Marco Brusotti
In Ecce homo schreibt Nietzsche, man kçnne an ihm „keinen Zug von
Spannung“ wahrnehmen, er habe berhaupt „keine Nerven“ und „kenne
keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel“; er sieht
darin ein „Anzeichen“ seiner Grçße (EH, KSA 6, 297). In anderen Texten
wiederum erscheint „der große Mensch“ gerade als „der Bogen mit der
großen Spannung“ (NF, KSA 11, 515); „die Vielfachheit der Elemente und
die Spannung der Gegenstze“ sind demnach „die Vorbedingung fr die
Grçße des Menschen“ (NF, KSA 12, 520). Gibt es also keine Grçße ohne
Spannung? Oder zeigt sich jene gerade in der Freiheit von dieser?
Die zitierten ußerungen mssen einander nicht unbedingt wider-
sprechen. Vielmehr geben sie Anlass, bei Nietzsche unterschiedliche Figuren
von Spannung zu unterscheiden. Nun ist das Begriffsfeld mit seinen vielen
Komposita (Spannkraft, Spannweite), Synonymen und Antonymen (Span-
nung, Entspannung und berspannung) eigentlich zu weit, um es in einem
Aufsatz zu kartographieren. „Spannung“ (altgr. t|mor, vgl. auch t\nir) ist ein
alter philosophischer Begriff,1 aber auch hier herrscht eine gewisse Poly-
phonie. In den Naturwissenschaften steht „Spannung“, abgesehen von
diachronischen Unterschieden, fr unterschiedliche physikalische Grçßen,
z. B. fr mechanische Spannung oder fr elektrische; es handelt sich um
streng umgrenzte Begriffe, aber eben um jeweils andere.2 Die Varietten
mechanischer Spannung (Schub-, Druck- oder Zugspannung) – an elasti-
schen Kçrpern (Saiten und Bogensehnen), bei Flssigkeiten (der Druck
aufgestauter Wassermassen) oder bei Gasen (das „Expansionsvermçgen“
1 Vgl. Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder
(Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff., Bd. 9,
Sp. 1284 – 1290.
2 Zum Spannungsbegriff in der Geschichte der Wissenschaften sowie zum Begriff
,Spannkraft vgl. Tobias Trappe, Spannung I, in: Joachim Ritter, Karlfried
Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart
1971 ff., Bd. 9, Sp. 1282 – 1284, hier: Sp. 1283.
von Dmpfen) – aber auch elektrische Spannung (u. a. der Blitz als plçtzliche
Entladung einer elektrisch aufgeladenen Wolke) kçnnen abwechselnd, aber
auch einander berlagernd und durchkreuzend, Metaphern liefern, etwa fr
Psychophysisches beim Menschen. In der Physiologie des neunzehnten
Jahrhunderts wird „Nervenspannung“ als physische, messbare Grçße ver-
standen. Sie dient als Bild fr „psychische Spannung“, worunter wiederum
Heterogenes zu verstehen ist: „Stress“ natrlich, aber auch „gespannte“
Erwartung oder Aufmerksamkeit (z. B. in der sthetik). Die Vieldeutigkeit
und die unhintergehbare Metaphorik macht die Semantik von „Spannung“
ußerst unbersichtlich, nicht erst heute, nicht nur alltagssprachlich und
auch nicht ausschließlich bei Philosophen und Schriftstellern.
Um Ordnung in das Dickicht zu bringen, muss ich ußerst selektiv
verfahren, kann also keineswegs alle auffindbaren Stellen anfhren.3 Um
dem metaphorischen Aspekt des Begriffs gerecht zu werden, werden hier
drei Bilder erlutert, die zugleich kognitive Modelle fr die „Statik“ und
„Dynamik“ von Spannung darstellen: Bogen, Gewitter und Sprengstoff.
Dabei soll nicht nur die Bedeutung von „Spannung“ in Nietzsches
Philosophie deutlich werden, sondern auch die enge Verbindung zum Be-
griff der „Grçße“. Spannung spielt nmlich eine zentrale Rolle in der
Darstellung der Großen und ihrer Grçße; die Schwierigkeiten der Großen,
im Umgang mit den Kleinen die eigene Spannung zu bewahren, werden
wortreich beschrieben; und die Kleinen verraten sich je nachdem durch zu
viel oder zu wenig Spannung. „Der Mensch“ selbst kommt Nietzsche einmal
als „eine kleine berspannte Thierart“ vor (NF, KSA 13, 488).
