, zu der es aber grundsätzlich kei- terstützt diese Fokussierung auch deshalb, weil er
nen Zugang gebe, der losgelöst wäre von »creative zunächst unter dem Zeichen einer ›Rettung‹ der
mediation, and individual and communal spectato- deutschen Dramatik gegen ihr vermeintliches
rial desire« (Reinelt 2009, 22–23). ›Schweigen‹ in der unmittelbaren Nachkriegszeit
Demgegenüber begriff die ältere Forschungslite- steht: Dokumentarische Arbeitsweisen werden z. B.
ratur das Verhältnis von ›Dokument‹ und ›ästheti- in Bezug auf die Frage erörtert, »ob man für das
scher Umsetzung‹ als je unterschiedlich zu lösenden Drama in deutscher Sprache wieder hoffen dürfe«
»Widerspruch« (Barton 1987, 3), der die Realitätsbe- (Rischbieter 1963, 8).
hauptung des »dokumentarische[n] Material[s]« Die Verengung auf ein dramenzentriertes Modell
(Barton 1987, 5) – seine »Authentizität und Beleg- wirkt bis heute nach, wenn es in einem sonst präzi-
barkeit« (Barton 1987, 8) – weitgehend unhinter- sen Handbuchartikel noch 2009 heißt: »auf der
fragt ließ. Der Authentizitätsbegriff wurde nicht in Bühne wurden dokumentarische Werke selten« (Ha-
Bezug auf die vermeintlich objektiv zu erlangende nuschek 2009, 136). Spätestens seit dem Berliner
Wirklichkeit, sondern erst für die künstlerische Be- Theatertreffen 2006 lässt sich diese Einschätzung
arbeitung problematisiert: »Bei einem ›Bühnendo- höchstens als Marginalisierung jener Formen doku-
kument‹ handelt es sich […] um eine andere Art von mentarischen Theaters verstehen, die keine Umset-
Authentizität als bei einer primären historischen zung eines ›dokumentarischen‹ Dramentextes sind.
Quelle« (Barton 1987, 3). Vom deutschen Feuilleton als »Hexenküche Wirk-
lichkeit« (Laudenbach 2006, 11) besprochen, wurde
neben dem – mit einem dramenzentrierten Modell
zu vereinbarenden – Recherchestück Der Kick (An-
16.2 Ein ›dramenzentriertes Modell‹ dres Veiel/Gesine Schmidt; 2006) auch Wallenstein:
dokumentarischen Theaters Eine dokumentarische Inszenierung (2005) der
Gruppe Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan
Bereits die ältere Forschungsliteratur betont jedoch, Kaegi, Daniel Wetzel) gezeigt. Die Inszenierung
dass es für die von ihr zentral gesetzte Spannung macht das historische Drama Schillers zum biografi-
zwischen ›Dokument‹ und ›ästhetischer Umsetzung‹ schen Bezugspunkt für Darsteller, die keine haupt-
keine »Verbindlichkeit der gelungenen Lösung« beruflichen Schauspieler sind. Als sog. »Experten
gebe (Hilzinger 1976, 4). Diese Sensibilisierung ge- des Alltags« berichten sie über Momente, die Paral-
genüber einem normativen Gattungsmodell ver- lelen zu Motiven und Situationen des Schiller-Textes
dankt sich dem Umstand, dass sie ihre Thesen vor- aufweisen (vgl. Roselt 2007; Kurzenberger 2009).
nehmlich an den einflussreichen Arbeiten von Rolf Mit Wallenstein wurde Rimini Protokoll über den
Hochhuth, Peter Weiss und Heinar Kipphardt ent- akademischen Diskurs hinaus zu einem vielzitier-
wickelt, die im deutschsprachigen Drama der 1960er ten Beispiel für neuere Formen des Dokumentari-
Jahre drei unterschiedliche Konzepte des Dokumen- schen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel nannte
tarischen vorstellen. Trotz der relativen Offenheit re- sie eine »Realitätsmaschine«, deren »Dokumentaris-
16. Dokumentartheater/Dokumentardrama 307

tenkunst« sie zum Wegbereiter für den »neuen Au- sich der Anspruch auf Beleg- und Überprüfbarkeit
thentizitätskult« im deutschsprachigen Theater ge- in einem langen historischen Anhang der Buchaus-
macht habe (Becker/Höbel 2009, 135). Solche Eti- gabe sowie im umfangreichen Nebentext des Dra-
kettierungen müssen wissenschaftlich differenziert mas ausdrückt. Außerhalb dieser Textpassagen, die
werden, u. a. weil sich Rimini Protokoll nicht auf die eine Inszenierung zwar integrieren kann, von Hoch-
Traditionslinien dokumentarischer Kunst reduzie- huth aber nicht zur Aufführung bestimmt sind,
ren lassen (vgl. Jackson 2011, 163–181). Trotzdem bleibt Der Stellvertreter mit seiner fünfaktigen Struk-
zeigt das Beispiel Wallenstein die Notwendigkeit ei- tur, geschlossenen Handlungsdramaturgie und der
ner offenen Definition dokumentarischen Theaters frei rhythmischen Sprache der Form des Geschichts-
jenseits des dramenzentrierten Modells, die paratex- dramas verpflichtet.
tuelle Fremd- und Selbstzuschreibungen (wie die In Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer
Bezeichnung ›Dokumentaristenkunst‹ oder den Un- (1964) und in Weiss’ Die Ermittlung (1965) sind Be-
tertitel ›dokumentarische Inszenierung‹) in Bezug leg- und Überprüfbarkeit dadurch gegeben, dass sie
zu den unterschiedlichen Konzepten des Dokumen- auf öffentlich zugänglichen Protokollen (der Hea-
tarischen setzt, die in ›dokumentarischen‹ Theater- rings gegen Oppenheimer bzw. des ersten Frankfur-
texten und Inszenierungen am Werk sind. ter Auschwitz-Prozesses) beruhen. Formal bündelt
Als offene Definition von Dokumentartheater Weiss die Gerichtsaussagen zu elf strukturell weitge-
und -drama lässt sich lediglich festhalten, dass sie hend monologischen ›Gesängen‹, während Kipp-
Dokumente im weitesten Sinn einbinden, um einen hardt Oppenheimer in der Tradition epischen Thea-
zeitgeschichtlich als relevant erachteten Vorgang mit ters gestaltet. Die Nähe zum Geschichtsdrama zeigt
meist politischem oder aufklärerischem Anspruch sich bei ihm darin, dass er in der Nachbemerkung
zu ›dokumentieren‹, d. h. für die Öffentlichkeit er- zum Stück, die im Programmheft verpflichtend ab-
fahrbar zu machen. Notwendig offen bleibt dabei die zudrucken war, schreibt, er wolle Hegel folgend »den
Bestimmung, was auf welche Weise zum Dokument ›Kern und Sinn‹ einer historischen Begebenheit« aus
werden kann, ebenso wie der Übergang zu verwand- den »umherspielenden Zufälligkeiten […] des Ge-
ten Formen von Drama und Theater, etwa dem Ge- schehens« freilegen (Kipphardt 1987, 110). Auf diese
schichtsdrama oder der (auto-)biografischen Perfor- Weise legitimiert Kipphardt »die Freiheiten, die sich
mance. der Verfasser« trotz seiner Bindung an die Tatsachen
genommen habe, z. B. die Erfindung eines Schluss-
wortes von Oppenheimer, gegen das der historische
Oppenheimer vehement protestierte (vgl. Kipphardt
16.3 Politisierung des Theaters, 1987, 159–179).
›Belegbarkeit‹ des Dokuments Die Beispiele Kipphardt und Hochhuth zeigen,
dass Geschichts- und Dokumentardrama weder for-
Rückblickend auf sein Dokumentarstück Der Stell- mal noch inhaltlich klar zu trennen sind. Zur Diffe-
vertreter (1963) behauptet Hochhuth, es gebe »kein renzierung werden deshalb oft die Aspekte Politisie-
Drama, das Geschichte behandelt und nicht auf Do- rung und Belegbarkeit herangezogen. So findet sich
kumenten beruht« (Dorst u. a. 2006, 28). Neu in den häufig der Verweis auf Büchner, dessen Dantons Tod
1960ern sei nicht das Dokumentarische gewesen, (1835) zu etwa einem Sechstel historische Quellen
sondern – wieder anknüpfend an Bestrebungen der übernimmt. Der Unterschied zum dokumentari-
Weimarer Republik – die »Politisierung des Thea- schen Drama und Theater liege darin, dass für Büch-
ters« (Dorst u. a. 2006, 28). Wie Hochhuth versteht ner trotz aller Brüche die Autonomie des Kunst-
Kipphardt dokumentarische Stücke als Sonderform werks bestimmend bleibe, die jene zugunsten politi-
des Geschichtsdramas, betont aber in Bezug auf die scher Wirksamkeit aufzulösen versuchten (vgl.
eigene Praxis, dass er »in der Haltung des Belegs« Berghahn 1979, 197; Hanuschek 1993, 77–79). Des-
schreibe (Kipphardt 1987, 224): Im Dokumen- halb lasse sich bei Dantons Tod »allenfalls von verifi-
tardrama sei der Umgang mit Fakten weniger frei als zierendem Zitat, nicht aber schon von dokumentari-
im »historische[n] Drama alter Art«, da die »wesent- scher Absicht sprechen« (Döhl 1994, 83).
lichen Tatsachen […] wirklich überprüfbar« sein Wie eingangs skizziert, wird der auf Theater be-
müssten (Kipphardt 1987, 224). Die Differenzierung zogene Begriff des ›Dokumentarischen‹ vor dem
gilt auch für Hochhuths Der Stellvertreter, bei dem Hintergrund einer neuen Orientierung auf das Fak-
308 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

tische und der Politisierung von Kunst geläufig, die 16.4 Peter Weiss: »Notizen zum
eine solche Engführung von dokumentarischer Ab- dokumentarischen Theater«
sicht und politischer Wirkung historisch rechtfer- (1968)
tigt, gerade für die erste Phase dokumentarischen
Theaters: Die Wirklichkeit, auf die die Zeitstücke der
Weimarer Republik (z. B. Peter Martin Lampels Re- Weiss’ »Notizen zum dokumentarischen Theater«
volte im Erziehungshaus, 1929) ebenso wie Piscators aus dem Jahr 1968 sind die wohl einflussreichsten
Theater zielten, war »eine politische (im Grundsinne Überlegungen zu Theorie und Praxis des dokumen-
von ›alle angehende‹) Wirklichkeit« (Piscator 1963, tarischen Theaters, nicht nur im deutschsprachigen
74). Politisch im Sinne des Agitprop-Theaters waren Raum. Ohne dass der Autor explizit auf die Gegner
die sowjetischen Blauen Blusen (Sinjaja Blusa), rund dokumentarischer Arbeitsweisen eingeht, liefert sein
5000 Amateur- und wenige Berufstheatertruppen, Text einen Antwortversuch auf den wichtigsten Kri-
die ab 1923 entstanden und das Land als ›Lebendige tikpunkt am Dokumentartheater: die Form-Inhalt-
Zeitungen‹ bereisten (vgl. Stourac/McCreery 1986, Problematik, die zu einem Widerspruch zwischen
30–76). 1927 gingen die Blauen Blusen in der Wei- Dokument und ›ästhetischer Umsetzung‹ führe. Für
marer Republik auf Tournee, in der das Modell der Weiss kann das dokumentarische Theater seine kriti-
›lebendigen Zeitung‹, ebenso wie in den USA, gro- sche Funktion gerade deshalb entfalten, weil es nicht
ßen Einfluss ausübte. Dort wurde während der Gro- »augenblickliche Wirklichkeit« sei, sondern »das
ßen Depression das Federal Theater Project (1935– Abbild von einem Stück Wirklichkeit, herausgeris-
39) gegründet, das arbeitslose Schauspieler beschäf- sen aus der lebendigen Kontinuität« (Weiss 1971,
tigen sollte und ›Living Newspapers‹ im Sinne von 95). Es lege »Fakten zur Begutachtung« vor (Weiss
Roosevelts New-Deal-Politik aufführte (vgl. Saal 1971, 97), die sonst von »dominierenden Interessen-
2007). Auch das deutsche Dokumentartheater der gruppen« verschleiert würden (Weiss 1971, 92).
1960er entzündete sich an politischen Fragen, insbe- Für Weiss ist diese Offenlegung aus zwei Grün-
sondere der Atompolitik (Oppenheimer) und der den möglich: Erstens, weil der ästhetische Raum des
mangelhaften öffentlichen Auseinandersetzung mit Theaters zugleich ein sozialer ist. Als Institution von
dem Holocaust. Die Thematisierung des Holocaust der politischen Wirklichkeit getrennt, findet Theater
im deutschsprachigen Dokumentartheater lässt sich dennoch in der Öffentlichkeit statt und kann des-
jedoch nicht auf den politischen Diskurs reduzieren, halb, so Weiss, einen Ort für Reflexion und Partei-
sondern hängt aufs Engste mit allgemeinen Fragen nahme bieten (vgl. Weiss 1971, 97–99). Zweitens,
der Darstellbarkeit der Shoah und der Möglichkeit weil Form und Inhalt klar trennbar seien: Doku-
von Kunst »nach Auschwitz« (Adorno) zusammen. mentartheater gebe »authentisches Material […] im
Paradigmatisch lässt sich an der zeitgenössischen Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet« wieder
Debatte um Weiss’ Ermittlung (1965) zeigen, wie (Weiss 1971, 91–92). Zentraler Begriff ist dabei, wie
eine bestimmte Form dokumentarischen Theaters schon für Piscator, die Montage. Der Dramatiker
als Möglichkeit diskutiert wird, über Dokumente enthalte sich »jeder Erfindung« (Weiss 1971, 91) und
vermittelt das zu berichten, was sich der Darstellbar- werde stattdessen zum Arrangeur der Dokumente,
keit entziehe. Für den Ost-Berliner Theaterwissen- auf denen die Aufführung beruhe. Ähnlich wie bei
schaftler Ernst Schumacher z. B. wird jede szenische Kipphardt geht es um den ›Kern und Sinn‹ des Ge-
»Abbildung« der Shoah »in ungutem Sinne theatra- schehens: Durch die Montage- und Schnitttechnik
lisch«, während die abstrakte Gerichtssituation der werde ein »Modell der aktuellen Vorgänge« zur kri-
Ermittlung den dokumentarischen »Bericht« als »an- tischen Begutachtung geschaffen (Weiss 1971, 97).
gemessenstes Medium« zur Darstellung des Undar-
stellbaren beweise (Schumacher 1965/2000, 705 u.
710).
16.5 Neuere Formen des
Dokumentarischen
Grundlegend für die meisten Formen dokumentari-
schen Theaters von Piscator bis Weiss ist der positi-
vistische Glaube, dass »die Wirklichkeit, so un-
16. Dokumentartheater/Dokumentardrama 309

durchschaubar sie sich auch macht, in jeder Einzel- Literatur


heit erklärt werden« könne (Weiss 1971, 104). Dieser Barton, Brian: Das Dokumentartheater. Stuttgart 1987.
Glaube, der sich schon bei Weiss gegen die ›wirk- Becker, Tobias/Höbel, Wolfgang: »Mitmach-Show für
lichkeitsverschleiernde‹ Macht der Massenmedien Laien. Rimini Protokoll inszenierten den Klassiker
richtet (Weiss 1971, 92), ist in dokumentarischen ›Wallenstein‹ ohne Schauspieler, dafür mit Politikern
Praktiken bis heute am Werk: v. a. in den USA nach und Soldaten«. In: Der Spiegel 62.53 (2009), 135.
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merkungen anlässlich des Romans von Ottwalt« [1932].
In: Klein, Alfred: Georg Lukács in Berlin. Literaturtheorie Gattungsmerkmale: Drama
und Literaturpolitik der Jahre 1930/32. Berlin/Weimar
1990, 359–381. nach 1945
Marschall, Brigitte: Politisches Theater nach 1950. Wien
u. a. 2010. Einen kurzgefassten Überblick über die deutsche
Martin, Carol (Hg.): Dramaturgy of the Real on the World Dramatik nach 1945 mit dem Eingeständnis der Un-
Stage. Basingstoke 2010.
Paget, Derek: True Stories? Documentary Drama on Radio, möglichkeit eines solchen Unterfangens zu begin-
Screen, and Stage. Manchester 1990. nen, ist angesichts der Vielfalt der zu beschreiben-
Piscator, Erwin: Das Politische Theater [1929]. Reinbek bei den Phänomene mehr als bloße Rhetorik: Das Mate-
Hamburg, 1963. rial sperrt sich gegen die Darstellung. Kaum
Reinelt, Janelle: »The Promise of Documentary«. In: For-
syth/Megson 2009, 6–23.
hinreichend beikommen kann ein chronologischer,
Rischbieter, Henning: »Neue Chancen für das Zeitstück? die Gattungsgeschichte auf eine Abfolge jeweils in
Tendenzen der neuen deutschen Dramatik«. In: Theater sich abgeschlossener dramatischer Modelle reduzie-
heute 4 (1963), 8–14. render Überblick den beständigen Transformatio-
Roselt, Jens: »In Erscheinung treten. Zur Darstellungspra- nen ästhetischer Praktiken in einem von Diskonti-
xis des Sich-Zeigens«. In: Dreysse, Miriam/Malzacher,
Florian (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Ri- nuitäten und Verwerfungen gekennzeichneten Feld
mini Protokoll. Berlin 2007, 46–63. kontingenter Bewegungen, in dem Stile und Strate-
Rühle, Günter: Theater in unserer Zeit. Frankfurt a. M. gien sich nicht immer trennscharf voneinander ab-
1976. grenzen lassen, unterhalb der ›Tendenz‹-bildenden
Saal, Ilka: New Deal Theater. The Vernacular Tradition in
American Political Theater. New York 2007.
Ebene ›alte‹ Traditionen teilweise weiterlaufen oder
Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in in veränderten historischen Konstellationen wieder
Times of Theatrical Reenactment. Abingdon 2011. aufgegriffen werden, wie beispielsweise im Fall der
Schumacher, Ernst: »Die Ermittlung von Peter Weiss. Über dokumentarischen Formen. Um so mehr sich das
die szenische Darstellbarkeit der Hölle auf Erden« deutsche Theater in internationale Kontexte stellt
[1965]. In: Weiß, Christoph: Auschwitz in der geteilten
Welt. Peter Weiss und die ›Ermittlung‹ im Kalten Krieg. (was spätestens in den 1970er Jahren der Fall ist),
Bd. II. St. Ingbert 2000, 704–718 sich für nicht-theatrale Kunstformen und neue Me-
Stourac, Richard/McCreery, Kathleen: Theatre as a Wea- dien öffnet (was wiederum nicht ohne Einfluss
pon. Worker’s Theatre in the Soviet Union, Germany and bleibt auf die textuelle Ausformung des Dramas)
Britain, 1917–1934. London 1986.
Walser, Martin: »Ein weiterer Tagtraum vom Theater«
und in immer neuen ästhetischen Suchbewegungen
[1967]. In: Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt den dramatischen Theatertext zum Material einer
a. M. 1968, 71–85. autonomen Inszenierungskunst zu verwandeln be-
Weiss, Peter: »Notizen zum dokumentarischen Theater« ginnt, um so unübersichtlicher wird überdies die
[1968]. In: Ders.: Rapporte 2. Frankfurt a. M. 1971, 91– Lage.
104.
Michael Bachmann

17.1 Restart: Neuanfänge in alter Form

Bereits unmittelbar nach Kriegsende nahmen inmit-


ten der zerstörten deutschen Städte zahlreiche Thea-
ter den Betrieb wieder auf, den sie im August 1944
auf Anweisung Josef Goebbels’ hatten einstellen
müssen. Die institutionelle Reorganisation des Thea-
ters findet anfänglich hauptsächlich auf der Grund-
lage des klassischen deutschen Bühnenrepertoires
sowie von Werken des internationalen Theaters statt
– Giradoux, Anouilh, Sartre, Camus, Miller, O’Neill
und Beckett im Westen; Gorki, Ostrowski, Suchow-
Kobylin, Katajew, Simonow, Kornejtschuk im Os-
ten –, woran die massiven Eingriffe der Alliierten in
17. Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945 311

die Spielplangestaltung in ihren jeweiligen Einfluss- Tage der Commune, 1956), mit seiner Theatertheorie
bereichen einen nicht unerheblichen Anteil hatten. und zumal den Modellaufführungen eigener und
Auch belegen die Spielpläne der Theater aus dem bearbeiteter Stücke (Mutter Courage und ihre Kinder,
ersten Nachkriegsjahrzehnt durchaus die nur ge- 1949; Herr Puntila und sein Knecht Matti, 1949; Der
ringe Bedeutung einer deutschsprachigen Gegen- Hofmeister, 1950) aber hat er auf lange Sicht nicht al-
wartsdramatik jenseits des Unterhaltungstheaters. lein auf den Inszenierungsstil im deutschen Theater
Nicht haltbar ist dennoch die in der Literaturge- gewirkt, sondern auch großen Einfluss auf die
schichtsschreibung häufig begegnende Behauptung Schreibweisen der in seine Nachfolge tretenden Dra-
der generellen »Schwächung und Lähmung der dra- matikergeneration ausgeübt – Peter Hacks, Heiner
matischen Gattung bis in den Beginn der sechziger Müller, Hartmut Lange, Helmut Baierl u.v. a. mehr
Jahre« (Barner 1994, 99; dagegen Schmidt 2009). im Osten, im Westen zunächst Max Frisch und
Unbestritten bleibt allerdings auch, dass die prekä- Friedrich Dürrenmatt.
ren Theaterverhältnisse im Nachkriegsdeutschland, Sieht man einmal von den an Brechts Theatertheo-
Folge der Zerstörung nicht allein literarischer Konti- rien geschulten Stücken der beiden großen Schwei-
nuitäten durch die Kulturpolitik des ›Dritten zer Dürrenmatt und Frisch ab, begegnen in den ers-
Reichs‹, der Entwicklung einer auch ästhetisch und ten Nachkriegsjahren allerdings zunächst einmal
dramaturgisch innovativen Dramatik zunächst ein- weithin traditionelle dramatische Muster auf den
mal nicht unbedingt förderlich waren. Bühnen der drei Westzonen und der frühen Bundes-
Diese Erfahrung musste auch Brecht machen, als republik: das Konversationsstück und die melancho-
er 1948 nach langem Zögern nach Deutschland zu- lische Komödie, eine epigonale Ibsen-Nachfolge, re-
rückkehrte, um sich in Ost-Berlin niederzulassen. alistische Spielformen. Erst in der zweiten Hälfte der
Allenthalben stieß er hier auf Relikte des ›alten‹ bür- 1950er Jahre ändert sich dies grundlegend mit der
gerlichen Theaters, das er stets als »Zweig des bour- Durchsetzung ästhetisch ambitionierter Parabelstü-
geoisen Rauschgifthandels« kritisiert hatte (Brecht cke wie Frischs Biedermann und die Brandstifter
1988 ff., 65 f.). Nach einem Besuch der Premiere von (1958) und Andorra (1961), Günther Ghirardinis
Julius Hays Stück Haben (1933) im Deutschen Thea- Der Untergang der Stadt Sun (1960) oder Siegfried
ter in Berlin, Brechts erstem Theaterbesuch nach sei- Lenz‹ Zeit der Schuldlosen (1961); etwa zeitgleich
ner Rückkehr überhaupt, notiert er am 23.10.1948 in finden sich Ansätze auch zu einer Aneignung von
seinem Arbeitsjournal: »Miserable Aufführung, hys- Strukturformen des absurden Dramas und der Gro-
terisch verkrampft, völlig unrealistisch« (Brecht teske (Wolfgang Hildesheimer: Spiele, in denen es
1988 ff., 280). Dass der von ihm in den späten 1920er dunkel wird, 1958/59; Die Verspätung, 1961; Nacht-
und frühen 1930er Jahren erprobten »Großen Päda- stück, 1963; Günter Grass: Beritten hin und zurück,
gogik« der Lehrstücke der Resonanzboden entzogen 1954; Noch zehn Minuten bis Buffalo, 1954; Hochwas-
sein würde aufgrund der Zerschlagung der proleta- ser, 1957; Onkel, Onkel, 1958; Die bösen Köche, 1957;
rischen Gegenöffentlichkeit der Weimarer Republik 32 Zähne, 1958). Die zweite Hälfte der 1950er Jahre
in den zwölf Jahren der Diktatur, hatte Brecht bereits markierte zudem eine Phase des Übergangs weg von
im Exil deutlich vor Augen gestanden. Von hier aus den parabolisch-abstrakten Mustern literarischer
griff er in seinen Berliner Jahren wieder auf die Gegenwartsanalyse hin zur konkreten Politisierung
»Kleine Pädagogik« des Schaustücks zurück, die des Gegenwartsdramas (Carl Zuckmayer: Das kalte
dem kulinarischen Aspekt des Theaters durchaus Licht, 1955; Erwin Sylvanus: Korczak und seine Kin-
wieder ein Recht einräumte. In der 77 Punkte um- der, 1957), das die 1960er Jahre beherrschen sollte.
fassenden Programmschrift Kleines Organon für das ›Unpolitisch‹ war allerdings auch das Drama der
Theater (1948/49) reformulierte er entsprechend ein frühen Nachkriegsjahre durchaus nicht gewesen in
Stück weit die Grundsätze seines nicht-aristoteli- seiner Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus,
schen Theaters mit dem Kernstück der Illusionsver- Krieg und Shoah. Bereits im Dezember 1946 wurde
weigerung, die das Theater zu einem Modell für in München Frischs Nun singen sie wieder. Versuch
praktikable gesellschaftliche Lösungen zu machen eines Requiems (UA Zürich 1945) aufgeführt; im No-
hatten erlauben sollen. Zwar ist Brecht als Dramati- vember 1947 folgten in Hamburg die deutsche Erst-
ker in seinen Berliner Jahren kaum mehr mit bedeu- aufführung von Zuckmayers Exil-Stück Des Teufels
tenden neuen Stücken in Erscheinung getreten (Tu- General (UA Zürich 1946) und die Uraufführung
randot oder Der Kongreß der Weißwäscher, 1969; Die von Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür. Alle
312 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