3 So kçnnen hier eine Reihe von Themen nur kursorisch oder gar nicht behandelt
werden: Dazu gehçren die sthetik der Tragçdie und im allgemeinen die Zeit vor
Menschliches, Allzumenschliches, die Auffassung des Willens zur Macht als „dy-
namische Quanta, in einem Spannungsverhltniß zu allen anderen dynamischen
Quanten“ (NF, KSA 13, 259) oder die „Fhigkeit zum großen Stil“ als „Spann-
kraft“ des Willens, an der die „Grçße eines Musikers“ (NF, KSA 13, 502) zu
messen ist. Noch selektiver wird die Quellenlage dargestellt.
Verehrung wir Beide einmthig sind (lesen Sie doch zum Beweise dafr
meine jngst erschienene ,Morgenrçthe […]). (An Ferdinand Laban, KGB
III/1, Bf. 130)
Jener „herrliche rçmische Kaiser“ ist der Stoiker Marc Aurel, und
„Spannung“ wird erst bei den Stoikern zu einem philosophischen Begriff.
Aber der „Bogen des Lebens“, von dem hier die Rede ist, ist der bos/bis
des Heraklit, und das Gleichnis des Bogens geht auf den locus classicus
zurck, auf den sich die antike Reflexion ber Spannung immer wieder
bezieht: Heraklits Fragment ber die „pak_mtomor "qlom_g djyspeq t|nou
ja· k}qgr“, d. h., ber die „rckgespannte Fgung wie die des Bogens und
der Leier“,4 die Nietzsche als spannungsvolle Harmonie widerstrebender
Gegenstze interpretiert. „Fr den contuitiven Gott […] luft alles Wi-
derstrebende in eine Harmonie zusammen, unsichtbar zwar fr das ge-
wçhnliche Menschenauge, doch dem verstndlich, der, wie Heraklit, dem
beschaulichen Gotte hnlich ist.“ (PHG, KSA 1, 830) Die Heraklit-Para-
phrase der Philosophie im tragischen Zeitalter verwendet das Wort
„Spannung“ nicht und nimmt auch Heraklits „apollinische“ Bilder, Bogen
und Leier, nicht auf. Aber dem Bogen als Hauptgleichnis fr Spannung
begegnet man bei Nietzsche immer wieder.
Mit diesem Topos preist Nietzsche den stoischen Kaiser und indirekt
sich selbst: Wer noch heute so „stolz und darber-hinsehend“ wie Marc
Aurel leben kann, spannt den Bogen seines Lebens und bringt die „Sehne
der Begierde“ zum Pfeifen und – wie die Saite einer Leier – sogar zum
Singen. Dass gerade ein Stoiker fr die weiter bestehende Mçglichkeit
zeugt, die „Sehne der Begierde“ zum ußersten zu spannen, klingt
merkwrdig: nicht wegen der Spannung, sondern wegen der „Begierde“.
Das Wort ist hier aber nicht ohne Absicht gewhlt. Es kommt schon in der
Stelle der Morgenrçthe vor, auf die Nietzsche Laban hinweist.5 Nietzsche
nimmt stoische Denkfiguren zwar immer wieder auf, interpretiert sie çfter
jedoch um und kehrt sie manchmal geradezu in ihr Gegenteil: So geht die
Spannung, zu der er sich in seinem Brief bekennt, auf eine extreme Lei-
denschaft zurck, und jene „Begierde“ ist seine passio nova, die Leiden-
schaft der Erkenntnis.
4 Nach Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder
(Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff., Bd. 9,
Sp. 1284.
5 Vgl. M, KSA 3, 273 und dazu Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis.
Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis
Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 225.
Das Bild des Bogens suggeriert, dass der normale, gesunde, ja, ideale
Zustand ein hohes Maß an Gespanntheit, Tonizitt beinhaltet. Man darf
den Bogen weder ab- noch berspannen: Er wre dann funktionsunfhig;
und im letzteren Fall kçnnte er sogar brechen.6 Den Stoikern zufolge kann
der Geist dank der ihm eigenen Spannung dem Leiden widerstehen und die
Leidenschaften bezwingen. Spannung steht aber auch in der Antike nicht
immer fr seelische Strke. Erstens unterscheidet der Stoiker Epiktet
zwischen gesunden, eingebten Spannungen und krankhaften, verrckten.
Zweitens prgt gespannte Wachsamkeit zwar das Selbstbild der Stoiker,
Entspannung aber dasjenige der Epikureer, und diese kritisieren die
stoische Haltung als eine berspannte.7 Dass auch bei Nietzsche unter-
schiedliche Verwendungen von „Spannung“ und mit ihnen unterschiedli-
che Wertungen anzutreffen sind – und zwar ebenso in seinen Urteilen ber
die Stoiker wie ohne Bezug auf sie –, wird also nicht berraschen. Immer
wieder ist ihm Spannung eine Kraft oder ein Zeichen derselben. So sieht er
in der Spannung der Seele, die dem Leiden widersteht, ein Anzeichen von
Grçße – nicht zuletzt an sich selbst.8 Er nimmt aber nicht nur die
Gleichnisse wieder auf, mit denen die Stoiker Spannung und Seelenstrke
fr sich beanspruchen, sondern auch die Argumente, mit denen gerade
diese stoische Haltung als eine berspannte zurckgewiesen wird. Und,
wie heute und auch zu Nietzsches Zeit blich, fllt bei ihm „Spannung“,
6 Elisabeth Nietzsche befrchtet, dass bei ihrem Bruder „der Bogen leicht einmal
berspannt sein kçnnte“ (Elisabeth an Franziska Nietzsche, 8. Oktober 1884, NF,
KSA 15, 142). Anders als in den klassischen Quellen wird das Gleichnis des
Bogens alltagsprachlich eher fr berspannung verwendet.
7 Zu beiden Punkten vgl. Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter,
Karlfried Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/
Stuttgart 1971 ff., Bd. 9, Sp. 1285. – Nicht Marc Aurel allein ist bei Nietzsche ein
Vorbild von Spannung: Morgenrçthe bewundert beim „Epiktetische[n] Men-
sch[en]“ „[d]ie stete Spannung seines Wesens“, die zu den „Merkmale[n] der
strengsten Tapferkeit“ (M, KSA 3, 316) zhlt. Zu Nietzsches Kritik der stoischen
Wrde als berspannt siehe weiter unten.
8 „Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens“, hat „alle Erhçhungen des Men-
schen bisher geschaffen“; Geschenke „des grossen Leidens“ sind die „Grçsse“
und die „Spannung der Seele im Unglck, welche ihr die Strke anzchtet“ (JGB,
KSA 5, 161). In dieser „Spannung“ in und nach dem Kampf gegen das Leiden sieht
Nietzsche die eigene Grçße: Gerade nach viel Not und Entbehrung steht er da,
wie er „geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem,
Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Noth immer nur noch straffer anzieht“;
aber gerade „die Verkleinerung und Ausgleichung des europischen Menschen“
stellt seine „grçsste Gefahr“ dar; „denn dieser Anblick macht mde…“ (GM,
KSA 5, 278)
insbesondere sichtbare oder gar zur Schau getragene Spannung, sehr oft
keineswegs mit „Spannkraft“ zusammen, sondern weist eher auf eine
Unzulnglichkeit derselben hin.
10 „,Nicht zu sehr! – Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen,
das er nicht erreichen kann und das ber seine Krfte geht, um so wenigstens Das
zu erreichen, was seine Krfte bei der allerhçchsten Anspannung leisten kçnnen!
Ist diess aber wirklich so wnschenswerth? Bekommen nicht nothwendig die
besten Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas
bertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist? Und
verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von Erfolglosigkeit dadurch ber die
Welt, dass man immer kmpfende Athleten, ungeheure Gebrden und nirgends
einen bekrnzten und siegesgemuthen Sieger sieht?“ (M, KSA 3, 325 f.)
Diese Umorientierung hngt auch mit einem neuen Blick auf die
christliche „Spannung des Gefhls“ zusammen.11 In seiner Denkwerkstatt,
den Notizheften jener Zeit, versucht Nietzsche nmlich, seine neue Lei-
denschaft in Auseinandersetzung mit historischen Vorbildern fr Span-
nung schrfer zu konturieren – und insbesondere mit Pascals „unerhçr-
testen Spannungen“ (NF, KSA 9, 372). Er sieht nun in der christlichen
Spannung zwar weiterhin ein pathologisches Syndrom, zugleich aber auch
einen „der grçßten Kraftversuche der Menschheit“ und damit etwas, was er
sogar bei den geliebten Griechen zu vermissen scheint:
Die Spannung zwischen dem immer reiner und ferner gedachten Gott und
dem immer sndiger gedachten Menschen – einer der grçßten Kraftversuche
der Menschheit. Die Liebe Gottes zum Snder ist wundervoll. Warum haben
die Griechen nicht eine solche Spannung von gçttlicher Schçnheit und
menschlicher Hßlichkeit gehabt? Oder gçttlicher Erkenntniß und
menschlicher Unwissenheit? […]. (NF, KSA 9; 287 f.)
11 Dieser Abschnitt beruht auf Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philoso-
phie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also
sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, insbes. S. 201 ff.
Worin soll also die erhoffte neue Spannung bestehen? Die Polaritt ist
nicht neu, es geht weiterhin um Selbstverachtung und Stolz. Die Wissen-
schaft fgt dem Menschen die bekannten „narzisstischen Krnkungen“ zu.