drei Stücke wirken auf ihre Weise tendenzbildend: heit),  wiederum lassen sich Verbindungslinien zie-
Draußen vor der Tür ist das erste in einer langen hen einerseits zu den grotesken Komödien Friedrich
Reihe von Heimkehrerdramen, die den Blick auf die Dürrenmatts, die die Geschichte als sinnlosen Kreis-
existenzielle Verlorenheit der jungen deutschen Ge- lauf der Gewalt behaupten und zugleich die Wider-
neration ›als Opfer‹ des Nationalsozialismus und der ständigkeit und Selbstbehauptungskraft des Subjekt
neuen Vergessensgemeinschaft gleichermaßen rich- zu stärken suchen (Romulus der Große,  1949;  Die
ten. Borcherts ›Held‹ selbst, der kriegsversehrte Un- Physiker, 1962), andererseits zu den Parabelstücken,
teroffizier Beckmann, steht am Anfang der vielen die in den ausgehenden 1950er und den beginnen-
»anklagenden und richtenden Söhne und Intellektu- den 1960er Jahren Entstehungsprozesse und Funk-
ellen«, die bis zu Martin Walsers Drama Der tionsweisen totalitärer Herrschaft in der Form ab-
schwarze Schwan (1964) immer wieder im deut- strakter Spielvorlagen transparent zu machen such-
schen Nachkriegsdrama begegnen (Barner 1994, ten.
111). Zuckmayers Stück Des Teufels General, das Exemplarisch für diesen Dramentypus ist Frischs
dem Publikum mit dem Rückgriff auf das Struktur- Andorra. Das Stück ist modellhaft, indem es die Ent-
modell ›der große Held im Ringen mit der dämoni- stehungsmechanismen und Funktionsweisen totali-
schen Kraft des Nationalsozialismus‹ ein veritables tärer Herrschaft und rassistischer Ausgrenzung, für
Identifikationsmuster anbietet und obendrein den die niemand Verantwortung zu übernehmen bereit
Entlastungsmythos der ›sauberen‹ Wehrmacht ›be- ist, an einem überschaubaren Geschehen mit ›einfa-
dient‹, zieht eine Folge von Soldatenstücken nach cher‹ Modellierung der Gegensätze und Konfliktli-
sich, die der den Wiederaufbau im Westen beglei- nien transparent macht: die Markierung des ›Ande-
tenden Symbiose aus mystifizierenden Verklärun- ren‹ als ›Fremden‹ (hier des in der Familie des Leh-
gen und Verdrängungen Ausdruck verleihen (Walter rers Can aufgewachsenen Andri, der als angeblich
Erich Schäfer: Die Verschwörung, 1949; Gustav Fa- jüdisches Kind von seinem ›Ziehvater‹ aus dem
ber: Sturm an der Elbe, 1952; Hans Breinlinger: Kon- Nachbarreich der Schwarzen nach Andorra und da-
zert an der Memel, 1957); es ist signifikant auch für mit in Sicherheit gebracht wurde), die Selbstidentifi-
die augenfällige Tendenz im Drama der unmittelba- kation des Ausgegrenzten mit dem ihm zugeschrie-
ren Nachkriegszeit, die Erinnerung an die zurücklie- benen Fremdbild und schließlich seine Ermordung
genden zwölf Jahre der Barbarei mit der Thematisie- als Konsequenz eines wahnhaften ›Reinheitsstre-
rung ausgerechnet von Widerstandshandlungen in bens‹ der Mehrheitsgesellschaft.
ein funktional entlastendes Narrativ einzubinden, in
dem die für die unmittelbar Betroffenen gerade auch
destruktive Emotionalität der Annäherung an das
belastende Thema der eigenen Identifikation mit 17.2 Der alte Mensch in neuen
dem Nationalsozialismus (der vormaligen Liebe Situationen: ›Aufbau Ost‹
zum ›Führer‹) in denkwürdiger Weise beruhigt ist
(Peter Lotar: Das Bild des Menschen, 1954; Kurt Rad- Die unterschiedlichen politischen Interessen der Al-
lecker: Die Weiße Rose, 1947; Walter Löwen: Stauf- liierten in ihren jeweiligen Einflussbereichen führen
fenberg, 1949/52; Hans Hellmut Kirst: Aufstand der in der Phase der Zweistaatlichkeit zunächst zu einer
Offiziere, 1966; vgl. dagegen von anderer Seite Gün- sich weiter vertiefenden Auseinanderentwicklung
ther Weisenborn: Die Illegalen, 1946) – ungeachtet der Theaterverhältnisse in Ost und West mit weitrei-
im Übrigen der nur geringen Resonanz auf die ›au- chenden Auswirkungen auch auf die Entwicklung
thentische‹ Widerstandsliteratur der Beteiligten und der Gattungsgeschichte. So erfolgte der Wiederaufbau
Zeugen, ungeachtet auch der von Widerständen und des Theaterlebens in der SBZ/DDR anders als im
Vorbehalten geprägten, bald schon formalisierten Westen von vornherein in der Fluchtlinie einer ge-
und im Zuge der Ost-West-Konfrontation geteilten schlossenen kulturpolitischen Programmatik: dem
Erinnerung an die Frauen und Männer des Wider- Ziel der Errichtung einer ›antifaschistisch-demokra-
stands im politischen Alltag (vgl. Heukenkamp tischen Ordnung‹, aufbauend auf den humanisti-
1996; Wagner 2006). Von Frischs »Versuch eines Re- schen und fortschrittlichen Werten der deutschen
quiems« aus, in dem das Jenseits der Toten zur Prä- Kultur. Während Inszenierungen von Werken emig-
senz in der diesseitigen Welt der Lebenden drängt rierter Autoren (Hedda Zinner: Cafehaus Payer,
(als Mahnung und Warnung aus der Vergangen- 1945; Friedrich Wolf: Professor Mamlock, 1946; Ernst
17. Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945 313

Toller: Pastor Hall, 1947; Bertolt Brecht: Furcht und dramen‹, die sich darum bemühten, die sozialisti-
Elend des Dritten Reiches, 1948) die Aufgabe zukam, sche Umgestaltung auf dem Land als wesentlichen
die kulturpolitisch gewünschte Auseinandersetzung und für die Entwicklung der sozialistischen Gesell-
mit dem Nationalsozialismus auf dem Theater zu er- schaft zugleich typischen Fortschritt zu begründen
möglichen und zugleich damit eine neue Perspektive (vgl. u. a. Friedrich Wolf: Bürgermeister Anna, 1950;
auf die ›andere‹, nicht-militaristische und demokra- Paul Herbert Freyer: Kornblumen, 1954; Helmut Sa-
tische Tradition innerhalb der deutschen Geschichte kowski: Die Entscheidung der Lene Mattke, 1959; Er-
zu eröffnen, folgte die in den ersten Nachkriegsjah- win Strittmatter: Holländerbraut, 1960; Helmut Bai-
ren in der SBZ aufgeführte ›neue‹ Dramatik anfäng- erl: Frau Flinz, 1961). Strittmatters Bauernkomödie
lich in erster Linie dem Muster einer – dramatur- Katzgraben (1952/53) hat es aufgrund der ausführ-
gisch zumeist schematisierenden, von trivialen lich dokumentierten Inszenierungsarbeit Brechts
Mustern durchzogenen – antifaschistischen Wand- (Katzgraben-Notate) zu einigem Nachruhm ge-
lungsdramatik, in der politisch indifferente oder bracht. Dass Strittmatter den Bauern eine versifi-
fehlgeleitete Personen in der Konsequenz einer oft zierte Sprache in den Mund legte, hob in Brechts
schockhaften Einsicht in die desaströse Gegenwart Verständnis »die Vorgänge unter so einfachen, ›pri-
(und Vergangenheit) zu Antifaschismus oder Kom- mitiven‹, in den bisherigen Stücken nur radebre-
munismus vordringen (vgl. Heinrich Goertz: Peter chenden Menschen wie Bauern und Arbeitern auf
Kiewe, 1947; Thomas Engel: Treibgut, 1948; Peter das hohe Niveau der klassischen Stücke« und zeigte
Podehl: Kommen und Gehen, 1948). Die diesen Stü- »das Edle ihrer Ideen« (Brecht 1988 ff., 409). Avan-
cken zugrunde liegende Struktur der Konfliktmo- cierter in der Formensprache und der Konfliktmo-
dellierung und -lösung blieb maßgeblich auch in den dellierung allerdings waren drei andere Stücke, die
Stücken der 1950er Jahre, die sich im Zuge eines kul- in jeweils produktiver Weise Anregungen der
turpolitischen Kurswechsels dem Aufbau des Sozia- Brechtschen Theatertheorie aufnahmen:
lismus als neuem Sujet zuwandten. In Gestalt des 1. Hacks’ Komödie Moritz Tassow (1965), welche
»didaktischen« bzw. »dialektischen« Theaters (in die Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft
erster Linie Heiner Müller und Peter Hacks, im er- mit einem ironisch gebrochenen Happy-End auf die
weiterten Sinne dann auch Heinar Kipphardt, Klaus Bühne brachte und von hier aus die Begrenztheiten
Eidam, Hedda Zinner und Manfred Richter) kommt eines ideologischen Schematismus unterlief, der die
es mit dieser perspektiven Neuausrichtung hin zu Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zum
den Problemen der veränderten Wirklichkeit im So- natürlichen und organischen Fortbewegungsprozess
zialismus auch zu neuen Lösungsansätzen der Form- erklärte;
problematik, insofern das »didaktische Theater« im 2. Langes Marski (entstanden 1962/63, aber erst
Rückgriff auf die Traditionen der revolutionär-pro- 1966 nach Langes Flucht aus der DDR in Frankfurt
letarischen Literatur die Synthese zwischen prolet- am Main uraufgeführt), eine unmittelbar an Brechts
kultisch-agitatorischen und klassischen Literatur- Herr Puntila und sein Knecht Matti anschließende
formen erprobte, damit aber auch ausscherte aus Parabel, in der der ländliche Schauplatz nicht mehr
den Formvorgaben des sozialistischen Realismus realistischer, sondern vielmehr poetischer Ort und
(Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionä- Spielplatz dialektischer Bewegungen ist;
ren Entwicklung, positive Identifikationsfiguren, 3. Müllers 1961 aufgeführte und sofort verbotene
Geschlossenheit der Form, Typisierung etc.). Admi- Komödie Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem
nistrative Eingriffe allerdings verhinderten nach an- Lande, die mit ihren einander kreuzenden und sich
fänglicher Tolerierung die Fortführung dieser Ver- gegenseitig überlagernden Handlungselementen das
suche. In der Konsequenz bestimmt eine ideologi- Komische und das Tragische verschmilzt, den bana-
sche Schematisierung von Ausnahmen abgesehen len Alltagston mit dem heroischen Pathos, und kom-
(s. u.) weithin auch den neuen Typus des Aufbau- promisslos in der Darstellung von Härten und Kon-
dramas: die Widersprüche der Gesellschaftsentwick- flikten den Umgestaltungsprozess zur Diskussion
lung werden zu den Folgen eines noch nicht hin- stellt.
reichend entwickelten Bewusstseins der Beteiligten Alle drei Stücke stellen den Widerspruch zwi-
erklärt. schen Einzelinteressen und Gattungsinteressen, Ei-
Zum Kernbestand des Aufbaustücks gehören die gensinn und Gemeinsinn, der das Individuum zer-
in den 1950er Jahren ungemein populären ›Agro- reißt, indem es ihm ungeachtet seiner Wünsche und
314 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Träume Opfer im Interesse einer ihm selbst nicht er- neun vielfach zerbrochenen Bildern Schwierigkeiten
reichbaren Zukunft abverlangt, in das Zentrum der und Probleme beim Aufbau eines Industriekombi-
dramatischen Wirklichkeitsinspektion. Sie hinter- nats im Übergang von der Phase der zentralen Plan-
fragen damit die offizielle Ideologie der Übergangs- wirtschaft zur Politik des Neuen Ökonomischen Sys-
gesellschaft, die alle gesellschaftlichen Widerspüche tems zur Diskussion, reiht sich vordergründig dabei
zu vorübergehenden, prinzipiell lösbaren Proble- mit der Spiegelung der gesellschaftlichen Weiter-
men des Aufbaus erklärt: zu notwendigen Zwischen- und Höherentwicklung im technischen Fortschritt
stufen auf dem Weg zum angestrebten Sozialismus – (hier im Durchbruch zu einer rational durchstruktu-
und verlassen damit den Rahmen der oft schlicht ge- rierten industriellen Produktionsweise) in die Folge
wirkten, Konflikte beschönigenden Agrodramen. derjenigen Stücke ein, die sich am konkreten Fall
Ein Gegenstück findet das Muster des Agrodra- mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR be-
mas im sogenannten Industriestück oder auch Pro- schäftigen. Allerdings ist das realistische (Baustelle)
duktionsstück, das sich von anderer Seite der Prob- und historische (das Stück spielt in Abweichung zu
leme der sozialistischen Übergangsgesellschaft an- seiner Vorlage zwischen 1961 und 1963) Sujet derart
nimmt (Lange: Senftenberger Erzählungen oder Die von Metaphorik überwuchert, dass mit dem Text
Enteignung, 1960; Hacks: Die Sorgen und die Macht, eine zweite, allegorische Wirklichkeitsschicht auf-
1960; Baierl: Johanna von Döbeln, 1969; Erik scheint. Nur noch in Versatzstücken sozialistisch-rea-
Neutsch: Haut oder Hemd, 1971; Volker Braun: Hans listischer Dramatik präsentiert das Stück das Sujet
Faust/Hinze und Kunze, 1968). Eines der erfolg- ›industrieller Aufbau‹: in der Fabelführung (es geht
reichsten Stücke dieses im Vergleich zu den Agro- um die Einführung neuer Produktionsweisen auf ei-
dramen weitaus langlebigeren Genres (vgl. Braun: ner Großbaustelle der DDR gemäß den wirtschafts-
Tinka, 1976; Schmitten, 1982) war Harald Hausers politischen Rahmenvorstellungen der sogenannten
Am Ende der Nacht (1955), das bis 1972 allein 39 In- ›Wissenschaftlich-Technischen-Revolution‹), in der
szenierungen erlebte. Die differenziertesten dieser Personenkonstellation (es treten auf Brigade, Baulei-
Stücke aber stammen einmal mehr von Heiner Mül- ter, Parteisekretär, technische Intelligenz) und in der
ler: Der Lohndrücker (1958) und Der Bau (1980), die Konfliktmodellierung (vorgeführt wird am Beispiel
allerdings die Ebene der realistischen Milieuschilde- der Sozialisierung einer anarchischen Brigade und
rung und damit eines für die Mehrzahl der Industrie- ihres Brigadiers die Überführung der ›wilden‹ Pro-
und Produktionsstücke maßgeblichen Abbildrealis- duktion des Sozialismus in einen nach wissenschaft-
mus verlassen. Nicht die Wirklichkeit des Produkti- lich-technischen Vorgaben strukturierten zielge-
onsprozesses als solche steht in Der Lohndrücker zur richteten Vorgang). Dass Müller in Der Bau die
Diskussion, sondern dessen geschichtliche Dimen- Gestaltung übergreifender gesellschaftlicher Mecha-
sion, nicht zuletzt auch die historische Ortsbestim- nismen im Sujet der Arbeitswelt nur noch durch
mung des durch den Produktionsprozess stimulier- eine Überbietung der Form ins Metaphorische und
ten sozialen Erkenntnisprozesses im Kontext der Hyperbolische möglich erschien, ist Reflex bereits
deutschen Geschichte. Von hier aus führt das Stück auf die Erschöpfung des dramatischen Modells ›Pro-
nicht mehr das mustergültige Verhalten eines gro- duktionsstück‹, die im Gefolge der Stabilisierung
ßen Einzelnen, des Maurers Balke, als Figuration des und Konsolidierung der DDR in den 1960er Jahren
›neuen Menschen‹ vor, sondern stellt anhand einer allenthalben in der Literatur des Landes spürbar
bekannten Geschichte den gesellschaftlichen Wan- wird. Die Blankverse und Prosa mischende Sprache
del als widersprüchlichen Prozess der Veränderung sprengt den Realismus des Sujets auf und öffnet das
im Denken und Handeln der ›alten‹ Menschen »in Stück bereits in grundsätzlicher Weise gegenüber ei-
den neuen Situationen« (Brecht 1988 ff.) zur Diskus- ner geschichtsphilosophischen Fragestellung, die
sion – jenseits der Konventionen der Fabel- und Lö- sich nicht nur in Müllers Dramen von nun an immer
sungsdramaturgie, in einer lakonisch spröden Thea- stärker in den Vordergrund der in der DDR ge-
tersprache, die mit idiomatischen Redewendungen schriebenen Dramatik schiebt.
spielt, sie zergliedert, wörtlich nimmt und so eine
Wirklichkeit zweiter Ordnung, einen artifiziellen
Kunst- und Frageraum entstehen läßt. Das erst 1980
mit langer Verspätung uraufgeführte Stück Der Bau
wiederum stellt in einer sprunghaften Abfolge von
17. Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945 315

17.3 Neue Formen des Dramas im Strukturen mit sich bringt) und macht dem Zu-
Zeichen des gesellschaftlichen schauer mit seinen Figuren Identifikationsangebote.
Wandels: dokumentarische Entsprechend steht in Der Stellvertreter auch nicht
die Analyse des Systems ›Staat‹ oder ›Kirche‹ zur
Formen, (Alp-)Träume der Diskussion, sondern die Analyse der Verhaltens-
Revolution, Rückgriffe auf weise einzelner, in einer konkreten historischen Si-
Mythos und antike Struktur- tuation innerhalb dieser Systeme agierender Perso-
modelle nen, die als Träger historischer Prozesse konzeptua-
lisiert sind. Mit der Josef Mengele nachempfundenen
In der Bundesrepublik entsteht in den 1960er Jahren Figur eines »Doktors« stellt das Stück – gleichsam als
mit dem dokumentarischen Theater ein neuer, Verlängerung ›alter‹ dramatischer Muster in die
strukturell allerdings keineswegs einheitlicher Dra- neue Form hinein – dabei noch einmal eine über-
mentypus, der den Zuschauer dem Schock der Reali- große, ins Dämonische erhobene Figuration des Bö-
tät unmittelbar auszusetzen und dem Theater von sen auf die Bühne, mit dem SS-Mann Kurt Gerstein,
hier aus eine Bedeutung als Forum gesellschaftlicher der unter Gefährdung des eigenen Lebens die Öf-
Auseinandersetzungen zu gewinnen versucht (vgl. fentlichkeit ins Bild zu setzen sucht über das Gesche-
Kap. III.16). Dieser Paradigmenwechsel erfolgt als hen in den Vernichtungslagern, und dem Pater Ri-
solcher in der Fluchtlinie der Politisierung, die die cardo Fontana, der als wahrer Stellvertreter Christi
Gesellschaft der Bundesrepublik im Gefolge des mit den verfolgten Juden in den Tod geht, überdies
Mauerbaus (1961), der Kuba-Krise (1962/63), der gleich zwei Figurationen des Erhaben-Heroischen.
Spiegel-Affäre (1962), des Vietnam-Kriegs (1964 ff.), Das dem Stück beigegebene dokumentarische Mate-
nicht zuletzt auch des Jerusalemer Eichmann-Pro- rial dient dabei einerseits der ›Bewahrheitung‹ des
zesses (1961) und des ersten Frankfurter Auschwitz- Dargestellten, andererseits wird es der Geschichts-
Prozesses (1963–65) auf nahezu allen Ebenen erfasst auffassung des Autors untergeordnet, der immer
(in der Atom- und Wiederaufrüstungsdebatte aller- wieder als Kommentator und Erzähler in Erschei-
dings bereits auch Vorläufer in den 1950er Jahren nung tritt. Es bleibt dem Stück als solches äußerlich
hat): das Ausmaß der Verdrängung wurde offen- und wird nicht in die geschlossene Form integriert.
kundig und führte zu einer verstärkten Auseinan- Im Unterschied zu Hochhuth, in dessen Stellver-
dersetzung mit der NS-Vergangenheit auch auf dem treter sich die Strategien des Dokumentarischen und
Theater. Eine Vielzahl von Stücken setzte den Ver- der Fiktionalisierung letztlich damit in einander blo-
drängungs- und Abwehrstrategien nun eine do- ckierender Weise kreuzen, verzichtet Peter Weiss in
kumentarisch-exakte Erinnerung entgegen, in der Die Ermittlung, dem zweiten ›Epoche‹ machenden
Form durchaus divergent, geeint gleichwohl im Wi- Stück dieser Phase des bundesrepublikanischen
derstand gegen die Vergessensneigung, die kollek- Theaters, vorderhand auf die Fiktionalisierung und
tive Amnesie und Politikferne der westdeutschen Narrativierung des Wirklichkeitsmaterials, hier der
Nachkriegsgesellschaft (u. a. Martin Walser: Eiche Zeugenaussagen und Verhörprotokolle aus dem
und Angora, 1962; Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter, Frankfurter Auschwitz-Prozess. Weiss zieht sich als
1963; Peter Weiss: Die Ermittlung, 1965; Heinar Autor zurück auf die Position eines Arrangeurs des
Kipphardt: Joel Brand, 1965; Fritz Hochwälder: Der Materials. Der Untertitel »Ein Oratorium« ist von
Himbeerpflücker, 1965). hier aus mit Bedacht gewählt. So wie das Musikstück
Am Anfang dieser dokumentarischen Neuaus- des Oratoriums Solo- und Chorstimmen über einen
richtung des bundesrepublikanischen Theaters steht Text legt, in der Regel aber ohne sichtbare Szene aus-
Hochhuths umstrittenes Stück Der Stellvertreter, das kommt, ist auch Die Ermittlung ein Spiel der Stim-
formal deutlich noch in der Tradition der klassisch- men, das die Möglichkeit des Theaterspiels im Büh-
idealistischen Dramaturgie steht, die das in sittlicher nenraum zulässt, aber nicht zwingend erfordert. Am
Freiheit und Verantwortlichkeit sich selbst bestim- ›erzählenden‹ Charakter auch dieses Modells ändert
mende Individuum zum Ausgangspunkt und Ziel dies freilich nichts; auch Weiss bringt die Quellen ›in
hat. Hochhuth personalisiert in der Auseinanderset- Form‹; er montiert und konzeptualisiert damit das
zung mit dem Verhältnis von Macht und Moral und dokumentarische Material, unterwirft es einer Nar-
der Mitschuld der katholischen Kirche an der Shoah ration, die den Nachweis der fortbestehenden Ver-
die Konflikte (was eine Simplifizierung komplexer bindung von (faschistischer) Vergangenheit und Ge-
316 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