Die Frage ist also vor allem, ob sie dem Menschen ein neues Selbstwert-
gefhl vermitteln kann, damit wir diesen „Zustand der menschlichen Er-
Noch einige Jahre spter beruft sich Nietzsche auf Pascal, in dem er wei-
terhin „das herrliche Anzeichen“ einer „furchtbaren Spannung“ (NF, KSA
11, 475) sieht.
13 Vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Le-
bensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/
New York 1997, insbes. S. 3 ff. und Marco Brusotti, Kern und Schale. Wissenschaft
und Untergang der Religion bei Nietzsche, in: Carlo Gentili / Cathrin Nielsen, Der
Tod Gottes und die Wissenschaft. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Berlin/New
York 2010, S. 67 – 81.
14 Vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Le-
bensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/
New York 1997, S. 385 ff.
Als Noth empfand ihn [den Geist; MB] zum Beispiel Pascal: aus seiner
furchtbaren Spannung heraus erfand dieser tiefste Mensch der neueren Zeit
sich jene mçrderische Art von Lachen, mit welcher er die Jesuiten von damals
todt lachte. Vielleicht fehlte ihm nichts als Gesundheit und ein Jahrzehend
von Leben mehr […] um sein Christenthum selbst todtzulachen. (NF, KSA 14,
346)
In der frheren Fassung sieht Nietzsche in sich selbst den Erben Pascals,
des Denkers, der fr ihn die hçchste Spannung verkçrpert. Hier dagegen
beansprucht er fr sich und seine freien Geister ein anderes Erbe: nicht
Pascals Spannung, sondern diejenige, die aus dem Kampf gegen das
Christentum hervorgegangen ist. Aber Pascals Kampf gegen die Jesuiten,
auf den die Vorrede noch im Druckmanuskript hinauslief, ist – immer unter
dem Vorzeichen der Spannung – weiterhin das Vorbild. Wie Pascal die
„Jesuiten von damals“ will Nietzsche nun den zeitgençssischen gelehrten
„Jesuitismus der Mittelmssigkeit“ angreifen,
welcher an der Vernichtung des ungewçhnlichen Menschen instinktiv ar-
beitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber! – abzu-
spannen sucht. Abspannen nmlich, mit Rcksicht, mit schonender Hand
natrlich –, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche
Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des
Mitleidens einzufhren. – (JGB, KSA 5, 134)15
Der Jesuitismus, in wçrtlichem und in bertragenem Sinn, steht also fr die
„versuchten Entspannungen“ (NF, KSA 11, 475), fr die Versuche, „jeden
gespannten Bogen […] abzuspannen“, d. h. den großen Menschen zu
verhindern oder um seine Grçße zu bringen.
„Das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die
Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer
kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur hnlichkeit.“
(GD, KSA 6, 136 ff.)16 Im Pathos der Distanz, dem leidenschaftlichen
Zustand einer „starken Zeit“, bewltigt die „Spannkraft“ die „Spann-
weite“ zwischen weit auseinander liegenden Extremen. Heute aber neh-
men Spannkraft und Spannung/Spannweite synchron ab. Ist diese allge-
meine Abspannung die Gefahr? Oder eher, dass die Spannungen die
Spannkraft berfordern, also berspannung? Wesentlich ist fr Nietzsche,
dass die „Spannkraft“ abnimmt. Dem Missverhltnis zwischen Spannkraft
und Spannungen soll nun weniger durch den Abbau von Spannungen als
vielmehr durch Erhçhung der Spannkraft abgeholfen werden; die Span-
nungen der Gegenstze, die diese Spannkraft dann „zur Einheit“ fhren
soll, nehmen dabei eher zu.
Zur Zeit der Morgenrçthe hatte sich Nietzsche jeweils auf einzelne
kulturell vorgegebene Gegenstze konzentriert: vor allem auf die Span-
nung zwischen Selbstverachtung und Stolz im Christentum, aber auch auf
diejenige zwischen Neid und Freundschaft in der griechischen Antike.
Eher als um derlei einfache Polaritten geht es ab dem „Zarathustra“-
Nachlass um Spannung im Plural: „Das Wesentliche ist: die Grçßten haben
vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegenstze.
Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegenstze, und aus deren
Gefhle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung,
entsteht.“ (NF, KSA 11, 515) So ist „die Spannung der Gegenstze“ „die
15 Zur „Spannung der Seele“ vgl. JGB, KSA 5, 160 f.; vgl. auch NF, KSA 12, 1, 50.
16 Ein Notat hatte wiederum festgestellt: „[D]ie kritische Spannung: die Extreme
kommen zum Vorschein und bergewicht.“ (NF, KSA 12, 410)
Vorbedingung fr die Grçße des Menschen“: Die Großen kçnnen die
„Vielfachheit der Elemente“ und die wachsende „Spannung der Gegen-
stze“ aushalten, an der die „gewçhnlichen Menschen“ „zu Grunde“ gehen
(NF, KSA 12, 520). Nicht zuletzt Nietzsches Eingestndnis des eigenen
Scheiterns kann man entnehmen, dass nur derjenige, der dieser Spannung
Herr wird, die ewige Wiederkehr bejahen kann: „Ich will keinen Tag von
den 3 letzten Jahren zum zweiten Male durchleben, Spannung und Ge-
genstze waren zu groß!“17 Spannkraft, Spannung und Gegenstze nehmen
nicht nur in der „Zarathustra“-Zeit die Zge des Extremen, ber-
menschlichen an. Nietzsches ambitioniertes „Ziel“ ist, „die hçchste
Spannung der Vielheit von Gegenstzen zur Einheit zu bringen“ (NF, KSA
10, 547).18 Da die Spannweite zwischen den Gegenstzen extrem sein muss,
reicht es nicht, zwischen Ab- und berspannung ein richtiges Maß zu
finden. Wenn es ein richtiges Maß an Spannung gibt, dann nur fr sehr
spannkrftige Menschen, weil die gewçhnlichen, und nur sie, entweder
keine Spannweite zwischen den Gegenstzen aufweisen oder an den Ge-
genstzen zerbrechen. Ist aber die Spannung, die große Menschen aus-
halten, nur insofern eine extreme, als sie die gewçhnlichen berfordern
wrde? Whrend die Großen keine fr sie extreme Spannung auszutragen
haben? Sollen ihre Kraft zwar „in Spannung“ gehalten,19 ihre Grenzen
17 Nietzsche an Franz Overbeck, Anfang Dezember 1885 (KGB III/3, Bf. 649).
18 „Spannung der Gegenstze ist fr die Entstehung jeder strkeren Empfindung
nçthig.“ (NF, KSA 8, 143) In diesem Exzerpt vom Sommer 1875 aus dem Werth
des Lebens geht es wie bei Dhring v. a. um den bergang von einem Gefhl zum
anderen, denn „[e]s wird wesentlich nur die Vernderung empfunden“, und „[n]ach
den Vernderungen trachtet die Lust am Leben“ (NF, KSA 8, 143). Dhrings
Bekenntnis zur „gegenstzlichen Spannung“ als Vorbedingung „jeder strkeren
Erregung“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Be-
trachtung, Breslau 1865, S. 30) hat zuletzt eine antipessimistische, antischopen-
hauersche Valenz: Die „Differenz“ ist „das Grundgesetz jeder Bewußtseinsstei-
gerung“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische
Betrachtung, Breslau 1865, S. 30), und es geht um die „Vernderungen […], die das
Bewusstsein zu jener hçhern Energie steigern, nach welcher die Lust am Leben
trachtet.“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrach-
tung, Breslau 1865, S. 28) Nietzsche beschrnkt sich beim Abschreiben des Satzes
im wesentlichen auf eine stilistische Korrektur, aber er bekennt sich damals noch
zu Schopenhauer, und die Spannung der Gegenstze wird bei ihm erst spter zu
einem Hauptthema. – Zu den Gegenstzen bei Nietzsche vgl. Wolfgang Mller-
Lauters klassische Monographie, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegenstze und
die Gegenstze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971.
19 „Alle großen Menschen waren durch die Strke ihrer Affekte groß. […] Große
Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung.“ (NF, KSA 9, 469)
Explosive Spannungen
Mit dem Bild des Bogens ist eine zweifache Metaphorik verbunden: Neben
den Zustand – der Bogen kann abgespannt, straff, berspannt sein – tritt
die Verwendung; mit einem straffen Bogen kann man „nach den fernsten
Zielen“ schießen (JGB, KSA 5, 13). Da der „letzte Mensch“, der auch der
kleinste ist, ein endgltig abgespannter Bogen ist, warnt Zarathustra vor
der „Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht ber den
Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu
schwirren!“ (Za, KSA 4, 19). Der Schtze spannt zuerst den Bogen, baut
also eine Spannung auf, und entldt sie dann auf ein Ziel hin. An sich wrde
sich das Schießen dadurch von eher richtungslosen Ereignissen wie „Ge-
witter“ und „Explosion“ unterscheiden, aber Nietzsche ist weit davon
entfernt, die Richtungslosigkeit letzterer immer zu betonen (vgl. etwa AC,
KSA 6, 169), vor allem wenn es um die Großen geht. Auch „Gewitter“ und
„Explosion“ sind Gleichnisse fr die Entladung von Spannung, fr die
„Auslçsung“ von Krften, wie es bei Nietzsche heißt. Vor dem Sturm steigt
die Spannung, die Natur verfinstert sich (d. h., man wird verstimmt,
missmutig, melancholisch), bis endlich das erlçsende Gewitter kommt,
d. h., bis endlich die gestauten Krfte „in Blitzen und Thaten explodieren“
(NF, KSA 13, 20).20 Ihr Explodieren zeigt, dass das Gewitter- eine Variante
des Explosions-Modells ist, mit dem Nietzsche es vielfach kombiniert. In
beiden wird Spannung auf akkumulierte Krfte zurckgefhrt: Sie harren
gleichsam einer Entladung, einer manchmal explosiven „Auslçsung“ durch
einen oft zuflligen Reiz, der im Vergleich zu der von ihm „,ausgelçsten“
Wirkung verschwindend klein sein kann.
So werden auch kulturelle Phnomene gedeutet: Dem spten Nietz-
sche kommt es darauf an, wie durch seine vorbereitenden Schriften „eine
20 „Zu gross war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelchtern der Blitze will
ich Hagelschauer in die Tiefe werfen.“ (Za, KSA 4, 107; vgl. NF, KSA 10, 415 f.)
„Meine Weisheit sammlet sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und
dunkler. So thut jede Weisheit, welche einst Blitze gebren soll. –“ (Za, KSA 4,
360)
Auf diese Spannung wirkt die neue Lehre wie ein auslçsender Reiz: „Aus
dem Druck der Flle, aus der Spannung von Krften, die bestndig in uns
wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen“, „die bis zur Qual zu-
sammengedrngt und gestaut“ sind, befreit eine Lehre, die „Kraft auslçst“,
eine Lehre, durch die „den aufgehuften Krften ein Weg, ein Wohin
gezeigt wird“, „so daß sie in Blitzen und Thaten explodieren“ (NF, KSA 13,
20). Wenn diese Spannung zu einer Umwertung aller Werte wirklich nçtig
ist, ist die Lehre selbst dann nicht bloß ein unbedeutender, zuflliger
Auslçser? Und mit ihr der entsprechende Philosoph, also Nietzsche selbst?
Das Auslçsungstheorem scheint diese unwillkommene Folgerung zu
enthalten. 1881, als Nietzsche sich fr Julius Robert Mayers Auslçsungs-
Modell zu interessieren beginnt, benutzt er die Idee eines Missverhlt-
nisses zwischen (geringfgigem) Reiz und (gewaltiger) Reaktion auch, um
vermeintliche Grçße zu entlarven. „Religionsstifter“ etwa kçnnen „un-
bedeutende […] Menschen“ gewesen sein; aber „die Kraft war angesam-
melt und lag zur Explosion bereit!“ Unter dieser Bedingung musste es auch
bei einem unbedeutenden, zuflligen Reiz notwendig zu „großen Kraft-
Auslçsungen“ kommen (NF, KSA 9, 492; Vgl. etwa auch NF, KSA 11,
121 ff.). Der Religionsstifter selbst muss also nicht unbedingt eine unge-
heure Kraft besessen haben, er war gleichsam der zufllige auslçsende
Reiz, er setzte aufgestaute Krfte frei, die irgendwann irgendwie explo-
dieren mussten. Wenn man ihn einen großen Menschen nennt oder ihm
ungeheure Krfte attestiert, verwechselt man das Streichholz mit dem
Pulverfass. Nietzsche macht die (boshafte und ungerechte) Nutzanwen-
dung auf Mayer selbst, den Dhring als den Galilei des neunzehnten
Jahrhunderts gefeiert hatte. Mayers „Entdeckung“ sei wie „vorbereitet“
gewesen, und sein „Talent“ sei „zufllig“ gerade an jenem Punkte „thtig“
21 Zum „großen Erkennenden“ gehçre anderes, etwa „das Beherrschen“ und „das
Unificiren“ „großer Massen“ von Wissen sowie „das mit neuem Auge Ansehn des
Alten“ (Za, KSA 4, 360). Mit der Bemerkung, Mayer sei „ein grosser Spezialist –
und nicht mehr“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 213), distanziert sich
Nietzsche von Dhring, aber auch von Kçselitz, der bei einem negativen Urteil
ber Dhrings Buch sich zu Mayers Schriften sehr positiv ußert (vgl. KGB, III/2,
Bf. 57), und von seiner eigenen frheren Stellungnahme. Gerade in der Wrdi-
gung von Mayers Werk hatten vielleicht zum ersten Mal die Ausdrcke ,frçhlich
und ,wissenschaftlich zueinander gefunden: In diesem „herrlichen schlichten und
frçhlichen“ Buch gebe es „eine Harmonie der Sphren zu hçren: eine Musik, die
nur fr den wissenschaftlichen Menschen bereitet ist“ (An Heinrich Kçselitz,
KGB III/1, Bf. 103). – In Mayers „ber Auslçsung“ kommt der Spannungsbegriff
nicht vor. Dhring verwendet ihn, wenn er von Mayers Einlieferung in ver-
schiedene psychiatrische Heilanstalten berichtet und in diesem Zusammenhang
das Ressentiment als krankhafte Auslçsung deutet (vgl. Eugen Dhring, Robert
Mayer, der Galilei des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Einfhrung in seine
Leistungen und Schicksale, Chemnitz 1880). – Nietzsche verwendet den Auslç-
sungsbegriff bereits vor der Mayer-Lektre (vgl. dazu Brusotti, Die Leidenschaft
der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von
Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 56 ff. und zu
einer Bibliographie, Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und
sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Za-
rathustra, Berlin/New York 1997, Anm. 56.).