genwart im Überdauern ökonomischer und ideolo- schaft, von den makabren Planspielen moderner
gischer Strukturen zu erbringen hat. Kriege, die von vornherein in Genozid-Größen den-
Das wiederum lenkt den Blick ab von der anderen ken, nicht zu reden« (Kipphardt 1986, 205). Mit die-
›Wahrheit‹ der ›Banalität des Bösen‹, mit der sich sem Analogieverfahren, das keinen wesentlichen
Kipphardt zunächst in Joel Brand (1965) und ein Unterschied mehr macht zwischen der Shoah und
weiteres Mal kurz vor seinem Tod in dem Stück Bru- anderen genozidalen Ereignissen und Handlungs-
der Eichmann (1983), das die Tradition des Doku- weisen nimmt Kipphardt eine ab den 1980er Jahren
mentarstücks in den 1980er Jahren fortführt, aus- immer weiter um sich greifende ›Vernutzung‹ der
einandergesetzt hat. Joel Brand erinnert an den ge- Shoah-Erinnerung vorweg, die allmählich die spezi-
scheiterten Versuch, 1944 die Deportation der fische Singularität des Vernichtungshandelns in den
ungarischen Juden in letzter Minute noch durch ein Konzentrationslagern im Paradigma eines allgemei-
Tauschgeschäft, die Lieferung von 10.000 LKW, zu nen kulturellen Werteverfalls zum Verschwinden
verhindern, ohne allerdings dem Stellvertreter-Mo- bringt.
dell entsprechend den zwischen Adolf Eichmann Bereits 1967, auf dem Höhepunkt der Dokumen-
und dem Titelhelden Joel Brand verhandelten tar-Welle im westdeutschen Theater, hatte Walser
schmutzigen Deal ›Blut gegen Ware‹ zum Modell für dem Dokumentartheater vorgeworfen, entgegen al-
moralische oder ideologische Entscheidungen zu len anders lautenden Behauptungen weiterhin »im
überhöhen. Vor allem entdämonisiert er den Sach- Abbildungsdienst« zu stehen und den Widerspruch
walter des Terrors Eichmann, der seit den 1960er zwischen Kunst und Realität »nur zum Schein über-
Jahren als Täterfigur sui generis in einer Vielzahl wunden« zu haben: »Dokumentartheater ist Illusi-
von dramatischen Auseinandersetzungen mit dem onstheater, täuscht Wirklichkeit vor mit dem Mate-
Nationalsozialismus begegnet – unmittelbar wie in rial der Kunst« – und, so Walser weiter, halte den
Franz Theodor Csokors Das Zeichen an der Wand Zuschauer fest in der Rolle des Voyeurs: »Er hat
(1963) oder mittelbar wie in Walsers Der schwarze Kunst gesehen, die sich für Realität ausgab« (Walser
Schwan (1964), Fritz Kortners Die Zwiesprache 1968, 73 f.). Walsers Einspruch ist Ausdruck der
(1964), Thomas Bernhards Vor dem Ruhestand Funktionskrise, die die Literatur in den 1960er Jah-
(1979) oder Rolf Defranks Die schlafende Gitarre ren im Zuge der Politisierung ereilte (vgl. dazu das
(Hörspiel, 1981) und nun auf ein banales Tagesfor- Kursbuch 15, in dem nicht nur Hans Magnus
mat zurückgeschrumpft wird. In der Fluchtlinie die- Enzensberger generell mit Literatur und Poesie ab-
ser Justierung des Täterbildes lässt Kipphardt in Bru- rechnete, sondern Michael Buselmeier auch die Irre-
der Eichmann den Zuschauer schließlich in die Falle levanz des Theaters behauptete). In der Auseinan-
der Identifizierung mit dem ›Menschen‹ Eichmann dersetzung mit den politischen und künstlerischen
laufen, an dessen Beispiel er zu zeigen beabsichtigt, Aporien der revolutionären Umbrüche innerhalb
»wie ein ziemlich durchschnittlicher junger Mann der (deutschen) Geschichte fand diese Erfahrung ein
aus Solingen […] auf sehr gewöhnliche Weise zu der um so stärkeres Echo, je weiter sich die gesellschaft-
monströsen Figur Adolf Eichmann wird, die admi- lichen Auseinandersetzungen in diesem für die Ent-
nistrative Instanz im Genozid an den europäischen wicklung der Bundesrepublik eminent folgenreichen
Juden, ›ein Rädchen im Getriebe‹, wie er sich nennt, Jahrzehnt zuspitzten. Den Ton vorgegeben hatte Pe-
ein Funktionär des ›Krieges gegen die Juden‹, durch ter Weiss mit seinem Stück Die Verfolgung und Er-
Befehl und Eid gewissensgeschützt« (Kipphardt mordung Jean Paul Marats dargestellt durch die
1986, 205). Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter
Nicht die Analyse des funktionalen und funktio- Anleitung des Herrn de Sade (1964), das als Drama
nierenden Menschen macht diesen Nachtrag Kipp- der »betrogenen Revolution« (Weiss) ohne dezi-
hardts zum ›Aufklärungs‹-Theater der 1960er Jahre dierte Lehrmeinung und Lösung v. a. durch seine ar-
problematisch, es sind vielmehr die Analogieszenen, tifizielle Spiel-im-Spiel-Struktur und die Engfüh-
die Kipphardt seinem Stück mit dem Ziel eingefügt rung ganz unterschiedlicher Spielmodelle (Zirkus,
hat, um die Fortdauer des Eichmann-Prinzips eines geistliches Spiel, Commedia dell’arte, Bilderbogen
gegenüber ethischen und moralischen Bedenken und absurdes Theater etc.) in einem entfesselten To-
immunen ›soldatischen‹ Agierens in der Gegenwart taltheater innovativ wirkte. In der zweiten Hälfte der
des Zuschauers zu erweisen, und zwar »im Alltags- 1960er Jahre und den frühen 1970er Jahren häufen
bereich wie im politischen Leben wie in der Wissen- sich dann die Stücke mit Revolutionssujet, die the-
17. Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945 317

matisch den Bogen weit zu spannen wussten von der 1980; Senecas Tod, 1980; Pandorra (nach Goethe),
Darstellung revolutionärer Aufbruchsstimmungen 1982; Peter Gosse: Palmyra, 1982; Braun: Iphigenie in
bis hin zur Reflexion des Scheiterns der Revolutio- Freiheit, 1992), verbinden sich mit den Dramen
näre und der Bebilderung der ›Teutschen Misere‹, in Müllers und Hacks’. Beide Autoren haben zu Beginn
der Form aber weniger an das Marat/Sade-Modell der 1960er Jahre Stücke vorgelegt, die jeweils für sich
als vielmehr an eher konventionelle Muster des Ge- grundsätzliche Paradigmata begründeten in der
schichtsdramas anschlossen (u. a. Grass: Die Plebejer Auseinandersetzung mit Mythos und Antike: Müller
proben den Aufstand, 1966; Tankred Dorst: Toller, die Sophokles-Bearbeitung Philoktet (1964), in der
1968; Dieter Forte: Martin Luther und Thomas Zeitschrift Sinn und Form zwar veröffentlicht, für
Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung, 1970; die Bühnen der DDR aber bis 1974 gesperrt (UA
Hochhuth: Guerillas, 1970; Weiss: Trotzki im Exil, 1968, München); Hacks die Komödie Der Frieden
1970, Hölderlin, 1971; Gaston Salvatore: Büchners nach der aristophanischen Eirene, uraufgeführt
Tod, 1972). Im Unterschied zum DDR-Drama, in 1962.
dem die Revolutionsthematik mit zeitlicher Verzö- Philoktet ist eine tödlich endende Tragödie über
gerung und unter anderen gesellschaftspolitischen die Dialektik von Vernunft und Terror und das Ver-
Vorzeichen ab dem Ende der 1970er Jahre eine zu- hältnis von Wahrheit und Lüge zu Politik/Macht
nehmende Dringlichkeit erfährt und hier dann auch und Geschichte, in der am Ende nicht nur der ausge-
zu neuen Ansätzen der dramatischen Formgestal- stoßene Titelheld auf der Strecke bleibt, sondern
tung führt (Müller: Die Hamletmaschine, 1977; Der auch die individuelle Moralität vor der normativen
Auftrag, 1979: Fragmentierung; Braun: Guevara oder Geltungsmacht eines politischen Pragmatismus ka-
der Sonnenstaat, 1984: rückläufige Dramaturgie; pituliert, der buchstäblich über Leichen geht. Hacks
Christoph Hein: Die wahre Geschichte des Ah Q, liefert mit seiner Konzeption einer Utopie der Ver-
1983: Clownerie, absurdes Theater), werden in der söhnung im Humanen das Gegenstück zu diesem
BRD in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kaum dem Mythos und dem attischen Drama abgelesenen
noch Revolutionsdramen geschrieben. Walsers Sau- Modell einer tragizistischen Geschichtskonzeption.
spiel (1975) und Enzensbergers Das Verhör von Ha- Weist Müllers Stück keinen Ausweg aus der tödli-
banna (1979) sind kaum mehr als Nachträge zu ei- chen Dialektik einer nach dem Philoktet-Modell ge-
nem Genre, das Hartmut Lange mit Die Ermordung machten Geschichte, knüpft Hacks mit seinen Stü-
des Aias oder Ein Diskurs über das Holzhacken (1974) cken an das aristophanische Komödienmodell an.
gleichsam eingeschlossen hatte in den eisigen Höhen Da den gesellschaftlichen Widersprüchen im Sozia-
eines dialektischen Denkspiels, in dem der Revoluti- lismus seiner Ansicht nach im Grundsatz kein ant-
onsidealismus seiner eigenen Erschöpfung gegen- agonistischer Charakter mehr zukam, schien ihm
wärtig wird: Das Ideal lässt sich nur noch um den nicht allein Müllers Versuch zur Revitalisierung der
Preis seiner Aufgabe in der politischen Realität be- Tragödie verfehlt, sondern zugleich damit auch das
haupten. Brechtsche Theatermodell mit seiner Inanspruch-
Im Westen geschrieben, steht Langes Rückgriff nahme der Kunst für außer ihrer selbst liegende
auf den Sagenkreis des trojanischen Kriegs dabei Zwecke als historisch überholt. In der Heiterkeit der
deutlich in der Tradition der Parabel- und Antiken- Kunst spiegele sich dagegen die fortgeschrittene Ent-
stücke, in denen in der DDR eine von der Kulturpo- wicklung der sozialistischen Gesellschaft, was nichts
litik gegängelte Dramatik in den 1960er Jahren Mög- mit einer Verklärung der Wirklichkeit zu tun haben
lichkeiten der Zeitdiagnostik im mythologischen sollte, denn wenn die Kunst ihr im Bewusstsein der
Gewand suchte. Die beiden wesentlichen Linien die- Geschichtsmächtigkeit der Subjekte die humane
ser Antike-Rezeption, die sich in der DDR-Dramatik Utopie entgegenstellte, sollte dies im Verständnis
über die 1960er Jahre hinaus bis in die Umbruchzeit Hacks’ das Problembewusstsein auf eine höhere
des Mauerfalls fortsetzt (vgl. Heiner Müller: Zement, Stufe der Imagination heben. Der Kunst, so Hacks,
1972; Medeaspiel, 1974; Verkommenes Ufer Medea- dürfe es eben nicht um das Registrieren des Gehab-
material Landschaft mit Argonauten, 1982; Stefan ten gehen, sondern darum, die Freuden zu prokla-
Schütz: Odysseus’ Heimkehr, 1981; Die Amazonen mieren, um derentwillen gearbeitet und gelitten
(Antiope und Theseus), 1977; Sappa, 1982; Laokoon, wird: »Indem Kunst Unbefriedigendes auf zufrie-
1983; Orestobsession, 1991; Joachim Knauth: Der denstellende Weise abbildet«, so Hacks 1966 im Vor-
Maulheld, 1973; Lysistrate, 1975; Hacks: Die Vögel, wort zu seinem Entwurf einer ›postrevolutionären
318 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

Dramaturgie‹, »ist sie selbst das entzeitlichte Abbild szenierungsprojekte allesamt, die getragen wurden
des Verhältnisses von Aufgabe und Lösung« (Hacks von einer den Mythos in zivilisationskritischer
1984, 199). Während in Müllers Philoktet kein Ende Weise aktualisierenden Lektüre-Haltung; Projekte,
des Krieges abzusehen ist, klingt Hacks’ überaus er- die historische und strukturelle Kontinuitäten der in
folgreiche Komödie Der Frieden so auch aus im Preis den Mythen eingeschlossenen Widerspruchs- und
der erreichten gesellschaftlichen Pazifizierung. Der Konfliktkonstellationen herausarbeiteten. Erinnert
ins Licht des Klassenkampfs gerückte Friedens- sei in diesem Zusammenhang aber auch an die Un-
kampf ist Modell einer ›geglückten‹ Geschichte: Die tergangsszenarien im westdeutschen Drama (Dorst:
alten Kriegsgewinnler (Helmschmied und Waffen- Merlin oder das wüste Land, 1981; Harald Mueller:
krämer) sind verabschiedet, die alten Kriegsgesänge Das Totenfloß, 1984), die auf ihre Weise den zivilisa-
haben ausgedient. tionskritischen Diskurs in die Theaterverhältnisse
Mit dieser bejahenden Rezeption des antiken Mo- der Bundesrepublik eintrugen.
dells hat Hacks nicht nur die Grundlagen geschaffen
für seine im Osten wie im Westen gleichermaßen er-
folgreichen ›olympischen Komödien‹ (Amphitryon,
1968; Omphale, 1969); er hat damit auch die Linie ei- 17.4 Diversifikation der
ner märchenhaft-poetischen, utopischen Antike-Re- Gattungsmerkmale
zeption innerhalb der DDR-Dramatik begründet
(vgl. bspw. die aristophanischen Komödien Knauths: Ganz allgemein beginnen sich in den 1970er und
Die Weibervolksversammlung, 1972, und Lysistrata, dann v. a. den 1980er Jahren die Theaterverhältnisse
1975 sowie Armin Stolpers Amphitryon-Bearbei- Ost und West immer mehr aneinander anzunähern.
tung, 1974), während Müllers geschichtskritische Die geschlossenen ästhetischen Modelle verlieren an
Mythenlektüre weiterwirkte in einer (nicht allein) Bedeutung. In einer von Ausdifferenzierungsprozes-
dramatischen Literatur, welche die Ambivalenzen sen auf allen Ebenen begleiteten Entwicklung pers-
des historischen Fortschritts zur Diskussion stellte pektivischer Öffnungen entsteht über die System-
und durch den Mythos hindurch von den Verkrus- grenzen hinweg eine neue Pluralität der Formen,
tungen im realen Sozialismus erzählte, dessen zivili- Ausdrucksweisen und Stile.
satorische Struktur (politisch, ökonomisch, sozial) Mit Martin Sperr (Jagdszenen aus Niederbayern,
zunehmend fraglich erschien (u. a. Karl Mickel: 1966; Landshuter Erzählungen, 1967; Münchner Frei-
Nausikaa, 1968; Schütz: Odysseus’ Heimkehr, 1981; heit, 1971), Rainer Werner Fassbinder (Katzelma-
Jochen Berg: Im Taurerland, 1976/77, Niobe, 1982). cher, 1969) und Franz Xaver Kroetz (Heimarbeit,
Heiner Müllers Drama selbst nahm in den 1970er Hartnäckig, 1971; Wildwechsel, 1971; Stallerhof,
und 1980er Jahren zunehmend kulturpessimistische 1972) setzt in der Bundesrepublik etwa zeitgleich
und zivilisationskritische Züge an und ist damit zu- mit dem politischen Theater der 1960er Jahre zu-
gleich repräsentativ für eine allenthalben in der nächst eine dann von Thomas Strittmatter (Viehjud
DDR-Literatur zu beobachtende Entwicklung: Was Levi, 1982), Kerstin Specht (Lila, Das glühend
in den 1950er Jahren als Gesinnungsliteratur begann, Männla, 1990), Felix Mitterer (Kein Platz für Idioten,
endet im letzten Jahrzehnt des Bestehens der DDR 1977; Kein schöner Land, 1987; Abraham, 1993) und
in einer Sinn- und Zivilisationskritik, die immer Peter Turrini (Die Minderleister, 1988) auf andere
wieder auch und gerade am mythologischen Modell Weise fortgesetzte Renaissance des Volksstücks ein.
durchgespielt wird. Dies findet eine Parallele auch Der neue Alltags-Realismus, der damit in der Ausei-
im Theater der Bundesrepublik. Erinnert sei in die- nandersetzung mit Vorurteilen, mit der Diskrimi-
sem Zusammenhang an die teils spektakulären, auf nierung und Verfolgung von Außenseitern und
jeden Fall ambitionierten Antikenprojekte ausgangs Nichtangepassten, zumal mit der Arbeits- und Le-
der 1970er, anfangs der 1980er Jahre von so renom- benswelt von Randgruppen, Einzug in die Dramatik
mierten Regisseuren wie Ernst Wendt, Hans Neuen- hält (vgl. auch z. B. Harald Mueller: Großer Wolf,
fels, Wilfried Minks oder Claus Peymann, George 1968; Karl Otto Mühl: Rheinpromenade, 1973; Hein-
Tabori und Roberto Ciulli, v. a. an die seinerzeit viel- rich Henkel: Eisenwichser, 1970), wiederum stellt die
diskutierten Großprojekte der Berliner Schaubühne Rückseite jenes neuen Subjektivismus dar, der in der
Die Bakchen (1974) und Die Orestie (1980) in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren tonangebend
Regie Klaus-Michael Grubers und Peter Steins – In- zu werden beginnt – flankiert von einem auffallen-
17. Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945 319

den Rückzug ins Private und einer Tendenz zur Re- terarischer Mittel des absurden Theaters die Aus-
Ästhetisierung, in Teilen auch Entpolitisierung, die weglosigkeit der deformierten sozialen Wirklichkeit
auch das Drama nicht unberührt ließ. Jenseits der in der körperlichen Versehrtheit seiner beinlosen
realistischen Formensprache des neuen Volksstücks, Spielfiguren spiegelte, avancierte mit einer mono-
das seinerseits zunehmend mit symbolischen Über- manischen, um immer wieder dieselben Themen
höhungen arbeitet, treten damit in auffallender und Motive wie insbesondere das Scheitern des
Weise nun metarealistische poetische Verfahrens- Künstlers kreisenden Dramenproduktion (Der Igno-
weisen in den Vordergrund (vgl. dazu Dorst: Auf rant und der Wahnsinnige, 1972; Die Jagdgesellschaft,
dem Chimborazzo, 1975, Die Villa, 1980; Gerlind 1974; Die Macht der Gewohnheit, 1974; Die Berühm-
Reinshagen: Sonntagskinder, 1976; Das Frühlingsfest, ten, 1976; Minetti, 1976; Immanuel Kant, 1978; Über
1980; Tanz, Marie!, 1989). Für Aufmerksamkeit sor- allen Gipfeln ist Ruh, 1981; Am Ziel, 1981; Der Thea-
gen insbesondere die von Beziehungslosigkeit und termacher, 1984) zum festen Bestandteil des deutsch-
Kommunikationsverlusten in der modernen Gesell- sprachigen Theaters, gefeiert und gehasst zugleich
schaft erzählenden Stücke von Botho Strauß und für die seinen Figuren in immer neuen Variationen
Thomas Bernhards wütende Tiraden. in den Mund gelegten Schmähreden. Besonders
Strauß nahm im Rückgriff auf tradierte Formen nachdrücklich geriet Bernhards Stilprinzip der Ag-
des bürgerlichen Theaters, im Rückgriff auf Strind- gression in seiner Auseinandersetzung mit der deut-
bergs Dramaturgie und – teilweise – das expressio- schen und österreichischen Geschichte in Vor dem
nistische Stationendrama zunächst die bürgerliche Ruhestand (1979) und Heldenplatz (1988).
Alltagskultur mit seismografischer Genauigkeit in Während in diesen Dramen zunächst noch weit-
den Blick (Groß und Klein, 1978; Die Hypochonder, hin Formen der bürgerlichen Dramatik maßgeblich
1972; Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle, 1975; bleiben – und sei es als Referenzfolie der Überschrei-
Trilogie des Wiedersehens, 1977), öffnete sich dann bung –, wird gerade das DDR-Drama in den 1970er
formal zunehmend gegenüber Mystik und Mythos. und 1980er Jahren in augenfälliger Weise ›modern‹
Mit Stücken wie Die Fremdenführerin (1986), Kall- in der Entgrenzung der Formvorgaben des sozialisti-
dewey. Farce (1981) und Der Park (1983) nimmt schen Realismus und der Verweigerung von Kohä-
seine Dramatik eine Entwicklung, die sich über das renz, dramaturgischer Geschlossenheit und Reprä-
Wendestück Schlußchor (1991) und den umstritte- sentation. Zum Teil abseits der Bühnen, die unter
nen Versuch der Revitalisierung von Mythos und dem Diktat der Kulturpolitik diese Angebote nur
Tragödie in Ithaka (1996) bis hin zu der Titus Andro- sehr zögerlich aufnehmen, entstehen in diesen Jah-
nicus-Bearbeitung Schändung (2005) fortsetzte und ren auch im Westen vielbeachtete Stücke, deren Dra-
letztlich mit der rückkehrenden Wendung zum Gu- maturgien gleichsam aus dem Nichts gebaut schei-
ten, Wahren und Schönen kulturkonservative Züge nen, vielfach geborstene Textgebilde, subjektiv
annahm. Vergleichbares gilt für Peter Handke, der in strukturierte Textlandschaften, die keine Geschichte
den 1960er Jahren mit seinen Sprechstücken (Weis- mehr ›ganz‹, als Geschichte mit Anfang und Ende
sagung, Selbstbezichtigung, Publikumsbeschimpfung, erzählen, Stücke, die die narrative Gesetzmäßigkeit
1966), die anknüpfend an die Sprachexperimente der Fabel, Handlung, Rollentext und dramatische Il-
der ›Wiener Gruppe‹ und die Sprachphilosophie lusion durch die fiebrige Logik der Assoziation, des
Ludwig Wittgensteins auf traditionelle Formen des Traums, ersetzen, auf dialogisches Spiel und Gegen-
Handlungsaufbaus und der Dialoggestaltung ver- spiel verzichten, Texte, die auf die Illusionierung ab-
zichteten und den Schauspielern die Imitation von gebildeter Realität verzichten, die nicht mehr die
Sprechhaltungen abverlangten, Neuland betreten Welt abbilden und ihr keine Ordnung mehr geben.
hatte, in den 1980er und 1990er Jahren seine Drama- Dieser Vorgang einer ›Ent-Dramatisierung‹ wird zu-
tik aber zunehmend prätentiös verengte und gleich- nächst v. a. von Heiner Müller vorangetrieben, der in
zeitig das Modell des Dichterpriesters und -visionärs den 1970er Jahren bereits die Grundidee eines dio-
wieder mit Leben zu füllen versuchte (Über die Dör- nysisch gefärbten Theaters der Metamorphosen um-
fer, 1982; Die Stunde, da wir nichts voneinander wuß- reißt, das auf den (körperlichen) Schrecken als Sti-
ten, 1992; Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Kö- mulanz kreativer Negation setzt und Brechts nega-
nigsdrama, 1997). Thomas Bernhard wiederum, der tive Pädagogik wieder unmittelbar an das
1970 schlagartig bekannt wurde mit seinem Krüp- aristotelische Katharsisverständnis der zur lustvollen
pel-Spiel Ein Fest für Boris, das in Weiterführung li- Befriedigung führenden Affektreinigung heran-
320 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

führt. Sinndezentrierungen, Enthierarchisierung Anfängen der gemeinsamen Theaterarbeit mit


der Textelemente, Fragmentarisierung der Szenen- Brasch heraus ein ›erzählendes‹ Drama, in dem die
struktur unter Verzicht auf Fabel, ›organischen‹ Zu- Einzelszenen autonomen Charakter gewinnen, sich
sammenhang und Finalspannung, ›Überschwem- die Sprache gegenüber der szenischen Ordnung ver-
mungen‹ des Zuschauerraums mittels einer Poly- selbständigt (Weltuntergang Berlin I, 1979; Weltun-
phonie der Themen, Motive und Vorgänge, tergang Berlin II, 1986; Hermes in der Stadt, 1992).
Simultaneität der literarischen oder theatralen Aus- »Übersetzung von Wirklichkeit« (Müller), nicht
drucksmittel, Ausschaltung des Autors aus dem deren Versetzung ins und damit deren (verdop-
Schreibprozess durch die Metapher, Verdichtung pelnde) Abbildung im Kunstwerk ist gemeinsamer
und Bildkomplexion – das sind die von Müller in Fluchtpunkt der im Einzelnen verschiedenen Dra-
Stücken wie Die Hamletmaschine (1977), Verkomme- maturgien. Damit sind sie, auch wenn sie aus dem
nes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten Bereich der DDR-Dramatik stammen, symptoma-
(1983) und Bildbeschreibung (1985) verstärkt zum tisch für eine signifikante Tendenz im deutschen Ge-
Einsatz gebrachten technischen Mittel zur Verwand- genwartstheater des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
lung des Dramas in ein Spiel der Stimmen und Wör- Allenthalben unterlaufen Theatertexte seit den
ter, das die Vorgaben des sozialistischen Realismus 1980er Jahren – die Wende von 1989/90 markiert in
weit hinter sich lässt, die dem DDR-Drama in den dieser Hinsicht durchaus keine Epochenzäsur – un-
1960er Jahren noch Fesseln angelegt hatten. ter dem Einfluss so unterschiedlicher Impulsgeber
Die subversiven Impulse der von Müller entwi- wie dem Tanztheater Pina Bauschs, dem zeremoniel-
ckelten Schreibverfahren sind auf jeweils eigenstän- len Bildertheater Robert Wilsons, Tadeusz Kantors
dige und eigenwillige Art aufgenommen worden, Theater des Todes und Antonin Artauds dionysi-
insbesondere von Volker Braun, Thomas Brasch und schem Körpertheater sowie der Performance-Kunst
Lothar Trolle. Braun hat in den späten 1970er und die Spiel-Regeln der auf Prinzipien von Geschlos-
den 1980er Jahren seine Dramenproduktion zuneh- senheit und Mimesis beruhenden dramatischen
mend weiter so in Richtung einer experimentellen Modelle, dekonstruieren sie gleichermaßen den
Dramaturgie verschoben; er hat die Fabel zerschla- Text, das Subjekt und den Sinn, konzipieren Theater
gen (Schmitten, 1981) oder in einer rückläufigen als ästhetische Suchbewegung. Mediale Grenzüber-
Chronologie aufgelöst (Guevara oder der Sonnen- schreitungen stellen mit dem Nebeneinander von
staat, 1977); er hat die plastisch geformte, psycholo- Dreidimensionalität (realer Körperlichkeit bzw.
gisch schlüssige ›große‹ Figur durch eine »syntheti- konkreter physischer Realität des Schauspieler-Ak-
sche, aus geschichtssegmenten, geschichtswider- teurs) und Zweidimensionalität (Schein des ›Wah-
sprüchen« konstruierte »›gesamtfigur‹« (Braun ren‹ beispielsweise durch Projektionen von Gegen-
1991, 154) ersetzt (Simplex Deutsch, 1980) und, wie ständen, Räumen und Personen auf einem Screen
in Dmitri (nach Schiller Demetrius-Fragment, 1982), oder einer Leinwand) das Theater in seiner tradier-
die klassische Dramaturgie des Geschichtsdramas in ten Form gleich von verschiedenen Seiten her in
eine offen fragmentarische Form übersetzt, die mit Frage: zum einen im Hinblick auf die Konstituierung
komischen, grotesken und absurden Mitteln, mit von Raum und Zeit; zum anderen im Hinblick auf
Stil- und Zeitbrüchen arbeitet. Müllers ›Schüler‹ die Bedingungen der Theaterkommunikationen.
Brasch wiederum, der bereits 1976 die DDR zu ver- Mit dem elektronischen oder digitalen Bild wird der
lassen gezwungen war, hat in formaler Nähe zu den ›Schein des Wahren‹ in die Illusion des real sich vor
Bildschichtungsverfahren seines Mentors in der den Augen des Zuschauers abspielenden szenischen
Bundesrepublik ein Theater der Kollisionen entwi- Geschehens eingeführt – als Illusion zweiter Potenz,
ckelt, das seinen Fluchtpunkt in einer Dramaturgie die durch das Spiel mit Wirklichkeiten die Zeit-
der geräumten Mitte findet, die ihrerseits in der Mal- Raum-Verhältnisse des Theaterspiels verwirbelt und
technik Hieronymus Boschs und der ästhetischen ›gewohnte‹ kognitive Perzeptionsmuster in Frage
Struktur von Brechts Fatzer-Fragment Vorbilder hat stellt.
(Papiertiger, 1976; Lieber Georg. Ein Eis-Kunst-Läu- Nun ist »der Zweifel an der Tragfähigkeit der dra-
fer-Drama aus dem Vorkrieg, 1980; Lovely Rita, 1978; matischen Form«, der sich darin Ausdrucksmög-
FrauenKriegLustspiel, 1988). Trolle schließlich ent- lichkeiten verschafft, theatergeschichtlich durchaus
wickelt auf der Linie des von Brasch verfolgten Ex- »keine wirkliche Neuigkeit«, stand das Drama viel-
periments einer exzentrischen Theaterkunst aus den mehr, angefangen mit Aristoteles, lange schon »im
17. Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945 321

Zwielicht zwischen seiner Bedeutung als Sprachwerk matischen Theaters bzw. der postdramatischen In-
oder Sprachkunstwerk und seiner Funktion als szenierungskunst die dramatische Form nichts von
Spieltext oder Spielvorlage« (Bayerdörfer 2007, 2). ihrer Vitalität eingebüßt und auch im avancierten
Insofern ist auch das sogenannte »postdramatische Theater durchaus ihre Bedeutung behalten hat. Zu
Theater« (Lehmann; vgl. Kap. I.6) in seiner Abwen- Recht hat Joachim Fiebach auf die seit Mitte der
dung vom dramatischen Text bei gleichzeitiger 1990er Jahre zu beobachtende Tendenz hingewiesen,
Hochwertung »performance-naher Theaterformen« »dramatische Literatur (wieder) als das primäre Ele-
(Primavesi 2004, 9) nicht in der Tendenz neu, wohl ment von Theaterkunst zu nehmen« (Fiebach 2003,
aber in der Konsequenz der Verwandlung des Thea- 352), was mit dem Begriff ›Neodramatik‹ nur unzu-
ters vom Schauplatz eines handlungsgeleiteten, reichend erfasst ist. So besteht neben den postmoder-
durch Figurenrede vermittelten fiktionalen Gesche- nen Auflösungsformen ein breites Spektrum spielba-
hens in ein selbstreflexives Medium polyphoner asi- rer Dramenformen im deutschen Gegenwartstheater.
gnifikanter Text-Bildlandschaften. Exemplarisch Zu nennen sind hier neben den well made plays, die
zum Ausdruck kommt diese zeitweilig mit einem sich unberührt von den Formexperimenten des
Aufmerksamkeitsüberschuss bedachte Tendenz in- avancierten Theaters aus dem Fundus realistischer
nerhalb eines disparaten Formenspektrums des Ge- Spielweisen bedienen, symbolisch-parabolische Aus-
genwartsdramas in den »collagierten Sprachflä- drucksweisen oder Formen des Kammerspiels und
chen« (Schößler 2004, 238) Elfriede Jelineks, in de- des Konversationsstücks fortschreiben, diejenigen
nen das Drama, damit auch Theatralität, in den Dramen, die in mehr (Elfriede Müller: Die Bergarbei-
Bewegungen der Sprache stattfindet (Bambiland, terinnen, 1988; Friederike Roth: Das Ganze ein Stück,
2003; Ulrike Maria Stuart, 2006; Das Werk, 2010; 1986; Erben und Sterben, 1992; Marlene Streeruwitz:
Winterreise, 2011), und den hochkomplexen, selbst- Waikiki Beach, 1992; Elysian Park, 1993; New York.
reflexiven und ironischen szenischen Apparaturen New York, 1993; Dea Loher: Blaubart, Hoffnung der
Rainald Goetz’ , die die Sprache zum Akteur einer Frauen, 1997; Medea Manhattan, 1999) oder weniger
ex-zentrischen Kommunikationsverdichtung ma- (Moritz Rinke: Der Mann, der noch keiner Frau Blöße
chen, die allemal offen lässt, ob die agierenden Per- entdeckte, 1999; Republik Vineta, 2000; Café Umberto,
sonen Handlungsträger im engeren Sinne sind oder 2005; Albert Ostermaier: The Making Of. B.-Movie,
lediglich Sprech-Funktionen (Krieg [Trilogie], 1999; Death Valley Junction, 2000; Fratzen, 2009) kri-
1987/88; Festung [Trilogie], 1992/93; Jeff Koons, tischer Weise an tradierte Strukturformen anschlie-
1999). Dabei sind Jelineks und Goetz‹ Arbeiten für ßen, sie modifizieren und weiterführen. Das Spek-
das Theater (eigentlich gegen das Theater) über die trum durchaus bühnentauglicher Dramatik reicht
gleichzeitige Zitation und Dekonstruktion eines von Werner Fritschs Traumstücken (Wondreber To-
Ordnung und Orientierung bietenden Strukturmo- tentanz, 1998; Aller Seelen, 2000; Bach, 2004) und
dells (hier des Dramas/Theaters) hinaus immer auch Monologen (Nico. Sphinx aus Eis, 2002; Heilig Heilig
Arbeit mit der Form: Aufhebung der klassischen Heilig, 2004; Das Rad des Glücks, 2005), der in seinen
Formen bei gleichzeitig strenger Formung (im Falle Stücken den Bühnenraum zum Ort einer eigentümli-
Jelineks in Gestalt einer artifiziellen Durchschich- chen Heterochronie verwandelt, über den Rückgriff
tung von Zitaten und Anspielungen; im Falle Goetz’ auf das Religiöse bei Lukas Bärfuss (Der Bus. Das
durch die Ersetzung des Systems herkömmlicher Zeug einer Heiligen, 2005) bis hin zu René Polleschs
Dramentektonik durch einen neuen Konstruktions- Dramen aus repetitiven Loops (Schleifen) und Per-
modus mathematisch-arithmetischer Regularitä- mutationen (also Veränderungen der Textanordnung
ten). durch das Vertauschen ihrer Elemente) (Stadt als
Die »performative Wende hin zum postdramati- Beute, 2002; Schändet eure neoliberalen Biographien!,
schen Theater« (Hentschel 2007, 14) mit der zeitwei- 2005; Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der
ligen Dominanz solcherart selbstreflexiver und de- Idee eines Regisseurs zu überzeugen, 2010). Bezeich-
konstruktivistischer Dramaturgien allerdings bedeu- nend für die neue Pluralität im Gegenwartstheater/
tet weder das Ende des Texttheaters noch des Drama ist darüber hinaus gerade auch das Aufkom-
literarischen Theatertextes, was bereits Lehmann in men neuer Formen des Dokumentarischen (Rimini-
seiner einflussreichen Studie zum Postdramatischen Protokoll: Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, 2007;
Theater (1999) eingeräumt hat (dazu Roßbach 2007, Hochhuth: McKinsey kommt, 2004; Kathrin Röggla:
166 f.), zumal auch in den Hochphasen des postdra- draußen tobt die dunkelziffer, 2005; Falk Richter: Un-
322 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

ter Eis, 2004) und das Interesse für Phänomene der Hg. v. Werner Hecht. Bd. 25. Berlin u. a. 1988 ff., 399–
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18. Rückkehr des dramatischen Erzählens? 323

18. Rückkehr des dramatischen Mülheimer Theatertage 2007 zeigten, die durch die
Sprengung des herkömmlichen Werkbegriffes eine
Erzählens? folgenreiche ästhetische Zäsur setzten. Bei dem für
die zeitgenössische deutschsprachige Dramatik be-
Sind gegenwärtige dramatisch geprägte Theaterfor- deutendsten Festival erhielt die Gruppe Rimini Pro-
men ein ästhetisches Auslaufmodell oder lässt sich tokoll den Dramatikerpreis für eine Arbeit, die sich
vielmehr von einer »Renaissance des dramatischen mit dem ersten Band des Kapitals (1867) von Karl
Dramas« (Haas 2007, 177) sprechen, was auch auf Marx auseinandersetzt, indem »Alltagsspezialisten«,
erste Ermüdungserscheinungen postdramatisch- d. h. nicht-professionelle Schauspieler, unterschied-
performativer Schreib- und Spielformen hinweisen liche Auswirkungen der Wirtschaftstheorie und
könnte? Ist es aufgrund der Disparatheit heutiger -philosophie auf ihre Biografien übertragend analy-
transversaler Erzählstrategien von (post-)dramati- sieren, unter Anleitung an ihren »eigenen« Ge-
schen, (post-)epischen bzw. neo-dokumentarischen schichten arbeiten und diese als »geskriptete Reali-
Formaten überhaupt noch möglich bzw. sinnvoll, tät« zu Protokoll geben (Malzacher 2007, 39), wobei
eindeutig zwischen (szenisch realisierten) dramati- das Publikum während der Aufführung auch zu ei-
schen und nicht-dramatischen Texten zu unter- ner kollektiven Lektüre im Original eingeladen und
scheiden und deren Formmerkmale jeweils exakt in die gesamte Erzählung eingebunden wird. Die do-
festzulegen (vgl. Tigges u. a. 2010)? Liegt nicht be- kumentarisch orientierte Ästhetik, in der die Betei-
reits das Problem bei der Bestimmung von »Merk- ligten auf der Bühne als »personifizierte V-Effekte«
malen des Dramatischen« (Birkenhauer 2007, 17) (vgl. Kap. III.15, S. 302) bzw. zugleich als »Co-Leser
darin, dass avancierte dramatische Texte z. T. noch und Co-Autoren« auftreten (Wetzel/Haug 2007),
immer in Aufführungskonventionen des bürgerli- verhandelt nicht nur das Verhältnis von Realität und
chen Illusionstheaters gespiegelt und darin ästhe- Fiktion sowie von Theorie und Praxis neu, sondern
tisch vermessen werden? sucht v. a. nach avancierten Erzählformen, die jen-
Auffällig ist, dass sich die dramatischen Schreib- seits eines Dramentextes (fiktionale) Räume öffnen,
formen in den letzten Jahren speziell auf formaler mit diesen offen (dramatisch) spielen und die Reali-
Ebene ausdifferenziert haben, diesen damit ein er- tät kurzschließen. Kritisch hinterfragt wird hier aber
hebliches Transformations- sowie Innovationspo- auch die Position des Autor(en)modells, die Fixie-
tential innewohnt, was sowohl mit dem Einfluss des rung des Textes bzw. die Möglichkeit einer der Büh-
postdramatischen Theaters, Episierungsschüben, nenrezeption vorausgehenden Leserezeption in
den schnelllebigen aber prägenden Medien als auch Form einer Text- bzw. Dramenanalyse sowie die
mit der gestiegenen Aufführungsbezogenheit der Möglichkeit des Nachspiels. So fragt Bernd Stege-
Texte zu erklären ist. mann in seiner Laudatio, ob die »Mitschrift der Auf-
Diagnostizierte Max Herrmann frühzeitig, dass führung als Grundlage einer zweiten Inszenierung
uns das Drama als »schöpferische Dichtung« in der dienen« und ob schließlich »Schauspieler den von
Theatergeschichte nichts oder nur insoweit etwas den Experten entwickelten Text sprechen« sollten
angehe, »als der Dramatiker bei der Abfassung sei- (Stegemann 2007).
nes Werkes auch auf die Verhältnisse der Bühne Elfriede Jelinek fordert dagegen mit Die Kontrakte
Rücksicht nimmt« (Herrmann 1914), reflektieren des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie (2009) die
heute viele Theaterautoren ihre Schreibprozesse, die Schauspieler heraus, indem sie eine fixe Textfassung
Möglichkeiten des episch erweiterten Erzählens und negiert und ihrem Regisseur der Uraufführung, Ni-
das Potential theatraler Darstellungsstrukturen in colas Stemann, für die folgenden Vorstellungen
ihren zunehmend offenen Texten (wieder) verstärkt neue, die Tagespolitik aufarbeitende Textfragmente
mit, indem sie bereits als Autor in ihren Texten Re- anbietet, die er mit seinem Ensemble mittels Impro-
gie führen, als AutorRegisseur (u. a. René Pollesch, visationen in die offene Text-Performance integrie-
Falk Richter, Armin Petras alias Fritz Kater, Nuran ren kann.
David Calis, Roland Schimmelpfennig) das (Regie-) Obwohl dokumentarisch-episch motivierte Er-
Theater herausfordern und/oder die Produkti- zählformate wie z. B. Das Kontingent (2000) von
onsteams zu einer aktiven Mit-Autorschaft aufrufen. Soeren Voima oder Andres Veiels/Gesine Schmidts
Die Funktion und Bedeutung des Autors bzw. Auto- Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt (2005) auf eine
renkollektivs kann sich noch radikalisieren, wie die weiterführende Auseinandersetzung mit dem doku-
324 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

mentarischen Theater (s. Kap. III.16) von Peter müssen – so einige signifikante Tendenzen in der
Weiss sowie mit Brechts Modell des epischen Thea- Gegenwartsdramatik –, interessieren diese gerade
ters (s. Kap. III.15) hinweisen, der sich mit seiner als auf sich zurückblickendes Kollektiv, das den zer-
Lehrstück-Ästhetik vom dramatischen Theater zu splitternden Subjekten Halt gewährt. Entsprechend
distanzieren versuchte, aber grundsätzlich noch an äußert eine Figur in Dea Lohers Das letzte Feuer
der Fabel festhielt, stellt sich die Frage, ob nach dem (2008), das mit seinen Erzählsprüngen und Perspek-
»Einfall der Wirklichkeit« und dem angestrebten tivwechseln an die Schnitttechnik von Robert Alt-
»Real(itäts)effekt« (Barthes 2007) bzw. rasant stei- manns Short Cuts (1993) erinnert: »Wir, wir tragen
gendem Authentizitätsdruck nicht wieder das Be- nur diese Geschichte zusammen/Stück für Stück/
dürfnis in der Kunstpraxis steigt, »nicht«-repräsen- Weil wir glauben, zusammen wüssten wir mehr/Als
tationale Ästhetiken pointiert zu brechen und kom- jeder allein.“
plexere Imaginations- bzw. Fiktionsräume in die Die Fabel bzw. Geschichte wandelt sich zuneh-
Erzählstrategien einzubinden. Oder anders gefragt: mend zu einer Rückschau, d. h. zu einem »Theater
Motivieren die divergierenden Episierungstechni- nach der Geschichte«, wobei die Handlung in die
ken, die augenblicklich Text und Aufführung be- Sprache einzieht und diese in Form von primär mo-
stimmen, nicht letztlich wieder ein neues Interesse, nologisch gesteuerten Dialogrudimenten sowie lan-
Geschichten zu erzählen und damit durch die Hin- gen Erzählpassagen handeln lässt. Es stellt sich die
tertüre auch eine Rückkehr des dramatischen Erzäh- Frage, wie die Aufführungspraxis auf die Entdrama-
lens, das deutlich polyphoner und gebrochener auf- tisierungstechniken der Theaterautoren reagiert.
tritt, womit sich »Drama und Mimesis wieder in die Oder handelt es sich um ein narratives Re-Dramati-
Darstellung der Weltwahrnehmung wie der darin sierungspotential, das letztlich die dramatischen Fi-
dargestellten Welt einmischen« (Stegemann 2008)? guren rettet, »indem die Texte nicht gespielt, son-
Das im Theater zunehmende Bedürfnis, wieder dern zum Anhören und die Figuren nicht gespielt,
größere Geschichten zu erzählen, äußert sich nicht sondern zum Anschauen zur Verfügung gestellt wer-
zuletzt in zahlreichen Romanadaptionen, die für das den«, so der Regisseur Andreas Kriegenburg über
Theater übersetzte Drehbücher bzw. Filmstoffe ablö- seine Erfahrungen mit der Autorin (Kriegenburg,
sen, epische sowie dramatische Strategien dialogisch 2010)?
konfrontieren und dabei weniger die Handlung Andererseits spielen Dramatiker wie Roland
nachspielen, als diese multiperspektivisch erzähle- Schimmelpfennig in aller Offenheit mit Erzähloptio-
risch entfalten (Bayerdörfer 2011). nen, wobei (imaginierte) Handlungen, Erinnerun-
Auch wenn mit der Moderne seit Anfang des 20. gen oder potenzielle zukünftige Ereignisse von den
Jahrhunderts der Subjektbegriff, der davon ausging, orchestrierten Figuren in Form eines szenischen Es-
dass die dramatis personae mit und über ihr Spre- says spielerisch in expandierenden Momentaufnah-
chen ihre Handlungen selbstverantwortlich sowie men angedeutet und deren (mögliche) Folgen spie-
erkenntnisstiftend vorantreiben, fragwürdig wurde gelnd reflektiert werden. So widerspricht sich in
und sich die im dramatischen Diskurs dekonstruier- seiner Idomeneus-Bearbeitung (2008) das Figuren-
ten Figuren als auch deren dialogisches Verhalten kollektiv immer wieder: »So war es nicht.« – »so ist
zunehmend auflösten und in der Postmoderne das es nicht gewesen.« – »Es ist so gewesen«, um jeweils
Sprechen fast vollständig aus dem inneren, d. h. bin- einen persönlichen Blick auf die sich scheinbar ge-
nenfiktionalen Kommunikationssystem in die äu- rade erst schreibende Geschichte zu entwickeln,
ßere Kommunikation abwanderte, spielen Figuren Plotsplitter (un-)dramatisch aufzurufen, mit der
sowie von ihnen ausgelöste dramatische Konflikte Zeit im Raum und dem Raum in der Zeit zu spielen
weiterhin eine elementare Rolle. Obwohl die Figuren und das Publikum in eine Dramaturgie einzuspan-
heute zunehmend ihre in ihrer Linearität aufgebro- nen, die sich wie ein (post-)episches Netz entfaltet,
chene persönliche Geschichte hinter sich haben, da- das aber weiterhin dramatische Grundkonflikte aus-
bei weniger zentriert erscheinen können, aus dem lösen kann. In Hier und Jetzt (2008) motiviert der
Figurenverzeichnis herausfallen, als Chorkörper Autor erneut einen Meta-Diskurs, indem er die
auftreten können, Text zugeordnet bekommen, die- Grenzen und Mittel des Erzähltheaters dramatisch
sen untereinander frei aushandeln oder Gefahr lau- aushandelt, sich über seine Figuren an das Publikum
fen, austauschbar zu werden und eher mit den wendet, dabei dialogische Situationen kritisch hin-
Folgen ihrer (ausgebliebenen) Handlungen leben terfragt bzw. diese (durch Wiederholungen) drama-
18. Rückkehr des dramatischen Erzählens? 325