Race, milieu und moment sind die drei Faktoren, durch die Taine histori-
sche Tatsachen und Persçnlichkeiten wissenschaftlich erklren will. Bei
Taine bilden sie den ußeren Druck, gegen den die innere Veranlagung
Widerstand leisten muss: Historische Individuen sind gleichsam die Re-
sultante dieser zwei entgegengesetzen Krfte, der „pression du dehors“
und des „ressort du dedans“. Allerdings tendiert die Bedeutung des letz-
teren fr Taine gegen Null, und Individuen scheinen letzten Endes eher
mechanische Aggregate jener drei zusammenwirkenden Faktoren. Poin-
tiert kann man sagen, dass der Aphorismus „Mein Begriff vom Genie“ das
„Erbgut“ des großen Menschen, insbesondere des von Taine erforschten
Napoleon, gegen seine soziale „Umgebung“ und gegen den aktuellen
„Zeitgeist“ ausspielt. Von Taines drei determinierenden Faktoren werden
also vor allem zwei – die „Umgebung“ und der „Zeitgeist“ – als externe
verstanden und in ihrer Bedeutung gegenber der „internen Kraft“ des
genialen Individuums relativiert. Nietzsche fhrt das Individuelle, Eigen-
artige am Großen (Individuum oder Zeit) v. a. auf das zurck, was ihm
„historisch und physiologisch“ vererbt wird bzw. er sich von innen her
22 Nietzsche richtet gegen diese „dcadence-Theorie“ (NF, KSA 13, 468), „heute die
Pariser Theorie par excellence“ (NF, KSA 13, 468), ein lamarckistisch klingendes
Argument: Ihm kommt es darauf an, gegenber den „ußeren Ursachen“ (NF,
KSA 12, 154) „die innere Kraft“ aufzuwerten: „Vieles, was wie Einfluß von Außen
aussieht, ist nur ihre Anpassung von Innen her.“ (NF, KSA 12, 154) „Gegen die
Theorie vom ,milieu. Die Rasse unsglich wichtiger. Das milieu ergiebt nur
,Anpassung; innerhalb derselben spielt die ganze aufgespeicherte Kraft.“ (NF,
KSA 12, 306) In diesem Notat wird der erste von Taines drei Faktoren, die race,
gegen das milieu ausgespielt. Taine, der Metaphern aus den verschiedensten
Naturwissenschaften bereinanderlagert, verwendet alle drei Ausdrcke (race,
milieu, moment) ziemlich eigensinnig; und die damalige Rezeption hlt sich oft
nicht an die Bedeutung, die er ihnen gibt. Bei Nietzsche steht Taines race fr „die
ganze aufgespeicherte Kraft“ (ebd). Diese „ungeheure Kraft“ (GD, KSA 6, 145)
wird dann im publizierten Aphorismus Taines weiteren zwei Faktoren gegen-
bergestellt: dem milieu und dem als „Zeitalter“, „Zeitgeist“ gedeuteten moment.
Die biologisch-historisch-kulturelle Vergangenheit (wie bei Taines race gibt es bei
Nietzsche zwischen biologischem und historischem keine feste Grenzlinie) wird
als den ußeren Faktoren entgegenwirkende innere Kraft gedeutet.
23 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN). Zu Joly als Quelle
einiger Fragmente Nietzsches aus dem Herbst 1887 vgl. NF, KSA 14, 741, sowie
Giuliano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, Paris 2001, S. 32 f.