tisch entleert und programmatisch dafür plädiert, an Schauspieler, denn es wird keinerlei Verständigung
Geschichten festzuhalten: Tilo: »Das hast du doch darüber geben, wie die Figur beschaffen ist, was das
schon erzählt.« Ilse: »Das macht doch nichts.« Tilo: besondere an ihr ist, woher sie kommt, wie alt sie ist,
»Aber das erzählt sie jedes Mal – jedes Mal –« Ilse: diese Gespräche werden nicht stattfinden, aber wie
»Das macht doch nichts, dass wir die Geschichte wir alle wissen, ist ja ein Text auch eine Figur, aus der
schon kennen, das macht doch nichts. Im Gegenteil! viele Figuren heraus sprechen, und der Text spre-
Um so besser! Das ist doch das Schöne! Dafür sind chende Schauspieler kann sich ja die Figuren, die
Geschichten doch da – dass man sie wieder und wie- den Text bewohnen, überstreifen wie Masken und in
der erzählt und man sie wieder und wieder hört«. jeder Textpassage lustvoll und virtuos die Masken
Die Geschichten sind weder identisch noch voll- sooft wechseln, dass der Textkörper ebenfalls zu tan-
ständig, wachsen aber in Form von Variationen bzw. zen beginnt und nicht auf ewig verdammt bleibt, an
divergierenden Erzählpositionen bruchstückartig der einmal gefundenen Figur zu kleben« (Richter
zusammen. Von Interesse ist hier speziell die Erzähl- 2010, 120 ff.). Die Arbeit, in der private und öffentli-
form, d. h. wie die Erzählfäden mit- bzw. ineinander che Krisen diskursiv zusammenspielen und Mo-
verstrickt werden und dabei ereignisreiche, augen- mente der Erschöpfung, des gestörten Vertrauens,
blicksgebundene Handlungs(spiel)räume im Text/in des ökonomischen Zusammenbruchs sowie des aus-
der Sprache eröffnen und sich damit fixen Lesarten bleibenden (politischen) Widerstands ›systemanaly-
und finalen Deutungen bewusst verschließen. Bilan- tisch‹ verhandelt werden, spiegelt in mehrfacher
zierte Jürgen Gosch, der wiederholt Texte des Autors Hinsicht einen ästhetisch avancierten Ausdruck wi-
uraufführte, dass ihn »die Abwesenheit von dramati- der, der durch veränderte Schreib- und Probenpro-
schen Äußerungen« (Gosch 2006) interessiere und zesse maßgeblich geprägt wird. Richter entwickelt
er als Regisseur mit seinen zunehmend minimalisti- im Vorfeld in Form von Tagebucheinträgen, Mono-
schen szenischen Versuchsanordnungen Schimmel- logen, Dialogen, Textflächen und integrierten theo-
pfennig dazu motivierte, komplexe Sprachbewegun- retischen Textfragmenten eine äußerst disparate
gen und spielerische Verwandlungsformen für die Materialgrundlage, die als »Ideengeber für Bewe-
Bühne kunstvoll zu vereinfachen, sollte dies nicht als gungsmuster« in die Proben fließt, sich durch Im-
eine definitive Absage an ein auf Handlung und Dia- provisationen anreichert, weiterschreibt und im
log bauendes, dramatisch geprägtes Erzähltheater, Sinne Brechts den künstlerisch-theoretischen Dis-
sondern als dessen experimentelles Öffnen sowie als kursraum verdichtet. Eine zentrale Voraussetzung
Ausdruck der Suche nach einer Freiheit verstanden bildet die Gleichberechtigung der Tänzer und
werden, die dramatisch-epische Zwischenräume neu Schauspieler, die sich gemeinsam mit dem AutorRe-
aushandelt. Mit diesem spezifischen Fortschreiben, gisseur und der Choreografin durch den »Klang-
das den Blick auf/in das Drama nicht verstellt, wird raum der Ideen bewegen« und daran arbeiten, dass
das Theater zu einer »literarischen Praxis« und eben sich in der herausbildenden Performance das »Den-
nicht zu einer »empirischen Realisierung von Litera- ken quasi live auf der Bühne vollzieht« und sich der
tur«, in dem die Schauspieler über ihre Figuren um Text auf der Bühne vervollständigt, indem die Per-
Deutungshoheiten ringen (Birkenhauer 2005). former den »Text denken sowie vertreten, anstatt die
Vielmehr geht es zeitgenössischen Theaterauto- Figuren zu spielen«. Damit ist der Text für Richter
ren vermehrt darum, die Figuren so anzulegen, dass »kein Gefangener, den man einfach in eine einmal
diese nicht an das/ihr Drama gefesselt werden und gefundene Figur oder Handlung bei Wasser und
stattdessen befreit aus dieser Mechanik heraustreten, Brot sperren kann«, da er ein »freier Körper« ist, auf
indem sie in unfertige Rollenspiele verwickelt, be- »andere freie Körper« treffen muss, die »beweglich
weglich angelegt werden, mit dem Text bzw. ihrer und offen bleiben« müssen und nicht in »ihren ge-
Sprache arbeiten müssen oder die Schauspieler gar wohnten Scharnieren einstudierter Mechanik ein-
aus der Figurenarbeit (teilweise) entbunden werden, rasten« dürfen, da der Text sonst »absterben, tot he-
was jedoch nicht als ein definitives figurales Abster- rum liegen und von keinem mehr gehört und wahr-
ben gedeutet werden sollte. So äußert der Dramati- genommen« würde (Richter 2010, 120 ff.).
ker und Regisseur Falk Richter in seinen Notizen zu Obwohl Schauspieler in gegenwärtigen Spieläs-
seinem mit der Choreografin Anouk van Dijk reali- thetiken immer signifikanter ihren Text aus seiner
sierten Projekt Trust (2009): »Es gibt keine Figuren- verbliebenen dramatischen Konstruktion herauslö-
arbeit, das wird schwer für einige der teilnehmenden sen, um dessen Materialcharakter offenzulegen und
326 III. Gattungen des Dramas im historischen Kontext

dabei bewusst die von ihnen dargestellten (rudimen- sie diese als Langzeitfolgen in einem persönlicheren
tären) Figuren und deren behauptete Geschichte(n) Umfeld, d. h. auch im Blick auf ihre Geburtsorte bzw.
mit ihrem eigenen biografischen oder fremden Ma- Elterngeneration aufbereiten (Tigges 2009). Dazu
terial »beschädigen«, um sich selbst als künstleri- zählen insbesondere Absolventen des Studiengangs
sche/menschliche Subjekte performativ zu vergrö- Szenisches Schreiben der Universität der Künste
ßern, verbleibt ein von der Figur ausgehendes Rei- Berlin wie Dirk Laucke, Thomas Freyer, Juliane
bungspotential, das Erzählvorgänge dramatisch Kann, Anne Rabe oder Tine Rahel Völcker. Auch
einfärbt. Auch wenn heute das bereits mehrfach er- wenn die Milieustudien eher als dramatische Klein-
weiterte Modell der Figurenrede (Szondi, Klotz, formate auftreten und damit, so die Kritik, eine un-
Pfister) wieder einmal ästhetisch an seine Grenzen zureichende »Welthaltigkeit« aufweisen können,
zu stoßen scheint und damit auch das dramatisch zeigt sich, dass sich in den im lokalen oder regiona-
geprägte Erzähltheater attackiert wird, eröffnen sich len Raum verarbeiteten Empfindungen durchaus
durch die Fokussierung der »doppelten Perspekti- Folgen der Globalisierung spiegeln können und die
vierung der dramatischen Rede« (Birkenhauer 2005) Geschichten damit größer ausfallen als sie zunächst
und der wiederentdeckten und aus der Romantheo- erscheinen.
rie in das Theater transferierten »Dialogizität« Nis-Momme Stockmann schreibt sich hingegen
(Bachtin/Wirth) neue erzählerische Spielräume, in in Kein Schiff wird kommen (2010) selbst als Autor in
denen relevante ästhetische und gesellschaftliche sein Stück ein, verweigert ein Wendestück-Auftrags-
Fragen verhandelt werden können. werk und spiegelt damit ironisch den vom (Thea-
Bei der »doppelten Perspektivierung der dramati- ter-)Markt geforderten nachhaltigen Umgang mit
schen Rede« geht es darum, die dramatische Rede der kollektiven Erinnerung und die Erwartung einer
nicht nur auf die innerdramatische Fiktion als »Mi- großen dramatischen Erzählung. Dass sich hier ein
mesis individuellen Sprechens« zu beziehen, son- neuer (alter) Trend der dramatisierten Autofiktion
dern gerade auch deren Theaterbezug bzw. deren bzw. Autor-Reflexion abzeichnet, der in einer signi-
»kompositorisches Kalkül« zu berücksichtigen (Bir- fikanten literarischen Tradition steht und nicht zu-
kenhauer 2005), womit die Leser bzw. Zuschauer so- letzt als Reflex auf die Ästhetik Elfriede Jelineks zu
wohl neue Spracherfahrungen sammeln, als auch verstehen ist, zeigen weitere Texte. Während Wolf-
deren Blicke auf die Darstellungsprozesse auf der ram Lotz in Der große Marsch (2010) mit seinem Na-
Bühne gelenkt und in Form eines »sehenden Se- men in eine Autor-Figur schlüpft, die Abstand von
hens« (Max Imdahl) geöffnet sowie potenziert wer- ihrem RAF-Projekt nimmt, da ihr das Thema zu
den können. Es zeigt sich, dass die Theaterautoren komplex erscheint, Peca Stefan in Drahtseilakroba-
und Regisseure mit dieser doppelten Bezogenheit ten (2010) einen rumänischen Jungdramatiker auf-
immer radikaler spielen, indem sie die Strukturen in treten lässt, der seiner amerikanischen Theateragen-
ihren szenischen Texten bzw. Aufführungen offenle- tin erfolglos eine universelle Liebesgeschichte anbie-
gen, damit die Schauspieler im Sinne Barthes’ zu ei- tet, die sich mit ihrer klischeeüberladenen Forderung
ner neuen »Arbeit an der Sprache« angeregt werden, nach einer künstlerischen Verarbeitung der postso-
die vom Publikum aktiv verfolgt werden kann. zialistischen Misere durchsetzt, treten in Oliver
Schrieben Theaterautoren wie Andreas Marber, Klucks Das Prinzip Meese (2010) Friedrike Mayrö-
John von Düffel, Fritz Kater (Armin Petras), Klaus cker, Peter Handke und Thomas Bernhard auf, mit
Chatten, Kerstin Specht, Oliver Bukowski, Herbert denen der Autor indirekt ins Gespräch kommt.
Achternbusch oder Rainald Goetz in der Wendezeit Ob sich die Autoren mit ihren »theaterbetriebli-
dramatisch gegen einen drohenden Geschichts- und chen Texten zu einem Modell neoliberaler Arbeits-
Identitätsverlust an und begriffen dabei Geschichte ordnung« machen und sich das Theater somit im-
speziell als Mediengeschichte, indem sie ihre Figu- mer mehr von der Literatur entfernt (Streeruwitz
ren weniger miteinander als individuell oder kollek- 2010) oder aber die performativen Kunstmarkt-
tiv mit medialen bzw. medial transportierten Dis- Analysen bzw. radikalen Selbstverortungen der Au-
kursen konfrontierten, welche die beschleunigten toren dazu beitragen, das Theater jenseits des Hypes
gesellschaftlichen Transformationsprozesse zeitnah um die Authentizität als literarische, d. h. eben auch
abbildeten (vgl. Wolfert 2004), verhandeln heute ge- als dramatische Kunstform (wieder) zu stärken,
rade junge (ost-)deutsche Dramatiker die aus der bleibt noch offen.
»Black Box DDR« gesendeten Echos weiter, indem
18. Rückkehr des dramatischen Erzählens? 327

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spräch mit Andreas Kriegenburg«. In: Das letzte Feuer. Stefan Tigges
Programmheft, Deutsches Theater Berlin. Berlin 2010.
329

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Dr. Michael Bachmann, Juniorprofessor für Thea- Dr. Beate Hochholdinger-Reiterer, Ass.-Professorin
terwissenschaft am Institut für Film-, Theater- am Institut für Theater-, Film- und Medienwis-
und empirische Kulturwissenschaft der Johannes senschaft der Universität Wien; derzeit Vertre-
Gutenberg-Universität Mainz (I.5: Dramatik-Ly- tungsprofessur am Institut für Theaterwissen-
rik-Epik: Das Drama im System der literarischen schaft der Universität Bern (III.9: Aufklärung)
Gattungen; III.16: Dokumentartheater/Dokumen- Dr. Martin Hose, Professor für Klassische Philolo-
tardrama) gie/Gräzistik an der Ludwig-Maximilians-Uni-
Dr. Christopher Balme, Professor für Theaterwis- versität München (III.2: Antike)
senschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität Dr. Stefan Hulfeld, Professor am Institut für Thea-
München (I.7: Interkulturelle Dramaturgie; ter-, Film- und Medienwissenschaft der Universi-
III.3.2: Sanskrit-Drama) tät Wien (III.6: Improvisationscomœdie – Drama
Dr. Hans-Peter Bayerdörfer, Professor em. für Thea- und Maskenspiel im 16.–18. Jahrhundert)
terwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Uni- Dr. Ulrich Kittstein, Professor für Neuere deutsche
versität München (III.13: Kurzformen des Dra- Literaturwissenschaft an der Universität Mann-
mas seit der Moderne) heim (III.15: Episches Theater)
Dr. Peter M. Boenisch, Direktor des European Thea- Dr. Nicolette Kretz, Performerin, Autorin und Dra-
tre Research Network (ETRN) an der University maturgin für freie Projekte und das Theaterfesti-
of Kent in Canterbury/GB (I.4: Drama-Drama- val Auawirleben; Mitarbeiterin am Institut für
turgie; II.2: Grundelemente (2): Formprinzipien Theaterwissenschaft der Universität Bern (II.1:
der dramaturgischen Komposition; II.6: Die »Ab- Grundelemente (1): Bausteine des Dramas)
solutheit des Dramas« (Szondi) als analytisches Dr. Nic Leonhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterin
Modell) am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-
Dr. Bettina Brandl-Risi, Juniorprofessorin für Per- Maximilians-Universität München (III.12: Der
formance und Gegenwartstheater an der Fried- Theaterboom des 19. Jahrhunderts und die Proli-
rich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg feration der Gattungen)
(II.5: Dramaturgien der Unterbrechung und der Dr. Peter W. Marx, Professor für Theater- und
Diversität: Tableaux, Intermezzi, Nachspiele) Medienwissenschaft an der Universität zu Köln
Dr. Miriam Drewes, wissenschaftliche Mitarbeiterin (I.1: Dramentheorie; I.3.2: Das Komische; I.3.3:
am Institut für Theaterwissenschaft der Lud- Das Wunderbare; II.3: Regieanweisung/Szenen-
wig-Maximilians-Universität München; im WS anweisung; II.7: Drama und Performativität; III.1:
2010/11 Vertretung einer Juniorprofessur am In- Drama und Theater – eine Wahlverwandtschaft?;
stitut für Theaterwissenschaft an der Universität III.14: Lesedrama)
Bayreuth (I.6: Theater jenseits des Dramas: Post- Dr. Jan Mohr, wissenschaftlicher Mitarbeiter am
dramatisches Theater; II.8: Dramenanalyse nach Department I – Germanistik, Komparatistik,
dem Ende der Gattungskonvention) Nordistik, Deutsch als Fremdsprache der Lud-
Dr. Norbert Otto Eke, Professor für Neuere Deut- wig-Maximilians-Universität München (III.4:
sche Literatur an der Universität Paderborn Mittelalter – geistliches Spiel (zus. mit Julia Sten-
(III.17: Der Verlust der Gattungsmerkmale: zel))
Drama nach 1945) Dr. Klaus Müller-Wille, Professor am Deutschen Se-
Dr. Wolf-Dieter Ernst, Professor für Theaterwissen- minar der Universität Zürich (III.11: Realismus/
schaft an der Universität Bayreuth (I.8: Interme- Naturalismus)
diale Dramaturgie) Dr. Dirk Niefanger, Professor für Neuere Deutsche
Dr. Michael Gissenwehrer, Professor für Theaterwis- Literaturwissenschaft an der Friedrich-Alexan-
senschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität der-Universität Erlangen Nürnberg (III.7: Ba-
München (III.3.3: Das chinesische Theater bis rock)
zum Ende der Yuan-Dynastie) Dr. Julia Pfahl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am
330 Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Institut für Film-, Theater- und empirische Kul- Film-, Theater- und empirische Kulturwissen-
turwissenschaft der Johannes Gutenberg-Univer- schaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
sität Mainz (III.8: Französische Klassik) (I.2: Begriffe des Aristoteles; III.4: Mittelalter –
Alexandra Portmann, wissenschaftliche Assistentin geistliches Spiel (zus. mit Jan Mohr))
am Institut für Theaterwissenschaft der Universi- Dr. Arne Stollberg, Oberassistent und Lehrbeauf-
tät Bern (I.3.1: Das Tragische) tragter am Institut für Musikwissenschaft der
Dr. Andreas Regelsberger, Juniorprofessor am Fach- Universität Bern; ab Sommer 2012 Förderungs-
bereich II: Japanologie der Universität Trier professur des Schweizerischen Nationalfonds am
(III.3.1.2: Puppentheater; III.3.1.3: Kabuki-Thea- Musikwissenschaftlichen Institut der Universität
ter) Basel (III.10: Bühne und Musik/Bühnenmusik)
Dr. Virginia Richter, Professorin für Englische Lite- Dr. Kurt Taroff, Lecturer in Drama; Undergraduate
raturwissenschaft an der Universität Bern (III.5: Convenor an der Queen’s University Belfast (II.4:
Frühe Neuzeit – das englische Drama) Erzählperspektiven im Drama)
Dr. Stanca Scholz-Cionca, Professorin am Fachbe- Dr. Stefan Tigges, wissenschaftlicher Mitarbeiter am
reich II: Japanologie der Universität Trier (III.3.1: Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Uni-
Nō-Drama) versität Bochum (III.18: Rückkehr des dramati-
Dr. Julia Stenzel, Juniorprofessorin am Institut für schen Erzählens?)
331

Auswahlbibliografie

Diese Auswahlbibliografie wiederholt nicht die Lite- Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas. Leipzig
raturhinweise in den Handbuchartikeln, sondern 1863.
nennt grundlegende Werke zur Dramentheorie und Heimböckel, Dieter: Kein neues Theater mit alter
-geschichte sowie Anthologien, die Zugang zu selten Theorie. Stationen der Dramentheorie von Aristo-
publizierten Dramen und dramaturgischen Texten teles bis Heiner Müller. Bielefeld 2010.
ermöglichen. Korthals, Holger: Zwischen Drama und Erzählung.
Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender
Literatur. Berlin 2003.
Theorie und Analyse
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Bulthaupt, Heinrich: Dramaturgie des Schauspiels. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische
Bd. 2: Shakespeare. Oldenburg/Schwerin 101911. Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dra-
Bulthaupt, Heinrich: Dramaturgie des Schauspiels. maturgische Analyse. Tübingen 1997.
Bd. 3: Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Gutzkow, Schechner, Richard: Performance Theory. London/
Laube. Oldenburg/Schwerin 91911. New York 2003.
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332 Auswahlbibliografie

Geschichte Anthologien

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Deutschsprachige Theatertexte im 20. Jahrhundert. London 2009, 319–359.
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333

Sachregister

Absolutheit des Dramas 4, 77, 116, 123, 126 f., 134, 136 f., 238 f., 249, 251, 253 f., 256–258, 262 f., 265–271, 273,
142, 151 f., 157–161, 281 275–278, 281 f., 284, 286–288, 290, 292, 293, 295, 296–
Absurdes Theater/Drama 48, 89, 112, 117–119, 290 f., 303, 306, 310 f., 313, 315, 317, 319, 321, 323, 325 f.
292, 303, 311, 316 f., 319 Bühnenbild 85, 97 f., 104, 123, 126, 131, 134, 149, 192, 232,
ad spectatores 77, 119 268, 300–302
Agency 7, 10, 164, 165 Bühnenfigur 110, 149
Aisthesis 23, 76, 169 Bühnenmusik 153, 265–271
Akt 44, 61, 127, 129, 131–133, 144, 147, 201 f., 203, 207,
220, 232, 248, 288 f., 291 f. Charakter 2, 8, 13 f., 16, 18–21, 27, 38, 50, 66, 81, 95, 105–
Alexandriner 126, 239, 252 109, 110, 115, 120, 122 f., 136 f., 140 f., 147–150, 159,
Allegorie 34 f., 57, 59, 61, 107, 127, 134, 137, 183, 209, 217, 182, 188, 192 f., 202, 222, 224, 246, 248–250, 253 f., 257,
232 f., 238, 240, 242, 269, 314 259 f., 262 f., 267, 275 f., 279, 281, 295, 300
Als-ob 29, 51, 112, 175, 221 Charakter, mittlerer 19, 147–149, 252, 257, 260, 262
Anagnorisis/Wiedererkennung 18 f., 32, 111, 134, 137 f., Charakterkomödie 224, 249
229 Chinesisches Theater 85, 87, 92, 203–208, 296, 301
Analytisches Drama 118, 133 f., 137 f., 281 Chor 8, 106, 119 f., 147, 155 f., 158, 175–184, 187, 193,
Antagonist 108, 139, 140 f., 235, 238 210, 235, 242, 263, 266, 269–271, 296–298, 302, 315, 324
Antike 1, 3, 5 f., 8 f., 12–31, 33 f., 37, 52, 54–57, 59 f., 62– City Comedy 220, 222
65, 68, 85 f., 90–93, 98, 106, 119, 125, 129, 134, 137 f., comédie larmoyante siehe Rührstück
142, 145, 147, 155, 159, 171, 173–190, 228, 231, 235, Commedia dell’arte 106 f., 212, 214, 215, 219, 224, 229–
245–248, 252, 256 f., 260–263, 266, 293, 296, 315, 317 f. 231, 233, 240, 249 f., 253 f., 316
Arie 153, 193, 270 Comœdie 224–229
Atellane 173 Coup de théâtre 154, 157, 256
Atmosphäre 153, 155, 169
Aufbaudrama 313 Dadaismus 73
Aufführung 7 f., 10 f., 12, 20 f., 23, 26, 41, 43–52, 54, 70, decorum 56, 200, 219, 233
72–76, 78 f., 81, 85–88, 90–93, 95 f., 97–100, 102 f., Dekonstruktion 48, 81, 83, 321
105–109, 111, 113–116, 121, 122 f., 125, 128–131, 133 f., Dénouement 134, 201
136, 143, 145, 149, 151–153, 155 f., 162–166, 170, 172 f., deus ex machina 41, 134 f.
173 f., 176–180, 184–186, 188 f., 191 f., 194–197, 199– Dialog/dialogisch 4 f., 8, 13, 45–47, 50, 55, 69, 70, 75, 77,
201, 206, 209–212, 214, 215 f., 218–220, 225, 227, 232, 81 f., 87, 92, 102 f., 105–107, 109, 114–121, 122 f., 125 f.,
234–242, 250, 252, 256, 266–271, 272, 276–278, 280, 132–134, 139 f., 145, 150, 151, 153 f., 158–161, 162, 165,
283–285, 286, 289, 297 f., 302 f., 306–308, 311, 323 f., 180, 193, 199–201, 206 f., 210, 228, 256, 258, 260, 268,
326 f. 270, 279, 281, 289–291, 293–295, 296 f., 319, 324–327
Aufklärung 11, 23, 40, 44, 45, 51, 57, 72, 210, 233, 242, Diegesis/diegetisch 54, 87, 169 f.
251–265, 270, 299, 316 Dionysien 106, 156, 174–178, 182
Auftritt 95, 108, 119, 126, 131 f., 134 f., 144, 156, 183, 197, Dithyrambos 8, 54, 175, 177 f., 190
202, 207, 230, 233, 238, 282, 324 Doctrine classique 6, 28, 56, 70, 111, 172, 231, 244–250, 266
Avantgarde 35 f., 42, 48, 73, 76, 79, 82–85, 86, 95, 107, 110, Dokumentartheater/dokumentarisch 102, 115, 291 f.,
123, 145 f., 156, 166 f., 286 f. 305–310, 310, 315, 321–323, 323
Dramatische Ironie 116
Ballett 57, 67, 97 f., 152 f., 155 f., 241 f., 249, 284, 286 Dramatisierung 208, 284
Barock 11, 28, 34–36, 41, 51, 95, 137 f., 145, 155, 197, 215, Dramaturgie 6, 26, 30, 31, 33, 36, 42, 43–52, 52, 72, 75, 78,
230–243, 244, 246, 249, 267 85–93, 94–103, 111, 121, 122–127, 129, 132, 135–137,
beat 131–133 139, 141 f., 148, 151–157, 160 f., 167 f., 170, 199, 218,
Beiseite-Sprechen 119 225, 229, 234 f., 248, 255–257, 259, 264, 267, 270 f., 275,
Blankvers 262, 314 284 f., 289 f., 292, 295, 304, 307, 309, 314 f., 317, 319–
Botenbericht 114, 118, 127, 129, 179, 185, 218 321, 324, 327
Bühne 2–7, 21, 26, 33–36, 41, 44, 46 f., 63, 68–70, 72, 75, Drehbuch 168, 170, 324
79 f., 82–84, 85 f., 89, 91, 95, 97 f., 102–104, 105–108,
110, 112–119, 123, 125–128, 130–132, 134, 139, 144– Ehetragödie 220, 223
146, 147–149, 152–154, 158–160, 162 f., 165, 166, 169, Einakter 156, 197, 278, 282 f., 286–292
172, 173, 178 f., 181, 183–187, 191–194, 197, 200, 202, Einheiten, drei 24 f., 56 f., 111, 246 f., 252, 275
203–205, 207 f., 210 f., 215–218, 221–223, 225, 230–236, éleos 12 f., 18 f., 21–23, 25, 31 f., 44, 257
334 Sachregister

Entliterarisierung 74, 145 Gestik 72, 109, 126, 166, 192, 194, 225, 229, 239, 249
Entr’acte 97, 154 f., 266–268 Gestus 8, 37, 45, 80, 109 f., 113, 120 f., 221, 226, 241, 253,
Epik/episch 3 f., 6 f., 9, 11, 13, 25, 45 f., 48, 52–72, 75, 87, 300–302
89, 92, 96, 110, 112, 116 f., 119, 123, 135 f., 142, 145, Guckkastenbühne 89, 149, 158, 277 f.
149 f., 152, 157, 160, 162, 166, 212, 215, 270, 274, 281,
291 f., 296–303, 304, 307, 323–325, 327 hamartía 19, 32, 181
Epilog 116, 135, 156, 158, 302 Handlung 1–3, 5, 10, 13–31, 31, 39, 41, 43–51, 58, 61, 63–
Episches Theater 45, 48, 75, 87, 112, 123, 142, 149 f., 160, 67, 70, 73, 74 f., 78, 80–84, 95–98, 101–104, 105–121,
270, 291, 296–303, 307, 324 122–144, 145 f., 147–151, 151–155, 158–160, 163–166,
Episierend/Episierung 5, 67, 69 f., 77, 112, 159 f., 281, 296, 168–170, 173, 176, 182–184, 187 f., 191–193, 200–203,
323 f. 205–207, 211 f., 217, 219 f., 222, 226–229, 231, 235 f.,
erhaben 26, 33, 36, 40, 42, 174, 181, 218, 248, 261 f., 315 239–243, 246–249, 252, 256 f., 264, 266 f., 269, 272 f.,
Erzähler 4, 70, 82, 106, 114, 134, 147, 160, 203 f., 206, 302, 275–283, 284, 286 f., 289 f., 293, 296, 298, 300, 302, 305,
315 307, 313, 319, 321 f., 324 f.
Erzählung 6, 9, 18, 54, 55, 193, 197, 208, 213, 226, 228 f., Hanswurst 38, 156, 237, 252, 267
238, 323–327 Haupt- und Staatsaktion 41, 188, 252
Exposition 2, 61, 66 f., 127, 133 f., 139, 158, 180, 256 Haupttext 125, 144–146
Expressionismus 127, 283, 288 f., 296 Historie 3, 196, 198, 215 f., 223, 232
Hörspiel 102, 291, 309, 316
Fabel/plot 18, 32, 46–48, 54, 58 f., 75, 80, 110–114, 122 f., Humanismus 12, 23 f., 32, 217–220, 224 f., 231, 236, 240,
127, 129, 131, 133, 135–137, 140, 142, 179, 224, 226– 245 f., 249, 266, 312
229, 252, 257, 314, 319 f., 324
Fernsehen 43, 48, 72, 83, 99 f., 106, 132, 160, 168 Idealismus 50, 53, 274
Figur 2, 7, 16, 18–20, 23, 38 f., 45–48, 50, 51, 54, 63, 72, 77, Illusion 7, 46, 48, 51, 60, 81, 101, 116, 126, 128, 132, 136,
80 f., 83, 86 f., 97, 99, 102 f., 105–121, 122–127, 130–132, 153, 158, 182, 203, 210, 238, 254, 256 f., 266 f., 270, 277,
134–143, 144–146, 147–151, 151 f., 154, 158–160, 165, 296, 298, 301–303, 305, 309, 311, 316, 319 f., 323
166, 168, 170, 180 f., 183 f., 187, 189, 191, 193, 198–202, Improvisation 67, 116, 175, 205, 212, 224–229, 236 f.,
204–208, 210 f., 213, 217 f., 221–223, 225 f., 228, 231, 323, 325
233, 235 f., 240, 248–250, 252 f., 255 f., 258–260, 267, Individuum 22, 26, 28, 50, 66, 81, 87, 120, 137, 142, 159,
272 f., 275, 277, 280–282, 293–295, 296–298, 300, 302, 169, 218, 226, 248, 298, 313, 315, 322
305, 313, 315 f., 319–321, 324–326 Industriestück 314
Figuration 29, 47, 51, 81, 112, 121, 168, 226, 314 f. Inszenierung (ópsis) 5, 18, 20 f., 54, 95
Figurenkonstellation 51, 108, 204 f., 225, 235 Inszenierung/mise en scène 8, 43, 45–47, 49, 51, 72, 75–
Figurenrede 45, 77, 82, 123, 125–127, 140–142, 144, 166, 80, 81, 85, 90, 95–101, 103, 108 f., 111–113, 115 f., 118–
168, 202, 321, 326 121, 124–126, 128, 130–132, 144–146, 154, 162, 164 f.,
Fiktionalität/fiktional/fiktiv 7, 28, 48, 50 f., 53, 69, 75, 77, 166, 180, 183, 209, 213 f., 235, 237, 239 f., 244, 260, 262,
78, 80–82, 102, 110, 112 f., 115–117, 119, 122–129, 131, 264, 265–267, 270, 277–280, 282, 283 f., 291, 295, 296 f.,
133–141, 143, 145, 147, 149, 152 f., 158, 166, 168, 175, 301–303, 306 f., 309, 310–314, 318, 321, 323
195, 201, 211, 213 f., 215, 221 f., 235, 275, 302, 305, 315, Interkulturalität/interkulturell 76, 85–93, 98, 230 f.
321 f., 323 f. Intermedialität/intermedial 70, 83 f., 95–103
Film 25, 39, 43, 46, 48, 52, 70, 72, 75, 83 f., 95, 97–103, Intermedium/Intermedien 47, 155, 156, 225, 266
106, 111, 122, 129, 150, 160, 168 f., 196, 216, 268, 297, Intertextualität 51, 77, 83, 94, 162, 163
305, 309, 324 Isotopie 124, 127, 131, 141
Finalität 135–143, 151, 153, 290, 305
Fotografie 72, 273–275, 278 f., 282, 283, 289, 305, 309 Japanisches Theater 10, 85–89, 191–198, 289
Französische Klassik 6, 24–26, 32, 52, 57, 60, 111, 126, Jesuitentheater 154, 236–239, 241
132–134, 140, 142, 172, 215, 244–250
Frühe Neuzeit 4, 12–15, 19, 21, 23–25, 27–29, 38, 50, 53 f., Kabarett 90, 97, 288, 292
56, 59, 69, 73, 85, 96, 120, 136 f., 155, 164, 171, 194, 212, Kabuki 10, 194–198
215–223, 224 f., 229, 230, 232, 235, 266, 296, 298 Kanon 9, 12, 24, 44, 48, 60, 75, 90, 159, 164, 167, 184, 187,
Futurismus 73, 288 196 f., 204, 244, 249, 251, 258
Katharsis/kátharsis 12 f., 15, 22–29, 31–35, 43 f., 55, 147,
Gegenwärtigkeit 4, 49, 63, 66, 70, 76, 130, 159, 281 238, 248, 257, 319
Geistliches Spiel 107, 145, 209–214, 316 Kausalität 151, 170
Gender 81, 91, 150, 168, 243, 279 Kino 70, 97, 99, 129, 288
Gesamtkunstwerk 95, 97 f., 238, 263, 266, 300 Klassik 69, 99, 106, 119, 135, 138, 171, 260–263, 269, 279
Geschichte/story 47, 49, 83, 91, 93, 110–114, 122 f., 134 f., Komisch 3, 20, 36–39, 148, 153, 155, 158, 175 f., 182, 189,
138, 169 f., 179, 181, 183, 185, 193 f., 199, 201, 203–207, 191, 200, 205–207, 213, 217 f., 220, 222, 236, 240 f., 243,
210, 213, 216, 222, 317, 319, 322–326 244, 249, 253, 259 f., 286, 302, 313, 320
Geschichtsdrama 243, 259, 307, 317, 320 Komödie 2 f., 8, 12, 20, 36, 37–39, 41 f., 54–57, 88, 95 f.,
Geschlossenes Drama 60, 70, 85, 131, 135, 138–143, 151, 107 f., 122, 134 f., 138, 148, 155 f., 167, 172, 173–179,
157, 160, 166, 169 f., 281, 290, 296, 300, 303, 315 182–190, 213, 215–218, 220–223, 224–229, 231, 240–
Sachregister 335

242, 244 f., 247, 249 f., 252–255, 257–260, 262 f., 266, Montage 35, 46, 100, 102, 141, 160, 300, 305, 308
274, 277, 279, 286 f., 296, 300, 311–313, 317 f., 323, s.a. Moralitätenspiel/morality play 134
Comœdie Musik 6, 8, 11, 19–21, 27, 29, 35 f., 48, 50, 52, 54, 65–68,
Konfiguration 51, 81, 104, 108, 154 f. 72, 74, 88–90, 94, 97–99, 105, 112, 123, 126, 131 f., 134,
Konflikt 2–4, 6, 9 f., 28, 33, 48, 50, 58, 69, 76, 93, 96, 107 f., 141, 147, 150 f., 152 f., 155–157, 179, 186, 191–197, 199,
111, 115, 117, 119, 133–135, 142, 150, 158, 166–168, 203–206, 208, 226, 234, 236, 238, 241 f., 249, 263 f., 265–
172, 179, 181, 183, 187, 196, 203 f., 220, 223, 229, 248, 270, 276, 285 f., 288 f., 298, 300 f., 315
255, 258, 260, 262, 279–281, 298 f., 301–303, 312–315, Musiktheater 239–242, 265–271, 287, 289
318, 324 Mysterienspiel/mystery play 147, 150, 217, 219
Königsdrama 216, 223 Mythos/mýthos 13, 16–18, 20 f., 23, 27, 35 f., 58, 95, 111,
Konversationsstück 311, 321 122 f., 140, 179, 182 f., 186 f., 315, 315–318, 319
Konzentration 4, 13, 7, 129–131, 133, 136, 141, 169, 236,
278, 287 Nachspiel 116, 121, 151–157, 323,
Körper/Verkörperung 6 f., 14, 21, 27, 38 f., 45 f., 48 f., 51, Narration 9, 20, 25, 47, 50 f., 55, 70, 73 f., 82 f., 112 f., 117,
74, 75, 79–81, 82, 91, 95–100, 103, 105, 109–111, 120 f., 123, 130, 135, 147, 149 f., 153, 157, 166 f., 169 f., 193 f.,
122 f., 141, 153, 162, 168, 182 f., 192, 194, 200 f., 205, 213, 207, 229, 315, 319, 324
219, 221 f., 225 f., 233, 236–238, 248, 252, 260, 263, 275, Naturalismus 46, 107, 121, 126 f., 145, 149, 157, 159, 208,
280, 290, 309, 319 f., 324 f. 269, 272–283, 287 f., 296, 300
Kostüm 72, 85, 99, 109, 123 f., 126, 134, 145, 165, 177, 180, Nebentext 109, 115, 120, 125–127, 146, 162, 235, 307
182 f., 196 f., 199, 204, 210, 223 Nō-Theater 85–87, 89, 93, 191–198, 289
Kulisse 89, 132, 227, 230, 238 f., 264, 272, 277
Kyōgen 191, 194, 197 f. Offenes Drama 140 f., 153, 157
Oper 41, 57, 59, 67, 72 f., 74, 87, 90, 97 f., 104, 134, 152 f.,
Lazzo/Lazzi 212, 227–230 155 f., 208, 230 f., 235, 241 f., 251 f., 263 f., 265–270, 279,
Lehrstück 117, 240, 288, 297–299, 302, 304, 311 f., 323 f. 284, 286 f., 289, 297, 299 f., 303
Lesedrama 53, 66, 145, 218, 235, 293–295 Operette 39, 57, 88, 241
Licht 72, 99, 112, 123 f., 131, 165 ópsis siehe Inszenierung
Liebeskomödie 222 Ordensdrama/Ordensdramen 231, 233, 235, 237, 239
Liturgie 96, 209–213, 217
Liveness/live 10, 48, 83, 99–102, 104, 114, 128, 161, 325 Pantomime 6, 9, 127, 137, 152–155, 173, 186, 199, 249,
Lyrik/lyrisch 2 f., 9, 25, 52–72, 92, 96, 110, 135, 159–161, 256, 284
166, 170, 182, 191, 193, 197, 200, 206, 215, 227, 244, Parabel 302 f., 311–313, 317
271, 287 Paratext 141, 144, 195, 216, 232, 234 f., 239 f., 243, 307
Parsi-Theater 90
Maske 34, 37 f., 72, 86, 95, 97, 106, 109, 123, 175, 182, 192, Pastorale 55, 155, 222, 228, 241, 266
204 f., 223, 224–229, 242, 249 f., 301, 325 Pause 97, 128 f., 146, 152, 155, 183, 265–268
Masque/Maskenspiel 155, 223, 224–229, 266 Performance 9–11, 25, 27, 30, 47–52, 72, 76 f., 79 f., 103,
Medialisierung 73, 81 f., 167 123, 142 f., 150, 161, 163–165, 166, 168, 170, 198, 203,
Medium/Medien 1, 6, 10, 13 f., 17, 19–21, 43, 45 f., 47 f., 208, 214, 219, 223, 229 f., 292, 305, 307, 309, 320 f., 323,
50 f., 52 f., 59, 72–75, 83 f., 85, 88, 93, 94 f., 98–104, 115, 325
122, 126, 128, 159 f., 161, 167, 174, 183, 192 f., 208, 211 f., Performance Studies 10, 76 f., 163 f.
214, 219 f., 238, 241, 243, 248, 251, 258, 266, 273, 275 f., Performativität/performativity 1, 5–7, 10 f., 21, 39, 41, 46,
283 f., 288, 291, 308 f., 310, 321 f., 323, 326 f. 48, 49, 51, 76–79, 80, 82, 88, 103, 113, 126, 131, 162–
Melodrama 10, 41 f., 148 f., 153–156, 172, 268 f., 271, 279 165, 166, 168 f., 170, 171, 195, 213, 214, 272, 293, 294,
Metadrama 112, 237 321, 323, 326
Metonymie 89, 93, 194, 272, 281 Perioche 195, 235, 238, 243
Mimesis/mimetisch/mímēsis 8–10, 12–22, 25, 27–29, 50– Peripetie/Wendepunkt 2 f., 18 f., 111, 114, 134, 238, 247,
52, 52, 55, 65 f., 69 f., 73, 75, 87 f., 91, 102, 122, 131, 149, 256
166, 168 f., 191 f., 199, 202, 210 f., 213, 220–223, 229, Person 4, 9, 33, 47, 58, 77, 79, 92, 105 f., 109 f., 114 f., 139,
233, 240, 246, 252 f., 257, 272, 276, 293 f., 320, 324, 326 f. 164, 177, 182, 189, 192 f., 201, 205, 225, 234–236, 238–
Mimus 173 241, 252, 256, 259, 267 f., 287–289, 302, 313–315, 320 f.,
Mischform 54, 56, 61, 63, 112, 195, 228, 252 324
Mischgattung 54, 254, 266 Personal 37, 86, 130, 132, 135, 138–140, 144, 147, 179,
Mittelalter 77, 85, 86, 93, 107, 111, 137, 145, 147, 189, 191, 184, 217, 220, 234, 236 f., 241, 255
193–195, 209–214, 215, 217, 225, 296 Personifikation 81, 107, 134
Moderne 33, 35 f., 48, 60, 63–65, 67, 69, 73 f., 77, 87, 92, phóbos 12 f., 18 f., 21–26, 31 f., 44, 257
123, 125 f., 129, 131, 135–138, 140–142, 157–161, 167, plot siehe Fabel
169, 191 f., 194, 213, 215, 260, 274, 276, 278–282, 286– Plurimedialität 5, 7, 77, 94, 100, 102, 122, 124, 127, 165,
292, 294, 297–299, 301, 319, 324 166
Monolog 82, 102 f., 109, 112, 114, 116, 118 f., 123, 134, Poetik 1–10, 12–29, 27 f., 34, 44, 52–72, 95 f., 151, 153,
146, 150, 154, 158–160, 193, 210, 232, 239, 253, 270, 156, 167, 172, 191, 195, 217, 220, 231, 233 f., 239, 241,
281, 290, 292 f., 302, 307, 321, 324 f. 244–248, 249, 252 f., 258 f., 261, 267, 275
336 Sachregister

point of attack 127, 133 Rolle 8, 43, 48, 50, 52, 54, 96, 99, 105–107, 110, 116, 119,
Posse 39, 41 f., 155 f., 237, 279, 284 122, 134, 141, 149, 158, 175, 177, 180, 184, 188, 192, 196,
Postdramatisch 7, 11, 47–50, 52, 53, 69 f., 72–83, 89, 104, 198, 201, 205–208, 210, 221, 231 f., 234, 240 f., 249, 256,
107, 112 f., 121, 123, 125, 127, 131, 142 f., 146, 150, 159– 290, 319, 325
161, 163–166, 168–170, 321 f., 323, 327 Roman 53, 61, 64 f., 67 f., 70–72, 77, 82, 101, 116, 122,
Postmoderne 40, 73, 150, 162, 167, 170, 321 f., 324 128–130, 147, 150, 158, 169 f., 208, 254, 275, 279, 282,
Poststrukturalismus 50, 73, 76 f., 81, 150, 166, 168 284, 324, 326
práxis 13, 15 f. Rührstück/sentimental comedy/comédie larmoyante 148,
Produktionsstück 314 154, 252, 254, 258
Projektion 94, 97, 163, 284, 297, 302, 320 Rundfunk 83, 288
Prolog 33, 116, 128, 134, 156, 158, 180, 183, 186, 188,
206 f., 212, 235, 241, 302 Sanskrit-Drama 85, 198–203
Propulsion 133 Satire/satirisch 55 f., 134, 213, 222, 253, 254, 259, 294,
Protagonist 20, 33, 44, 46, 97, 108, 131, 139 f., 147–150, 302
191, 193, 196, 201, 203, 239 f., 248, 255 f., 277, 281 f. Satyrspiel 55, 156 f., 173–176, 178, 190
Protestantisches Schultheater 231, 233, 235 f., 237, 240 Schäferspiel 156, 231, 241
Publikum 2, 12, 37, 40, 43–46, 49, 51, 55 f., 64, 73, 79, 85, Schuldrama 231, 233, 237 f., 268
91, 97, 99, 110, 112, 116–119, 123 f., 126, 128–136, 138, Script 10, 163 f., 229
140–142, 147–150, 152–154, 158, 160 f., 165, 172, 179– Selbstreferenz 83, 213
181, 183 f., 186, 188, 191 f., 194–198, 201, 207 f., 211– Selbstreflexivität 31, 34 f., 51, 101 f., 128, 167, 273, 321
213, 216–220, 228 f., 230, 232, 234, 236, 238, 245–249, Semiotik 1, 4, 7 f., 11, 49, 51, 70, 78, 102, 104, 123 f., 131,
252, 254, 256–258, 261–263, 265–267, 277 f., 283, 285, 143, 162, 165, 166, 170, 194, 232 f., 242, 272
286, 291, 294, 298–303, 312, 319, 323 f., 326 sentimental comedy siehe Rührstück
Puppentheater 194–198, 204 Siglo de Oro 171, 215, 266
Singspiel 88, 97, 155, 237, 241, 268, 284
Rachetragödie 222 f. Situation 7, 14, 21, 33, 43 f., 47–51, 74, 79 f., 83, 87, 91, 95,
Radio 99, 102, 288, 291, 298, 310 102, 107, 109, 112–118, 121, 129, 132, 137, 140 f., 145,
Rahmenhandlung 192 f., 228 f., 256 150, 151–155, 161, 164, 166, 168, 170, 180, 204, 206, 209,
Raum 7 f., 48–51, 52 f., 72, 74, 78 f., 80–83, 90, 95, 97, 101, 211, 223, 226 f., 232, 234, 248, 256, 259 f., 267, 275–277,
103, 111 f., 114, 122–134, 137–139, 141 f., 146, 147, 152, 279 f., 282, 286 f., 290, 298, 306, 308, 312–314, 324
168, 182, 209, 211, 221 f., 238, 241 f., 273, 277, 280, 289, Song 300, 302
296, 302, 305, 308, 314 f., 320, 323–326 Spektakel 36, 44, 46, 125, 203 f., 218, 225, 284
Rappresentazione sacra 266 Spiel 6, 14, 27, 29, 34 f., 39, 49, 50, 58, 75, 105, 107, 110,
Realismus 27 f., 32, 40, 75 f., 87, 89 f., 106 f., 149, 169, 272– 114, 122 f., 125 f., 128, 145, 147 f., 157, 175 f., 179, 181 f.,
283, 285, 299, 303, 313 f., 318–320 186, 189, 193, 195 f., 203–208, 209–214, 215, 217–221,
Rede 4, 6, 45, 54–56, 58, 65–68, 70, 77 f., 82, 92, 100, 114, 224–229, 231–233, 237, 241 f., 256, 263 f., 277, 288–290,
117–120, 123–127, 139–142, 144, 158 f., 161, 163, 166, 292 f., 298, 300, 302, 305, 311, 315 f., 319 f.
168, 176, 183, 185, 202, 227, 232–235, 240, 248, 251, Spiel-im-Spiel 77, 200, 316
266, 270, 277, 300, 314, 321 f., 326 Sprechen 18, 77, 95, 97 f., 102 f., 115, 119, 140, 158, 168,
Regie-/Szenen-/Bühnenanweisung 109, 115, 125 f., 144– 189, 225, 270, 323–325
146, 163, 202, 256, 273 Ständeklausel 19 f., 25, 33, 37, 44, 56, 148, 172, 195, 239 f.,
Regietheater 45 f., 78, 83, 99 245, 252, 254
Regisseur 8, 10, 43, 45–47, 49, 74, 78 f., 90, 95, 97, 106 f., Stationendrama 140, 282, 296, 319
116, 120, 123, 128, 132, 146, 164, 177, 183 f., 190, 268, Stichomythie/stichomythisch 139, 239
278, 296 f., 302, 305, 318, 321, 323–327 Stimme 49, 74, 77, 94, 97–100, 104, 150, 168, 181, 194,
Renaissance 12, 24, 28, 37, 40 f., 44, 52, 55, 95, 131, 137 f., 294, 315, 320
148, 155, 157, 225, 228, 231, 244–246, 293, s.a. Frühe Straßenszene 299, 301, 304
Neuzeit Sturm und Drang 59, 143, 154, 258–260, 263 f., 296
Repräsentation 27–30, 44, 46, 48–51, 63, 76 f., 80, 82, 97, Sukzession 78, 108, 128–139, 152, 154, 159, 238, 251
113, 122 f., 125, 127 f., 132 f., 162, 166, 169, 210, 218, 221, Surrealismus 42, 73
222, 233, 239, 242, 272, 273, 275, 282, 319 Symbolismus 86, 151, 287 f., 289
Retheatralisierung 74, 145, 278 Szenar/Szenarien 107, 145, 193, 203 f., 224, 227 f., 234 f.,
Revue 97, 152, 211, 213, 286 f., 305 238, 240, 287 f., 291, 318
Reyen 137, 155, 233, 235, 239 f. Szene 5 f., 10, 35, 46, 82, 96, 114, 124–126, 131, 170, 172,
Rhetorik 7 f., 13, 15 f., 22–24, 26, 28, 34, 55 f., 65, 68, 105, 173, 179, 180, 183, 185, 188, 189, 197, 200, 201, 202,
126, 139, 141, 170, 182, 187, 189, 190, 195, 219, 226 f., 205–208, 210–213, 217, 218, 220–222, 224, 226–229,
232, 237–240, 242, 272, 276, 293 f., 310 232, 235, 236, 238, 240, 241, 242, 248, 249, 269–271,
Rhythmus 14, 48, 51, 82, 98 f., 105, 123, 126, 132, 142, 146, 273, 279, 284, 286, 287–304, 315, 316, 318, 320
191, 194, 227 f., 263, 269–271, 307 Szenografie 43, 284
Ritual/rituell/Ritus/Riten 9–11, 22, 28 f., 36, 75, 90, 93 f.,
96, 147, 164, 175, 189, 192 f., 198, 199, 201–203, 203 f., Tableau/Tableau vivant 6, 96 f., 145, 151–157, 211, 256,
209, 212, 214, 229, 237 270, 279, 286
Sachregister 337