Campioni macht auch darauf aufmerksam, dass Joly ber James und Galton
berichtet. Zu Nietzsches direkter Galton-Lektre vgl. Marie-Luise Haase,
Friedrich Nietzsche liest Francis Galton, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 633 –
658.
24 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 113.
25 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 114.
26 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 105.
27 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 109.
28 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 110.
29 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 106; von Nietz-
sche an- und unterstrichen.
als die Familiengeschichte betont Nietzsche – diesmal mit Joly und gegen
Galton – die Erbschaft einer ganzen „Civilisation“, und gerade dieser
Aphorismus bleibt zwischen physiologischer Vererbung und kulturellem
Erbe auffallend zweideutig.
Die hier erzhlte Geschichte klingt irgendwie bekannt: Man hat
„lange“ „gesammelt, gehuft, gespart“ – Krfte natrlich –, nun kommt der
große Mensch, das Genie, und bringt alles mhsam Zusammengesparte
zum Explodieren: Er „ist nothwendig ein Verschwender“. Also: Sparen –
Spannung – Explosion. Nietzsche findet, es gebe zu wenig Verstndnis fr
diese „grosse[] konomie“ – z. B. bei seinem Gewhrsmann, dem ko-
nomen Emanuel Herrmann.30
Nietzsche hatte seine Auseinandersetzung mit Herrmann mit der
berlegung begonnen, der „Kampf gegen die großen Menschen“ sei „aus
çkonomischen Grnden gerechtfertigt“, weil sie „gefhrlich“ seien,
gleichsam „Unwetter“; „Grundinstinkt der civilisirten Gesellschaft“ sei
deshalb, „[d]as Explosive nicht nur unschdlich zu entladen, sondern
womçglich seiner Entstehung vorbeugen“ (NF, KSA 12, 413). Nietzsche
will jedoch letzten Endes darauf hinaus, dass in einem spten Zustand,
„wenn Kraft genug vorhanden ist“, eine „Cultur der Ausnahme“ doch ihre
Berechtigung hat, weil „nunmehr selbst die Verschwendung çkonomisch“
wird (NF, KSA 13, 484 f.).
Die Starken verschwenden sich, weil bei ihnen „die bertriebene
Spannung“ zu „Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit“ fhrt; da-
durch will Nietzsche erklren, „[w]arum die Schwachen siegen“ (NF, KSA
13, 365). Den Zusammenhang zwischen Spannung und Erschçpfung glaubt
er Charles Frs ,psychomechanischem Modell entnehmen zu kçnnen:
Wenn sich eine bermßige Spannung bildet, ergibt sich eine Entladung,
die zuletzt jedoch zu physischer und nervçser Erschçpfung fhrt.31 Nicht
Der Aphorismus fhrt neben der Renaissance ein einziges Beispiel an, ein
Genie „in That“, Napoleon, aber es geht auch um das Genie „in Werk“; und
Nietzsche sieht in sich selbst ein derartiges unzeitgemßes Genie, das die
eigenen Krfte – sich selbst – ausgibt und verschwendet. Auch der Philo-
soph ist ein „Explosionsstoff“ (EH, KSA 6, 320): „Unser Fatum – das war
die Flle, die Spannung, die Stauung der Krfte.“ (AC, KSA 6, 169) Diese
Spannung gestauter Krfte wartete auf eine Entladung, deren Zeit jetzt –
so gibt das erste Kapitel des Antichrist zu verstehen – mit der Umwertung
aller Werte auch gekommen ist.
tischen Schlaf (dazu und zur tension vgl. Charles Fr, Sensation et mouvement,
Paris 1887, S. 144). Zu Nietzsches Exzerpten (z. B. NF, KSA 13, 218) vgl. Hans
Erich Lampl, Ex oblivione: das Fr-Palimpsest. Noten zur Beziehung Friedrich
Nietzsche – Charles Fr (1857 – 1907), in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 225 –
264; Bettina Wahrig-Schmidt, ,Irgendwie, jedenfalls physiologisch. Friedrich
Nietzsche, Alexandre Herzen (fils) und Charles Fr 1888, in: Nietzsche-Studien
17 (1988), S. 434 – 464. Auf den Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der
Fr- und denjenigen der Herrmann-Lektre weisen weder Lampl und Wahrig-
Schmidt noch Mller-Lauter hin.
32 Der Aphorismus will ein weiteres Missverstndnis bekmpfen: Wer die „Auf-
opferung“, den „Heroismus“ des Grossen rhmt, bersieht die Unfreiwilligkeit
des Geschehens. – Im Nachlass wird der Spannungsbegriff in die Kritik der
Willensfreiheit immer wieder einbezogen. Vgl. etwa NF, KSA 10, 268 f.; NF, KSA
13, 54.
Schluß