Tanz 9, 19–21, 57, 59, 62, 67, 72, 81, 88–90, 93, 97–99, 103, Vaudeville 279, 286
105, 135, 147, 152, 155, 176–179, 189, 191–193, 196– Varieté 75, 97, 152, 155, 283, 286 f., 296
198, 199, 204 f., 223, 227, 236, 242, 249, 263, 266, 269, Verfremdung 46, 75, 149, 296 f., 301–303, 323
271, 280, 319 f., 325 Vice-Figur 134
Teichoskopie/Mauerschau 114 Vierte Wand 277
Texttheatralität 78, 127, 131, 163 Volksstück/Volkstheater 318 f.
Textfläche 107, 120 f., 131, 325 Volkstheater 41, 217–219, 252
Textraum 144 f. Vorhang 131, 135, 152, 158, 186, 201, 225, 238 f., 256, 265,
Theaterhaus/Theaterbau 48, 55, 179, 181, 195, 219, 230, 267
283 f. Vorspiel 85, 155 f., 201, 287
Theatermaschine/Theatermaschinerie/Bühnen-
maschinerie 41 f., 211, 230 Wahrscheinlichkeit/vraisemblance 17 f., 28, 40, 56 f., 77,
Theatralität/theatral 1, 29, 31, 34 f., 39, 42, 43–51, 52, 55, 145, 154, 233, 246 f., 249, 252 f., 257, 277, 286
58, 70, 72–78, 80, 82 f., 85 f., 88, 92 f., 95, 96, 102, 109, Wanderbühne 231, 235–237, 239 f., 264
112–117, 121, 122–133, 136, 138, 140 f., 143 f., 145 f., Wandlungsdrama 288, 313
148, 151, 153–155, 160 f., 162–165, 166, 168 f., 171 f., well-made play/pièce bien faite 138, 159 f., 321
173, 192, 199, 201 f., 203–205, 208, 209 f., 213 f., 218, Welttheater 231–234, 242
220–222, 230–233, 242 f., 244, 251 f., 254, 256, 266, Werktreue 78, 83, 99, 106, 162
272 f., 277 f., 283–285, 287, 291 f., 293–295, 305 f., 310, Wortfläche/Textfläche 107, 120 f., 131, 325
320 f., 323 Wortkulisse 126, 200, 202
Theatrum mundi 231–233, 240, 242 Worttheater 221
Tragikomödie 56 f., 186, 222, 245, 247, 252, 259 f. Wunderbare, das 39–42, 200, 268 f., 271
Tragik/Tragisch 1, 3, 8, 13, 15, 18–20, 22 f., 25–27, 29, 31–
36, 39, 63, 114, 137, 147, 158 f., 175–178, 185, 191, 196, Zeit 4, 8, 10, 24, 44, 46, 48 f., 51, 52 f., 61, 67, 77–79, 80–82,
200, 207, 217, 220, 222 f., 226, 248–250, 254, 257, 259, 108, 110 f., 114, 121, 124–144, 146, 147, 151–156, 158 f.,
261 f., 264, 267, 287, 300, 313 166, 168, 170, 182, 193, 200–202, 203, 209, 213, 217,
Tragödie 2–5, 8, 11, 13, 15–31, 31–36, 39, 41, 44, 54 f., 232, 235, 239, 246 f., 252, 268, 286 f., 292, 296, 320, 324
56–59, 63 f., 68, 72, 86, 93 f., 95, 106, 108, 111, 120, 122, Zirkus 75, 316
127, 132–134, 138, 147 f., 151, 153, 155 f., 159, 171 f., Zufall 80, 181, 184, 220, 232, 247, 256, 275, 280, 307
173–190, 215–218, 220–223, 228, 235, 237, 239, 242 f., Zuschauer 5–8, 20, 22 f., 26, 32–35, 38, 48–52, 54, 58, 68,
244–250, 251–257, 259, 261–263, 266 f., 269, 271, 274, 73 f., 78 f., 82, 95, 102–104, 106–110, 112–114, 116 f.,
276, 279, 281, 286, 294, 296, 317, 319 119, 122–124, 128, 130 f., 135–137, 139 f., 145, 147–150,
Trauerspiel 6, 25 f., 32–36, 53, 61, 156 f., 158 f., 196, 198, 152 f., 158, 162, 169, 172, 178, 181–183, 186, 188, 192,
230, 232, 234, 237, 239–243, 254–265, 267, 271, 277, 194, 198, 199 f., 204, 218 f., 221, 230, 232, 235, 238, 240,
279, 281 251, 261, 263, 265–267, 269, 275, 277 f., 280 f., 286, 298–
Traumspiel 192 f. 303, 315 f., 320, 326
Typenkomödie 38, 213, 253, 300 Zuschauerraum 147–150, 153, 158, 178, 182, 186, 277 f.,
320
Unterhaltungstheater 90, 251, 258, 279, 287 f., 311 Zwischenaktmusik 266–268
338

Namen- und Titelregister

Abbey Theatre 92, 289 Bab, Julius 46


Abramović, Marina 80 Bachtin, Michail 38, 78, 127, 150
Accius (Lucius A.) 188, 189 Bai Pu 207
Acconci, Vito 80 Baierl, Helmut 311, 313, 314
Achternbusch, Herbert 326 Baillie, Joanna 294
Adamov, Arthur 291 Balde, Jacob 238
Adorno, Theodor W. 69, 169, 308 Ball, Hugo 74
Aischylos 21, 106, 174, 176, 179, 180, 181, Balme, Christopher 84, 87, 91, 101, 104, 278
183 Barba, Eugenio 49, 50, 123, 124
Albee, Edward Franklin 142 Barck, Karlheinz 39, 40, 41, 42
Albers, Irene 275 Bärfuss, Lukas 321
Albrecht, S. 258 Barner, Wilfried 311, 312
Alewyn, Richard 242 Barta, Lajos 288
Alexander, Robert J. 231 Barthes, Roland 50, 78, 272, 324, 326
Al-Farabi 12 Barton, Brian 305, 306
Al-Hakim, Tawfiq 93 Baßler, Moritz 1
Allegri, Luigi 225 Batteux, Charles 28, 65
Alonge, Roberto 225 Bauer, Roger 237
Alt, Peter-André 261, 263 Baumbach, Gerda 224
Altmann, Robert 324 Baumgarten, Alexander Gottlieb 40, 75
Amalar von Metz 213 Bausch, Pina 320
And, Metin 89 Bayerdörfer, Hans-Peter 76, 152, 156, 287, 288, 291,
Anderson, Laurie 95 321
Andreini, Giovan Battista 228 Beadle, Richard 148
Andreotti, Mario 123, 124 Beaumont, Francis 222
Anicet-Bourgeois, Auguste 155 Becker, Tobias 307
Anouilh, Jean 310 Beckerman, Bernard 124, 142
Antoine, André 286 Beckett, Samuel 47, 69, 76, 82, 117, 118, 125, 135, 137,
Anz, Thomas 112 142, 159, 290, 294, 310
Apollonio, Mario 229 – Warten auf Godot 117
Appia, Adolphe 97, 278 Beethoven, Ludwig van 265, 266, 268
Ariosto, Ludovico 225, 228 Behrndt, Synne 48
Aristophanes 20, 174, 178, 182, 183, 184 Bellays, Joachim du 245
Aristoteles 4, 5, 6, 8, 12–29, 31, 32, 33, 34, 37, 41, 43, 44, Belting, Hans 167
52, 53, 54, 55, 65, 93, 96, 106, 111, 119, 120, 122, 123, Benda, Georg Anton 268
130, 133, 138, 147, 149, 157, 172, 173–176, 199, Benjamin, Walter 34, 35, 36, 235
217, 231, 233, 244–246, 252, 253, 257, 262, – Der Ursprung des deutschen Trauerspiels 34, 158
293, 296, 320 Benn, Gottfried 288
Aronson-Lehavi, Sharon 148 Bennett, Benjamin 162
Arrabal, Fernando 291 Beolco, Angelo 225
Artaud, Antonin 27, 50, 74, 93, 160, 320 Berg, Jochen 318
Asmuth, Bernhard 1 Berger, Willy R. 154
Aston, George 87, 128 Berghahn, Klaus Leo 307
Aubignac, Abbé de Bergson, Henri 37, 38
– Pratique du Théâtre 24, 57, 247 Berker, Harley Granville 164
Audiberti, Jacques 291 Bernays, Jacob 22–27
Auerbach, Erich 27, 28, 245 Bernhard, Thomas 127, 291, 316, 319, 326
Augustinus 32 Betzwieser, Thomas 268
Auslander, Philip 83, 100 Bharata 199
Aust, Hugo 274 Bhāsa 199
Austin, John L. 81, 168 Biancolelli, Domenico 229
Avancini, Nikolaus von 238 Bidermann, Jakob 232, 238
Avicenna 12 Bie, Oskar 270
Ayrer, Jacob 240 Bierbichler, Josef 110
Namen- und Titelregister 339

Birgfeld, Johannes 258 Calderón de la Barca, Pedro 150, 155, 171, 231, 232, 237,
Birken, Sigmund von 24, 34 266
Birkenhauer, Theresia 8, 47, 82, 123, 125, 126, 129, 323, Calis, Nuran David 323
325, 326 Calvo, Valle Ojeda 227, 228
Blank, Jessica 309 Camus, Albert 310
Blänsdorf, Jürgen 187, 188 Carlson, Marvin 55, 93, 106, 150
Blume, Horst-Dieter 176 Carnicke, Sharon 149
Blumenberg, Hans 27, 28 Carp, Stefanie 47
Boccaccio, Giovanni 228 Cartwright, Kent 218
Bodmer, Johann Jacob 40 Case, Sue Ellen 294
Böhme, Gernot 169 Casey, Maryrose 309
Böhringer, Hannes 74 Cassier, Guy 70
Boileau, Nicolas 32, 56, 247 Castelvetro, Lodovico 12, 24
Bolz, Norbert 102 Castorf, Frank 79, 130
Bonino, Guido Davico 225 Cervantes, Miguel de 155
Borchert, Wolfgang 311, 312 Césaire, Aimé 91
Borchmeyer, Dieter 263 Chamberlain, Basil 87
Börlin, Jean 97 Chapelain, Jean 245, 246
Botarga, Stefanelo 228, 229 Chaplin, Charlie 229
Bottoms, Stephen 309 Chatten, Klaus 326
Bourdieu, Pierre 43 Chétouane, Laurent 103
Boyle, Nicholas 294 Chionides 175
Brahm, Otto 46, 278 Cicero (Marcus Tullius C.) 186, 188, 235, 293
Brandes, Georg 276 Cicero (Quintus Tullius C.) 188
Brasch, Thomas 320 Cimador, Zuan 225
Braun, Volker 314, 317, 320 Ciulli, Roberto 318
Brauneck, Manfred 236, 237 Clair, René 97, 98
Bray, René 56, 244, 245, 246 Claudel, Paul 87, 296
Brecht, Bertolt 26, 35, 45, 46, 47, 48, 75, 86, 87, 88, 93, 98, Cocteau, Jean 26, 42, 76, 289
106, 107, 109, 110, 111, 112, 122, 135, 136, 138, 140, 149, Comte, Auguste 276
150, 158, 160, 270, 288, 291, 293, 296–303, 311, 313, Condell, Henry 215
314, 320, 324, 325 Conter, Claude D. 258
Bredekamp, Horst 41 Copeau, Jacques 87, 97
Breinlinger, Hans 312 Corneille, Pierre 32, 56, 59, 126, 157, 231, 244–248, 267,
Bressand, Friedrich Christian 239 296
Brett-Evans, David 209 – Discours sur les trois unités 25
Brook, Peter 93, 102 – Le Cid 56, 245, 247
Brown, Trisha 82 – Polyeucte Martyr 267
Browne, Robert 236 Cotticelli, Francesco 227
Bruckner, Anton 158 Couton, Georges 247
Bubner, Rüdiger 167 Craig, Edward Gordon 74, 87, 97, 107, 145, 160, 278,
Buchheim, Thomas 14, 15 289
Büchner, Georg 115, 125, 138, 140, 141, 154, 160, 274, 296, Croce, Benedetto 69
307, 317 Croce, Giulio Cesare 228
– Woyzeck 115 Csokor, Franz Theodor 316
Builders Association 95
Bukowski, Oliver 326 Danckwart, Gesine 111
Burbages, Richard 219 Darwin, Charles 276
Burden, Chris 80 Dawison, Bogumil 265
Bürger, E. 258 de Boor, Helmut 210
Bürger, Peter 34, 35 de Marini, Marco 49
Burke, Edmund 33 de Viau, Théophile 244
Burke, Kenneth 49, 164 Debureau, Jean-Gaspare 229
Burkert, Walter 175 Dedekind, Friedrich 239
Burroughs, Catherine 295 Defrank, Rolf 316
Buschmeier, Matthias 260, 261 Deleuze, Gilles 74
Buselmeier, Michael 316 Deller, Jeremy 309
Butler, Judith 168 Derrida, Jacques 29, 50, 74, 81
Dessau, Paul 270
Caecilius Statius 188 Detken, Anke 144
Caesar (Gaius Iulius C.) 188 Devitt, Amy J. 219
Cage, John 77, 80, 142 Devrient, Otto 270
340 Namen- und Titelregister

Diderot, Denis 6, 97, 145, 148, 154, 255, 256, 293, 296 Föllinger, Sabine 180
– Der Hausvater 255 Fontane, Theodor 274
Dilcher, Roman 15 Fontenelle, Jean 294
Dine, Jim 80 Forced Entertainment 80
Dingelstedt, Franz von 46 Forestier, Georges 126
Diomedes 55, 173, 174 Fornenbergh, Jan Baptista van 237
Döblin, Alfred 289 Forster, Georg 61, 86, 200
Döhl, Reinhard 307 Forsythe, William 305
Dolan, Jill 150 Forte, Dieter 317
Dorst, Tankred 307, 317, 318, 319 Fosse, Jon 79
Dostojewski, Fedor 130 Foucault, Michel 74, 78, 81, 168, 172
Dovizi, Bernardo 225 Fraenkel, Eduard 187
Dryden, John 231 Frayn, Michael 138
du Plessis, A. J. 245 Freise, Dorothea 212
Duchamp, Marcel 98 Frescobaldi, A. s. Botarga
Düffel, John von 326 Freud, Sigmund 27
Durkheim, Émile 76 Freydank, Ruth 284
Dürrenmatt, Friedrich 36, 303, 311, 312 Freyer, Paul Herbert 313
Freyer, Thomas 326
Eidam, Klaus 313 Freytag, Gustav 2, 3, 6, 25, 114, 158, 159, 274, 275, 277,
Eisler, Hans 270, 298 279
Ekhof, Konrad 44 – Die Technik des Dramas 2, 158, 274
Engel, Thomas 313 Fricke, Harald 59
Ennius 187, 188 Frisch, Max 109, 303, 311, 312
Enzensberger, Hans Magnus 316 Frischlin, Nicodemus 240
Epicharmos von Syrakus 175 Fritsch, Werner 321
Epstein, Max 172 Fuhrmann, Manfred 12–18, 22, 23, 187
Erne, Lukas 220 Fulda, Daniel 240
Ernst, Paul 288
Eupolis 182 Gabler, Hans-Walter 215
Euripides 21, 142, 156, 174, 180, 181, 184, 187, 189 Galle, Roland 31, 32, 33, 35, 36
– Andromeda 184 Ganassa, Zan 228, 229
– Der Ion 184 García Lorca, Federico 159
– Der Kyklops 156, 174 Gasté, Armand 247
– Die Bakchen 142, 181 Gay, John 134
– Die Phönissen 180 Gebauer, Gunter 27, 28
– Medea 187 Geertz, Clifford 76
Evreinov, Nikolai 149 Gellert, Christian Fürchtegott 254
Ezechiel 185, 186 Gemmingen-Hornberg, Heinrich von 255
Genée, Rudolph 284
Faber, Gustav 312 Genet, Jean 290
Falck, August 278 Genette, Gérard 53, 56, 65, 170
Faral, Edmont 225 Gennep, Arnold von 76
Fassbinder, Rainer Werner 318 Gersdorf, W. von 258
Fassmann, David 294 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 259, 269
Federal Theater Project 308 Ghelderode, Michel de 290
Fenollosa, Ernest 87 Ghirardini, Günther 311
Fensham, Rachel 49 Giddens, Anthony 145
Fiaschini, Fabrizio 228 Gide, André 244
Fick, Monika 254 Gilbert & George 81
Fiebach, Joachim 321 Gilbert, Helen 91
Fiedler, Leslie A. 167 Giradoux, Jean 310
Finter, Helga 47 Giraldi, Giambattista 32
Fischer-Lichte, Erika 7, 45, 74, 76, 81, 97, 102, 156, 162, Girard, René 29
165, 166, 168, 322 Girshausen, Theo 28
Flashar, Hellmut 14, 21, 27, 181 Gissenwehrer, Michael 207
Fleig, Anne 258, 260 Goering, Reinhard 288
Fleißer, Marieluise 159 Goertz, Heinrich 313
Flemming, Willi 7 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 45, 53, 59–66, 68, 70, 86,
Fletcher, John 222 129, 134, 135, 137, 138, 139, 151, 152, 154, 157, 159, 200,
Florenz, Karl 87 201, 226, 259–263, 265, 268, 270, 295, 296, 317
Fo, Dario 224 – Clavigo 258
Namen- und Titelregister 341

– Egmont 262 Haas, Birgit 84, 323


– Faust 270 Hacks, Peter 291, 311, 313, 314, 317, 318
– Faust I 86, 201 Haeckel, Ralf 236, 237
– Faust II 295 Hajer, Maarten A. 49
– Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand 259 Halliwell, Stephen 13, 14, 15, 17, 22
– Indische Dichtung 86 Hallmann, Johann Christian 239, 240
– Iphigenie auf Tauris 135, 139, 262, 296 Hamburger, Käte 4, 5, 6, 53, 67, 70, 71, 162
– Nachspiel zu Ifflands Hagestolzen 156 Handke, Peter 125, 146, 291, 305, 319, 326
– Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des Hanuschek, Sven 306, 307
West-östlichen Divans 63 Hardy, Alexandre 244
– Prolog zur Eröffnung des Berliner Theaters am 26. Mai Hare, David 309
1821 33 Harsdörffer, Georg Philipp 24
– Proserpina 154 – Frauenzimmer-Gesprächsspiele 241
– Stella 259 – Poetischer Trichter 34, 235, 241
– Torquato Tasso 262 Hartl, Robert 67
Goetz, Rainald 78, 321, 326 Hassan, Ihab 167
Goffman, Erving 76 Haug, Helgard 306, 323
Göhlich, Michael 81 Haugwitz, August Adolf von 234, 239
Goldberg, RoseLee 76 Hauptmann, Elisabeth 87
Goldmann, Lucien 248 Hauptmann, Gerhart 145, 158, 159, 280, 281, 282
Goldoni, Carlo 224 Hauser, Harald 314
Goll, Yvan 288 Havel, Václav 291
Gordon, Mel 227 Hay, Julius 311
Gorki, Maxim 310 Hazlitt, William 125
Görler, Woldemar 188 Hebbel, Friedrich 279, 285
Gosch, Jürgen 325 Hebel, Udo 290
Gosse, Peter 317 Hecht, Werner 45
Gotter, Friedrich Wilhelm 156, 268 Heeg, Günther 31, 36
Gottsched, Johann Christoph 6, 24, 32, 33, 38, 40, 41, 44, Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 3, 4, 8, 32–36, 47, 52,
52, 57, 58, 59, 65, 111, 167, 171, 237, 251–259, 263, 267 53, 65–69, 130, 158, 160, 161, 274, 301
– Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen – Vorlesungen über die Ästhetik 2, 33, 53, 65, 274
6, 25, 32, 40, 57, 167, 252 Hegemann, Carl 47
Gottsched, Louise Adelgunde (geb. Kulmus) 167, 253 Heibach, Christiane 75
Gozzi, Carlo 224, 226 Heidegger, Martin 83, 287
Grabbe, Christian Dietrich 140, 274, 295 Hein, Christoph 317
Granville Barker, Harley 164 Heinsius, Daniel 6, 25, 34
Grass, Günter 291, 311, 317 Heldmann, Georg 189
Greco-Kaufmann, Heidy 209 Hemings, John 215
Greenblatt, Stephen 221 Hempfer, Klaus W. 293
Greene, Graham 236 Henkel, Heinrich 318
Gregory, Augusta 289 Hensel, F.S. 258
Greimas, Algirdas Julien 124 Henslowe, Philip 219
Greiner, Bernhard 37, 38, 39 Hentschel, Ingrid 321
Grillparzer, Franz 115, 154 Henze-Döhring, Sabine 270
– Die Jüdin von Toledo 115 Herberichs, Cornelia 212
Grimm, Jürgen 244, 249 Herder, Johann Gottfried 59, 60, 61, 63, 64, 75, 269
Grimm, Reinhold 137, 301 Herget, Winfried 290
Gropius, Walter 75 Hermand, Jost 273
Grosse, Ernst 9 Hermann, Hans-Christian von 273
– Die Anfänge der Kunst 9 Herodot 173, 175, 176
Groto, Luigi 228 Herrmann, Max 7, 24, 132, 323
Grotowski, Jerzy 93 Herter, Hans 176
Gruber, Klaus-Michael 318 Hettner, Hermann 274
Gryphius, Andreas 137, 155, 230–235, 239, 240 Heukenkamp, Ursula 312
Gryphius, Christian 239 Hildesheimer, Wolfgang 291, 311
Guan Hanqing 206, 207 Hilzinger, Klaus Harro 305, 306
Guarini, Giovanni Battista 241 Hinck, Walter 303
– Il pastor fido 222 Hindemith, Paul 270, 289, 298
Guericke, Otto von 41 Hirschfeld, Georg 288
Gumbrecht, Hans-Ulrich 83 Hiß, Guido 124
Günther, Johann Christian 239 Hitchcock, Alfred 104
Gymnich, Marion 220 Hobbes, Thomas 91
342 Namen- und Titelregister

Höbel, Wolfgang 307 Jonson, Ben 145, 215, 222, 223


Hochhuth, Rolf 306, 307, 315, 317, 321, 322 Jürgens, Heiko 189
Hochwälder, Fritz 315
Hock, Wilhelm 284 Kablitz, Andreas 28
Hoefert, Sigfrid 279 Kaegi, Stefan 306
Höffe, Otfried 12, 15, 16, 17, 22 Kafitz, Dieter 105
Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 268 Kahane, Arthur 46
Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 241 Kaiser, Georg 288, 289
Hofmannsthal, Hugo von 159, 270, 287, 293 Kālidāsa 85, 202
Hollmer, Heide 251 – Śakuntalā 86, 199, 200
Holtbernd, Benedikt 270 Kan’ami Kiyotsugu 191
Holz, Arno 142 Kandinsky, Wassily 288
Homer 20, 22, 54, 57, 61, 114, 246 Kane, Sarah 79, 119
Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 5, 6, 24, 32, 34, 41, 52, – Crave 107
54, 55, 96, 174, 231, 235, 299 – Psychosis 107
– Ars Poetica 5, 24 Kann, Juliane 326
Horvath, Ödön von 159, 160, 288 Kant, Immanuel 26, 75, 261
Hose, Martin 181, 186 – Kritik der Urteilskraft 33, 40
Howarth, W.D. 305 Kantor, Tadeusz 320
Hrotsvitha von Gandersheim 294 Kappl, Brigitte 15, 55
Hubert, André 155 Kardaun, Maria 15
Huizinga, Johan 29 Karnad, Girish 91
Hulfeld, Stefan 7, 55, 56, 162, 252 Kater, Fritz s. Petras
Humboldt, Wilhelm von 262, 263 Katritzky, M. A. 212
Humperdinck, Engelbert 269 Kattenbelt, Chiel 100
Hutcheson, Francis 32 Kauffmann, Kai 260, 261
Kawatake Mokuami 198
Ibsen, Henrik 85, 90, 116, 137, 138, 142, 149, 150, 158, Keim, Katharina 162
159, 208, 272, 273, 276, 278, 280, 281, 282, 285, 311 Keller, Gottfried 274
– Die Frau vom Meer 280 Kerkhecker, Arnd 23
– Die Wildente 272 Kerkhoven, Marianne Van 47
– Ein Puppenheim/Nora 280 Kesting, Marianne 296, 303, 305
– Gespenster 280 Kielland, Alexander L. 288
– Hedda Gabler 138, 280 King, Pamela M. 14, 148
– Romersholm 281 Kipphardt, Heinar 306, 307, 308, 313, 315, 316
Ichikawa Danjuro 197 Kirst, Hans Hellmut 312
Iffland, August Wilhelm 154, 156, 258 Kittler, Friedrich 102
Imdahl, Max 326 Klaren, Georg C. 289
Ingarden, Roman 125 Kleefeld, Kurt 172
Ingegneri, Angelo 266 Kleist, Heinrich von 114, 115
Innes, Christopher 279 – Penthesilea 114
Ionesco, Eugène 134, 142, 290 Klencke, Caroline Louise von 260
Iser, Wolfgang 29 Klinger, Friedrich Maximilian 258
Klotz, Volker 37, 60, 136, 138–143, 151, 152, 153, 157, 160,
Jakobson, Roman 116 166, 296, 326
Jamieson, Trevor 309 Kluck, Oliver 326
Jans, Erwin 47 Knauth, Joachim 317, 318
Jarry, Alfred 42 Köberle, Georg 284
Jaspers, Karl 31 Koch, Heinrich Christoph 27, 265, 266
Jauß, Hans Robert 70 Köhler, Erich 244
Jean Paul (d.i. Jean Paul Friedrich Richter) 166 Kokoschka, Oskar 288, 289
Jelinek, Elfriede 47, 78, 79, 80, 112, 120, 123, 127, 131, 292, Komart, Christoph 239
321, 323, 326 Kord, Susanne 258
– Ein Sportstück 120 Kornejtschuk, Alexander 310
– Wolken.Heim 112 Korthals, Holger 1
Jens, Walter 180 Kortner, Fritz 316
Jensen, Erik 309 Kotte, Andreas 43, 106, 113, 209
Jessner, Leopold 46 Kotzebue, August von 154, 156, 258, 268
Jesurun, John 95 Krabiel, Klaus-Dieter 298
Jeyifo, Biodun 94 Krafft-Ebing, Richard von 280
Johst, Hanns 288 Krämer, Jörg 268
Jones, William 86, 200 Krasiński, Zygmunt 295
Namen- und Titelregister 343

Kratinos 177, 182 Lord Chamberlain’s Men 125, 220, 221


Kraus, Karl 295 Lotar, Peter 312
Krauß, Henning 244, 245, 248 Lotz, Wolfram 326
Kreuder, Friedemann 38, 41 Löwen, Johann Friedrich 44
Kreutzer, Conradin 268 Löwen, Walter 312
Kriegenburg, Andreas 324 Lucas, Donald 13
Kristeva, Julia 78 Luckhurst, Mary 47
Kroesinger, Hans-Werner 305 Ludus paschalis 210
Kroetz, Franz Xaver 125, 159, 318 Ludwig, Otto 279
Kümmel, Peter 70 Luhmann, Niklas 101
Küpper, Joachim 15 Lühning, Helga 265
Kurz-Bernardon, Josef-Felix 41, 229 Lukács, Georg 67, 69, 158, 294, 305
Kurzenberger, Hajo 306 Lukian 294
Kyd, Thomas 219, 223 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 55
Lully, Jean-Baptiste 155
Lampel, Peter Martin 308 Lüthy, Michael 27
Lang, Franciscus 238 Lykophron 185
Lange, Hartmut 102, 311, 313, 314, 317 Lyly, John 222
Lassen, Eduard 270 Lyotard, Jean-Francois 49, 131
Laube, Heinrich 46
Laucke, Dirk 326 Ma Zhiyuan 206
Laudenbach, Peter 306 Maché, Ulrich 233
Laurel, Brenda 122 Machiavelli, Niccolò 225
Lauretis, Teresa de 150 Mackerras, Colin 88
Le Roy, Xavier 170 Maeterlinck, Maurice 159, 287, 289
Lehmann, Hans-Thies 7, 36, 47, 48, 53, 69, 73, 74, 80, 83, Mahabharata 199, 202
102, 112, 122, 142, 157, 160, 161, 166, 321 Mairet, Jean 244
Leibniz, Gottfried Wilhelm 41 Majakowski, Wladimir 74
– Drôle de Pensée 41 Mallarmé, Stéphane 51, 159, 287
Leisewitz, Johann Anton 259 Malzacher, Florian 323
Lenz, Jacob Michael Reinhold 138, 140, 141, 259, 260, 296 Man Ray 98
Lenz, Siegfried 311 Marber, Andreas 326
Leodiensis, Jacobus 266 Marinetti, Filippo Tommaso 74
Leoncavallo, Ruggiero 287 Marlowe, Christopher 218, 219, 231, 237
Leonhardt, Nic 41, 284, 285 Marranca, Bonnie 76
Lepage, Robert 95 Marschall, Brigitte 305
Lessing, Gotthold Ephraim 6, 22, 25, 26, 27, 33, 44, 45, 46, Marthaler, Christoph 79, 170
52, 53, 59, 75, 97, 136, 151, 152, 154, 156, 171, 195, Martin, Carol 305
253–259, 262, 267, 294 Martinec, Thomas 32
– 17. Literaturbrief 253 Martínez, Matías 25
– Das Theater des Herrn Diderot 6, 255 Marun al-Naqqash 89
– Emilia Galotti 258 Marx, Adolf Bernhard 265
– Hamburgische Dramaturgie 6, 33, 45, 52, 97, 136, 152, Marx, Rainer 70
256, 267 Mascagni, Pietro 287
– Laokoon 52, 75, 97, 127 Masen, Jacob 235
– Le fils naturel 255 Matsuda Bunkōdō 196
– Minna von Barnhelm 256, 258 Matthews, Brander 9
– Miss Sara Sampson 195, 256 Matzat, Wolfgang 51
– Nathan der Weise 258, 262, 294 Mauermann, Siegfried 144
L’Hermie, Tristan 244 Maurer-Schmoock, Sybille 251
Lindpaintner, Peter Joseph von 268 Mayenburg, Marius von
Lipphardt, Walther 210 – Eldorado 107
Liszt, Franz 265 Mayröcker, Friederike 326
Livius 186 McCreery, Kathleen 308
Livius Andronicus 186, 187 McLuhan, Marshal 101
Loewenstein, Mattheus Apelles von 241 Megson, Chris 305
Lohenstein, Daniel Casper von 232, 233, 234, 239 Meichel, Joachim 230
Loher, Dea 321, 324 Meid, Volker 233, 235
Löhle, Philipp 322 Meier, Georg Friedrich 40
Lope de Rueda 155 Meister, Jan Christoph 169
Lope de Vega 155, 171, 231, 237, 266 Menander 174, 179, 182, 184, 187
Lord Admiral’s Men 220 Mendelssohn Bartholdy, Felix 265
344 Namen- und Titelregister

Mendelssohn, Moses 26 Neun-Berge-Autorenkollektiv der Stadt Yongjia


– Briefe über die Empfindungen 33 – Spitzenabsolvent Zhang Xie 205
– Briefwechsel über das Trauerspiel 255 Neutsch, Erik 314
Menke, Bettine 34, 35 Newman, Jane O. 239
Menke, Christoph 66 Nicolai, Friedrich 26, 32
Mercier, Louis-Sébastien 259 – Abhandlung vom Trauerspiele 26, 255
Meyer, Conrad Ferdinand 274 Niefanger, Dirk 231, 234, 235, 237
Meyer, Heinz 212 Nietzsche, Friedrich 8, 9, 25, 27, 35, 68, 94, 99, 147, 276
Meyer, Reinhart 251 – Die Fröhliche Wisssenschaft 276
Meyerhold, Wsewolod 74, 75, 97, 224, 278 – Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 8, 27,
Mickel, Karl 318 35, 68, 93, 276
Mickiewicz, Adam 295 Nikodemus-Evangelium 209
Middleton, Thomas 222 Nitsch, Hermann 27
Miller, Arthur 310 Norton, Thomas 218
Milton, John 26, 293 Nowé, Johan 210, 213
Minks, Wilfried 318
Minturno, Antonio Sebastiano 26, 34 O’Neill, Eugene 158, 289, 290, 296, 310
Mitterer, Felix 318 Opitz, Martin 5, 6, 24, 34, 55, 56, 57, 111, 231, 233, 234,
Mitternacht, Sebastian 240 235, 239, 240, 241, 242
Miyoshi Shōraku 196 – Buch von der deutschen Poeterey 5, 24, 34, 56, 231
Molière 85, 88, 89, 120, 134, 155, 157, 231, 237, 244, 249, Osinski, Jutta 60
250, 270 Ostermaier, Albert 291, 322
Monteverdi, Claudio 231, 241 Ostermeier, Thomas 46
Montrose, Louis 220 Osterspiel von Benediktbeuren 210
Monzaemon, Chikamatsu 195–197 Osterspiel von Muri 210
Moody, Jane 172 Ostrowski, Hartmut 310
Moraitou, Despina 13 Otway, Thomas 231
More, Hannah 294 Ovid (Publius Ovidius Naso) 189, 228
Moritz, Karl Philipp 28 Özdamar, Emine Sevgi 92
Möser, Justus 156, 253
Motokiyo, Zeami 191, 192 Pacuvius 188, 189
Mourey, Marie-Thérèse 233 Paget, Derek 305
Mozart, Wolfgang Amadeus 109 Pago, Thomas 57
Mrożek, Sławomir 291 Pannewick, Friederike 88, 89, 93
Mueller, Harald 318 Pasha, Ismail 89
Mühl, Karl Otto 318 Pavis, Patrice 49, 79
Müller, Elfriede 321 Perceval, Luk 79
Müller, Friedrich 259 Pergolesi, Giovanni Battista 155
Müller, Heiner 36, 47, 78, 103, 104, 126, 146, 160, 162, 294, Peri, Jacopo 231, 241
311, 313, 314, 317, 318, 319, 320 Petersen, Julius 25, 62
– Bildbeschreibung 102, 103, 146, 320 Petersen, Jürgen H. 15, 62, 213
Müller-Dyes, Klaus 62, 70 Pethes, Nicolas 278
Müller-Wille, Klaus 278 Petras, Armin 323, 326
Mukařovský, Jan 118, 126 Peymann, Claus 79, 291, 318
Mulvey, Laura 150 Pfeiffer, Rudolf 185
Münz, Rudolf 38, 226, 251 Pfeil, Johann Gottlob Benjamin 254
Mylius, Christlob 97 Pfister, Manfred 4, 5, 7, 67, 70, 71, 78, 81, 83, 100, 105, 107,
108, 109, 110, 112, 113, 116, 117, 118, 119, 122, 123, 126,
Naevius 187, 188 127, 129, 130, 132, 133, 134, 135, 137, 139, 143, 144, 147,
Namiki Sōsuke 196 152, 153, 159, 160, 165, 166, 202, 326
Naselli, Alberto s. Ganassa Pfitzner, Hans 270
Nāṭyaśāstra 199–201 Phelan, Peggy 76, 83
Neidhart von Reuenthal 211 Picabia, Francis 98
Neidhartspiele 211 Piccolomini, Alessandro 25
Nelson, Rudolf 288 Pickard-Cambridge, Arthur 176
Nesselrath, Heinz-Günther 182 Pinter, Harold 291
Nestroy, Johann 224 Pirandello, Luigi 158, 160, 296
Neuber, Friederike Caroline 267 Piscator, Erwin 26, 46, 75, 98, 158, 296, 305, 306, 308
Neuenfels, Hans 318 Pixérécourt, René Charles Guilbert de 155
Neuhaus, Volker 259 Platon 13, 14, 22, 23, 27, 28, 29, 32, 34, 54, 55, 65, 173, 174,
Neukomm, Sigismund von 270 178, 293
Neumann, Gerhard 220, 286, 287 Platz-Waury, Elke 106, 112, 116
Namen- und Titelregister 345

Plautus (Titus Maccius P.) 174, 186–188, 218, 225, 231, Roeder, Anke 211, 213
240, 253 Röggla, Kathrin 321, 322
Podehl, Peter 313 Rommel, Otto 41
Pollesch, René 80, 83, 119, 123, 131, 322, 323 Rorty, Richard 23
Polo, Zuan 225 Roselt, Jens 306
Polti, Georges 226 Roßbach, Nikola 321
Pontanus, Jacobus 234, 235, 238 Roth, Friederike 321
Porta, Giambattista della 228 Rothenberg, Jerome 80
Poschmann, Gerda 7, 47, 112, 122, 123, 127, 131, 143, 146, Rotth, Albrecht Christian 34, 235
163 Rousseau, Jean-Jacques 26, 269
Pound, Ezra 87, 289 Rudin, Bärbel 251
Powell, Brian 88 Rühle, Günter 306
Pratinas 176 Rülicke, Käthe 47
Press, Volker 234 Ruppert, Rainer 251
Priestley, J.B. 133
Primavesi, Patrick 321 Saal, Ilka 308
Prince Henry’s Men 220 Sachs, Hans 231, 240
Profitlich, Ulrich 32, 33, 34 Sackville, Thomas 218
Puccini, Giacomo 287 Sakata Tōjūrō 197
Puchner, Martin 88, 293, 294, 295 Sakowski, Helmut 313
Purcell, Henry 266 Salvadori, Andrea 241
Pütz, Peter 129 Salvatore, Gaston 317
Sand, Maurice 224
Quintilian 174, 266 Sanua, James 89
Sarcey, Francisque 305
Rabe, Anne 326 Sartre, Jean-Paul 159, 287, 290, 310
Racan, Marquis de 244 Satie, Eric 98
Racine, Jean 126, 132, 133, 157, 244, 246, 248, 249, 267 Saussure, Ferdinand de 124
– Phèdre 132 Sauter, Willmar 79
Radecke, Thomas 266 Savarese, Nicola 86, 201
Rädle, Fidel 232 Savona, George 128
Radlecker, Kurt 312 Scala, Flaminio 228
Raimund, Ferdinand 42, 160 Scaliger, Joseph Justus 6
Ramayana 199, 202 Scaliger, Julius Caesar 24, 55, 56, 57, 231, 245, 246
Rankins, Scott 309 Schadewaldt, Wolfgang 21, 22, 25, 26, 27, 181
Rapin, René 56 Schäfer, Walter Erich 312
Rapp, Christof 15, 17, 23 Schanze, Helmut 274, 279
Rebentisch, Julia 83 Schechner, Richard 10, 29, 73, 77, 140, 142, 143, 163,
Reichardt, Johann Friedrich 269 164
Reichel, Eugen 267 Scheffel, Michael 25
Reinelt, Janelle 306 Scheibe, Johann Adolph 267
Reinhardt, Karl 181 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 31, 32, 33, 35, 63, 65,
Reinhardt, Max 46, 75, 97, 270, 278 166
Reinshagen, Gerlind 319 Scherpe, Klaus R. 53
Rettenpacher, Simon 234 Schiffer, Marcellus 289, 298
Reuben, Elaine 149 Schiller, Friedrich 4, 22, 25, 26, 33, 63, 64, 66, 71, 134, 135,
Reuter, Christian 240 137, 138, 152, 157, 159, 261–263, 269, 270, 306, 320
Riccoboni, Ludovico 227 – Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen 261
Richardson, Samuel 254 – Die Räuber 259
Richter, Falk 321, 323, 325 – Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 259
Richter, Manfred 313 – Kabale und Liebe 259
Ricordi, Tito 287 – Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer
Riemer, Johannes 240 Reihe von Briefen 75
Riffaterre, Michael 170 – Über epische und dramatische Dichtung 4
Riffaud, Allain 126 – Wallenstein 261
Rilke, Rainer Maria 288 – Wilhelm Tell 154
Rimini Protokoll 80, 305, 306, 321, 323, 327 Schimmelpfennig, Roland 322, 323, 324
Rinke, Moritz 321 Schings, Hans-Jürgen 34
Rinuccini, Ottavio 241 Schino, Mirella 224
Riquier, Guiraut 225 Schlaf, Johannes 142
Rischbieter, Henning 306 Schleef, Einar 120
Rist, Johann 234, 237, 266 Schlegel, August Wilhelm 4, 66, 86, 92, 119, 122, 125, 138
346 Namen- und Titelregister

– Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur 4, 92 – Die Spürhunde 174


Schlegel, Christiane Caroline 258, 260 – König Ödipus 19, 118, 137, 266
Schlegel, Friedrich 65, 68, 86 – Philoktet 180
Schlegel, Johann Adolf 66 Sorge, Reinhard Johannes 288
Schlegel, Johann Elias 32 Southern, Richard 155
Schlemmer, Oskar 74, 98 Soyinka, Wole 91–94
Schlesisches Lustspiel 240 Spanily, Claudia 212
Schlesisches Trauerspiel 239 Specht, Kerstin 318, 326
Schletterer, Daniela 253 Sperr, Martin 318
Schlingensief, Christoph 83, 95 Spitzer, Leo 248
Schmidt, Beate Agnes 266 Spörl, Uwe 35
Schmidt, Gesine 115, 306, 311, 323 Sprengel, Peter 172
Schmidt, Wolf Gerhard 26 Stackelberg, Jürgen von 245
Schmitt, Arbogast 12–18, 20, 23 Stahl, Karl-Heinz 39, 40, 166
Schneeman, Carolee 80 Staiger, Emil 3, 4, 25, 43, 61, 135
Schneider, Rebecca 10, 165, 309 Stanislawski, Konstantin 75, 97, 106, 110, 132, 133, 149,
Schnitzler, Arthur 287 278, 302
Schönberg, Arnold 288, 289 – Die Arbeit des Schauspielers 132
Schopenhauer, Arthur 35, 68 Stanzel, Franz Karl 25
Schößler, Franziska 321 Stefan, Peca 326
Schröder, Friedrich Ludwig 258 Stegemann, Bernd 323, 324
Schuller, Marianne 82 Stein, Peter 45, 46, 79, 128, 318
Schulte-Sasse, Jochen 258 Steiner, Jacob 145
Schultze, Brigitte 295 Steinweg, Reiner 298
Schulz, Marion 251 Stemann, Nicolas 80
Schulz, Matthias 209 Stephan, Inge 260
Schütz, Heinrich 241 Stifter, Adalbert 274
Schütz, Stefan 317 Stockhorst, Stefanie 234
Schwind, Klaus 37 Stöckmann, Ingo 273, 279, 282
Seidensticker, Bernd 23, 156, 176, 189 Stockmann, Nis-Momme 326
Seneca 174, 189, 218, 219, 231, 234, 239, 266, 293, 294, Stolper, Armin 318
317 Stone Peters, Julie 9
Senkel, Günther 92 Stourac, Richard 308
Serres, Michel 128 Stramm, August 288
Sextus Turpilius 188 Strauß, Botho 45, 319
Shakespeare, William 33, 38, 59, 60, 61, 85, 86, 90, 91, 116, Strauss, Richard 270
119, 120, 125, 126, 128, 129, 133, 135, 136, 137, 139, 140, Strecker, Karl 285
142, 150, 159, 164, 200, 215–221, 223, 231, 237, 258, Streeruwitz, Marlene 321, 326
259, 260, 266, 268, 269, 296 Strehler, Giorgio 303
– A Midsummer Night’s Dream 116, 164, 266, 295 Stricker, Achim 8
– As You like It 232 Strindberg, August 76, 116, 158, 159, 276, 277, 278,
– Macbeth 134, 262 280–282, 286, 289, 319
– Othello 91, 262 Strittmatter, Erwin 313
– Richard III 119 Strittmatter, Thomas 318
– Romeo und Juliet 128 Stuart, Meg 82
– The Tempest 91 Sturm, Dieter 45
Shanks, Michael 49 Suchow-Kobylin, Alexander 310
Shaw, George Bernard 125, 149, 208 Sūdraka 199
She She Pop 170, 309 Suerbaum, Werner 186
Shepherd, Simon 9, 41 Süskind, Patrick 112, 291
Sidney, Sir Philip 217 – Der Kontrabaß 112
Siegrist, Christoph 252 Swinburne, Algernon Charles 293
Sigmund von Birken 24, 34 Sylvanus, Erwin 311
Simon, Eckehard 210, 211 Synge, John Millington 92, 289
Simonow, Konstantin Michailowitsch 310 Szarota, Elida Maria 238
Sinjaja Blusa 308 Szondi, Peter 4, 7, 31, 33, 34, 35, 53, 59, 60, 61, 63, 64, 65,
Słowacki, Juliusz 295 67, 68, 69, 77, 92, 118, 123, 136, 137, 142, 143, 151, 152,
Smith, Christopher 186 154, 157–161, 255, 256, 281, 296, 303, 326
Soans, Robin 309
Solbach, Andreas 169 Tabori, George 318
Sophokles 19, 20, 21, 59, 60, 61, 106, 118, 174, 177, 179, Taine, Hippolyte 276
180, 181, 239, 266 Takeda Izumo II 196
Namen- und Titelregister 347

Takemoto Gidayū 195 Voßkamp, Rainer 53, 234


Taplin, Oliver 181 Voßkamp, Wilhelm 234
Tardieu, Jean 76, 291 Wagner, Richard 68, 75, 98, 279, 300, 312
Tasso, Torquato 241 Walcott, Derek 91, 92
Taylor, Gary 220 Waley, Arthur 87
Tectonic-Theater-Projekt 305 Wall, Wendy 215
Terenz (Publius Terentius Afer) 37, 174, 186, 188, 189, Wallaschek, Richard 9
218, 231, 240, 266, 294 Wallis, Mick 9
Tertullian 32 Walser, Martin 305, 312, 315, 316, 317
Tessari, Roberto 225 Wang Zhaojun 207
Thalheimer, Michael 46 Warning, Rainer 212
The King’s Men 125, 220 Warstat, Matthias 27
Théâtre libre 278, 286, 287 Weber, Carl Maria von 269
Thespis 174, 175, 176 Weckherlin, Georg Rudolf 242
Thiele, Wolfgang 1 Wedekind, Franz 138, 140, 160, 296
Tieck, Ludwig 125, 269 Weil, Heinrich 26
Tigges, Stefan 8, 77, 80, 326 Weill, Kurt 87, 270, 289, 298
Toch, Ernst 289 Weimann, Robert 147, 219, 221
Tokugawa Iemitsu 197 Weise, Christian 233, 240, 245, 254
Tolev, G.K. 268 Weisenborn, Günther 312
Toller, Ernst 288, 313 Weiß, Christoph 217
Törnquist, Egil 286 Weiss, Peter 306, 308, 315, 316, 324
Totzeva, Sophia 162 Weiss-Schletterer, Daniela 251
Trappen, Stefan 53, 58 Weisstein, Gotthilf 41
Trolle, Lothar 320 Wellbery, David 35
Tschechow, Anton 76, 107, 116, 126, 127, 142, 158, 159, Welles, Orson 102
281 Wells, Stanley 220
Tscherning, Andreas 241 Wendt, Ernst 318
Tsuruya Nanboku 198 Werfel, Franz 288
Turner, Cathy 48, 49, 50 Werling, Susanne 120
Turner, Victor 9, 10, 76 Wesche, Jörg 242
Turrini, Peter 318 Wetzel, Daniel 306, 322, 323
Wieland, Wolfgang 16
Ubersfeld, Anne 125, 144 Wilde, Oscar 289
Udall, Nicholas 218 Wilder, Thornton 141, 158, 160, 296
Uji Kaganojō 195 Willems, Gottfried 61, 63
Williams, David 51
Valentin, Jean-Marie 237, 238 Williams, Tennessee 296
Valentin, Karl 288, 296 Wilson, Robert 95, 102, 320
Valerius Maximus 186 Wimmer, Ruprecht 253
van Dijk, Anouk 325 Winckelmann, Johann Joachim 260
van Dülmen, Richard 209 Wirth, Andrzej 73
van Gennep, Arnold 9 Wirth, Uwe 74
Varius Rufus (Lucius V. R.) 188 Wittgenstein, Ludwig 319
Vartovyan, Agop 89 Wolf, Friedrich 313
Veiel, Andres 115, 306, 323 Wölfel, Kurt 32, 33
Venturino, Caspar 225 Wolfert, Jutta 326
Vergil (Publius Vergilius Maro) 57 Wolff, Christian 32
Verne, Jules 284 Wolff, Pius Alexander 269
Verucci, Vergilio 228 Wölfflin, Heinrich 138
Vettori, Pietro 13, 25 Wooster Group 95
Vianello, Daniele 225 Worbs, Michael 27
Vida, Girolamo 24 Worthen, William B. 10, 164, 165
Vietta, Egon 26 Wrights & Sites 49
Vinçon, Hartmut 282 Wulf, Christoph 28
Vischer, Friedrich Theodor 65, 152, 166, 274, 279
Vöhler, Martin 22, 23, 27 Yeats, William Butler 86, 87, 92, 289
Voima, Soeren 323 Yukio Mishima 90
Völcker, Tine Rahel 326
Vondel, Joost van den 231, 232 Zadek, Peter 46, 79
Vos, Jan 237 Zaimoglu, Feridun 92
Voskuil, Lynn M. 41 Zanini von Padua 225, 226
348 Namen- und Titelregister

Zelle, Carsten 40 Zinner, Hedda 312, 313


Zelter, Carl Friedrich 269 Zirfas, Jörg 81
Zemlinsky, Alexander von 289 Zola, Émile 275, 276, 277
Zenchiku, Konparu 192 Zoran, Gabriel 16
Zenpō, Konparu 192 Zuckmayer, Carl 26, 311, 312
Zheng Guangzu 207 Zwierlein, Otto 189
Zimmermann, Bernhard 33, 182 Zymner, Rüdiger 60

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